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Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa

2008
978-3-8233-7298-1
Gunter Narr Verlag 
Ludwig M. Eichinger
Albrecht Plewnia
Claudia M. Riehl

Dieses Handbuch bietet ausführliche und aktuelle Informationen über die gegenwärtige Situation der deutschsprachigen Minderheiten in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Dabei werden in einer Zusammenschau sowohl die Sprachinselminderheiten als auch die Minderheiten an den Rändern des geschlossenen deutschen Sprachgebiets in den Blick genommen. In sieben Länderartikeln wird jeweils ein Überblick über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der Minderheiten gegeben. Auf der Basis neuer, eigener Erhebungen wird für jedes Land eine Dokumentation der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, eine Beschreibung und Analyse der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen und eine Untersuchung der Spracheinstellungen der Sprecher geboten.

Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa Herausgegeben von Ludwig M. Eichinger Albrecht Plewnia Claudia Maria Riehl Gunter Narr Verlag Tübingen Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa Herausgegeben von Ludwig M. Eichinger, Albrecht Plewnia und Claudia Maria Riehl Gunter Narr Verlag Tübingen Prof. Dr. Dr. h.c. Ludwig M. Eichinger ist Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Ordinarius für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim. Dr. Albrecht Plewnia ist Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Prof. Dr. Claudia M. Riehl ist Leiterin des Zentrums für Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit an der Universität Köln. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6298-2 Inhaltsverzeichnis Ludwig M. Eichinger Vorwort .......................................................................................................................................... VII 1. Claudia Maria Riehl Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa ...............................................................1 2. Nina Berend und Claudia Maria Riehl Russland............................................................................................................................................ 17 mit einem Anhang von Renate Blankenhorn Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien ............................................................................... 59 und einem Anhang von Valerij Schirokich Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien........................................................................ 71 3. Olga Hvozdyak Ukraine ............................................................................................................................................. 83 4. Maria Katarzyna Lasatowicz und Tobias Weger Polen ............................................................................................................................................... 145 5. Pavla Tišerová Tschechien ..................................................................................................................................... 171 6. Albrecht Plewnia und Tobias Weger Slowakei .......................................................................................................................................... 243 7. Elisabeth Knipf-Komlósi Ungarn ............................................................................................................................................ 265 8. Johanna Bottesch Rumänien ....................................................................................................................................... 329 Vorwort Solange wir das beobachten können, hat die deutsche Sprache einen Platz in dem Gebiet, das wir heute Mittel- und Osteuropa nennen. Das hat verschiedene Gründe und hat dazu geführt, dass es im Einzelnen etwas ganz Unterschiedliches bedeuten kann, wenn man vom Gebrauch und der Geltung des Deutschen in dem Raum spricht, dem die Beiträge in diesem Handbuch gewidmet sind. Wie das in den jeweiligen Fällen wirklich ist, wird in den Artikeln dieses Bandes dargestellt und braucht daher hier nicht vorweggenommen zu werden. Wenn man unterscheiden wollte, so wäre zumindest von der einfachen Überlagerung der Sprachgebiete und möglicherweise der Sprachdomänen zu reden, die vor allem von Bedeutung ist, solange die politische oder staatliche Verfasstheit die Sprache eher beiläufig behandelt, von frühen Kolonisierungszügen in mehr oder minder besiedelte Räume unter Mitnahme einer eigenen Organisationsform, von verschiedenen Phasen einer Besiedlung „auf Einladung“, die der Kolonisierung und Kultivierung dienten, letztlich von der Überdachung durch die große mehrsprachige Staatsform der k. u. k. Monarchie, die auf jeden Fall ein virtuelles Netz des Deutschen weit über das Land gespannt hat. Das alles führt dazu, dass das Deutsche an ganz verschiedenen Orten, in ganz verschiedenen Kontexten und in ganz verschiedenen Formen vorzufinden ist - oder weithin eher: war. Denn was alle diese Vertretungen eint, ist, dass sie infolge der politischen Geschehnisse des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere aber durch die Verheerungen, die der Nationalsozialismus angerichtet und hervorgebracht hat, in eine kritische Lage gekommen sind. Und wie die Dinge lagen, wurde das im Bereich des damaligen Ostblocks nicht besser, auch wenn die Nationalitätenpolitik sicher in den verschiedenen Staaten dann doch recht unterschiedlich war. Wie die Verhältnisse im einzelnen genau waren und sind, weiß man aufgrund dieser politischen Situation nicht so ganz genau; was man bis zur politischen Wende an Informationen bekommen konnte, trug immer sehr stark den Stempel der jeweiligen politischen Überzeugung. Das war einer der Gründe, warum in dem „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“, das vom Verfasser dieses Vorworts gemeinsam mit Robert Hinderling herausgegeben wurde, 1 trotz existierender Vorarbeiten zumindest zu den direkt an das geschlossene deutsche Sprachgebiet angrenzenden Regionen, darauf verzichtet wurde, Informationen über die Situation der Sprachminderheiten im Osten des deutschen Sprachgebiets aufzuneh- 1 Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (1996): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr. Vorwort VIII men - wenngleich die geographische Benennung im Titel natürlich zumindest implizit erkennen lässt, dass eine solche Beschreibung eigentlich dazugehörte, um die Stellung des Deutschen angemessen zu erfassen. Die Gelegenheit dazu ergab sich dann allmählich im Verlaufe der Jahre nach 1989, allmählich auch deshalb, weil sich erst nach und nach die Verbindungen zu den Forscherinnen und Forschern, die über das Wissen und den Zugang zu den deutschsprachigen Gemeinschaften im Osten Europas verfügten, knüpfen und in einer Weise stabilisieren ließen, dass wir uns auf den gemeinsamen Weg machen konnten, diese ebenso gewichtige wie schmerzliche Forschungslücke mit einem gewissen Anspruch an Übersicht zu füllen. Wären wir nicht in der Lage gewesen, das vorhandenen Wissen und die existierenden Beziehungs-Netzwerke in die jeweiligen deutschsprachigen Gemeinschaften hinein zu nutzen, und wären sie nicht bereit gewesen, sich auf unsere methodischen Vorgaben einzulassen, hätten wir das in diesem Buch sichtbar gewordene Ende kaum erreicht. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei an dieser Stelle Dank dafür gesagt, dass sie nicht nur in den Jahren 1999 bis 2001 das Projekt finanziell unterstützt hat. Die vorliegende Publikation schließt in Vorgehensweise und Strukturierung in mancherlei Weise an das oben erwähnte Handbuch an, es ist aber keine einfache Fortsetzung, mindestens aus zwei Gründen. Zum Teil sind die Verhältnisse anders, zum Teil lernt man (hoffentlich) dazu. Was auch diesen Band zu mehr machen sollte als einer Sammlung von Darstellungen unterschiedlicher Sprachverhältnisse, ist der Anspruch, mit dem Raster und in der Gewichtung der berücksichtigten Faktoren und Variablen die Grundlage für einen Vergleich in grundsätzlicher Hinsicht gelegt zu haben. Dabei liegen die Variablen in diesem Fall etwas anders als in dem damaligen Projekt und der daraus hervorgegangenen Publikation. Dort stellt das Gegeneinander deutscher und anderer Sprachminderheiten eine Dimension des Vergleichs dar; diese fällt hier aufgrund der historisch-geographischen Beschränkung weg. Das hat auf der anderen Seite zur Folge, dass die einzelne sprachliche Charakteristik, also der Unterschied darin, was jeweils Deutsch heißt, eine wesentlich bedeutsamere Rolle spielt. Das ist nicht zuletzt der Reflex der Tatsache, dass die sprachliche Konstellation der „Sprachinsel“, die im Westen eher das marginalere Modell darstellt, im Fall des Ostens eher das dominante Muster ist. Das betrifft unmittelbar auch den vorherrschenden Charakter der jeweiligen Sprachformen: zumeist spielen sprechsprachliche, dialektal geprägte Formen die hervorragende Rolle. Aus diesem Grund ist auch ein anderer Punkt weniger kritisch. Nicht zuletzt aufgrund der historischen Entwicklung in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Frage des Minderheitencharakters der Sprechergruppen, die verschiedene Formen des Deutschen nutzen, unstrittig. Dagegen spricht auch nicht der Sachverhalt, dass sich vor allem in den traditionellen Grenzräumen das Deutsche zum Teil als Kontaktsprache wieder bewährt; nicht umsonst ist damit mehrheitlich eine Ablösung durch eine als Fremdsprache gelernte standardnahe Form verbunden. Selbstverständlich steckt in dieser Entwicklung aber die Chance, aus der Tradition eine spezifische Ausprägung moderner europäischer Mehrsprachigkeit zu entwickeln. 2 Für die Klassifikation als minoritär sprechen auch die Erfahrungen mit der Integration russlanddeutscher Aussiedler, wie sie verschiedentlich in Forschungen des Instituts für Deutsche Sprache dokumentiert worden sind. Diese anderen Grundkonstellationen verschieben zweifellos die Art und Breite der jeweiligen Realisierung der einzelnen paradigmatischen Kategorisierungen solcher Gebiete und Gemeinschaften, das Netz der relevanten paradigmatischen Beziehungen, wie es etwa in Eichinger 1996 erläutert wurde, 3 konnte im 2 Die Verteilung des Lernens des Deutschen als Fremdsprache in den verschiedenen Staaten der EU spricht davon, dass dieser Effekt zumindest zum Teil eintritt. Man kann das, wenn es so anhält, sicherlich als eine sinnvolle Fortsetzung traditioneller Mehrsprachigkeit verstehen. 3 Eichinger, Ludwig M. (1996): Sociolinguistic characters: On comparing linguistic minorities. In: Hellinger, Marlis/ Ammon, Ulrich (Hrg.): Contrastive Sociolinguistics. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter Vorwort IX Wesentlichen beibehalten werden. Das schlägt sich in einem weitgehend gleichartigen Aufbau nieder: Auch im vorliegenden Band wird man in jedem Artikel - und vielleicht sogar noch etwas konsequenter - die folgende Untergliederung wiederfinden. Dabei sind die Punkte 5 bis 7 zentraler, während etwa die rechtlichen Regelungen einen geringeren Raum einnehmen: 1. Allgemeines und geographische Lage 2. Statistik und Demographie 3. Geschichte 4. Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 5. Soziolinguistische Situation 6. Sprachgebrauch und -kompetenz 7. Spracheinstellungen 8. Faktorenspezifik (Zusammenfassung) 9. Literatur Die angedeutete Charakteristik der zerstreuten und sprachinselartigen Verteilung und die vielfältigen politischen Verwirrungen, von denen die Geschichte dieser Sprachgemeinschaften gekennzeichnet ist, führte dazu, dass sich eine angemessene Gestaltung der Karten, die jedem Gebietsartikel vorangestellt sind und eine grobe Übersicht ermöglichen sollen, nicht immer als ganz einfach erwiesen hat. So sind die Schraffuren, die die Räume kennzeichnen, in denen sich das Deutsche findet, nur ungefähre Kennzeichnungen; weder sind ihre Grenzen als harte und präzise Begrenzungen dieser Gebiete zu lesen, noch sagen sie etwas über den prozentualen Anteil des Deutschen in diesem Areal aus. Die in diesen Karten verzeichneten Toponyme werden einheitlich zunächst in der Landessprache (bei Russland und der Ukraine in ISO-Transkription) und dann auf Deutsch aufgeführt. Da ansonsten die Präsenz der deutschen Toponyme und der Umgang mit ihnen in der einzelnen Minderheitsgebieten recht unterschiedlich ist, wird diese Frage in den einzelnen Länderartikeln von den Verfassern teilweise unterschiedlich gehandhabt. (=Contributions to the Sociology of Language; 71), S. 37-55. Wie oben schon angedeutet, hat es die Art der vorfindlichen Sprachformen und das geringe Ausmaß dessen, was man darüber wusste, nötig gemacht, dass die Darstellung der sprachlichen Form und der Sprachverwendung einen zentralen Platz einnimmt. Zum Teil konnte hier von den Autoren auf Daten zurückgegriffen werden, die vor Ort schon vorhanden waren. Zu einem großen Teil wurden aber eigens umfangreiche Spracherhebungen durchgeführt. Ihre Ergebnisse bilden die Basis der Darstellung in diesen Artikeln und werden dort auch exemplarisch dokumentiert. Die Siglen zu den einzelnen Belegen in den Artikeln verweisen auf unsere Tonaufnahmen. Diese digitalen Aufnahmen werden im IDS archiviert und sind dort auch für die Forschung zugänglich. Die endgültige Zusammenstellung dieses Bandes mit seinen vielen Mitarbeitern an verschiedenen Orten hat einige Zeit gebraucht, nicht zuletzt auch, weil sich beim Projektleiter und den Projektmitarbeiterinnen zwischenzeitlich wesentliche Veränderungen im wissenschaftlichen Arbeitsumfeld ergaben. Logischerweise hat das auch Folgen für die mögliche Aktualität v.a. statistischer Daten. Dennoch bietet der vorliegende Band ein Bild der Verhältnisse, wie es sich nach den großen politischen Veränderungen stabilisiert hat, und entspricht so grundsätzlich der aktuellen Lage. Dass das Projekt zu einem guten Ende gefunden hat, ist zuvörderst den Mitarbeiterinnen zu verdanken. Zu Beginn war das Nina Berend, die auch weiterhin für ihr Spezialgebiet mit Rat und Tat zur Seite stand, dann vor allem Claudia Maria Riehl, die das Vorhaben während der Förderungszeit durch die DFG mit hohem persönlichen Einsatz vorangetrieben hat und es auch nach dem Ende der Förderung fortgeführt und zu ihrer Sache gemacht hat. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Albrecht Plewnia hat sie die Hauptlast der Fertigstellung des vorliegenden Bandes getragen. Ihnen sei ganz herzlich dafür gedankt, dass sie aus dem vom Projektleiter entwickelten Rahmen ein eigenständiges Konzept entwickelt haben und auch die Mühen der Koordination der verschiedenen Beiträge nicht gescheut haben. Dank gebührt natürlich daneben genau- Vorwort X so den Verfasserinnen und Verfassern der Artikel, die sich unter oft nicht ganz einfachen Umständen daran gemacht haben, die Vorstellungen der Projektleitung mit Leben zu füllen. Für praktische Hilfe danke ich daneben den in der einen oder anderen Weise beteiligten Kieler und Mannheimer studentischen Hilfskräften, hier vor allem Melanie Kraus, meiner Kieler Sekretärin Ilse Welna für das kompetente Projektmanagement während der DFG-Förderung, Norbert Volz für die Erstellung der Titelkarten, der DFG für die Förderung und nicht zuletzt dem IDS, das die Fertigstellung dieses Bandes und seine Drucklegung ermöglicht hat. Gunter Narr sei gedankt für die Aufnahme des Buchs in sein Verlagsprogramm. Mannheim Ludwig M. Eichinger Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 1 Claudia Maria Riehl Inhalt 1 Einführende Überlegungen ........................................................................................................ 3 2 Gründe für Siedlungsbewegungen ............................................................................................ 3 3 Geschichte der Ostbesiedlung ................................................................................................... 4 3.1 Phasen der Ansiedlung .......................................................................................................... 4 3.1.1 Die mittelalterliche Ostsiedlung ................................................................................ 4 3.1.2 Die neuzeitliche Ostsiedlung ..................................................................................... 5 3.2 Arbeitsmigration..................................................................................................................... 8 3.3 „Rücksiedlung“, Umsiedlung und Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg .............. 9 4 Sprachausgleich und Spracherhalt ........................................................................................... 10 4.1 Gründe für die Ausbildung einer bestimmten Koiné ..................................................... 10 4.2 Faktoren für Spracherhalt und Sprachwechsel................................................................. 11 5 Literatur ...................................................................................................................................... 15 1 Einführende Überlegungen Betrachtet man die Geschichte der deutschen Besiedlung Mittelost- und Osteuropas, so spielen zunächst die verschiedenen Ausgangssituationen eine Rolle: Man muss unterscheiden zwischen den alten Siedlungen des Mittelalters, die als Grenzminderheiten unmittelbaren Kontakt zum geschlossenen deutschen Sprachraum hatten (Tschechien, Polen, Slowakei) und anderen alten Besiedlungen mit Sonderprivilegien (Siebenbürgen, Zips, hospes-Siedlungen in Ungarn) und den verschiedenen Siedlungsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert innerhalb Ungarns, der Ukraine und Russlands. Hier gibt es wieder verschiedene Typen von Einwanderung: planmäßige, behördlich abgesicherte oder sogar geförderte Wanderbewegungen (z.B. die sog. Schwabenzüge) und mehr oder weniger organisierte Gruppen, die selbständig auf Suche nach neuem Land waren (z.B. die Dobrudschadeutschen aus Südrussland). 2 Gründe für Siedlungsbewegungen Dass Menschen ihre angestammte Heimat verlassen und in bislang un- oder wenig besiedeltem Terrain ihr Glück suchen, kann viele Ursachen haben. Dabei gibt es einerseits negative Gründe in der Heimat (sog. push-Faktoren) und andererseits positive Faktoren im Zielland (sog. pull-Faktoren, vgl. Ingenhorst 1997: 21). Einer der wichtigsten und schwerwiegendsten Gründe ist sicher die Bedrohung der eigenen Existenz durch Kriege, Hungersnöte, Seuchen oder andere Katastrophen, aber auch materielle Not, die z.B. infolge der Minimierung des Besitzes durch Realteilung entstehen kann. Auch das Erbhofrecht kann zur Folge haben, dass die jüngeren Geschwister, die ja bei dieser Regelung leer ausgingen, sich entweder in anderen Berufen verdingen (im Mittelalter war auch das Kloster ein Auffangort) oder ebenfalls auf andere Weise Land suchen mussten. Dieser Aspekt spielt bei den mittelalterlichen Ostsiedlungen eine bedeutende Rolle. Ein weiterer wichtiger Grund für Emigrationen ist der Wunsch nach Religionsfreiheit: das betrifft vor allem Sekten, wie etwa die Mennoniten, die in ihrer Heimat unter Druck gesetzt wurden dies ist allerdings erst ein neuzeitliches Phänomen und spielt für die mittelalterlichen Wanderbewegungen noch keine Rolle. Viele Angehörige religiöser Sekten siedelten sich beispielsweise in Russland an (v.a. im Schwarzmeergebiet). Andere Siedler empfinden den Druck auferlegter Verpflichtungen seitens der Staatsmacht, unter die beispielsweise auch der Militärdienst fällt, 1 als zu groß. Dieser Aspekt gilt besonders für das Mittelalter, als viele Bauern unter der Feudalherrschaft litten und als Leibeigene kaum Rechte besaßen. Meist werden den Neuansiedlern bestimmte Privilegien eingeräumt, die sie dann solcher Pflichten entbinden. Andere Privilegien waren z.B. Abgabenstundung, Rodefreiheiten und Stadtprivilegien (Gottas 1995: 16). Nach einer bestimmten Zeit und vor allem bei Machtübernahme durch eine andere Staatsmacht - was in den letzten Jahrhunderten für die Situation in Mittel- und Osteuropa kennzeichnend war - können diese Privilegien auch aufgehoben werden, was zu weiteren Siedlungsbewegungen führt: so wurde etwa 1871 das „Fürsorge-Komitee“, das die Angelegenheiten der Kolonien in Cherson, Ekaterinoslav, Taurien und Bessarabien regelte, aufgelöst, und die deutschen Siedler wurden damit den russischen Bürgern gleichgestellt, d.h. sie mussten beispielsweise auch Militärdienst leisten. Das hatte zur Folge, dass einige von ihnen in die Dobrudscha abwanderten, die zu dieser Zeit noch dem Osmanenreich unterstand und den Kolonisten Sonderrechte einräumte (z.B. etwa Befreiung vom Militärdienst, vgl. Gadeanu 1998: 60). Neben diesen Kolonistenzügen gab es über alle Jahrhunderte hinweg kleinere Gruppen von Arbeitsmigranten wie qualifizierte Facharbeiter, Lehrer oder Ärzte, die karrierebedingt auswanderten und sich in Städten niederließen. Besonders konzentriert waren diese Migranten in städtischen Zentren wie Prag, Budapest, Moskau und St. Petersburg. 1 Dieser dauerte in der Regel zwölf Jahre und war dadurch eine große Belastung. Claudia Maria Riehl 4 3 Geschichte der Ostbesiedlung 3.1 Phasen der Ansiedlung Bei der deutschen Besiedlung im Osten lassen sich, wie bereits erwähnt, grob zwei Zeitstufen unterscheiden: die frühe Besiedlung im Mittelalter und die Kolonisation im 18. und 19. Jahrhundert. Die erste deutsche Ostsiedlung begann im 10. Jahrhundert und dauerte etwa bis Mitte des 14. Jahrhunderts. Der Höhepunkt lag dabei im 12. und 13. Jahrhundert. Das Ende dieser kontinuierlichen Wanderbewegung ist in der Pest zu sehen, die um diese Zeit in Europa grassierte (Gottas 1995: 15). Die zweite Siedlungswelle setzte Ende des 17. Jahrhunderts ein und erstreckte sich teilweise bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei der Höhepunkt im 18. Jahrhundert liegt. 3.1.1 Die mittelalterliche Ostsiedlung Die frühe Besiedlung im Mittelalter gehört „in die Geschichte des mittelalterlichen Landausbaus, der in erster Linie ein Vorgang der Bevölkerungsgeschichte und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sodann aber auch der Verfassungs- und Rechtsgeschichte ist.“ (Schlesinger, zit. nach Gottas 1995: 16). Die Besiedlung betrifft das Gebiet von Böhmen, Mähren, Schlesien, Ostpommern und Ostpreußen, die heute auf den Staatsgebieten von Tschechien, der Slowakei und Polen liegen, sowie das Gebiet von Siebenbürgen, der Zips, Teile des heutigen Rumäniens, und hospes-Siedlungen in Ungarn, die heute meist der Slowakei angehören. Die Gründe für die Ostsiedlung wurden zunächst im Bevölkerungszuwachs gesehen: Im Osten gab es eine viel geringere Bevölkerungsdichte, teilweise sogar unbesiedelte Gebiete. Aber auch Missionierung oder Hungersnöte wurden aufgeführt (Göllner 1979: 19). Insbesondere, sind aber hier wohl soziale Ursachen ins Feld zu führen: Durch Umstrukturierung von Feudal- und Wirtschaftssystem (Auftreten der Geld-Ware-Beziehung statt bisheriger Naturalwirtschaft) standen viele Bauern, die noch im Früh- und Hochmittelalter die Stütze der Feudalgesellschaft bildeten, vor dem Ruin (Göllner 1979: 20). Allerdings wanderten in der Frühzeit auch Ritter und Bürger „gen Ostland“ (Piskorski 1994: 13). Im 12. und 13. Jahrhundert betrug die gesamte Abwanderung aus dem Westen in die Gebiete östlich von Elbe und Saale ca. 400.000 Personen. Die Siedler wanderten von dort aus weiter nach Böhmen, Polen und ins Baltikum. Kleinere Gruppen begaben sich auf Einladung des ungarischen Königs nach Siebenbürgen und in die Zips. Förderer der Ostbesiedlung waren Grundherren, die die fortschrittliche Agrartechnik (Dreifelderwirtschaft, Gebrauch von Sensen und Mühlen) und Wirtschaftsorganisation der deutschen Siedler für ihr Land in Anspruch nehmen wollten; als Ausgleich boten sie dann entsprechende soziale Vorteile an (Gottas 1995: 16). 2 So erhoffte sich der ungarische König Géza II., als er die deutschen Siedler um 1150 nach Siebenbürgen rief, dass durch bessere Ackerbaumethoden, Handwerkstechnik und schließlich Belebung des Handels höhere Steuereinnahmen für ihn heraussprängen. Die Privilegien, die den Deutschen zugestanden wurden, wurden 1224 unter Andreas II. im sog. „Goldenen Freibrief“ (Andreaneum) besiegelt. Allerdings betrifft dies zunächst nur die Hermannstädter Provinz und wird erst 1486 mit Gründung der „Sächsischen Nationaluniversität“ (Universitas Saxonum in Transsilvania) für alle ausgeweitet. 3 Die Freiheiten, die den Siebenbürgern bereits darin zugestanden wurden, mussten sich die Bewohner des Mutterlandes teilweise erst in der Neuzeit erkämpfen. Die Siebenbürger Sachsen galten als eine eigene Nation mit eigenen gewählten Richtern und einem vom König ernannten Grafen und verfügten über autonome wirtschaftliche, kirchliche und kulturelle Institutionen. Auch die Zipser erhielten 1271 von Stefan V. ähnliche Rechte. 2 Allerdings ist hier zu beachten, dass die Verwendung des Begriffes „deutsch“ für das 10. Jahrhundert nicht unproblematisch ist. Weder national noch sprachlich handelt es sich hier um eine einheitliche Gruppe. 3 Damit geht auch die Einführung einer neuen Form der Landesverteidigung einher. 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 5 Ebenfalls auf Anwerben ungarischer Könige kamen bereits im 11. Jahrhundert Siedler nach Oberungarn in die Gegend um Pressburg (Bratislava) und im 12. Jahrhundert in die Zips, in der 24 Städte gegründet wurden (auf dem Gebiet der heutigen Slowakei). Hier ist zu unterscheiden zwischen den Handelsstädten und Bergbaustädten, die dort im 13. Jahrhundert gegründet wurden. Neben Bauern, Handwerkern und Kaufleuten kamen dann auch viele Bergleute, vor allem aus Sachsen, ins Land. Diese brachten ein vorgeprägtes Rechtssystem und Sozialmodell mit (Gottas 1995: 18), das über Jahrhunderte in dieser Gegend prägend wurde. So wurde beispielsweise das unter Nürnberger Einfluss entstandene Stadtrecht von Kaschau zur Norm für die oberungarischen Städte (vgl. Gottas 1995). Es gab ein ausgeprägtes Zunftwesen, das den Aufstieg des Bürgertums und gleichzeitig den Niedergang des Bauerntums zur Folge hatte. Immer mehr Städte wurden mit deutschem oder sächsischem Stadtrecht versehen. Im 13. Jahrhundert entstanden auch die ersten Stadtansiedlungen nach Magdeburger Recht in den östlichen Karpaten, wie Krakau und Lemberg. Auch hier gab es anfangs eine große deutschsprachige Gemeinde, die sich aber schnell assimilierte. Die alte deutsche Besiedlung in Ostgalizien ist daher aufgrund dieser Assimilierungstendenz (und durch Tartaren- und Türkeneinfälle) weitgehend verschwunden. Parallel dazu förderten die Herzöge von Schlesien die Ansiedlung in ihrem kulturell, wirtschaftlich und sozial unterentwickelten Land. Auch hier entstanden bereits im 13. Jahrhundert viele Städte nach deutschem Recht. Mitte des 14. Jahrhunderts lebten dort 450.000 Menschen, von denen mehr als die Hälfte deutschsprachig war (Breit 1998: 21). Was nun die sprachliche Entwicklung betrifft, so entwickelten sich in den östlich angrenzenden Regionen autochthone Mundarten des Deutschen wie Böhmisch, Mährisch, Schlesisch, Ostpommerisch und Preußisch. Das hängt damit zusammen, dass die Siedler aus den angrenzenden Gebieten kamen, z.B. nach Böhmen meist Nordbayern und Ostfranken, nach Schlesien auch Thüringer und Sachsen. Außerdem lebten die Siedler dort im Grenzland immer im unmittelbaren Kontakt mit dem „Mutterland“ und auch mit den angrenzenden Mundartsprechern. Insofern kann man bei diesen Siedlungen zunächst nicht von Sprachminderheiten sprechen. Im Gegensatz dazu sind die Gebiete in Siebenbürgen, der Zips und in Ungarn eigentliche Sprachinseln, da sie nicht an das geschlossene deutsche Sprachgebiet angrenzen. Trotzdem hat der Kontakt zu Deutschland über die Jahrhunderte hinweg immer bestanden; beispielsweise gingen viele junge Siebenbürger nach Deutschland zum Studium. Was allerdings die Dialekte betrifft, so trafen hier Siedler aus verschiedenen Regionen aufeinander - in Siebenbürgen überwogen rheinfränkische und moselfränkische Dialekte, so dass sich hier eigene Mischvarietäten herausbildeten. 3.1.2 Die neuzeitliche Ostsiedlung Wie bereits erwähnt, fand die mittelalterliche Siedlungsbewegung durch die Pest ihr vorläufiges Ende und wurde dann auch durch die Ausbreitung der türkischen Herrschaft weiter verhindert. Lediglich innerhalb der Gebiete gab es Verschiebungen (z.B. von Schlesien in Städte des südwestlichen Großpolens). Erst nach dem Zurückdrängen der Türken setzte eine zweite große Welle der Ostwanderung ein: Habsburger Kaiser und russische Zaren riefen deutsche Siedler, um die von den Turkvölkern entvölkerten Gebiete an der unteren Donau und zwischen Dnjepr und Wolga wieder zu besiedeln. Die neue Siedlungsbewegung unterscheidet sich von der mittelalterlichen Besiedlung in einigen wesentlichen Punkten: Es handelt sich hier um eine „von oben gelenkte Bevölkerungsbewegung und um planmäßige Siedlungspolitik“ (Gottas 1995: 19). So gab es etwa eine eigene königlich-ungarische Siedlungsverordnung, das sog. „Impopulationspatent“ (1689), das den Abschluss von Siedlungsverträgen regelte: Freizügigkeit, Befreiung von Untertanenlasten (z.B. Kriegsdienst), Bauhilfen, Gleichberechtigung in nationaler und religiöser Hinsicht. Diese Impopulationspolitik wurde nicht nur von Österreich-Ungarn, sondern auch von Preußen be- Claudia Maria Riehl 6 trieben und später von Katherina II. aufgegriffen. 4 Die drei wichtigsten Ansiedlungsgebiete in dieser Zeit waren das Banat, die Batschka und die sog. Schwäbische Türkei (zwischen Donau, Drau und Mecsekgebirge). Bereits Ende des 17. Jahrhunderst kamen Siedler aus den österreichischen Erblanden und Süddeutschland ins Ofener Bergland und in die Schwäbische Türkei (Wagner 1995: 160). Die eigentliche Besiedlung dieser Gebiete erfolgte aber im Wesentlichen in drei Etappen, den drei sog. „Schwabenzügen“, die von den jeweiligen Herrschern des Habsburgerreiches initiiert wurden: erstens die Karolingische Ansiedlung (1718 bis 1737) während der Regierungszeit Karls VI.; hier kamen etwa 60.000 Kolonisten, vor allem aus Schwaben, Franken, Hessen und der Pfalz; zweitens die Theresianische Ansiedlung (1749 bis 1772) unter Maria Theresia, die besonders Handwerker und Bergleute ins Land brachte. Das waren etwa 5.000 Kolonisten, davon 2.500 Lothringer und weitere Siedler sehr unterschiedlicher Herkunft, besonders aus dem Rheinland, der Pfalz, Südwestfalen, aber auch aus Österreich. Während dieser Kolonisation versuchte man, mit den Bauern auch Sträflinge und Aufrührer abzuschieben (Gadeanu 1998: 125). Der dritte Schwabenzug, die Josephinische Ansiedlung (1782 bis 1787) zur Regierungszeit Josephs II., war eher unorganisiert; viele Siedler blieben nicht in der Batschka oder im Banat, sondern zogen weiter nach Galizien. Danach gibt es noch eine letzte Ansiedlungsetappe, die aber wegen ihrer geringen Bedeutung nicht unter die großen Schwabenzüge gerechnet wird. Grund war die Streichung der Subventionen für Einwanderer und eine relativ restriktive Ausstellung der Einwanderungsgenehmigung. Die Einwanderung fand in den Jahren 1790-1803 statt und umfasste meist Siedler aus dem Elsass und Lothringen (Gadeanu 4 Die Impopulationspolitik wurde angeregt von der deutschen Kameralwirtschaft: Diese geht davon aus, dass die Vermehrung der Bevölkerung einer von drei Hauptwegen zur Vergrößerung des Reichtums eines Staates sei (neben Aufbau einer zuverlässigen Verwaltung und einer zeitgemäßen Rechtsstaatlichkeit). Dazu Turczynski 1995: 177, Brandes 1999: 16. 1998: 126). Während der Regierungszeit von Joseph II. entstanden im Zuge der beginnenden Industrialisierung auch Bergbaugemeinden und Glashüttenorte (Wagner 1995: 161). Ebenfalls in diese Zeit fällt die Neubesiedlung des Gebietes um Sathmar, die auf eine Privatinitiative zurückzuführen ist, und die Zwangsumsiedlung von österreichischen Protestanten, den sog. „Landlern“ nach Siebenbürgen. 1775 hatte Österreich zudem die wegen der Karpatenpässe strategisch wichtige Bukowina von den Türken erobert und dort ebenfalls deutsche Siedler angesiedelt. Diese setzten sich einerseits aus Bauern und Handwerkern aus Südwestdeutschland (Rheinpfalz, Württemberg), andererseits aus Bergleuten aus der Zips und Glas- und Waldarbeitern aus dem Bayrischen Wald und dem Böhmerwald zusammen. Diese Siedelbewegung zeichnet sich durch sehr großen Andrang aus, was darauf zurückzuführen ist, dass sie sehr gut organisiert war. Daneben gab es auch bürgerliche Schichten aus den verschiedenen Kronländern, Beamte, Lehrer, Geistliche usw. (Gottas 1995: 21). Eine ganz wichtige Rolle spielten auch die aus Galizien zugezogenen Juden, die aufgrund der Nähe der jiddischen Sprache zum Deutschen die deutschsprachige Schule besuchten und daher ebenfalls Deutsch als Umgangssprache angaben. So waren etwa bei der Volkszählung 1900 von den ca. 160.000 Deutschen über 90.000 mosaischen Glaubens (Stourzh 1995: 41). In der Bukowina hatte keine andere Sprache so eine hohe Stellung wie das Deutsche, während in Galizien das Polnische diese Position einnahm (Stourzh 1995: 43). Neben Österreich verfolgte in dieser Zeit auch Russland eine zielbewusste Siedlungspolitik (vgl. Brandes 1999). Auch hier gab es drei große Einwanderungswellen: In den Jahren 1764 bis 1767, unter Katharina II., wurden 104 Dörfer an der Wolga gegründet (63 Lokatoren- und 41 Kronsiedlungen südlich und nördlich von Saratov), die damit die größte deutsche Sprachlandschaft in Russland bildeten. Die Siedler sollten brachliegendes Steppengebiet urbar machen und zu diesem Zweck auch neue Anbaumethoden aus ihrer Heimat in Russland einführen. Die Siedlungen waren als Musterkolonien mit einer inneren Selbst- 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 7 verwaltung gedacht, die neben eigenen Kirchen und Schulen auch die deutsche Sprache als Amts- und Umgangssprache vorsah. Da aber einige deutsche Kleinstaaten ebenso wie die europäischen Großmächte die Auswanderung verboten und die offiziellen Werber verfolgten, betrieben auch private Agenten, sog. „Lokatoren“, Anwerbungen, die aber nicht nur fähige Bauern sondern auch Heimatlose und andere anzogen. Die meisten Siedler stammten aus Hessen, der Nordpfalz, Nordbayern, Nordbaden und der Fuldaer Gegend, da es dort einen großen Mangel an Grundstücken und im Gegenzug zu hohe Abgaben gab. Daneben gab es Siedlungen in Jamburg, ernigov, Wolhynien und im Schwarzmeergebiet, das Russland 1792 von der Türkei eroberte. Im Gegensatz zum Wolgagebiet siedelten hier kleinere Gruppen, z.B. Siedler aus dem Danziger Raum, die durch die Annexion des Hinterlandes durch Preußen in eine schwierige wirtschaftliche Situation geraten waren. Ganz besonders betroffen waren davon die Danziger Mennoniten, die bei der bevorstehenden Angliederung an Preußen Militärdienst hätten leisten müssen, was sich nicht mit ihrem Glauben vereinbaren ließ. Ihre Motive für die Auswanderung waren daher vor allem die Befreiung vom Militärdienst und die zugesicherte Religionsfreiheit. Ähnliches galt für die ab 1801 aus Württemberg zuziehenden Pietisten. Im Gegensatz zu den Wolgadeutschen hatten die Schwarzmeersiedler von Anfang an bessere Bedingungen, z.B. eigene Geräte und Vermögen und Landzuweisung als Privatbesitz. 5 In den Jahren 1803 bis 1823 (Alexander I.) wurden zur Besiedlung von Bessarabien Deutsche aus Polen, Mecklenburg, Pommern und Westpreußen angeworben, denen noch Siedler unmittelbar aus Südwestdeutschland (Württemberg, Nordbaden, Elsass, Südostpfalz, Hessen und Rheinland, die besonders durch die Rekrutierungen Napoleons und durch Steuerlasten betroffen waren) folgten. Die Einwan- 5 Allerdings gab es hier später zuziehende kleinere Gruppen, denen nur die Hälfte des Grundbesitzes der Mennoniten zugewiesen wurden und die aufgrund verwaltungstechnischer Missstände in ärmlichen Verhältnissen leben mussten (vgl. Brandes 1999: 24). derungspolitik Alexanders I. sah nicht mehr Masseneinwanderung, sondern die Einwanderung kleiner qualifizierter Gruppen von spezialisierten Landwirten und Handwerkern vor. Allerdings waren die Hälfte der Einwanderer (z.B. im Gebiet Odessa) Handwerker, Tagelöhner und Soldaten. Ausschlaggebend war ein Manifest Alexanders I., das den Siedlern Religionsfreiheit, Befreiung vom Kriegsdienst und zehnjährige Steuerfreiheit zusicherte. Weitere Siedlerzüge gingen nach Transkaukasien (Georgien, Aserbeidschan). Von 1830 bis 1870 (unter Nikolaus I. und Alexander II.) fand eine Massenansiedlung von Deutschen aus Polen und Galizien in Wolhynien statt. Durch das Erbrecht (ungeteilte Weitergabe des Besitzes) gab es eine wachsende Zahl von Kolonisten ohne Land, was zur Gründung von Tochterkolonien führte. Auch die steigenden Pacht- und Bodenpreise zogen Neugründungen in Gegenden mit günstigeren Preisen nach sich: nach 1890 wurden Tochtersiedlungen der bisherigen deutschen Siedlungen im Ural, in Sibirien und in Turkestan gegründet. Die letzte Siedlungswelle ging ab Mitte des 19. Jahrhunderts in die türkische Dobrudscha, in die vor allem deutsche Siedler aus Südrussland und Bessarabien zogen, da sich dort die Bedingungen verschlechterten: Im Zuge der panslawistischen Ideen wurden die Privilegien der deutschen Siedler immer mehr abgebaut, und sie wurden der russischen Bevölkerung gleichgestellt; das beinhaltete auch die Verpflichtung zum Militärdienst. Dieser dauerte 25 Jahre und wurde durch Losentscheid festgelegt, was für viele Bauernfamilien den wirtschaftlichen Ruin bedeutete. Für die Mennoniten war damit, wie bereits erwähnt, außerdem ein religiöses Problem verbunden. 6 1871 wird Deutsch als Amtssprache und ab 1880 als Schulsprache abgeschafft, und es macht sich eine zunehmende Russifizierungstendenz bemerkbar. Aufgrund der so unterschiedlichen Siedlungsbedingungen und auch der unterschiedlichsten Herkunftsgebiete der Siedler, sowohl 6 In dieser Zeit setzte bereits die Auswanderungswelle nach Übersee (besonders in die USA) ein, an der sich ebenfalls viele Mennoniten beteiligten. Claudia Maria Riehl 8 regional als auch sozial gesehen, kann man nicht von einer festen Gemeinschaft der Osteuropa-Deutschen sprechen: zu verstreut lagen die einzelnen Siedlungsschwerpunkte. Außerdem zeigen sich auch in den Mundarten ganz bedeutende Unterschiede, ebenso in der Volkskultur. Die deutsche Ostbesiedlung ist von einer sehr wechselvollen Geschichte geprägt, die sich auch auf den Erhalt und den Zustand der deutschen Sprache unter den deutschsprachigen Siedlern auswirkt. Eine gewisse Ausnahmestellung hat hier das Gebiet von Siebenbürgen, das quasi den Status eines autonomen Kleinstaats innehatte und im Laufe seiner ganzen Geschichte die deutsche Sprache bis heute bewahren konnte. Bei den übrigen Gebieten spielt v.a. die wechselnde politische Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Ein historisches Beispiel ist etwa Schlesien: Anfangs im Besitz polnischer Herzöge, von 1335 bis 1526 unter böhmischer Herrschaft, danach österreichisch, kam der weitgehend größte Teil nach 1740 zu Preußen. Nur ein kleiner Streifen verblieb bei Österreich (Breit 1998: 19ff.). Aber auch neuzeitliche Ansiedlungen können solche wechselnden Zugehörigkeiten mitmachen: Beispielsweise gehörte die heute in der Ukraine liegende deutschsprachige Siedlung um Mukatschewo ab 1878 Ungarn an, nach 1918 der Slowakei und nach 1945 der Sowjetunion, so dass als Umgebungssprachen heute noch neben dem Ukrainischen (Ruthenischen) das Ungarische, das Slowakische und das Russische eine Rolle spielen. Diese Sprachen werden auch von vielen (älteren) Sprechern noch parallel nebeneinander gesprochen. Für die heutige Sprachsituation hat aber allenfalls noch der Zustand um 1900 Auswirkungen. Grundsätzlich kann man ab dem Jahre 1868 von vier großen Gebieten sprechen, in denen deutschsprachige Gruppen beheimatet waren: Länder der ungarischen Krone (Transleithanien), Länder der österreichischen Krone (Zisleithanien), 7 Länder des Königtums 7 Nach dem sog. „Ausgleich“ 1848 unterschied man zwischen einer österreichischen Reichshälfte (die auch Galizien umfasste) und der ungarischen Reichshälfte. Preußen und Länder des russischen Zarenreiches. Eine geringe Rolle spielt in dieser Zeit Rumänien: auf diesem Gebiet befand sich damals nur die teilweise deutsch besiedelte Dobrudscha. Zur ungarischen Krone gehörten Transkarpatien, Sathmar, das Banat sowie das Großherzogtum Siebenbürgen. Österreich unterstanden dagegen Böhmen, Mähren, ein kleiner Teil Schlesiens, Galizien und die Bukowina. Die Unterschiede bestehen darin, dass die ungarische Regierung im transleithanischen Teil nach 1867 eine ganz starke Nationalisierungspolitik (Magyarisierung) durchsetzte und die ungarische Sprache als Staatssprache einsetzte, während Österreich keine offizielle Staatssprache hatte - wenngleich dem Deutschen aus historischen und verwaltungstechnischen Gründen eine Vorrangstellung zukam. Im zisleithanischen Teil herrschte daher eine Vielfalt und Gleichberechtigung von Sprachen, die in der Märzverfassung von 1848 programmatisch verankert wurde (vgl. Goebl 1994: 66). Das führte auch dazu, dass es ein mehrsprachiges Schulsystem gab. Schönes Beispiel dafür ist die Bukowina, in der von 1869 bis 1918 Deutsch, Ukrainisch (Ruthenisch), Rumänisch und in einigen Gebieten auch Ungarisch und Polnisch als Schulsprachen zugelassen waren (Burger 1995). In den Preußen unterstellten Gebieten (Schlesien, Pomerellen, Großpolen) war anfangs noch eine liberale Politik zu bemerken, dann aber setzte dort - ähnlich wie in Transleithanien, nur mit umgekehrten Vorzeichen - eine Germanisierungstendenz ein, unter der wiederum die polnischsprachige Bevölkerung zu leiden hatte (Piskorski 1994: 17). Für den Spracherhalt der deutschsprachigen Gruppen war dies natürlich förderlich. 3.2 Arbeitsmigration Neben den oben beschriebenen Siedlungswellen, die v.a. landwirtschaftliche Arbeitskräfte und Handwerker ins Land brachten, die sich zunächst in dörflichen Siedlungen niederließen, gibt es über alle Jahrhunderte hindurch eine Arbeitsmigration von hochqualifizierten Nach dem Grenzfluss Leitha wurde erstere als Zisleithanien und letztere als Transleithanien bezeichnet (vgl. Goebl 1994: 61). 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 9 Spezialisten wie Ärzten, Apothekern, Lehrern und anderen Angehörigen der Oberschicht, die besonders die städtischen Zentren bevölkerten. Hierher gehören auch Militärpersonen, besonders hohe Offiziere, die beispielsweise in den Dienst der russischen Zaren traten (Brandes 1999: 12). Diese Migranten bildeten etwa im 18. Jahrhundert in Moskau und St. Petersburg eine breite Schicht (1869: 46.000 Deutsche in St. Petersburg) neben Fachleuten für Heer, Marine, Rüstungsindustrie und anderen Spezialgebieten, die Peter der Große ins Land gerufen hatte. An der Petersburger Akademie der Wissenschaften, Universitäten und höheren Schulen unterrichten im 18. Jahrhundert viele deutsche Gelehrte. Die Deutschen hatten im 18. Jahrhundert in Moskau und später in St. Petersburg eine eigene Knaben- und eine Mädchenschule, mehrere Vereine und eine deutschsprachige Zeitung. Von allen ethnischen Minderheiten gab es unter den Deutschstämmigen in Russland am meisten Adlige, Ehrenbürger, Kleinbürger und Kaufleute (Brandes 1999: 13). Allerdings waren auch unter den Handwerkern die Deutschen stark vertreten: besonders Bäcker, Wurstmacher, Bierbrauer, Uhrmacher, Schneider und Schuhmacher kamen aus dem deutschsprachigen Raum. Hier ist aber zu bedenken, dass Angehörige der Oberschicht Träger der Mehrsprachigkeit sind und sich schneller an die Mehrheitsgesellschaft assimilieren als Handwerker. In dieser Schicht ist also weniger mit langfristigem Spracherhalt zu rechnen. 3.3 „Rücksiedlung“, Umsiedlung und Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg Eine radikale Änderung in der deutschen Besiedlung Osteuropas ergab sich aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs, die eine Siedlungsbewegung, die hier euphemistisch als „Rücksiedlung“ bezeichnet wird, auslöste. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um die „folgenschwerste, unfreiwilligste Massenwanderung des 20. Jahrhunderts“ (Gottas 1995: 27). Aus den Staatsgebieten von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wurden über 90 Prozent der dort siedelnden Deutschen nach Deutschland vertrieben. Lediglich Leute, die aus wirtschaftlichen Gründen gebraucht wurden (z.B. Arbeiter im Bergbau) oder die in einer interethnischen Ehe lebten, wurden zurückbehalten, hatten aber unter entsprechenden Repressalien zu leiden, was sich auch auf den Gebrauch der deutschen Sprache auswirkte. Von den südosteuropäischen Staaten schloss sich einzig Rumänien der Vertreibung nicht an: Siebenbürger und Zipser Sachsen und die Banater Schwaben konnten bleiben. 8 Allerdings entschlossen sich hier viele zur „freiwilligen“ Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Anders war die Situation für die Deutschen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion: Bis auf wenige Gebiete (einige Dörfer im westlichen Ural, vgl. dazu Schirokich in diesem Band) wurden alle Deutschen im europäischen Teil der damaligen UdSSR nach Kriegsausbruch 1941 nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Sie kamen vor allem in Gebiete, die man Ende der 1930er Jahre erfolglos zu besiedeln versucht hatte, nämlich nach Sibirien und Kasachstan, teilweise auch in Gebiete, in denen schon Deutsche siedelten. Etwa ein Viertel der deutschsprachigen Bevölkerung wurde in die Arbeitsarmee geschickt. Von der Deportation ausgenommen waren nur Frauen, die mit Männern anderer Volksgruppen verheiratet waren. Auch nach der Rehabilitierung (ab 1956) war es den Deportierten nicht möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Stattdessen siedelten die Russlanddeutschen - verstärkt seit den 1970er Jahren - im Zuge der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik oder in die DDR aus (Eisfeld 1999: 120ff.) Eine zweite große Aussiedlungswelle ist seit Anfang der 1990er Jahre zu beobachten. Durch die Öffnung der Grenzen und entsprechende Abkommen mit der deutschen Regierung vollzieht sich seit dieser Zeit eine radikale Abwanderung aus den Gebieten, in denen sich noch eine mehrheitlich deutschsprachige Be- 8 Hier ist jedoch hinzuzufügen, dass aus allen sowjetisch besetzten Gebieten Angehörige der deutschsprachigen Minderheit in die russische Arbeitsarmee (trudarmija) eingezogen wurden und teilweise dort ums Leben kamen. Claudia Maria Riehl 10 völkerung befand. Davon betroffen sind Siebenbürgen und das Banat, aber das gilt auch für das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, d.h. die Ukraine und Russland. 4 Sprachausgleich und Spracherhalt 4.1 Gründe für die Ausbildung einer bestimmten Koiné Die unterschiedlichen Siedlungsbewegungen haben auch Auswirkungen auf die Sprachentwicklung. Die mittelalterlichen Besiedlungen fanden vor der Zeit der Herausbildung einer Standardvarietät statt; die neuzeitlichen Siedler hingegen brachten zumindest passiv Kenntnisse in einer Standardvarietät mit. Interessant ist nun, dass auch die nicht unmittelbar an den deutschen Sprachverband anschließenden Siedlungsgebiete durch ihren regen Austausch mit dem Mutterland durchaus an der Herausbildung einer Standardvarietät Anteil haben. So war im Gebiet der Zips und in Siebenbürgen die städtische Kanzleisprache ab dem 16. Jahrhundert Deutsch (vorher Latein), auch wenn die Umgebung anderssprachig war (z.B. Bartfeld in der Ostslowakei). Auffällig an der Geschäfts- und Kanzleisprache dieses Raumes ist sogar, dass sie einen geringeren Einfluss der umgebenden Dialekte zeigen als das Binnendeutsche; beispielsweise findet man bei den 24 Zipser Städten eine großräumige Einheitlichkeit in ihrer Kanzleisprache (vgl. Protze 1995: 61). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass dem Umfeld der slawischen Sprachen, die noch nicht den gleichen Standardisierungsgrad erreicht hatten, ein überlandschaftlich geltendes Medium gegenübergestellt wurde (vgl. Protze 1995). Die Durchsetzung von bestimmten Mundarten wird von mehreren Faktoren bestimmt, die unterschiedlich zu gewichten sind. So lässt sich etwa die Durchsetzung von pfälzisch geprägten Mundarten in der Bukowina dadurch erklären, dass sich die sog. „Schwaben“ in eineinhalb Jahrhunderten um das sechzigfache vermehrten, die Deutschböhmen dagegen nur um das achtzehnfache. 9 Allerdings ist dieser Faktor der zahlenmäßigen Überlegenheit weit weniger ausschlaggebend als der „Mehrwert an Sprachgeltung“ (Protze 1995: 59 mit Verweis auf Mitzka). Rein (1999: 43) betrachtet als wichtigen Aspekt die sprachliche Distanz der jeweiligen Dialekte zur Bibelsprache, die im wesentlichen durch das Mitteldeutsche geprägt ist. In diesem Zusammenhang spielt auch die konfessionelle Zusammensetzung der Siedlergruppen eine wichtige Rolle. Innerhalb der einzelnen Kolonien ist interessant, dass sie konfessionell homogen waren und die regionale Herkunft sekundär war. Protze verweist hier auf die von Schirmunski getroffene Unterscheidung zwischen primären und sekundären Dialektmerkmalen: „auffallende (oder einen gewissen Anstoß erregende) Besonderheiten (die ‘primären’ Merkmale) werden neutralisiert, selbst wenn diese durch die Mehrheit der Sprecher vertreten werden, während sich die weniger auffallenden (die ‘sekundären’ Merkmale) in die neuentstandene Mischmundart hinüberretten“ (Protze 1995: 58). Protze erklärt damit vor allem die Tatsache, dass besonders niederdeutsche Mundarten eingeebnet werden: hier sei die Ablehnung auffälliger mundartlicher Primärmerkmale am größten. Als Beispiel führt Protze eine Studie von Eckert an, derzufolge sich in den bessarabischen Mutterkolonien das Schwäbische schon zu über 92 Prozent durchgesetzt hatte und das Niederdeutsche in den Tochterkolonien zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestorben war (zu den verschiedenen Faktoren auch Rosenberg 1994). Auch für das rumänische Catalui gibt Gadeanu an, dass hier ein Prestigegefälle zwischen dem Schwäbischen mit höherem sozialen Prestige und dem Niederdeutschen mit niedrigerem sozialen Prestige festzustellen sei (Gadeanu 1998: 65). Letzteres hält sich nur noch in religiösen Splittergruppen wie z.B. bei den Baptisten. Diese 9 Protze verweist allerdings auf eine Studie von Irion, die belegen will, dass sich die Siedler aus unterschiedlichen Gegenden untereinander nicht verstanden haben und daher kein Ausgleich stattfinden konnte (Protze 1995: 70). 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 11 Tatsachen decken sich auch mit meinen eigenen Beobachtungen im Ural: das wolgadeutsche Element ist hier noch stark vertreten, während Niederdeutsch kaum mehr gesprochen wird. Auch hier gingen die Sprecher inzwischen zum Hochdeutschen über. 4.2 Faktoren für Spracherhalt und Sprachwechsel Neben den Ausgleichs- und Etablierungsprozessen der jeweiligen deutschen Varietäten in den entsprechenden Gebieten, können auch unterschiedliche historische Bedingungen dafür verantwortlich sein, dass die deutsche Sprache in der Gemeinschaft überhaupt bewahrt wird oder zugunsten der Mehrheitsund/ oder Umgebungssprache aufgegeben wird. Einer der wichtigsten Faktoren für den Spracherhalt ist der Typus der Siedlung, d.h. ob es sich um geschlossene, rein deutsche Siedlungsgebiete handelt wie etwa bei den Wolgadeutschen oder den Siedlungen des Banat, oder um gemischte Ansiedlungen, wie man sie z.B. in der Dobrudscha oder in der Bukowina vorfand. Während sich die ersteren aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung und eines Monolinguismus in der angestammten Sprache definierten, waren für die anderen Mehrsprachigkeit und uneinheitliche Siedlungsgeschichte ausschlaggebend für fehlende regionale Identität. Es kam auch nicht zu dem in 4.1 erwähnten sprachlichen Ausgleich innerhalb der deutschsprachigen Gruppen. Uneinheitliche Siedlungen kamen besonders durch Binnenwanderungen zustande, wobei sich ursprüngliche Sprachinselminderheiten auch mit „neuen“ Siedlern aus dem geschlossenen deutschen Sprachraum mischen konnten (z.B. in der Dobrudscha durch Nachzug von religiösen Gruppen, etwa württembergische Pietisten, vgl. Gadeanu 1998: 63). Dies ist nicht unbedeutend für den Aspekt der „sprachlichen Erneuerung“, die ebenfalls für den Fortbestand der deutschen Sprache verantwortlich ist. So kann man gerade in Sprachkontaktgebieten eine sehr starke Normorientierung feststellen (vgl. Riehl 1994 und eigene Beobachtungen in Namibia), die sich im Falle des Deutschen an der binnendeutschen Norm ausrichtet. Sprecher, die aus dem binnendeutschen Gebiet stammen, werden oft als Gewährspersonen für „reines“ Deutsch angesehen, und ihre Sprachgewohnheiten werden kopiert. Auf diese Weise können Sprachkontaktphänomene, besonders lexikalische Übernahmen aus der Kontaktsprache, wieder rückgängig gemacht werden. Dieser zweite Typus der Siedlung findet sich v.a. in Städten. Städte sind grundsätzlich immer Zentren der Mehrsprachigkeit (prominente Beispiele: Prag, St. Petersburg, Temeschwar u.a.) und sind oft auch in ein anderssprachiges Umland gebettet. Die mehrsprachige Stadtkultur ist vor allem typisch für Ungarn. Seit dem 15. Jahrhundert gibt es hier städtische Besiedlung mit Stadtrechten; allerdings muss man wieder unterscheiden zwischen Handelsstädten und Bergbaustädten. Städte sind nicht nur mehrsprachig, sie haben auch eine wichtige Funktion im Hinblick auf Sprachausgleich oder aber Kultivierung einer Standardvarietät. Während das Deutsche in den Dörfern rein als Haus- und Umgangssprache gepflegt wurde, hatte es in den Städten auch den Status einer Kultursprache, die zudem von Nichtmuttersprachlern erworben wurde. Das gilt etwa für die Czernowitzer Stadtsprache im 19. Jahrhundert in gleicher Weise wie für die Temeswarer Stadtsprache. Für beide kommt aber auch der österreichische Einfluss zum Tragen (vgl. Gadeanu 1998: 110ff.). Das heißt also, dass für die Ausprägung einer bestimmten Standardvarietät auch die Zugehörigkeit zur österreichisch-ungarischen Monarchie und innerhalb derer die Zugehörigkeit zu Transleithanien oder Zisleithanien von Bedeutung war. Diese äußeren Bedingungen hatten nun wieder Auswirkungen auf das Prestige der deutschen Sprache als kodifizierter Standardvarietät. Daneben spielt auch die Größe der Sprachgemeinschaft insgesamt eine Rolle. Dies hat Auswirkungen auf den Kontakt zu Sprechern anderer Umgebungssprachen: je kleiner die Gemeinschaft und je offener die Gruppe, desto mehr ist es erforderlich, dass man weitere Sprachen beherrscht. Allerdings gilt hier: Der Weg zum Sprachwechsel führt zwar über Mehrsprachigkeit, aber umgekehrt führt Mehr- Claudia Maria Riehl 12 sprachigkeit nicht zwingend zum Sprachwechsel. Denn hier spielt der Bildungsstand der Sprecher eine entscheidende Rolle. Je höher der Bildungsgrad, desto größer ist die Sprachpflege und die Sorge um den Erhalt von Mehrsprachigkeit - wenn nicht ideologische Gründe dagegensprechen. Daher kann sich Sprachwechsel in Städten und Dörfern sowie in einzelnen sozialen Schichten unterschiedlich abspielen. In Ungarn blieb beispielsweise das städtische Deutschtum zunächst bestehen, während das deutsche Bauerntum im 14. und 15. Jahrhundert im ungarischen aufging. Dabei handelte es sich um eine freiwillige Assimilation. Mit der zweiten Siedlungswelle im 18. Jahrhundert kamen erneut deutschsprachige Bauern ins Land, die aber mit den deutschsprachigen Städtern keinen Kontakt hatten. Auch die Deutschen, die sich in dieser Zeit in den Städten niederließen, pflegten den Kontakt zu Angehörigen ihrer eigenen sozialen Gruppe, also dem Bürgertum, egal welcher Sprachgruppenzugehörigkeit, und nicht zu den Angehörigen ihrer Sprachgruppe, den deutschsprachigen Bauern. Damit bestand mit Ausnahme von Westungarn und der Zips kein Zusammenhang von deutschsprachigem Bürgertum und deutschsprachigen Bauern. Dies hatte zur Folge, dass sich das städtische Bürgertum immer mehr magyarisierte und damit freiwillig den Sprachwechsel vom Deutschen zum Ungarischen vollzog, während die Landbevölkerung deutschsprachig blieb. Die Problematik bestand aber darin, dass die deutsche Volksgruppe damit ihre Intelligenzschicht verlor. In allen Sphären oberhalb der bäuerlichen Welt trat die ungarische Hochbzw. Umgangssprache auf. Das deutschsprachige Bauerntum hatte daher hart zu kämpfen, um die deutsche Sprache zu erhalten, z.B. die deutschsprachige Dorfschule. Ein weiterer bedeutender Faktor ist das Prestige des Deutschen im Vergleich mit den Umgebungssprachen, was wiederum mit dem Sozialgefälle der Sprachgruppen zusammenhängt. In einer mehrsprachigen Gesellschaft stellt der leichte Zugang zu einer dominierenden Sprache eine Begünstigung dar. Es gibt einen „Assimilationssog“ von ethnischen und sprachlichen Gruppen, die bessere Aufstiegschancen besitzen (Stourzh 1995: 37). Allerdings ist hier - auch bedingt durch unterschiedliche Allianzen und die Verschiebung des Einflussbereichs einer Gruppe - mit einem Wechsel des Prestiges zu rechnen. Für das Deutsche gilt das vor allem für die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, wo das Prestige praktisch auf Null gesunken war. Einen großen Prestigeschub gab es dann wiederum nach 1990, da die deutsche Sprache von vielen Osteuropäern als Chance für wirtschaftlichen Aufstieg gesehen wurde. Ein anderer Aspekt ist der Institutionalisierungsgrad des Deutschen, d.h. ob es als offizielle Sprache an Schulen und in Vereinen vertreten ist und ob es deutschsprachige Medien gibt. Damit einher geht die Verteilung der schriftlichen und mündlichen Kompetenzen: nur Deutsch im Mündlichen und eine andere Sprache im Schriftlichen oder Deutsch auch als konzeptionell schriftliche Varietät. Dies hängt zusammen mit dem juristischen Status, d.h. einer offiziellen staatlichen Anerkennung der Minderheitensprache. In Gebieten, in denen die deutsche Sprache als Amtssprache zugesichert war, wie beispielsweise in der Wolgarepublik, war die deutsche Sprache Unterrichtssprache, Sprache der Öffentlichkeit und der Medien. Noch in den 1920er Jahren waren die deutschsprachigen Zeitungen sehr wenig von der Kontaktsprache beeinflusst und konnten als Sprachnorm dienen. Wichtig für den Erhalt der Sprache ist auch der Kontakt zum „Mutterland“, der entweder durch ständigen Nachzug neuer Siedler aus dem geschlossenen deutschen Sprachraum oder aber durch den Austausch mit dem Mutterland (z.B. indem man junge Leute zur Ausbildung dorthin schickt) erfolgen kann. Wie bereits erwähnt, gab es in einigen Kolonien Neuzuzug von Siedlern (wie am Schwarzen Meer), der sich aber nur über eine kurze Zeit erstreckte. Anders ist die Situation in den städtischen Zentren, in denen immer wieder neue Arbeitsmigranten zuzogen (Beispiel St. Petersburg). Sie kommen nicht nur aus den unterschiedlichsten Regionen des deutschen Sprachraums, sondern bringen auch sprachliche Neuerungen aus dem Mutterland mit. In den Grenzgebieten zu Deutschland oder Österreich und 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 13 im Kleinstaat Siebenbürgen wurden viele junge Leute zum Studium oder zur Fachausbildung in deutsche oder österreichische Orte geschickt. Sie wurden ebenfalls mit Neuerungen in der Standardsprache konfrontiert und brachten diese wieder in ihre Heimat mit. In neuerer Zeit besteht dieser Kontakt auch durch den Empfang von Rundfunk- und Fernsehprogrammen aus den deutschsprachigen Ländern. In den grenznahen Gebieten von Tschechien und Polen war dies sogar während der Zeit des Sozialismus möglich; seit 1990 wird in den Gebieten, die sich das finanziell leisten können, deutschsprachiges Programm via Satellit empfangen (dazu auch Földes 1993: 226 mit Zahlen aus Ungarn). Schließlich sind noch zwei weitere Faktoren zu bedenken, die für den Erhalt der Sprache besonders wichtig sind: das Ausmaß der Endogamie und die religiöse Bindung an die Sprache. So waren etwa in Siebenbürgen vor dem Zweiten Weltkrieg Mischehen zwischen Deutschsprachigen und Rumänischsprachigen verpönt. Gemischtsprachige Familien waren daher selten. In der gleichen Gruppe unterschied sich die deutschsprachige Bevölkerung auch von der rumänischsprachigen und anderen Nationalitäten dadurch, dass sie dem protestantischen Glauben anhing. Die Gottesdienste sind daher noch bis heute auf Deutsch. Ganz anders ist das etwa in Ungarn, wo die deutschsprachige Bevölkerung in der großen Mehrheit die gleiche Konfession hatte wie die ungarischsprachige Umgebung, nämlich römisch-katholisch. Auch in der Ukraine (Transkarpatien) ist festzustellen, dass nach Auflösung der deutschsprachigen Messen die römisch-katholische deutschsprachige Bevölkerung ungarische Messen besuchte und dies auch heute noch abwechselnd mit den deutschen tut. Damit verliert auch eine wichtige Domäne, nämlich die Kirche, ihr Sprachmonopol. Zu diesen externen Faktoren kommen interne wie Überdachungssituation und Verwandtschaftsgrad der Kontaktsprachen hinzu. Wie bereits erwähnt, ist die Erstsprache in den meisten Gebieten deutschsprachiger Minderheiten eine deutsche Mundart und nicht die deutsche Standardsprache. Die deutsche Standardsprache konnte in den meisten Fällen im schulischen Kontext erworben werden. Sobald aber die deutsche Sprache nicht mehr in der Schule gelehrt wurde, wurde das standardsprachliche Dach von der Mehrheits- oder Umgebungssprache eingenommen. Das hat auf sprachstruktureller Ebene zur Folge, dass sprachliche Neuerungen entweder unterbleiben, da sie nicht mehr aus der deutschen Standardsprache übernommen werden können und somit die Dialekte archaischere Züge tragen (Berend 1998: 23), oder dass andererseits Elemente aus der Kontaktsprache entlehnt werden. Es entsteht also hier eine eigene Mischvarietät. Darüber hinaus dürfte sich auch der Verwandtschaftsgrad des Deutschen mit den jeweiligen Kontaktsprachen auf die Übernahme von Elementen aus dieser Sprache auswirken. Allerdings ist der Unterschied im Verwandtschaftsgrad des Deutschen zu den slawischen Sprachen einerseits und zur rumänischen Sprache andererseits nicht so gravierend, dass hier große Auswirkungen auf ein unterschiedliches Tempo der Sprachmischungsprozesse zu erwarten wären. Tatsächlich beobachtet man nur, dass es im Rumänischen mehr etymologisch verwandte (meist lateinbasierte) Lexeme gibt, die dann ihr semantisches Bedeutungsfeld in Analogie zur Kontaktsprache ausdehnen (z.B. prätendieren ‘fordern’, komplettieren ‘zuteilen’ etc.). Beim Sprachkontakt mit dem Ungarischen ist zu erwarten, dass aufgrund der typologischen Unähnlichkeit der beiden Sprachen die Sprachmischungsprozesse verlangsamt werden könnten. Allerdings sprechen dagegen Beobachtungen von Földes (1996: 30f.), wonach im deutsch-ungarischen Sprachkontakt sogar morphologischer Transfer von Illativ- und Sublativsuffixen stattfindet. Ebenfalls als Parameter ist noch die soziopsychische Disposition der Sprecher, d.h. Einstellungen und Meinungen gegenüber der eigenen Sprache, anzuführen. Gerade wenn es sich um dialektale Varietäten des Deutschen handelt, die nicht durch die Standardsprache überdacht sind, könnte der Faktor der eingeschränkten Verwendungsmöglichkeit und eine ablehnende Bewertung dialektaler For- Claudia Maria Riehl 14 men in der Umgebungsgesellschaft eine weniger positive Einstellung gegenüber der Muttersprache zur Folge haben. 10 Diese verschiedenen Faktoren haben nun in unterschiedlicher Gewichtung und Bündelung Auswirkungen auf Spracherhalts- und Sprachwechselprozesse. Allerdings ist hier davon auszugehen, dass sowohl die Kombination der Faktoren als auch ihre Gewichtung in den verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich ausfällt. Bis zum Ersten Weltkrieg waren hier besonders die Zugehörigkeit zu Zisleithanien oder Preußen (Schule in deutscher Muttersprache) oder Transleithanien (Magyarisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts), die Religionszugehörigkeit (Lutheraner im katholischen Umfeld oder Katholiken/ Lutheraner in orthodoxem Umfeld), das Prestige des Deutschen (Deutsch als Amts- und Bildungssprache oder nicht), damit einhergehend der unterschiedliche Ausbau der Umgebungssprachen (vor allem als Amtssprachen) und die Zahl der Kommunikationspartner für den Erhalt der deutschen Sprache ausschlaggebend. Der Zweite Weltkrieg bewirkte nun eine so einschneidende Veränderung in den deutschsprachigen Ostsiedlungen, dass nur noch die älteste Generation, die noch vor 1945 die deutschsprachige Schule besuchte, als einzige die Mehrsprachigkeitssituation widerspiegelt, wie sie vor dem Kriege war. Für die Situation seit 1945 ist dagegen bestimmend, ob es nach Flucht und Vertreibung noch geschlossene Siedlungsgebiete gab und welche Möglichkeiten den deutschsprachigen Minderheiten eingeräumt wurden, ihre angestammte Sprache zu benutzen. In einigen Gebieten konnte man das zumindest im Familienkreis noch tun (Rumänien, Russland), in anderen hatte man auch hier mit Schwierigkeiten zu rechnen (Tschechien, Ungarn, Polen), so dass die Sprache nicht mehr uneingeschränkt an die Kinder weitergegeben wurde. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, inwieweit die Sprecher der Elterngeneration überhaupt die Zweitsprache beherrscht haben, damit sie in der Lage wa- 10 Dies lässt sich etwa für das Elsass belegen, vgl. Riehl 2002. ren, sie auch mit den Kindern zu sprechen. Auch hier gibt es wieder große Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und zwischen Stadt und Land: während die Stadtbevölkerung in einer mehrsprachigen Umgebung aufwuchs, war in einigen Gegenden (z.B. Banat, Wolgaregion) die Bevölkerung in den Dörfern vor dem Zweiten Weltkrieg einsprachig deutsch. Viele lernten die Umgebungssprache erst, als sie berufsbedingt in die Stadt kamen (z.B. als Dienstmädchen bei einem ungarischen Herrn) oder als sie deportiert wurden. Deshalb verfügten etwa Leute aus dem Wolgagebiet, die in den frühen 1920er Jahren geboren waren, über so schwache russische Sprachkenntnisse, dass sie auch nach dem Kriege mit ihren Kindern Deutsch sprechen mussten, auch wenn diese auf Russisch antworteten. Anders war dies in der Generation, die dann nach 1945 die Schule in der Zweitsprache besuchte. Hier ist noch ausschlaggebend, ob es für die deutschsprachige Minderheit möglich war, Sprachunterricht in der Muttersprache zu besuchen oder nicht, oder ob es sogar weiterhin ein deutschsprachiges Schulwesen gab (wie in Siebenbürgen und im Banat). Die Schule spielt heute eine ungleich höhere Rolle für den Spracherhalt als vor 150 Jahren. Während etwa um 1850 erst zehn Prozent der schulpflichtigen Kinder eingeschult waren und die Analphabetismusrate entsprechend hoch war, ist heute das Beherrschen einer Sprache in Wort und Schrift eine grundsätzliche Voraussetzung. Mehrsprachigkeit bezieht sich nicht mehr nur auf die mündliche Kompetenz in mehreren Sprachen, sondern erfordert in der modernen Gesellschaft auch die Aneignung schriftkultureller Fertigkeiten in diesen Sprachen. Dies erfolgt im institutionellen Kontext, in der Regel in der Schule. Damit einher geht der Erwerb einer entsprechenden Standardvarietät, d.h. der Dachsprache der zu Hause gesprochenen Mundart. In Gegenden, in denen nur eine anderssprachige Überdachung der deutschen Mundart möglich ist, ist diese Mundart akut gefährdet (vgl. Riehl 2002). Allerdings verstärkt sich auch in Gegenden, die komplexere Diasysteme mit einem skalaren Übergang von Dialekt über 1. Die deutschen Sprachgebiete in Mittel- und Osteuropa 15 Umgangssprache zur Standardsprache besitzen, unter dem Druck der Mehrsprachigkeit die Tendenz, diese Diasysteme zu reduzieren. Davon ist zum Beispiel die komplexe Triglossie-Situation in Siebenbürgen und im Banat betroffen; die Dialekte verschwinden zugunsten einer näher am Standard orientierten Umgangssprache, die dem Rumänischen dann gleichwertig gegenübersteht (vgl. Rein 1979 und 1999). Eine weitere Dimension ist politischer Natur und ist seit 1990 aktuell: die bereits erwähnte radikale Abwanderung aus bisher noch stabilen Gemeinschaften. Das gilt vor allem für Siebenbürgen und das Banat, die aufgrund verschiedener oben erwähnter Faktoren für Spracherhalt, vor allem aber durch die kontinuierliche Möglichkeit der schulischen Ausbildung in deutscher Sprache, die deutsche Sprache noch in vielen wichtigen Domänen bewahrt haben und die jetzt gleichsam „leerlaufen“. Wie in Russland ist der massive Bevölkerungsexodus nun für eine Auflösung vieler Kommunikationssituationen des Deutschen verantwortlich. Dies kann wohl durch den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache an deutschsprachigen Schulen nur bedingt aufgefangen werden. Allerdings besteht nun auch in allen anderen osteuropäischen Ländern für die deutschsprachige Gruppe die Möglichkeit, in Sprachkursen und Begegnungszentren ihre deutschen Sprachkenntnisse zu reaktivieren und zu intensivieren. Inwieweit sich das auch auf den aktiven Gebrauch der Sprache in Alltagssituationen auswirkt, bleibt abzuwarten. 5 Literatur Berend, Nina (1998): Sprachliche Anpassung. Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen. Tübingen: Narr (=Studien zur deutschen Sprache; 14). Brandes, Detlef (1999): Deutsche auf dem Dorf und in der Stadt von der Ansiedlung bis zur Aufhebung des Kolonialstatuts. In: Eisfeld, Alfred (Hrg.): Die Russlanddeutschen. München: Langen Müller (=Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche; 2), S. 11-44. Breit, Holger (1998): Die Deutschen in Oberschlesien. München: Pöllinger. 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Russland 2 Nina Berend/ Claudia Maria Riehl mit einem Anhang von Renate Blankenhorn und einem Anhang von Valerij Schirokich Inhalt 1 Geographische Lage und Besonderheiten.............................................................................. 19 2 Demographie und Statistik ....................................................................................................... 20 3 Geschichte .................................................................................................................................. 21 3.1 Entstehung und Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg ............................................... 21 3.2 Die deutsche Minderheit im Zweiten Weltkrieg .............................................................. 22 3.3 Nachkriegsentwicklungen (bis zum Zerfall der Sowjetunion) ....................................... 22 4 Politische, rechtliche und kulturelle Aspekte ......................................................................... 24 4.1 Politische Besonderheiten ................................................................................................... 24 4.2 Rechtliche Aspekte............................................................................................................... 26 4.3 Kulturelle Aspekte................................................................................................................ 27 4.3.1 Muttersprachlicher Deutschunterricht ................................................................... 27 4.3.2 Außerschulischer Deutschunterricht, Begegnungsstätten ................................... 28 4.3.3 Pressewesen, Fernsehen, Rundfunk........................................................................ 28 4.3.4 Verbände .................................................................................................................... 30 4.3.5 Die Kultur der Minderheit, Institutionen............................................................... 31 4.3.6 Buchpublikationen, literarisches Schaffen ............................................................. 32 5 Soziolinguistische Situation des Russlanddeutschen............................................................. 33 5.1 Kontaktsprachen .................................................................................................................. 33 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ................................................................... 33 5.2.1 Regionaler Standard (geschrieben) .......................................................................... 33 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher ............................................... 34 5.2.3 Dialekte ....................................................................................................................... 37 5.2.4 Sprachliche Charakteristika der russlanddeutschen Varietäten ........................... 38 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) ........................... 44 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung ........................................................... 44 6 Sprachgebrauch und -kompetenz ............................................................................................ 46 6.1 Allgemeines ........................................................................................................................... 46 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten...... 47 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen ................ 48 6.3.1 Konstellation 1: Qualitativ bestimmte Kontakte .................................................. 48 6.3.2 Konstellation 2: Quantitativ bestimmte Kontakte................................................ 50 6.3.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch.................. 51 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen.................................................................... 51 7 Spracheinstellungen................................................................................................................... 51 7.1 Affektive Bewertung ............................................................................................................ 51 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation ............................................................................................... 53 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal ..................... 53 8 Faktorenspezifik ........................................................................................................................ 54 8.1 Geographische Faktoren ..................................................................................................... 54 8.2 Historische und demographische Faktoren...................................................................... 54 8.3 Kulturelle Faktoren .............................................................................................................. 55 8.4 Soziolinguistische Situation................................................................................................. 55 9 Literatur ...................................................................................................................................... 55 Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien. Von Renate Blankenhorn ....................... 59 Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien. Von Valerij Schirokich ................... 71 Kapitel 1 bis 4: Nina Berend; Kapitel 5 bis 8: Claudia Maria Riehl. 1 Geographische Lage und Besonderheiten Die deutsche Minderheit lebt nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in den verschiedenen Nachfolgestaaten der GUS. Die einzelnen Gebiete mit einem nennenswerten deutschen Bevölkerungsanteil bilden keine geographisch zusammenhängenden Räume, sondern liegen in verschiedenen, häufig weit voneinander entfernten Teilen der heutigen GUS- Staaten. Durch massenhafte Binnenmigration und wegen Auswanderungen nach Deutschland hat sich die Siedlungsgeographie der Minderheit im letzten Jahrzehnt grundsätzlich verändert. Das äußert sich einerseits in der Schrumpfung der Siedlungsgebiete der Minderheit in den mittelasiatischen Republiken (Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan) und andererseits in der Ausweitung der bereits existierenden Siedlungsschwerpunkte im westsibirischen und europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion (Russische Föderation und Ukraine). Durch Bildung „neuer“ Siedlungsgebiete in den angestammten Gebieten der russlanddeutschen Minderheit ist eine langsame Verlagerung der Ansiedlung auf die herkömmlichen Regionen der russlanddeutschen Minderheit beobachtbar. Es ist daher gegenwärtig praktisch nicht möglich, genaue Angaben zum Gebiet mit Deutschsprachigen und den entsprechenden Grenzen ihres Aufenthalts zu machen. Offiziell sind die Gebiete alle einsprachig, auch die unlängst gebildeten Deutschen Nationalen Rayons (DNR) in Sibirien, und sie haben keine deutschsprachigen Bezeichnungen. Die Russlanddeutschen selbst haben auch keine spezifischen Bezeichnungen für ihre Wohngebiete, sie sind in der geographischen Selbstidentifikation gegenwärtig völlig assimiliert; lediglich in Bezug auf die historische Perspektive differenzieren sich die älteren Angehörigen der Minderheit noch als Wolga-, Ukraine-, Kaukasus-, Krim- oder Sibiriendeutsche. Die russlanddeutsche Minderheit bildet auch innerhalb der einzelnen Staaten der GUS keine geographische Einheit, sondern lebt entweder mit gewissen Konzentrationen verstreut unter der Mehrheitsbevölkerung oder in den noch erhaltenen sprachinselähnlichen Siedlungen, in denen sie nur noch selten zahlenmäßig die stärkste Gruppe bildet. Über die genauen Bevölkerungsgruppen und Konstellationen liegen zurzeit keine Daten vor. Die geographische Lage und der demographische Zustand der deutschen Minderheit und der früheren deutschen Siedlungen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt unüberschaubar. Das westlichste Siedlungsgebiet ist nach den vorliegenden Informationen Neu-Strelna bei Petersburg, eine Siedlung, die vor einigen Jahren mit Unterstützung Deutschlands als neuer Siedlungsschwerpunkt für Russlanddeutsche errichtet wurde. Die östlichste geographische Wohngegend ist das fernöstliche Chabarowsk, ca. 8.000 Kilometer östlich von Moskau. Hier existiert eine registrierte Gesellschaft der Russlanddeutschen, die vor einigen Jahren die „Konferenz der Russlanddeutschen im Fernen Osten“ durchgeführt hat (IDDSU: 36/ 1997, S. 50). Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die gegenwärtigen deutschsprachigen Gebiete (d.h. Gebiete mit einem hohen Anteil deutscher Bevölkerung) gegeben: - Westsibirien, das die Gebiete Omsk, Tomsk, Nowosibirsk, Kemerowo und Altai umfasst, ist aktuell die zentrale Siedlungsregion der deutschen Minderheit. Hier befinden sich auch die beiden vor einigen Jahren gebildeten Deutschen Nationalen Rayons (Asowo im Omsker Gebiet und Halbstadt in der Region Altai). - Das nördliche Kasachstan grenzt an Südwestsibirien im Norden und ist die zentrale Region mit deutscher Minderheit in der Republik Kasachstan (mit der Region um die frühere Hauptstadt Almaty). Diese Region umfasst folgende Gebiete: Akmola, Karaganda, Pawlodar, Kostanai, Nordkasachstan. - Die Ural-Region (Baschkirien, Gebiet Swerdlowsk, Tschelabinsk und Orenburg) ist die drittwichtigste Siedlungsregion der deutschen Minderheit. Sie grenzt im Osten an Westsibirien und im Süden an Nordkasachstan. - Die Wolga-Region (die Gebiete Saratow und Wolgograd) gehört zu den neuen Siedlungsschwerpunkten auf dem Gebiet der ehemaligen ASSR der Wolgadeutschen, die von der Regierung Russlands (mit Unterstützung Deutschlands) nach dem Zerfall der Sowjetunion eingerichtet wurden. - Die Region Petersburg: Hier ist ebenfalls ein neuer Siedlungsschwerpunkt mit der Unterstützung Deutschlands in Angriff ge- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 20 nommen worden. (Die Gegend um Petersburg gehört zu den ehemaligen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheiten in Russland). - Die Südukraine: besonders das Gebiet Odessa, wohin Angehörige der deutschen Minderheit insbesondere aus den mittelasiatischen Republiken flüchteten, als sich dort die Lebensverhältnisse verschlechterten. (Aber auch in andere der oben genannten Regionen erfolgte die Auswanderung aus den mittelasiatischen Republiken, besonders nach Westsibirien in die DNR). - Die Republik Kirgisien: Tschuj und Sokuluk sind noch kompakte Siedlungen der deutschen Minderheit, ebenso wie die Umgebung der Hauptstadt Bischkek (ehem. Frunse). 2 Demographie und Statistik Die zahlenmäßige Stärke der deutschen Minderheit wird durch Volkszählungen erfasst, die in der Sowjetunion bisher ca. alle zehn Jahre stattgefunden haben. Erhoben wird bei der Volkszählung u.a. die Nationalität und die Muttersprache. Die Nationalität bedeutet nationale (ethnische) Zugehörigkeit und entspricht nicht der Staatsbürgerschaft, sondern der Abstammung (Konzept der Volksnation im Gegensatz zur Staatsnation). Die Nationalität im Sinne der Volkszugehörigkeit (z.B. Russisch, Kasachisch, Deutsch, Tschetschenisch) wurde in der Sowjetunion im Pass angegeben, die Staatsbürgerschaft (sowjetisch) jedoch nicht. Für die Identitätsbildung der russlanddeutschen Minderheit ist die Rolle der Eintragung der Volkszugehörigkeit (Nationalität) nicht zu unterschätzen. Nach der letzten Volkszählung der Sowjetunion im Jahre 1989 bekannten sich 2.038.603 Bürger der UdSSR zur deutschen Nationalität. Die 1989 registrierte demographische Lage der deutschen Minderheit hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren grundlegend verändert. Das betrifft vor allem die mittelasiatischen Republiken. In Kasachstan, wo nach der Volkszählung 1989 fast eine Million Angehörige der deutschen Minderheit lebte, wurden nach den Ergebnissen der dort 1999 durchgeführten Volkszählung nur noch 353.400 Personen deutscher Nationalität gezählt, was einen Rückgang von 62,7 Prozent bedeutet. Die Mehrheit ist nach Deutschland und ein Teil in die Siedlungsschwerpunkte Russlands ausgewandert. Die Auswanderungsmotive sind vor allem politisch und ethnisch bedingt (z.B. die Einführung des Kasachischen als Staatssprache und Druck gegenüber Minderheiten). Auch in der Kirgisischen Republik ist eine starke Abwanderung der deutschen Bevölkerung zu verzeichnen. Nach den Ergebnissen der Volkszählung 1999 lebten dort noch 21.500 Bürger deutscher Nationalität (gegenüber 101.309 im Jahr 1989). In Usbekistan wird die Zahl der dort noch lebenden Russlanddeutschen auf ca. 16.000 geschätzt, in Tadschikistan sind lediglich noch 1.000 bis 2.000 Angehörige der Minderheit registriert. In der Russischen Föderation (RF) gestaltet sich die demographische Situation der deutschen Minderheit etwas anders. Bei der Volkzählung 1989 lebten in der RF 842.295 Russlanddeutsche. Nach den vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung 2002 beträgt die Zahl der erfassten Deutschen noch 597.100 Personen. Die Zahl der Minderheit in Russland ist somit, trotz Ausreisen in großem Umfang (fast 500.000 Personen von 1992 bis 1999), immer noch groß. Das hängt erstens damit zusammen, dass eine beträchtliche Zuwanderung von Deutschen nach Russland aus den mittelasiatischen Republiken stattgefunden hat; zweitens ist dies sicherlich auch auf die ethnische Rückbesinnung und Aufwertung der deutschen Nationalität zurückzuführen. Wo sich früher die Kinder aus binationalen Familien bei der Wahl der Nationalität häufig für den russischen, ukrainischen usw. Elternteil entschieden, bekam in den letzten Jahren die Zuschreibung als deutscher Volkszugehöriger eine gewisse Attraktivität. Auf der Grundlage des Ausmaßes der staatlichen Migration innerhalb der GUS und der Auswanderung nach Deutschland kann konstatiert werden, dass in den 1990er Jahren ein gewaltiger Bevölkerungsschub stattgefunden hat, der, in manchem vergleichbar mit der Umsiedlung am Anfang des Zweiten Weltkrieges, eine völlig andere geographisch-demographische Disposition der russlanddeutschen Minderheit bewirkte. Da sich die politische und rechtliche Situation der Minderheit noch nicht stabilisiert hat, sind weitere Migrationsprozesses und Auswanderungen nach Deutschland zu erwarten. 2. Russland 21 3 Geschichte 3.1 Entstehung und Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg Die Geschichte der deutschen Minderheit beginnt mit der Einwanderung im 18. und 19. Jahrhundert. Nach dem Manifest der Zarin Katharina II. im Jahr 1763 und in der Inaussichtstellung verschiedener Privilegien begann die Auswanderung aus Westeuropa nach Russland. Auswanderungsregionen aus Deutschland waren vor allem Hessen, Baden, die Pfalz, das Elsass und Nordbayern. Es entstanden in Russland deutsche Kolonien bei Petersburg und in den brachliegenden Steppen zu beiden Seiten des Flusses Wolga (die spätere Wolgadeutsche Republik). Die Zahl der Einwanderer in diesen Jahren wird auf 23.000 bis 29.000 geschätzt. Ab 1785 begann die Einwanderung von Mennoniten aus der Danziger Gegend, die im gerade eroberten und noch nicht besiedelten Schwarzmeergebiet, im sogenannten „Neurussland“, angesiedelt wurden. Ihnen folgten zahlreiche Auswanderer aus Baden, der Pfalz, dem Elsass und Lothringen. Insgesamt wird die Zahl der in Neurussland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Angesiedelten auf ca. 55.000 geschätzt, die Kolonien in Bessarabien und im Kaukasus (Georgien und Aserbaidschan) miteingeschlossen. Die Einwanderer ließen sich in einem bis dahin nicht besiedelten Territorium nieder und gründeten deutsche Siedlungen, die in der Regel (mit wenigen Ausnahmen) bis zum Zweiten Weltkrieg bestanden. Hinzu kamen im Laufe der Jahrzehnte bis Ende des 19. Jahrhunderts neue sog. Tochtersiedlungen, die von den Nachfahren der ersten Einwanderer in der Ukraine, auf der Krim und im Kaukasus gegründet wurden. Letzte Tochtersiedlungen entstanden am Anfang des 20. Jahrhunderts in Westsibirien, Südural und Nordkasachstan im Rahmen der sogenannten Stolypinschen Reform. Die bei der Einwanderung zugesagten Privilegien - freie Religionsausübung, Befreiung von Militärdienst und steuerfreie Jahre - wurden zunächst eingehalten. So konnten die Kolonien nach anfänglichen Schwierigkeiten wirtschaftliche Erfolge aufweisen. Dazu trug besonders die Tatsache bei, dass die Kolonien nicht der örtlichen, sondern einer speziell für sie geschaffenen Zentralverwaltung (Sonderverwaltung) unterstanden und daher in die Verwaltungsstruktur der örtlichen russischen Umgebung nicht eingebunden waren, was gewisse Vorteile mit sich brachte. Im Zuge der großen Reformen (ab 1861 z.B. die Abschaffung der Leibeigenschaft) wurde der spezifische „Kolonistenstand“ aufgehoben und die Militärpflicht eingeführt, wodurch der erste Schritt zur Russifizierungspolitik erfolgte. Ein weiterer Schritt war die Russifizierung der deutschen Schulen und Bildungseinrichtungen, die in den Kolonien im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut worden waren. Die immer deutlicher werdende Russifizierungspolitik, der starke Bevölkerungsüberschuss und die Landknappheit lösten eine Massenauswanderung aus; Tausende von Deutschen verließen Ende des 19. Jahrhunderts/ Anfang des 20. Jahrhunderts Russland in Richtung Übersee. Als nach der Oktoberrevolution und dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1922 die Sowjetunion gegründet wurde, begann die neue Nationalitätenpolitik der sowjetischen Regierung, nach der alle Völker am Aufbau des Sozialismus teilnehmen sollten. Das Territorium der deutschen Kolonien an der Wolga, das bereits ab dem 19. Oktober 1918 als autonomes Gebiet („Arbeitskommune“) anerkannt war, wurde 1924 zu einer ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetische Republik) der Wolgadeutschen aufgewertet. Auch in Gebieten mit deutschen Siedlungen außerhalb der Wolga-Region (Ukraine, Kaukasus, Krim, Sibirien) wurden deutsche Landkreise, sogenannte Rayons, oder Dorfsowjets gebildet. Die deutsche Sprache wurde in der Wolga- Republik und in den anderen nationalen Verwaltungseinheiten zur Amts- und Unterrichtssprache. Das spielte eine Rolle für die Stärkung der deutschen Identität und Bildung des Selbstbewusstseins der russlanddeutschen Minderheit. Bis zu Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft hat die deutsche Minderheit in allen Landesteilen eine gewisse Blütezeit erlebt bzw. eine Art Aufschwung oder Aufbruch wegen der politischen Bedeutung des Deutschen als Amtssprache. Insbesondere in der Bildungspolitik und im kulturellen Bereich ist zu diesem Zeitpunkt und später Einiges erreicht worden. Es gab allgemeine deutsche Schulen, Fachhochschulen und einige Hochschulen mit deutschsprachigem Unterricht, deutsche Arbeiterfakultäten und deutsche Theater. In Engels, der Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen, existierte ein deutscher Staatsverlag, der Schulbücher und an- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 22 dere deutschsprachige Literatur druckte. Eine Reihe von deutschen Zeitungen und Zeitschriften wurde in Engels, Odessa, Moskau und anderen Städten herausgegeben. Parallel zu diesen positiven Entwicklungen haben sich einige für die Minderheit weniger erfreuliche Ereignisse angebahnt. Es begann die Zwangskollektivierung der Bauernwirtschaft und die Entkulakisierung und Verbannung von Deutschen, die als „Kulaken“ (wohlhabende Bauern) eingestuft wurden, nach Sibirien und Kasachstan. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Ausreise, die von vielen Deutschen in Angriff genommen worden wäre, nicht mehr möglich. Die berüchtigten stalinistischen Säuberungen haben die deutsche Minderheit stark getroffen. Besonders die Anschuldigungen der Verbindungen mit dem Ausland und dem nationalsozialistischen Deutschland waren der Grund für Verhaftungen und Verurteilungen als „Spione, Volksfeinde, Diversanten“. Zehntausende der Angehörigen der deutschen nationalen Minderheit sind in den Jahren 1937/ 1938 zu Opfern des Terrors geworden. Trotz intensiver Forschung nach der Wende ist gerade in diesem Punkt der Geschichte der deutschen Minderheit in Russland noch ein großes Forschungsdefizit vorhanden. 3.2 Die deutsche Minderheit im Zweiten Weltkrieg Der entscheidende Eingriff in das Leben und die Existenz der deutschen Minderheit entsteht mit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg. Für die Minderheit beginnt eine Tragödie, von der sie sich bis heute nicht völlig erholt hat. Am 30. August 1941 wurde in der Zeitung „Nachrichten“ (und anderen deutschen Regionalzeitungen) ein Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR über die Deportation veröffentlicht (vgl. Eisfeld/ Herdt 1996), wonach in den nächsten Tagen die gesamte deutsche Bevölkerung der Wolga-Republik und aller anderen deutschen Siedlungsgebiete (außer den bereits von den deutschen Truppen besetzen Gebieten westlich des Dnjepr) in den Osten des Landes deportiert werden sollte. Deportationsgebiete waren West- und Ostsibirien und Kasachstan. Die Deportierten wurden als „Sondersiedler“ unter die Aufsicht der Kommandantur gestellt und durften diese ohne Genehmigung nicht verlassen bzw. mussten sich regelmäßig bei den örtlichen Behörden melden. Kurz nach der Deportation wurde die männliche Bevölkerung (und später auch die weibliche) in die sogenannte „Trudarmija“ (Arbeitsarmee) einberufen. Besonders im Norden und im Ural wurden die „Arbeitsarmisten“ oder „Trudarmisten“ eingesetzt. Dieser Einsatz dauerte bis 1946-1948. Aber auch nach dem Ende des Krieges war es den Deutschen verboten, sich frei zu bewegen und höhere Bildungsanstalten zu besuchen. Erst Ende 1955 hob ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR die Kommandanturaufsicht auf. Ab jetzt durften die Russlanddeutschen zwar den Wohnort wechseln, die Rückkehr in die früheren Heimatgebiete (Wolga-Gebiete, Ukraine, Krim, Kaukasus oder die Städte Moskau bzw. Leningrad) war jedoch verboten. Die vor dem Krieg existierende Wolga-Republik wurde nicht wieder hergestellt, ebenso nicht die deutschen Rayons und die deutschen Dorfsowjets. Nach der teilweisen Rehabilitation setzte eine weitere Migrationswelle ein, indem die Deutschen aus den nördlichen Gebieten des Einsatzes in der „Arbeitsarmee“ zu ihren Angehörigen in die südlicheren Deportationsgebiete zurückkehrten. Die 1954 begonnene Neulanderschließung war für viele deportierte Deutsche eine „Gelegenheit“ zum Neuanfang in Kasachstan oder Südsibirien. So begann die Minderheit den Aufbau ihrer Nachkriegs-Existenz in den Deportationsgebieten. Auch die aus Deutschland 1945 repatriierten Russlanddeutschen suchten einen neuen Wohnort in östlichen Teilen des Landes, da ihnen Rückkehr in die ursprünglichen Heimatgebiete der Vorkriegszeit verboten war. 3.3 Nachkriegsentwicklungen (bis zum Zerfall der Sowjetunion) Im Ergebnis der Deportation, der Mobilisierung an die Arbeitsfront, Repatriierung und der nach dem Krieg eingetretenen Binnenmigration entstand bis ca. Mitte der 1960er Jahre eine völlig neue Siedlungs- und Bevölkerungsverteilung der deutschen Minderheit. Nur ein ganz geringer Teil der Minderheit lebte im europäischen Teil Russlands und in der Ukraine, mehr als die Hälfte dagegen in Kasachstan und Mittelasien und ein hoher Prozentteil in West- und Ostsibirien. Verändert hat sich auch die Stadt-Land-Verteilung 2. Russland 23 der Bevölkerung und sozial-berufliche Strukturierung. Während 1926 nur 15 Prozent der Angehörigen der deutschen Minderheit der Stadtbevölkerung angehörten, waren es 1979 bereits 50 Prozent. Somit war ein deutlich höherer Urbanisierungsgrad der Minderheit erreicht als vor dem Krieg. Ein großer Bevölkerungsteil der Minderheit übte wie in den Deportationsjahren wenig attraktive Berufe in Bergbau und Industrie oder im Dienstleistungsbereich aus. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Kriegsgeneration der Minderheit (zwischen 1941 und 1956) in der Regel keine Schulbildung bekommen hatte und dass aufgrund behördlicher Diskriminierung nur wenige Angehörige der Minderheit eine Fachbzw. Hochschule besuchen konnten. Die Situation der deutschen Sprache, die vor dem Krieg immerhin als Amts- und Unterrichtssprache fungierte, hat ihre Rolle im öffentlichen Bereich völlig verloren. Lediglich im privaten Sprachgebrauch, in der Regel in einigen bereits vor dem Krieg bestehenden Siedlungen in Sibirien, Kasachstan und im Ural, wurde sie noch als Verkehrs- und Kommunikationsmittel genutzt. Aber auch in diesen Siedlungen wurde das Russische allmählich zum vorherrschenden Mittel der öffentlichen Kommunikation. Kindergärten, Schulen und nahezu alle Arbeitsbereiche wurden sprachlich immer mehr vom Russischen dominiert. Eine ähnliche Situation erfuhr das Deutsche als Sprache der Medien. Für die ganze Sowjetunion gab es in der Nachkriegszeit in deutscher Sprache nur die überregionale Wochenzeitschrift „Neues Leben“, die seit 1957 als Organ der „Prawda“ in Moskau erschien. Zwei Regionalzeitungen, die Kreiszeitung „Rote Fahne“ (für die Region Slawgorod) und die Tageszeitung „Freundschaft“ (seit 1966) in Kasachstan, vervollständigten das Angebot für fast zwei Millionen Angehörige der deutschen Minderheit. Nicht besser war die Situation im Rundfunk: In Omsk oder Slawgorod z.B. betrug die Länge der deutschsprachigen Sendungen nur fünfzehn bis dreißig Minuten pro Woche. Ab 1958 wurde in einigen Schulen der sog. muttersprachliche Deutschunterricht eingeführt. Dabei ging es jedoch tatsächlich nicht um Deutsch als Unterrichtssprache, sondern lediglich um einen erweiterten Deutschunterricht nach einem speziellen Programm (für spezielle Klassen) mit besonderer Berücksichtigung von Kindern mit deutschem Dialekt als Muttersprache. Dieser muttersprachliche Deutschunterricht scheiterte oft wegen Mangels an dafür qualifizierten Lehrern bzw. speziell dafür konzipierten Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Die meisten Schulkinder der Minderheit sind aus verschiedenen Gründen nicht in den Genuss dieses muttersprachlichen Deutschunterrichts gekommen. So trat eine intensive Erweiterung der Russischkompetenz ein, während die Deutschkompetenz rasch abnahm. Die Ergebnisse der Volkszählungen belegen, dass im Jahr 1926 noch 95 Prozent aller Russlanddeutschen Deutsch als ihre Muttersprache betrachteten. Mit jeder Volkszählung ging diese Zahl beträchtlich zurück: 1956 waren bereits nur noch 75 Prozent, 1970 66,8 Prozent und 1979 57,7 Prozent. Bei der letzten Volkszählung in der Sowjetunion, die 1989 stattfand, bekannten sich nur noch 48,7 Prozent der Russlanddeutschen zum Deutschen als Muttersprache. Insgesamt ist die Nachkriegsentwicklung der deutschen Minderheit in der Sowjetunion unter dem kommunistischen Regime als sehr unbefriedigend zu beschreiben. Maßgebliche Faktoren der Problemsituation der russlanddeutschen Minderheit waren die fehlende rechtliche Rehabilitierung, das Verbot der Rückkehr in die früheren Siedlungsgebiete, die Nicht- Wiederherstellung der autonomen Republik (bzw. anderer Formen der Staatlichkeit) und die Nicht-Gleichberechtigung mit anderen Bürgern der Sowjetunion. Die Angehörigen der Minderheit wurden noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschiedenen Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die unmittelbar mit der deutschen Nationalität zusammenhingen. Das geht aus vielen Statistiken hervor, z.B. dem Prozentsatz der deutschen Hochschulabsolventen im Vergleich zu Angehörigen anderer Nationalitäten, den Daten über die niedrige Qualifikation, die Vertretung in der Verwaltung und politischen Gremien bzw. akademische Berufe und Anteil der Deutschen an Führungskräften. Auch die nach dem Krieg geborenen Angehörigen der Minderheit haben diesen Druck hart zu spüren bekommen. Der Grund für die Diskriminierungen und Benachteiligungen war der rechtliche und politische Status der Minderheit. Die Tatsache, dass sie nicht voll rehabilitiert wurden, wurde auch dafür genutzt, sie auf verschiedenen Partei- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 24 ebenen und bei der russischen Bevölkerung als nicht gleichberechtigt gelten zu lassen. Nur sehr zögernd und in kleinen Schritten hat die sowjetische Regierung minimale Zugeständnisse an die russlanddeutsche Volksgruppe gemacht. So wurde der Vorwurf der Kollaboration erst im Jahre 1964, also erst fast zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges, als nicht zutreffend zurückgenommen. Damit war die Rehabilitierung keineswegs vollbracht, denn nach wie vor wirkte das Verbot der Rückkehr in die früheren Siedlungsgebiete. Die Wiederherstellung der Autonomen Republik an der Wolga stand Jahrzehnte lang nicht auf der Tagesordnung, ja sogar das öffentliche Erwähnen dieser Republik war in der Sowjetunion tabu. Trotzdem hat die Minderheit die Idee und den Wunsch nach der Wiederherstellung der eigenen Staatlichkeit nicht aufgegeben. Der Erhalt der deutschen Identität, der deutschen Kultur und der deutschen Sprache konnte nur gewährleistet werden durch die Schaffung von gut funktionierenden deutschsprachigen Medien, von Bildungsinstitutionen und kulturellen Einrichtungen im Rahmen einer eigenen autonomen Staatlichkeit. Die Minderheit setzte sich in der Nachkriegszeit verstärkt für die ungelösten Probleme ein. Doch waren die Aussichten auf die Beseitigung der oben aufgezählten Faktoren unter den Bedingungen des Regimes erfolglos, und die immer wieder aufgenommenen Bewegungen der Minderheiten wurden von den Partei- und Sicherheitsorganen mit aller Macht unterdrückt. Erst mit der Ära Gorbatschow und der folgenden Politik der Erneuerung war es kurzzeitig zu einer offenen Diskussion über die Lage der deutschen Minderheit in der Sowjetunion gekommen. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Wiederherstellung der autonomen Republik und die Lösung der Probleme um die Zukunft der deutschen Minderheit in greifbarer Nähe. Doch daraus wurde vorerst nichts. Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich die deutsche Minderheit plötzlich in verschiedenen sich mühevoll herausbildenden Staaten. Nach verschiedenen separaten Entwicklungen stellt sich die aktuelle Situation in verschiedenen Ländern heute unterschiedlich dar. In den nächsten Abschnitten werden einige Aspekte der aktuellen politischen, rechtlichen und kulturellen Lage der deutschen Minderheiten in den einzelnen Ländern der ehemaligen Sowjetunion erläutert. 4 Politische, rechtliche und kulturelle Aspekte 4.1 Politische Besonderheiten Mit der politischen Wende in Osteuropa und der Sowjetunion hat sich auch die politische Lage der Minderheiten in vielerlei Hinsicht verändert. Nach dem Zerfall der ehemaligen UdSSR ist die deutsche Minderheit in den einzelnen früheren Unionsrepubliken mit zum Teil sehr unterschiedlichen politischen Konstellationen konfrontiert. Gemeinsam für alle Nachfolgestaaten war jedoch eine relative Offenheit und Zuwendung der jeweiligen Regierung der deutschen Minderheit gegenüber. Insbesondere Anfang der 1990er Jahre wurden in den neuen Staaten einige Bemühungen unternommen, die Probleme der Russlanddeutschen positiv zu lösen und ihre politische Lage zu verbessern. Eine besondere Rolle spielte dabei die tatkräftige (finanzielle) Unterstützung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Entscheidend für die politische Lage der russlanddeutschen Minderheit war seit Anfang der 1990er Jahre die Zusammenarbeit der Regierungen von Deutschland und Russland und anderen Staaten der GUS in Form von regelmäßigen Sitzungen der Regierungskommissionen zu Fragen und Problemen der Minderheit. Bereits 1990 hat Deutschland den „Vertrag über gute Nachbarschaft“ mit der UdSSR abgeschlossen, dem dann in einigen Abständen vertragliche Vereinbarungen mit der Russischen Föderation und anderen Staaten der GUS folgten. Die Regierung der Bundesrepublik setzte sich zunächst konsequent für die Interessen der deutschen Bevölkerung in diesen Staaten und ihre Minderheitenrechte ein. Sie unterstützte das wichtigste politische Ziel der russlanddeutschen Minderheit, die Wiederherstellung der territorialen Autonomie, und unterzeichnete bereits 1992 das „Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen der Regierung der Russischen Föderation und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur stufenweisen Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“. Auch die Regierung Russlands bekannte sich darin zur „Wiederherstellung der Republik der Deutschen in den tra- 2. Russland 25 ditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga“ und unternahm am Anfang einige Schritte zur Lösung der territorialen Frage der deutschen Minderheit. Bereits 1991 wurde der Beschluss des Obersten Sowjets der RSFSR „Über unaufschiebbare Maßnahmen zur Lösung der Probleme der Sowjetdeutschen auf dem Gebiet der RSFSR“ angenommen. Im Jahr 1992 unterzeichnete Präsident Jelzin den Erlass „Über Sofortmaßnahmen zur Rehabilitation der Russlanddeutschen“. Ebenfalls 1992 wurden zwei „Deutsche Nationale Rayons“ Asowo im Omsker Gebiet und Halbstadt in der Altai-Region, per Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Russischen Föderation geschaffen, die über etwas mehr Selbstbestimmungsrecht auf der Gemeindeebene verfügen sollten. Weitere Aktivitäten in dieser Richtung wurden zu diesem Zeitpunkt in Angriff genommen. Doch schon bald änderte sich die Situation, und es wurde klar, dass das zentrale Ziel der Minderheit, die territoriale Autonomie und Wiederherstellung der Republik an der Wolga, nach wie vor unerfüllbar ist. Trotz vieler folgender kleiner Schritte und Versprechungen und trotz zahlreicher Erlasse und scheinbarer Bemühungen konnte die letztlich hinhaltende Politik der russischen Regierung nicht zum Erfolg führen. Die Halbherzigkeit der Bemühungen und das Fehlen des politischen Willens zur Realisierung der Autonomie führten zur Eskalation der Spannungen zwischen der Regierung und den Minderheitenorganisationen und zu Protesten der mittlerweile auf dem Gebiet der ehemaligen Autonomen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen ansässigen russischen Bevölkerung gegen eine Wiederherstellung der Republik auf diesem Territorium. Spätestens als Präsident Jelzin ein Militärsversuchsgelände (zwar in der Wolga-Republik, aber außerhalb des früheren Territoriums) als mögliches Autonomiegebiet für die Deutschen in Erwägung zog, wurde das Scheitern des Vorhabens der territorialen Autonomie deutlich. Im Jahr 1996 wurde als Lösung für das Nationalitätenproblem der deutschen Minderheit die „Nationalkulturelle Autonomie“ vorgeschlagen. In dieser Kulturautonomie manifestiert sich seit 1997 ihr politischer Status. Die Kulturautonomie soll größere kulturelle Selbstbestimmung gewährleisten, aber ohne eigenes Territorium. Für die Verwirklichung der Kulturautonomie wurde 1997 das „Föderale zweckgebundene Programm zur Entwicklung der sozial-ökonomischen und kulturellen Basis für die Wiedergeburt der Russlanddeutschen für 1997 bis 2006“ vorgelegt, das für zehn Jahre vorgesehen war und zurzeit noch läuft. Das Programm wird von Russland und Deutschland finanziert und sieht zahlreiche Maßnahmen in verschiedenen Regionen Russlands vor. Die Kulturautonomie wurde im Prinzip gegen den Willen der deutschen Minderheit gebildet, da die politische Autonomiebewegung, mit der Gesellschaft „Wiedergeburt“ an der Spitze, Zusatzlösungen außer der territorialen Autonomie konsequent abgelehnt hat. Der wichtigste Kritikpunkt an der Kulturautonomie seitens der „Wiedergeburt“ war die Eingebundenheit und völlige Abhängigkeit der Finanzierung vom Staat und das Fehlen von Selbstbestimmungsrechten und Selbstverwaltung. Andererseits gewährleistet die Kulturautonomie sicherlich, wenn auch nur zum Teil, eine gewisse Verbesserung in Bezug auf den Erhalt der deutschen Sprache und Kultur und somit Elemente der Stabilisierung der Minderheitensituation. Insbesondere die lokalen und regionalen Filialen der Gesellschaft „Wiedergeburt“ nutzen die Möglichkeit der Kulturautonomie und betätigen sich aktiv an ihrer Verwirklichung. Bei der politischen Mitbestimmung bleibt die deutsche Minderheit trotz der Kulturautonomie praktisch nach wie vor völlig unberücksichtigt. Eine politische Partei oder eine politische Interessensvertretung im Parlament hat die Minderheit nicht, abgesehen vom Nationalitätenausschuss der Duma, der allgemein für verschiedene nationale Bevölkerungsgruppen zuständig ist. Es gibt zwar in allen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion Interessensvertretungen der russlanddeutschen Minderheiten: das Volksparlament der Krimdeutschen, den Rat der Deutschen Kasachstans (registrierter Verband), den Rat der Deutschen Russlands und den Rat der Deutschen Kirgisiens. Das Ausmaß der politischen Macht dieser Verbände ist jedoch im Allgemeinen nicht sehr hoch und erstreckt sich - wenn überhaupt - eher auf Bildungs- und Kulturmaßnahmen als auf politische Entscheidungen (vgl. IDDSU: 38/ 1997, S. 40). Im Jahr 1997 wurde von der Regierung der Republik Kasachstan z.B. die Verordnung „Über zusätzliche Maßnahmen zur eth- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 26 nischen Wiedergeburt der Deutschen, die in der Republik Kasachstan leben“ angenommen. Zuständig war das entsprechende Ministerium; nur bei unmittelbarer Betroffenheit sollten die Maßnahmen mit dem russlanddeutschen Verband „Wiedergeburt“ abgestimmt werden (IDDSU: 39/ 1997, S. 31). Das Scheitern der politischen Ziele der Minderheit ist zurückzuführen auf die Tatsache, dass in Russland gegenwärtig noch keine demokratische Ordnung herrscht und dass jegliche in diesem Bereich stattgefundenen Maßnahmen bzw. Prozesse (noch) keine demokratischen Vorgänge (im westlichen Verständnis des Begriffs) waren. Die unzureichende Vertretung der Interessen der Minderheit hängt auch mit dem Fehlen von Geschlossenheit der russlanddeutschen Verbände zusammen, was zur Verminderung des politischen Drucks in Bezug auf die Interessen der Minderheit führte. Das Fehlen von Geschlossenheit schwächte die Verbände und führte dazu, dass ihre Registrierung als „föderale Gesellschaft“ nicht erreicht wurde und dass sie somit als politische Kraft und Interessensvertretung der Minderheit als nicht relevant anzusehen sind. 4.2 Rechtliche Aspekte Nach dem Zerfall der Sowjetunion und auf dem Weg zur neuen politischen Ära einer demokratischen Gesellschaft hatten bzw. haben Russland und die anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion insbesondere in Bezug auf die rechtlichen Aspekte vieles nachzuholen und zu verbessern. Dies betrifft in erster Linie die Beseitigung der Folgen von Verbrechen und Repressalien während der stalinistischen Zeit. Bereits 1991 wurden in der RSFSR zwei wichtige Gesetze verabschiedet, die auch die deutsche Minderheit unmittelbar betrafen: das Gesetz „Über die Rehabilitierung repressierter Völker“ und das Gesetz „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressalien“. Nach dem Gesetz „Über die Rehabilitierung repressierter Völker“ sollten unter anderem die im Zweiten Weltkrieg verfassungswidrig aufgelösten Autonomen Republiken und Gebiete wiederhergestellt werden. Diese Maßnahmen sollten den Beginn der rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Rehabilitierung der repressierten Völker Russlands einleiten. Die beiden wichtigen Gesetze sind jedoch bis heute, zwölf Jahre nach ihrer Verabschiedung, nicht umgesetzt worden, und ihre Umsetzung wird konsequent blockiert. Dafür werden verschiedene Gründe verantwortlich gemacht, z.B. die Tatsache, dass es sich lediglich um sogenannte „Rahmengesetze“ handele, die für alle von Repressalien betroffenen Völkern gelten (Tschetschenen, Akkinen, Griechen, Koreaner und Russlanddeutsche). Der Artikel 13 schreibt direkt vor, die Besonderheiten bei der Umsetzung für jedes von Repressalien betroffene Volk in einem gesonderten Gesetz zu berücksichtigen. Die Durchführungsbestimmungen zur Umsetzung der Gesetze sind noch nicht vollständig im Gesetz enthalten. Die Regierung wurde vom Obersten Sowjet beauftragt, diese Durchführungsbestimmungen auszuarbeiten. Parallel zur Kulturautonomie wurde an einem Entwurf für das Gesetz „Über die Rehabilitierung der Russlanddeutschen“ gearbeitet, das in Ergänzung zum Gesetz „Über die Rehabilitierung der von Repressalien betroffenen Völker“ verabschiedet werden sollte. Der Gesetzentwurf wurde der Staatsduma zur Prüfung vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf sieht die juristische, politische, territoriale, materielle (wirtschaftliche), soziale und kulturelle Rehabilitierung der Russlanddeutschen vor. Die politische Rehabilitierung (Artikel 4 des Gesetzentwurfs) betrifft die nationale Autonomie der Russlanddeutschen im Bestand der Russischen Föderation. Sie soll in Form eines Systems (also mehrerer) kompakter Siedlungsgebiete, jedes mit dem Status einer national-territorialen Einheit, wiederhergestellt werden. Dieses System der Siedlungen soll die Grundlage für das Fortbestehen der Russlanddeutschen als Volk in der Zukunft bilden. Von einer Autonomen Wolga- Republik ist im Gesetzentwurf nicht mehr die Rede. Bis zur Wiederherstellung der nationalen Autonomie soll die Föderale Kulturautonomie der Russlanddeutschen das Recht bekommen, die Interessen der Russlanddeutschen im Föderationsrat der föderativen Versammlung durch zwei Vertreter wahrzunehmen. Durch die territoriale Rehabilitierung (Artikel 5) soll die Minderheit das Recht erhalten, in dünn- und unbesiedelten Gegenden kompakte Siedlungen mit 2.000 und mehr Personen zu bilden, mit Selbstverwaltung und dem Status einer nationalen territorialen Einheit (Nationaler Rayon, Dorfsowjet u.a.). Die 2. Russland 27 soziale Rehabilitierung (Artikel 7) sieht die Gleichstellung der Trudarmisten (ehemalige Angehörige der Trudarmee) mit Teilnehmern am Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Vergünstigungen vor. Im Rahmen der kulturellen Rehabilitierung (Artikel 8) soll eine durchgängige Ausbildung in deutscher Sprache in den kompakten Siedlungsarten der Russlanddeutschen vom Kindergarten bis zur Schule unter den Bedingungen der Zweisprachigkeit organisiert werden. Dafür und für die Wiederherstellung der deutschsprachigen Medien sollen finanzielle Mittel aus dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt werden. Im Entwurf sind auch die Realisierungsmechanismen und Rehabilitierungsgarantien geregelt. Seit Dezember 1999 liegt das Gesetz der Staatsduma zur Verabschiedung vor. Ob allerdings dieses Gesetz in absehbarer Zeit oder überhaupt irgendwann verabschiedet wird, ist unklar. Zwischen der Republik Kasachstan und der Bundesrepublik Deutschland wurde 1996 in Almaty eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei der Unterstützung der Bürger deutscher Nationalität der Republik Kasachstan getroffen (IDDSU: 32, S. 20). In Artikel 5 handelt es sich um die Ermöglichung des Gebrauchs der deutschen Sprache in Gebieten mit kompakten Siedlungen der Deutschen, die Förderung der Verbreitung der deutschen Sprache in Schulen und an Universitäten und die Unterstützung der weiteren Entwicklung der Massenmedien in deutscher Sprache. In Kasachstan war 2002 noch kein Gesetz über nationale Minderheiten verabschiedet. Allgemein kann festgehalten werden, dass trotz einiger Zugeständnisse in den letzten zehn Jahren die rechtliche Situation der deutschen Minderheiten in den Staaten der ehemaligen GUS immer noch unbefriedigend ist. Sie ist gekennzeichnet durch die unzureichende Umsetzung einiger verabschiedeter Gesetze. 4.3 Kulturelle Aspekte 4.3.1 Muttersprachlicher Deutschunterricht Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Deutsche die Amts- und Unterrichtssprache in der Wolgadeutschen Republik und in allen Deutschen Nationalen Rayons. Nach dem Krieg hat die deutsche Sprache ihre Rolle völlig eingebüßt und wurde lediglich vereinzelt im Status „Deutsch als Muttersprache“ unterrichtet. Der Unterricht für Deutsch als Muttersprache wurde in den Nachkriegs-Siedlungsgebieten im Ural, in Sibirien und Kasachstan eingeführt. Konkret handelte es sich um die Einrichtung von speziellen Klassen mit erweitertem Deutschunterricht, der bereits ab der ersten oder zweiten Klasse stattfand. Dieser Unterricht sollte nach speziellen Programmen und speziellen Lehrbüchern organisiert werden. Der Hauptunterschied zum DaF-Unterricht bestand darin, dass er für dialektsprechende Kinder, also für Schüler mit deutschen Vorkenntnissen, konzipiert werden sollte. Aufgrund des Mangels an speziell für diesen Unterricht ausgebildeten Lehrern, an Lehrbüchern und Anschauungsmaterialien konnte dieser Unterricht allerdings diesen Ansprüchen nicht gerecht werden. Auch war die Zahl der Schulen mit speziell für diesen Unterricht eingerichteten Klassen bei weitem nicht ausreichend, so dass die Mehrheit der Kinder der deutschen Minderheit nicht die Möglichkeit hatte, in den Genuss dieses Unterrichts zu kommen. Sie hatten lediglich die Möglichkeit, im besten Fall in der Schule Deutsch als Fremdsprache zu erlernen. Im Jahr 1996 wurden Änderungen und Ergänzungen zum Bildungsgesetz der Russischen Föderation vorgenommen. Den Bürgern der Russischen Föderation wird das Recht auf eine Grundausbildung in der Muttersprache und die Wahl der Lehrsprache im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zugestanden (IDDSU: 30-31/ 1996, S. 42). Dies betrifft auch die Sprache der Völker Russlands ohne eigene Staatlichkeit, zu denen auch die deutsche Minderheit zählt. Allerdings geht die Zahl der Schulen, in denen Deutsch als Muttersprache unterrichtet wird, in letzter Zeit kontinuierlich zurück. Das betrifft alle Regionen mit kompakten Siedlungen, sowohl in Russland als auch in Kasachstan. Auch die Schulen in den Deutschen Nationalen Rayons sind davon betroffen, da in den letzten Jahren auch dort Schülermangel mit Vorkenntnissen des Deutschen aufgetreten ist. Während früher in den deutschen Siedlungen Schüler zu Schulbeginn keine Russischkenntnisse besaßen, so ist heute genau das Gegenteil zu beobachten. So hat sich der frühere Unterricht für Deutsch als Muttersprache gegenwärtig in einen erweiterten Fremdsprachenunterricht verwandelt, Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 28 der nicht nur für Kinder der deutschen Minderheit, sondern auch für Schüler anderer Nationalitäten durchgeführt wird. Alle Schüler, die in den Genuss dieses Unterrichts kommen, profitieren heute von den verbesserten Lehrbüchern und Anschauungsmaterialien, die für die deutsche Minderheit konzipiert und teilweise von Deutschland aus finanziert werden. 4.3.2 Außerschulischer Deutschunterricht, Begegnungsstätten Im letzten Jahrzehnt hat der außerschulische Deutschunterricht in Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine außerordentlich wichtige Bedeutung bekommen. Im Rahmen des Programms für nationale Minderheiten in Osteuropa und Zentralasien, das von der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird, werden Sprachkurse, Sonntagsschulen und Sprachlager organisiert, die sich in der ehemaligen Sowjetunion bei allen Nationalitäten (nicht nur der deutschen Minderheit) großer Beliebtheit erfreuen. Das Programm hat mit der Regierung Schröder die Ziele gewechselt und ist nicht mehr nur auf großangelegte wirtschaftliche Projekte und die Einrichtung von „Inseln der Hoffnung“ (so H. Waffenschmidt, der frühere Aussiedlerbeauftragte der Regierung Kohl) beschäftigt. Das neue Programm möchte sich auf den Erhalt der deutschen Sprache bei der Minderheit und die Einrichtung des außerschulischen Deutschunterrichts konzentrieren. Der außerschulische Deutschunterricht wird in Begegnungsstätten bzw. Begegnungszentren, in Deutschen Häusern oder Deutschen Kulturzentren durchgeführt, die im Rahmen des Programms der Bundesrepublik Deutschland für nationale Minderheiten in Osteuropa und Zentralasien in allen Siedlungsregionen der Minderheit eingerichtet wurden. Gegenwärtig (August 2003) existieren nach Angaben der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) mehr als 650 Begegnungszentren, die größte Zahl davon in Russland, ca. 70 jeweils in Kasachstan und der Ukraine. Das vom Bundesinnenministerium finanzierte Programm hat das Ziel, die deutschen Minderheiten in den GUS-Staaten zu unterstützen und sie zu bewegen, in ihrem Herkunftsgebiet zu bleiben und nicht auszusiedeln. Die verschiedenen im Rahmen des Programms angebotenen Maßnahmen sind in erster Linie an die Minderheit gerichtet, schließen aber das nichtdeutsche Umfeld nicht aus. Nach Angaben der GTZ haben bisher mehr als 400.000 Teilnehmer aus Russland und Kasachstan von den angebotenen Sprachkursen aller Art Gebrauch gemacht. Auch das Goethe-Institut ist am Programm beteiligt. Zusammen mit der GTZ und russischen Partnern wurde für den außerschulischen Deutschunterricht das zielgerichtete Lehrbuch „Hallo Nachbarn“ entwickelt. Der Unterricht wird in verschiedenen Formen angeboten: an sogenannten Sonntagsschulen für Erwachsene, in Sommer- und Wintersprachlagern für Jugendliche und Kinder, als kostenloser Anfangsunterricht oder auch bereits kostenpflichtige Kurse für Fortgeschrittene vom Goethe-Institut. Die Angehörigen der Minderheit profitieren manchmal vom Deutsch-Unterricht bei der Prüfung, die sie vor der Ausreise nach Deutschland bestehen müssen, um in Deutschland als Aussiedler anerkannt zu werden. Neben dem außerschulischen Deutschunterricht werden im Rahmen des Programms für nationale Minderheiten auch andere Maßnahmen und Aktivitäten durchgeführt, wie z.B. Arbeit mit Jugendlichen, berufliche Aus- und Fortbildung, soziale Hilfen, Arbeit mit Senioren und Veteranen, Computerclubs, Unterstützungshilfen bei der Selbstorganisation der Minderheit (z.B. Schaffung demokratischer Verbandstrukturen), Chor- und Tanzgruppen u.a. 4.3.3 Pressewesen, Fernsehen, Rundfunk Die deutschsprachigen Medien der Minderheit sind gegenwärtig in einem bedrohlichen Zustand. Die vor der Wende existierenden deutschsprachigen Zeitungen „Neues Leben“, „Freundschaft“, „Rote Fahne“ führen heute einen harten Kampf um ihre Existenz. Durch die schlechte wirtschaftliche Lage und den verheerenden Schwund deutschsprachiger Leser sind die Zeitungen gezwungen, zweisprachig zu erscheinen und die Inhalte zu modifizieren, um neue Leserkreise zu gewinnen. Sie richten sich daher nicht mehr nur an die deutsche Minderheit, sondern vermehrt an russische Deutschlehrer, Schüler und Studenten der Germanistik und an allgemein am Deutschen oder an der Minderheit interessierte Kreise. Das hat zur Folge, dass fast alle Zeitungen immer weniger Material auf Deutsch drucken. 2. Russland 29 Die als Organ der „Prawda“ erschienene Zeitung „Neues Leben“ (seit 1957) war früher die zentrale deutschsprachige Zeitung für Russlanddeutsche. Sie hatte in den 1970er Jahren eine Auflage von 250.000 Exemplaren und wurde in der ganzen Sowjetunion abonniert. Heute ist sie die Informationsausgabe der FNK (Föderale Nationale Kulturautonomie) und erscheint zweisprachig Deutsch- Russisch: Aktuelle Informationen werden auf Russisch gedruckt, Informationen allgemeiner Art aus Deutschland und Russland erscheinen auf Deutsch. Die Auflagenhöhe liegt seit einigen Jahren bei 5.000 Exemplaren. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ (DAZ) (seit 1966, früher „Freundschaft“) wurde von der Regierung Kasachstans herausgegeben und war die Zeitung für die deutsche Minderheit in Kasachstan. Sie wird gegenwärtig zu fünfzig Prozent auf Russisch und zu fünfzig Prozent auf Deutsch gedruckt. Nach dem neuen Mediengesetz müssen allerdings fünfzig Prozent aller Veröffentlichungen in Kasachstan in kasachischer Sprache erscheinen. Es besteht daher die Befürchtung, dass auch bei den Zeitungen der nationalen Minderheiten die russische Sprache durch das Kasachische ersetzt wird, was praktisch das Ende der DAZ bedeuten würde, da die meisten Leser nur unzureichend Deutsch und kaum Kasachisch beherrschen. Für den deutschsprachigen Teil werden Texte im Original aus Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands übernommen, die auch als Unterrichts- und Lehrstoffgrundlage für Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten Kasachstans benutzt werden. Der deutschen Minderheit, der eigentlichen Zielgruppe also, ist allerdings nur eine Seite der Zeitung gewidmet (die Seite „Russlanddeutsche“). Die früher beliebte Zeitung „Rote Fahne“ (seit 1957, heute „Zeitung für Dich“) ist gegenwärtig die einzige deutschsprachige Zeitung, die auch noch konsequent auf Deutsch erscheint (mit einer zweiseitigen russischsprachigen Beilage). Sie bezeichnet sich als „Wochenzeitschrift des Altai für Politik, Wirtschaft, Wissen, Bildung und Kultur“ und wird von der Administration des Altaigebiets herausgegeben. Die aktuelle Auflage beträgt 1.260 Exemplare. Ein Drittel der Auflage geht nach Deutschland, Israel, Südafrika und in die USA. Auch diese Zeitung möchte aber „nicht nur für Russlanddeutsche, sondern für alle, die sich für die deutsche Sprache und Deutschland insgesamt interessieren, da sein“ (IDDSU: 37/ 1997, S. 53). In jüngster Zeit sind zahlreiche Zeitungen neu gegründet worden, die als Organe der lokalen Abteilungen der Gesellschaft „Wiedergeburt“, von den Zentren der deutschen Kultur oder den Deutschen Häusern herausgegeben werden. Einige davon sind: „Rundschau“ (Uljanowsk); „Sibirische Zeitung“ (Nowosibirsk); „Kleine Zeitung“ (Barnaul); „Zukunft“ (Nishnij Tagil); „Wiederschein“ (Minussinsk); „Hoffnung“ (Krim), Rossijskije nemcy (Jaroslawl). Sie sind alle zweisprachig Deutsch-Russisch oder einsprachig Russisch. Die Zeitungen der Deutschen Nationalen Rayons Asowo („Ihre Zeitung“) und Halbstadt („Neue Zeit“) sind einsprachig Russisch, da sie die gesamte Bevölkerung der Rayons ansprechen möchten. Die in Petersburg seit 1991 wiedereröffnete „Sankt Petersburger Zeitung“ ist zweisprachig (zwölf Seiten Russisch, vier Deutsch). Die seit 1998 erscheinende „Moskauer Deutsche Zeitung“ wird abwechselnd auf Deutsch und auf Russisch gedruckt. Auch hinsichtlich Rundfunk- und Fernsehsendungen für die Minderheit ist die gegenwärtige Lage als unbefriedigend zu charakterisieren. In Kasachstan wird seit 1989 auf dem Kanal Kasachstan 1 die deutsche Fernsehsendung „Guten Abend“ ausgestrahlt. Die Übertragungszeiten werden immer kürzer (zurzeit zwanzig Minuten). Die Studiogrundausstattung wurde 1993 von Deutschland eingerichtet. Themen der Sendung sind Geschichte der Minderheit, Aussiedler in Deutschland, aber auch z.B. Städteportraits aus Deutschland und Originalsendungen der „Deutschen Welle“ aus Bonn. Auch in Slawgorod, Altai-Gebiet, gibt es Fernsehübertragungen in deutscher Sprache. Seit 1997 können täglich zwei Stunden Direktübertragungen des Senders „Deutsche Welle“ empfangen werden. Das soll das Interesse der Bevölkerung des Deutschen Nationalen Rayons Halbstadt und Umgebung an Deutschland und der deutschen Sprache wecken. Bei deutschsprachigen Radioübertragungen ist die Lage ebenfalls sehr schlecht: In Kasachstan existiert eine kurze Radiosendung (zweimal pro Woche zehn Minuten), im Stadtgebiet Almaty eine dreißigminütige Wochensendung. Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 30 4.3.4 Verbände Bis zur politischen Wende gab es keinerlei politische oder gesellschaftliche Verbände oder Vereine der Minderheit. Die heute existierenden Verbände sind höchstens etwas über zehn Jahre alt und spielen eine unterschiedliche Rolle bei der Verwirklichung der politischen Ziele und dem Erhalt der Kultur und Sprache der Minderheit. Im Jahr 1989 wurde die Allunionsgesellschaft „Wiedergeburt“ gegründet, die sich in der darauf folgenden Zeit zu dem wichtigsten zahlenmäßig stärksten Verein der deutschen Minderheit entwickelte. In allen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion existieren Verbände der Gesellschaft, die sich zu einem Zwischenstaatlichen Verband, der „Wiedergeburt“, zusammenschließen. Das wichtigste politische Ziel war von Anfang an die vollständige Rehabilitierung der Russlanddeutschen und die Wiedererrichtung der national-territorialen Autonomie. Als Alternative für dieses Ziel betrachtete die Gesellschaft „Wiedergeburt“ die organisierte Auswanderung nach Deutschland. Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die nationale Kulturautonomie beschäftigt sich die Gesellschaft mit der Einrichtung von regionalen Kulturautonomien der Russlanddeutschen. Gegenwärtig ist die Gesellschaft eine wichtige Unterstützung und Grundlage für die Zentren der deutschen Kultur, der Deutschen Häuser und Begegnungsstätten in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Neben der „Wiedergeburt“ existiert noch der „Zwischenstaatliche Rat zur Rehabilitierung der RD“, dessen Ziele mit denen der „Wiedergeburt“ weitgehend identisch sind. Der Internationale Verband der Russlanddeutschen (IVDR) wurde 1991 gegründet; er steht im ideologischen Gegensatz zur Gesellschaft „Wiedergeburt“. Auch dieser Verband hatte als sein globales Ziel die Wiedererrichtung der Staatlichkeit verkündet, jedoch wurde als Zwischenstufe bzw. erster Schritt auch die Einrichtung von nationalen Rayons nicht ausgeschlossen. Als Zwischenlösung zur territorialen Autonomie wurde die Assoziation (Kulturautonomie) akzeptiert. Der Verband hat jedoch kaum Anhänger unter der Minderheit, da er von Anfang an die Auswanderung nach Deutschland ablehnte bzw. sich gegen die Auswanderung einsetzte. Das Ziel des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVDK) ist die Förderung der deutschen Kultur, Kunst und Literatur in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Zu den Aktivitäten gehört unter anderem die Durchführung der vom Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt finanzierten Projekte zur Förderung der Kultur und Sprache der Minderheit, Organisation von Dichterlesungen, Kunstausstellungen, Festivals, Unterstützung von wissenschaftlichen Konferenzen usw. Es existieren auch ein Schriftstellerverband und ein Jugendverband der russlanddeutschen Minderheit. Der Internationale Schriftstellerverband der Russlanddeutschen besteht aus Mitgliedern aus Russland und den anderen GUS-Ländern und der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde 1996 in Saratow gegründet. Der Jugendring der Russlanddeutschen (die Jugendvereinigung der Russlanddeutschen, vgl. IDDSU: 46/ 1999, S. 43) mit Sitz in Moskau wurde 1997 gegründet. In Kasachstan existiert der Rat der Deutschen Kasachstans, ein bei der Regierung registrierter Verband, und die Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Kasachstandeutschen. Außerdem existiert dort der Verband „Deutsche Jugend Kasachstans“ (gegründet 1996) und der Verband der Wissenschaftler Kasachstans. Infolge des Gesetzes der Russischen Föderation über die nationale Kulturautonomie sind in den verschiedenen Siedlungsgebieten zahlreiche regionale Kulturautonomien entstanden. Im Jahr 2000 wurde der Überregionale Verband regionaler Kulturautonomien als Dachorganisation gegründet, um die Aktivitäten der regionalen Kulturautonomien zu koordinieren. Bereits seit Beginn der ersten intensiven politischen Aktivitäten der Minderheit zeichneten sich Uneinigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die zukünftigen Perspektiven der Minderheit ab, die später zu einer Spaltung in der Funktionärsschicht führten. Durch die Verabschiedung des Gesetzes über die national-kulturelle Autonomie hat sich letztlich die von der russischen Regierung favorisierte und von ihr unterstützte Assoziation durchgesetzt, also die vom IVDR vertretene Bewegung. Nach dem Statut verfolgt die Autonomie keine politischen Ziele. Im Gegensatz dazu wurde im Jahr 2000 erneut eine gesellschaftlich-politische Bewegung gegründet (unter dem Namen „Wiedergeburt + Einigkeit + Eintracht“), die 2. Russland 31 politische Ziele verfolgt. Der Streit und Spannungen in der Funktionärsschicht scheinen aber keine ideologischen Differenzen in der Minderheit selbst bewirkt zu haben. 4.3.5 Die Kultur der Minderheit, Institutionen Das kulturelle Leben der deutschen Minderheit äußert sich gegenwärtig in einer so hohen Anzahl von und für die Minderheit organisierten Veranstaltungen und Aktivitäten, wie sie in der Vorwende-Zeit nicht denkbar gewesen wären. Die Entfaltung des kulturellen Lebens seit den 1990er Jahren ist der Verbesserung der internationalen Lage und dem Sturz des kommunistischen Regimes zu verdanken und der damit verbundenen gewachsenen Loyalität von Staatsregierungen ihren Minderheiten gegenüber. In erster Linie mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland wurde in allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein Netz von deutschen Kulturzentren, Kulturhäusern und deutsch-russischen Häusern aufgebaut, auf deren Basis die Kulturaktivitäten stattfinden. Insbesondere mit der Veränderung der Schwerpunkte der Förderung durch Deutschland hat sich die Situation zugunsten der kulturellen Aktivitäten verschoben. Alle existierenden russlanddeutschen Verbände haben sich auf die kulturelle Tätigkeit konzentriert, da nur diese Aktivitäten von Deutschland finanziert werden. Ein großer Teil der Aktivitäten ist folkloristischer Art und setzt, in einer unglaublichen Intensivierung, die Vorwende-Aktivitäten der Minderheit fort. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass häufig die Aktivitäten selbst zwar im Namen der Minderheit, nicht jedoch von Angehörigen der Minderheit selbst organisiert werden. Projekte können auch von Nichtangehörigen der Minderheit beantragt und durchgeführt werden. Diese Strategie der Einbindung des nichtdeutschen Umfelds in die Förderung ist ein wesentlicher Teil der Kulturpolitik der Bundesrepublik unter der Regierung Schröder in Bezug auf die osteuropäischen, besonders russlanddeutschen Minderheiten in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die kulturellen Aktivitäten werden im Rahmen der regionalen Abteilungen der Nationalkulturellen Autonomie durchgeführt und erfreuen sich großer Beliebtheit auch unter der nichtdeutschen Bevölkerung. Im Omsker Gebiet wurde beispielsweise im Jahr 2002 ein Wettbewerb „Deutsches Kulturzentrum des Jahres“ durchgeführt, an dem 41 solcher Zentren aus dem gesamten Gebiet teilgenommen haben. Zu den Aktivitäten gehören Festivals der deutschen Kultur, Organisation von Weihnachts-, Oster- und Pfingstfesten, Kinderfestivals der deutschen Kultur, Tanz-, Theater-, Chorclubs sowie Tage der deutschen Kultur, und zwar alle Veranstaltungen insbesondere mit Einbezug der Schule. Durch solche Aktivitäten soll die deutsche Kultur allgemein (nicht unbedingt beschränkt auf eine wie auch immer geartete „russlanddeutsche“ Kultur) aufgewertet werden und eine Stärkung des „nationalen Bewusstseins der deutschen Minderheit“ erreicht werden. Die im Rahmen des Programms „Breitenarbeit“ durchgeführten kulturellen Aktivitäten werden in einem von Deutschland finanzierten Bildungsinformationszentrum (BIZ) in Mamontowka bei Moskau konzipiert und durch Seminare und andere Veranstaltungen unterstützt. Dieses BIZ hat die Aufgabe, die Leiter der Zentren der deutschen Kultur, der verschiedenen Tanz-, Sing- und Theaterclubs und Museumsleiter zu schulen, was durch ein reichhaltiges Angebot an entsprechenden Seminaren erreicht wird. Vom Goethe-Institut werden Seminare für Lehrer des Deutschen als Fremdsprache durchgeführt, wie beispielsweise „Kunst im Fremdsprachenunterricht des Deutschen“, „Literatur im Fremdsprachenunterricht des Deutschen“ usw. (vgl. z.B. Kultura 4/ 2003, S. 81). Zu einer Art kultureller Dachorganisation hat sich der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) entwickelt, der auch Ansprechpartner der GTZ in Russland ist. Der IVDK organisiert Festivals deutscher Kultur, Ausstellungen russlanddeutscher Künstler, Seminare zur deutschen Kultur und Beratungen und fördert russlanddeutsche Künstler, Musikanten, Schriftsteller. Der IVDK fördert außerdem Buchpublikationen zur russlanddeutschen Thematik, die im eigenen Verlag Gotika erscheinen, z.B. Lehrbücher, lernmethodische Literatur für Schüler, methodische Anleitung zur Unterstützung der deutschen Kulturzentren, Geschichtsbücher, Kinderbücher, belletristische Literatur. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte ist ein besonderes Anliegen des Verbandes, was durch Veranstaltung von internationalen wissenschaftlichen Konferenzen zur russlanddeutschen Thematik und die Herausgabe der Reihe „Die Russlanddeutschen“ (ebenfalls im Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 32 Verlag Gotika) zum Ausdruck kommt. Zu Aktivitäten des Vereins gehören auch Projekte zur Unterstützung historischer Forschungen, wissenschaftlicher Konferenzen und historisch-ethnographischer Expeditionen in die Siedlungsgebiete der Deutschen und die Herausgabe eines wissenschaftlichen Bulletins in der Reihe „Geschichte und Ethnographie der Russlanddeutschen“, z.B. eine Abhandlung über Bräuche der Deutschen Westsibiriens rund um das Jahr (vgl. Rublevskaja 1999). Der Verband ist aber auch einer harten Konkurrenz im Bereich der Kultur ausgesetzt, da alle existierenden russlanddeutschen Verbände von der Finanzierung Deutschlands profitieren möchten und sich auf kulturelle Aktivitäten konzentrieren. In der ehemaligen Sowjetunion gab es in der Nachkriegszeit ein einziges deutschsprachiges Theater (gegründet 1980 in Temirtau, Kasachstan). Sein Ziel war die Belebung der deutschen Sprache und Kultur; die Organisationsform der Arbeit waren Gastspielreisen durch die ganze Sowjetunion in die wichtigsten Siedlungsgebiete der deutschen Minderheit. Im Jahr 1994 wurde das Theater in Almaty wegen Auswanderung der Schauspieler nach Deutschland geschlossen. Es konsolidierte sich neu in Deutschland (Niederstetten in Bayern) und sieht sein Ziel gegenwärtig in der Unterstützung der Integration der Russlanddeutschen in Deutschland. In Russland wurden Versuche unternommen, im Rahmen der deutschen Begegnungszentren neue Theater ins Leben zu rufen, so z.B. das Deutsche Nationale Theater in Slawgorod, das seit 1997 aus Mitteln des Programms „Breitenarbeit“ finanziert wird (vgl. IDDSU: 37/ 1997, S. 48). Seit einiger Zeit verfügt die deutsche Minderheit in Russland auch über eigene Institutionen, die das nationale Bewusstsein stärken sollen, wie die Russlanddeutsche Akademie (gegr. 1994, Moskau), ein Deutsches Forschungszentrum (Staatliche Universität Nowosibirsk) und eine Deutsch-Russische Universität (Nowosibirsk). Ziel der Russlanddeutschen Akademie ist z.B. die Herausgabe einer dreibändigen Enzyklopädie der Russlanddeutschen, die von der deutschen Botschaft in Russland und dem Nationalitätenministerium finanziert wird. Das Deutsche Forschungszentrum erforscht die soziale Entwicklung der Russlanddeutschen (mit Unterstützung einzelner Projekte durch Deutschland) und führt wissenschaftliche Seminare durch, z.B. 1998 zum Thema „Die Zukunft der ethnischen Kultur der Russlanddeutschen“. Die private Deutsch-Russische Universität (Nowosibirsk) wurde 1999 gegründet; sie verfolgt das Ziel, besonders Angehörige der deutschen Minderheit aus ländlichen Regionen zu fördern. Beteiligt an der Finanzierung sind die deutsch-lutherische Kirche und das Nationalitätenministerium Russlands. Ausgebildet werden sollen Deutschlehrer und Dolmetscher, Fachleute für Sozialfragen und interkulturelle Beziehungen, Sozialpsychologen und Wirtschaftsmanager. Einer der wichtigsten Partner für die Universität ist das Deutsch-Russische Haus in Nowosibirsk, das von Deutschland im Rahmen des Programms der Unterstützung für osteuropäische Minderheiten gefördert wird (IDDSU: 51/ 1999, S. 37). Dieses Institut kann jedoch nicht als wissenschaftliches Institut bezeichnet werden, das sich mit den eigentlichen Problemen der Minderheit beschäftigt oder gar volksgruppenrelevante Themen vordergründig bearbeitet. 4.3.6 Buchpublikationen, literarisches Schaffen Allgemein ist eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen über die Geschichte und gegenwärtige Situation der russlanddeutschen Minderheit sowohl in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion als auch in Deutschland zu verzeichnen. Zu erwähnen ist eine ganze Reihe von Buchpublikationen, die Ergebnisse von wissenschaftlichen Projekten und Dissertationen darstellen und die sich mit aktuellen Themen der Minderheit beschäftigen. Besonders aktuell sind Publikationen, die durch die Erschließung der bis dahin verschlossenen Archive entstanden sind. Hier sei insbesondere auf die Veröffentlichungen des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises hingewiesen. Dieses Forschungszentrum (jetzt IKGN) hat für die Beschreibung der bis dahin unbekannten Ereignisse der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einen großen Beitrag geleistet. Exemplarisch sei die Publikation „Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee“ genannt, die eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten aus zentralen und regionalen Archiven der ehemaligen Sowjetunion enthält (vgl. Eisfeld/ Herdt 1996; Herdt 2000). 2. Russland 33 Das literarische Schaffen der deutschen Minderheit kommt - nach Jahrzehnten des gezwungenen Schweigens - erst langsam wieder zum Vorschein. Es gab eine ganze Reihe von deutschsprachigen Schriftstellern, die sich in ihren Werken vor allem den Problemen, Wertvorstellungen und Normen der Minderheit widmeten. Die Texte wurden in der Wochenzeitschrift „Neues Leben“ veröffentlicht und fanden somit in der ganzen Sowjetunion Verbreitung. Das bedeutendste Publikationsorgan war der Literaturalmanach „Heimatliche Weiten“, der von 1981 bis 1990 in Moskau im Verlag Prawda in deutscher Sprache erschien. 1981 erschien im Verlag Kasachstan eine dreibändige Anthologie sowjetdeutscher Literatur, die als Lesebuch für russlanddeutsche Literatur einen Beitrag zur Erhaltung des literarischen Erbes der russlanddeutschen Schriftsteller und Poeten leisten sollte. 1998 erschien in Slawgorod ein Lesebuch mit russlanddeutscher Literatur, das als Nachfolgepublikation dieser Anthologie konzipiert ist (weitere Bände sollen folgen, vgl. IDDSU: 43/ 1998, S. 39). Es war bis zur Wende selbstverständlich, dass Schriftsteller, die zur deutschen Problematik schrieben, Deutsch als Erstsprache beherrschten. Nach der Wende hat sich die Situation wegen des Schwunds deutschsprachiger Leser verändert. Der Almanach „Phönix“, der als Nachfolgepublikation von „Heimatliche Weiten“ in Almaty (Kasachstan) in unregelmäßigen Folgen seit 1993 erscheint, ist bereits zweisprachig deutsch-russisch. Der Almanach wird auch von Deutschland aus gefördert; er will von der Vergangenheit und Gegenwart der Russlanddeutschen berichten. Darin werden Prosa, Lyrik, publizistische Beiträge, Memoiren, Folklore und Kinderliteratur russlanddeutscher Autoren unabhängig von ihrem heutigen Aufenthaltsort publiziert. Thematisch befassen sich die Schriftsteller vorwiegend mit der Aufarbeitung der tragischen Geschichte der Minderheit (IDDSU: 51/ 1999, S. 51). Ein weiteres zentrales Thema des russlanddeutschen literarischen Schaffens ist die Frage: Ausreisen oder Bleiben? Viele russlanddeutsche Schriftsteller sind nach Deutschland ausgewandert. Es existiert seit 1995 ein „Arbeitskreis russlanddeutscher Autoren“ (vgl. z.B. die Veröffentlichung „Wir selbst - Russlanddeutsche Literaturblätter 1998“). In Russland existiert ein Verband russlanddeutscher Schriftsteller (gegründet 1995 in Saratow), dem auch ausgewanderte Schriftsteller angehören. 5 Soziolinguistische Situation des Russlanddeutschen 5.1 Kontaktsprachen Durch die in Kapitel 3.2 dargestellte historische Situation ist die Lage in den verschiedenen deutschsprachigen Restgebieten des europäischen Russlands sehr komplex. In der Regel tritt jedoch lediglich das Russische als Kontaktsprache auf. Hierbei handelt es sich um verschiedene regionale Formen des Russischen, deren Unterschiede sich aber im Wesentlichen auf lautliche und lexikalische Besonderheiten beschränken, etwa Abweichungen in der Wortbetonung und dialektale Lexeme (Meng 2001: 153f.). Ebenfalls zum Substandard gehören einige morphologische Besonderheiten wie die Ableitung von Numerus, Kasus- und Genusformen von nichtflektierbarem ich (‘ihre’) als Possessivum oder Generalisierung der Reflexivendung sja der 3. Person Plural Präteritum (Meng 2001: 171f.). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die nach Kasachstan, Kirgisien oder Baschkirien deportierten Sprecher auch mit den Umgebungssprachen Kasachisch, Kirgisisch, Baschkirisch oder Tatarisch in Berührung kamen. Stammten die Deportierten von der Krim, kommt bei der ältesten, dort geborenen Generation, ebenfalls das Tatarische als Kontaktsprache hinzu. Soweit das aber an unserem Material überblickt werden kann, haben diese weiteren Umgebungssprachen auf das Deutsche keinen oder allenfalls so geringen Einfluss, dass er sich lediglich in einigen lexikalischen Übernahmen niederschlägt. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard (geschrieben) Die geschriebene Standardsprache wird im Wesentlichen nur noch von der Generation verwendet, die bis 1939 zumindest einige Klassen der deutschsprachigen Schule absolvieren konnte. Das ist in der Regel die Urgroßeltern-Generation (Berend 1998: 28). Die Großeltern-Generation befindet sich schon im Umbruch, d.h. die Ausbildung in deutscher Sprache wurde nur begonnen. Dementspre- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 34 chend bruchstückhaft ist die Schreibkompetenz dieser Gruppe. Außerdem ist, da entsprechende Printmedien fehlen, eher mit sprecherspezifischen als mit konventionellen Abweichungen von dem in den übrigen deutschsprachigen Ländern geschriebenen Deutsch zu rechnen. Besonders auffällig ist hier der Einfluss der Dialektlautung auf die Schreibung (winschen, dricken statt wünschen, drücken), 1 mit entsprechenden Hyperkorrekturen (Türe statt Tiere). Die einzige Domäne, in der die deutsche Schriftsprache gebraucht wird, ist der private Briefwechsel, und auch hier machen sich besonders die Länge des individuellen Schulbesuchs und der jeweilige Bildungsstand des Schreibers bemerkbar. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung einer Graphemmischung zwischen lateinischer und kyrillischer Schrift (vgl. den bei Meng 2001: 99f. abgedruckten Brief: z.B. Gre , bic statt bis). Einige ältere Schreiber beherrschen auch gar nicht das lateinische Alphabet, sondern nur die deutsche Schreibschrift (Interview Russ 21, VB). Soweit im Rahmen des Projekts einzelne Schriftstücke, die von Russlanddeutschen abgefasst wurden, berücksichtigt werden konnten, lassen sich, außer idiosynkratischen orthographischen Fehlern, einige Beobachtungen machen, die auch im gesprochenen Regionaldeutsch auftreten, z.B. Kasusynkretismus von Dativ und Akkusativ: (1) Wir wünschen Euch alle insgesamt die beste Gesundheit. (2) Sei nochmals herzlich gegrüßt mit allen deine Freunde und Bekannten. Unsicherheit im Artikelgebrauch (determinierend statt indeterminierend und umgekehrt): (3) Bei uns in Peterburg ist ein Winter ausgebrochen. Abweichungen im Bereich der Wortstellung analog zum Russischen oder Verberststellung im Aussagesatz (vgl. Beleg 5): 1 Diese Formen finden sich auch in standardsprachlichen mündlichen Texten wie Gedichten und Liedern wieder, z.B: „Als das Neijahr angekommen / hab ich mir es vorgenommen / Euch zu winschen in der Zeit / Friede, Glick und Seeligkeit“ (Russ 13, OR). (4) Das hat schon lange Petersburg nicht gesehen. [russ.: to uže davno Petersburg ne vidal.] (5) Kann ich noch sehen am Morgen früh Elvira, doch Tolja ist schon weg! Auch der Abbau der Verbendstellung im Nebensatz ist andeutungsweise zu erkennen, z.B. im indirekten Fragesatz: (6) Will dich auch frage warum hast du von mir und Olga kein Foto geschickt. Daneben sind auch lexikalische Übernahmen, meist als phonetisch und grammatisch integrierte Formen zu finden: in die Balnize (statt: Bolniza, russ. bol'nica), hier ist das weibliche Genus und die Vokalreduktion übernommen. Viele Briefe, vor allem die weniger gebildeter Schreiber, sind von konzeptioneller Mündlichkeit geprägt, es werden dort allerdings oft schriftsprachliche Formeln, besonders religiöser Natur, eingefügt: vieles Glück und Segen auf all euren Wegen, Gott sei mit euch, wie es war bei Noahs Zeit u.ä. Der Einfluss religiöser Texte ist vor allem dadurch zu erklären, dass sich die Lektüre meist auf die Bibel und liturgische Bücher beschränkt, was sich teilweise auch im Wortschatz bemerkbar macht (Gabe, täglich Brot). 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher Eine gesprochene Standardvarietät findet sich kaum. Der Grund hierfür ist eher ein soziologischer - die Intelligenzschicht ist meist schon abgewandert. Die meisten Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit wurden aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit unterdrückt und konnten auch keine qualifizierteren Berufe erlernen. Viele mussten ihre Schulbildung in deutscher Sprache bedingt durch die Deportation bereits nach vier oder fünf Jahren abbrechen und hatten auch später nicht die Möglichkeit, in die russischsprachige Schule zu gehen. Viele blieben nach der Zwangsarbeit im Arbeitermilieu, Zugang zu Schrift und Literatur ist daher gering (vgl. auch Kap. 3.3). Diejenigen, die eine höhere Berufsausbildung bekamen, sei es, weil sie der jüngeren, nach dem Krieg eingeschulten Generation angehören oder die Ausbildung auch in der Deportation beenden konnten, haben ihre Ausbildung ausschließlich in russischer Sprache absolviert. Da auch keine deutschsprachigen Medien, keine deutschsprachige Kirche und andere standardsprachlich orientierte 2. Russland 35 Institutionen vorhanden waren, war der Erwerb des Standarddeutschen allenfalls in einem DaF-Unterricht mit maximal zwei Wochenstunden möglich. Zahlreiche Sprecher geben jedoch an, dass dieser Unterricht äußerst uneffektiv war. Darüber hinaus bestanden keinerlei Kommunikationssituationen, in der man gesprochenes Standarddeutsch hätte verwenden können, d.h. der absolut größte Teil der Russlanddeutschen ist im Deutschen nur in einer dialektalen Varietät sozialisiert, die zudem starke Erosionserscheinungen aufweist. Obwohl gewisse allgemeine Tendenzen in allen Gesprächen zu finden sind, gibt es Unterschiede zwischen Personen, die eine deutsche Schule besucht haben und bei denen auch im Elternhaus Wert auf die Pflege der deutschen Sprache gelegt wurde, und anderen, bei denen dies nicht der Fall war. Gerade Beispiele für Kasussynkretismus sind bei Sprechern aus der ersten Gruppe wesentlich seltener. Das gilt besonders für einige Sprecherinnen aus St. Petersburg, die die deutsche Schule besuchten, zuhause nur Standarddeutsch sprachen und bei denen die Eltern auch gezielt auf den Gebrauch der deutschen Sprache achteten. So berichtet eine 87-jährige Sprecherin, ihre Mutter hätte ihr und dem Bruder Süßigkeiten untersagt, wenn sie miteinander Russisch und nicht Deutsch sprachen. Außerdem berichtet die gleiche Sprecherin auch noch davon, dass die Mutter sie kritisiert habe: „Was sprichst du ohne Artikel? “ (Russ 21, VB). 2 Einige, meist in niederdeutschem Umkreis sozialisierte Sprecher verwenden zwar standardnahe Varietäten, aber insgesamt ist das Bild zu heterogen, als dass man von „der“ russlanddeutschen Standardvarietät sprechen könnte. 3 So kann man lediglich die formellste Art des Sprechens bei den verschiedenen Gruppen herausarbeiten und versuchen, einige generalisierbare Gemeinsamkeiten zu formulieren. Allerdings sind diese am wenigsten auf der lautlichen Ebene zu bestimmen, da gerade hier ein buntes Kaleidoskop verschiedenster Varianten zu finden ist (s. Kapitel 5.2.3). Auch im Bereich der Lexik ist im Falle 2 Dies trifft sich auch mit den Beobachtungen von Rosenberg 2003: 296ff., der Normstabilität als wesentlichen Faktor bei der Retardierung von Sprachwandelprozessen sieht. 3 Zu Fluktuation und sprachlicher Erosion vgl. auch Blankenhorn 1999: 41. von dialektalen Lexemen kein einheitlicher Duktus zu vermerken. Allerdings lässt sich feststellen, dass die Mehrzahl der Sprecher eine Verkehrsvarietät verwendet, die westmitteldeutsch geprägt ist (sog. „Wolgadeutsch“, s.u.). Gemeinsame Besonderheiten aller russlanddeutschen Varietäten lassen sich jedoch bei lexikalischen und semantischen Übernahmen aus der Kontaktsprache, Übernahmen im Bereich der Syntax und Intonation, und bei einigen morphologischen Erscheinungen beobachten. Ein grundsätzliches Problem bei der Beurteilung der russlanddeutschen Varietäten ist, dass in einer Vielzahl von Fällen nicht entschieden werden kann, ob es sich tatsächlich um systembedingte Abweichungen oder lediglich um Performanzfehler handelt. Die Varietäten zeichnen sich nämlich ähnlich Lernervarietäten durch eine gewisse Instabilität aus: Ein und derselbe Sprecher verwendet einmal die dem Standarddeutschen entsprechende Form, an anderer Stelle eine davon abweichende. Darüber hinaus sind die Abweichungen nur im Falle von morphologischen Besonderheiten klar einzustufen, im Bereich der Syntax aber oftmals schwierig zu beurteilen. Denn hier finden sich häufig Satzabbrüche und Restarts, so dass bisweilen nicht festgestellt werden kann, ob eine Konstruktion nicht beherrscht wird oder aus anderen Gründen eine andere gewählt wird. Oft hat es aber doch den Anschein einer Vermeidungsstrategie (vgl. z.B. unten Beleg 57). Ein weiteres Problem bildet die Tatsache des gesteuerten Wiedererwerbs der deutschen Sprache: Eine Reihe von Sprechern der mittleren Generation hat in früher Kindheit (etwa bis zum Alter von fünf oder sechs Jahren) die deutsche Sprache noch von ihren Eltern oder Großeltern erlernt und im Familienkreis verwendet. Mit Eintritt in das Schulalter wurde die Sprache dann allenfalls noch passiv rezipiert. Es entstand der typische Fall, dass Eltern oder Großeltern die Kinder auf Deutsch ansprachen, diese ihnen aber dann auf Russisch antworteten. In fast allen Fällen wechselten nach einer gewissen Zeit auch die Eltern im Gespräch mit den Kindern ins Russische, lediglich die Großeltern beherrschten die russische Sprache manchmal nicht oder nicht gut genug, so dass sie beim Deutschen blieben. Der Gebrauch der deutschen Sprache im Familienkreis wurde außerdem eingeschränkt durch die politisch bedingte Aufga- Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 36 be der deutschen Sprache. So berichtet etwa eine Sprecherin aus einer angesehenen St. Petersburger Familie, die nach Baschkirien deportiert wurde: (7) während dieser Zeit hat meine Mutter gesagt, streng: Kein Deutsch, nichts! Schluss! (Russ 21, IT) Kinder aus diesen deutschsprachigen Familien hatten dann später in der Schule etwas Deutschunterricht, der aber, wie bereits erwähnt, wenig fruchtete. Allerdings finden sich auch Fälle, in denen die deutsche Sprache in den Familien dennoch weiter gebraucht wurde, weil die Eltern der festen Überzeugung waren, dass sie wieder nach Deutschland zurückkommen würden (Wir kommen nach unser Heimat, wir kommen wieder zurick Russ 6, EL). Erst nach der Wende, durch die Gründung verschiedener Begegnungszentren und Minderheitenvereine, wurde ein Interesse an Deutschkursen wach, in denen die Kriegs- und Nachkriegsgeneration die verschütteten Kenntnisse teilweise wieder aktivieren konnte. Im Gegensatz zu den Sprechern, die Deutsch ungesteuert im Elternhaus erwarben, ist diese neu erlernte Varietät eine typische Lerner- Varietät, eine je nach Lernfortschritt stärker oder schwächer zielsprachlich orientierte Interlanguage, die typische lernersprachliche Besonderheiten aufweist, welche bei der ältesten in Deutsch als L1 sozialisierten Generation nicht zu finden sind (z.B. Inversionsfehler, ein wesentlich höherer Prozentsatz an unkorrekten Flexionsformen und Genuszuweisungen 4 ). Umgekehrt treten Besonderheiten der russlanddeutschen Varietät der L1-Sprecher in diesen Varietäten überhaupt nicht auf: So wird beispielsweise der systematische Ersatz des Dativs durch den Akkusativ durch unsystematisches Setzen mal der einen mal der anderen Form unterbrochen. Ganz typisch ist auch, dass die Entlehnungen aus der russischen Kontaktsprache, die in der L1-Varietät der älteren Sprecher bereits völlig in das deutsche System integriert sind, von den L2-Sprechern nicht verwendet werden, da diese ja die bundesdeutsch-standardsprachliche Variante im Unterricht erlernen. Das lässt sich veranschaulichen an folgendem kurzen Ausschnitt aus einem Gespräch einer 82-jährigen L1- 4 Die Flexion ist bei den L1-Sprechern noch relativ gut intakt. Hier gibt es nur gelegentliche Abweichungen im Bereich der unregelmäßigen Verbformen. Sprecherin (TM) und ihrer Tochter (EM), die Deutsch in frühester Kindheit von der Mutter noch hörte, aber die Varietät, die sie jetzt spricht, sekundär und gesteuert im Deutschkurs erworben hat: (8) TM: Und nachher wann se sind rausgegangen, dann haben se, sie haben ihre Magasine [russ.: magazin ‘Geschäft’] gehabt EM: Geschäfte TM: ha? EM: Geschäfte TM: ja, ja. Äh Geschäfte, Magasine. Dann ha/ haben sie taburetki [= russ.: Schemel] umgedreht, - und sind weggegangen. (Russ 19) Wie das Beispiel zeigt, verbessert Sprecherin EM ihre Mutter, weil sie nicht erkennt, dass das Lehnlexem Magasin völlig in das Russlanddeutsche integriert ist. Die Mutter zeigt dagegen durch die Wiederholung beider Wörter, dass sie sie als synonyme Bezeichnungen in der deutschen Sprache betrachtet (vgl. auch Blankenhorn 1999: 42, Rosenberg 1994). Ein anderes Beispiel für die Überlagerung durch die in Sprachkursen neu erworbene Standardvarietät ist, dass diese Sprechergruppe nicht mehr die für die ältere Generation typischen Possessivkonstruktionen mit dem Dativ (meinem Vater seine Linie), sondern stattdessen die konzeptionell schriftsprachliche Form des vorangestellten Genitivs verwendet (Vaters Linie, Russ 20, TV). Neben dieser Gruppe gibt es noch eine bestimmte Zahl von professionellen Sprechern, die Deutsch in Schule und Universität erworben haben und als Deutschlehrer und Germanistikprofessoren arbeiten. Auch unter ihnen befinden sich einige, die Deutsch schon als L1 gelernt haben. Hier überlagert aber die später erworbene, dem Standarddeutschen sehr nahe Varietät die ungesteuert erworbene. Diese ist meist nur noch passiv vorhanden. Insgesamt ist in dieser Gruppe eine sehr hohe Normorientierung festzustellen. Für die Untersuchungsgebiete im europäischen Teil Russlands (mit Ausnahme der baschkirischen Sprachinseln, vgl. dazu Schirokich im Anhang) lassen sich grob folgende Sprechertypen - nach Generationen getrennt - feststellen, wobei hier noch einmal zwischen der Hauptgruppe der Dialektsprecher und einer wesentlich kleineren standardsprachlich soziali- 2. Russland 37 sierten Gruppe zu trennen ist. Bei der Hauptgruppe verteilen sich die Sprachvarietäten in den einzelnen Generationen entsprechend Tabelle 1. Während also die erste und zweite Generation noch den Dialekt als Erstsprache haben, ist dies in Generation III und IV bereits das Russische. Diese Generationen beherrschen das Deutsche allenfalls als Standardvarietät, wobei bei der jüngsten Generation aufgrund der geänderten politischen Umstände in der Regel eine höhere Kompetenz in der Zweitsprache festzustellen ist. Tabelle 1 zeigt damit insgesamt das Bild einer Sprachgemeinschaft, die in der Auflösung begriffen ist. Im Gegensatz zu den Russlanddeutschen in Sibirien (vgl. Blankenhorn im Anhang), in denen noch Kommunikationsgemeinschaften vorhanden sind, ist das bei den teilweise sehr verstreut lebenden Deutschsprachigen im europäischen Russland nicht mehr der Fall. Auch ist anzunehmen, dass diejenigen Sprecher der jüngeren Generation, die gute Deutschkenntnisse (als L1) besaßen und von ihrer Familiengeschichte her stärker mit der deutschen Kultur verbunden waren, bereits nach Deutschland ausgesiedelt sind (vgl. hierzu auch Kap. 7). Allerdings ist diese Einteilung der Altersgruppen nicht immer ganz stringent: Hin und wieder finden sich auch Ausnahmen, d.h. jüngere Sprecher der Generation II, die eine ähnliche Sprachkompetenz erreichen wie Sprecher der Generation I, allerdings nur im Dialekt. Mögliche Ursachen dafür sind der ausschließliche Gebrauch des Deutschen in der Familie, auch unter den Geschwistern, und eine möglichst deutschsprachige Umgebung. Umgekehrt gibt es auch Sprecher der Generation I, die nicht die Möglichkeit des Besuchs einer deutschen Schule hatten und auch mit den Geschwistern nur Russisch sprachen. Diese haben teilweise nur mehr eine ganz rudimentäre und größtenteils passive Kompetenz in der deutschen Sprache. 5.2.3 Dialekte Historisch gesehen (d.h. bis zum Jahre 1941) waren in den russlanddeutschen Siedlungen fast alle dialektalen Typen vertreten, die es auch in Deutschland gab (vgl. Berend/ Jedig 1991). Es handelt sich in der Regel um Basisdialekte (Berend 1998: 9). Dabei herrschte an der Wolga der mitteldeutsche Typ vor (Dulson 1931, zit. nach Berend 1998: 10), süddeutsche Dialekte wurden vor allem in der Ukraine und im Kaukasus gesprochen. Allerdings kann mit Ausnahme des Wolgagebietes, für das ein Sprachatlas existiert (vgl. Berend/ Post 1997), die historische dialektgeographische Verteilung nur aufgrund einiger punktueller Untersuchungen rekonstruiert werden (vgl. Berend/ Jedig 1991). Mischungs- und Ausgleichsprozesse haben offensichtlich nicht in allen Gebieten stattgefunden; einige russlanddeutsche Dialekte haben noch bis heute ihre primären Merkmale bewahrt (Berend 1998: 10). Im Varietätensystem der Rußlanddeutschen spielen neben dem Russischen die deutschen Dialekte noch immer eine wichtige Rolle. Die überwiegende Mehrzahl der rußlanddeutschen Sprecher wird im Laufe des Lebens als Sprecher oder Hörer mit deutschen Dialekten konfrontiert. (Berend 1998: 23) Nach Berend 1998 sind noch folgende dialektale Varietäten in russlanddeutschen Sprach- Generation I Generation II Generation III Generation IV vor 1932 geboren zwischen 1932 und 1952 geboren zwischen 1952 und 1975 geboren seit 1975 geboren L1 Deutscher Dialekt mit Transfererscheinungen Deutscher Dialekt mit starken Attritionserscheinungen Russisch Russisch Russisch L1' Standarddeutsch Standarddeutsch nur rudimentär L2 Russisch teilweise noch als Interlanguage Standarddeutsch als Interlanguage meist mit großer Entfernung zur Zielsprache Standarddeutsch als Interlanguage auf unterschiedlichem Niveau Tabelle 1: Sprachvarietäten der Hauptgruppe in den einzelnen Generationen Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 38 gemeinschaften verbreitet: Hessisch, Südfränkisch, Schwäbisch, Wolhyniendeutsch, Nordbairisch, Österreich-Bairisch und Niederdeutsch. Auch hier drängt sich die Frage auf, inwiefern diese Dialekte noch ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt haben oder ob sie nicht alle als Misch- und Ausgleichsformen anzusehen sind. Gerade für die sibiriendeutschen Dialekte scheint dies nicht zuzutreffen, Berend 1998 schlägt hier den Begriff „Varietätengebrauchsmischung“ vor. Als besondere Charakteristik ist hier Konservativität und damit eine tiefere Dialektalität als bei den entsprechenden Varietäten im Mutterland zu verzeichnen, bedingt durch die Dachlosigkeit und die damit fehlenden Konvergenzerscheinungen zum Standarddeutschen hin. In unserem Korpus herrscht jedoch eine Varietät vor, die sehr stark mitteldeutsch geprägt ist. Sie basiert auf einigen ursprünglich an der Wolga gesprochenen Dialekten. Obwohl durchaus eine Binnendifferenzierung möglich ist, möchte ich doch in diesem Fall von einer „Wolgadeutschen Koiné“ sprechen. 5 Denn anders als bei Schirmunski u.a. dargestellt, haben die verschiedenen wolgadeutschen Varietäten, die auf rheinpfälzischen, hessischen und ostmitteldeutschen Stammmundarten beruhten, sich unter den Bedingungen des Exils (vgl. Kap. 3.2) weiter einem Angleichungs- und Ausgleichsprozess unterzogen, der zugunsten der westmitteldeutschen Basis (bzw. einer standardnäheren Realisierung) ausfiel. So sprechen auch unsere aus Marx stammenden Informanten eine westmitteldeutsche Varietät. 6 Die mhd. Diphthonge ou und ei, deren jeweilige Realisierung bei Schirmunski (vgl. Berend/ Jedig 1991: 127f.) als Schibboleths für die jeweiligen Mundarten gelten, werden in den Gesprächen meist standardnah als au bzw. ai artikuliert: laufe (‘laufen’), saif (‘Seife’) gegenüber rheinpf. laafe, seef, hess. laafe, saaf. Allerdings verwenden hier auch noch einige Sprecher den hessischen Monophthong aa, allerdings offensichtlich lexemgebunden (haam ‘heim’, Russ 13, OR, waaß ‘weiß’, Russ 7, JA) oder zumindest unsystematisch (fast nie bei auch 5 Die Annahme der Dialektologen (Dulson, Jedig usw.) über die räumliche Verteilung der Herkunftsländer der Zuwanderer wird neuerdings durch die Publikation der Einwandererlisten von Kufeld (Kufeld 2000) belegt. 6 Nach Schirmunski (vgl. Berend/ Jedig 1991: 128) wurde in Marx (früher Katharinenstadt) eine ostmitteldeutsche Varietät gesprochen. oder auf). Im phonetisch-phonologischen Bereich fallen weiter Spirantisierung von Plosiven im Inlaut (gleche ‘gelegen’, bliewe ‘geblieben’) und die Assimilation von d nach Nasal (verstanne ‘verstanden’), e- und n-Apokope sowie Entrundung auf. Vermutlich auch phonologische Ursachen haben morphologische Erscheinungen wie Kasussynkretismus durch Verwendung eines Einheitsartikels de (de Kinner, mit de Frau) und Abbau des n-Flexivs (mit de Kinner) (Apokopierung von auslautenden Konsonanten) oder des unbestimmten Einheitsartikels oder Einheitspossessivums ein, mein, dein etc. Als Schibboleth-Formen für Binnendifferenzierung des Wolgadeutschen können die entsprechenden Varianten für haben: hawe, hen und hun angesehen werden, die allerdings in Alternanz mit standardsprachnahem habn auftreten. Typisch für diese Varietätengruppe ist auch die Verwendung der Relativpartikeln wo, entweder in Kombination mit dem Pronomen (die - Väters, die wo hier verbliebe sei am Lebe Russ 8, KA) oder anstelle des Relativpronomens (grad noch die Gummischuh, wo ich noch hab gehat Russ 2, FF). An dialektaler Lexik treten bei allen Sprechern, die westmitteldeutsche Varietäten gebrauchen, die folgenden Lexeme immer wieder auf: schwach ‘schlecht’, bang sein ‘Angst haben’, alleinig ‘allein’, Mannsleit, Weibsleit ‘Männer’, ‘Frauen’, sellmal ‘damals’, springen ‘laufen’, verzählen ‘sprechen’ Bud ‘Geschäft’, als Gradpartikel arch ‘sehr’ (weitere Beispiele im „Wolgadeutschen Sprachatlas“, Berend/ Post 1997). Manche Sprecher kennen von bestimmten Begriffen nur die russischen Lexeme oder die deutschen dialektalen Varianten (z.B. Waldwanzen ‘Zecken’, Russ 2, FF; Stacheläppelche ‘Stachelbeeren’, Russ 13, OR). 5.2.4 Sprachliche Charakteristika der russlanddeutschen Varietäten Sprachliche Besonderheiten der russlanddeutschen Varietät finden sich auf allen Ebenen der Sprache: auf dem Gebiet der Phonologie und Intonation, der Morphologie, Syntax und Text ebenso wie auf dem Gebiet der Lexik und Semantik. Ein flüssiger Gebrauch der deutschen Sprache bzw. des deutschen Dialekts findet sich, außer bei professionellen Sprechern, nur noch in Generation I. Auch hier macht sich zwar hier und da das Fehlen eines entsprechenden Lexems bemerkbar; die Sprecher verwenden dann das russische Pen- 2. Russland 39 dant, versuchen aber (im Gespräch mit dem monolingualen Partner) sofort das deutsche zu finden oder den Begriff entsprechend zu umschreiben, vgl.: (9) Da ware so kleine katera [=Kutter], wie sacht mer - Schlepper habe mer die Deutsche gsacht - hawe die Floutze ge/ gezogen. (Russ 2, FF) Im Bereich der Prosodie fallen Intonationsmuster der russlanddeutschen Standardvarietäten ins Auge, die sehr stark von den üblichen Mustern der deutschen Sprache abweichen. Dies zeigt sich vor allem bei Aufzählungen, wo ein Muster verwendet wird, das der russischen IK 3 entspricht. Kennzeichend dafür ist der plötzliche Anstieg des Tones im Intonationszentrum. Dieser Typ tritt besonders bei Entscheidungsfragen auf, aber auch in Aussagesätzen bei Weiterführung eines nicht abgeschlossenen Sinnabschnittes (besonders im Anfangssprechakt): (10) Der Malinkova sein SCHWESTER hat Mathemátik vorgetrache (Russ 1, KE) Auch auf der phonologischen Ebene gibt es ein auffälliges Phänomen, nämlich dass besonders bei internationalem Wortschatz häufig der Vokal / o/ in unbetonter Position analog zum Russischen reduziert wird (sog. akanje): telefaniert statt telefoniert, kanfirmiert statt konfirmiert, Aperation statt Operation, Kampanist statt Komponist. Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass es sich nicht um eine Übernahme des Lexems mit entsprechender phonetischer Realisierung, sondern um einen Transfer von Artikulationsregeln handelt: das Übersetzungsäquivalent lautet im Russischen kompozítor. Außerdem realisieren die meisten Sprecher / e/ offener als im Deutschen. Sprecher der zweiten bis vierten Generation sprechen betonte Kurzvokale ebenfalls analog zum Russischen als mittellange Vokale aus: Mutter [ ] statt [ ]. Im Bereich der Morphologie ist bei Nomina der Abbau des Dativs und Kasussynkretismus mit dem Akkusativ zu verzeichnen. Dieses Phänomen lässt sich durch die zugrundeliegenden Dialekte erklären, findet sich aber auch bei Standardsprachsprechern. Dies ist durchgängig bei Feminina und im Plural, besonders in Verbindung mit Präpositionen, zu beobachten: (11) von die Wolga (Russ 6, MS) (12) aus die deitsche Sprache (Russ 1, KE) (13) mit die Kinder und die Mutter (Russ 19, TM) (14) in unsre schwere Zeit (Russ 21, VB) Dieser Kasussynkretismus findet sich auch bei Possessivkonstruktionen, die wie in vielen binnendeutschen Dialekten mit Dativ und Possessivpronomen gebildet werden: (15) die Kinder ihre Pensie (Russ 19, TM 2) (16) von de Mama ihre Seite (Russ 4, HS) 7 Bei Maskulina im Singular ist der Kasussynkretismus noch nicht durchgängig festzustellen. Hier finden sich durchaus noch Formen wie aufm Quartier (Russ 19, TM), in anderen aber auch von den Großvater (Russ 1, KE). In der älteren Generation ist auch die Rektion der Pronomina noch intakt (nicht mehr bei der jüngeren Generation), etwa bei ihm (Russ 19, TM 3). Allerdings werden Dativ- und Akkusativpronomina häufig vertauscht: (17) mit mich (Russ 9, HF) (18) für dir ist schwer (Russ 1, KE) (19) vielleicht interessiert Ihnen (Russ 4, HS) Es handelt sich hier um lexikonabhängige Syntax: In westmitteldeutschen Dialekten wird häufiger der Akkusativ, in standardnahen (eher niederdeutsch beeinflussten) Varietäten häufiger der Dativ verwendet. In der Kasusflexion ist außerdem zu beobachten, dass die Mehrfachmarkierung der Flexionsendung -n abgebaut wird: (20) a. die andere Sprachen b. in den ersten Jahre (Russ 19, TM) Auch bestimmte Substantive haben keinen n-Plural mehr: Das ist besonders auffällig bei der sehr häufig vorkommenden Form die Deutsche (statt die Deutschen). Sprecher, die im Sprachkontakt mit dem Niederdeutschen aufgewachsen sind, gebrauchen gelegentlich Pluralformen auf -ns oder -rs (Namens, Wagens, Lehrers Russ 4). Grundsätzlich findet sich bei allen Sprechern eine gewisse Unsicherheit im Artikelgebrauch, was durch das Fehlen des Artikels 7 Vgl. dazu ausführlich Rosenberg 2003, der in dem universal festzustellenden Abbau der Kasusflexion in verschiedenen Sprachinselgruppen eine typologische Konvergenzerscheinung sieht (Rosenberg 2003: 288ff.). Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 40 in der Kontaktsprache erklärbar ist. Allerdings sind hier sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Sprechern festzustellen. Der Artikel fehlt häufig nach Präpositionen, besonders nach der Präposition in: 8 (21) in Dorf (Russ 1, KE) (22) in Kolchos (Russ 9, HF) In der jüngeren Generation (vor allem bei L2-Sprechern der dritten und vierten Generation) und bei einigen älteren Sprechern, die die deutsche Sprache längere Zeit nicht mehr gebraucht haben, finden sich zahlreiche weitere Beispiele ohne Artikel: (23) in Saratover Gebiet (Russ 3, OF, EK) (24) hast du zuhause Bibel? (Russ 21, VB) (25) und die Mutter hat Kommandant gefragt (Russ 9, HF) Auf der anderen Seite wird an Stellen, an denen im Deutschen normalerweise kein Artikel verwendet wird, ein hyperkorrekter Artikel gesetzt. Das ist vor allem bei Berufsbezeichnungen und Nationalitätenangaben der Fall. Letzteres ist möglicherweise aus dem Dialekt übernommen: (26) mein Vater war ein Ingenieur gewesen (Russ 21, VB) (27) ich bin ein Deutscher (Russ 1, KE) Die Verbmorphologie zeichnet sich vor allem durch Unsicherheit in der Bildung unregelmäßiger Verben aus: (28) man vergesst (Russ 19, TM) (29) gsitze, gsotzt an Tisch (Russ 1, KE) (30) die hen dordda gsetzt (Russ 1, KE) (31) den haben sie gebetet [= gebeten] (Russ 4, HS) (32) haben sie uns auch eine Bibel geschonken [= geschenkt] (Russ O1, SM) Im Bereich der Formenbildung breitet sich durch Einfluss des Russischen, das nur die Passivbildung mit der Kopula sein (bzw. kopulalose Formen) kennt, der Gebrauch des Zustandspassivs mit der Kopula sein an Stelle des Vorgangspassivs mit der Kopula werden aus: (33) so war er bei mir mitgroßgezogen [statt: wurde groß gezogen] (Russ 19, TM) 8 Hierbei handelt es sich womöglich um eine Verschmelzung von Präposition und Artikel im Basisdialekt. (34) da waren auch meine Eltern geboren [statt: wurden geboren] (Russ 4, HS) (35) wie ich geboren war (Russ 12, JH) (36) wie mein Vadder ist in die Trudarmee gnomme [statt: wurde genommen] (Russ 1, KE) (37) Alles war von mir aufgeräumt. [statt: wurde aufgeräumt] (Russ O1, SM) Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass das Passiv überhaupt sehr selten gebraucht wird. Es wird in der Regel wie in der russischen Sprache durch eine unpersönliche Konstruktion mit der 3. Pers. Pl. umschrieben (dazu auch Blankenhorn 2000: 25): z.B.: (38) wie mer - wie sie uns ausgesiedelt hun [haben] (Russ 13, KS) Das Beispiel zeigt sehr deutlich, dass die Sprecherin zunächst mer (=‘wir’) als Subjekt realisieren wollte und dann noch einmal umplante. Ebenfalls auf russischen Einfluss lässt sich die Ausweitung reflexiv gebrauchter Verben zurückführen: (39) sich schaukeln [russ.: ka at'sja statt: schaukeln] (Russ 19, TM) (40) sich beleidigen [russ.: obidet'sja statt: beleidigt sein] (Russ 1, KE) Diese Erscheinung ist aber in unserem Korpus geringer, als bisher angenommen (Berend 1998: 135). Auch die Ausweitung des generischen sich ist eher selten, allerdings ist ihr Vorkommen im Pluralparadigma häufiger, so dass man hier den Beginn eines Grammatikalisierungsprozesses sehen könnte. Es gibt aber auch umgekehrte Fälle, in denen ein reflexives Verb wie sein russisches Pendant nicht reflexiv verwendet wird: (41) ihr habt verspät [russ.: opozdat' statt: ihr habt euch verspätet] (Russ 13, KS) Bei der Bildung von Infinitivkonstruktionen lässt sich beobachten, dass analog zum partikellosen Infinitiv des Russischen auch im Deutschen gehäuft der bloße Infinitiv an Stelle des Infinitivs mit zu gebraucht wird: (42) ich träume mal einen Besuch machen (Russ 4, HS) (43) Kommendant hat erlaubt hinfahre (Russ 9, HF) Im Bereich der Syntax fallen zunächst die zahlreichen Fälle von Ausklammerung obli- 2. Russland 41 gatorischer Satzglieder auf, z.B. des direkten Objekts. Im Gegensatz zur Ausklammerung von adverbialen Bestimmungen oder anderen nicht obligatorischen Satzgliedern ist diese Wortstellung auch in gesprochener deutscher Sprache nicht üblich und kann grundsätzlich als eine Nachahmung russischer Wortstellungsgepflogenheiten gesehen werden (dazu auch - für das Altai-Gebiet - Grineva 1979: 119, außerdem Berend 1998: 136). Vgl. folgende Beispiele: (44) a. No, ich hab jesessen auf die Schaukel und hab jelesen Buch [russ.: Ja sidela na kaalke i itala knigu.] b. Ich habe überhaupt großjezogen fünf Kinder (Russ 19, TM) (45) Ich hatte aus Deutschland bekommen Lehrbücher (Russ 4, HS) Ähnliches gilt für die Ausklammerung adverbialer Bestimmungen oder von Pronomina: (46) er hat schwach gsproche auf Russisch. (Russ 1, KE) (47) sie haben uns gelernt sehr gut (Russ 21, VB) (48) Dort hawen wir Arbeitstage verdient uns. (Russ O1, SM) Besonders auffällig ist die dadurch häufig entstehende Kontaktstellung von Auxiliar und Partizip bei mehrgliedrigen Verbphrasen: (49) a. am besten hat gesprochen die Ältste b. ich hab gesehen das (Russ 19, TM) (50) In die Familie sin großgezoche wora zwölf Kinner (Russ 1, KE) (51) Ohren haben gehört etwas (Russ 21, VB) Im Bereich der Nebensätze lässt sich ein Abbau der Verbendstellung zugunsten der Zweitstellung feststellen. Das beginnt beim indirekten Fragesatz: (52) Nun weiß ich nicht, hat er geschmissen oder nicht. (Russ O1, SM 7) (53) Wissen Sie, weshalb schrieb ich. (Russ 21, VB) (54) ich könnte auch Deutsch das schreiben (…), welche Idee könnt er geben. (Russ 4, HS) Vor allem bei Sprechern der mittleren Generation (= Generation II) wird dies auf alle anderen Typen von Nebensätzen ausgeweitet: (55) a. Wie wir kommen nach Kasachstan, war Schnee [russ.: kak my prijechali v Kazachstan] b. Was ich hab so bissche gelernt, no Ihr sehts. (Russ 1, KE) (56) a. jemand soll schleppen, weil groß ist es. [russ.: potomuto bol'šoj on, umgspr., nur möglich, wenn bol'šoj betont ist] b. und bitten, dass ich soll übersetzen und schreiben (Russ 21, VB) Allerdings haben diese Sprecher meist nur eine eingeschränkte Kompetenz in der deutschen Sprache, was sich, wie bereits erwähnt, einerseits in einer sehr starken Instabilität des Systems, anderseits in einer Vielzahl von Satzabbrüchen äußert. So werden beispielsweise Nebensätze nach der Subjunktion abgebrochen und dann neu als selbständiger Satz formuliert: (57) ich kann mich erinnern, wie (…) meine Mutter hat mit ihm Vaterunser gelernt. (Russ 21, VB 1) Hier signalisiert die längere Pause, dass der Satz abbricht. Der Satz beginnt dann neu als selbständiger Satz. Aber in vielen Fällen ist das nicht eindeutig entscheidbar. Auffällig ist die fast ausnahmslose Stellung des Finitums vor dem Infinitum (wie auch im Russischen). So finden sich typischerweise Sätze wie: (58) dass sie keine Rente hat bekommen (Russ O1, SM) (59) wenn er rein is gekomme (Russ 6, SO) (60) was sie uns da hierher haben bracht (Russ 2, FF) (61) wie er an Tisch hat sich gesetzt (Russ 1, KE) Ein interessantes Phänomen des Russlanddeutschen ist Verbanfangsstellung im Aussagesatz. In den meisten Fällen ist das interpretierbar durch eine Ellipse von da (Belege 62 bis 64) oder es (Belege 65 bis 66) (vgl. Auer 1993): (62) Und ich kam hin, haben se grade alle verschickt (Russ 19, TM) (63) hab ich mol Zeitung kriecht (Russ 1, KE) (64) war ich zu Gast (Russ 1, KE) (65) Waren schon Enkelkinder viel (Russ 19, TM) (66) Hatten wir Angst gehabt (Russ 21, VB) Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 42 Im Gegensatz zum Russischen handelt es sich bei diesen Fällen der Anfangsstellung nicht um eine Ellipse des Pronomens, so dass man nicht im eigentlichen Sinne von einer Nachahmung der russischen Verbanfangsstellung sprechen kann. Nur in einigen Fällen findet sich auch Ellipse des Personalpronomens, die analog zum Russischen auftritt: (67) Hat gearbeit und hat gelernt in der Schule (Russ 13, KS) (68) No, hat gut gelese (Russ 1, KE) Die Fokus-Horizontkonstruktion es gibt wird häufig (analog zu russischen Fokussierungsmustern) durch Konstruktionen mit sein ersetzt: (69) a. auch Russen waren [russ.: i russkie tam byli] (Russ 19, TM) b. Dörfer waren sehr viel [russ.: dereven' bylo o en' mnogo] (Russ 19, TM) (70) warum kei Russenschule sin (Russ 1, KE) Allerdings gibt es auch Sprecher, die die Konstruktion es gibt beherrschen, sie aber nicht durchgängig verwenden, sondern in Alternanz mit der sein-Konstruktion (z.B. Sprecher HS, Russ 4 und Sprecherin FF, Russ 2). So verfahren interessanterweise auch einige Sprecher, die eine wesentlich geringere Sprachkompetenz im Deutschen besitzen, aber die Konstruktion im gesteuerten Sprachunterricht erlernt haben. Weitere Wortstellungsbesonderheiten betreffen die Stellung von Adjektiven und Pronomina. Es ist zu beobachten, dass besonders Zugehörigkeitsadjektive wie deutsch oder russisch manchmal hinter dem Nomen platziert werden (vgl. Beleg 71). Das gleiche gilt für das Possessivpronomen, wenn es mit einer Verwandtschaftsbezeichnung kombiniert wird (vgl. Beleg 72): (71) Ich hab Kassetten deutsche [russ.: U menja kassety nemeckie] (Russ 4, HS) (72) Mutter meine hat (Deutsch) gesprochen [russ.: Mat' moja govorila (po-nemecki)] (Russ 21, VB) Diese Wortstellung ist typisch für den umgangssprachlichen Erzählstil des Russischen und wird hier entsprechend auf das Deutsche übertragen. Eine weitere Besonderheit des Russlanddeutschen, die aber auch nicht durchgängig bei allen Sprechern zu finden ist, ist die mehrfache Verneinung im Satz. Möglicherweise wird diese im Russischen übliche Konstruktion auch gestützt durch ähnliche Muster in den deutschen Basisdialekten der Sprecher: (73) In meiner Familie spricht keiner nicht. [russ.: v mojej sem'je nikto ne govorit.] (Russ 21, VB) (74) Und niemals waren keine Probleme. (Russ 4, HS) (75) Ihr braucht mir kein kontrol' [= Kontrolle] nicht mehr schicke. (Russ 6, EL) (76) Kein Recht hatten wir doch nicht (Russ 12, JH) Besonders viele Abweichungen gegenüber standarddeutschen Normen finden sich im Bereich der Kollokationen. Hier sind einmal direkte Übernahmen russischer Kollokationsmuster anzuführen, vor allem bei Kombinationen von Verben und Substantiven, zum anderen die aufgrund mangelnder Sprachpraxis nicht gefestigten Kombinationen von Präpositionen und Substantiven. Hier werden entweder russische Kollokationsmuster übernommen (Belege 77 bis 79) oder aber die für die jeweiligen Richtungsangaben prototypischen Präpositionen verwendet (Belege 80 und 81): (77) auf Kriech [statt: in den Kriech, russ.: na vojnu] (78) auf Russisch sprechen [statt: Russisch sprechen, russ.: na russkom jazyke] (79) auf Pension [statt: in Pension, russ.: na pensie] (80) von Ausland [statt: aus dem Ausland] (81) zu Urlaub [statt: auf Urlaub] Einflüsse des Bildungsmusters der Kontaktsprache zeigen Kollokationen wie: (82) Schule, Institut etc. endigen [russ.: okon it' školu, institut] (83) zu Gast kommen [russ.: prichodit' v gosti] (84) Wörter übergeben [russ.: peredat' slova] (85) bei jemanden gehen, kommen [russ.: zajti za kem-nibud'] In diesem Zusammenhang ist auch eine Ausweitung des Gebrauchsbereichs von nehmen festzustellen: In die Trudarmee nehmen [russ. vzjat v armiju], in die Jasli nehmen [russ. vzjat' v jasli]. Andere Bereiche der Lexik und Semantik betreffen vor allem Lehnübersetzungen bzw. Bedeutungserweiterungen: Halbbruder (‘Cou- 2. Russland 43 sin’, russ. dvojurodnoj brat), Brot (‘Getreide’, russ. chleb), [Äußerungen] überführen (‘übersetzen’, russ. perevesti), [auf Tonband] aufschreiben (‘aufzeichnen’, russ. zapisat), [eine Zeitung] rausschreiben (‘abonnieren’, russ. vypisat). 9 An lexikalischen Entlehnungen überwiegen, wie in allen Sprachkontaktsituationen, Substantiva (vgl. die Gegenüberstellung von drei Untersuchungen bei Berend 1998: 133). Diese sind meist in das deutsche System integriert, in dem etwa Feminina die Endung -e statt russ. -a aufweisen (vgl. Berend 1998: 139). Dann findet man auch Flexionsendungen wie in den Magasinen (‘Geschäften’), in den Sawoden (‘Fabriken’) oder drei Banken (‘Einmachgläser’). Allerdings werden sie auch häufig variabel gebraucht: als integrierte Form (z.B. Balnize) und als autochthone Form (bolniza). Entlehnt werden vor allem Bezeichnungen für technische Neuerungen (Waksal ‘Bahnhof’, Aftobus ‘Bus’, Samolot ‘Flugzeug’), 10 Maschinen (Maschine ‘Auto’), Berufsbezeichnungen (Traktorist ‘Traktorfahrer’, Metallurg ‘Hüttenwerker’, Brigadier ‘Vorarbeiter’), staatliche Einrichtungen (Balnize ‘Krankenhaus’, Ped-Institut ‘Pädagogische Hochschule’, Kolchos ‘Kolchose’, Sawod ‘Fabrik’, Sadik ‘Kindergarten’) und damit verbundene Berufe (Predsedatel ‘Vorsteher’, Natschalnik ‘Chef’), Verwaltungseinheiten und geographische Bezeichnungen (Oblast ‘Verwaltungsbezirk’, Rajon ‘Kreis’, Sewer ‘Norden’), Krankheiten (Enzefalit ‘Gehirnhautentzündung’, Appendizit ‘Blinddarmentzündung’), Nahrungsmittel (Warenje ‘Marmelade’, Pomodore ‘Tomaten’) und Gebrauchsgegenstände (Sumka ‘Tasche’, Banka ‘Einmachglas’, Bilet ‘Ausweis’, Palto ‘Mantel’). 11 Diese können auch als hybride Bildungen in Form von mit autochthonen Wörtern zusammengesetzten 9 Einige der hier aufgeführten Lexeme listet auch Blankenhorn (Blankenhorn 2000: 24) aus ihrem Korpus von Russlanddeutschen in Sibirien auf. Diese Übereinstimmung spricht für eine allgemeine Verbreitung im russlanddeutschen Standard. 10 Wörter, die zum festen Lehnwortbestand in den russlanddeutschen Varietäten gehören, werden zur Unterscheidung von Ad-hoc-Entlehnungen orthographisch dem Deutschen angepasst und werden nicht in der transliterierten Gestalt aufgeführt. 11 Viele Beispiele von Entlehnungen, die etwa bei Schiller (1929) aufgeführt sind, finden sich nicht mehr, weil die entsprechenden Realien nicht mehr vorhanden sind (vgl. Berend/ Jedig 1991: 106ff.). Es findet sich darüber hinaus eine beachtliche Zahl von wohl als Ad-hoc-Übernahmen zu wertenden Begriffen, die nur bei einzelnen Sprechern auftreten. Komposita auftreten: z.B. Parteibilet (‘Parteiausweis’) Waffelprijanik (‘Waffelgebäck’), Kolchosarbeit (‘Arbeit in der Kolchose’). Die lautliche Integration dieser Lehnwörter in das Phonemsystem des Deutschen findet sich nur noch bei der älteren Generation, die jüngeren Sprecher identifizieren das schon als „Erbwortschatz“ (vgl. Berend 1998: 140). Für sie besitzen diese Lexeme nicht mehr den Sprachmarker „Russisch“. Internationaler Wortschatz wird meist in russischer Aussprache realisiert (Ingenieur, Universität, Dialekt, vgl. Berend 1998: 156). Das hängt damit zusammen, dass oft gar nicht bekannt ist, dass es die Wörter in beiden Sprachen gibt (vgl. die Frage: Wir haben die Fische - sortirovat' (‘sortieren’) wie? Russ 13, KS). Die russische Aussprache gilt auch für Personennamen (Sonja, Katarina, Olga). Jahreszahlen werden grundsätzlich nach dem russischen Modell gebildet: im neunzehnten Jahr [russ. v devjatnadcatom godu]. Länder- und Ortsnamen werden ebenfalls nach russischem Muster gebildet oder in der russischen Form verwendet: Germanische demokratische Republik [russ. Germanskaja demokrati eskaja respublika], Austria [russ. Avstrija], Ukraina [russ. Ukraina], Kaukas [russ. Kavkaz]. Bisweilen werden auch Mischformen gebildet, die es weder in der einen noch in der anderen Sprache gibt: Moldavan statt Moldawierin (dt.) oder moldavanka (russ.) (Russ 1, KE). Entlehnte Verben werden in der Regel morphologisch ins Deutsche integriert. Dabei wird an den russischen Stamm die deutsche dialektale Infinitivendung -e angehängt: verbuje, snaje (vgl. auch Berend 1998: 139). 12 Bisweilen wird dann auch die Infinitivform in Zusammenhang mit Modalverben oder innerhalb einer tun-Periphrase verwendet. So wird eine vollständige Integration ins Verbparadigma vermieden (Die Lene tut znaje [russ. znat' = wissen], wo mir wohna tue). Allerdings ist eine Zunahme des Gebrauchs von tun gegenüber dem gesprochenen Standarddeutschen in unserem Korpus im Allgemeinen nicht feststellbar. Gesprächspartikeln wie vot (‘also’), to (‘also’), kone no (‘natürlich’) haben zwar prozentmäßig einen weit geringeren Anteil an 12 Blankenhorn (Blankenhorn 2000: 21) liefert auch Beispiele für Ad-hoc-Übernahmen unintegrierter russischer Verbformen und demonstriert Möglichkeiten der Perfektbildung mit russischen Verbalstämmen. Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 44 Lehnformen (types) als Inhaltswörter, aber ihre Frequenz (tokens) ist wesentlich höher. Sie durchziehen den ganzen Text und bilden daher eine ganz typische Textstruktur. Im Gegensatz zu Inhaltswörtern, die auf die außersprachliche Welt referieren, haben diese Wörter „interaktionsstrategische“ Funktionen oder tragen zur Binnenstrukturierung von Äußerungen bei (Blankenhorn 2003). Bei der Entlehnung von Gesprächspartikeln, Häsitationsmarkern (Platzhaltern für Denkpausen) und anderen Funktionswörtern handelt es sich daher um die Entlehnung eines sprachlichen Subsystems, nämlich der „oral communication patterns“ (Matras 1998: 310). Diese Klasse von Ausdrucksformen steht dem nonverbalen Kommunikationssystem der Gestik nahe. Matras (Matras 1998) weist darauf hin, dass Partikeln umso eher entlehnt werden, je weniger durchsichtig ihre lexikalische Bedeutung ist und je mehr gestenhaften Charakter sie haben. Dies kann erklären, warum der Häsitationsmarker to (‘also nun’) und das Gliederungssignal vot (‘also’), das ebenfalls als Pausenfüller fungiert, prinzipiell bei allen Sprechern vorkommt. Da es sich bei diesen Partikeln und phrasalen Einheiten um ein eigenes sprachliches Subsystem handelt, das neben der Grammatik und dem Lexikon anzusiedeln ist, werden hier nicht nur die lexikalischen Einheiten entlehnt, sondern auch der pragmatische Kontext, in dem sie vorkommen und die Frequenz ihres Einsatzes. Ähnlich wie bei der Übernahme von grammatischen Strukturen können die pragmatischen Funktionen bestimmter Partikeln auch auf Übersetzungsäquivalente übertragen werden. Das lässt sich beispielsweise an der Diskurspartikel kone no demonstrieren, die im Russischen ungleich häufiger vorkommt als ihr deutsches Übersetzungsäquivalent natürlich, sicher. Manche Sprecher, die Deutsch nicht nur als L1, sondern später im gesteuerten L2-Erwerb gelernt haben, verwenden dann bisweilen das deutsche Wort natürlich in allen Kontexten, in denen russ. kone no vorkäme und verwenden es damit pragmatisch unpassend: (86) viele Momenten in sein Leben war sehr schlecht natürlich. - Aber da war mein Vater hat dort äh nur neunzehn Jahre. Und bis achtzig Jahre wohnt er dort. - Sein Leben ist sehr interessant und sehr stark natürlich. (Russ 20) Interessanterweise erfolgen auch spontane Äußerungsformen wie Ausrufe ( j, j ) in russischer Sprache. Man kann auch beobachten, dass manchmal unreflektiert-spontane Antwortreaktionen in sonst deutschen Gesprächen auf Russisch erfolgen: bejahendes da ebenso wie verneinendes net. Ebenfalls in den Bereich Pragmatik fallen gegenüber dem Standarddeutschen veraltete Anredeformen, wie die höfliche Anrede mit Ihr. Dies wird durch die ebenfalls mit der 2. Person Plural bezeichnete höfliche Anrede des Russischen gestützt. Häufig führt die Verwendung der standarddeutschen Höflichkeitsform sogar zu Missverständnissen oder Unverständnis: die höfliche Anrede wird als 3. Person Plural (z.B. sie, die Kinder) interpretiert, oder die Interviewpartner sprechen über eine weibliche dritte Person Singular. 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) Wie bereits in 5.2.2 angesprochen, ist im Falle der russlanddeutschen Sprachwirklichkeit der regionale Standard vom Binnenstandard kaum zu trennen. Nur noch sehr wenige Sprecher verfügen über eine Variationsbreite bzw. ein mehrschichtiges Varietätensystem. Lediglich der bilinguale Sprechmodus äußert sich dahingehend, dass in bilingualen Kontexten eine wesentlich stärkere Sprachmischung stattfindet. Dies ist vor allem bei Sprechern der älteren, stärker deutschsprachig geprägten Generation zu beobachten: Switches finden bei typischen Formulierungsroutinen wie Begrüßungsformeln, Anbieten und Ablehnen von Speisen und Getränken etc. statt. Im Gespräch wird meistens themenbezogen gewechselt. Oft kann auch eine asymmetrische Kommunikation festgestellt werden: Großeltern sprechen ihre Enkel auf Deutsch an und diese antworten auf Russisch (vgl. Kap. 6). 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Da die Kommunikationskontexte für das Deutsche überhaupt eingeschränkt sind, sind auch Kommunikationspartner, mit denen man Mischvarietäten verwenden kann, eher selten. Nur die älteste Generation spricht untereinander Deutsch und mischt Russisch darunter. Dort verhalten sie sich in der Regel 2. Russland 45 anders, als wenn sie sich im sogenannten monolingualen Sprechmodus (Grosjean 1992) befinden, d.h. wenn sie mit einer Person sprechen, die einsprachig ist oder wenn die Interaktion als einsprachig definiert ist. Im monolingualen Sprechmodus findet Code-Switching dann statt, wenn es Zitatfunktion hat: (87) Wo seid ihr her? No, vot, my nemcy. [also, wir sind Deutsche.] (Russ 2, FF) (88) Un na haw ich gschriebe: Katarina, ty predatel' [du bist ein Verräter] (Russ 6, OL) (89) Dann haben sie uns (…) gefahren domoj na rodinu [nach Hause, in die Heimat] (Russ O1, SM) (90) Nu un hot der gschrive: v aprele - sad'ba [im April ist Hochzeit] (Russ O7) In Beleg (89) ist die russische Phrase insofern als Zitat zu begreifen, als es die Rede der Besatzer wiedergibt, in Wirklichkeit ging es nicht in die Heimat zurück, sondern in ein ganz anderes Gebiet in Russland. Außerdem tritt Code-Switching sehr oft auf, wenn es sich um metasprachliche Äußerungen handelt: (91) Meine Mutter, die hat gearbeit als Köcherin und mein - Opa - der war - kak veterinar kak u nich govoritsja? [wie heißt Tierarzt, wie sagt man bei ihnen? ] Bei Sprechern, die schon starke Attritionserscheinungen zeigen, wie die Semispeaker (‘Halbsprecher’) der zweiten Generation, findet Code-Switching vor allem dann statt, wenn schwierigere Sachverhalte ausgedrückt werden sollen. Diese können dann nicht mehr mit dem noch im Deutschen zur Verfügung stehenden Wortschatz bewältigt werden. In Beleg (92) möchte KS (Russ 13) erklären, was sie mit den Fischen getan haben, die sie aus dem Fluss gefangen haben: (92) KS: Wir haben die Fische - sortirovat' [sortieren] wie? CR: sortiert. KS: in die Käste uflege alles. Gesaulzn haben mer immer. Der Winter habn mer zamoraživali i ukladyvali v jaš iki, letom solili i na nitki nanizyvali, vot to byla naša rabota. [zum Gefrieren gebracht und in die Kisten gelegt, im Sommer haben wir gepökelt und auf die Fäden aufgereiht, so das war unsere Arbeit.] Ganz häufig kommt dies vor, wenn bestimmte Berufe beschrieben werden sollen. Hier sind die Berufsbezeichnungen wie die damit zusammenhängenden Tätigkeiten im Deutschen nicht bekannt: (93) Ah, Mutter. Mutter u menja byla vospitatelniza. Vospitatelem v detskom sadu [(Mutter) von mir war Erzieherin. Als Erzieherin im Kindergarten.] to - das weiß ich nicht, wie auf Deitsch sagen. (Russ 13, OR) Einige Sprecher wechseln auch in der eindeutig monolingual deutsch definierten Interviewsituation ins Russische, ohne sich dessen bewusst zu sein. Überhaupt findet man eine Reihe von unintendierten, psycholinguistisch interpretierbaren punktuellen Code-Switchings ins Russische. Im Zusammenhang mit Eigennamen geschieht es oft, dass bei der Aufzählung von mehreren Eigennamen das Übersetzungsäquivalent der Konnektoren und bzw. oder auf Russisch realisiert wird: (94) Bei uns ware viele Mar äh fünf Marschall, (…) Marschall. Jüngster Tucha evskij, Bljucher (…) Bljucher, Vorošilov, Budennyj i Egorov. Und Tucha evskij wenn der kam nach Hause (…) (Russ 9, HF) Hier werden nacheinander fünf russische Namen aufgezählt und unbeabsichtigt mit der russischen Konjunktion i (‘und’) verknüpft. Der Übergang zum Russischen geschieht häufig auch nach Lehnwörtern: (95) Der war über die ganze Oblast. Nu on mne srazu dal napravlenie. [Der war zuständig für den ganzen Verwaltungsbezirk. Also, er hat mich sofort in die Arbeit eingewiesen.] (Russ 19, TM) Das Lehnwort Oblast (‘Verwaltungsbezirk’) tritt als Übernahme aus dem Russischen in der ganzen bilingualen Sprachgemeinschaft auf. Ähnliches geschieht auch nach Homophonen, gleichlautenden Wörtern, die ähnliche Bedeutungen in beiden Sprachen haben: Im Russlanddeutschen klingen die deutsche dialektale Diskurspartikel no (‘nun’) und die russische Adversativpartikel no (‘aber’) identisch: (96) gib mir her deine Frau, wir wir gehen zusammen da in die Wiste. No, kak ja i ne mogla ego videt. [Gib mir deine Frau her, wir gehen zusammen in die Wüste. Nun/ aber Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 46 wie, ich konnte ihn auch nicht sehen.] (Russ 19, TM) Unter diese bilingualen Homophone zählt Clyne (1991: 194) auch aus der Kontaktsprache entlehnte Diskursmarker, die dann in beiden Sprachen häufig auftreten: (97) mein zweiter Bruder sei Frau war von Don/ to Stavropolskij. No russkaja potom hat man Moldavan. Ein Bruder hat eine Jude. [Die Frau meines zweiten Bruders war von Don, Stavropolsker (sc. Gebiet). Aber Russin. Dann hat man eine Moldauerin, ein Bruder hat ein Jüdin] (Russ 1, KE) Häufig finden sich auch Dopplungen (dazu auch Blankenhorn 1999: 45), wo die Sprecher eine zuerst Russisch getätigte Äußerung dann auf Deutsch wiederholen. Dies hat meist die Funktion einer Korrektur, da dem Sprecher bewusst wird, dass er den monolingualen Sprechmodus verlassen hat (vgl. Riehl 2002a: 72f.): (98) Wenn ich sie zuhaus gebracht hab, hab angefangt zu sprechen Deutsch mit ihnen, (…) oni plakali, [haben sie geweint]. (Russ 10, MH) (99) Bereza wenn sie nass ist (…) Birken (…) dann fault sie. (Russ 2, FF) Als Belege dafür, dass es sich hier um Verbesserungsstrategien handelt, sind Beispiele anzuführen, in denen Wortabbrüche erkennen lassen, dass der Sprecher ursprünglich das Wort in der anderen Sprache äußern wollte, dann aber schon vor der vollständigen Artikulation des Wortes wahrnimmt, dass er das anderssprachige Wort produziert und in der Mitte abricht und neu ansetzt, diesmal mit dem Lexem der Matrixsprache: (100) Vot is meine komanda [Mannschaft] in Ekaterinovkaja, Sekretär, die wo buma/ [= Anfang von russ. bumagi ‘Papiere, Akten’] Papiere meine vorbe(reiteten). (Russ 1, KE) (101) Re/ [= Anfang von russ. redko ‘selten’] selten hat mer ein Kolchos [Kolchose] gefunden, wo gut gelebt hawa die Mensche (Russ 2, FF) (102) Des is unser aller scheinster bog/ [Anfang von russ. bogatstvo ‘Reichtum’] der Reichtum - Gott diene. (Russ 6, MS) Die zuletzt aufgezeigten Strategien zeugen von bewusster Sprachaufmerksamkeit der Sprecher, die aber von Sprecher zu Sprecher verschieden ist (vgl. Riehl 2002b: 72ff.). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Wie bereits in 5.2.2 erwähnt, handelt es sich bei der russlanddeutschen Sprachgemeinschaft im Ural, an der Wolga und St. Petersburg um eine Sprachgemeinschaft, die in der Auflösung begriffen ist. Die Gründe dafür fasst eine Gewährsperson mit den folgenden Worten sehr eindrucksvoll zusammen: (103) aber jetzt ist schon/ schon wenige. Die meisten sind alle fort. Wir waren friher viel - sehr viel Deutsche, und jetzt sind sie schon (beinah) alle fortgefahren. Was nicht fortgefahren sind, die sind gestorben. (Russ O1, SM) Die Träger der deutschen Sprache sind vor allem in den Reihen der Generation I zu finden, die nun inzwischen ein sehr hohes Alter erreicht hat. Jüngere Sprecher, die noch das Deutsche als Erstsprache zu Hause erworben haben, sind meist schon nach Deutschland ausgesiedelt. Fast in jedem Dorf, das wir während unserer Feldforschung besucht haben, wurde uns von Familien berichtet, die gerade wenige Wochen vor unserer Ankunft nach Deutschland ausgesiedelt waren. In einem Dorf (Revnoje) trafen wir sogar nur noch einen Sprecher des Deutschen an (Russ 1, KE). Aufgrund dieser Rahmenbedingungen versteht sich, dass die Kommunikationssituationen für das Deutsche in diesen Siedlungsgebieten sehr eingeschränkt sind. Eine Grundproblematik besteht auch darin, dass die älteste Generation meist Dialekt spricht, die jüngste hingegen ein schulisch erworbenes Standarddeutsch. Während erstere in der Regel kein Problem haben, dieses zu verstehen, ist umgekehrt aber der Dialekt eine Verstehensbarriere: (104) sie also sprechen hm Deutsch, also wolgadeutsche Dialekt, und wir verstehen nicht, gar nicht, (lacht) es ist zu schwer. (Russ 3, IF) Die folgenden Ausführungen über den Sprachgebrauch beziehen sich ausschließlich auf die oben erwähnten Regionen. Die Verhältnisse in den anderen Sprachinseln (Prišib, 2. Russland 47 Sprachinseln in Sibirien) werden im Anhang dargestellt. 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Alle Sprecherinnen und Sprecher ab der zweiten Generation schätzen durchweg ihre Kompetenzen in der russischen Sprache höher ein. Bei den Sprechern der ersten Generation halten sich die Selbsteinschätzungen etwa die Waage: Ein Drittel der Informanten glaubte, besser Russisch zu sprechen, ein Drittel hielt die Kompetenz in beiden Sprachen etwa für gleich und ein Drittel gibt an, Deutsch besser zu sprechen. Gerade letztere Gruppe fällt dadurch auf, dass die Sprecherinnen und Sprecher auch einen Akzent im Russischen haben, der sie als Zugehörige der deutschen Sprachgemeinschaft ausweist. 13 Diese Selbsteinschätzung hat aber auch etwas mit dem Bildungsstand der Informanten zu tun: je höher die Bildung und damit die Sprachkompetenz insgesamt ist, desto kritischer wird die Kompetenz in der deutschen Sprache eingestuft, auch wenn sie objektiv gesehen höher ist (z.B. bei professionellen Sprechern, die eine hohe Sprachaufmerksamkeit haben). Hier ist zu bemerken, dass viele der Sprecherinnen und Sprecher der ersten Generation aufgrund des Kriegsausbruchs nur eine geringe Schulbildung (etwa vier Klassen) erhielten und stattdessen Arbeitsdienste leisten mussten (vgl. oben Kapitel 3.3). Sie konnten daher weder im Deutschen noch im Russischen konzeptionell schriftliche Register erwerben; sie geben an, besser Deutsch zu schreiben und zu lesen, sind aber im Grunde semiliterat. Hier lässt sich auch ein regionaler Unterschied festmachen: so haben etwa alle Informantinnen der ersten Generation aus St. Petersburg eine höhere Schulbildung bzw. Fachausbildung, die meisten ihrer Altersgenossinnen und -genossen aus dem Wolga- und Uralgebiet dagegen gehören der Arbeiterschicht an. 14 Aber auch hier sind Unterschiede zu vermerken, je nachdem, 13 So berichtet etwa eine Sprecherin (Russ 10, MH), dass sie Sprecher JD dadurch kennen lernte, dass er sie ansprach, weil sie so sprach wie seine deutsche Babuschka. 14 Das hängt natürlich mit den im historischen Überblick erwähnten Unterschieden zwischen den eigentlichen autarken Sprachinselgebieten und der städtischen Mehrsprachigkeit in St. Petersburg zusammen. woher die Sprecherinnen und Sprecher ursprünglich stammten. So berichten unsere Informanten, die in der Ukraine aufgewachsen waren und dort die Schule besucht hatten, dass sie dort bereits Russisch und Ukrainisch erlernten, was etwa im Wolgagebiet weit weniger der Fall war. Dementsprechend konnten sie bereits in der Schule eine schriftsprachliche Kompetenz im Russischen erwerben, die sie später ausbauen konnten (Russ 12, JH). Ein weiterer Unterschied zwischen den Sprecherinnen und Sprechern im Wolga- und Uralgebiet und St. Petersburg besteht darin, dass die Informantinnen in St. Petersburg durchweg keinen Dialekt sprechen, während die übrigen ihre Kompetenz in einem deutschen Dialekt sehr hoch einschätzten, die Beherrschung des Standarddeutschen („Hochdeutsch“) hingegen allenfalls als gut bis mittelmäßig. Hier gaben sogar vier Sprecher an, das Hochdeutsche überhaupt nicht aktiv zu beherrschen. Aus der Außenperspektive ist hinzuzufügen, dass die meisten Sprecher kaum über eine standardsprachliche Varietät verfügen, ausgenommen die Sprecherinnen und Sprecher, die ursprünglich aus der Ukraine oder aus niederdeutschen Sprachinseln stammten. Diese sprechen in den Interviews wesentlich standardnäher als die Informanten aus dem Wolgagebiet. Alle Informanten dieser Altersgruppe (bis auf zwei: Russ 13, AK und Russ 21, NI) gaben an, Deutsch schreiben zu können, und zwar von mittelmäßig bis sehr gut. Diejenigen Sprecherinnen, die angaben, Deutsch „sehr gut“ zu schreiben, waren entweder professionelle Sprecher (zwei Deutschlehrerinnen aus St. Petersburg) oder hatten die ganze Schullaufbahn auf Deutsch absolviert und gaben im Gegenzug an, Russisch weniger gut schreiben zu können (drei Sprecherinnen). In letzterem Fall hat sich also die literate Kompetenz eindeutig zugunsten des Deutschen verschoben. Anders ist das Bild in der zweiten Generation: Hier geben alle Befragten an, dass sie die russische Sprache besser beherrschten als die deutsche. Ihr Russisch ist akzentfrei, und Sprecherinnen, die mit einem russischen Partner verheiratet sind und einen russischen Namen tragen, konnten auch zu Sowjetzeiten unbehelligt als Russen leben (Russ 13, KS). Die Kompetenz in der deutschen Sprache dagegen wird sehr unterschiedlich eingeschätzt, von schlecht bis gut, hier aber bis auf zwei Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 48 1. Generation 2. Generation 3. Generation 4. Generation 19 12 4 5 Tabelle 2: Verteilung der Sprecher nach Generationen professionelle Sprecher (Russ 4, HS und Russ 6, FR), die auch auf Deutsch unterrichten, nur die Kompetenz im Dialekt. Lediglich eine Sprecherin aus St. Petersburg, die keinen Dialekt spricht, stuft ihre aktiven Kenntnisse im Hochdeutschen als mittelmäßig ein, bei den übrigen (nicht professionellen) Sprechern wird „schlecht“ bis „gar nicht“ angegeben. Bei Schreibkenntnissen wird ebenfalls „mittelmäßig“ bis „gar nicht“ aufgeführt. Sprecherinnen der dritten und vierten Generationen geben ebenfalls das Russische als die bestbeherrschte Sprache an. Die Deutschkompetenz wird sehr unterschiedlich eingeschätzt, da ja einige der Informantinnen ein Deutschstudium absolvieren und damit gute Kenntnisse in Wort und Schrift besitzen. Aber hier gilt entsprechend für alle, dass einhellig angegeben wird, einen deutschen Dialekt „gar nicht“ zu beherrschen. Diese Sprecheraussagen decken sich im Großen und Ganzen auch mit den Beobachtungen zur Verteilung der Varietäten, wie sie bereits in Kap. 5.2.2 angesprochen wurde. Grundsätzlich ist aber zu bemerken, dass in der dritten und vierten Generation, in der die natürliche Sprachweitergabe in Form des primärsprachlichen Dialekts abgerissen zu sein scheint, doch eine sehr starke Affinität zur deutschen Sprache besteht: Viele Nachkommen der Dialektsprecher entscheiden sich für Berufe, in denen sie die deutsche Sprache professionell gebrauchen, z.B. als Deutschlehrer oder Dolmetscher. 15 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen Der Sprachgebrauch ist (wie auch die Sprachkompetenz) abhängig von der Sprechergeneration: So wird in der Regel die deutsche Sprache in den älteren Generationen häufiger gebraucht als in den jüngeren, es sei denn diese gehören der Gruppe der professionellen Sprecher an. Insgesamt wurden für den Sprachgebrauch im Netzwerkmodell die Aussagen 15 So findet sich bei einer großen Zahl unserer Informanten ein Kind oder Enkelkind, das einen solchen Beruf ergreift. von 40 Sprecherinnen und Sprechern ausgewertet. Ihre Verteilung nach Generationen wird in Tabelle 2 dargestellt. 16 Die Verteilung der Sprecher ist vor allem dadurch sehr asymmetrisch, dass Sprecher der dritten Generation entweder nicht mehr Deutsch sprechen oder bereits ausgereist sind und als Sprecher der vierten Generation in unserem Untersuchungsgebiet nur noch L2- Sprecher zu finden waren. 6.3.1 Konstellation 1: Qualitativ bestimmte Kontakte 6.3.1.1 Nahestehende Personen Durch die Erosionssituation wird auch die Möglichkeit, mit den engsten Familienangehörigen Deutsch zu sprechen, immer mehr eingeschränkt. Nur wenige der älteren Sprecherinnen und Sprecher der Generation I haben noch einen deutschsprachigen Ehepartner (zwei interviewte Ehepaare MS und GS, Russ 6), sowie BL und EL (Russ 14) und eine einzelne Sprecherin (Russ 8, KA). Alle diese Informanten sprechen mit diesem Ehepartner Deutsch, switchen jedoch, wie sich bei den Ehepaarinterviews beobachten ließ, auch gelegentlich ins Russische (Typ 1). Bei vielen der älteren Sprecher ist der deutschsprachige Ehepartner bereits verstorben. Die Sprecher gaben aber an, früher mit dem Ehepartner Deutsch gesprochen zu haben (Typ 2). Hier ist anzunehmen, dass analog zu Typ I auch Switchings vorkamen. Charakteristisch in diesen Konstellationen ist, dass die Informanten auch mit ihren Kindern Deutsch (oder eine Mischung von Deutsch und Russisch) sprechen, die Kinder aber in der Regel Russisch antworten. Die Problematik einer zweisprachigen Kindererziehung nach der Deportation ist nicht allein in der Furcht vor Repressalien begründet, sondern auch in gewissen Lebensumständen der Mütter, wie beispielhaft aus folgendem Beleg hervorgeht: 16 Herzlich gedankt sei Olga Labuda (Mannheim) für ihre Unterstützung bei der Auswahl der Probanden und bei den Erhebungsarbeiten, sowie Alexander Minor (Saratov) und Sergeij Alatorzew (St. Petersburg), die uns vor allem in praktischen und organisatorischen Dingen in vielfältiger Weise unterstützt haben. 2. Russland 49 (105) ich hab gearbeit (auf) der Ziegelzavod [=Werk] alle drei smena [=Schichten], und dann die Kinder war in in sadik [=Kindergarten], in de jasli [=Kinderkrippe], wo soll die spreche, wenn ich se zu Haus gefragt hab, hab anfang zu sprechen Deutsch mit ihnen, oni plakali [=sie haben geweint], haben sie geweint, sage sie, weil sie haben mich nicht verstanden. Nu wie konnte ich dann mit ihnen Deutsch spreche, raz [=wenn sie]/ hab/ ich hab sie so wenig gesehen. (Russ 10, MH) Die übrigen Informanten, die mit russisch- oder anderssprachigen Ehepartnern verheiratet sind, gebrauchen in der Familie ausschließlich das Russische. Eine Ausnahme bilden zwei Informantinnen (Russ 19, TM und Russ 13, OR), bei denen die deutschsprachige Mutter mit im Haushalt lebte. Diese gebrauchten in dieser Zeit (trotz russischsprachigem Ehepartner) mit den Kindern auch das Deutsche, sprechen es aber inzwischen auch nicht mehr mit ihnen. Eine Informantin, die als Deutschlehrerin arbeitete, brachte ihren Kindern Deutsch als L2 bei, gebraucht es aber nicht als eigentliche Familiensprache. Mit den Enkelkindern sprechen alle Informanten Russisch, bis auf einen (Russ 18, AS), der seine Enkelin, die bei ihm lebt, meist auf Deutsch anspricht, aber von ihr stets eine russische Antwort bekommt (teilnehmende Beobachtung). Alle Informanten der ersten Generation haben mit ihren Eltern, solange diese lebten, nur Deutsch gesprochen, mit Ausnahme eines Sprechers (Russ 13, AK), der seiner Mutter bereits auf Russisch antwortete. 17 Sprecherinnen der Generation II und der Generation III haben bereits einen russischsprachigen Ehepartner, 18 lediglich ein Ehepaar aus Krasnoturinsk spricht miteinander noch eine Mischvarietät, ein Sprecher (Russ 17, AS) war in erster Ehe mit einer deutschen Frau verheiratet und benutzte mit ihr Deutsch als „Geheimsprache“, d.h. in Situationen, in 17 Sein Sprachstand ist entsprechend auch auf einem sehr niedrigen Niveau, schwächer als die meisten Sprecherinnen und Sprecher von Generation III. 18 Es ist sehr stark zu vermuten, dass die meisten, die mit einem deutschsprachigen Partner verheiratet sind, bereits nach Deutschland ausgesiedelt sind. Allerdings reisen auch viele mit einem russischsprachigen Ehepartner aus. Hier ist nicht die Frage der Nationalität, sondern die Frage nach den Zukunftschanchen der Kinder das entscheidende Kriterium. denen die Kinder nichts verstehen sollten. 19 Mit einer Ausnahme (Russ 4, HS) verwenden sie auch im Gespräch mit den Kindern das Russische. HS spricht mit den Kindern noch eine Mischung aus Deutsch und Russisch, sie antworten aber auf Russisch. Das Gleiche gilt auch für das Gespräch mit den Enkeln. Auch hier verwenden fast alle das Russische, nur HS, der als Chemielehrer auch auf Deutsch unterrichtet hat und eine sehr standardnahe Varietät spricht, gibt an, seinen Enkel gelegentlich auch auf Deutsch anzusprechen. Er antworte aber stets Russisch. In der Generation IV wird das Deutsche gar nicht mehr im Familienverband gebraucht, aber einige Informantinnen berichten, dass etwa ihre Oma nur Deutsch gesprochen habe. 6.3.1.2 Weitere nahestehende Personen Auch der Sprachgebrauch mit den Geschwistern ist je nach Generationszugehörigkeit unterschiedlich, wird hier aber auch von der Tatsache mitbestimmt, ob die Geschwister in Deutschland oder Russland (bzw. Kasachstan) leben. Die Sprecher der ersten Generation gaben an, mit ihren Geschwistern, sofern sie noch lebten, Deutsch zu sprechen, oder wenigstens Deutsch und Russisch gemischt. Das gilt besonders dann, wenn die Geschwister in Deutschland leben, dann korrespondieren sie in der Regel auch auf Deutsch. Eine gewisse Ausnahme bilden hier die Sprecherinnen aus St. Petersburg: Da diese sich in einer mehrsprachigen Umgebung befanden, sprachen einige von ihnen auch mit ihren Brüdern und Schwestern Russisch. Das galt vor allem für die Deportierten, die nach der Deportation kein Deutsch mehr sprechen durften (z.B. Russ 21, TI). Sprecherinnen und Sprecher der zweiten Generation gebrauchen nur noch selten als Geschwistersprache Deutsch: Hier spaltet sich das meist auf zwischen älteren und jüngeren (nach dem Krieg geborenen) Geschwistern. Mit den älteren herrscht dann eine Sprachform vor, die durch sehr starkes Code-Switching zwischen dem Deutschen und Russischen geprägt ist, das nach unseren Beobachtungen sehr zugunsten des Russischen ausfällt (d.h. russische Matrixsprache mit gelegentlichen Phrasen 19 Die Verwendung der jeweils anderen Sprache als „Geheimsprache“ von Eltern untereinander oder Kindern untereinander wird häufiger angeführt (vgl. auch Russ 19, TM, Russ 8, KA). Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 50 und formelhaften Repliken auf Deutsch). Mit den jüngeren Geschwistern wird in der Regel nur noch Russisch gesprochen (vgl. Russ 4, WA). Dies könnte sich in den Gesprächen mit den in Deutschland lebenden Geschwistern zugunsten des Deutschen verschieben, konnte aber leider nicht beobachtet werden. In der Generation III und IV wurde nur noch Russisch als Geschwistersprache angegeben. Die gleichen Beobachtungen gelten auch für den Sprachgebrauch mit Cousinen und Cousins. 6.3.1.3 Weiterer Freundes- und Bekanntenkreis Die Kommunikation mit Freunden oder Bekannten wird in der Regel nicht mehr in dem Maße von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation bestimmt, sondern wird von anderen Faktoren gesteuert, etwa Kontakten zu Sprecherinnen und Sprechern in Deutschland (oder Österreich). Hier findet man in allen Gruppen Sprecherinnen und Sprecher, die Verwandte oder Freunde in Deutschland haben, mit denen sie auch Deutsch sprechen. Wenige haben auch Freunde oder Nachbarn in ihrer eigenen Umgebung, mit denen sie Deutsch oder eine Mischvarietät zwischen Deutsch und Russisch sprechen können: Das sind dann in der Regel nur Informanten der ersten und zweiten Generation, meist die Sprecherinnen und Sprecher aus dem Uralgebiet. Hier gibt es noch einige Deutschsprachige, die in der Nachbarschaft wohnen oder die sich zumindest 14-tägig beim Kirchgang treffen. So konnte man feststellen, dass sich unsere Informanten auch alle untereinander kannten. 20 Allerdings sprechen die Sprecherinnen der zweiten Generation dann meist eine Mischvarietät miteinander, bei der in der Regel auch das Russische überwiegt. In der Regel sieht das dann so aus, wie es ein Informant beschreibt: (106) JH: Nu - die alde Leute, was noch sind, - die sprechen also manchmal so - auf Deutsch. CR: Aber Sie haben mit denen auch Russisch gesprochen? 20 Dies hängt mit der historischen Situation zusammen: Durch die Arbeitslager, die sich gerade im Svertlovsker Gebiet befanden, war die deutschsprachige Bevölkerung auch nach dem Krieg dort sehr konzentriert. JH: Ja. (Hab ich). - Manchmal so - sprechen wir etwas, paar Worte da auf Deutsch. (Russ 12, JH) Hier sind zwei wichtige Institutionen anzuführen, bei denen man noch deutschsprachige Freunde und Bekannte trifft: zum einen beim Gottesdienst, der meist zweisprachig gestaltet ist, und zum anderen in den jeweiligen Begegnungszentren, im Seniorenclub, Deutschkurs, deutschen Chor oder in der deutschen Theatergruppe (in St. Petersburg). 6.3.2 Konstellation 2: Quantitativ bestimmte Kontakte 6.3.2.1 Personen mit häufigem Kontakt Die meisten Informanten haben noch mindestens ein oder zwei Kinder in ihrer Nähe und meist auch die Enkel. Doch wie bereits in Kapitel 6.3.1.1 beschrieben, überwiegt in diesen Fällen die russische Sprache als Familiensprache. 6.3.2.2 Personen mit gelegentlichem Kontakt Hier sind Kollegen, Nachbarn und Freunde anzuführen, mit denen die Konversation, wie bereits in Kapitel 6.3.1.2 aufgeführt, fast ausschließlich auf Russisch abläuft. Lediglich diejenigen Sprecherinnen und Sprecher, die regelmäßig Veranstaltungen im Begegnungszentrum oder den Gottesdienst besuchen, treffen dort auch auf Deutschsprachige. Auch dies gilt verstärkt für die erste Generation, da diese etwa den Seniorentreff und auch die Kirche häufiger besuchen als die jüngeren. Allerdings lässt sich das nicht generalisieren. So findet man auch Informanten der zweiten und dritten Generation, die ganz regelmäßig diesen Veranstaltungen beiwohnen, allerdings überwiegen hier Sprecherinnen, die auch beruflich damit zu tun haben, z.B. als Leiterinnen von Deutschkursen. 6.3.2.3 Personen mit seltenem Kontakt Leider ist es bei vielen Informanten der Fall, dass gerade ihnen sehr nahestehende Personen wie Kinder oder Geschwister nicht mehr in Russland wohnen, sondern bereits nach Deutschland ausgesiedelt sind. Die Besuche sind eher selten, die meisten Informanten waren höchstens ein- oder zweimal in Deutschland, gelegentlich kommen die ausgesiedelten Verwandten zu ihnen zu Besuch, aber sicher nicht öfter als einmal pro Jahr, so dass sich 2. Russland 51 Kommunikationssituationen des Deutschen, die sich auf enge Verwandte beziehen, dadurch noch stärker reduzieren und somit auch das Deutsche als Familiensprache an Boden verliert. Seit Anfang der 90er Jahre besteht aber jetzt Kontakt zu Deutschen aus Deutschland, wie im Falle der neuapostolischen Gemeinde im Ural (6.4.). Ein Sprecher (Russ 12, JH) hat sogar Kontakt zu deutschsprachigen Autorinnen und Autoren und hat sich dadurch weitere Kontakte aufgebaut. Er gibt auch an, die deutsche Sprache, die er in der Familie nicht mehr verwendet hat, nach 1993 im Selbststudium wiedererworben zu haben. 6.3.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch Dieser Punkt wurde in Russland nicht systematisch abgefragt und lässt sich daher nur aus gelegentlichen Sprecheraussagen oder Beobachtungen rekonstruieren. Auch diejenigen Sprecher, die noch die deutsche Schule besucht haben, zählen doch auf Russisch, wie viele Fälle von Code-Switching bei Jahreszahlen zeigen. Informanten, die dazu befragt wurden, gaben an, dass sie sowohl Beschimpfungen oder auch Kosenamen zu ihren anderssprachigen Ehepartnern oder Kindern immer auf Russisch artikulieren würden. Die Sprecherinnen und Sprecher der zweiten Generation adressieren auch ihre Haustiere auf Russisch. Viele Informanten der ersten Generation gaben an, noch deutsche Bücher zu lesen (zwölf Informanten), zumindest die Bibel (noch zwei weitere). Bei den anderen Generationen beschränkt sich dies auf die Sprecherinnen und Sprecher, die aufgrund von Studium oder Beruf Deutsch lesen müssen bzw. die einen Deutschkurs besuchen. Fast alle Informanten der ersten Generation schreiben Briefe auf Deutsch, etwa an Verwandte in Deutschland. Von den übrigen Informanten sind es (bis auf eine Sprecherin; Russ 6, EL) auch wieder nur diejenigen, die beruflich mit dem Deutschen zu tun haben. Die übrigen geben an, „schlecht“ bis „gar nicht“ Deutsch schreiben zu können. 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen Die professionellen Sprecher, vor allem Lehrer und Universitätsdozenten, benutzen die deutsche Sprache im Unterricht. Diese professionellen Sprecher haben auch Beziehungen zu deutschsprachigen Personen im Ausland, mit denen sie ebenfalls nur Deutsch sprechen. Auch andere Informanten bekommen gelegentlichen Besuch aus Deutschland von Bekannten oder Verwandten, deren Kinder bereits in Deutschland geboren sind und kein Russisch mehr sprechen. Auch hier müssen die russlanddeutschen Verwandten sich dann des Deutschen als alleiniger Verständigungssprache bedienen (Russ 1, KE). Diese Besuche sind allerdings eher selten. Eine weitere Kommunikationssituation des Deutschen findet sich bei den Mitgliedern der neuapostolischen Kirche im Uralgebiet. Diese werden im Abstand von zwei bis vier Wochen von Priestern aus Deutschland besucht und können mit diesen nur Deutsch sprechen. Besonders betrifft dies vor allem Sprecher, die selbst eine Funktion innerhalb der neuapostolischen Kirche innehaben und damit in ständigem Kontakt mit ihren Mitbrüdern in Deutschland stehen. Dies hat Auswirkungen auf die Kompetenz in der deutschen Sprache im Allgemeinen, aber auch auf Konvergenzerscheinungen des russlanddeutschen Dialekts auf den bundesdeutschen Standard hin (Beispiel Russ 9, HF, Russ O3, JE). Grundsätzlich kann man seit der Wende einen Zuwachs von Sprachkompetenz im Deutschen bei denjenigen russlanddeutschen Sprecherinnen und Sprechern vermerken, die Funktionen übernommen haben (z.B. in Begegnungszentren). 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Grundsätzlich ist bei allen Sprechern eine sehr positive Einstellung gegenüber der deutschen Sprache festzustellen. Deutsch ist für die meisten die „Muttersprache“, auch wenn es die eindeutig schwächere Sprache ist und wenn sie schon viele Attritionserscheinungen zeigt. Der folgende Ausschnitt ist dafür typisch: (107) CR: Was würden Sie sagen, Herr E., ist Ihre Muttersprache? KE: kak? [russ.: was? ] CR: Was is Ihre Muttersprache? KE: Meine Muttersprache? Deutsch! (Russ 1, KE) Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 52 Von allen Befragten der zweiten Generation, die starke Attritionserscheinungen im Russischen zeigen, gaben nur zwei an, dass Russisch ihre Muttersprache sei. Die Begründung für das Deutsche ist zum einen emotional: So behauptet etwa eine Sprecherin der dritten Generation (LJ), die Deutsch eigentlich gar nicht mehr spricht, Deutsch sei ihre Muttersprache, weil damit das „Gefühl“ verbunden sei. Eine andere Sprecherin der dritten Generation drückt das mit den folgenden Worten aus: (108) CR: Was würden Sie sagen ist Ihre Muttersprache? TV: Mein Muttersprache? (klopft sich auf die Wange) Das ist eine interessante Frage. - Im - mein Herz - liegt Deutsch. - In mein Kopf - liegt Russisch! (lacht) (Russ 20, TV) Diese emotionale Komponente, die sie mit der Sprache verbinden, ist für viele Sprecher das entscheidende Kriterium, das das Deutsche zur Muttersprache macht. Bei anderen Sprechern spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, was sie als Kind als erstes gesprochen haben (Russ 17, ER), oder was sie für eine Nationalität in ihrem Pass vermerkt haben (Russ 17, AS). Das Kriterium, welche Sprache sie besser beherrschen, wird kaum diskutiert, und wenn, dann interessanterweise gerade bei professionellen Sprechern, die eine hohe Kompetenz im Deutschen haben (vgl. Russ 22, JS). Die affektive Einstellung zur deutschen Sprache kommt auch in ihrer Verwendung in emotionalen Kontexten zum Ausdruck. Während es für Sprecher der ersten Generation noch selbstverständlich scheint, mit ihren Haustieren Deutsch (bzw. den Dialekt zu sprechen), ist es schon in der zweiten das Russische. Auch im Gespräch mit dem nicht-deutschsprachigen Ehepartner wird auch in emotionalen Kontexten (Kosenamen oder Beschimpfungen) nicht ins Deutsche gewechselt, vgl.: (109) no, was mer - was der Mann von die Frau - äh - brauch, des kann mer - auf Russisch gut sache! (Russ 1, KE) Eine andere Sprecherin, die Deutsch nur noch rudimentär spricht, gibt an, sie würde immer noch auf Deutsch beten: In dieser Sprache habe sie beten gelernt, daher sei es die Sprache, die sie mit Gott spreche. Wie bereits in den Kapiteln 5 und 6 erwähnt, hat die deutsche Sprache in der religiösen Domäne einen hohen Stellenwert, da Gesangbücher und die Bibel oft noch auf Deutsch vorliegen (und von einer Generation an die andere weitergegeben werden) und die Liturgie teilweise noch auf Deutsch abgehalten wird. Nur wenige Sprecher machen Aussagen über die Qualität der Sprache. Hier ist es sogar bemerkenswert, dass Sprecher JH, der das Deutsche wiedererlernt hat, behauptet, dass ihm die Sprache nicht gefallen habe und dass ihm das Russische leichter gefallen sei: (110) Nur in - nur die deutsche Sprache hat ich - so - die liebte ich nicht. (…) die Dehnungen und so un/ das hat mir nicht gefallen. Und Russisch - die russische ist einfacher. Da schreibt man alles mit kleinen Buchstaben. Im Deutschen muss man - die Namen und (…) und alles muss - mit großen Buchstaben geschrieben - und das hat mir nicht gefallen. Die russische Sprache war einfacher. (Russ 12, JH) Dies kann jedoch wirklich als eine Ausnahme bezeichnet werden und bezieht sich offensichtlich hauptsächlich auf die Schreibung der Sprache und nicht auf Grammatik oder Klang. Die positive Einstellung zur Sprache kommt auch in einer intensiven freiwilligen Spracharbeit zum Ausdruck, die den individuellen Erhalt der Sprache sichern soll. So gibt es Sprecher, die trotz mangelnder äußerer Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu verwenden, noch eine sehr hohe Kompetenz haben oder sich wieder angeeignet haben. So berichtet etwa FF, dass sie immer deutschsprachige Zeitschriften abonniert hat: (111) Denn warum, wenn man nicht sprecht, dann verhö/ äh vergesst man alles. Immer, immer hab ich - Zeitunge, Journale [= russ. Aussprache] deutsche, hab ich immer ausgeschrieben. (Russ 2, FF) Andere haben durch Kontakt mit Deutschen die Sprache wieder reaktiviert und lernen das Deutsche mit Hilfe des Wörterbuches wieder: (112) JH: Ich konnte überhaupt nicht gut Deutsch sprechen. Ich hatte sie vergessen. CR: Und warum können Sie sie wieder so gut? 2. Russland 53 JH: No jetzt - sprech ich mit - mit vot lern immer das Wörterbuch. (Russ 12, JH) JH hatte nach eigenen Angaben das Deutsche vergessen, weil man es nach dem Krieg nicht sprechen durfte. Seine Eltern waren gestorben, und mit der russischen Frau sowie seinen Kindern sprach er nur Russisch. Dann traf er 1993 deutsche Musiker und Schriftsteller und begann daraufhin, sein Deutsch zu reaktivieren. Es kann auch zwischen den Zeilen gelesen werden, dass die Sprecher der ersten und zweiten Generation es bedauerlich finden, dass ihre Kinder und Enkel kein Deutsch mehr lernen: (113) Die Älstste versteht und der eine Engel, die hen Deitsch gelernt - in der Schule. Und die annre ler/ lerna alles Englisch. Hier ist sel/ sehr wenig hier Schule, wo Deitsch lernen sind zu lernen in der Schule. Das (is bei ihn) alles Englisch. (Russ 17, OR) 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Nicht nur der Verlust der deutschen Sprache bei den Enkeln wird bedauert, sondern auch die eigenen mangelnden Sprachkenntnisse, die jetzt von Nutzen wären: (114) wann ich das wisst, dass man das braucht, hätt ich des scheen gelernt, wär ich net von de Stund fortgschprunge. (Russ 1, KE) Allerdings wird in der Kosten-Nutzen- Kalkulation Englisch bereits höher eingestuft als Deutsch. Es wird auf der anderen Seite der Wert erkannt, den die deutsche Sprache als zusätzliche Sprache neben dem Englischen hat, der sich auch ganz konkret in Rubeln ausdrücken lässt: (115) JS: Das kenn ich ja ganz genau von meiner Enkelin. Denn, wenn sie keine Sprache spricht, bekommt sie - einen Lohn. Wenn sie Englisch spricht, bekommt sie einen anderen. Wenn sie aber Deutsch und Englisch spricht und ihre - dann CR: bekommt sie noch eine Zulage. JS: also richtig, eine richtige Position in der Arbeit kann ein junger Mensch haben nur, wenn er - eine, aber am besten zwei Sprachen spricht. (Russ 22, JS) Grundsätzlich schätzen die Sprecher die Situation der deutschen Sprache realistisch ein, d.h. ihr Potenzial als Fremdsprache wird erkannt, ihr Weiterleben als Muttersprache aber verneint: (116) Ich sehe keine keine Zukunft, nicht, nein. Als Muttersprache nicht, als Fremdsprache ja, viele interessieren sich noch für die deutsche Sprache und äh wollen die deutsche Sprache erlernen, und aber eigentlich ist doch äh mehr - hat mehr Gebrauch. Und alle diese Computerprogramm, die sind Englisch, die fördert Kommunikation eben auch mehr Englisch. Na, die deutsche Sprache, die bleibt als Fremdsprache hier, aber als Muttersprache, das ist sehr sehr/ eine sehr große Frage. (Russ 4, HS) Die Lage des Deutschen als Fremdsprache wird dagegen durchweg von allen Sprechern als sehr positiv eingeschätzt, auch in Konkurrenz mit dem Englischen: (117) JS: Doch, doch, Deutsch spricht man sehr viel - in Russland. Sehr viel. Und sehr viele Menschen kommen und wollen Deutsch lernen. Sehr viele wollen Deutsch lernen. Natürlich Englisch ist - weiter verbreitet. Es gibt mehrere Schulen, mehrere Kurse mit Englisch - mit Deutsch weniger. VB: Weniger, aber doch. Mit - mit deutscher Sprache - kommen die Werke her. Wissen Sie? Und Verkehr mit äh - chozjajstbo [= Wirtschaft] - mit Wirtschaft JS: mit Wirtschaft, ja. VB: so dass - deutsche Sprache wird hier sein - mehr. (Russ 22) Auch wenn Deutsch in der Anschauung vieler hinter dem Englischen rangiert, so will man, sicher auch aus Sympathie der deutschen Sprache gegenüber, unbedingt ihren Rang als zweitwichtigste Fremdsprache und ihre wirtschaftliche Bedeutung für die russische Gesellschaft herausstellen. 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal Im Gegensatz etwa zu Rumänien spielt die Frage, ob Hochdeutsch oder Dialekt gesprochen wird, keine Rolle, solange die Sprachform die Kommunikation nicht behindert. Zu viele verschiedene Dialekte und Varietäten des Deutschen wurden auf russischem Boden gesprochen, als dass man sich über eine Nina Berend/ Claudia Maria Riehl 54 bestimmte als deutsche Sprachgemeinschaft hätte identifzieren können: oberstes Kriterium war immer die gegenseitige Verständlichkeit. Wie bereits erwähnt (s.o. Kapitel 6.1), bildet für die Sprecher der vierten Generation, die Deutsch sekundär in Schule und Hochschule erworben haben, der Dialekt ihrer Großeltern durchaus eine Verstehensbarriere. Umgekehrt ist das kaum ein Problem, da die Großeltern in Schule und Kirche die Standardsprache passiv mitbekommen konnten. Grundsätzlich wird in der russlanddeutschen Sprachgemeinschaft Identität über die Sprache „Daitsch“ hergestellt. Lediglich ein Sprecher, der bereits erwähnte JH (Russ 12), gibt an, dass seine Muttersprache „Belmesisch“ sei, also ein Dialekt, der im Schwarzmeergebiet gesprochen wurde. Hochdeutsch hat dennoch ein hohes Prestige. Oft hört man von den ältesten Sprechern sehr stolze Kommentare, dass ihre Kinder oder Enkelkinder „schön“ Deutsch können (EL, Russ 6). Viele Sprecher geben an, dass sie nicht Hochdeutsch sprechen könnten, aber vor allem bei den Sprechern der zweiten Generation fehlt das Bewusstsein, weil sie nur noch über eine Varietät verfügen. (118) JH: Bei uns sagt man so: „Die Wolgadeutsche, das sind die Deutsche, die nicht Russisch und auch nicht Deutsch sprechen können.“ (lacht) CR: (lacht) Das ist aber nicht sehr freundlich! (lacht) JH: Das war auch so! Die konnten ja nicht Russisch! Und auch Deutsch haben se nur - Österreichisch, den österreichischen Dialekt gesprochen. Weiter konntn se net. Hochdeutsch konnt niemand! (Russ 12, JH) Die übrigen im Dialekt sozialisierten Sprecher geben meist eine Auskunft, die etwa wie folgt klingt: (119) Vot, (räuspert sich) ich hab - viel gehört Hochdeutsch so, - nicht die Wordda, aber dass sowas ist. (Russ 1, KE) Im Gegensatz dazu weisen die Sprecherinnen aus St. Petersburg den Dialekt weit von sich: Sie hätten immer nur Hochdeutsch gesprochen und identifizieren sich auch damit. Aber in Kontakt mit dem Russischen bleibt „Daitsch“ immer „Daitsch“, egal um welche Varietät es sich handelt. 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Im Gegensatz zu den deutschen Sprachgruppen in Mitteleuropa (Tschechien, Polen, Ungarn) waren die Deutschen in Russland von jeher sehr stark vom Mutterland isoliert. Darüber hinaus sind die verschiedenen Gebiete auch innerhalb Russlands deutlich voneinander getrennt und haben bis zum Zweiten Weltkrieg eine eigene Minderheitenkultur mit eigenständigen Varietäten ausgebildet. Eine noch stärkere geographische Zersplitterung entstand in Folge des Zweiten Weltkriegs durch die Deportation nach Sibirien und Kasachstan sowie die nach dem Krieg eintretende Binnenwanderung, vor allem innerhalb Sibiriens und Mittelasiens. Dies hat einerseits die geographisch bedingte Isolation noch weiter vorangetrieben, andererseits aber eine Vermischung der verschiedenen deutschsprachigen Gruppen begünstigt. 8.2 Historische und demographische Faktoren Die veränderten historischen Bedingungen im Zarenreich, nach der Oktoberrevolution 1917 und schließlich unter stalinistischem Regime veranlassten die deutschsprachige Bevölkerung Russlands zu einer ständigen Anpassung an die unterschiedlichen Gegebenheiten. Die deutschen Sprachinseln in Russland stützen sich auf Ausgleichsdialekte, die die Siedler mitbrachten. Diese Varietäten entwickelten sich in den jeweiligen Sprachinselregionen zu selbständigen Varietäten des Russlanddeutschen mit Sprachkontakterscheinungen aus der Kontaktsprache Russisch. Infolge der Vertreibung und Umsiedlung kam es zu neuen Vermischungen der angestammten Mischmundarten, aber auch zu massivem Sprachwechsel in der Nachkriegsgeneration. Als Leitmundart hat sich hier das Wolgadeutsche am stärksten behauptet. Trotz der eindeutig verbesserten Situation seit 1990 nimmt die Zahl der Deutschsprecher weiter ab. Gut in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelte Personen der jüngeren Generation ergreifen in der Regel die Chance der Aussiedlung nach Deutschland, so dass die Gruppe zahlenmäßig immer kleiner wird. Gestärkt wird allerdings der Status des Deut- 2. Russland 55 schen als Zweitbzw. Fremdsprache, vor allem bei den nicht mehr im Deutschen sozialisierten Nachkommen der deutschen Bevölkerungsgruppe. 8.3 Kulturelle Faktoren Die immer geringer werdende Zahl der Minderheitenangehörigen und ihre verstreute Lage innerhalb Russlands und in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion hat bisher nicht zu einem Verlust einer eigenständigen kulturellen Identität der Russlanddeutschen geführt. Aufgrund ihres Bekenntnisses zur Nationalität Deutsch, die von der Staatsbürgerschaft losgelöst ist, kommt auch der deutschen Sprache mit Status der „Muttersprache“ ein relativ hohes Gewicht zu. Die Pflege der deutschen Sprache und Kultur unterliegt den Begegnungszentren und deutschen Kulturinstituten, die sich in der Organisation von Sprachkursen, Chor- und Folkloreprogrammen sowie Seniorentreffs sehr engagieren. Einen weiteren Beitrag zur Pflege der deutschen Sprache leisten auf institutioneller Ebene auch die Kirchen, vor allem die Neuapostolische Kirche im Uralgebiet. Aufgrund des Mangels an Schülern mit Vorkenntnissen im Deutschen geht der muttersprachliche Unterricht immer mehr zurück, es besteht aber nach wie vor für die deutsche Minderheit die Möglichkeit der Teilnahme am erweiterten Unterricht Deutsch als Fremdsprache, der auch Schülern anderer Nationalitäten zugänglich ist. Ein weiteres Angebot zum Erwerb der deutschen Sprache oder Verbesserung der Kompetenzen besteht in außerschulischen Kursen, die ebenfalls von den Begegnungszentren veranstaltet werden. 8.4 Soziolinguistische Situation Aufgrund der historischen Verwurzelung und wirtschaftlichen Bedeutung des Deutschen in Osteuropa ist das Interesse am Deutschen (trotz rückläufiger Tendenzen zugunsten des Englischen) nach wie vor groß. Bei den Nachkommen der deutschsprachigen Minderheit ist das Interesse gekoppelt mit der Suche nach den eigenen Wurzeln und einer neuen Wertschätzung der Großelternsprache. Damit verschwinden aber die bodenständigen Dialekte, die aufgrund der zahlreichen Umsiedlungen und Umschichtungen der deutschsprachigen Bevölkerung ohnehin schon stark zurückgegangen waren, immer mehr. Der Kompetenzgrad in einer der Varietäten des Deutschen gestaltet sich bei den Sprechern in den einzelnen Generationen daher sehr unterschiedlich. Während in der ältesten Generation noch eine aktive Kompetenz sowohl in der Mundart als auch in einer standardnahen Varietät des Deutschen festgestellt werden kann, kann man bei der mittleren Generation eher eine weitgehend auf die Mundart beschränkte Kompetenz mit mehr oder weniger starken Sprachkontakterscheinungen konstatieren. Die beiden jüngeren Generationen verfügen in der Regel über eine mehr oder weniger zielsprachennahe Kompetenz im Standarddeutschen als Zweitsprache. Die Bindung an die deutsche Sprache und Kultur ist zumindest in den älteren Generationen trotz der mangelnden Ausdrucksfähigkeit in dieser Sprache vergleichsweise stark und wird auch wieder bewusst nach außen getragen. 9 Literatur Anders, Kerstin (1993): Einflüsse der russischen Sprache bei deutschsprachigen Aussiedlern. Untersuchungen zum Sprachkontakt Deutsch-Russisch. Mit Transkriptionen aus fünf Gesprächen. Hamburg (=Arbeiten zur Mehrsprachigkeit; 44). 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Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien Renate Blankenhorn Inhalt 1 Die Situation der deutschen Minderheit in Sibirien .............................................................. 59 2 Kontaktsprachen........................................................................................................................ 60 3 Sprachformen des Deutschen.................................................................................................. 60 3.1 Standard................................................................................................................................. 60 3.2 Dialekt.................................................................................................................................... 61 3.3 „Russlanddeutsch“ als Kontaktvarietät (Sprachkontaktphänomene) ........................... 62 4 Sprachgebrauch zwischen Sprachbewahrung und Assimilation.......................................... 64 4.1 Sprachdomänen der deutschen Varietäten ....................................................................... 64 4.2 Sprachwahl und Code-Switching ....................................................................................... 66 4.3 Sprachgebrauch und Kompetenz....................................................................................... 67 5 Literatur ...................................................................................................................................... 69 1 Die Situation der deutschen Minderheit in Sibirien Die in den Kapiteln 5 und 6 beschriebenen Verhältnisse und sprachlichen Charakteristika treffen im Großen und Ganzen auch auf die deutsche Sprachminderheit in Sibirien zu. Diese deutschsprachige Minderheit war jedoch durch ihre spezifische Geschichte, ihre zahlenmäßige Größe sowie ihre isolierte Lage östlich des Urals, die große Distanz zum deutschen Sprachraum, Einflüssen und Bedingungen ausgesetzt, die sie von den Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit im Westen Russlands unterscheidet, weshalb sich auch in sprachlicher Hinsicht einige Besonderheiten entwickelt haben. Bereits ab Ende des 19. Jahrhunderts gründeten Deutsche aus den alten westlichen Siedlungsgebieten vor allem im Westen und Südwesten Sibiriens sog. Tochterkolonien, die auch während der Jahre der Repression relativ intakt blieben. Nach der Vertreibung und Umsiedlung 1941 lebte die Mehrzahl der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ in Sibirien, die arbeitsfähigen Mitglieder der Minderheit wurden zur Arbeitsarmee mobilisiert und verbrachten viele Jahre in Arbeitslagern. Alte Leute, Kinder und Frauen mit Kleinkindern wurden nicht zur Zwangsarbeit in Lagern herangezogen, sie verblieben in den sibirischen Dörfern, in die die Entlassenen nach der Auflösung der Arbeitsarmee und der Sondersiedlungen 1955/ 56 zurückkehrten. Viele der Deportierten, denen allesamt eine Rückkehr in ihre alten Siedlungsgebiete untersagt war, ließen sich ebenfalls in diesen Dörfern nieder, so dass neue Zentren russlanddeutscher Ansiedlung entstanden. Ein anderer Teil siedelte in die mittelasiatischen Republiken über, wo sich ebenfalls deutsche Siedlungsschwerpunkte bildeten. In Kasachstan war die deutsche Minderheit die drittstärkste Bevölkerungsgruppe nach Kasachen und Russen. In einigen Gebieten Westsibiriens war die absolute Zahl zwar geringer, doch bildeten die Deutschen die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe und damit die größte Sprachminderheit. 1979 gaben noch knapp 2 Millionen Sowjetbürger Deutsch als Nationalität an, davon nannten rund 57 Prozent Deutsch als ihre Mut- Renate Blankenhorn 60 tersprache, 1989 waren es bei absolut gestiegener Zahl bereits nur noch 48 Prozent. 1 Die offizielle und vollständige Rehabilitation der deportierten Völker erfolgte im November 1989. In den neunziger Jahren wurde durch Abstimmung in Gebieten, in denen die Deutschen die größte Minderheit stellen, die Errichtung deutscher nationaler Rajons mit Verwaltungsautonomie beschlossen, zum Beispiel im Altaj-Gebiet (der Rajon Halbstadt nördlich von Slavgorod, bereits in den zwanziger Jahren ein autonomer Landkreis) und im Gebiet Asovo bei Omsk. 2 In beiden Rajons war die Bevölkerung ethnisch und sprachlich gemischt, aber es gab auch Dörfer mit mehrheitlich russlanddeutschen Einwohnern. Seit Beginn der sowjetischen Reformpolitik Mitte der 80er Jahre sind die westsibirischen Siedlungsgebiete von großer Fluktuation innerhalb der deutschen Minderheit betroffen, zum einen durch die anhaltende Abwanderung nach Deutschland, zum anderen durch Zuzug von Russlanddeutschen aus den mittelasiatischen Republiken. Diese Entwicklung hat die deutsche Sprachgemeinschaft nachhaltig destabilisiert und es sieht so aus, als könnten weder die Autonomie noch die wirtschaftlichen und kulturellen Förderungsmaßnahmen aus Deutschland die Abwanderung bzw. sprachliche Assimilation aufhalten. 2 Kontaktsprachen Wie bei den anderen deutschsprachigen Gruppen in Russland war auch in Sibirien und in den mittelasiatischen Republiken das Russische das Kommunikationsmedium im öffentlichen Bereich, d.h. die relevante Kontaktsprache. Der Einfluss anderer Kontaktsprachen wie des Kazachischen, Uzbekischen oder Tadschikischen war eher unbedeutend, da diese Sprachen von den Deutschen, wenn überhaupt, nur als Drittsprache erlernt wurden. Die Kommunikation mit anderen Völker- 1 Vgl. Born/ Dickgießer 1989: 186ff. 2 Aus diesen beiden Gebieten sowie aus den Städten Barnaul, Slavgorod und Omsk stammen auch die Sprachdaten, die hier als Beispiele angeführt werden. Zu den Informanten, der Erhebung und Auswertung der Sprachdaten s. Blankenhorn 2003, Kapitel 3. gruppen in diesen Regionen erfolgte auf Russisch, da diese, ebenso wie die Deutschen, in der Regel ebenfalls zweisprachig waren und sind (L1 plus Russisch). Theoretisch sind andere Sprachen dem Russischen gegenüber gleichberechtigt, d.h. Russisch ist nicht Staatssprache, sondern eine Nationalsprache unter vielen, allerdings ist es in der internationalen und interregionalen Kommunikation verbindlich und in den Medien vorherrschend. Auch verfügt das Russische als Standardvarietät und Schriftsprache über einen ungleich höheren Status und Funktionsradius als die auf mündliche Kommunikation beschränkten dialektalen Varietäten der Russlanddeutschen. 3 Sprachformen des Deutschen 3.1 Standard Standarddeutsch spielte in der Kommunikation der sibirischen Russlanddeutschen von jeher keine große Rolle. Neben professionellen und der Sprach- und Kulturpflege verpflichteten Sprechern beherrschen nur Angehörige der ältesten Generation (vor allem die aus Wolhynien stammenden Sprecher) Standarddeutsch bzw. eine standardnahe Varietät. Über standarddeutsche Lese- und Schreibkompetenz verfügen ebenfalls die Älteren, die noch vor der Schließung der deutschen Schulen und der Deportation zumindest einige Jahre lang Deutschunterricht erhalten haben: (1) Daham hen mir gschwätzt, ja, un in dr Schul musste mir spreche ja? Vot, tam in dr Schul habe mir gelernt nu literaturnyj jazyk, die Literatursprache. (B13, 315) Auch in der schriftlichen Kommunikation verliert Deutsch heute immer mehr an Bedeutung. Als Schriftsprache ist es in fast allen Bereichen durch das Russische ersetzt worden, selbst in den zweisprachigen russlanddeutschen Printmedien wird es zunehmend auf Kultur- oder Kinderseiten abgedrängt. Zwar wird Deutsch in Schulen wieder im erweiterten Deutschunterricht vermittelt und auch an Hochschulen gelehrt, selbst von den deutschstämmigen Schülern jedoch in der Regel wie eine Fremdsprache erlernt. Als Stan- 2. Russland, Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien 61 dardvarietät ist Deutsch auf wenige Funktionen beschränkt, z.B. auf den kulturellen und religiösen Bereich (Lieder, Gedichte, Lehr- und Kinderbücher, Bibel und Gottesdienst), den schulischen und universitären Deutschunterricht und den privaten Briefwechsel der älteren Generation. 3.2 Dialekt Die dialektalen Varietäten, die von Russlanddeutschen in Sibirien gesprochen werden, haben sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher deutscher Dialekte weiterentwickelt: 3 Die Ausgleichsprozesse hatten bereits in den alten westlichen Siedlungsgebieten eingesetzt; eine weitere Angleichung der Dialekte aneinander, durch die manche Merkmale verloren gingen, wurde begünstigt durch die Auflösung der sprachlich homogeneren Siedlungen 1938/ 41 und die darauf folgenden Jahrzehnte der Zersplitterung, das alltägliche Zusammenleben mit Sprechern anderer Sprachen und Dialekte - in den Lagern der Arbeitsarmee, bei der anschließenden Neuansiedlung und ab den 60er Jahren durch die Zusammenlegung kleinerer Dörfer in größere Zentralsiedlungen. Andererseits bestehen wenige Kontakte und Verbindungen zwischen den einzelnen Gebieten (wie den deutschen Rajons im Altaj- und im Omsker Gebiet), teils auch zwischen den einzelnen Dörfern, so dass sich mancherorts noch „Dialektinseln“ erhalten haben, vor allem in Dörfern, die mehrheitlich durch bestimmte konfessionelle Gruppen (Mennoniten, Katholiken und Lutherische) oder Herkunftsgebiete (Ukraine, Wolga, Wolhynien) geprägt sind. Auch haben sich wegen der großen Entfernung und Isolation und der geringen (standard)sprachlichen Normorientierung sprachliche Phänomene und Verhaltensweisen erhalten bzw. entwickeln können, die im deutschen Sprachraum nicht (mehr) anzutreffen sind. Die sprachlichen Eigenheiten sind einerseits auf innersprachliche, dialektale Ausgleichpro- 3 Zu den einzelnen Dialekten und den ihren Merkmalen vgl. Berend/ Jedig 1991, Berend 1998: 10ff., sowie Kap. 5.2.3., speziell zu den niederdeutschen Dialekten der Mennoniten s. Nieuweboer 1999. zesse (intralinguale Konvergenz), wie sie in den Kapiteln 5.2.3 und 5.2.4 beschrieben werden, und andererseits auf den Einfluss des Russischen (interlinguale Konvergenz) zurückzuführen. Das Sprachverhalten der Russlanddeutschen in Sibirien zeichnet sich insgesamt durch Heterogenität und Variabilität sowie durch eine fortschreitende Assimilation an das Russische aus. Einige typische dialektale Erscheinungen im phonetisch-phonologischen Bereich sind: entrundetes i statt ü (Zichel - ‘Zügel’, Kirbs - ‘Kürbis’, Riib - ‘Rübe’, Gebidge - ‘Büdchen’ ‘kleines Häuschen’), ai statt oi (Daitsch - ‘Deutsch’), die Monophtonge i statt ei (Hizwerk - ‘Heizwerk’) und langes u statt au (luure - ‘lauern’, ‘warten’), im Inlaut Spiranten statt Plosive, w statt b (Iwermaul - ‘Oberlippe’), ch statt g (Ziehorchel - ‘Ziehorgel, Ziehharmonika’), im Auslaut t- und n-Apokope, -sch (hasch, woisch - ‘hast’, ‘weißt’), -a für -en (sitza, hocka - ‘sitzen’, ‘hocken’). Im morphologischen Bereich ist ein Abbau der Kasusmorphologie zu beobachten, v.a. ein Zusammenfall von Dativ und Akkusativ besonders bei Präpositionalphrasen (bin ich bei die Russe komme) sowie der Schwund des Genitivs zugunsten anderer Possessivkonstruktionen (de halbschwester ihre dochter). Das geläufige Vergangenheitstempus der mittel- und oberdeutsch geprägten russlanddeutschen Varietäten (anders die niederdeutschen der Mennoniten) ist das Perfekt, typisch sind Formen wie hen oder hun für ‘haben’; häufig sind auch hier variierende Bildungen beim Partizip, z.B. mit Vokalwechsel (hen gsotza - ‘haben gesessen’, hen gschonga - ‘haben geschenkt’, hat bemorga - ‘hat bemerkt’); Formen des Präteritums sind eher selten (gung - ‘ging’). Verbreitet ist auch die mehrfache Verneinung (uns hat keiner keine Antwort nicht gegeben), die - in deutschen Dialekten ebenfalls nicht unüblich - hier möglicherweise durch russische Negationsmuster gestützt wurde. Zum russlanddeutschen Lexikon gehören eine Vielzahl dialektaler Varianten (und Russizismen), die innerhalb einer Familie oder einer Sprechergruppe und selbst idiolektal parallel verwendet werden (darunter auch solche, die im deutschsprachigen Raum kaum mehr Renate Blankenhorn 62 gebräuchlich sind oder eine andere Bedeutung haben), wie die folgenden Beispiele zeigen: Giggel, Giggler, Hinkel, Broilery - ‘Hühner’; Geziffer, Federgeziffer, Federvieh - ‘Nutztiere, Geflügel’; Arzenei, Lekarstvo - ‘Medikamente’; Luftschiff, Samolët - ‘Flugzeug’; Klosett, Tualet - ‘Toilette’; Tretwage - ‘Fahrrad’; spille, zu Gast gehe - ‘besuchen’; luaga, gugga - ‘schauen’; schwätze, verzehle, plaudere - ‘sprechen’; sitza, hogga - ‘sitzen’; luura, banga - ‘warten’; sich banga, bang sein - ‘sich sehnen’; greina, heila - ‘weinen’; (a)rabble, (an)klingle - ‘anrufen, telefonieren’; jdm. die Zeit bieten - ‘jdn. grüßen’; sich schreiben - ‘mit Nachnamen heißen’; die/ der nämliche - ‘die/ der gleiche’; a wing, bissche, schwach - ‘wenig’; grell, hurtig, scharf - ‘schnell’; sachtig, mit die Läng - ‘langsam, allmählich’; (alidder) allo: nich - ‘(völlig) alleine’; strack - ‘direkt, geradeaus’; selt - ‘dort’; sell - ‘das’; sellmal - ‘damals’; nortig - ‘dann’; algebot/ albot - ‘manchmal’; meener/ meender - ‘mehr’; abartig - ‘separat, getrennt’; blöd - ‘schüchtern’; ungerasselt - ‘ungezogen’. Personenbezeichnungen: Tade, Babbe, Baabe, Vadder - ‘Vater’, Modder, Muoder, Mader, Mame - ‘Mutter’, Freind, Freund - ‘Verwandte und Freunde’, Wes, Weis, Tante + Vorname - ‘Anrede für ältere Bekannte oder Verwandte’, Vetter +Vorname - ‘Anrede für älteren Bekannten oder Verwandten’, Halbschwester, Halbbruder - ‘Cousine, Cousin’, Mannsleit, Weibsleit - ‘Männer, Frauen’, Russeweiber, Kasacheweiber - ‘Russinnen, Kasachinnen’. In der höflichen Anrede herrscht die Form der 2. Person Plural (‘Ihrzen’) vor (bsinnt Ihr Eich? - ‘erinnern Sie sich? ’, wo wart Ihr? - ‘wo waren Sie? ’), die Verwendung der 3. Person Plural (‘Siezen’) ist selten. Diese im Deutschen veraltete Anredeform findet ihre Entsprechung im Russischen, dem hier ebenso wie bei der doppelten Verneinung eine stützende und erhaltende Funktion zukommen dürfte. 3.3 „Russlanddeutsch“ als Kontaktvarietät (Sprachkontaktphänomene) Neben den geschilderten dialektalen Merkmalen prägen vor allem russische Einflüsse die russlanddeutschen Varietäten. Die über 200 Jahre währende Nachbarschaft mit der russischsprachigen Bevölkerung, insbesondere das enge Zusammenleben mit dieser seit der Auflösung der alten Siedlungsgebiete hat sich auf alle sprachlichen Bereiche ausgewirkt. Auf der lexikalischen Ebene ist der russische Einfluss am deutlichsten sichtbar: Russische Lexeme werden in fast allen Kontexten verwendet und zwar sowohl in phonetisch und grammatisch integrierter als auch in autochthoner Form. Die Gebrauchsfrequenz von Russizismen kann insofern themenabhängig sein, als es Bereiche wie z.B. Technik, Arbeit und Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Schule gibt, für die den Russlanddeutschen vor allem russische, kaum jedoch deutsche Lexeme bekannt und verfügbar sind. Für ihre habituelle und unmarkierte Verwendungsweise spricht neben der Häufigkeit und allgemeinen Verbreitung auch, dass russischdeutsch gemischte Komposita gebildet werden bzw. russische und deutsche Elemente (Lexeme, Wortbildungselemente und grammatischer Morpheme) kombiniert werden können, z.B. Daitschurok - ‘Deutschstunde’ (russ. urok - ‘Unterrichtsstunde’), Stoperzieher - ‘Korkenzieher’ (russ. štopor - ‘Korken’), Pomidorche - ‘Tomätchen’ (russ. pomidor - ‘Tomate’), sutkeweis - ‘tageweise, tagelang’ (russ. sutki - ‘24 Stunden’), die hat gzvonit - ‘sie hat angerufen’ (russ. zvonit´ - ‘klingeln’); hen´s fortgeotpravlait - ‘haben sie fortgebracht’ (russ. otpravljat´ - ‘verschicken, abkommandieren’). Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass ein und dieselbe Person russische und deutsche Äquivalente abwechselnd oder parallel gebraucht, wie z.B. wir sin in Norden, na sever (russ. sever - ‘Norden’); der hat als kak Mechanik gschafft (russ. kak - ‘wie, als’). Das heißt, die Sprecher kennen vielfach beide Lexeme und können sie variieren oder auf Nachfrage das jeweils andere Äquivalent nennen. Dass die Entlehnung aus der Kontaktsprache und die Annäherung an sie keine abrupten, sondern allmählich fortschreitende Prozesse mit individuell variierenden Übergangs- und Zwischenstufen sind, zeigt sich auch in generationsspezifischen Varianten innerhalb einer Sprechergruppe, vgl. die folgende Aussage russ- 2. Russland, Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien 63 landdeutscher Studentinnen aus Asovo zur Verwendung des Verbs helfen (dial. helfde, russ. pomogat´): 4 (2) V: alte Leute zum Beispiel, die sage helfde, aber wir gebrauchen meist pamagajen. O: manchmal au helfen un auch manchmal pamagaje. (B29B, 16) Viele der bereits in Kapitel 5.2.4 ausführlich geschilderten Kontaktphänomene bzw. Konvergenzerscheinungen sind auch für die sibirischen Russlanddeutschen charakteristisch, z.B. die Nachahmung russischer Intonations-, und Artikulationsmuster, vor allem die Aussprache „a“ bei „o“ in unbetonter Stellung (Akanje), z.B. telefaniere; Konvergenz im Bereich der Substantivdetermination, die sich in einem reduzierten Gebrauch von Artikeln bzw. Unsicherheit im Gebrauch derselben äußert sowie Auflösung der deutschen Rahmenkonstruktion zugunsten der für das Russische charakteristischen Wortstellung (informationsstrukturelle Gliederung Thema/ Hintergrund - Rhema/ Fokus) 5 ; die Postposition von Pronomen (die Nachbarin meine) und Gradpartikeln (es ist sauber sehr). Bei den Verben erfolgt die Passivbildung zunehmend nach russischem Muster, also 3. Person Plural statt werden + Partizip Perfekt, z.B. habn se mich ins laboratorium genumme - ‘ich wurde ins Labor aufgenommen’; im Bereich der Reflexivität gibt es Analogien zum Russischen, z.B. wir haben sich/ uns müsse unterschreiba - ‘unterschreiben’, vgl. russ. podpisat´sja (refl.), muss mr überall gewöhna - ‘sich (ein)gewöhnen’, vgl. russ. privykat´ (nicht refl.); Infinitive werden häufig ohne zu gebraucht, z.B. sie schämen sich mit Deutschen sprechen; sehr häufig ist die Kalkierung (Lehnübersetzung) von Wortverbindungen, Kollokationen bei präfigierten Verben (sind wir überzoge ‘umgezogen’, russ. pereechat´) und in präpositionalen Konstruktionen (hinter den Tisch - ‘an’, russ. za stol); kalkiert werden auch die russischen Konstruktionsmuster zum Ausdruck der Existenz (sin noch viel Lieder - ‘es gibt’, sowas ist gar nicht - 4 Zur Heterogenität und Variabilität russlanddeutschen Sprachverhaltens vgl. Blankenhorn 2002. 5 Vgl. Bayer/ Blankenhorn 2003, Kap. 4. ‘gibt es nicht’) und russische idiomatische Wendungen bzw. Redensarten: die sin gsterzt grad wie die Mugga - ‘gestorben wie die Fliegen’ (russ. padali kak muchi), hinter dem Dritta beiß ich nicht zu - ‘nach dem dritten Glas (Wodka) esse ich nichts mehr dazu’ (russ. posle tretego ja ne zakusyvaju). Über die genannten Konvergenzerscheinungen hinaus sind bei den sibirischen Russlanddeutschen außerdem folgende Annäherungen ans Russische zu beobachten: 6 Trennbare Verben werden häufig nicht getrennt z.B. 1933 überfuhr ich nach Saratov - ‘zog ich (…) um’ (russ. pereechal); wie im Russischen werden Possessiv- und Reflexivpronomen ohne Genus- und Numerusdifferenzierung gebraucht: wie die Daitsche seine Häuser beschaffe - ‘ihre Häuser’ (russ. svoi doma), wie stellst du sich das vor? - ‘du dir’ (russ. predstaviš´ sebe); bei generalisierenden Aussagen werden reflexive Verben statt man-Konstruktionen gebraucht, z.B. des vergesst sich - ‘man vergisst das’ (russ. zabyvaetsja); unpersönliche Konstruktionen werden wie im Russischen mit Subjekt im Dativ gebildet: wem waren wir nötig? - ‘wer brauchte uns? ’ (russ. komu (Dat.)), mir war der Krieg nicht interessant - ‘für mich’ (russ. mne (Dat.)). Bei Jahreszahlen werden in der Regel die Tausender und Hunderter wie im Russischen linear gebildet, also tausendneunhundertfünfundfünfzig - 1955; auch auf ein bestimmtes Jahr bezogene Zeitangaben entsprechen dem russischen Muster (Präposition und Ordnungszahl): im fünfundsechzigsten (Jahr) - 1965; auch bei monatsbezogenen Zeitangaben kommen Kalkierungen vor: im März-Monat. In der Genuszuordnung gibt es Verschiebungen, die sich auf russischen Einfluss zurückführen lassen, z.B. bei der Archiv (russ. archiv (mask.)), der Haus (russ. dom (mask.)), der Flugzeug (russ. samolet (mask.)), die Buchstabe (russ. bukva (fem.)), eine Programm (russ. programa (fem.)). Die in Kapitel 5.2.4 erwähnten russischen Gesprächspartikeln sind in den Gesprächen der sibirischen Russlanddeutschen ebenfalls 6 Näheres zur Sprachmischung und weitere Beispiele in Blankenhorn 2000. Renate Blankenhorn 64 . auffallend häufig; auch Konnektoren, Interjektionen, Gradpartikel und Modalwörter und deren Gebrauchsmuster werden aus dem Russischen entlehnt. Da Diskursmarker wie Eröffnungs-, Beendigungs- und Hörersignale sowie Häsitationsmarker auch die Sprecherwechsel regulieren, sind sie in informellen Dialogen und Gruppengesprächen besonders häufig, vgl. den folgenden Ausschnitt aus einer Erörterung verwandtschaftlicher Beziehungen: (3) D: no die is aber mit'n Große Freund, gell? A: a grad die ihr rodnaja Schwester. D: da da, dem da. V: ja, po-moemu [meines Erachtens] dem. A: ja! da da. D: nu ich kenn die net, ich weiß, dass die - die wollt immer net. (B25, 794) Primär der Äußerungsstrukturierung dienende Gliederungspartikel und Konnektoren sowie Gradpartikel und Modalwörter, mittels derer persönliche Einstellungen, Erwartungen und Bewertungen zum Ausdruck gebracht werden, kommen in allen Gesprächen auch äußerungsintern, in monologischen Sequenzen vor: (4) bei uns verstehn se, a schwätze kann ka: ns net, daže [schon] mir sin alt, i to schwätz mr schwach (B27, 660) (5) vot a wenn se schon aus/ na vot [also] verkaufen se, privatizirujut [privatisieren], togda [dann] is schon, des is uže [schon] li noe [privat], togda [dann] uže [schon] is aach togda [dann] die Disziplina anderscht, vot [also] so steht’s jetzt allweil. Nu zna it [also] bei uns kommt’s aach so Zeit, dass kaans nix mehr hat. Vot [also] uf de Datsche bei uns vot [also], alles ziehn se (B27B, 261) Russische Diskursmarker und Modifikatoren werden von allen, auch den puristisch orientierten Sprechern verwendet, z.T. auch parallel oder abwechselnd mit deutschen Funktionswörtern (in Beleg (3) no/ aber und da/ ja) was wiederum belegt, dass die Entlehnung dieses pragmatischen Subsystems noch nicht abgeschlossen ist. Die Entlehnung äußerungsstrukturierender und modifizierender Funktionswörter aus der Kontaktsprache ist charakteristisch für bilinguale Minderheiten, die in intensivem Sprachkontakt mit einer dominierenden Mehrheitssprache leben. Sie hat ihre Ursachen in den strukturellen Eigenschaften dieser Elemente, ihrer hohen Gebrauchsfrequenz, in kognitiven Gegebenheiten bei der Sprachproduktion und den sozialen (Kontakt-)Bedingungen. 7 4 Sprachgebrauch zwischen Sprachbewahrung und Assimilation 4.1 Sprachdomänen der deutschen Varietäten Das Deutsche wurde ab 1938 zunehmend aus der öffentlichen Sphäre verbannt und in den privaten, familiären Bereich abgedrängt: Deutsche Schulen und andere Institutionen wurden geschlossen, kulturelle und politische Tätigkeit bestraft, ab 1941 herrschte ein Publikationsverbot für deutschsprachige Literatur. Erst ab 1956 gab es wieder eine überregionale deutsche Zeitung („Neues Leben“) sowie regionale Zeitungen, die z.T. zweisprachig erschienen („Freundschaft“, „Rote Fahne“). 8 Auch gab es deutschsprachige Sendungen im Radio, z.B. in Barnaul und Omsk, allerdings nur stundenweise Aufgrund der erfahrenen Repression und Stigmatisierung waren viele Russlanddeutsche aber auch dann noch sehr zurückhaltend mit Äußerungen in der Öffentlichkeit und Aktivitäten in Kulturklubs oder im kirchlichen Bereich, als diese bereits wieder möglich waren. Auch hatte der Assimilationszwang unterdessen Wirkung gezeigt, wie auch Einschätzun- 7 In Blankenhorn 2003, Kapitel 4 wird die Entlehnung russischer Funktionswörter und deren Ursachen anhand weiterer Einzelbeispiele ausführlich diskutiert. 8 In den 1970er Jahren gab Eisfeld (1988: 121) zufolge knapp die Hälfte der Deutschen an, eine deutschsprachige Zeitung zu lesen. 2. Russland, Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien 65 gen von Informanten zu Veränderungen seit der Liberalisierung bestätigen, vgl.: (6) R: Feiertage können gefeiert werden, Weihnachten, Ostern im Klubhaus, aber das wagt sich niemand. A: Jetzt han d’Leut schon nimme Angst. R: Aber die Kinder sind daran abgewöhnt, ihre Eltern singen nicht mehr deutsch, singen russisch. (B2, 101) Zum individuellen Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit, dem Sprechen von Deutsch auf der Straße, v.a. in einer Stadt, gibt es unterschiedliche Einschätzungen und Erfahrungen. Eine jüngere Frau berichtete, sie habe immer öffentlich Deutsch gesprochen und nie negative Reaktionen erlebt, während ältere Informanten berichten, sie hätten sich aus Furcht nur leise und vorsichtig auf Deutsch unterhalten. Die Domäne des Deutschen ist in der Regel die private Sphäre, die Kommunikation in der Familie, mit Verwandten, Freunden und Nachbarn. Allerdings haben viele Familien aus den unterschiedlichsten Gründen schrittweise zum Russischen gewechselt, vor allem, wenn sie in einem überwiegend russischsprachigen Umfeld leben, vgl.: (7) O: Ja no i weil mir alles Daitsch, mir hen zuhaus alles Daitsch gsproche. T: Nuu, bei uns, mir sin im Sovchoz ware mir un hen alles russsich. (R8, 146) In den Siedlungen mit einem hohen deutschsprachigen Bevölkerungsanteil war Deutsch außerhalb der Familie noch länger präsent. Die Bewohner kamen im Alltag mit beiden Sprachen in Berührung, in verschiedenen Bereichen, oft aber auch in ein und derselben Domäne, wie z.B. am Arbeitsplatz durch ein sprachlich gemischtes Kollegium, in der Schule durch russisch- und deutschsprachige Mitschüler und Lehrer sowie durch den Sprachunterricht, vgl.: (8) Nu, erscht war es leichter in der Schule, in der Pause war alles deutsch, alles deutsch in der Paus, im Laden, im Kantor, in Rathaus, im Krankenhaus, in/ überall war es deutsch, und jetzt sind mehr als die Hälfte sind schon weggezogen. (B29, 364) Die Aussiedlung deutschsprachiger Familien, deren Platz meist von russischsprachigen eingenommen wird, führt inzwischen zu einer allmählichen Erosion der angestammten Sprachgemeinschaften. Dies bringt mit sich, dass es heutzutage selbst für die Sprecher der älteren Generation immer weniger Anlässe gibt, um auf Deutsch zu kommunizieren. Viele Informanten führen denn auch mangelnde Sprachpraxis und fehlende Gesprächspartner als Grund für die abnehmende Deutschkompetenz und den Sprachenwechsel zum Russischen an. Eine sprachlich heterogene Familienzusammensetzung hat auch in der innerfamiliären Kommunikation in der Regel einen Übergang zum Russischen zur Folge, da die Motivation der russischsprachigen Ehepartner, Deutsch bzw. einen deutschen Dialekt zu lernen, meist gering ist und durch die Zweisprachigkeit der anderen Familienmitglieder keine Notwendigkeit besteht. Auch einige russlanddeutsche Ehepaare gaben an, auf Russisch zu kommunizieren, weil sie aus verschiedenen Siedlungsgebieten stammen und unterschiedliche Dialekte sprechen. Das heißt, auch dialektale Heterogenität befördert den Wechsel zum Russischen; neben den Verständnisschwierigkeiten gibt es Motive, die mit dem unterschiedlichen Prestige der einzelnen Dialekte und dem insgesamt niedrigen Prestige der Dialekte zusammenhängen, vgl.: (9) Zum Beispiel, ich habe eine Freundin aus Blumenfeld, wir sprechen/ mit ihr spreche ich Russisch und sie mit mir auch, ich versteh sie deutsch, aber das lächert mich. (B29, 38) In den Familien, die auch zuhause Russisch oder abwechselnd Russisch und Deutsch sprechen, sind es oft nur noch die Ältesten, die sich um die Bewahrung sprachlicher und kultureller Traditionen bemühen. Dass ihre Bemühungen unter den gegebenen Umständen nicht sehr erfolgreich sein können, wird durch die Anekdote deutlich, die eine Frau (L) und ihre Mutter (M) über deren Versuch, Renate Blankenhorn 66 ihre Enkel zum Deutschsprechen zu motivieren, erzählten: (10) L: Unsre zwei Kerlchen hen verzehlt Rusch, un na hat die Mader gsagt, sie selle Daitsch verzehle. Un na saade se - a mir verzehlet, dass ihr des net versteht. M: Ich versteh, aber die sellen Daitsch, dass se Daitsch lerne, Daitsch! Ich versteh doch net Russisch! Un na sagt der - a my že s vami ne razgovarivaem due meždu soboj [wir sprechen ja gar nicht mit Ihnen, sondern unter uns]. L: Dass die andere des net verstehe solle. (B21B, 46) Die Schutzbehauptung der Großmutter, selbst kein Russisch zu verstehen, bleibt wirkungslos angesichts der situativen Funktion des Russischen als Geheimbzw. Privatsprache der Enkel. 4.2 Sprachwahl und Code- Switching Russlanddeutsche in Sibirien sind entweder russisch- und deutschsprachig oder nur russischsprachig. Mit monolingual Deutschsprachigen kommen sie nicht oder sehr selten in Kontakt. Ihre Gesprächspartner sind folglich entweder russischsprachige Monolinguale oder zweisprachige Russlanddeutsche oder ebenfalls zweisprachige Angehörige anderer Minderheiten. Das bedeutet, dass im Zweifelsfall, z.B. Fremden gegenüber, Russisch die sichere Sprachwahl ist. Ein strikt monolingualer Sprechmodus ist nur im Gespräch mit monolingualen Russischsprachigen erforderlich, in gruppeninternen Gesprächen unter Russlanddeutschen ist dagegen ein zweisprachiger Sprechmodus möglich, da meist zumindest rezeptive Kenntnisse beider Sprachen bei den Beteiligten vorausgesetzt werden können. Im kleinräumig bilingualen Umfeld der Familie und Nachbarschaft ist dieser bilinguale Sprechmodus, ein variables Wechseln zwischen russischen und deutschen Elementen und Äußerungen, üblich und normal. Welche Variante von den Sprechern im Einzelfall gewählt wird, hängt zunächst von den jeweiligen Gesprächspartnern und deren sprachlichen Kompetenzen und Präferenzen ab. So ist es nicht ungewöhnlich, dass z.B. Großeltern Deutsch sprechen, die Enkel aber Russisch antworten, so dass Code-Switching wie im folgenden Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Großmutter und Enkelin jeweils mit dem Sprecherwechsel zusammenfällt: (11) D: Der hat doch jetzt gelernt, dass er mehr bezahlt kriegt, zao no [im Fernstudium]. A: On že eš ë u it’sja! [er studiert doch immer noch]. D: Eš ë u it’sja? Is er immer noch net fertig? A: Net [nein]. D: No der hat wohl net gsagt, er hat kzamen abgebe den herbst da, den winter. A: Da! vidimo kzamen abgebe ne pomožet, nado pjat’ let u it’sja [mit dem Examen ist es nicht getan, man muss fünf Jahre studieren]. D: Ach da muss mr fünf jahr lerne? A: On že budet v institute u it’sja [er wird doch im Institut studieren]. (B25, 736) Das Alternieren zwischen Russisch und Deutsch kann darüber hinaus durch die unterschiedlichsten Faktoren motiviert sein. Wie in Kapitel 5.3 bereits dargelegt wird, ist die Sprachwahl auch themenbedingt: Über Angelegenheiten, die die russisch geprägten Domänen betreffen (Schule, Ausbildung, Medien, Arbeit, Verwaltung, etc.) kann häufig nur Russisch gesprochen werden, weil in den Dialekten das entsprechende Lexikon nicht vorhanden ist. Eine Alternation kann außerdem von einem bestimmten Lexem der jeweils anderen Sprache ausgelöst werden. Code-Switching hat aber auch andere, diskursive Funktionen: So dient es beispielsweise dazu, metasprachliche Äußerungen, Parenthesen (inhaltliche, emotionale Ergänzungen), Zitierungen anderer Sprecher (fremder Rede), Resümees und subjektive Bewertungen, introspektive Äußerungen und Reflexionen, inhaltliche Gegensätze oder verschiedene Sprechhandlungen von der übrigen Äußerung abzusetzen. Das heißt, die Funktion von Code- Switching besteht in der Hervorhebung bestimmter Redeteile, nach dem Prinzip, inhaltlich „Anderes“ auch sprachlich zu markieren. 2. Russland, Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien 67 Diese Funktion ist unabhängig davon, welcher Code gerade Basissprache ist, das heißt, in russischen Äußerungen werden hervorzuhebende Redeteile deutsch realisiert, in deutschen Äußerungen dagegen russisch. 9 4.3 Sprachgebrauch und Kompetenz Meine Beobachtungen in den westsibirischen Städten und Rajons und die Aussagen meiner Informanten bestätigen im Wesentlichen frühere Untersuchungsergebnisse 10 zum Sprachgebrauch in den russlanddeutschen Sprachgemeinschaften und die in Kapitel 6 geschilderten Verhältnisse. Offensichtlich ist der Faktor „Generationszugehörigkeit“ im Hinblick auf Sprachgebrauch und Kompetenz maßgebend, da die Unterschiede zwischen denjenigen Jahrgängen, die noch vor der Deportation 1941 Deutsch- und ggf. auch Russischunterricht in einer deutschsprachigen Schule hatten, und den nachfolgenden Jahrgängen, die keinerlei Sprachunterricht erhielten, besonders groß sind. Erstere verfügen meist auch über eine standardsprachliche Kompetenz, können Deutsch schreiben und lesen (z.B. Zeitungen, die Bibel). Diejenigen Russlanddeutschen, die während der Kriegsjahre und kurz danach im Schulalter waren, erhielten, wenn überhaupt, nur eine ganz rudimentäre Schulbildung ohne Deutschunterricht, weshalb viele von ihnen keine standardsprachliche Kompetenz erwarben und weder Deutsch schreiben noch lesen können. In beiden Altersgruppen sind dialektale Kompetenzen vorhanden, die zumindest Gespräche über Alltagsthemen auf (Russland-)Deutsch ermöglichen. Die nachfolgenden Generationen besuchten russische Schulen, wo sie Schreib- und Lesekompetenz vor allem im Russischen erwarben. In diesen Altersgruppen ist meist auch die dialektale Kompetenz eingeschränkt, manchmal nur noch rezeptiv vorhanden. 9 In Blankenhorn 2003, Kapitel 5 wird das Phänomen Code-Switching bei Russlanddeutschen mit zahlreichen Redebeispielen detailliert dargestellt und analysiert. 10 Vgl. z.B. Berend 1998, Rosenberg 1994. In der Regel kann eine höhere Schulbildung und ein Studium nur in den Städten absolviert werden, d.h. höhere Bildung und sozialer Aufstieg sind an räumliche Mobilität gebunden und nur auf dem Wege sprachlicher Assimilation zu erreichen. 11 Ausgenommen davon sind professionelle Deutschsprecher wie Deutschlehrer, Dolmetscher, Redakteure und Sprachwissenschaftler, bei denen sich ein gehobener Bildungsstand mit sprachpflegerischen Ansprüchen verbindet. Dass durch die soziale und räumliche Mobilität die Anbindung an die eigene Sprachgruppe und an die dialektalen Grundlagenkenntnisse dennoch verloren gehen kann, kommt in der folgenden Aussage über eine deutsche Lehrerin, die zwar Deutsch unterrichtet, mit anderen Russlanddeutschen privat aber Russisch spricht, zum Ausdruck: (12) N: Die Olga is auch ne Daitsche un tut auch daitsch vortrage, no mit mit dere tun mr immer Russisch verzehle ja, Opa? A: Nu, siehste, ah ihrn Dialekt kann se nicht, kann nur Hochdeutsch. N: Un Hochdaitsch…s o en’ bol’šim russkim akcentom [mit sehr starkem russischen Akzent]. A: Die spricht alles hart. (B17, 393) Die Unterschiede in Kompetenz und Sprachgebrauch zwischen den einzelnen Sprechern bzw. Sprechergruppen sind weiterhin von Faktoren abhängig, die mit den in Kapiteln 6.3.1 und 6.3.2 geschilderten vergleichbar sind: Die Familienzusammensetzung und die sprachlichen Kompetenzen der Familienmitglieder bestimmen wesentlich den Sprachgebrauch in der Familie, was sich wiederum auf die Kompetenzen der Kinder bzw. Enkel auswirkt. In gemischtsprachlichen Ehen ist die Neigung groß, generell ins Russische zu wechseln. Wenn noch deutschsprachige Großeltern in der Familie oder in unmittelbarer Nähe leben, kann dies den Spracherwerb und die Deutschkompetenz der jüngeren Familienmitglieder fördern und stützen, jedenfalls bis zur Einschulung, mit der in der Regel eine 11 Vgl. Kap. 5.2.2 und 6.3. Renate Blankenhorn 68 Phase zunehmenden russischen Einflusses beginnt. Regionale Unterschiede sind durch die ethnisch-sprachliche Zusammensetzung der Gebiete, Wohnorte oder der Ortsgemeinschaften sowie dem Grad ihrer Einwohnerkontinuität bedingt. In größeren Städten wie Omsk und Barnaul und in den ebenfalls russischsprachigen Städten wie Slavgorod ist die sprachliche Assimilation weiter fortgeschritten als auf dem Land, insbesondere in den Dörfern der russlanddeutschen Rajons, die sprachlich konservativer sind und in bestimmten Bereichen eine höhere sprachliche Stabilität aufweisen. So ist es zum Beispiel auf den Dörfern auch eher möglich, in generationenübergreifenden Familienstrukturen zusammenzuleben als in der Stadt. Die Religion spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle, jedoch kann die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, in der das Deutsche eine rituelle und verbindende Funktion hat, stabilisierend auf den Sprachgebrauch wirken. 12 Die Bedeutung der Spracheinstellungen, der affektiven Bewertung der eigenen Varietät für den Sprachgebrauch und Spracherhalt ist angesichts der komplexen Verhältnisse nicht so leicht einzuschätzen. Obwohl die Dialekte als nur mündliche Varietäten dem Russischen und Standarddeutschen gegenüber nur ein geringes Prestige haben, sind sie emotional positiv mit der Familie verbunden, da dies ihr zentraler Verwendungs- und Rückzugsbereich ist. So bezeichnet der Begriff „Muttersprache“ bei Russlanddeutschen häufig nicht die am besten beherrschte oder am meisten verwendete, sondern die mit der eigenen Identität verknüpfte Sprache, eine Art Zugehörigkeitsbekenntnis, vgl. solche Aussagen wie: (13) die Bange [Sehnsucht] ist sehr groß nach der Sprache (R8, 094) So ist es möglich, dass auch Personen Deutsch als ihre Muttersprache bezeichnen, die es kaum mehr verwenden und nur über geringe Kompetenzen verfügen. Dass die Loya- 12 Vgl. Nieuweboer 1999 zu den Mennoniten in Sibirien. lität der eigenen Sprache gegenüber mit anderen Aspekten der russlanddeutschen Identität verbunden wird, zeigen solche Aussagen wie: (14) Ich beherrsche meine deutsche Sprache, das rechen ich is meine Muttersprache un ich beherrsche meine Nationalität, ich bin ein deutscher Mensch, vot un für das steh ich, bis mich der liebe Gott dort anrufe tut. Vot so, habt ihrs verstande? (B6B, 140) Bei den Älteren spielen Selbstbehauptung, die Verbundenheit mit den früheren Siedlungsgebieten (Wolga, Ukraine, Wolhynien) und Erinnerungen an die relative kulturelle und konfessionelle Autonomie vor der Vertreibung, an die infolge der erzwungenen Assimilation fast in Vergessenheit geratenen dörflichen Traditionen und Festtagsbräuche, und nicht zuletzt an Angehörige und Verwandte, die Deportation und Arbeitsarmee nicht überlebten, eine wichtige Rolle; die meisten bedauern die Präferenz der Jungen für das Russische und werfen ihnen nicht selten ihre fehlende Kompetenz und Motivation vor: (15) Die Jungen können wenig und wollen überhaupt nichts, gar nichts! (B14, 208) Die „drohende“ sprachliche und kulturelle Assimilation der Kinder und Enkel wird auch häufig als Auswanderungsgrund genannt. Andererseits ist die Spracheinstellung vor allem bei den Angehörigen der russisch sozialisierten mittleren und jüngeren Generationen von pragmatischen Nützlichkeitserwägungen geprägt. Für die Jungen sind das geringe Prestige der Dialekte (altmodisch, dörflich rückständig) und die fehlenden Anwendungsmöglichkeiten des Deutschen insgesamt beim schulischen Spracherwerb motivationshemmend. Viele Informanten schienen die sprachliche Assimilation als soziale Notwendigkeit zu akzeptieren, z.B. Eltern, die innerhalb der Familie zum Russischen wechselten, um für ihre Kinder bessere Voraussetzungen und Chancen in der Schule und bei der beruflichen Qualifikation zu schaffen. So antworteten eine Frau mittleren Alters und ihr Vater (A) auf meine Frage, ob (und ggf. wodurch) sich die Deutschen von den Russen unterscheiden: 2. Russland, Anhang 1: Die russlanddeutsche Minderheit in Sibirien 69 (16) N: Nenene, ne, mir sin gebore da, un mir mit/ nu sredi russkich, i my vsë porusski uže delaem, absolutno vsë, absolutno. No tol’ko, znaete, to vot … Ostere doch [unter Russen, und wir machen bereits alles vollkommen russisch. Ausgenommen.] A: Na aber die kirchliche Feiertagen, da habe mir immer früher als die Weihnachte… N: Ja, no ich wusst von Weihnachte gar nix, des vot die letzte Jahre, dass der Kreis da is, erscht han mr grad Neijahr i vsë [und alles], weiter wusst mr kein prazdnik [Feiertag]. (B17, 157) 5 Literatur Bayer, Markus/ Blankenhorn, Renate (2003): Kontrastive Betrachtung der Substantivdetermination im slavisch-deutschen Sprachkontakt (am Beispiel des Russlanddeutschen und Sorbischen). In: Blankenhorn, Renate (Hrg.): Beiträge der Europäischen Slavistischen Linguistik (POLYSLAV) 6. München: Sagner (=Die Welt der Slaven: Sammelbände; 20), S. 11-20. Berend, Nina (1998): Sprachliche Anpassung. Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen. Tübingen: Narr (=Studien zur deutschen Sprache; 14). Berend, Nina/ Jedig, Hugo (1991): Deutsche Mundarten in der Sowjetunion. Geschichte der Forschung und Bibliographie. 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Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien Valerij Schirokich Inhalt 1 Die deutschen Sprachinseln in Baschkirien ........................................................................... 71 2 Sprachliche Charakteristika ...................................................................................................... 72 2.1 Lautstand ............................................................................................................................... 72 2.2 Lexikon .................................................................................................................................. 73 3 Soziolinguistische Situation ...................................................................................................... 76 4 Literatur ...................................................................................................................................... 81 1 Die deutschen Sprachinseln in Baschkirien Seit Ende des 19. Jahrhunderts siedelte ein Teil der deutschen Kolonisten aus dem ukrainischen Taurien in den russischen Ural über. In den ca. 70 km westlich von der baschkirischen Hauptstadt Ufa liegenden Gegenden wanderten Gemeinden ein, deren Wegbereiter - nach Aussage meiner Informanten - bereits im Jahre 1899 erstmals hier erschienen waren. Der Hauptteil der Neusiedler gründete hier eine neue Existenz in den Jahren 1902 bis 1905, als aus dem „Landlosenfond“ 12.350 Dessjatinen Land (1 Dessjatine = 1,07 ha) erworben worden waren, worauf elf deutsche Dörfer ins Leben gerufen wurden (vgl. Stumpp 1957: 68ff.). Von diesen elf Dörfern blieben nur vier bis heute bestehen. Durch die Kriegsereignisse kam es zur Vertreibung und Umsiedlung der Deutschstämmigen. Es waren nur Kolonien verschont geblieben, die in der Region Samara, im Ural und östlich davon lagen. Nach Aussagen von Informanten aus Prischib wurde das Deportationsproblem auch für diese Siedlung in Regierungskreisen diskutiert, aber es hieß, dass die Siedlung in Baschkirien ohnehin ganz tief im Hinterland liege und bleiben könne. Trotzdem wurden viele zu Zwangsarbeiten für die Front herangezogen (in der sog. Trudarmee); und nicht nur Deutsche. Im Juni 2002 wurde von mir eine Forschungsreise nach Prischib, das zusammen mit anderen drei Dörfern in der Umgebung immer noch als deutsche Sprachinsel gilt, unternommen, deren soziolinguistische Ergebnisse dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegen (s. dazu auch Širokich 1999). Die demographische Situation ausweislich gemeindeamtlicher Statistiken für Sommer 2002 ist in Tabelle 1 wiedergegeben. In den Statistiken des Gemeindeamtes wird auch das Dorf Moisseevka miterfasst, in dem nur noch eine Deutsche wohnt. Somit beträgt die gesamte Einwohnerzahl in den fünf genannten Dör- Ort Gesamteinwohnerzahl Deutschsprachige Prischib 798 235 (29,45 %) Alekseevka 1 347 114 (32,85 %) Novonikolsk 284 69 (24,29 %) Viktorovka 202 56 (27,72 %) Tabelle 1: Gesamteinwohnerzahl und der Anteil der Deutschsprachigen je nach Dorf Valerij Schirokich 72 fern 1637, Deutsche machen davon 475 Personen aus (= 29,02 %). Baschkirien-Deutsche konnten als ethnische, sprachliche und soziokulturelle Gruppe in dieser relativ kleinen Sprachinsel trotz der staatlichen Sprachpolitik, trotz fortschreitender Interferenz durch das Russische, der russischsprachigen Medien wie Fernsehen und Rundfunk, vor allem aber durch russischsprechende Neuzuwanderer, ihre muttersprachliche Kompetenz bis heute bewahren. Soziale Umstände förderten jedoch schon vor Jahrzehnten eine rasche Anpassung der Deutschsprachigen an die dominante russischsprachige Umgebung. Verstärkt wurde diese Sprachaneignung - im Gegensatz etwa zu vielen als eher konservativ zu bezeichnenden deutschen Kolonien in Lateinamerika - durch eine aufgeschlossene Haltung und Toleranz der einheimischen Deutschstämmigen gegenüber der fremden Kultur. Infolgedessen haben wir es hier mit einer durchweg bilingualen Gemeinschaft zu tun. Meine Beobachtungen vor Ort geben Aufschluss darüber, dass alle, die sich zur deutschen Nationalität zugehörig erklärten, des Russischen zumindest als Zweitsprache mächtig sind. Zugleich gibt es im Dorf ein Dutzend Personen nicht-deutscher Nationalität, die infolge des jahrzehntelangen Sprachkontaktes fließend den lokalen Dialekt sprechen, so dass sie sich nach der Qualität des Sprachgebrauchs kaum von einem deutschen Muttersprachler unterscheiden. Dazu kommen noch viele, die zumindest den Dialekt passiv gut verstehen. Auf der anderen Seite gibt es im Dorf eine geringe Zahl von Familien, in denen die jüngste Generation keine muttersprachlichen Sprechfertigkeiten mehr erworben hat. Die Zahl solcher Familien dürfte nach Einschätzung einiger Informanten bei 10 Prozent liegen. An öffentlichen Einrichtungen, die zur Spracherhaltung und zur Festigung der deutschen Identität beitragen, sind hier das lokale Deutsche Kulturzentrum, das an eine Mittelschule angeschlossen ist, in der eine überschaubare Zahl der Kinder Deutsch als Muttersprache lernen, und die evangelische (lutherische) Kirche, die eher als ein Bethaus zu bezeichnen ist, zu nennen. Im Bethaus werden Gottesdienste auf Hochdeutsch abgehalten, aber untereinander sprechen die Besucher, deren Zahl auch sonntags allerdings selten über einem Dutzend liegt, in ihrer eigenen Mundart. 2 Sprachliche Charakteristika Die Sprache von Prischib ist ein System, dem weitgehend keine überdialektalen diglossischen Varietäten eigen sind. Der Grund für diese Einförmigkeit wurzelt in ihrer funktionellen Aufgabe - der alltägliche Umgang mit der Sprache in der familiären und nachbarlichen Domäne ist die vorwiegende, ja fast einzige Forderung, die im funktionellen Bereich an die Muttersprache gestellt wird. 2.1 Lautstand In ihrem Lautbestand ist die Sprache von dem nhd. Wandel der Vokale geprägt, wobei sich hier sowohl fränkische (mhd. û > au; mhd. â > , { ,}; mhd. ou > ; mhd. ei > (zum Teil); Senkung von i, u vor r + Konsonant) und alemannische (mhd. î > {e,}i; mhd. iu > {e,}i; mhd. ei + n > nasalierte bzw. i) als auch den beiden Dialektgruppen eigene Eigenschaften auswirken. Dennoch sind die fränkischen Merkmale im Vokalismus konsequenter und von mehr Klarheit geprägt. Das Konsonantensystem erfuhr die hochdeutsche Verschiebung der Plosive p, t > pf, z (zz) und die binnenhochdeutsche Schwächung der Konsonanten p, t, k. Der Wandel der mhd. sp, st > šp (šb), št (šd), der im Prischiber Dialekt fast ausnahmslos erfolgte, gehört zu den süddeutschen Dialektmerkmalen (Verbreitung auch im Pfälzischen). Die hessische Form is (ist) und die schwäbischalemannische bisch (bist), die sich in ihrer grammatischen Funktion nahe stehen, weisen mit Unverkennbarkeit darauf hin, dass die Ursprungslandschaften des Dialekts von Prischib an der Trennlinie, die in ihrer älteren Konstellation zwischen dem Westmitteldeutschen und Oberdeutschen verlief, zu suchen sind. Mit Rücksicht auf die erfolgte hochdeutsche Konsonantenverschiebung, ebenfalls auf den Wandel mhd. sp, st > šp (šb), št 2. Russland, Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien 73 (šd) und die Diminutivbildung mithilfe des Suffixes -(e)l kann die Sprache von Prischib den oberdeutschen Dialekten zugeordnet werden; zugleich treten in ihr zahlreiche Eigenschaften in Erscheinung, die die Verbindung zum westmitteldeutschen Sprachraum belegen. 2.2 Lexikon Der Wortbestand der Sprache von Prischib lässt zwar keine komplementären Konstituenten der diglossischen Hierarchie entdecken, aber er kann nach seinen topischen, geistigen und chronologischen Quellen sowie in der Verteilung der Einzelkomponenten auf der deutschen Dialektlandschaft nur in gewissem Grade als homogen bezeichnet werden. Er erweist sich als eine Mischsprache, die in der Koinebildung begriffen ist. Der Dialekt hat eine umfangreiche Menge von Lexemen, die trotz der Tatsache, dass sie auf phonetischphonologischer und morphologischer Ebene den Eigenschaften eines Ortsdialekts entsprechen, eine binnenstrukturelle Bindung zum Wortbestand des gegenwärtigen Standards erkennen lassen. Diese Tatsache weist auf ihre etymologische Gemeinsamkeit hin. Wieder andere Lexeme von Prischib, die in ihrer Struktur ebenfalls dem gegenwärtigen Standard verwandt sind, sind auf Einflüsse alter Kultur- und konfessioneller Zentren - hier wäre in erster Linie Mainz zu erwähnen - zurückzuführen (Sarg, Peitsche), oder sie sind aus diachroner Sicht als Niederschlag eines sich formenden Standards einzuordnen (Schlachter, Töpfer, Biene, Boll ‘Bulle’, heute veraltetes sich sputen). Die Lexeme substandardlichen Charakters erfassen auf den sprachgeographischen Karten unterschiedlich große Verbreitungsgebiete. Ein Teil von ihnen könnte aus der Perspektive der gegenwärtigen deutschen Dialektlandschaft aufgrund der topischen Verteilung und der funktionellen Diaphase (vgl. Coseriu 1992: 283ff.) als literarische Regionalismen mit süddeutschem Kolorit (Bub, Frühjahr, Mädel, Stub, Samstag, schauen) bezeichnet werden, und andere treten als süddeutsche umgangssprachliche Regionalismen auf (Frucht ‘Getreide, Roggen’, mir ‘wir’, bissl ‘ein bisschen’, gell ‘nicht wahr? ’, arg ‘sehr’, schaffen ‘arbeiten’, Maul ‘Mund’, Lumpe ‘Lappen’, Muld ‘Backtrog’, pfetzen ‘kneifen’, Schab ‘Kleidermotte’, lipfen ‘lüpfen, heben mit einem Ruck’, Schnouk ‘Schnake, Stechmücke’, Hinkel ‘Huhn’). (Lokale) Dialektwörter (Idiotismen) sammeln sich auf der sprachgeographischen Karte im Südwesten von Deutschland und konzentrieren sich beiderseits der Linie, die oberdeutsche und westmitteldeutsche Dialektgruppen voneinander trennt. Bei genauer Betrachtung kann man feststellen, dass sie den Lokalisierungskern in einem relativ kleinen Raum, der Nordbaden, Südhessen und den nördlichen Teil der Vorderpfalz erfasst, haben (Krusselbeere ‘Stachelbeere’, Spell ‘Stecknadel’, Brumbeere ‘Brombeere’, Suggel ‘Sauger, Schnuller’, Loos ‘Mutterschwein’). Diese den Wortbestand betreffende Aufführung steht in positiver Korrelation mit diachronischen phonologischen Eigenschaften der Mundarten dieser oberrheinischen Gebiete. Generell sind drei Sprachgroßräume zu nennen, die einen wichtigen Beitrag zur der Formung Sprache von Prischib geleistet haben: 1. aus dem nördlichen Teil des fränkischen Sprachraums, wobei die Wörter rheinaufwärts vorgedrungen waren (Ferkel, Harke, Lippe, fegen, Dickkopf ‘Kaulquappe’, kist ‘unfruchtbar’, Schwein, Pilz); 2. aus dem südlich liegenden schwäbisch-alemannischen Sprachraum (Gelberübe ‘Mohrrübe’, Kamin ‘Schornstein’, Schwalm ‘Schwalbe’, Kappe ‘Mütze’, Kraut ‘Kohl’, pressieren, hischern ‘wiehern’, Erdwuhler ‘Maulwurf’, plärren ‘blöken’, Lann ‘Gabeldeichsel des Einspänners’, Göttelbase ‘Taufpatin’); 3. aus dem ostmitteldeutschen Sprachraum, wobei die Wörter hier in den Landschaften, die um den Unteren Neckar herum liegen, durch das Ostfränkische vermittelt wurden. Die Ausstrahlung aus dieser Richtung fiel im Vergleich zu den zwei oben genannten relativ schwach aus (Pfriem, Peitsche, Boll ‘Bulle’). Valerij Schirokich 74 Wortart Gebrauchswert (Gesamtmenge) in Prozent Substantiv 537 43,69 % Verb 82 6,67 % Adjektiv 70 5,69 % Adverb 117 9,52 % Numeralien 18 1,46 % Pronomen 10 0,81 % Präposition 19 1,54 % Konjunktion 49 3,98 % Partikel 306 24,90 % Interjektion 21 1,70 % Tabelle 2: Überblick über die benutzten Wortarten Der Anteil der russischsprachigen Entlehnungen im System der Sprache von Prischib kann durch quantitative Belege mit Bezug auf grammatische Wortarten veranschaulicht werden. Als Grundlage für diese Untersuchung habe ich Tonaufnahmen aus dem Jahr 1997 ausgewertet, die den Stand der proportionalen Beziehungen auch von heute objektiv darstellen können (vgl. Tabelle 2). Die aufgezeichneten Aussagen der 19 Informanten setzen sich aus 26.070 Wörtern zusammen, die insgesamt 1.229 Transferenzen der freien Morpheme aus dem System des Russischen enthalten (4,71 %). Alle herausgegliederten russischsprachigen Entlehnungen ergeben eigentlich nur 391 Einzellexeme, da sich ein Teil von ihnen in Aussagetexten wiederholt. Diese quantitativen Daten belegen mit Anschaulichkeit die Tatsache, dass das deutsche Sprachsystem in der Enklave bis heute recht gut erhalten geblieben ist. Auffallend groß ist der Anteil der transferierten Gesprächswörter und vor allem der Partikel nu ‘na, nun, also’ (167-fach belegt), vot ‘so, ja’ (88), eto ‘also, nun’ (32). Diese Gesprächswörter werden in der russischen Umgangssprache oft gebraucht und füllen meistens die Häsitationspausen in der Rede aus. Welche die pragmatischen Motive derartigen Gebrauchshäufigkeit der genannten Wortformen in der Sprachinsel Prischib sind und ob dahinter der Ausdrucksmittelmangel steckt, bedarf einer speziellen Erforschung (vgl. auch oben S. 43f. und S. 63f.). Der hohe Anteil der substantivischen Transferenzen (sowohl der Zufallsbelege als auch der assimilierten Lehnwörter) kann nicht überraschen (Gebrauchsfälle: 537, Einzelsubstantive: 265); drei Faktoren spielen hierbei eine besondere Rolle: 1. Wechselverhältnis der Wortarten in den indoeuropäischen Sprachen; 2. Entlehnbarkeit der Substantive (transferability); 3. Nennfunktion der Substantive (Dingbzw. Nennwort). Die assimilierten Lehnsubstantive explizieren die Übernahme der Dinge und ihrer autochthonen Bezeichnungen, die noch vor dem eigenen Erfahrungswissen, d.h. noch vor der Kolonisation, im Lande entstanden waren: banje ‘russisches Dampfbad’, baschkai ‘Baschkai = Baschkirisches Musikinstrument’, karmoschke ‘Ziehharmonika’, lawke ‘dörfliches Lebensmittelgeschäft’, pasar ‘Basar, Markt’, posad ‘Pflanzung’, Schtepp ‘Steppe, Feld’. Das letztere Lehnwort verdrängte das eigentliche deutsche Feld aus der Sprache von Prischib völlig: es liegt in diesem Fall eine semantische Erweiterung (Steppe + Feld) vor. Es ist zu vermuten, dass die Verdrängung von Feld durch Schtepp( ) noch in der ukrainischen Periode erfolgte. Dafür spricht die Tatsache, dass die kanadischen Mennoniten, die von 1803 bis zur Auswanderung nach Kanada zwischen 1921 und 1930 in der Nachbarschaft von süddeutschen Sprachträgern an der Molotschna siedelten, in ihrer niederdeutschen Mundart für ‘Feld’ (nach dem Beleg aus dem 2. Russland, Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien 75 Jahr 1960) ausschließlich das Wort Schtap ‘Steppe’ gebrauchten (Thiessen 1963: 21ff., 174). Die semantischen Lehnverschiebungen konnten von mir auch in folgenden Lexemen festgestellt werden: Kollektiv wurde mit der Lehnbedeutung ‘Kolchos’ angereichert, Produkte bedeuten in erster Linie wie im Russischen ‘Lebensmittel’, Maschine bekam die Lehnbedeutung ‘Kraftfahrzeug’. Der Grund für derartige semantische Verschiebungen ist die homophone Form der Lexeme in den kontaktierenden Sprachen. Der größte Teil der assimilierten Lehnwörter stammt aus dem Erfahrungswissen: die Entstehung der Sachbezeichnungen und die Übernahme dieser in den Dialekt erfolgte hauptsächlich erst nach der Einwanderung in Russland (vgl. auch oben S. 43f.): avtovoksal ‘Busbahnhof’ (von zwei Informanten belegt), gostiniza ‘Hotel’ (3), selsovet ‘Gemeinderat’ (2), savod ‘Fabrik’ (2), kolchos ‘landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft’ (3), kombain ‘Mähdrescher’ (3), kombainer ‘Mähdrescherführer’ (4), motoziklet ‘Motorrad’ (3), pensi ‘Rente’ (6), predsedátel ‘landwirtschaftlicher Produktionsleiter’ (2), rajon ‘Einheit der administrativen Teilung’ (3), televisor ‘Fernseher’ (5), transcheje ‘ausgehobener Graben’ (2), schaschki ‘Damespiel’ (2). Alle angeführten Substantive können den assimilierten Lexemen zugeordnet werden, und zwar aufgrund dessen, dass sie mindestens von zwei Informanten (siehe die Angabe in Klammern) im Interview gebraucht wurden, was den Nachweis für deren feste Eingliederung in den Dialekt liefert. Ebenfalls sind sie strukturell, d.h. phonetischphonologisch und grammatisch, weitgehend an die lokale dialektale Subnorm angepasst. Bei 21 der 265 Substantive handelt es sich um korrelatlose Lexeme: Sie explizieren im Sprachsystem die typisch sowjetischen bzw. russischen Phänomene, und sie haben daher keine sich eindeutig deckenden begrifflichen und sprachlichen Entsprechungen im Deutschen, wie etwa banje ‘russisches Dampfbad’, trudarmi ‘Zwangsarbeiteinsatz’, brigadir ‘Leiter in der landwirtschaftlichen Produktionsgruppe’, buschlat ‘Wattejacke’, desjatnik, svenjevaja ‘Leiter in kleinen Produktionseinheiten’, kolchos ‘Kollektivwirtschaft’, peresylke ‘Weiterbeförderungskonzentrationsstelle für Häftlinge’, MTS ‘Hof für landwirtschaftliche Maschinen und Fahrzeuge’ (Abkürzung), udarnik ‘Bestarbeiter’, utchastkovy ‘Revierpolizist’, fermerarendator ‘Bauer im Pachtvertrag’ usw. Ein Teil der angeführten Wörter ist mittlerweile veraltet. Beim Vergleich verschiedener Sprachinselkonstellationen stellt man immer wieder fest, dass als Übertragungsobjekte - ganz gleich, wo sich die Sprachinsel befindet und wie ihre dialektalen Eigenheiten sind - häufig die Sprachzeichen wirken, die denselben Gegenständen und Erscheinungen entsprechen. Diese Besonderheit bemerkt auch N. Berend in ihrem Vergleich von Sprachinseln in Russland und den USA: „Immer dann, wenn im gegenwärtigen Russlanddeutschen ein russisches Wort bzw. eine Entlehnung aus dem Russischen erforderlich ist, wird im Kansasdeutschen ein englisches Wort eingesetzt.“ (Berend 1995: 1-2). W. Weinreich ist der Meinung, dass der Grund für lexikalische Transferenzen die geringe Frequenz bestimmter Wortformen sein könne und sie sich aufgrund dessen nicht auf Dauer im Gedächtnis behalten ließe, um stabil funktionieren zu können (Weinreich 1972: 32). Diese Aufstellung von Weinreich trifft anscheinend nur teilweise zu: solche Wörter wie zavód ‘Fabrik’, pravlénije ‘dörfliche Produktionsverwaltung’, stolóvaja ‘Kantine, Gaststätte’, dežúrny ‘Dienst habende Person’, predsedátel ‘landwirtschaftlicher Produktionsleiter’, snatschit ‘also’, provoscháje ‘begleiten’ haben eine durchaus hohe Kommunikationsrelevanz und Häufigkeit, so dass sie nicht nur von mir in Prischib allein aufgezeichnet wurden sondern auch von H. Klassen in der niederdeutschen Sprachinsel bei Orenburg (Ural) (Klassen 1969: S. 589-594). Wörter wie avtóbus ‘Bus’, pasár ‘Basar, Markt’, bolníze ‘Krankenhaus’, produkte ‘Lebensmittel’, vojénny ‘Armeeangehöriger’, detski ‘Kinder- (Attribut)’, prosít ‘bitten’, poká ‘solange’, totschno ‘genau’, to est ‘das heißt’ sind auch für andere Teile Russlands belegt (z.B. für die Deutschen in der Region Karaganda in Kasachstan, vgl. Weilert 1979: 82-95). Einige russische Wörter werden auf ständiger Basis in allen drei genannten Valerij Schirokich 76 Sprachinseln gebraucht: voobtsché ‘eigentlich’, prosto ‘einfach, eben’, snatschit ‘also’, vot ‘so, ja’. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Anzahl der für diese drei Sprachinseln allgemeinen Entlehnungen aus dem Russischen bestimmt noch größer wäre, wenn die genannten Autoren alle belegten Russizismen angeführt hätten. Offenbar kann man in diesem Fall von der festen Eingliederung dieser Wörter in die enklavischen Soziolekte sprechen; bzw. von ihrem Nebeneinanderbestehen mit den mundartlichen Korrelaten ausgehen. Der Grund für die Entlehnungen aus dem Russischen scheint nicht in der geringen Häufigkeit bestimmter Wortformen zu wurzeln - wie dies von Weinreich vermutet wird -, sondern eher im sehr häufigen Gebrauch dieser Wörter in den russischsprachigen Situationen, an denen die bilingualen Dialektträger beteiligt sind. Im Wortbestand des deutschen Dialekts von Prischib lassen sich, wenn auch relativ gering in der Anzahl, die Entlehnungen feststellen, die auf die ukrainische Aufenthaltsperiode der Kolonisation hinweisen. Die ukrainischen Entlehnungen könnten früher zahlreicher gewesen, aber mittlerweile durch strukturmäßig verwandte Russizismen verdrängt worden sein. Hier wurde bereits das Wort Schtepp erwähnt, das mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Ukraine nach Baschkirien, das in seiner Bodenbeschaffenheit nicht zuletzt durch Steppen geprägt ist, mitgenommen wurde. Einige weitere Beispiele: - bakležán gilt in Prischib für ‘Tomate’. Das Wort patlydzan stammt aus dem Türkischen; baklažán bezeichnet im Russischen ‘Aubergine’. Aber in einigen Regionen der Ukraine und mancherorts im Süden Russlands wird es noch heute von den älteren Leuten für die Bezeichnung der Tomate gebraucht. Auch im Wortbestand der kanadischen Mennoniten wurde das Wort in derselben Erbbedeutung belegt (Thiessen 1963: 167). - púrian wurzelt in der ukrainischen Form burján und bezeichnet das ‘wilde Unkraut’. Das ukrainische Wort hat sich auch im Russischen verbreitet, bedeutet aber hier die ‘wuchernde Unkrautmasse’. - dul ist das Wort für ‘Kuckuck, Feige’, die beleidigende Figur aus drei Fingern. - tata ist im Gebrauch neben dem synonymischen Vater in Alekseevka, wo es diphthongisch toata gesprochen wird. Ob dieses Wort aus dem Ukrainischen entlehnt ist, bedarf der Erforschung: Anlass zu Bedenken gibt der Dialektismus dot ‘Vater’, der in einem Teil des Schwäbischen (Baar) noch erhalten ist (König 1994: 171). 3 Soziolinguistische Situation Zur Untersuchung der Besonderheiten des situationsbedingten Gebrauchs der Formen des Deutschen in Prischib und des sozialen Status der deutschen Muttersprache wurde von mir im Sommer 2002 eine Befragung mit dreizehn Informanten aus verschiedenen Altersgruppen beider Geschlechter (acht weibliche und fünf männliche) durchgeführt. Dass die Befragten von einheimischen Dorfbewohnern als Deutsche identifiziert werden, schien für mich Grund genug zu sein, um sie nach ihren Meinungen und Einschätzungen zu befragen. Die Informanten waren im Einzelnen: Nr. 1: Gustav Z., Jahrgang 1938, lutherisch, Landmaschinentechniker, geboren in Prischib, nationale Selbstidentifizierung: Deutscher. Nr. 2: Nella Z., Jahrgang 1955, katholisch, Sekretärin im Gemeindeamt, geboren in Alexejevka 1 und mit 15 Jahren nach Prischib umgezogen, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Nr. 3: Lea A., Jahrgang 1926, lutherisch, Ruheständlerin, geboren in Baselevka, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Nr. 4: Lidia M., Jahrgang 1978, lutherisch, Hausfrau, geboren in Prischib, aus Mischehe stammend, mütterlicherseits Deutsche, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. 1 Alexejevka, Novonikolsk und Baselevka, in der Nähe von Prischib gelegen, waren früher reine deutsche Dörfer. Das letztere ist nicht mehr existent. 2. Russland, Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien 77 Nr. 5: Olga I., Jahrgang 1948, lutherisch, Dorfschulangestellte, geboren in Prischib. Nr. 6: Ernst E., Jahrgang 1942, lutherisch, ehemals Landwirtschaftsproduktionsbrigadier, jetzt Ruheständler, geboren in Novonikolsk, nationale Selbstidentifizierung: Deutscher. Nr. 7: Ulrich O., Jahrgang 1934, lutherisch, ehemals Schweißer, jetzt Ruheständler, geboren in Novonikolsk, nationale Selbstidentifizierung: Deutscher. Nr. 8: Lena F., Jahrgang 1986, lutherisch, Schülerin, geboren in Prischib, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Nr. 9: Maria H., Jahrgang 1955, lutherisch, Putzfrau, geboren in Baselevka, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Nr. 10: Lena B., Jahrgang 1986, lutherisch, Schülerin, geboren in Prischib, aus Mischehe stammend, mütterlicherseits Deutsche, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Nr. 11: Rudolf H., Jahrgang 1937, lutherisch, Ruheständler, Geburtsort: keine Angabe. Nr. 12: Alexander B., Jahrgang 1963, lutherisch, Krankenpfleger, geboren in Prischib, nationale Selbstidentifizierung: Deutscher. Nr. 13: Lena K., Jahrgang 1981, lutherisch, Angestellte im Gemeindeamt, geboren in Prischib, aus Mischehe stammend, mütterlicherseits Deutsche, nationale Selbstidentifizierung: Deutsche. Im Folgenden werden der Fragebogen mit 27 Fragen und die gegebenen Antworten dokumentiert; sowie stellenweise kommentiert: Frage 1 lautete: Welche Sprache ist Ihre Muttersprache? Antworten: - deutscher Dialekt (Daitsch) - 12 Nennungen - Russisch - 1 Nennung (Nr. 10) Frage 2: Wann und wo haben Sie diese Sprache gelernt? Antworten: - von Kindheit an, im Elternhaus wurde Daitsch gesprochen - 12 Nennungen - im Umgang mit deutschsprachigen Kindern im Kindergarten - 1 Nennung (Nr. 13) Frage 3: Welche Sprache können Sie am besten sprechen? Antworten: - deutsche Mundart und Russisch gleich gut - 5 Nennungen (Nr. 1, 3, 4, 7, 12) - Russisch - 5 Nennungen (Nr. 2, 6, 8, 10, 13) - deutsche Mundart - 3 Nennungen (Nr. 5, 9, 11) Frage 4: Wie gut können Sie Hochdeutsch verstehen? Antworten: - sehr gut / sehr gut bis auf Fachbegriffe - 4 Nennungen (Nr. 5/ 3, 9, 12) - zu 90 Prozent / 85 bis 90 Prozent - 2 Nennungen (Nr. 2/ 4) - so um 80 Prozent herum - 2 Nennungen (Nr. 7, 8) - mittelmäßig - 2 Nennungen (Nr. 6, 11) - schlechter als mittelmäßig - 2 Nennungen (Nr. 10, 13) - schlecht - 1 Nennung (Nr. 1) Mit dieser Frage wurde vor allem auf das Verstehen des gesprochenen Hochdeutsch abgezielt. Viele der Befragten erwähnten bei der Antwort ihr Verstehen des deutschen Background-Sounds als Bezugsgröße aus dem österreichischen Spielfilm „Kommissar Rex“, der im Sommer 2002 im russischen Fernsehen gezeigt wurde. Frage 5: Wie gut können Sie den Prischiber deutschen Dialekt sprechen? Antworten: - sehr gut - 10 Nennungen - sehr gut, aber Russisch spreche ich doch besser - 3 Nennungen (Nr. 8, 10, 13) Frage 6: Wie gut können Sie die deutsche Umgangssprache sprechen? Antworten: - keine Angabe - 13 Nennungen Diese Frage brachte alle Informanten in Verlegenheit, da sie von der Umgangssprache keine Vorstellung hätten. Auch meine früheren Feldforschungen zu Spracheigenschaften der deutschen Gemeinschaft des Dorfes Prischib belegen, dass die diglossische Hierarchie hier nicht entwickelt ist. Valerij Schirokich 78 Frage 7: Wie gut können Sie Hochdeutsch sprechen? Antworten: - gut - 1 Nennung (Nr. 3) - halbgut, recht starke Hemmungen - 1 Nennung (Nr. 4) - mittelmäßig - 5 Nennungen (Nr. 2, 5, 8, 9, 10) - kann ich ein bisschen - 1 Nennung (Nr. 11) - eher schwach, wäre also problematisch - 1 Nennung (Nr. 13) - schlecht / kann ich nicht - 2 Nennungen (Nr. 1/ 7) - kann ich nicht beurteilen, weil es niemals gesprochen wird - 2 Nennungen (Nr. 6, 12) Frage 8: Wie gut können Sie Deutsch (Hochdeutsch) schreiben? Antworten: - gut - 3 Nennungen (Nr. 2, 3, 5) - mittelmäßig - 1 Nennung (Nr. 8) - so viel wie in der Schule verlangt wird - 1 Nennung (Nr. 10) - fehlerhaft, wäre aber grundsätzlich möglich - 1 Nennung (Nr. 9) - schlecht / kann ich nicht - 6 Nennungen (Nr. 4, 13/ 1, 7, 11, 12) - nie versucht - 1 Nennung (Nr. 6) Frage 9: Wie gut beherrschen Sie Russisch? Antworten: - sehr gut - 12 Nennungen - mittelmäßig - 1 Nennung (Nr. 11) Es muss hier angemerkt werden, dass, nach meiner Beobachtung, nur die jüngere Generation ein absolut akzentfreies Russisch spricht; bei den Deutschen im mittleren und fortgeschrittenen Alter ist der muttersprachliche Akzent recht auffallend. Frage 10: Beherrschen Sie weitere Sprachen des Landes? Antworten: - Tatarisch und Baschkirisch verstehe ich von gut bis sehr gut - 1 Nennung (Nr. 3) - ein bisschen Tatarisch verstehe ich schon - 5 Nennungen (Nr. 5, 6, 7, 9, 12) - nur einzelne Wörter in Tatarisch - 1 Nennung (Nr. 2) - Baschkirisch habe ich als Kind gekonnt, jetzt aber verlernt - 1 Nennung (Nr. 11) - kann ich nicht - 5 Nennungen (Nr. 1, 4, 8, 10, 13) Tatarisch und Baschkirisch können meistens die Personen im fortgeschrittenen Alter sprechen bzw. verstehen, die im Zweiten Weltkrieg oder danach gezwungenermaßen oder freiwillig das Heimatdorf für längere Zeit verlassen haben, um sich fern des Heimatdorfes als Arbeitskraft einsetzen zu lassen. Oft mussten sie dabei zusammen mit einheimischen Tataren arbeiten. Frage 11: Lesen Sie deutschsprachige Periodika? Antworten: - lese ich oft im lokalen Deutschen Kulturzentrum - 1 Nennung (Nr. 5) - selten, einmal im Monat leihe ich etwas im Deutschen Kulturzentrum aus - 1 Nennung (Nr. 8) - früher gelesen, jetzt nicht mehr, weil das Bestellen deutscher Zeitungen für unsere Familie zu teuer geworden ist - 2 Nennungen (Nr. 2, 9) - lese ich nicht - 9 Nennungen (Nr. 1, 3, 4, 6, 7, 10, 11, 12, 13) Frage 12: Lesen Sie Bücher in deutscher Sprache? Antworten: - ja, meistens zu Glaubensthemen - 1 Nennung (Nr. 3) - zu Hause sind einige vorhanden, ich kann sie lesen und verstehen - 1 Nennung (Nr. 4) - nur so viel wie in der Schule aufgegeben wird - 2 Nennungen (Nr. 8, 10) - lese ich nicht - 9 Nennungen (Nr. 1, 2, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13) Frage 13: Lesen Sie regelmäßig russischsprachige Periodika? Haben Sie russischsprachige Periodika abonniert? Antworten: - ja - 13 Nennungen Frage 14: Schreiben Sie Briefe in deutscher Sprache? Wenn ja, an wen? Antworten: - ich schreibe in russischer Sprache - 3 Nennungen (Nr. 1, 11, 12) - ich könnte im Bedarfsfall auch in Hochdeutsch schreiben, aber ich schreibe auf Russisch - 1 Nennung (Nr. 2) 2. Russland, Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien 79 - an den Bruder und die Enkel in Deutschland und an die Enkelin in Ufa in unserer Mundart - 1 Nennung (Nr. 3) - an meine Bekannte in Deutschland, die von hier stammt, schreibe ich russisch - 1 Nennung (Nr. 4) - an die Verwandtschaft und die Freundin, die in Deutschland leben, schreibe ich auf Hochdeutsch - 1 Nennung (Nr. 5) - an meine Patin in Deutschland schreibe ich auf Russisch, und sie antwortet mir auf Hochdeutsch - 1 Nennung (Nr. 10) - mit der Verwandtschaft in Deutschland telefonieren wir, schreiben auf Deutsch könnte ich nicht/ wir telefonieren - 2 Nennungen (Nr. 13/ 9) - ich schreibe grundsätzlich keine Briefe/ nie Briefe geschrieben, an wen denn? - 2 Nennungen (Nr. 8/ 6) - ich kann nicht deutsch schreiben - 1 Nennung (Nr. 7) Frage 15: Hören Sie deutschsprachige Radiosendungen? Antworten: - selten, Deutsche Welle - 1 Nennung (Nr. 5) - ab und zu deutsche Kurzwellensender - 1 Nennung (Nr. 7) - nein - 11 Nennungen Möglichkeiten für deutschsprachiges Fernsehen gibt es in Prischib nicht. Frage 16: Welche ist die familiäre Verkehrssprache bei Ihnen zu Hause? Antworten: - wir sprechen zu Hause ausschließlich in unserer deutschen Mundart - 4 Nennungen (Nr. 1, 3, 9, 11) - wenn meine Verwandten anreisen, dann sprechen wir miteinander nur Daitsch - 1 Nennung (Nr. 5) - fast immer auf Daitsch (95 Prozent)/ überwiegend Daitsch - 2 Nennungen (Nr. 2/ 13) - mit der Mutter spreche ich Daitsch - 1 Nennung (Nr. 12) - wir sprechen beide Sprachen, Russisch und Daitsch - 1 Nennung (Nr. 8) - mit der Mutter je nachdem, Russisch oder Daitsch, mit der Oma überwiegend Daitsch, mit der älteren Schwester auch Daitsch, und die jüngeren Schwestern können nur Daitsch verstehen - 1 Nennung (Nr. 10) - mit dem Mann (Ukrainer) Russisch, mit der Oma meistens Daitsch - 1 Nennung (Nr. 4) - wir sprechen zu Hause Russisch, weil meine Frau eine Russin ist - 1 Nennung (Nr. 6) - ich bin verwitwet und lebe allein - 1 Nennung (Nr. 7) Frage 17: Sind Sie je in Deutschland gewesen? Antworten: - nein - 8 Nennungen (Nr. 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13) - nein, hätte auch keine Lust - 2 Nennungen (Nr. 3, 5) - einmaliger Kurzaufenthalt - 2 Nennungen (Nr. 1, 2) - drei Kurzaufenthalte - 1 Nennung (Nr. 7) Frage 18: Kommt es vor, dass in Ihrer Familie Deutsch und Russisch im Gespräch gemischt werden? Antworten: - wir sprechen zu Hause nur Daitsch/ nur Daitsch, Russisch nur, wenn ein Russe zu Besuch kommt - 3 Nennungen (Nr. 11, 12/ 3) - Russisch selten, höchstens ein paar Sätze dazwischen - 1 Nennung (Nr. 2, 9) - nur Kraftwörter auf Russisch - 1 Nennung (Nr. 2) - ja, aber doch überwiegend Daitsch - 1 Nennung (Nr. 13) - es wird schon gemischt, weil manches schwer auf Daitsch zu sagen ist - 2 Nennungen (Nr. 8, 10) - wir mischen viel, weil mein Mann ein Ukrainer ist - 1 Nennung (Nr. 4) - wir sprechen meistens Russisch - 1 Nennung (Nr. 6) - ich lebe allein - 2 Nennungen (Nr. 5, 7) Frage 19: In welcher Sprache sprechen Sie mit Kollegen? Antworten: - mit deutschen Kollegen spreche ich Daitsch, wenn ein russischsprechender Fremder dabei ist, dann Russisch - 2 Nennungen (Nr. 2, 13) - mit deutschen Kollegen spreche ich Daitsch; wenn es aber um Maschinen geht, dann lieber Russisch, Valerij Schirokich 80 da es zu 50 Prozent russische Fachwörter gibt - 1 Nennung (Nr. 1) - wenn nur deutsche Kollegen dabei sind, dann auch Daitsch - 1 Nennung (Nr. 6) - ich spreche je nach der Nationalität des Kollegen - 2 Nennungen (Nr. 5, 10) - mit Mitschülern in der Pause spreche ich Russisch, wenn ich mit einer meiner deutschen Freundinnen zusammen bin, dann Daitsch; mit russischsprachigen Mitschülern spreche ich Russisch; die nichtdeutschsprachigen Mitschüler lassen mich Russisch sprechen, weil sie Deutsch nicht können - 1 Nennung (Nr. 8) - ich spreche Russisch, weil meine Kollegen Russen sind, aber mit einer Kollegin spreche ich Daitsch, weil sie Deutsche ist - 1 Nennung (Nr. 9) - ich bin beruflich nicht eingesetzt - 2 Nennungen (Nr. 4, 12) - Ruheständler - 3 Nennungen (Nr. 3, 7,11) Hier wird auch die Sprachwahl für die Kommunikation mit einheimischen Dorfbewohnern kurz erwähnt. Sie muss nicht gesondert behandelt werden, weil die Antworten ziemlich einförmig ausfielen. Man richtet sich stets nach der Nationalität bzw. Muttersprache des Gegenübers. Frage 20: In welcher Sprache denken Sie? Antworten: - Daitsch - 6 Nennungen (Nr. 2, 3, 5, 9, 11, 12) - mal Daitsch, mal Russisch - 2 Nennungen (Nr. 1, 4) - mehr Russisch - 1 Nennung (Nr. 6) - Russisch, aber auf meinem Hof immer Daitsch - 1 Nennung (Nr. 13) - Russisch - 2 Nennungen (Nr. 8, 10) - keine Angabe - 1 Nennung (Nr. 7) Frage 21: In welcher Sprache sprechen Sie mit den Haustieren? Antworten: - Daitsch - 10 Nennungen (Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11, 12, 13) - mal Daitsch, mal Russisch - 1 Nennung (Nr. 8) - auf Russisch - 1 Nennung (Nr. 6) - keine Angabe - 1 Nennung (Nr. 7) Frage 22: In welcher Sprache träumen Sie? Antworten: - Daitsch/ fast alles auf Daitsch - 3 Nennungen (Nr. 5, 11/ 9) - je nach Sprache und Nationalität des geträumten Gesprächspartners - 6 Nennungen (Nr. 1, 2, 3, 4, 8, 10) - meine Träume sind auf Russisch - 2 Nennungen (Nr. 6, 13) - keine Angabe - 2 Nennungen (Nr. 7, 12) Frage 23: In welcher Sprache zählen Sie? Antworten: - Daitsch - 3 Nennungen (Nr. 5, 9, 11) - Geflügel auf dem Hof z.B. würde ich auf Daitsch zählen - 4 Nennungen (1, 3, 10, 13) - mal Daitsch, mal Russisch - 4 Nennungen (Nr. 4, 6, 8, 12) - Hühner würde ich auf Russisch zählen, weil es für mich leichter wäre - 1 Nennung (Nr. 2) - keine Angabe: - (Nr. 7) Frage 24: In welcher Sprache würden Sie auf der Dorfstraße einen Fremden ansprechen? Antworten: - Russisch, aber ich würde mich sofort auf Deutsch umstellen, wenn er sich als Deutscher herausstellt - 12 Nennungen - auf Russisch, aber wenn ich auf den ersten Blick etwas gegen ihn habe, dann aus Trotzgefühl auf Daitsch - 1 Nennung (Nr. 4) Frage 25: Wie schätzen Sie die Überlebenschancen für den deutschen Dialekt von Prischib ein? Antworten: - noch etwa 10 Jahre wird Daitsch hier gesprochen, dann nicht mehr, da die Jugend nach Deutschland auswandert - 2 Nennungen (Nr. 1, 2) - Daitsch bleibt in Prischib bestehen; ich spreche viel Daitsch, damit es überlebt; selbst wenn nur zwei Deutsche im Dorf bleiben, werden sie auch miteinander Daitsch reden - 2 Nennungen (Nr. 4, 5) - solange noch die letzten Deutschen da sind, wird hier Daitsch gesprochen, aber die deutsche Gemeinschaft schwindet; noch zehn Jahre und dann ist es aus damit - 1 Nennung (Nr. 13) - Daitsch bleibt bestehen, solange wir hier noch am Leben sind - 1 Nennung (Nr. 3) - noch zwei bis drei Jahre, dann ist es aus - 2 Nennungen (Nr. 6, 12) 2. Russland, Anhang 2: Die russlanddeutsche Minderheit in Baschkirien 81 - der Dialekt stirbt in Prischib aus, noch fünf Jahre, und nur die Alten werden noch Daitsch miteinander reden - 2 Nennungen (Nr. 8, 9) - der Dialekt geht verloren, noch sechs Jahre, und dann bleiben sehr wenige, die in der Familie Daitsch reden werden - 1 Nennung (Nr. 10) - keine Angabe - 2 Nennungen (Nr. 7, 11) Frage 26: Ist Auswanderung nach Deutschland auch für Sie/ Ihre Familie aktuell? Antworten: - ich bleibe in Russland - 4 Nennungen (Nr. 2, 3, 5, 6) - ich/ wir werde(n) auswandern - 4 Nennungen (Nr. 8, 10, 11,13) - noch keine Entscheidung - 2 Nennungen (Nr. 1, 12) - wenn das Leben hier in den nächsten fünf bis sechs Jahren besser wird, dann bleiben wir hier, anderenfalls käme die Auswanderung in Frage - 1 Nennung (Nr. 4) - ich muss wegen dem kranken Herzen auswandern - 1 Nennung (Nr. 7) - ich muss auswandern, weil mein Sohn drüben ist und er mich ruft - 1 Nennung (Nr. 9) Bei der Befragung sagten viele aus, dass zwei Gründe für die massenhafte Auswanderung entscheidend waren. Zunächst die gefallene Grenze, die die Wegbereiter zur Auswanderung motivierte; ihnen folgte dann auch der Rest der Familie und Verwandtschaft nach; des Weiteren spielte das Verkommen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (Kolchos) eine gravierende Rolle für die Situation. Frage 27: Was sollte man zur Dialekterhaltung in Prischib tun? Antworten: - die Dialekterhaltung auf lange Zeit ist hier nicht mehr möglich, aber man sollte trotzdem mehr Deutschstunden im Schullehrplan unterbringen - 1 Nennung (Nr. 1) - man sollte mit Deutsch schon im Kindergarten anfangen, was aber leider nicht machbar ist - 1 Nennung (Nr. 2) - Deutsch ist eine Wunschvorstellung, nur die zielstrebige Vererbung von Eltern an Kinder würde der Spracherhaltung helfen - 1 Nennung (Nr. 3) - Eltern sollten ihre Kinder zu Deutsch anregen, sollten auch selber mehr Deutsch miteinander sprechen - 3 Nennungen (Nr. 4, 5, 8) - wenn die Jugend nicht auswandert! - 1 Nennung (Nr. 6) - Eltern sollten ihre Kinder zu Deutsch anregen, und auch die Leistung sollte man besser bezahlen, damit die Leute hier bleiben - 5 Nennungen (Nr. 7, 9, 10, 12, 13) 4 Literatur Berend, Nina (1995): Des is arich intresting… Deutsch im Kontakt mit anderen Sprachen. In: Sprachreport 11, 2, S. 1-3. Coseriu, Eugenio (1992): Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. Tübingen: Francke (=UTB; 1372). Klassen, Hans (1969): Russische Einflüsse auf die deutschen Mundarten im Ural (Sowjetunion). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 6/ 7, S. 589-594. König, Werner (1994): dtv-Atlas Deutsche Sprache. 10., überarb. Aufl. München: dtv. Širokich, Valerij (1999): Das Sprachverhalten in der deutschen Sprachinsel Prišib. In: Humanisierung der Bildung. Jahrbuch 1999 der Internationalen Akademie zur Humanisierung der Bildung (IAHB) S. 271-279. Stumpp, Karl (1957): Die Prischiber Kolonien. In: Heimatbuch der Deutschen aus Rußland 1957. Thiessen, John (1963): Studien zum Wortschatz der kanadischen Mennoniten. Marburg: Elwert (=Deutsche Dialektgeographie; 64). Weilert, A. A. (1979): Russkoje slovo v nemezkoj dialektnoj retchi. In: Voprossy jasykosnanija 3. Weinreich, William (1972): Odnojasychije i mnogojasychije. Übersetzung a. d. Engl. in: Novoje v lingvistike. Moskau. Ukraine 3 Olga Hvozdyak Inhalt 1 Geographische Lage .................................................................................................................. 85 2 Statistik und Demographie ....................................................................................................... 85 3 Geschichte .................................................................................................................................. 86 3.1 Geschichte vor 1918 ............................................................................................................ 86 3.1.1 Krim ............................................................................................................................ 87 3.1.2 Galizien - Bukowina ................................................................................................. 88 3.1.3 Wolhynien .................................................................................................................. 89 3.1.4 Transkarpatien ........................................................................................................... 89 3.2 Geschichte ab 1918 .............................................................................................................. 90 3.3 Die Deutschen von Transkarpatien................................................................................... 93 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung ...................................................................... 96 4.1 Verteilung der Stadt-Land-Bevölkerung ........................................................................... 96 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien ..................................................................... 96 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelung................................ 99 4.4 Die deutschen Schulen und der Deutschunterricht in den Schulen der Ukraine ...... 100 4.5 Das Kirchenleben der Deutschen von Transkarpatien................................................. 101 5 Soziolinguistische Situation .................................................................................................... 102 5.1 Kontaktsprachen ................................................................................................................ 102 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ................................................................. 103 5.2.1 Regionaler Standard (geschrieben-gesprochen)...................................................... 103 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher ............................................. 104 5.2.3 Dialekte ..................................................................................................................... 108 5.2.4 Sprachliche Charakteristika der deutschen Mundarten in der Ukraine ............ 109 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) ......................... 115 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung ......................................................... 116 6 Sprachgebrauch und -kompetenz .......................................................................................... 120 6.1 Allgemeines ......................................................................................................................... 120 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten.... 121 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen................ 122 6.3.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte.................................................. 123 6.3.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte ............................................... 124 6.3.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch................ 125 6.3.4 Mediennutzung ........................................................................................................ 126 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen.................................................................. 126 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 127 7.1 Affektive Bewertung .......................................................................................................... 127 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation ............................................................................................. 130 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal ................... 131 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 131 8.1 Geographische Faktoren ................................................................................................... 131 8.2 Historische und demographische Faktoren.................................................................... 132 8.3 Kulturelle Faktoren ............................................................................................................ 132 8.4 Soziolinguistische Situation............................................................................................... 133 9 Literatur .................................................................................................................................... 133 10 Anhang: Tabellen..................................................................................................................... 140 1 Geographische Lage Die Ukraine hat eine Fläche von 603.700 km² und ist damit der größte vollständig in Europa liegende Staat. Als selbständiger Staat betrat die Ukraine erst am 24. August 1991 die politische Bühne Europas. Im Norden grenzt sie an Weißrussland, im Nordosten und Osten an Russland, im Nordwesten an Polen, im Westen an die Slowakei, im Südwesten an Ungarn, Rumänien und Moldawien und im Süden ans Schwarze und ans Asowsche Meer. Die Gesamtlänge ihrer Grenzen beträgt 6.500 km. Gewässergrenzen existieren zu Bulgarien, der Türkei und Georgien mit einer Länge von 1.050 km. Von Ost nach West erstreckt sich die Ukraine über 1.270 km, von Nord nach Süd über 900 km. Die Ukraine ist geographisch gesehen, mit Ausnahme der Karpaten im äußersten Westen (der höchste Berg des Landes ist der Howerla mit 2.061 m) und dem Krimgebirge (der höchste Berg ist der Roman-Kosch mit 1.545 m), weitgehend flach. Die Vegetation wird von Mischwäldern dominiert, im Süden außerdem von Waldsteppe und Steppe. Nach Süden hin senkt sich das Urgestein der Landplatten zur ausgedehnten Schwarzmeerebene und zur Dnipro-Donez-Niederung. Der Hauptstrom des Landes ist der Dnipro, der als Grenzscheide zwischen der linksufrigen und rechtsufrigen Ukraine auch historische Bedeutung hat. Er ist die bedeutendste Wasserstraße des Landes und zugleich der wichtigste Lieferant von Wasserkraft. Seit der Sprengung der Stromschnellen ist er durchgehend schiffbar und bildet mit seinen zahlreichen Nebenflüssen ein eigenes Verkehrssystem. Insgesamt besitzt die Ukraine 4.500 km schiffbaren Wasserwege; neben dem Dnipro sind es die Desna, im Südwesten Dnister und der südliche Bug, im Nordwesten der Prypjat’. Die Ukraine ist ein multinationaler Staat. Von den 48,2 Mio. Menschen sind 77,8 Prozent Ukrainer, 17,3 Prozent Russen (vor allem auf der Krim und im Osten des Landes), 0,6 Prozent Weißrussen, 0,5 Prozent Moldawier. Außerdem gibt es Minderheiten von Polen, Rumänen, Ungarn, Krimtataren, Deutschen u.a. (Nazionaljnej sklad naselennja Ukrajiny ta joho mowni oznaky za danymy Wseukrajinsjkoho perepysu naselennja 2001 roku 2003: 8). Das Land ist in 24 Oblaste (ukr. / oblast’ ‘Gebiet’) und die Autonome Republik Krim aufgeteilt. Die Hauptstadt der Ukraine ist Kiew (Kyiv). Die wichtigsten Städte neben der Hauptstadt sind Lviv, ernivzi, Charkiv, Dnipropetrovsk, Doneck, Odessa, Simferopol, Cherson und Mykolaiv. Die Ukraine ist reich an verschiedenen Bodenschätzen, sie besitzt große Vorräte an Erdöl, Steinkohle und Eisenerz, außerdem Manganerz, Kalisalz und vieles mehr. 2 Statistik und Demographie Nach der letzten Volkszählung von 2001 nehmen die Ukrainer von den 130 Nationalitäten, die in der Ukraine leben, die führende Position ein, indem sie 77,8 Prozent (rund 37,5 Mio. Einwohner) der ganzen Bevölkerung der Ukraine bilden. Die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der Ukraine nach den Volkszählungen 1959, 1970, 1979, 1989 und 2001 ist detailliert in den Tabellen 7 und 8 im Anhang auf S. 140 dargestellt. Die Anzahl der Deutschen beträgt nach der Volkszählung 2001 33.382 Personen; das entspricht einem Anteil von 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung der Ukraine. Das Verhältnis des Anteils der Deutschen in der Ukraine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und im Vergleich zu den Ukrainern, bezogen auf die Jahre 1979, 1989 und 2001 ist in Tabelle 1 dargestellt. Die Ergebnisse der Volkszählung von 2001 zeigen eine Verringerung des deutschen Bevölkerungsanteils in der Ukraine. Es gibt mehrere Gründe dafür; einer der wichtigsten ist mit der Aussiedlung der Deutschen nach Deutschland verbunden. Die Verteilung der Deutschen auf dem Territorium der Ukraine sowie die Veränderung der Bevölkerungsanteile zwischen 1989 2001 ist in Tabelle 9 im Anhang auf S. 141 dargestellt. Besonders dicht leben die Deutschen auf dem Territorium des multinationalen Transkarpatiens. Im Jahre 1938 gab es auf dem Gebiet des heutigen Transkarpatiens 81 Ortschaf- Olga Hvozdyak 86 1979 1989 2001 Ukrainer 36488951 37370368 37541693 Deutsche 34139 37800 33302 Gesamt 49609333 51449479 48240902 Tabelle 1: Deutsche Bevölkerung in der Ukraine (Volkszählungen 1979, 1989, 2001) (Nationaljnej sklad 2001) ten mit „Schwoben“. 1 Ab 1980 nahm die Einwohnerzahl der Deutschen in Transkarpatien jedoch rasch ab. Viele Dörfer und Städte des Gebiets haben ihre deutschen Einwohner fast verloren. Im Jahre 1989 gab es Deutschstämmige noch in fünfzehn Dörfern (Melika 2002b: 87); die Ergebnisse der Volkszählung 2001 sind in Tabelle 10 im Anhang auf S. 141 wiedergegeben. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahre 1991 sind viele junge Leute aus den reinen und gemischten deutschen Familien der Region nach Deutschland ausgesiedelt. Nach Österreich sind wenige ausgewandert (meist aus dem Kreis Tja evo). Etwas gebundener an ihre Wohnsitze sind die alten Leute, aber auch sie folgen in den letzten Jahren ihren Kindern. Nicht selten lassen die Aussiedler ihren Besitz in Form von Häusern etc. leerstehend zurück. Dort, wo vor zwanzig Jahren noch große Gemeinschaften waren, sind heute nur wenige Familien übriggeblieben. Die Deutschen in anderen Gebieten der Ukraine sind meist verstreut und wohnen in den Städten, wo sie Ukrainisch bzw. Russisch sprechen. Nur die älteren Leute haben ihre Muttersprache nicht vergessen. Allerdings haben sie (außer den Deutschen von Transkarpatien) wenig Möglichkeit, auf Deutsch zu kommunizieren. Die jüngere Generation spricht kein Deutsch oder nur das im Fremdsprachenunterricht in der Schule gelernte Deutsch. 1 Die Deutschen von Transkarpatien werden verallgemeinernd „Schwoben“ („Schwaben“) und ihre Mundart „Schwobisch“ („Schwäbisch“) genannt, obwohl sie ihrer Herkunft nach aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen stammen (vgl. Schraml 1969). 3 Geschichte 3.1 Geschichte vor 1918 Die ersten Erinnerungen an die Deutschen auf dem Territorium der Ukraine lassen sich auf das Ende des 10. Jahrhunderts datieren. Zu dieser Zeit kamen immer öfter Kaufleute, Wanderer, diplomatische Delegationen usw. aus Europa in das Territorium der Kyiver Rus. Am Anfang des 11. Jahrhunderts gründete eine kleine Gruppe von Deutschsprachigen aus Mainz, Wien und Lübeck Geschäftskolonien in Kyiv, Volodymyr-Volynsk und Luck. Nach der Invasion der Mongolo-Tataren kamen auf Einladung von Galizien-Wolhyniens Fürsten die deutschen Meister ins Land, um die zerstörten Städte aufzubauen und Handwerk und Handel zu entwickeln (Yevtukh/ yrko 1994: 4). Die einzelnen Regionen der Ukraine waren ihrer sozial-ökonomischen Struktur nach unterschiedlich. In den westlichen Gebieten war die soziale Elite lange Zeit nicht ukrainisch: der polnische oder polonisierte Adel in Galizien und Wolhynien, der magyarische Adel in Subkarpatien, der rumänische Adel in der Bukowina. Mit der ersten Teilung Polens 1772 fielen Galizien und das östliche Podolien an das Habsburger Reich. Drei Jahre später besetzte Österreich auch die Bukowina, die zum Fürstentum Moldau gehört hatte. In den zwei nächsten Teilungen Polens von 1793 und 1795 fiel die ganze rechtsufrige Ukraine an Russland. Sie wurde in den Gouvernements Kyiv, Podolien und Wolhynien organisiert. Im 19. Jahrhundert standen alle Ukrainer unter der Herrschaft der Kaiser in Petersburg oder Wien. Dabei blieben historisch bedingte Besonderheiten der Teilregionen bestehen. 3. Ukraine 87 Die Region der Westukraine gehörte seit dem 14. Jahrhundert zu Polen und seit 1772 zum Habsburger Reich. Die südlichen, rechts- und linksufrigen Regionen der Ukraine befanden sich unter russischer Herrschaft. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die südliche Ukraine als sogenanntes „Neurussland“ (Noworosija) ins Russische Reich eingegliedert. Sie unterschied sich von den anderen Regionen der Ukraine durch bunte Mischung von vielen Völkerschaften: ukrainische Bauern und ehemalige Kosaken, serbische, rumänische, deutsche Kolonisten und andere. Typisch war für diese Region ein bedeutender Aufschwung in Landwirtschaft und Handel, eine lockere Sozialordnung mit weniger Leibeigenen und ein freierer unternehmerischer kosmopolitischer Pioniergeist. Der russische Staat initiierte auch die Gründung von Städten in Neurussland, so 1783 von Katerynoslav (dem heutigen Dnipropetrovsk). In der rechtsufrigen Ukraine unterschied sich die russische Politik von den polnischen Kerngebieten und den mehrheitlich ukrainisch besiedelten Regionen. In den polnischen Kerngebieten wurde 1815 das ziemlich autonome Königreich Polen geschaffen, dessen Existenz nach der Niederlage des polnischen Aufstandes 1830/ 31 endete. Die Situation in der linksufrigen Ukraine blieb ziemlich stabil. Die wichtigsten sozialen Gruppen waren der ukrainische, immer stärker russifizierte Adel, die ethnisch gemischte Stadtbevölkerung und die ukrainischen Bauern. Im Osten und in der Sloboda-Ukraine entwickelte sich Charkiv zum neuen, stark russisch geprägten Regionalzentrum. Eine neue Etappe der Deutschen in der Ukraine begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nach Einschätzung des ukrainischen Ethnografen Wsewolod Neulko entstanden die ersten deutschen Kolonien auf dem Territorium der Ukraine in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. So wurden z.B. im Gouvernement ernihiv im Laufe der Jahre 1763 bis 1774 die ersten sechs deutschen Siedlungen gegründet (Yevtukh/ yrko 1994: 5). Auf dem Territorium der heutigen Ukraine waren die Deutschen in den verschiedenen Zeitperioden meist auf der Krim, in Galizien, Bukowina, Wolhynien und Transkarpatien vertreten. 3.1.1 Krim Das Ziel der zweiten Auswanderungswelle von Deutschen war die Neueroberung des Landes am Schwarzen Meer, damals Neurussland genannt. Die ersten Deutschen kamen schon Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts in den Süden der Ukraine. Im Jahre 1788 siedelten noch 228 Deutsche über, vor allem Lutheraner aus Danzig und Mennoniten. Sie gründeten acht Kolonien. Die Gründung der meisten deutschen Siedlungen vollzog sich jedoch in den Jahren 1803 bis 1823 unter der Herrschaft des Zaren Alexander I. (Bond 1978: 8). Bei der Ansiedlung im Schwarzmeergebiet unterscheidet man drei Perioden: 1803 bis 1806, 1808 bis 1811 und 1814 bis 1823. Zur ersten Periode gehört die Gründung der Mutterkolonien im Großliebentaler Bezirk bei Odessa. Die Auswanderungswelle ins Schwarzmeergebiet erfolgte von Ulm aus, wo die einzelnen Transportzüge zusammengestellt wurden, zu Wasser die Donau hinunter bis nach Österreich und von dort auf dem Landweg bis zur Grenzstadt Brody (Galizien). Im Jahre 1812 fiel Bessarabien an Russland. Seit dieser Zeit konnten die Transporte auf der Donau bis Ismail fahren und dann die kurze Strecke bis zum Reiseziel Odessa über Bessarabien auf Fuhrwerken zurücklegen (Bond 1978: 10). Die Einwanderung in das Schwarzmeergebiet kam allgemein 1823 zum Abschluss: „Es entstanden in diesem Zeitabschnitt 159 Dörfer, hiervon 39 im Gouvernement Cherson bei Odessa, 35 im Gouvernement Ekatherinoslav (heute Dnipropetrovsk), 17 in Bessarabien, 68 in Taurien (8 davon auf der Krim, 57 am Fluss Molotschnaja und 3 bei Berdjansk). Zu diesen kommen noch 7 Kolonien in Transkaukasien.“ (Bond 1978: 12-13) Eine ausschlaggebende Bedeutung für das Schwarzmeerdeutschtum hatte die Entwicklung der Hafenstadt Odessa (gegründet 1795), die bald zum wirtschaftlichen Zentrum wurde. Im Jahre 1800 erhielt Odessa von Kaiser Paul I. (1796-1801) besondere Vorrechte und wurde bereits 1802 zur Statthalterschaft er- Olga Hvozdyak 88 hoben (Bond 1978: 24). Die meisten Kolonisten dieser Periode kamen aus Württemberg, der Pfalz, Baden, dem Elsass, einige aus der Schweiz und auch aus deutschen Dörfern in Ungarn (Bond 1978: 10). 1813 gab es in der südlichen Ukraine 31 Mennonitendörfer mit 778 Familien und 2502 männlichen Bewohnern (Eisfeld 1992: 29). „Die Zahl der Kolonisten-Familien in Odessa wuchs von 90 im Jahre 1835 auf 431 im Jahre 1848“ (Eisfeld 1992: 35). Wie die Kolonisten auf dem Lande, so hatten auch die Handwerker in der Stadt ihre eigene Verwaltung, Schulen, Kirchen, ein Waisenhaus, ein Altersheim, ein Krankenhaus und eine Zeitung. Die deutsche Gemeinde in Odessa vergrößerte sich stets durch den Zuzug deutscher Kaufleute aus den umliegenden Kolonien, aus dem Baltikum und nicht zuletzt aus Deutschland. Bereits 1834 wurden den Stadtbewohnern jedoch die Sonderrechte als Kolonisten entzogen. Konfessionell zählten die Deutschen in Odessa zu den Lutheranern, Katholiken, Baptisten und Reformierten (Bosch/ Lingor 1990: 82-83). 1763/ 1764 betrugen der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung von Neurussland nur 0,09 Prozent. Bis zum Jahre 1897 stieg diese Zahl bis auf 3,5 Prozent. Im Jahre 1858 wohnten im Süden des Territoriums der heutigen Ukraine schon rund 138.800 Deutsche. Nach der ersten Volkszählung in Russland im Jahre 1897 wurden schon 377.800 Deutsche gezählt (Yevtukh/ yrko 1994: 6). Auf der Krim lebten nach dieser ersten Volkszählung 1897 31.950 Deutsche (Njemzy 2000: 20). Heute sind hier nur etwa 2.500 bis 3.000 Deutsche geblieben (Njemzy 2000: 7). 3.1.2 Galizien - Bukowina Das westliche Gebiet der Ukraine, der größte Teil des Fürstentums Galizien (Halyc), fiel in der Mitte des 14. Jahrhunderts an das Königreich Polen. Die Polen nannten ihr neues Gebiet „regnum Russiae“ (Königreich Russland) oder Galizien (Robel 1996). Die deutschen Kolonisten in Galizien und der Bukowina begannen in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts, das westukrainische Gebiet zu besiedeln. Im Zuge der ersten Teilung Polens hatte Österreich trotz des Widerstrebens Maria Theresias gegen die Annexionspolitik ihres Staatskanzlers Kaunitz und Josephs II. eine Provinz erworben, deren Besitz die Machtstellung der Habsburger Monarchie im osteuropäischen Raum verankerte. Dieses neue Land schloss östlich an Schlesien an und reichte, dem Karpatenbogen folgend, bis zum Fluss Zbru . Wenige Jahre später gelangte Österreich durch die Ausnutzung des russisch-türkischen Konflikts in den Besitz der Bukowina, die Galizien territorial mit Siebenbürgen verband (1774 militärische Besetzung). Seit 1782 begann eine planmäßige Ansiedlung der Deutschen in Galizien (meist aus Baden und Württemberg). Schon 1782 kamen die Deutschen meist mit ganzen Familien an. Die Gesamtzahl der Immigranten betrug zu dieser Zeit 12.475. Die Bukowina hatte sich seit 1775 zunächst als Teil des Kronlandes Galizien und Lodomerien der alten Habsburgermonarchie und später als eigenes Kronland rasch zu einem der höchst entwickelten Gebiete Österreich- Ungarns entfaltet (Slawinski/ Strelka 1995: 7). 1795 fiel der Habsburger Monarchie noch das als Westgalizien bezeichnete Territorium zu, das allerdings schon 1809 verloren ging (Häusler 1995: 14). Im Jahr 1808 gab es in Galizien 172 deutsche Kolonien. Nach 1849 wurde Galizien von der Bukowina getrennt. Nach der Volkszählung 1857 lebten auf dem Territorium von Galizien 114.293 Deutsche, in der Bukowina 37.855 (insgesamt 152.148). Zwischen 1850 und 1910 verdoppelte sich die Bevölkerung der Bukowina. Besonders stark wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung (der Anteil der jüdischen Bevölkerung betrug 1857 rund 29.000 Personen; Stourzh 1995: 40-41). Zu dieser Zeit stagnierte in der Bukowina die demographische Entwicklung der Deutschen. Im Jahr 1910 betrug die deutsche Bevölkerung 73.700 Einwohner, die jüdische bereits 95.706. Auch in ernivci, dem großen Kulturzentrum, rangierten die Juden weit vor den Deutschen, die nur 12.747 Personen zählten (Grimm 1995: 184). 3. Ukraine 89 Einen großen Fortschritt für alle Bevölkerungsgruppen bedeuteten die Pflege der jeweiligen Muttersprache an den Schulen sowie das Recht, vor Gerichten und Behörden diese Muttersprache zu gebrauchen. Deutsch wurde vor allem in der Bukowina zur allgemeinen Verkehrssprache. Gesetze und Verordnungen wurden in zwei Sprachen veröffentlicht: auf Deutsch und in einer der Landessprachen (z.B. Deutsch und Rumänisch) (Turczynski 1995: 180). 3.1.3 Wolhynien Nach den Angaben der ersten russischen Volkszählung 1897 lebten auf dem Territorium von Wolhynien 171.300 Deutsche, was 5,7 Prozent von der Gesamtbevölkerung der Region entspricht (Yevtukh/ yrko 1994: 6): „Im Jahre 1889 gab es in Wolhynien 25.000 bis 30.000 reichsdeutsche Kolonisten, in Podolien und Kyiv schätzungsweise je 7.000 bis 10.000. Nach Inkrafttreten des Fremdengesetzes von 1887 hätten etwa 25.000 von ihnen die Aufnahme in die russische Staatsangehörigkeit beantragt.“ (Eisfeld 1992: 69-70) Von den 200.913 deutschen Einwohnern Wolhyniens des Jahres 1910 waren nach amtlichen Angaben über 140.000 Bauern auf eigenem oder gepachtetem Land. Der überwiegende Teil der restlichen 60.000 Einwohner waren Landarbeiter und Handwerker, deren schwierige wirtschaftliche Lage nach einer Lösung verlangte. Etwa 5.000 Kolonisten verließen zwischen 1910 und 1912 Wolhynien und emigrierten in die USA, nach Argentinien und Brasilien. Ein Teil dieser Landlosen nahm, ebenso wie russische und ukrainische Bauern, im Zuge der Agrarreform an der Kolonisation Sibiriens teil (Eisfeld 1992: 69-70). Im Ersten Weltkrieg holte die russische Regierung zum Vernichtungsschlag gegen die deutschen Kolonien aus. Schon am 2. Februar 1915 erließ Zar Nikolai II. das sogenannte Liquidationsgesetz, das zunächst aber nur auf die Wolhyniendeutschen Anwendung fand. Nach diesem Gesetz sollte der gesamte Landbesitz der Kolonisten enteignet werden. Entschädigt werden sollten die Kolonisten durch besondere Scheine, die aber erst nach 25 Jahren eingelöst werden konnten. Dann kam am 15. Juli 1915 der Befehl, die Wolhyniendeutschen binnen einer Woche von ihren Höfen zu vertreiben und nach Sibirien zu deportieren. Insgesamt wurden in den Jahren 1915/ 1916 190.000 bis 200.000 Deutsche in die Gouvernements Samara, Saratov, Orenburg und nach Sibirien umgesiedelt (Eisfeld 1992: 72). 3.1.4 Transkarpatien Die Geschichte der Entstehung und Entwicklung des Deutschtums in Transkarpatien wurde sehr detailliert durch Georg Melika dargestellt (Melika 2002b). Die ersten Deutschen kamen auf das Territorium des heutigen Transkarpatiens im 12. Jahrhundert auf Anregung von König Géza II., um Oberungarn vor Raubeinfällen zu schützen und eine ritterliche Kultur in die rückständige Karpatenregion einzuführen. Das waren meistens Ritter. Die Ansiedler, die aus Niedersachsen und Flandern stammten, ließen sich vorwiegend im Komitat Marmorosch nieder, wo sie „Salzburgen“ von Szigeth (Sighetul Marmatiei) bis Felszász (Királyháza/ Korolevo) errichteten. Nach dem Einfall der Mongolo-Tataren (1241-1242) wurden ca. 80 Prozent der Bevölkerung der Donau-Theiß-Ebene niedergemetzelt. Daraufhin lud König Béla IV. Deutsche aus Sachsen ein, um sie im entvölkerten Raum anzusiedeln. Ein Teil der Kolonisten ließ sich in den Komitaten Bereg, Ugocsa und Marmorosch nieder. Die meisten Ansiedler waren Bauern. Ein Teil von ihnen gewann Kochsalz in den Bergwerken bei Solotvyno (Szlotina). Viele Kolonisten waren Holzfäller und Fachleute in Holzbearbeitungsstätten (Lehoczky 1881). Im 15. und 16. Jahrhundert folgten noch einige kleinere deutsche Ansiedlungswellen. Die deutschen Ansiedler dieser Epochen haben sich als Ethnien mit eigener Sprache und Kultur nicht gehalten. Das hängt damit zusammen, dass ihre Gemeinschaften zu klein waren, um dem Assimilationsprozess widerstehen zu können (Kozauer 1979). Spuren dieser Ansiedlerwelle finden wir nur in einigen Anthroponymen (z.B. Artman, Blajer, Hecht, Groskop, Koperlos, Skunz, Freilich, Kessler, Lustik, Merzel u.a.) und Toponymen (z. B. Tja evo < Titschau ‘Deutsche Aue’, Sassovo < Sachsendorf (ung. Szászfalú), Be- Olga Hvozdyak 90 rehovo < Sachsenberg, früher Lumprechtsachsen (ung. Beregsász) usw.). Die Deutschen, die in Transkarpatien bis heute ihre Mundarten bewahrt haben, siedelten sich aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen in den oberungarischen Komitaten Bereg, Marmorosch und Ung an. Die Ansiedlung begann Ende des 17. Jahrhunderts, erreichte ihren Höhepunkt in der Mitte des 18. Jahrhunderts und endete in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ende des 17. Jahrhunderts kamen auf Einladung von Thököly Imre und Zrinyi Ilona für die Befestigung der Burg von Munkatsch deutschsprachige Handwerker aus Österreich und Bayern sowie 500 Söldner aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Sie gründeten die Dörfer Plankendorf (Palanok) und Kroatendorf (Pudhorod). Die mainfränkischen Kolonisten aus Würzburg und Bamberg bildeten nach dem Befehl von Friedrich Karl von Schönborn die Ortschaften Pausching (Pavšyno), Oberschönborn (Verchnij Koropec), Unterschönborn (Nove Selo), Birkendorf (Berezinka), Deutsch Ku owa (Kutschava), Mädchendorf (Lalovo), Beregszász (Berehovo). Auf Anweisung des Hauses Schönborn wurden 1763 aus Niederösterreich Kolonisten geworben, die das Dorf Bardhaus (Barbovo) gründeten. Die Kolonisten aus dem südlichen Böhmerwald kamen in den Jahren von 1810 bis 1878 in die Schönbornsche Domäne und gründeten die Dörfer Unterhrabownitz (Rechendorf, Nyshnja Hrabovnica), Pusniak (Puznjakovci), Blaubad (Sinjak), Dorndorf (Dra yno), Kobalewitz (Kobalevyca), Dubi und Poliste bei Pidpolozja. Aus dem Komitat Hont (heute Nógrád) kamen Ungarndeutsche, die beim ukrainischen Dorf Suskovo die Kolonie Erwinsdorf (Nove Selo) gründeten. In der theresianischen Zeit wurden aus Oberösterreich auf Bitte von Ofen (Budapest) und des Komitats Marmorosch Kolonisten aus dem Salzkammergut angeworben, die sich 1775 am Oberlauf des Teresvaflusses niederließen und das Dorf Deutsch Mokra (Nimezjka Mokra) gründeten. Später entstanden weitere oberösterreichische Siedlungen: Königsfeld (Ustj- orna), Russisch Mokra (Ruska Mokra), Brustura, Dubow (Dubove), Tetsch (Tja evo), Buschtina (Buschtyno), Botschko (Welykyj Bytschkiv), Rachow (Rachovo), Bohdan, Jasinja. In den deutschen Straßensiedlungen wurden Kolonisten aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen in ukrainischen oder ungarischen Ortschaften angesiedelt: die Schwaben aus dem Schwarzwald in Unghvár (Užhorod), die Deutschen des Chemiewerks Bantlin AG in Pere yn (Peretschyn) und dessen Filiale in Turja Remeta und Turja Bystra, die Betriebssiedlung in Berehovo, das Eisenwerk von Dovhoje, die deutsche Straßensiedlung der Rheinpfälzer von Chust, die Deutschrumänen in Visk (Vyschkovo), die deutschen Arbeiter des Chemiewerks in Botschko (Bytschkovo) sowie die Arbeiter des Eisenwerks von Kobola Polena (Kobylecjka Poljana). Die Zipserdeutschen siedelten sich von 1810 bis 1880 in Karpaten-Ruthenien als Bergleute und Holzfäller aus der slowakischen Ober- und Unterzips an und gründeten die Dörfer Friedrichsdorf (Fridjeschovo), Sophiendorf (Sofija) bei Muka evo und die Zipserei in Rachovo (Melika 2002b: 46-51). Mit der Zeit verstreuten sie sich über ganz Subkarpatien. Nach Angaben von Anton Müller waren sie z.B. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in über 50 Ortschaften mit einer Gesamtzahl von etwa 13.000 Einwohnern vertreten. Vor dem Zweiten Weltkrieg erreichte die Gesamtzahl der Deutschen mit über 14.000 Personen, die in 81 Ortschaften des Gebiets sesshaft waren, ihren höchstenWert (Müller 1954). 3.2 Geschichte ab 1918 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Situation für die Deutschen zunehmend schwieriger. Mit der Annäherung der Front an die Orte der deutschen Siedlungen in der Ukraine begann die Zarenregierung, die Siedler nach Westrussland und nach Sibirien zu deportieren. Die meisten deportierten deutschen Kolonisten kamen zwischen 1918 und 1920 in die Ukraine zurück. Am 4. März 1917 bekam die Ukraine eine bürgerliche Regierung, den Ukrainischen Zentralrat, unter Führung von M. Hruševskij. Im Dezember proklamierte der in Charkiv ta- 3. Ukraine 91 gende Allukrainische Sowjetkongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten die Ukraine als Sowjetrepublik und Teil der RSFSR und sprach dem Zentralrat die Existenzberechtigung ab (Eisfeld 1992: 87). Nach der Volkszählung 1920 lebten auf dem Territorium der damaligen Ukraine 210.189 Deutsche; deren Verteilung zeigt Tabelle 2: Gouvernement Zahl Kyiv 4.500 Charkiv 3.350 Poltava 1.396 ernihiv 5.016 Kremen ug 463 Odessa 95.199 Mykolaiv 18.173 Katerinoslavsk 26.323 Doneck 55.769 Tabelle 2: Verteilung der Deutschen in der Ukraine 1920 (Yevtukh/ yrko 1994: 8) Wolhynien wurde in zwei annähernd gleiche Teile, das westliche Polnisch-Wolhynien und das östliche Sowjet-Wolhynien zerschlagen. In beiden Teilen arbeiteten sich die Kolonisten wieder empor. In Sowjet-Wolhynien erlebten die Kolonisten unter dem damals noch milden Regime sogar eine kurze Blütezeit. Das fast geschlossene deutsche Siedlungsgebiet um Heimthal wurde zum „Deutschen Rayon Pulin“ erklärt, mit deutscher Amtssprache und deutschen Schulen. Im Jahre 1926 fand die Unionsvolkszählung statt, nach deren Angaben auf dem Territorium der Ukraine von 29 Mio. Menschen insgesamt 23,2 Mio. Ukrainer, 2,7 Mio. Russen, 1,6 Mio. Juden, 476.400 Polen, 257.800 Moldawier, 104.700 Griechen, 92.100 Bulgaren, 75.800 Weißrussen, 15.900 Tschechen und 392.600 Deutsche (das entspricht 1,36 Prozent der Gesamtbevölkerung der Ukraine) waren (Yevtukh/ yrko 1994: 9-10). Eine Statistik aus dem Jahre 1930 weist aus, dass in Polnisch-Wolhynien 48.000 Deutsche in über 300 Kolonien lebten und 90 Schulen besaßen. In Sowjet-Wolhynien lebten schon 51.000 Deutsche, die ebenfalls 90 Schulen hatten (Rink 1959: 45). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden 50.000 Wolhyniendeutschen nach Deutschland gebracht. Ein Teil von ihnen kam wieder nach Wolhynien zurück, andere wanderten mit Hilfe ihrer Verwandten nach Amerika (Rink 1959: 49). In den Jahren 1923/ 24 gab es in Gouvernement Odessa 229 deutsche Dörfer und Kolonien, in Wolhynien 144, in Doneck 113, in Kyiv 23, in ernihiv 7. Insgesamt gab es auf dem Territorium der Ukraine zu dieser Zeit etwa 700 Dörfer, in denen die deutsche Bevölkerung überwog (Yevtukh/ yrko 1994: 10): „In der Ukraine waren von den 251 nationalen Dorfsowjets des Jahres 1925 98 Deutsche. Bis zum Jahre 1927 ist deren Anzahl auf 273 gestiegen. Auf der Krim gab es zur gleichen Zeit 33.“ (Eisfeld 1992: 102) Es existierten in der Ukraine 1925 fünf, 1926 vierzehn, 1927 zwölf und 1934 elf deutsche Volksgerichte (Pinkus/ Fleischhauer/ Ruffmann 1987: 81). Durch die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache gab es 1926 bereits 521 deutsche Schulen, in denen 38.736 Schüler unterrichtet wurden. Das waren 63 Prozent der Schulpflichtigen. Der Mangel an deutschsprachigen Funktionären und Lehrern wurde z.T. durch Juden ausgeglichen, da diese sich mit den Deutschen über das Jiddische verständigen konnten (Eisfeld 1992: 103). Die schwere wirtschaftliche Lage der deutschen Kolonien, die Konfliktsituationen, die mit religiösen Problemen verbunden waren und Benachteiligungen durch örtliche Behörden usw. führten dazu, dass die Deutschen auf dem Territorium der Ukraine das Land verließen. In den Jahren 1924/ 25 schloss diese Migrationsbewegung die Katerinoslaver, Donecker, Charkiver und Wolyner Governements ein. Viele deutsche Kolonisten sind nach Kanada emigriert. Die Migration umfasste hauptsächlich die Mennoniten. Diese Migrationsprozesse setzen sich auch am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahren fort (Yevtukh/ yrko 1994: 18-19). Nach der sowjetischen Volkszählung des Jahres 1926 betrug die Zahl der Krimdeutschen 43.631. Bei der Statistik für das Jahr Olga Hvozdyak 92 1926 fehlen nach Angabe des nachstehenden Kolonieverzeichnisses demnach 13.631 Personen. Der weitaus größte Teil davon fällt auf das städtische Deutschtum, das im Kolonienverzeichnis nicht berücksichtigt wurde. Eine im Jahr 1918 (während der Besetzung der Krim durch die deutschen Truppen) vom „Verband der Deutschen“ durchgeführte Privatzählung ergab etwa 314 deutsche Dörfer und etwa 60 Landgüter mit über 60.000 Einwohnern (einschließlich des städtischen Deutschtums). Unter dem Sowjetregime ist die Zahl der Deutschen rapide zurückgegangen; 1914 belief sie sich auf über 60.000, 1926 auf über 43.000 und nach der Volkszählung vom Jahre 1939 auf etwas über 14.000. Dieser Rückgang ist zum Teil auf die Hungerjahre 1920/ 22, zum größten Teil aber auf die Massenvertreibungen zurückzuführen. Der Rest wurde im Jahre 1941 (nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die UdSSR) nach Mittelasien und Sibirien verschleppt. Mit der Gründung der nationalen Verwaltungseinheiten erhob die kommunistische Regierung die jeweilige Nationalsprache auch zur Amts- und Unterrichtssprache. Die psychologischen Auswirkungen dieser Änderung können nicht hoch genug eingeschätzt werden, war es doch während des Ersten Weltkriegs verboten, in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen. Da die meisten kein Russisch oder Ukrainisch sprachen, war es für die Verständigung wichtig, dass Gesetze ins Deutsche übersetzt wurden und die lokalen Behörden und Gerichte auf Deutsch verhandelten. In der Sowjetunion konnten die nationalen Minderheiten ein Bildungswesen aufbauen, das vom Kindergarten bis zur Hochschule reichte: „In der Ukraine konnten bis 1931 bereits 98 Prozent der schulpflichtigen deutschen Kinder die Schule besuchen. Im Jahre 1932 gab es außer den Grund- und Mittelschulen 14 verschiedene Fachhochschulen, eine Arbeiterfakultät zur Vorbereitung auf ein Hochschulstudium, eine Abteilung am Pädagogischen Institut in Odessa. Weitere deutsche Fachhochschulen waren im Entstehen.“ (Eisfeld 2000: 20) In der Ukraine, einem der größten Siedlungsgebiete der Deutschen in der Sowjetunion, gab es in den Jahren nach 1934 etwa 250 bis 300 deutsche Dorfsowjets, von denen die meisten wiederum in acht bis zehn Bezirkssowjets vereinigt waren. Es gab in diesen Bezirken eine eigene nationale Miliz, und auch die Gerichtsverhandlungen wurden in deutscher Sprache durchgeführt. In der Republik erschienen in diesen Jahren sieben zentrale deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften, außerdem hatte jeder Bezirk seine eigene örtliche deutschsprachige Zeitung. In Odessa gab es eine deutsche pädagogische Hochschule und ein deutsches Theater. Außerdem gab es in den größeren Bezirkszentren sieben mittlere Fachschulen, darunter die berühmt gewordene Taubstummenanstalt in Prischib. In den Bezirken gab es die sogenannten Volkstheater, in den Dörfern Laienkunstgruppen. Der Schulunterricht wurde in deutscher Sprache abgehalten, so auch die Predigten in den Kirchen und alle anderen öffentlichen Veranstaltungen (Bosch/ Lingor 1990: 16). In den 1930er Jahren und zu Anfang der 1940er Jahre wurden viele Deutsche als „Volksfeinde“ oder „Spione“ verhaftet: „Allein in der Ukraine wurden in den Jahren 1937/ 38 122.237 Deutsche zum Tode, 65.603 zu Gefängnisbzw. Lagenhaft von 10 bis 25 Jahren und 7.180 zu Lagerbzw. Gefängnishaft von drei bis fünf Jahren verurteilt.“ (Eisfeld 2000: 21) Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte die Vereinigung fast aller Ukrainer in einem Staat, in der Sowjetunion. Auf der Konferenz von Jalta (1945) wurden neue Grenzen festgelegt. Die Sowjetukraine bekam neue Territorien: Ostgalizien und das westliche Wolhynien von Polen, die Nord-Bukowina und das südliche Bessarabien von Rumänien, die Karpaten-Ukraine von der Tschechoslowakei und ukrainisch besiedelte Gebiete von Ungarn. Die Ukrainische Sowjetrepublik umfasste 580.000 Quadratkilometer und hatte 41 Millionen Einwohner. In den Jahren 1944 bis 1946 fanden in Ostmitteleuropa große „ethnische Säuberungen“ statt. Über eine halbe Million Ukrainer wurden aus Polen in die Westukraine umgesiedelt, eine Million Polen aus der Ukraine 3. Ukraine 93 in die ehemaligen deutschen Gebiete. Etwa 100.000 Westukrainer wurden später nach Sibirien deportiert, gleichzeitig begann die Einwanderung von Russen. Diejenigen Ukrainer, die die deutsche Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit überlebt hatten und zurückkehrten, wurden zu einem großen Teil in Straflager gesteckt. Viele Ukrainer, die ehemaligen Zwangsarbeiter in Deutschland, emigrierten nach Kanada und in die USA oder blieben in Deutschland. Mit dem Tod Stalins (1953) änderte sich die Moskauer Politik gegenüber der Ukraine. Am 16. Juli 1990 erklärten die Werchowna Rada die Souveränität der Ukraine. Das bedeutete zwar noch nicht die Unabhängigkeit der Ukraine, doch betonte die Erklärung die Neutralität und das Recht auf eigene Streitkräfte. Am 19. November des gleichen Jahres erkannten sich die Russische und Ukrainische Republik in einem Vertrag gegenseitig Grenzen und Souveränität zu. Erstmals wurde von Moskau die politische Existenz der Ukraine offiziell anerkannt. Gleichzeitig ging die Oppositionsbewegung gegen die noch immer von Kommunisten dominierte Regierung weiter. In den Beziehungen zum sowjetischen Zentrum trat die Ukraine immer selbstbewusster auf. Am 24. August 1991 verkündete die Werchowna Rada die Unabhängigkeit der Ukraine und die Schaffung eines unabhängigen Staates der Ukraine. Am 5. Dezember 1991 beschloss das ukrainische Parlament, den Vertrag von 1922 über die Bildung der Sowjetunion zu kündigen. Zu dieser Zeit lebten die Deutschen in verschiedenen Regionen der Ukraine (vgl. Tabelle 3). Mit der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 und der Bildung unabhängiger Staaten begann für die Deutschen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ein neues Kapitel ihrer Geschichte. Nach der Volkszählung 1989 lebten in der Ukraine 37.849 Deutsche (vornehmlich verstreut im Süden bei Odessa und im Gebiet des Dnipro-Deltas sowie kompakt in Transkarpatien) (Nationaljnej sklad 2001: 7). Offenbar als Reaktion auf die russische Politik im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Staatlichkeit der Deutschen an der Wolga lud der damalige Präsident der Ukraine Leonid Krawtschuk am 23. Januar 1992 Deutsche aus Sibirien, Kasachstan und Mittelasien zur Umsiedlung in die Ukraine ein. Zur Betreuung der Umsiedler wurde der Ukrainisch-Deutsche Fonds gegründet, der durch die ukrainische Regierung sowie mit Mitteln aus Deutschland unterstützt werden sollte. Am 3. September 1996 wurde ein Abkommen zwischen den Regierungen der Ukraine und der Bundesrepublik Deutschland über die Zusammenarbeit bei der Förderung der deutschen Minderheit geschlossen: „Es formuliert in Artikel acht ausdrücklich die Verpflichtung Deutschlands zur Unterstützung der deutschen Minderheit in der Ukraine. In der Folge vereinbarte im Februar 1998 die Deutsch-Ukrainische Regierungskommission, die bisherigen Fördermaßnahmen in der Südukraine, vor allem im Gebiet Odessa, fortzusetzen. In der Stadt Odessa wurde 1993 mit Hilfe des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales und der Bayerischen Lutherischen Landeskirche ein Kulturzentrum, das Bayerische Haus, eingerichtet. Es verfügt über ein umfassendes kulturelles Angebot (z.B. Konzerte und Vorträge) sowie ein Sprachkursangebot. Zugleich versteht es sich als Zentrum deutsch-ukrainischer Begegnungen.“ (Heinen 2000: 28-29) 3.3 Die Deutschen von Transkarpatien Unter dem Begriff Transkarpatien (Karpatoukraine, Karpatenrussland, Ruthenien, ukr.: Zakarpattja, Zakarpatska oblast, Uhorska Rusj = Ungarisch Ruthenien, tschech.: Podkarpatska Rusj = Subkarpatisches Ruthenien, ung.: Kárpátalja) versteht man im politischadministrativen Sinn den ehemaligen Teil des Königreiches Ungarn, der 1. vom 10. bis zum 18. Jahrhundert zum ungarischen Königreich, 2. von 1711 bis 1861 zum ungarischen Protektorat der österreichischen Monarchie, 3. von 1861 bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Monarchie, 4. von 1919 bis 1939 zur tschechischen Republik gehörte. Olga Hvozdyak 94 in Tausend in Prozent der Gesamtbevölkerung Dnipropetrovsk 6,4 16,9 Doneck 6,3 16,7 Odessa 3,6 9,4 Transkarpatien 3,5 9,2 Krim 2,4 6,2 Zaporižja 2,3 6,2 Luhansk 2,0 5,2 Charkiv 1,5 3,9 Cherson 1,5 3,8 Mykolaiv 1,4 3,6 Tabelle 3: Ansiedlungsregionen der Deutschen in der Ukraine (Stand 1990) (O nazionaljnom sostojaniji naselenija Ukrainskoj SSR. Mimeograph 14.6.1990) 5. Von 1939 bis Ende 1944 befand sich das Territorium des heutigen Transkarpatiens unter der Macht von Ungarn (unter Horty). In dieser Zeit existierte in einem Teil der Region für einige Monate (1938-1939) die unabhängige Podkarpatska Rus (Karpats’ka Ukraina). 6. Nach 1945 war das Gebiet mit geringfügigen territorialen Änderungen innerhalb der Ukrainischen SSR ein Verwaltungsbezirk der sowjetischen Ukraine. 7. Seit 1991 ist Transkarpatien Bestandteil der unabhängigen, souveränen Republik Ukraine als separate administrative Einheit von gegenwärtig rund 12.800 km² mit einer Bevölkerung von 1.254.614 Einwohnern (Volkszählung 2001). Die multiethnische Bevölkerung, die nach der Volkszählung von 1930 über 725.000 Einwohner zählte, wuchs ständig an. Die Einwohnerzahl der Deutschen zu jener Zeit betrug 13.805 Einwohner. Nach der Reformpolitik der tschechoslowakischen Republik wurde die Bevölkerung Subkarpatiens verschiedenen politischen Interessen ausgesetzt. Darüber schrieb eingehend Nikolaus G. Kozauer (1979), indem er den Anteil aller Ethnien, auch der Deutschen, einer detaillierten Analyse bezüglich des politischen Lebens des Landes unterwarf. Sehr aktiv zu dieser Zeit war der „Deutsche Kulturverband“ (DKV), der sich für die Stärkung des Nationalbewusstseins und der Kultur der Karpatendeutschen einsetzte. Ein tragisches Schicksal erlitten die Deutschen, die in Transkarpatien teils dicht, teils verstreut siedelten. Ihre Zahl betrug um 1939 ca. 15.000. Etwa 2.000 Personen wurden vor Ankunft der Roten Armee nach Deutschland evakuiert: „Am 11. Oktober 1939 erklärte die Karpaten- Ukraine ihre Unabhängigkeit und fand bei der deutschen Regierung Verständnis und Unterstützung. Jedoch einige Monate darauf, als ihre Annexion durch das faschistische Regime in Ungarn unter Horty erfolgte, blieb Deutschland indifferent. Die gewaltsame Auflösung der Karpaten-Ukraine und ihre Aufteilung in Komitate der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie führte zu verborgenen und offenen Spannungen zwischen allen Ethnien des Gebiets sowie zu quantitativen Veränderungen ihrer Vertretung: Die Tschechen kehrten in ihre Herkunftsorte zurück, Tausende von Juden wurden interniert, die Ungarn, Deutschen und Rumänen wurden zu den Fahnen gerufen; viele junge Ruthenen flohen in die UdSSR, um nicht in der ungarischen Armee oder einem Arbeitslager zu enden. Zwischen den ethnischen Gruppen entstanden Spannungen vorrangig national-ideologischer Natur, die eher von Einzelgruppen als von der Gesamtheit der ungarischen, deutschen oder ruthenischen Bevölkerung getragen wurden: Die Mehrheit arbeitete wie gewohnt auf den 3. Ukraine 95 Feldern oder in Betrieben, ohne dass Konflikte und Auseinandersetzungen mit ethischem Hintergrund ausbrachen.“ (Melika 2002b: 185- 186) Ebenso wie die anderen Volksgruppen wurden auch die Karpatendeutschen zum Kriegsdienst eingezogen. Rund 8.000 Deutsche aus Transkarpatien wurden vertrieben (Wagner 1991: 18). Insgesamt wurden bis 1944 etwa 168.996 Transkarpatier deportiert (Melika 2002b: 193). Der Zweite Weltkrieg versetzte das Gebiet in eine dauernde Stagnation. In der Kriegszeit fiel die Einwohnerzahl des Gebiets von der 800.000-Grenze auf etwa 550.000 zurück. Viele Leute (meistens Angehörige der Intelligenz) waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, wo im Laufe des Jahres 1945 die stalinistische Maschinerie Tausende von Subkarpatiern vernichtete. Ein besonders schweres Schicksal widerfuhr in dieser Periode der deutschen Bevölkerung. In der Kriegszeit nahm die Zahl der deutschen Bevölkerung ständig ab: Von 1942 bis 1944 mussten die deutschen Männer zur Wehrmacht, 1944 flüchteten über 2.000 Deutsche vor der Sowjetarmee aus dem Land. Nach der Angliederung von Transkarpatien im Jahre 1945 an die Sowjetunion deportierten die Behörden mehrere Tausend Deutsche aus Transkarpatien nach Sibirien. Aus Angst, vertrieben zu werden, ließen sich sehr viele Deutsche als Ungarn, Slowaken oder Ukrainer einschreiben, wodurch sich die offiziellen Angaben über die Einwohnerzahl der Deutschen in Transkarpatien künstlich reduzierten. Nach 1945 wurden die meisten nach Sibirien verschleppt. Erst in der Zeit nach Stalins Tod, in den Jahren 1956 bis 1960, bekamen sie die Erlaubnis, nach Transkarpatien heimzukehren (vgl. Melika 2002b: 185-202). Allerdings konnten sie nicht immer in ihre Häuser zurück, weil sie entweder früher zerstört oder von „Verchovynci“ (Melika 2002b: 203) besetzt worden waren. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Bevölkerung des Gebiets nahezu verdoppelt. Zu Beginn der 1960er Jahre dürfte die tatsächliche Zahl der Deutschstämmigen ca. 8.000 betragen haben, obwohl die offiziellen Angaben nur von 3.000 bis 4.000 sprechen. Seit Beginn der 1980er Jahre wandern die Deutschen von Transkarpatien in großer Zahl nach Deutschland aus. Gegenwärtig dürfte die Zahl deutschstämmiger Personen noch höchstens etwa 5.000 betragen. Die Geschichte des Gebiets in der Nachkriegszeit kann in drei Abschnitte geteilt werden: erstens, die Zeit des totalitären Regimes von Stalin bis Breschnew; zweitens, die Zeit der sogenannten Perestrojka (mit Gorbatschow an der Spitze der Sowjetunion); drittens, die Zeit, in der Transkarpatien eine der 25 Gebiete der souveränen Republik Ukraine bildet. In der stalinistischen Zeit wurde eine Reihe von Rechten in der Verfassung proklamiert; die Wirklichkeit sah jedoch ganz anders aus. In Bezug auf die Sprach- und Nationalpolitik ist festzustellen, dass Russisch die einzige offizielle Sprache war. Russisch war die Sprache der Wissenschaft, die meisten Filme, Radio- und Fernsehsendungen waren auch auf Russisch. Russische Schulen existierten in den Städten in überproportionaler Zahl im Verhältnis zur russophonen Bevölkerung. Schulen mit ukrainischer Unterrichtssprache wurden wie die der ungarischen Volksgruppe eingestuft. Rumänischsprachige Einwohner erhielten Unterricht in moldauischer Sprache. In allen russischen Schulen der Sowjetukraine war Ukrainisch kein Pflichtfach. Russisch hingegen war in allen Schulen auf allen Stufen Pflicht. Ukrainisch wurde nur gelegentlich in lokalen Schriftstücken verwendet. Die deutsche Volksgruppe besaß keine eigenen Schulen und besuchte entweder ukrainische, russische oder ungarische Schulen. Im Jahre 1959 lebten in Transkarpatien 3.504 Deutsche, 1970 betrug die offizielle Einwohnerzahl von Deutschen in Transkarpatien 5.902; dies ist jedoch nach Einschätzung von Georg Melika nicht die reale Zahl (Melika 1994c: 291). Seiner Meinung nach lebten damals im Gebiet über 10.000 Deutsche: „Die soziolinguistischen Forschungen, die ich 1968-1970 in Pidhorod und Kutschava führte, beweisen, dass der reelle Sachverhalt anders ist als der amtliche: von 350 Pidhoro- Olga Hvozdyak 96 dern, die das „Schwobische“ als Muttersprache nannten, haben sich nur 70 Personen für ihre deutsche Volksangehörigkeit ausgesprochen, und nur bei 1/ 10 stand in ihren Pässen der Vermerk „Nationalität - deutsch“. (Melika 1994c: 291) Die in der Zeit und im Raum verlaufenden Veränderungen in der multinationalen Vertretung der transkarpatischen Bewohnerschaft, der mehrmalige Machtwechsel und der Übergang von einer Amtssprache zur anderen, die sich beschleunigende Entwicklung der Wirtschaft und Industrien, der unterschiedliche sozioökonomische Zustand der jeweiligen Ethnien, finden ihre Widerspiegelung im Lehngut der einzelnen Sprachen und Mundarten. Die gegenwärtige geographische Verteilung der Deutschen im multiethnischen Raum von Transkarpatien zeigt Abbildung 1. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Verteilung der Stadt-Land-Bevölkerung Den Volkszählungen von 1959, 1970, 1979, 1989 und 2001 zufolge leben mehr Deutsche in der Ukraine in der Stadt als auf dem Land. Wie sich die deutsche Stadt-Land-Bevölkerung in den einzelnen Regionen nach den Volkszählungen verteilt, ist in den Tabellen 11 und 12 im Anhang auf S. 142 wiedergegeben. 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im August 1991 begann dort eine Wiederbelebung des Deutschtums. In der Verfassung der Ukraine (1996) wurde die volle Gleichberechtigung aller Bürger erklärt, unabhängig von ihrer nationalen, konfessionellen u.a. Zugehörigkeit. Also erhielten die Deutschen der Ukraine das Recht, eigene Vereine zu gründen, deutsche Schulen und Kindergärten zu eröffnen, eine eigene Presse zu haben, deutsche Sendungen in Radio und Fernsehen auszustrahlen. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine erwarben viele deutschstämmige Bewohner wieder ihre deutsche Volksangehörigkeit (wenngleich meistenteils, um das Recht zu bekommen, in die Bundesrepublik auszuwandern). Derzeit (Stand 1.1.2003) gibt es in der Ukraine 785 national-kulturelle Gesellschaften, von denen 530 von den Vertretern der größten ethnischen Gemeinschaften gegründet wurden; im Einzelnen: 62 russische, 99 griechische, 93 jüdische, 55 deutsche, 54 polnische, 33 aserbaidschanische, 31 armenische. Die Deutschen der Ukraine sind in drei offiziell registrierten Organisationen vertreten: 1. der Internationalen Organisation der Deutschen „Wiedergeburt“; 2. der Assoziation der Deutschen der Ukraine; 3. dem Verein „Deutsche Jugend in der Ukraine“. In den Jahren 1989 bis 1991 wurden auf dem Territorium der Ukraine 18 Gesellschaften mit dem Namen „Wiedergeburt“ gegründet. Das Hauptziel der Tätigkeit der Gesellschaft „Wiedergeburt“ ist die Förderung der national-kulturellen Wiedergeburt des deutschen Volkes in der Ukraine und somit das Erlernen und Verbreiten der deutschen Geschichte, Sprache und Kultur, sowie die Unterstützung bei der Wiederbelebung der deutschen Muttersprache. Die Rolle der Gesellschaft „Wiedergeburt“ ist ziemlich groß. Im Gebiet Doneck zum beispielsweise wurde diese Gesellschaft am 16. September 1989 gegründet. Am 1. Dezember 2000 zählte sie bereits 2560 Mitglieder. Stadt- und Rayonabteilungen existieren in Mariupol, Artjomovsk, Dimitrov, Schachtjorsk, Novoasovsk, Horlovka, Konstantinovka, Volodarskoje, Tores, Novhorodskoje, Slavjansk. Auf Initiative und mit Unterstützung der Gesellschaft „Wiedergeburt“ in diesem Gebiet wurden 1994 das Zentrum der deutschen Kultur des Gebiets Doneck „Deutsche Quelle“, 1997 der Verein der deutschen Jugend „Junge Welt“ (2001 legalisiert), 1999 die Assoziation der deutschen Unternehmer des Gebiets „Deutsches Heim“ sowie der Unterstützungsfonds des Handwerks und Gewerbes (1995) und die deutsche evangelisch-lutherische Gemeinde gegründet. Außerdem wurden neun Sonntagsschulen er- 3. Ukraine 97 Abb. 1: Ethnische Minderheiten in Transkarpatien öffnet, wo etwa 600 Menschen verschiedenen Alters die deutsche Sprache erlernen. Es werden regelmäßig Vorlesungen in der deutschen Geschichte und Kultur für Mitglieder der Gesellschaft abgehalten. Die Jugend wird in die Sprachlager, die vom Goethe-Institut in Kyiv, der Gesellschaft für Entwicklung Odessa und dem internationalen Verband der deutschen Kultur (BZ Mamontovka) durchgeführt sind, geschickt. Eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung des Deutschtums in der Ukraine spielen Deutsche Heime (z.B. das Deutsche Haus in ernivci). So wurde z.B. der Lviver Gebietsverein „Deutsches Heim“ im Jahre 1992 auf der Basis der städtischen Gesellschaft „Wiedergeburt“ organisiert. Zurzeit leben im Lviver Gebiet über 650 deutsche Familien, die sich fast vollständig der einheimischen Bevölkerung assimiliert haben. Die meisten Deutschen dieses Gebiets und anderer Gebiete wollen in der Ukraine bleiben, aber gleichermaßen ihre nationale Identität, Sprache, Kultur, Sitten und Bräuche, ihre Beziehungen zu Deutschland usw. wiederbeleben. Gerade damit beschäftigt sich das gegründete „Deutsche Heim“, dass etwa 250 Mitglieder zählt; der Verein unterhält die Sonntagsschule. Auch beim Deutschen Heinrich-Neuhaus-Kulturzentrum in Kirovohrad (gegründet 1996) gibt es eine Sonntagsschule mit Deutschstunden, einen Kinderchor und einen Frauenklub. Im November 1996 fand im „Ukrainischen Haus“ der erste Kongress der Deutschen der Ukraine statt, an dem die deutsche Minderheit in der Ukraine als eine geschlossene Einheit auftrat (Kongreß 1996). An der Arbeit des Kongresses beteiligten sich 166 Abgesandte aus allen Gesellschaften der „Wiedergeburt“ in der Ukraine. Auf dem Kongress wurde die „Konzeption des Programms, ethno-soziale Wiedergeburt und Entwicklung der deutschen Minderheit in der Ukraine (der Gemeinschaft der Deutschen der Ukraine)“ dargelegt. Der Vorsitzende des Volksrates, Heinrich Groth, sagte in seinem Vortrag, dass in Olga Hvozdyak 98 der Ukraine die Deutschen mindestens in 90 Prozent aller Fälle in gemischten Ehen leben und es dabei durchschnittlich zwei Kinder pro Familie gebe, die sich in überwiegender Mehrheit als Deutsche eintragen ließen. Seiner Meinung nach könne sich so aus der Zahl 40.000 laut der Statistik von 1989 eine reale Zahl von etwa 100.000 ergeben. Nach seinen Angaben, wohnen die Deutschen in allen 25 Gebieten der Ukraine ausschließlich verstreut und bilden nirgends geschlossene Siedlungen außer im Kreis Muka evo (Transkarpatien). Jetzt wandern von hier ca. 60 Prozent der Deutschen nach Deutschland aus. Nach Groths Angaben sind im Zeitraum von 1987 bis 1996 etwa 30.000 Deutsche und ihre Familien ausgereist. Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ in Transkarpatien wurde im Juli 1990 gegründet. Der volle Name der Gesellschaft lautet: Zakarpatske oblasne hromadsko-polity ne ta kulturno-prosvitne tovarystvo rad’anskych nimciv „Vidrodžen’a“ (Transkarpatische gesellschaftlich-politische und kulturell-aufklärende Gebietsvereinigung der sowjetischen deutschen „Wiedergeburt“). Vom Exekutivkomitee des Gebietsrats der Abgeordneten der Werktätigen wurde der Beschluss Nr. 186 vom 18. September 1990 gefasst, das Statut der transkarpatischen Gebietsgesellschaft der sowjetischen deutschen „Wiedergeburt“ zu registrieren, wodurch die Gesellschaft als juristische Organisation offiziell anerkannt wurde. Dieses Statut war bis 1992 gültig. Am 13. Dezember 1992 fand die Konferenz statt, auf der das neue Statut auf Ukrainisch verfasst wurde. Bei den Vorbereitungen des neuen Statuts entstanden in der Leitung der transkarpatischen Gesellschaft Auseinandersetzungen, was zur Spaltung der Gesellschaft „Wiedergeburt“ führte. Im Juli 1992 wurde von einer Initiativgruppe eine neue Gesellschaft der Deutschen von Transkarpatien gebildet. Am 15. März 1993 fand in Anwesenheit von 111 Beteiligten ihre erste Versammlung statt. Der Kernkonflikt bestanden in der grundsätzlichen Frage, ob die deutschen Gemeinschaften die Gebietsadministration für eine Autonomie Transkarpatiens im Rahmen der Ukraine unterstützen oder dagegen auftreten. Die neue Gesellschaft „Nadija“ (Hoffnung) wollte eine von den politischen Kreisen des Gebiets ökonomische und kulturelle Absonderung Transkarpatiens. Diese Gesellschaft kopierte die Ziele und Aufgaben der „Wiedergeburt“ oder formulierte sie anders, ohne den Inhalt zu ändern. V. Ilnyckyj schrieb, dass das Programm u.a. folgende Punkte vorsah: „Die Übergabe des ehemaligen Kindergartens Nr. 4 in Palanka, die einst die Schule unserer Väter und Mütter war, welches zum Haus der deutschen Kultur und dem Sitz der deutschen Vertretung Transkarpatiens werden soll; die Renovierung des Friedhofs in Palanka; die Realisation einer strengen Kontrolle bei der Verteilung der humanitären Hilfe, die aus Deutschland und Österreich für die Armen der entsprechenden Ortschaften kommt; ein friedliches nebeneinander Leben mit den Ukrainern des Gebiets weiterhin zu behalten…“ (Ilnyckyj 1993: 6). Sehr viel für die Wiederbelebung des Deutschtums in Transkarpatien haben die Volksfestivals der deutschen Kultur gebracht. Das erste Festival der deutschen Kultur wurde im Oktober 1990 in Unterschönborn veranstaltet; es beteiligten sich Laienkunstgruppen aus allen Ortschaften mit deutscher Bewohnerschaft daran. Darauf folgten Festivals der deutschen Kultur in Chust, in Pausching, in Palanka. Seit 1994, als im Gebäude des Kindergartens das deutsche Kulturhaus gegründet wurde, finden die Volksfestivals der deutschen Kultur im September jedes Jahres statt. An diesem Festival nehmen auch die Gäste aus In- und Ausland, z.B. aus Bamberg, Ingolstadt, Villach, Matészálka (Ungarn) etc., mit ihren Programmen teil. Seit 1991 wird viermal monatlich die deutsche Sendung mit dem Titel „Wort und Bild aus Transkarpatien“ vom Gebietsfernsehen in Užhorod ausgestrahlt, die das Leben der Karpatendeutschen thematisiert. Man muss jedoch feststellen, dass sich der Assimilationsprozess insgesamt beschleunigt. Die Gefahr der Auflösung des Deutschtums in Transkarpatien veranlasste den Lehrkörper des Lehrstuhls für deutsche Philologie an der Universität Užhorod, die deutschen Mundar- 3. Ukraine 99 ten zu erforschen, bevor diese verschwinden würden. An der Universität Užhorod wurde eine Forschungsgruppe „Deutsche Kulturrealien im interethnischen Raum von Transkarpatien“ (Leiter der Forschungsgruppe ist Georg Melika) gegründet, die allumfassend das Deutschtum von Transkarpatien erforscht und mit vielen Universitäten und Forschungsinstituten Deutschlands und Österreichs zusammenarbeitet. Eine wichtige Rolle im Prozess der Wiederbelebung des Deutschtums in der Ukraine spielt auch der Verein „Deutsche Jugend in der Ukraine“, der Unterorganisiationen in mehr als 20 Regionen der Ukraine hat. Seit September 2000 erscheint einmal im Monat die allukrainische Jugendzeitung „Jugendwelt“ in drei Sprachen (Deutsch, Ukrainisch und Russisch) und seit 1992 die Zeitung „Deutscher Kanal“. 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelung Die Ukraine hat erst die ersten Schritte bei der Wiederbelebung des Deutschtums gemacht. Eine wichtige Etappe dabei war die Anerkennung des Gesetzes „Über die Sprachen in der Ukrainischen RSR“ (1989), dem zufolge allen ethnischen Minderheiten in der Ukraine die Entwicklung ihrer Sprache (Art. 3) und jedem Bürger das Recht, eine beliebige Sprache zu sprechen, (Art. 5) garantiert wird. Der Staat geht gegen jedwede sprachliche Diskriminierung vor (Art. 8). Die Gesetzgebung der Ukraine im Bereich des Schutzes der Rechte der nationalen Minderheiten in der Ukraine basiert auf den Prinzipien und Normen der internationalen Rechte; sie umfasst folgende Gesetze: „Die Verfassung der Ukraine“ (1996), die Gesetze der Ukraine „Über die nationalen Minderheiten in der Ukraine“ (1992), „Über die Ratifikation der Ramenkonvention des Europarates über den Schutz der nationalen Minderheiten“ (1998), „Die Ramenkonvention über den Schutz der nationalen Minderheiten. Straßburg, den 1. Februar 1995“ (ratifiziert durch das Gesetz Nr. 703/ 97 des Obersten Rates vom 9. Dezember 1997), die „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ (ratifiziert durch das Gesetz der Ukraine Nr. 802-IV vom 15. Mai 2003). Im Gesetz der Ukraine „Über die nationalen Minderheiten in der Ukraine“ von 1992 werden allen Bürgern, unabhängig von ihrer nationalen Abstammung, gleiche bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle u.a. Rechte und Freiheiten garantiert. Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes ergeben sich für die Deutschstämmigen neue Perspektiven der Selbstverwaltung. Eine wichtige Etappe bei der Lösung der Probleme der nationalen Minderheiten war die Verabschiedung der Verfassung der Ukraine (28. Juni 1996), die sowohl die Konsolidierung und Entwicklung der ukrainischen Nation, ihr historisches Bewusstsein, Traditionen und Kultur, als auch die sprachlichen und religiösen Eigenarten aller bodenständigen Volksgruppen und nationalen Minderheiten fördert (Art. 11). Im Artikel 119 der Verfassung der Ukraine wird garantiert, dass die Ortsstaatsadministrationen „in Gebieten des kompakten Lebens der nationalen Minderheiten“ die Erfüllung der staatlichen und regionalen „Programme ihre nationale und kulturelle Entwicklung“ garantieren. Außerdem wird in der Ukraine nicht nur „die freie Entwicklung, der Gebrauch und Schutz (…) der Sprachen der nationalen Minderheiten garantiert“ (Art. 10), sondern auch „das Recht auf das Lernen in der Muttersprache oder auf das Erlernen der Muttersprache in staatlichen und kommunalen Lehranstalten oder durch die nationalen Kulturgesellschaften“ (T. 5, Art. 53). Die politischen Rechte der nationalen Minderheiten werden auch durch Artikel 9 und 14 des Gesetzes „Über die nationalen Minderheiten in der Ukraine“ garantiert (Zakon Ukraine „Pro nazionaljni menschene w Ukraini“ 1992). Entsprechend diesem Gesetz bekamen 27 Siedlungen von Transkarpatien ihre historische Namen wieder, darunter auch zwei deutsche (Pausching und Schönborn). Ein weiteres Dokument, das die Weiterentwicklung der nationalen Minderheiten in der Ukraine garantiert, ist das Gesetz der Ukraine „Über die Ratifikation der Ramenkon- Olga Hvozdyak 100 vention des Europarates über den Schutz der nationalen Minderheiten“ (Widomosti Werchownoji Rady (WWR) 1998: 56). Im Jahr 2000 wurde „Die Konzeption der ethno-nationalen Politik der Ukraine“ angenommen, die neuere Möglichkeiten für die Entwicklung der nationalen Minderheiten in der Ukraine eröffnete. 4.4 Die deutschen Schulen und der Deutschunterricht in den Schulen der Ukraine Auf dem Territorium der heutigen Ukraine gab es im 19. Jahrhundert ziemlich viele deutsche Schulen. So existierten z.B. im Jahre 1865 auf der Krim 180 deutsche Dorfschulen, zwei zentrale Fachschulen (in Neusatz und Zürichtal) und ein Gymnasium für Mädchen. Für die Fortsetzung des Studiums wurden die Kinder nach Deutschland geschickt. In Wolhynien waren die deutschen Schulen von 1914 bis 1919 geschlossen, weil die meisten Deutschen nach Sibirien deportiert wurden. Im Jahre 1923 gab es im Gouvernement Odessa 116 deutsche Schulen (Yevtukh/ yrko 1994: 37). Im Schuljahr 1924/ 25 gab es in der Ukraine insgesamt 566 deutsche Schulen. Im folgenden Schuljahr gab es schon 625. Zu dieser Zeit gab es in der Ukraine 60.856 Kinder deutscher Nationalität (Yevtukh/ yrko 1994: 37). Zu Beginn des Schuljahres besuchten bereits 89,3 Prozent der Kinder deutscher Nationalität diese deutschen Schulen, am Ende schon 96,3 Prozent (Yevtukh/ yrko 1994: 38). Die Deutschlehrer wurden in Odessa am deutschen pädagogischen Institut und in Chortiza an der deutschen pädagogischen Schule ausgebildet (Yevtukh/ yrko 1994: 39). Im Jahre 1932 gab es im Westen Wolhyniens 30 deutsche Privatschulen, die von 1.804 Kindern deutscher Nationalität besucht wurden. Diese deutschen Privatschulen existierten jedoch nicht lange. Im Jahre 1939 wurden die letzten fünf deutschen Schulen geschlossen. In Transkarpatien waren entsprechend dem ungarischen Schulgesetz aus dem Jahr 1868 die Volksschulen 6-jährig. Ab 1879 wurde der Unterricht in der Muttersprache stetig reduziert, bis zuletzt nur noch Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache blieben. Nach dem Apponyischen Schulgesetz von 1907 intensivierte sich der Prozess der Magyarisierung. Das führte dazu, dass die kleineren deutschen Gemeinschaften (Ungvár, Beregszász u.a.) nur noch Ungarisch sprachen: „Die Volksschulen mit deutscher, ruthenischer oder slowakischer Unterrichtssprache wurden zu ungarischen Schulen mit 7 bis 8 Wochenstunden Unterricht in der Muttersprache entwickelt. Deutsch wurde oft von ungarischen Lehrern erteilt, die über passable Deutschkenntnisse verfügten“ (Melika 2002b: 218). Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Angliederung der oberungarischen Komitate im Jahre 1919 an die Tschechoslowakei wurde das Schulwesen der Region reformiert. So gab es z.B. im Jahre 1921 auf dem Territorium von Subkarpatien 321 ruthenische, 83 ungarische, 22 tschechische und slowakische, 7 deutsche, 4 rumänische und 36 gemischtsprachige Schulen. Im Jahre 1930 gab es schon 17 deutsche Schulen. Für kleinere deutsche Gemeinschaften richtete man in nichtdeutschen Schulen parallele deutsche Klassen ein (Melika 2002b: 218). Die Schulreform hatte einen positiven Einfluss auf die Deutschkenntnisse: Im Jahre 1930 konnten von 9970 Deutschen, die älter als zehn Jahre waren, 9467 Deutsch lesen und schreiben (Kozauer 1979: 157). In größeren Ortschaften (z.B. in Palanka) gab es deutsche Kindergärten, die in die Volksschulen integriert waren. Im Schuljahr 1930/ 31 wurde eine deutsche Bürgerschule in Muka- evo gegründet (Müller 1954: 205; Kozauer 1979: 165). Sie arbeitete in den Jahren von 1939 bis 1944 nach einem staatlichen Programm für Schulen mit deutscher Unterrichtssprache. Nach 1939 war jedoch die Zahl der deutschen Lehrkräfte zurückgegangen; die Volksschulen wurden 8-jährig mit obligatorischem Unterricht der ungarischen Sprache. Der Unterricht wurde von Lehrern durchgeführt, die meistens nur ungarische Sprachkenntnisse hatten. Das führte dazu, dass das deutsche Schulnetz merklich zusammenschrumpfte (Kulja 1998: 37). Da es im Gebiet keine Hochschule gab und der Unterricht in den Gymnasien, Leh- 3. Ukraine 101 rerseminaren, Technika, Landwirtschafts- und Handelsakademien auf Tschechisch und in den Kriegsjahren auf Ungarisch stattfand, besuchten die meisten deutschen Schüler tschechische, später ungarische Gymnasien (Müller 1954: 204). In diesen Lehranstalten überwog die deutsche Sprache als Fremdsprache bzw. Nationalsprache für die deutsche Minderheit; nur selten wurde Französisch oder Englisch angeboten. Im Jahre 1945 wurde die Karpaten-Ukraine an die Sowjetunion angeschlossen, und die deutschen Volksschulen wurden zu ukrainischen und russischen 7-jährigen Schulen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten die Deutschen des Gebiets keine eigenen staatlichen Schulen (Melika 1997: 105-118). Die deutsche, englische und französische Sprache wurde ab 1945 in allen Schulen nur als Fremdsprache unterrichtet. Im Jahre 1946 wurde in Transkarpatien die staatliche Universität in Užhorod gegründet, an der seit 1962 ein Lehrstuhl für deutsche Philologie existiert. Die Deutschstämmigen bekamen die Möglichkeit, an dieser Abteilung eine Hochschulbildung zu erhalten. Derzeit (2004) studieren an dieser Abteilung fünf Deutsche. Heutzutage gibt es in der Ukraine keine Nationalschule, an der Deutsch als Muttersprache unterrichtet wird. Es gibt nur deutsche Gruppen in den Kindergärten, wie z.B. im Dorf Pausching (Transkarpatien), wo die Kinder deutscher Abstammung die Sprache ihrer Urgroßeltern erlernen und sprechen. In den Schulen wird Deutsch nur als Fremdsprache unterrichtet. Allerdings wird aktuell in der Ukraine viel getan, um die deutsche Sprache wiederzubeleben. So wurden z.B. in Doneck mit der Unterstützung der „Wiedergeburt“ neun Sonntagsschulen (in Doneck, Mariupol, Schachtjorsk, Slavjansk, Slavjanogorsk, Dimitrov, Artjomovsk, Tores, Gorlovka) eröffnet. Dort lernen etwa 600 Menschen verschiedenen Alters. Es gibt Olympiaden zur deutschen Sprache und Landeskunde für die Lernenden dieser Sonntagsschulen. Die Lehrer werden zweimal pro Jahr zur Weiterbildung bei der Vertretung der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (Odessa) delegiert. Es werden regelmäßig Vorlesungen in der deutschen Geschichte und Kultur für Mitglieder der Gesellschaft abgehalten. Es gibt Feriensprachkurse für Jugendliche, die vom Goethe-Institut in Kyiv, der Gesellschaft für Entwicklung Odessa und dem internationalen Verband der deutschen Kultur (BZ Mamontovka) veranstaltet werden. 4.5 Das Kirchenleben der Deutschen von Transkarpatien Ein wichtiger Indikator einer ethnischen Gruppe ist die Religion, und zwar genauer das Funktionieren der Kirche. Die meisten Deutschen in der Ukraine gehören zur römischkatholischen (45,8 Prozent) und evangelischen (lutheranischen) (26 Prozent) Kirche, wenige gehören zu den Orthodoxen; etwa 15 Prozent sind konfessionslos. Etwa 37 Prozent der Gläubigen besuchen regelmäßig den Gottesdienst (Yevtukh/ yrko 1994: 93). Im Jahre 1926 gab es auf dem Territorium des heutigen Transkarpatiens sechs römischkatholische Pfarreien, die für den größten Teil der deutschen Bevölkerung zuständig waren. Es handelt sich um die Pfarrei von Muka evo mit drei Priestern für zehn Kirchen und 61 Stationen; die Pfarrei von Oberschönborn mit einem Priester für fünf Kirchen und 18 Stationen; die von Bardhaus mit einem Priester für 37 Stationen; die von Plankendorf mit einem Priester für sechs Stationen; die von Dorndorf mit einem Priester für 56 Stationen; und schließlich die von Deutsch Mokra mit einem Priester für acht Stationen. Ein Teil der Deutschen Subkarpatiens besuchte die römisch-katholischen Kirchen in Užhorod, Berehovo, Chust, Tja evo, Rachovo und anderen Ortschaften, wo Teile der römischkatholischen ungarischen und slowakischen Bevölkerung sesshaft waren (Melika 2002b: 234). Von den 13.804 Deutschen, die im Jahre 1930 auf dem Territorium des heutigen Transkarpatiens lebten, gehörten 13.248 zur römisch-katholischen Kirche, 252 zur evangelischen und reformierten, 90 zur griechischkatholischen, 2 zur orthodoxen, 130 zur jüdischen, 8 zu einer anderen Religion und 44 zu keiner (Melika 2002b: 237). Die Bindung der hiesigen Einwohner an ihre Kirche wird in Olga Hvozdyak 102 vielen Abhandlungen als sehr innig beschrieben (Müller 1954: 198, Kozauer 1979: 167). Sehr oft war das einzige Buch im Bauernhaus der Karpatendeutschen die Bibel. In den Jahren 1949 bis 1951 wurden die meisten römischkatholischen und griechisch-katholischen Priester und Pfarrer verhaftet und vor Gericht gestellt. Ihnen wurde antisowjetische Agitation durch Religionsunterricht der schulpflichtigen Kinder vorgeworfen (Melika 2002b: 242). 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Nach Berend ist es so, dass „die Entwicklung der sprachlichen Struktur bzw. die Konstituierung des Sprachinseldialektes in den Sprachinseln unterschiedlich ist und von vielen Faktoren abhängt. Als gemeinsamer und für alle Sprachinseln gültiger Faktor, der die Sprachentwicklung von außen bewirkt, kann die Kontaktsprache oder die Sprache der Umgebung betrachtet werden. Das ist in der Regel die den Inseldialekt überdachende sprachliche Varietät wie z.B. das Russische in den deutschen Sprachinseln Russlands. Der Sprachkontakt zur überdachenden Fremdsprache ruft in den Sprachinseldialekten verschiedene Sprachkontakt-Erscheinungen hervor und kann letztlich zu einer Mischvarietät zwischen dem Inseldialekt und der überdachenden Fremdsprache führen (z.B. zur deutsch-russischen Mischvarietät in Russland). Diese infolge des Sprachkontakts entstandene Mischvarietät kann als letzte Vorstufe zum Sprachwechsel, d.h. zur Aufgabe des Sprachinseldialekts zugunsten der überdachenden Fremdsprache, betrachtet werden.“ (Berend 1994: 319) Berend spricht von der Auflösung der Sprachinseldialekte, die durch intensiven Kontakt mit der fremden Überdachungsvarietät hervorgerufen wird. Der Kontakt mit einer fremden Sprache wird so zum gefährdenden Faktor für die Existenz der Sprachinseldialekte (vgl. Berend 1994: 319). Das Problem der Kontaktsprachen des Deutschen ist auch in der Ukraine sehr komplex. Zwar wurde die ukrainische Sprache (nach der Unabhängigkeitserklärung 1991) als Staatssprache festgelegt, doch im Süden und Osten der Ukraine tritt noch das Russische als Kontaktsprache auf - auch bei vielen ethnischen Ukrainern. Im Westen der Ukraine (Lviv, Iwano-Frankiwsk, ernivzi usw.) wird jedoch Ukrainisch (bzw. ukrainische Dialekte) gesprochen. Ein besonderes Interesse verdient das Problem der Kontaktsprachen im multiethnischen Transkarpatien. Die Beherrschung mehrerer Sprachen und ihrer Mundarten ist in Transkarpatien eine verbreitete Erscheinung. Historisch bedingt ist es so, dass in Transkarpatien die Kontaktsprachen bei verschiedenen Generationen unterschiedlich sind. So wird z.B. von der älteren Generation als Kontaktsprache öfter Ungarisch (bzw. ein ukrainischer Dialekt) gebraucht. Die ältere Generation (vor 1930 geboren), die im tschechoslowakischen Subkarpatien die Schule beendet hatte (im Folgenden „Generation I“), beherrscht auch Tschechisch. Dies wird aber kaum noch als Umgangssprache verwendet, die Generation I beherrscht es wohl eher nur mehr passiv. Die deutsche Bevölkerung der älteren und mittleren Generation in Transkarpatien, die meist auf dem Lande wohnt, verwendet als Alltagssprache in der Regel die ukrainische bzw. ungarische Mundart mit einigen regionalen Besonderheiten auf der lautlichen und der lexikalischen Ebene. Bei der Generation II (den zwischen 1930 und 1945 Geborenen) treten heutzutage lediglich Ungarisch bzw. Russisch als Kontaktsprachen auf. Seit der Unabhängigkeitserklärung wird öfter die ukrainische Mundart (Ruthenisch) verwendet. Die Kontaktsprache für die Generation III (die zwischen 1946 und 1970 Geborenen) ist meist entweder Ungarisch oder Russisch oder die ukrainische Mundart. Die ukrainische Standardsprache wird beherrscht, aber nur in bestimmten offiziellen Situationen verwendet. Der Gebrauch der ukrainischen Standardsprache hängt auch von der Bildung der Gewährsperson ab. Für die Generation IV (die zwischen 1971 und 1990 Geborenen) dient als Alltagssprache Ukrainisch bzw. die ukrainische Mundart. Die Stadtbewohner gebrauchen auch die russische Sprache. Die ungarische Sprache wird 3. Ukraine 103 seltener gebraucht. Gegen Mitte der 1980er Jahre sprach die deutschstämmige Jugend in Transkarpatien fast kein Deutsch mehr; zu ihrer „Muttersprache“ wurde die ukrainische, die ungarische und bei manchen die russische Sprache (Hvozdyak/ Melika 2002b: 211-222). In den letzten Jahren vollzog sich eine Wende in der Entwicklung der Mehrsprachigkeit. Die russische Sprache, die von 1945 bis Mitte der 90er Jahre in Transkarpatien im Verkehr aktiv war, fungierte gewöhnlich als Verständigungssprache zwischen der einheimischen deutschen Bevölkerung und den Russen. Jetzt wird sie seltener gebraucht; inzwischen nimmt die ukrainische Sprache in Transkarpatien die dominierende Position ein. Eine neue Belebung erfährt auch die ungarische Sprache. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard (geschriebengesprochen) Der regionale Standard der deutschen Sprache (geschrieben) wird im Wesentlichen nur von der Generation verwendet, die bis 1939 zumindest einige Klassen der deutschsprachigen Schule absolvieren konnte. Das ist in der Regel bei den Vertretern der Urgroßelternbzw. Großeltern-Generation (Generation I), die in der Schule Deutsch schreiben, lesen und rechnen gelernt hatten. Gemessen an den schriftsprachlichen Standards ist die Beherrschung jedoch meist mangelhaft. Dies sei an zwei Tagebucheinträgen illustriert: (1) a. Ihr seit zu uns gekommen zum aushilf den Armen. Die Weschen, die ihr gebracht haben felten uns nicht. Und ihr seht alein was es war gescheen… Wir Bürger Palanok schemen sich, den stoserei was dort war, bezeugte, das unser Volk ist ein ferhungerte Nation… Die, welche richtig hatten Not der Kleidung, können nicht dazu kommen, den sie alt und krank sind… Nach dieser Geschicht wird nur eine Klatscherei Zorn sein, das einige haben bekommen, und die Merheit bekomte es keine nicht… . Schade, das ich inen bezeugen kan, das eure geschenk Kleidung die verteilt wurden % 80 [d.h.: 80 Prozent billiger] auf Markt ferkauft werden im Sonntag… b. Viele von den Deutschen Leuten aus Karpatenland hatt der Tot das Lebengenommen in Sibirien. Die Gräber verlasen kein Licht, kein Kranzwird zu den Tag aller heiligen ihre Gräber schmücken. Ihre Gräber wird auch nimand ferneuern so das verlassen führ imer und fergesen die Erinerung ist die Kleine fotografi was dafon gebliben ist. Die Feld blumen möge der Libe Gott auf ihre gräber pflanzen. Die Vögel solen ihr lider singen das der Fridhoff in den sie Ruhen nicht ganz verlassen bleibt. In diesen Auszügen gibt es zahlreiche orthographische und grammatische Abweichungen von der Standardsprache, z.B. im Bereich der Groß- und Kleinschreibung (aushilf, stosetrei, fotografi, lider, blume, gräber usw.), bei der Graphie des Doppelkonsonanten (solen, Erinerung, alein, das, imer, fergesen, kan, den), Dehnungsmarkierungen (lider, Fridhoff, Merheit, gescheen, nimand, inen), bei der v-Schreibung (fergesen, ferhungern, dafon), beim Umlaut (Weschen, schemen sich), bei der Wortfolge im Satz (Und ihr seht alein was es war gescheen… Die, welche richtig hatten Not der Kleidung, können nicht dazu kommen, den sie alt und krank sind… Die Gräber verlasen kein Licht, kein Kranzwird zu den Tag aller heiligen ihre Gräber schmücken.); ferner im Gebrauch von Präpositionen (Schade, das ich inen bezeugen kan, das eure geschenk Kleidung die verteilt wurden % 80 auf Markt ferkauft werden im Sonntag…), von Reflexivpronomen (Wir Bürger Palanok schemen sich…), der Negation (und die Merheit bekomte es keine nicht… Schade), beim Genus der Substantive (das unser Volk ist ein ferhungerte Nation) oder in der Verbflexion (felten, bekomte, felten uns nicht). Zudem lassen sich lexikalische und semantische Interferenzen beobachten, die unter Wirkung der ukrainischen, russischen und ungarischen Sprache im Text entstanden sind (Die Feld blumen möge der Libe Gott auf ihre gräber pflanzen. Die Vögel solen ihr lider singen das der Fridhoff in den sie Ruhen nicht ganz verlassen bleibt.). In ähnlicher Olga Hvozdyak 104 Schreib- und Ausdrucksweise ist ein Tagebuch verfasst, das ein Internierter in Tjumen geschrieben hat (vgl. dazu Hvozdyak/ Melika 2002b: 221). Die uns von Deutschen zur Verfügung gestellten Materialien sind stark von Formen der Mündlichkeit geprägt. Es werden hier oft sprachliche Formeln aus dem religiösen Bereich verwendet (z.B. der liebe Gott möge die Feldblumen pflanzen, Gott sei mit euch, unser tägliches Brot, oh selige Kinderzeit, nur einmal noch oh Herr, lass mich die Heimat sehen u.a.). 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher Anders als im Süden und Westen der Ukraine, wo die Deutschen sich fast völlig an die einheimische Bevölkerung assimiliert haben und die deutsche Mundart im Alltag meist nicht verwenden, wird Deutsch in Transkarpatien auch heute noch teilweise bewahrt und gesprochen. Eine gesprochene Standardvarietät existiert allerdings auch in Transkarpatien nicht; die Standardsprache verwenden nur die jüngeren Leute, die eine Hochschule besuchen oder dort studiert haben (meist die Universität Usžhorod; in den letzten zehn Jahren haben zwölf Studenten deutscher Abstammung am Lehrstuhl für deutsche Philologie studiert). Die meisten Deutschen von Transkarpatien (aller Generationen) sind zurzeit mehrsprachig: von 41 befragten Dorfbewohnern (Generationen I bis IV) von Pausching betrug 2003 die deutsch-ungarisch-ukrainische bzw. deutsch-ungarisch-russische Dreisprachigkeit 62,9 Prozent, die ukrainisch/ russisch-ungarische Zweisprachigkeit 21,3 Prozent, die deutsch-ukrainische 12,7 Prozent und die ungarisch-deutsche 3,1 Prozent. Die ältere Generation spricht eher Ungarisch oder Russisch, obwohl man die Tendenz zum Gebrauch der ukrainischen Mundart bzw. auch der ukrainischen Standardsprache beobachtet. Die deutsche Sprechaktivität hat in den letzten Jahren einen spürbaren Rückgang in allen sprachkommunikativen Situationen erfahren. So hatte in den 90er Jahren die durchschnittliche Sprechaktivität eines „durchschnittlichen“ deutschen Mundartlers in Muka evo folgende Werte: „Schwobisch“ 31,5 Prozent, Ruthenisch 24,8 Prozent, Ungarisch 24,3 Prozent, Ukrainisch 11,1 %, Russisch 8,2 % (Melika 1994c: 297). In den letzten Jahren ist ein Rückgang der deutschen mundartlichen und der ungarischen Sprechaktivität bei den Deutschen in der Stadt zu beobachten; es wird nun mehr und mehr das Ukrainische gebraucht. Heutzutage gibt es unter der deutschen Bevölkerung von Transkarpatien keine monolingualen Sprecher mehr. Wie die Gewährspersonen der Generationen I und II berichten, gibt es eine ganze Reihe von Themen, bei denen sie nicht imstande sind, eine effektive Kommunikation zu führen und miteinander in der ukrainischen Mundart bzw. auf Ungarisch verkehren müssen. Die jüngere Generation bevorzugt in diesem Falle die ukrainische oder die russische Sprache (Hvozdyak/ Melika 2002b: 214-218). Es muss betont werden, dass der größte Teil der Deutschen von Transkarpatien im Deutschen nur in einer dialektalen Varietät sozialisiert ist. Man beobachtet allgemeine sprachliche Tendenzen in allen Gesprächen, doch es gibt Unterschiede unter den Personen, die eine deutsche Schule besucht haben und bei denen auch im Elternhaus Wert auf die Bewahrung der deutschen Sprache gelegt wurde, und anderen, bei denen dies nicht der Fall war. So machen Sprecher aus der ersten Gruppe z.B. seltener Fehler im Bereich der Wortfolge im Satz, bei der Kasuswahl und im Artikelgebrauch. Wenn in der Familie drei Genetationen zusammenleben, kann man den Gebrauch von zwei Varianten des Deutschen beobachten: die lokale deutsche Mundart und Standarddeutsch. Beispielsweise berichtete uns die Gewährsperson KT, dass sie zu Hause mit ihrer Großmutter nur Hochdeutsch spricht, was ihr viel leichter fällt, weil sie Germanistik an der Universität studiert, und dass auch die Großmutter versucht, mit ihr Hochdeutsch zu sprechen: (2) OH: Also, zu Hause sprechen Sie Schwobisch. Und mit Kristina? MZ: Und mit Kristina schon Deutsch. Er, sie weißt nicht Schwobisch. 3. Ukraine 105 KT: Überhaupt -, ich verstehe alles, aber sprechen besser Deutsch, RICHTIG Deutsch. MZ: richtig Deutsch. (Ukr MZ: 3) Es lassen sich jedoch gemeinsame Besonderheiten aller deutschen Varietäten in Transkarpatien bei lexikalischen und semantischen Übernahmen aus der Kontaktsprache, Übernahmen im Bereich der Syntax und Intonation und bei einigen morphologischen Erscheinungen beobachten. Das grundsätzliche Problem bei der Beurteilung der deutschen Varietäten in verschiedenen Regionen Transkarpatiens ist, dass in einer Vielzahl von Fällen nicht entschieden werden kann, ob es sich tatsächlich um systembedingte Abweichungen oder lediglich um Performanzfehler handelt. Ein und dieselbe Gewährsperson verwendet einmal die dem Standarddeutschen entsprechende, an anderer Stelle eine davon abweichende Form. Besonders klar sind in diesem Falle die Abweichungen nur im Falle von morphologischen Besonderheiten zu bestimmen. Im Bereich der Syntax ist es aber oftmals schwer, diese Abweichungen zuverlässig zu beurteilen, weil sich häufig Satzabbrüche finden. Es ist schwer festzustellen, ob die Gewährsperson eine Konstruktion nicht beherrscht oder aus anderen Gründen eine andere gewählt hat. Eine Reihe von Sprechern der mittleren Generation (III) hat im Alter von fünf oder sechs Jahren die deutsche Sprache noch von ihren Eltern oder Großeltern erlernt und im Familienkreis verwendet. In der Schule wurde die Sprache dann meist passiv rezipiert. Es entstand der typische Fall, dass Eltern oder Großeltern die Kinder auf Deutsch ansprachen, diese ihnen aber dann auf Ungarisch bzw. in der ukrainischen Mundart antworteten: (3) CR: Und die Kinder, wie sprechen sie? KP: Und die Kinder können, wissen Sie, wir haben nicht gesprochen Deutsch, no, jeder hat geheiratet schon den russsichen Mann, no [= ukr. na], ukrainischer, no, dann hat der Mensch zu Hause so gesprochen, und hab man Fürcht sie zu sprechen, und jetzt die Kinder, manche können, manche wollen. Meine selber will nicht. Ich spreche so Schwobisch mit ihnen und sie antworten Russisch. CR: Ja? KP: No [= ukr. na] OH: Und wie sprechen Sie zu Hause? M: Mit wie wann. CR: Mit Natalija? M: Oh! Deutsch und Schwobisch haben - nicht - die sie geschrieben, dann haben wir so pohebilj [= ukr. das ist schrecklich] (lacht) KP: Jowshi, noch besser Bruder, hat können. M: Die Frau hat nit die, wie sagt man Mutter tjoschtscha [= ukr. Schwiegermutter]. Sie hot mei so geret, no (…) CR: Aber sie ist nicht mehr hier (…). M: Ja. Und habe dann gelernt in die Schul gong das Deutsch - - und hat geret Russisch, Schwobisch wotj [= ukr. oder] im Dorf - einige auch Schwobisch. CR: Haben Sie dann - entweder Russisch oder Schwabisch geredet oder Ukrainisch auch? M: Nit Russisch, so was Russisch, sagen wir Ukrainisch. CR: Ukrainisch. Ja. M: Wir reden nit Ukrainisch, wir reden - KP: russnakisch. CR: Was haben Sie gesagt? KP: Rusnakisch. CR: Rusnakisch? (lacht) OH: Ja, bei uns sagt man hier. (Ukr KP: 3-4) In vielen Fällen gingen nach einer gewissen Zeit auch die Eltern im Gespräch mit den Kindern zu der ukrainischen Mundart oder (sehr selten und meist in den Städten bzw. in den Städten nahe gelegenen Dörfern) zu Ungarisch oder Russisch über. Während des Krieges und in der Nachkriegszeit wurde in den deutschen Familien zu Hause meistens Deutsch („Schwobisch“) gesprochen. In der Öffentlichkeit wurde vor allem von älteren Leuten und Angehörigen der mittleren Generation meist Ungarisch gesprochen. Erst nach der Wende, durch die Gründung verschiedener Begegnungszentren und Minderheitenvereine, wurde hier ein Interesse an Deutschkursen wach, in denen die ältere und mittlere Generation die Deutsch- Olga Hvozdyak 106 Generation I Generation II Generation III Generation IV Deutsche Mundart sehr gut - stabile dialektale Strukturen, jedoch schon mit Transfererscheinungen gut - aber mit starken Transfererscheinungen je nach Bildung und Familie; eher schlecht und mit starken Transfererscheinungen schlecht/ gut Hochdeutsch gut schlecht gut/ schlecht gut Weitere Sprachen Ungarisch, ukrainische Mundart, Slowakisch Ungarisch, ukrainische Mundart, Russisch, ukrain. Standardspr. Ungarisch, Russisch, ukrainische Mundart, ukrain. Standardspr. Ukrainisch, ukrainische Mundart, manchmal Russisch, Ungarisch Tabelle 4: Sprechertypen nach Generationen kenntnisse teilweise wieder aktivieren konnte. Im Gegensatz zu den Sprechern, die Deutsch ungesteuert im Elternhaus erwarben, ist diese neu erlernte Varietät eine typische Lerner-Varietät mit standardsprachlicher Orientierung. Daneben gibt es noch eine bestimmte Zahl von Sprechern, die Deutsch in der Schule und an der Universität erworben haben und als Deutschlehrer arbeiten. Auch unter ihnen befinden sich einige, die Deutsch schon als L1 gelernt haben (vgl. SK, WB). Grob lassen sich verschiedene Sprechertypen nach Generationen, Sprachvarietäten und Kompetenz feststellen (vgl. Tabelle 4). Während die Mitglieder der Generation I den deutschen Dialekt noch als Erstsprache erworben haben, ist dieser in den Generationen II und III nur noch schlecht erhalten und weist starke Transfererscheinungen auf. Die Generation III beherrscht die deutsche Sprache allenfalls als Standardvariante, d.h. als Hochdeutsch. Eine höhere Kompetenz im Dialekt ist wiederum bei den Kindern, die nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine geboren wurden, gegeben; sie erreichen fast eine ähnliche Sprachkompetenz wie die Sprecher der Generation I. Als Ursachen dafür sehen wir den ausschließlichen Gebrauch der deutschen Mundart in der Familie, auch unter den Großeltern und Enkelkindern. Das ist möglich geworden dank der veränderten politischen Situation zugunsten der Minderheitensprachen. In Transkarpatien befinden sich die Deutschen im Zustand des Sprachwechsels von der deutschen Mundart zum Ruthenischen bzw. zur ukrainischen Standardsprache. Dieser Sprachwechsel erfolgt nach Melika in fünf Phasen und verläuft mit jeder Etappe beschleunigend, wobei er von der Qualität (Subordination verschiedenen Grades der zweiten Sprache, Ordination, Subordination der ersten Sprache) und Quantität (singulär, multipel, integral) des Bilingualismus abhängt, der die Intensität des interethnischen Verkehrs bestimmt und entsprechend den Sprachkontakt zahlenmäßig charakterisiert (Melika 1993c: 93-104). Diese fünf Phasen des Sprachwechsels verlaufen nach Melika bei den Deutschen von Transkarpatien wie folgt (Melika 1994c: 299- 300): Phase I begann gleich nach Ankunft der deutschen Ansiedler in dem ruthenisch-ungarischen interethnischen Raum und konnte bei größeren Dorfgemeinschaften über eineinhalb Jahrhunderte dauern. Der Widerstand gegen eine Annäherung an die ruthenische Mehrheit lag nicht nur in der sprachlichen Barriere, sondern hatte, wie oben erwähnt wurde, auch extralinguale Ursachen: nicht gleichwertige kulturelle und wirtschaftliche Lebenserfahrungen, verschiedene Konfessionen, Nationalbewusstsein und entsprechende Mentalität. Für die Bewältigung alltäglicher Kommunikationssituationen mit der anderssprachigen Umgebung entstehen beiderseits Einzelbilinguen. Der überwiegende Teil der Gemeinschaft bleibt jedoch monolingual. Davon zeugen in den Urkunden des vorigen Jahrhunderts Bemerkungen wie „magyarúl nem értö“, „felelnek ruthén (német) anyanyelven“ (‘verstehen nicht Ungarisch’, ‘antworten in ruthenischer (deutscher) Muttersprache’). 3. Ukraine 107 Phase II trat je nach Umgebung und Vertretungsgröße mit minderer oder größerer Zeitdiskrepanz in den einzelnen deutschen Gemeinschaften ein. In der Stadt Muka evo und in deren Nähe konnte diese von der tschechischen Periode bis in die 50er Jahre der sowjetischen Herrschaft im Gebiet dauern. In dieser Phase entwickelt sich der Bilingualismus bzw. Multilingualismus, der immer mehr Einzelpersonen ergreift, um beschleunigend zur kollektiven Mehrsprachigkeit zu führen. Bei anderssprachiger Erzeugung lässt sich wegen phonetischer, morphologischer u.a. Strukturverletzungen erkennen, dass ein „Schwob“ Ruthenisch (Ungarisch usw.) spricht. Diese Phase des Bilingualismus, die Melika subordinativ mit Unterordnung der zweiten Sprache nennt, setzt voraus, dass viele Worteinheiten, die im eigenen Wortschatz keine Entsprechung haben, notwendigerweise aus der anderen (ungarischen, russischen) Sprache entlehnt werden müssen. In Phase III wächst der subordinative Bilingualismus in den ordinativen über, bei dem die Gesprächsteilnehmer an ihrer Spracherzeugung die ethnische Zugehörigkeit des Verkehrspartners nicht erkennen, d.h. spricht ein „Schwob“ „Schwobisch“, wird er als solcher erkannt, spricht er Ruthenisch, hält man ihn für einen Ruthenen, spricht er Ungarisch, für einen Ungarn. Wenn in Anwesenheit der Deutschen anderssprachige Leute dem Gespräch beiwohnen, wird als Verkehrssprache stets die der letzteren gewählt. In dieser Phase sprechen die Deutschen unter sich oft schon Ukrainisch, Ungarisch oder Russisch, wenn spezielle und fachliche Themen behandelt werden. In die Mundart dringen unaufhaltsam anderssprachige Strukturen ein, besonders auf lexikalisch-semantischer Ebene. Die Phase III dauert in den noch bestehenden größeren Ortschaften (in Unterschönborn, Barthaus, Pausching u.a.) bis jetzt an. Vielerorts ist aber schon die Phase IV des subordinativen Bilingualismus mit Unterordnung der alten Erstsprache (Muttersprache) eingetreten. Die deutsche Sprache wird nicht selten auch im Familienkreis beschränkt gesprochen: Auf Deutsch verkehrt die älteste Volksschicht; die Großeltern mit ihren Enkeln, solange diese nicht schulpflichtig sind; Großeltern mit ihren Enkeln, wenn diese zu Besuch kommen. Die mittlere Generation, die noch „Schwobisch“ versteht, gebraucht die Mundart nur mit erheblichen Systemverletzungen. Mit ihren Kindern und gleichaltrigen Landsleuten sprechen sie Ruthenisch, Ungarisch, gelegentlich Ukrainisch oder Russisch. Die Sprache ist in dieser Phase funktional stark gelähmt und kann nur für sehr eingeschränkte Verkehrszwecke gebraucht werden. Diesen Stand finden wir in der deutschen Gemeinschaft von Rachovo, Chust, Svaljava, in einigen Stadtteilen von Muka evo, wo die Deutschen verstreut (außer Palanok und Pidhorod) wohnen. Die Phase V in Transkarpatien haben viele von den 81 Ortschaften mit deutscher Vertretung schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht. Zu ihnen gehören z.B. die Deutschen von Užhorod oder Pere yn. Vielerots begann diese Phase auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Schwoben“ dieser Ortschaften haben bestenfalls in ihrer Erinnerung Fragmente der Mundart erhalten, sind aber nicht imstande, sie zu reproduzieren. Die meisten dieser Menschen nennen sich Ruthenen, Ungarn, Slowaken, obwohl sie sich der Tatsache bewusst sind, dass sie deutsche Vorfahren haben. Bei dieser Schicht der Bevölkerung vollzog sich der Sprachwechsel, die volle ethnische Assimilation und hiermit der Übergang von der deutschen zur ruthenischen oder ungarischen ethnischen Vertretung (Melika 1994c: 299-300). Schematisch wird diese Situation in Tabelle 5 dargestellt. Im Gegensatz zu den Deutschen von Transkarpatien, bei denen noch Kommunikationsgemeinschaften vorhanden sind, ist das bei den teilweise verstreut lebenden Deutschsprachigen im Süden der Ukraine (Odessa) und in den anderen Regionen mit deutscher Minderheit nicht mehr der Fall. Viele von den Sprechern, die gute Deutschkenntnisse (als L1) besaßen und von ihrer Familiengeschichte her stärker mit der deutschen Kultur verbunden waren, sind inzwischen nach Deutschland ausgesiedelt. Olga Hvozdyak 108 Phase Sprachwechsel bei den Deutschen von Transkarpatien I Mehrheit monolingual; Einzelbilinguen. II Bilingualismus mit Unterordnung der zweiten Sprache. III Subordinativer Bilinguismus geht in ordinativen über. Die Deutschen sprechen oft unter sich Ungarisch, Ukrainisch, Russisch, wenn spezielle und fachliche Themen behandelt werden. IV Subordinativer Bilinguismus mit Unterordnung der Erstsprache (Muttersprache). Deutsch wird im Familienkreis beschränkt gesprochen. Die älteste Volksschicht verkehrt auf Deutsch. Die Großeltern sprechen mit ihren Enkeln Deutsch. Die mittlere Generation spricht mit ihren Kindern und Landsleuten Ruthenisch, Ungarisch, gelegentlich Ukrainisch oder Russisch. Die deutsche Mundart gebraucht sie mit erheblichen Systemverletzungen. V Vollständige Assimilation; „Schwoben“ haben in ihren Erinnerungen Fragmente der Mundart erhalten, sind aber nicht imstande, sie zu reproduzieren. Die meisten dieser Menschen bezeichnen sich trotz der Kenntnis ihrer deutschen Abstammung als Ruthenen. Tabelle 5: Fünf Phasen des Sprachwechsels 5.2.3 Dialekte Dinges und Schirmunski haben eine ausführliche wissenschaftliche Klassifikation der deutschen Mundarten in der Sowjetunion erarbeitet. Nach Schirmunski sind auf dem Territorium der Ukraine folgende deutsche Mundarttypen vertreten: „I. Niederdeutsch: eine ostniederdeutsche Mundart (niederfränkisch-friesischer Typus) aus den Niederungen der Weichsel bei Danzig (westpreußisch) erscheint bei den Mennoniten, den Preußen im Mariupoler Bezirk und den Niederdeutschen in Josephtal bei Dnipropetrovsk (wahrscheinlich auch in Alt- Danzig bei Sinowjewsk). II. Mitteldeutsch: 1) oberhessisch bei den „Belemesern“ im Mariupoler Plan, die aus den Tschernigowschen Mutterkolonien ausgewandert sind; 2) rheinpfälzisch (aus der Bayerischen Pfalz) mehrere Typen: a) Beresaner Typus; b) die „ungarischen Kolonien“ Alt-Freudental und Peterstal; c) die katholischen Kolonien Mariental und Josephstal (Odessaer Bezirk). III. Oberdeutsch: 1) niederelsässisch, mehrere Typen (dem rheinpfälzischen nahe verwandt): a) Kutschurganer Gruppe und Kleinliebental; b) Elsaß und Mannheim; c) Franzfeld; 2) südfränkisch (Baden-Durlach; Karlsruher Gegend) - der herrschende Typus der Molotschnaja-Mundart; 3) schwäbisch (aus Württemberg) - die separatistischen Kolonien bei Berdjansk, Hoffnungstal (Odessaer Bezirk), Großliebental und Lustdorf; 4) niederbairisch (Jamburg am Dnjepr, bei Dnipropetrovsk). IV. Mischmundarten: 1) Güldendorf (südfränkisch und schwäbisch); 2) Alexanderhilf und Neuburg (rheinpfälzisch wie in den „ungarischen“ Kolonien, mit schwäbischem Einschlag); 3) das sogen. „Krimer Schwäbisch“, das in den meisten Kolonien in der Krim gesprochen wird“ (Schirmunski 1992: 238-239). Das große Gebiet der wolhyniendeutschen Mundarten, das auch zur Ukraine gehörte, blieb dabei nicht berücksichtigt. Melika beschreibt die Situation wie folgt: „Auf der Basis der deutschen Kolonisation entwickelten sich im nordöstlichen Karpatenraum Ungarns (jetzt Transkarpatien) drei Sprachinseln: 1. Die fränkische Sprachinsel. Sie erstreckt sich vom Rand der Theißebene bei Unterschönborn über das Hügelland am Fuße der vulkanischen Gebirgskette bei Munkács (Muka evo) mit den Dörfern Pausching, Oberschönborn, Birkendorf, Mädchendorf bis in das Hátgebirge mit dem Dorf Deutsch Kutschowa. Zu dieser Siedlungsgruppe gehören auch die Dörfer Bardhaus und Sofiendorf, welche jedoch nicht fränkisch sind. 2. Die südböhmische Sprachinsel. Sie befindet sich im gebirgigen Teil der westlichen Waldkarpaten, zu der die Dörfer Unterhrabownitz, Blaubad/ Sinjak, Pusnjak, Hrabow, Dorndorf, Kobalewitz und Dubi gehörten. Zu dieser Dorfgruppe zählt auch die honterdeutsche Siedlung Erwinsdorf. Alle diese Dörfer befinden sich in der Nähe von Schwalbach/ Svaljava und Munkatsch. 3. Die mittelbairische (salzburgische) Mundartinsel befindet sich im Hochgebirge der öst- 3. Ukraine 109 lichen Waldkarpaten. Diese Sprachinsel wird von drei Dörfern Deutsch Mokra, Königsfeld und Russisch Mokra gebildet. Die übrigen deutschen Siedlungen waren über ganz Karpaten-Ruthenien verstreut und bildeten nur deutsche Enklaven in ruthenischen Dörfern und Städten: zu ihnen gehörten die Straßen-Siedlungen von Chust, Muka evo, Svaljava und Užhorod“ (Melika 2002b: 57). Die in Transkarpatien gesprochenen Dialekte, die unter dem Sammelnamen „Schwobisch“ zusammengefasst werden, sind eigentlich Mischmundarten, die fast nichts mit dem Schwäbischen zu tun haben. Diese Mundarten weisen auch ungarische und ukrainische bzw. russische, rumänische und slowakische Interferenzen auf, insbesonders im Bereich des Wortschatzes. 5.2.4 Sprachliche Charakteristika der deutschen Mundarten in der Ukraine Da sich die Deutschen auf dem Territorium der Ukraine außer Transkarpatien fast an die einheimische Bevölkerung assimiliert haben, sind in diesem Kapitel nur die sprachlichen Besonderheiten der deutschen Mundarten von Transkarpatien zu analysieren; drei Systemebenen werden dabei genauer betrachtet: Phonologie, Morphologie und Syntax. Die freie Beherrschung und der Gebrauch der deutschen Sprache bzw. des deutschen Dialekts findet sich nur in Generationen I und II, teilweise noch in der Generation III, außerdem bei professionellen Sprechern (Dolmetschern bei den deutsch-ukrainischen Firmen, Deutschlehrern und Studenten der oberen Studienjahre der Abteilung für Germanistik). Doch auch bei den Gewährspersonen der Altersgruppen I und II macht sich im Gespräch vereinzelt das Fehlen eines passenden Lexems bemerkbar. In diesem Falle verwenden dann einige Sprecher ein ukrainisches oder russisches Wort, versuchen aber sofort, das deutsche zu finden oder den Begriff entsprechend zu umschreiben, wie etwa im folgenden Beleg: (4) Sie war im dritten Kursus, im dritten Lehrgang, und ich war schon im fünften. (Ukr 13, WB: 2) Auf der phonologischen Ebene sind kaum auffällige Besonderheiten zu beobachten. Diese Unterschiede sind meist mit verschiedenem Gebrauch in deutschen Dialekten verbunden (siehe Melika 2002b). Beispielsweise berichten die Nachbarinnen der Gewährsperson AB: (5) Die Dialekte sind verschiedene. Manche kann man gar nicht verstehen, und die Lehrer haben immer gesagt, die Palanoker, die sprechen am besten, aber sie kann man am besten verstehen, aber wir haben anstatt „a“ „o“ meisten benutzt: „wos“; „Ich sog wos“; „Gib ma Wosser“; „Wos mochst? “; „Wo worst? “ (Ukr 2, AB: 12) Ein typisches Merkmal ist die Entrundung von [y] zu [u]: (6) die schwäbische Kuche; Nussen (Ukr 1, MB: 3). Im Bereich der Morphologie ist zu bemerken, dass das Kasussystem in den deutschen Mundarten Transkarpatiens nicht mehr stabil ist. Im Gespräch verwenden die Gewährspersonen öfter Nominativ, Dativ und Akkusativ; der Genitiv wird in der Regel durch eine Possessivkonstruktion ersetzt: (7) die Schwester ihre Kind (Ukr 5, MH: 1) (8) Von Plankendorf mein Großmutter, mein Vater sein Mutter, sie war Lenka (Ukr 1, MB: 14) (9) Mein Tochter ihre Freundin ist auch jetzt in Deutschland (Ukr 2, AB: 6) (10) Mein Schwester ihre wnuka [= ukr. Enkelin] hat geboren Kind (Ukr 2, AB: 13) Der Dativ wird häufig durch den Akkusativ ersetzt (vor allem in Zusammenhang mit den Wechselpräpositionen, gelegentlich auch bei der Verbrektion, so in Beleg (14)): (11) Wo haben Sie Deutsch gelernt? - Nur in die Schule (Ukr 5, MH: 8) (12) Wo sprechen Sie am meisten Deutsch? - Nur in die Kirche mit meine Kameradinnen (Ukr, MK: 5) (13) in Hof ist die Treffung, besprechen sie sehr von jede Familie, sie erzählen wie und was, wie es geht in jeden Dorf. (Ukr 1, MB: 1) Olga Hvozdyak 110 (14) Er war ein Baumeister, der zweite Mann, hat die Tochter ein schönes Haus gebaut, nur hier steht es leer. (Ukr 3, BD: 8) Eine Reihe von Abweichungen ist bei der Rektion der Präpositionen zu beobachten: (15) Ungarisch haben wir so gelernt auf die Straße. No, mit die Familien (Ukr 5, MH: 2) (16) Ich mit ihm sprechen, ich habe mit die Hände und die Füße gesprochen, Ukrainisch, Ungarisch… (Ukr 2, AB: 10) (17) Hier war ein deutscher Mann bei die Kirche. (Ukr 3, BD: 7) (18) Sie haben schon gehört von die Gräfin. (Ukr 5, MH: 6) Im Bereich der Präpositionen ist der Gebrauch gelegentlich schwankend: (19) Auf der Arbeit, wer hat schon gearbeitet, und wer nicht, wer hat Platz, wer hat dort geschlafen. (Ukr 1, MB: 4) (20) Einige Leute sitzen sie nach der Straße und sitzen und schauen. (Ukr 2, AB: 10) Bei der Flexion beobachtet man im Dativ Plural auch oft das Fehlen des -n-Suffixes, was auf den Zusammenfall von Dativ und Akkusativ hindeutet: (21) mit der Russiner (Ukr 1, MB: 7) (22) mit zwei Kinder (Ukr 3, BD: 2) (23) mit ihre Kinder (Ukr 3, BD: 3) (24) mit die Kinder (Ukr 3, BD: 6) Oft wird bei Substantiven, die Nationalität bezeichnen, kein -e bzw. -en (im Plural) gebraucht. Dies ist teilweise auch durch den Dialekt bedingt (s. Bsp. 27): (25) Sie waren alle Deutsch [statt: Deutsche] (Ukr 2, AB: 8) (26) Mein Mann ist gestorben, auch Deutsch war er (Ukr 3, BD: 1) (27) Mein Schwoger, die Schwester Anna ist auch Ungar, no, gemischte Ehe, war dort Ungarn, die Mutter war Deutsch, der Vater war Ungarn, mein Mann auch, der Vater Slowak, die Mutter auch Deutsch. (Ukr 5, MH: 2) Die Deklinationstypen des Adj ktivs haben sich in den deutschen Mundarten erhalten, jedoch herrscht auch beim Adjektiv schon die Neigung zum Kasusausgleich: (28) und in diese Häuser waren die russische Offiziere mit ihrer Familien (Ukr 1, MB: 2) (29) Also nach meine Meinung, wir sind die letzte Mogikane. (Ukr 3, BD: 17) (30) die schöne runde Fenster rausgenommen (Ukr 10, MF: 3) (31) Ich gebe Ihnen ein paar Bilder, das sollen Sie sich vorstellen, ein bisschen, die alte Bilder (Ukr 5, MH: 6) Sowohl bei den L1als auch bei den L2- Sprechern sind Abweichungen bei der Pluralbildung der Substantive zu beobachten, z.B.: (32) ein Jahr und acht Monat [statt: Monate] (Ukr 5, MH: 1) (33) die ukrainische Dorfer [statt: Dörfer] (Ukr 1, MB: 9) Bei allen Sprechern findet sich eine gewisse Unsicherheit im Artikelgebrauch, was durch das Fehlen des Artikels in den Kontaktsprachen erklärbar ist. Allerdings sind hier sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Sprechern festzustellen. Der Artikel fehlt häufig nach Präpositionen, besonders nach der Präposition in: (34) in Hof ist die Treffung (Ukr 1, MB: 1) (35) in Herbst haben wir geschnitten die Äpfel (Ukr 1, MB: 3) (36) sie war in Schule hier in unser (Ukr 1, MB: 8) (37) er wohnt in Stadt in Quartier (Ukr 2, AB: 5) Manchmal fehlt der Artikel auch nach anderen Präpositionen: (38) unsere Ärzte fahren dorthin, und mit Uni, wissen Sie schon (Ukr 5, MH: 7) Es wird oft das Genus der Substantive verwechselt. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Gewährspersonen (meistens Altersstufen I und II) im alltäglichen Leben mehrere Fremdsprachen (in unserem Falle Ungarisch, die ukrainische Mundart) gebrauchen. Im Ungarischen haben die Substantive kein Genus, deswegen kann man vermuten, 3. Ukraine 111 dass die Gewährspersonen, die öfter Ungarisch sprechen, in ihrer Rede das falsche Genus gebrauchen: (39) Alle kommen hier zu - , no zu diese - zu - zu den Haus, in den Haus zu mein Großmutter, oder zu der Großeltern, die Kinder und die Enkel, sie kommen hier - - (Ukr 1, MB: 1) (40) Und ist gekommen der Heilige Abend, und am Tisch haben wir immer Ei gebracht da, der (…) ist gekommen, der Christkind ist geboren. (Ukr 1, MB: 4) (41) Sie lernt nicht Schwobisch, sondern die richtige Deutsch. (Ukr 2, AB: 9) (42) Wie soll ich die Name, die Mädelname oder die jetzige Name? (Ukr 3, BD: 1) (43) Der Lehrer spricht, erklärt, und ich habe ihre Konspekt gemacht. (…) die ungarische Alphabet in russischer Sprache. (Ukr 16, JF: 5) Auch bei der Verbflexion zeigen sich einige Besonderheiten: Oft beobachtet man Fehler bei der Bildung des Partizips II der starken und schwachen Verben. Es kommen teilweise Infinitivformen vor (Beleg (44)), meist aber schwache statt starke Formen (Beleg (45)): (44) Und ist da in warm Milch aufkochen mit Nussen. (Ukr 1, MB: 4) (45) a. Ja, gestern habe ich angeruft in Botschaft… (Ukr 1, MB: 7) b. Die Großmutter hat geheißt Leiß Anna. (Ukr 1, MB: 7) Auch trennbare Präfixe werden oft weglassen: (46) Sie ruft einmal in zwei Wochen. (Ukr 7, MO: 16) Im System des mundartlichen Verbs fehlt meist das Präteritum. Bei den analytisch gebildeten Tempora gibt es keinen Unterschied im Gebrauch von haben und sein. Das Perfekt und das Plusquamperfekt werden meist mit sein gebildet: (47) ich war in die deutsche Sprache lernen (Ukr 2, AB: 4) (48) mein Vater war in Geschäft gearbeitet (Ukr 2, AB: 5) (49) Er war schon auch Schwobisch reden (Ukr 1, MB: 13) (50) In zwei Jahre ist er gehabt - - Miningit, Enziphalitis. (Ukr 5, MH: 3) Einige Gewährpersonen (vorwiegend der älteren Generation) gebrauchen statt des Hilfsverbs sein das Hilfsverb haben: (51) Hat sein die Geschwisterkinder hat schon ausgewandert, die Geschwisterkinder, aber mein Familie noch nicht. (Ukr 2, AB: 5) (52) Sie haben noch gegangen auf dem Burg, Wein trauben. (Ukr 1, MB: 1) (53) die Marianne war in Tschernobil, wann dieses geschehen hat (Ukr 5, MH: 3) Typische Tempusfehler zeigen folgende Belege: (54) Ungarisch, wir haben [statt: hatten] ein, wie sagt man, Knecht, ein Knecht, und er war Ungar. (Ukr 3, BD: 8) (55) Ich habe alle geschrieben gehabt, und mich fort. (Ukr 16, JF: 5) (56) Ja, bis neunzig war, sind ein paar in acht - siebundachtziger Jahr und in - achtundvierziger Jahr. (Ukr 5, MH: 10) (57) Die deutsche Lektüre, sie arbeitet an der deutschen Lektüre, obwohl sie die Studentin der mathematischen Fakultät war [statt: ist]. (Ukr 13, WB: 2) Geläufig ist die Verlaufskonstruktion mit „tun + Infinitiv“: (58) Und ich tue pflegen verschiedene, auch die große Bohnen, und die kleine, und das ist gut kochen auch. (Ukr 3, BD: 10) Durch Einfluss des Ukrainischen breitet sich im Bereich des Verbparadigmas der Gebrauch des Zustandspassivs mit der Kopula sein an Stelle des Vorgangspassivs mit der Kopula werden aus: (59) Und hier war die Kuh, da war Milch zu Hause, war auch die Butter allein gemacht, war Käse, die sauer Milch, es war gut (Ukr 1, MB: 3) Olga Hvozdyak 112 Das Passiv wird von den Gewährspersonen allerdings sehr selten gebraucht. Es wird in der Regel wie in der ukrainischen Sprache durch eine unpersönliche Konstruktion mit der 3. Person Plural ersetzt. Bei vielen Gewährspersonen haben wir auch Abweichungen im Bereich des Gebrauchs der reflexiven Verben beobachtet: (60) Da können Sie vorstellen, zweimal Witwe schon [ukr. ujawete sobi] (Ukr 3, BD: 7) (61) Ich war vorbereitet mir [ukr: bula hotowa] (Ukr 16, JF: 3) An diesen Beispielen ist der Einfluss der ukrainischen Sprache ersichtlich. Unter Einfluss des Ukrainischen (bzw. seltener des Russischen) können auch manche Verben reflexiv gebraucht werden, die in der deutschen Sprache nicht reflexiv sind, z.B.: (62) der Vater hat sich mit dem Pfaffen begegnet [ukr. bat’ko zustrivs’a z popom] (63) die Sterne laichten sich [ukr. zirky svit’at’s’a]. Bei der Bildung von Infinitivkonstruktionen lässt sich oft der falsche Gebrauch des Infinitivs mit zu beobachten, möglicherweise als eine Art Hyperkorrektur: (64) Ich muss immer kochen, zu waschen und zu bügeln. Es gibt sehr viele zu arbeit zu Hause. (Ukr 2, AB: 10). Umgekehrt lässt sich auch das Fehlen des Infinitivs mit zu beobachten, wie es im Ukrainischen der Fall ist: (65) Und sie sind, da habe ich sie eingeladen zu uns kommen. (Ukr 16, JF: 3) Statt der Infinitiv-Konstruktion nach Modalverb findet man auch häufig einen mit dass eingeleiteten Nebensatz, wie im folgenden Beleg: (66) Jetzt im Rechnen bin ich stark. Ich brauche nicht, dass ich werde rechnen am Papier. (Ukr 16, JF: 4) Die meisten einfachen Sätze sind Aussagesätze. Die Serialisierung entspricht jedoch nicht immer den standardsprachlichen Erwartungen; so gibt es verschiedene invertierte Strukturen. Solche Verletzung in der Wortfolge ist meist durch den Einfluss der ukrainischen Mundart auf die deutsche Mundart hervorgerufen, wo die Wortfolge im Satz frei ist und es keinen festen Platz für den Gebrauch dieser oder jener Glieder des Satzes gibt. Das Prädikat im Aussagesatz kann an beliebiger Stelle sein, wie z.B. (67) Dort ist er vier Jahre gegangen in die Schule, und dann in Dnipropetrovsk fünf Jahre. (Ukr 3, BD: 9) (68) Ja, solche Leute hier waren. Solche Leute (…), unschuldige Leute sie habe alle geschossen. (Ukr 16, JF: 6) Sehr oft kann man in den Sätzen die Verletzung der Rahmenkonstruktion (Satzklammer) beobachten. In der ukrainischen Sprache gibt es eine solche Konstruktion nicht. Das hat einen bestimmten Einfluss auf die deutsche Mundart ausgeübt. Aus den Tonbandaufnahmen folgt, dass die Gewährspersonen dieser Konstruktion sowohl in der monologischen als auch in der dialogischen Rede keine Beachtung schenken. Die Verben können unmittelbar nebeneinander stehen, wobei den letzten Platz im Satz ein beliebiges Satzglied einnehmen kann. Meistens sind dies direkte Objekte oder Zeit- und Ortsangaben, vgl.: (69) Und dann hat die Schwiegermutter keine Ruh gehabt, habe ich müssen heiraten den Schwiegermutter ihren kleinsten Bruder. (Ukr 3, BD: 2) (70) nach der Hochzeit die Kinder haben kaufen können Möbel. (Ukr 16, JF: 3) (71) a. Mein Großvater hat gelebt vierundneunzig. b. Und ich hab gewohnt in Kljutscharka. (Ukr 3, BD: 4) Es gibt auch ungewöhnliche Formen von Ausklammerungen, z.B. von Pronomina. In Extremfällen werden Subjektpronomina ausgeklammert (Beleg (75)): (72) Ich hab wollen für die Kinder schicken etwas. (Ukr 3, BD: 10) 3. Ukraine 113 (73) Das erste Mal sieht mir eine alte Frau, wann ich nach Milch war und erzählt, ihre ganzes Leben hat erzählt mir. (Ukr 10, MF: 6) (74) Der erste Mann ist gestorben, meine. Bin ich mit zwei Kinder geblieben. (Ukr 3, BD: 2) (75) Ja, ja. Mit meine Tochter Schwobisch rede ich. (Ukr 2, AB: 2) Bei Nebensätzen findet man bisweilen auch Verbzweitstellung oder sogar Erststellung (80): (76) Ich habe angefangen, dass sie stammen alle von Ungarn ab. (Ukr 10, MF: 5) (77) und dort hat sie so schön Deutsch gelernt, das sie tut besser als ich. (Ukr 2, AB: 3) (78) Vorher schon, weil ich hab gelernt auf Kaufmann. (Ukr 16, JF: 1) (79) Weil sie gehen in eine deutsche Kirche. (Ukr 10, MF: 3) (80) Da, als war hier Ungarn. (Ukr 5, MH: 2) Im Gespräch verwenden die Deutschen von Transkarpatien oft elliptische Sätze: (81) Wird fortnehmen, das Enkel. (Ukr 3, BD: 5) (82) Und war zufrieden. (Ukr 16, JF: 3) (83) Seit zweiundneunzig hatten wir schon. (Ukr 10, MF: 3) (84) Ich habe die ukrainische Schule, die Schule war ukrainisch. (Ukr 5, MH: 8) (85) Ich hab gegründet. (Ukr 5, MH: 9) (86) Aber muss das machen. (Ukr 5, MH: 10) Oft wird von den Gewährspersonen das Prädikat im Satz weggelassen: (87) Ich bin schon hier eine Woche, und meine Schuhe ganz sauber. (Ukr 2, AB: 6) (88) Er, aber seine, no ein Slowak. (Ukr 13, WB: 4) (89) Eine Hirschberger Frau, eine alte Frau von Deutschland. Sie eine Millionärin. Und diese tut die alten, die achtzigjährige Leute. (Ukr 3, BD: 1) (90) Auch die Ureltern hier geboren. (Ukr 3, BD: 3) (91) Und ich werde sagen, ich ukrainische Sprache nicht. (Ukr 16, JF: 1) Die Wendung es gibt wird häufig durch Konstruktionen mit sein ersetzt. Es gibt auch Sprecher, die die Konstruktion es gibt beherrschen, sie aber nicht allgemein verwenden. Die Wortstellung ist typisch für den umgangssprachlichen Erzählstil des Ukrainischen und wird hier entsprechend auf das Deutsche übertragen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird von den Deutschen Transkarpatiens oft die doppelte Verneinung angewandt, vgl.: (92) a. Ich hab keine Schrauwen nit. b. Die Männer ham keine Arbeit nit. Die doppelte Verneinung kann mundartlichen Ursprung haben, kann aber auch auf Einfluss der ukrainischen Verneinung zurückzuführen sein (ni oho ne ‘kein nicht’, z.B. ukr. žinka ni oho ne zrobyla - die Frau had keine nichts gemacht ‘die Frau hat nichts gemacht’). Statt der Verneinung mit nicht wird auch das Präfix ungebraucht: (93) Das ist unnormalisch. (Ukr 2, AB: 9) Auffallend ist auch das Vertauschen der Konjunktionen als und wenn in einem Temporalsatz, der ein einmaliges Geschehen in der Vergangenheit bezeichnet, wie in den folgenden Belegen: (94) Wenn ich war noch klein, aber wenn sie war gekomm meine Großmutter, aber ich war ab ihr, wie kann man das sagen, - weiß nicht Deutsch, Ukrainisch oswobodew [= ukr. hat befreit] von Faschisten (Ukr 1, MB: 2) (95) No die Hauptwörter wenn bin ich nach Tschechei gekommen, habe schon können. (Ukr 16, JF: 1) (96) Einmal in ein Monat, wenn Segedi hat gelebt - deutsche Messe (Ukr 10, MF: 5) (97) Wenn ich sechs Jahre in Fabrik habe gearbeitet, die ganze Stadt war mir bekannt. (Ukr 10, MF: 6) Mit der Intensivierung der multiethnischen Kontakte haben die deutschen Mundarten von Transkarpatien viele Wörter aus dem Ukrainischen (bzw. der ukrainischen Mundart), dem Ungarischen, Russischen, Rumänischen und dem Tschechischen und Slowakischen entlehnt, beispielsweise für wichtige Begriffe für die Bezeichnung von Speisen, wie z.B.: rulet ‘Roulade’ (ukr. rulet), farsch ‘Hackfleisch’ (ukr. farsch), paska ‘Osterkuchen’ (ukr. paska), ma- Olga Hvozdyak 114 malega ‘Maisbrei’ (rum. mamaliga), tscher (tsch. tscher ‘Maisbrei’), pulisko ‘Maisbrei’ (ung. pulisko), bobajkeli ‘Nussgebäck’ (ukr. Mda. bobajke, ung. bájgli), derelmatsch ‘Quarkknödel’ (ung. derelye), fanke ‘Krapfen’ (ukr. Mda. fanke, ung. fánk), koubas, kolbasen ‘Wurst’ nach einheimischem Rezept (ung. kolbász, ukr. kovbasa), lagosch ‘Pfannkuchen’ (ung. lágos), molani ‘Himbeeren’ (ukr. malyna, ung. málna); außerdem viele Entlehnungen aus Alltag und Haushalt. Entlehnt werden auch Bezeichnungen für technische Neuerungen: wokzal ‘Bahnhof’ (ukr. wokzal), awtobus ‘Bus’ (ukr. awtobus); Berufsbezeichnungen: brigadjir ‘Vorarbeiter’ (ukr. bryhadyr, russ. brigadjir), traktorist ‘Traktorfahrer’ (ukr. traktoryst), ekonomist ‘Ökonom’ (ukr. ekonomist), pidprejemez ‘Unternehmer’ (ukr. pidprejemezj), zawutsch ‘stellvertretender Direktor’ (ukr. zawutsch), perewodtschik ‘Dolmetscher’ (russ. perewodtschik), tokarj ‘Dreher’ (ukr. tokar); staatliche Einrichtungen: profsojuz ‘Gewerkschaft’ (russ. profsojuz), kolchos ‘Kolchose’ (ukr. kolchoz), zawod ‘Werk’ (ukr. zawod), schwejna fabrika ‘Kleiderfabrik’ (ukr. schwejna fabryka), chutrowi majsternji ‘Pelzwerkstätte’ (ukr. chutrowi majsternji), depo ‘Bahnausbesserungswerk’ (ukr., russ. depo). Weiterer Lehnwortschatz stammt aus dem Bereich „Bildung“: obrazowanije ‘Bildung’ (russ. obrazowanije), univerzitet ‘Universität’ (ukr. universitet), kurs ‘Studienjahr’ (ukr. kurs), stazionar ‘Direktstudium’ (ukr. stazionar), zarubishna literatur ‘Weltliteratur’ (ukr. zarubishna literatura), sesija ‘Prüfungsperiode’ (ukr., russ. sesija), dyktant ‘Diktat’ (ukr. dyktant, russ. diktant), trojka ‘eine Drei’ (russ. trojka), natschalni klasi ‘Grundschule’ (russ. natschaljnyje klase), repetjitor ‘Nachhilfelehrer’ (russ. repetjitor), peteu ‘Fachschule’ (ukr. PTU), schkola ‘Schule’ (ukr. schkola), wetschirnja schkola ‘Abendschule’ (ukr. wetschirnja schkola), trudowoje nawtschanja ‘Werkunterricht’ (ukr. trudowe nawtschanja), sadik ‘Kindergarten’ (ukr. sadyk), pedutscheleschtsche ‘Pädagogische Fachschule’ (ukr. pedutscheleschtsche) - und damit verbundene Berufe: dyrektor ‘Direktor’ (ukr. dyrektor), predsedatelj ‘Vorsteher’ (russ. predsedatelj), natschalnjik ‘Chef’ (ukr. natschalnyk); Verwaltungseinheiten und geographische Bezeichnungen: Oblast ‘Verwaltungsbezirk’ (ukr. oblast’), rajon ‘Kreis’ (ukr. rajon); Krankheiten: skleroz ‘Sklerose’ (ukr., russ. skleroz), krowoizlijanije ‘Gehirnblutung’ (russ. krowoizlijanije), apendizit ‘Blinddarmentzündung’ (ukr. apendizit); Religion und religiöse Feiertage: paska ‘Ostern’ (ukr. paska), pravoslave ‘Orthodoxe’ (ukr. pravoslavn’i). Aus der Fachlexik haben die Deutschen von Transkarpatien neben dem mundartlichen baiszangl ‘Beißzange’ auch horopofogo (ung. harapófogó), tschovorhuzo ‘Schraubenzieher’ (ung. csavarhúzó), menetvago ‘Gewindeschneider, -bohrer’ (ung. menetvágó, -fúró), schotu ‘Schraubstock’ (ung. satú), reselö ‘Feile’ (ung. reszel ) u.a. entlehnt. Die Fachlexik ist im deutschen Sprachgebrauch reich an Russizismen, z.B. benzopila ‘Motorsäge’ (russ. benzopila), betonomischalka ‘Betonmischer’ (russ. betonomeschalka), ekskavator ‘Löffelbagger’ (russ. ekskavator), transportjor ‘Förderband’ (russ. transptjor), schtschotschik ‘Strom-, Gaszähler’ (russ. schtschotschik), kompresor ‘Kompressor’ (russ. kompresor), nasos/ pompa ‘Pumpe’ (russ. nasos), drelj ‘Drillbohrer’ (russ. drelj), fuganok ‘Hobelmaschine’ (russ. fuganok) u.v.a. Die Zahl der in den letzten Jahrzehnten entlehnten Fachausdrücke aus der ukrainischen und der russischen Sprache ist nicht bei allen deutschen Fachleuten gleich. Sie hängt vom Alter, der Arbeitsstelle und dem Fachgebiet (Elektrotechnik, Elektronik, Radiotechnik, Gerätebau etc.) des Fachmanns ab. Anders verteilt als in den Fachsprachen sind die Entlehnungen aus der Lexik der Tier- und Pflanzenwelt. Im Deutschen können es Entlehnungen aus dem Ruthenischen (der ukrainischen Mundart) sein: baran ‘Schafbock’ in der Bedeutung von ‘Schaf’ (ukr. Mda., ukr. baran), baranla als Ableitung von baran mit dem diminutiven Suffix -la ‘-lein’ für die Bezeichnung von ‘Lamm’, bika ‘Stier’ (ukr. Mda., ung. bika), bosha korovka ‘Marienkäfer’ (ukr. Mda. bosha korovka, ukr. sonetschko), khoza ‘Ziege’ (ukr. Mda. koza, ukr. koza), kozala Diminutiv für ‘Geiß’; husak ‘Gänserich’ (ukr. Mda. husak, ukr. husak), katschka ‘Ente’ (ukr. katschka), mazur ‘Kater’ (ukr. Mda. mazur, ukr. kit), mula ‘Maultier’ (ukr. Mda. mula, ukr. mul); shaba ‘Frosch’ (ukr. shaba), shuk (koloratski) ‘Kartoffelkäfer’ (russ. koloradskij shuk). Im deutschen Sprachgebrauch sind auch Entleh- 3. Ukraine 115 nungen aus der ungarischen Umgangssprache vorhanden: bogar ‘Käfer’ (ung. bogár), schvabbogar ‘Schabe’ (ung. svábbogár), kokosch ‘Hahn’ (ung. kakas), mokusch ‘Eichhörnchen’ (ung. mókus neben dt. Mda. akskatsel), pava ‘Pfau’ (ung. páva), pujko ‘Truthahn’ (ung. pulyka), tschiko ‘Enter’ (ung. csikó), somar ‘Esel’ (ung. szamár) u.a. Die beiden letzten Entlehnungen werden meist in übertragener Bedeutung gebraucht: tschotschi liebevoll für ein Kind, das wegen Mangel an Erfahrung Fehlgriffe tut, somar für die Bezeichnung eines störrischen, dummen und trotzigen Menschen (Melika/ Hvozdyak 1993: 233-235, Melika 1999b: 428- 439). Die Deutschen von Transkarpatien verwenden in ihrem Gespräch auch Entlehnungen im Bereich der Verwandschaftsbeziehungen: nejna ‘Tante’ (ung. néni), wnuka ‘Enkelsohn’ (ung. anuka), tjoschtscha ‘Schwiegermutter’ (russ. tjoschtscha), matotschka ‘Patin’ (ukr. Mda. matotschka), batschi ‘Onkel’ (ung. bá i) u.a. Länder-, Orts-, Nationalitätennamen werden meist nach ukrainischem Muster gebildet, seltener in der russischen Form verwendet: Ukrajina ‘Ukraine’ (ukr. Ukraina), Avstrija ‘Österreich’ (ukr. Avstrija), Armjanen ‘Armenier’ (ukr. armjanen), Russine ‘Ruthene’ (ukr. russin), Sibirj, Sibir ‘Sibirien’ (ukr. Sybir, russ. Sibir), Gruzija ‘Georgien’ (ukr. Hruzija, russ. Gruzija), Ukrajinzi ‘Ukrainer’ (ukr. ukrajinzi), Huzul ‘Huzule’ (ukr. huzul) u.a. Für die Bezeichnung der Nationalität von Frauen wird das Suffix -ka (wie es im Ukrainischen der Fall ist) hinzugefügt: Ukrajinka ‘Ukrainerin’, Madjarka ‘Ungarin’, Njemka ‘Deutsche’ usw. Unter dem Einfluss der ukrainischen Sprache bzw. der ukrainischen Mundart verwenden im Gespräch viele Gewährspersonen die deutschen Verben mit ukrainischen Suffixen -ate bzw. -ovate, vgl.: marschirovate ‘marschieren’, bigljovate ‘bügeln’, meldovate ‘melden’, luftovate ‘lüften’, puzovate ‘putzen’ u.a. Sehr oft werden bei den Gewährspersonen der Generationen I und II im Gespräch Gesprächspartikeln und Konjunktionen in drei Sprachen (Ukrainisch, Ungarisch und Russisch) gebraucht, vgl.: russ. tak schto ‘also’, russ. no ‘aber’, ‘na’, ukr. mund. lem ‘nur’, ung. vagy ‘oder’, ung. hagy ‘aber’ ung. hat ‘also’, na’, ung. vagy … vagy ‘entweder … oder’, wot ‘also’ u.a. Bei Jahreszahlen folgt die syntagmatische Struktur oft dem ukrainischen Muster: (98) a. Das war bis zum vierundvierziger Jahr [ukr. do sorok tschetwertoho roku]. (Ukr 1, MB: 1) b. Meine Tochter, ja, zwei Jahre. Sie war jetzt sechziger Jahr. (Ukr 3, BD: 5) Bei vollen Jahreszahlen werden, wie in den slawischen Sprachen üblich und anders als im Standarddeutschen, ab Tausend nicht die Hunderter weitergezählt: (99) Freilich, hier, ja, hier in Pausching, tausendneunhundertneunzehn bin ich geboren. (Ukr 3, BD: 1) Für die Bezeichnung des Alters wird von den Informanten dieselbe Wendung wie im Ukrainischen gebraucht: (100) Das ist die Tante Jultschi, sie ist Juliana, sie ist in Deutschland in Schweinfurt, sie hat schon zweiundneunzig Jahre. 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) Die starken Positionen der deutschen Sprache als Muttersprache beobachtet man nur in Transkarpatien. Zum deutschen Dialekt als Muttersprache bekennt sich heute nur die älteste Generation. Die deutsche Umgangssprache in Transkarpatien (die Umgebung von Mukatschevo und teilweise von Tjatschevo) wird heutzutage als Verkehrssprache zwischen der älteren und mittleren (teilweise auch jüngeren) Generation nur auf dem Lande verwendet. Bei der mittleren Generation wird diese Varietät durch die emotionale Bindung zur Familie und in vielen Fällen noch als die erste erlernte Haussprache empfunden. Die Dialektbewahrung in Form von „schwobischen“ Sprachbeziehungen wird im engen Familienkreis und auf der Straße im Gespräch mit Nachbarn gefördert. Je öffentlicher die Situation des Sprachgebrauchs ist, desto weniger wird der Dialekt gebraucht. Die stärkste Domäne des „Schwobischen“ ist das eigene Zuhause, dann folgen Straße, Kir- Olga Hvozdyak 116 che, Laden. Am Arbeitsplatz wird je nach Notwendigkeit Ukrainisch bzw. Russisch oder Ungarisch gesprochen. Die deutsche Standardsprache wird in den Schulen und Hochschulen gelernt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine betont die ältere Generation der Deutschen von Transkarpatien stärker als bisher ihre charakteristischen Merkmale. Die jüngere Generation versucht auch auf der Basis der traditionellen Werte der Deutschen von Transkarpatien ihre ethnische Identität wieder aufzubauen. 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Das Nebeneinander von zwei oder mehreren Sprachen in Sprachinseln führt in den meisten Fällen zu Sprachkontakt- und Sprachwandelphänomenen und nicht zuletzt zum Umschalten von der einen Sprache zur anderen (Code-Switching). Je häufiger das Umschalten, umso fortgeschrittener ist die Assimilation. Sprachmischung und Code-Switching sind für weitere sprachliche Phänomene verantwortlich: für Sprachbewahrung (language maintenance) und/ oder für Sprachwechsel (language shift) und Sprachverlust (language loss). Unter Sprachbewahrung wird die Erhaltung der Sprache auch unter veränderten sozialen Bedingungen verstanden (Hartig 1985: 118). Diese Erhaltung der Sprache korrespondiert auf der anderen Seite mit dem potentiell möglichen Sprachwechsel, der sich ebenfalls als Reaktion auf die sozialen Veränderungen ergibt. Wenn zumindest zwei Sprachen sich in einem längeren Kontakt befinden, der häufig mehrere Generationen umfassen kann, kommt es oft zum Sprachwechsel. Die Dauer von über zweieinhalb Jahrhunderten, seit die Karpatendeutschen in anderssprachiger Umgebung leben, musste zu Kontaktaufnahmen mit der bodenständigen ukrainischen und ungarischen Bevölkerung führen. Aus der Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen den Deutschen und anderssprachigen Gemeinschaften ergab sich eine Intensität der ethnisch-kulturellen, sozial-ökonomischen Beziehungen. Es kam zum Auftreten des Bilingualismus bzw. Multilingualismus und letztlich zum Eintreten des Sprachwechsels/ Sprachverlustes über den Sprachwandel und die allmähliche Sprachlähmung. Der Terminus „Code“ bezeichnet hierbei den eigentlich linguistischen Teil des Grundmodells und enthält solche Kategorien wie: Grammatische Marker, Subcode, Varietäten, Texttypen, Textsorten, Stile, Soziolekte, Dialekte. In einem solchen Code-Modell müssen auch nichtsprachliche Subcodes wie Gesten erfasst werden. Eine sehr wichtige Rolle dabei spielen die Code-Benutzer und ihre Fähigkeit, die sprachlichen und außersprachlichen Mittel entsprechend den sich ändernden Bedingungen, Absichten usw. erfolgreich einzusetzen (Code-Switching). Nach Bradean-Ebinger wird das Code-Switching, d.h. der Wechsel von einer Sprache zu einer anderen mitten im Satz oder im Text, u.a. von folgenden soziolinguistischen Variablen ausgelöst: Gesprächspartner, Domäne, Tätigkeitssphäre, wie z.B. Familie, Arbeit, Schule, weiterhin Thema, Ort, Interaktionstyp, wie z.B. Rede, Geschäftsverhandlung, freundschaftliches Gespräch, schließlich vom Rollenverhältnis (Bradean-Ebinger 1997: 34, vgl. auch Gehl 1998: 15-16). Der Sprachgebrauch hängt von vielen Kriterien ab: von den sprachlichen Situationen, in denen der Mensch verkehren muss; von der Mehrsprachigkeit des Individuums und seiner Umgebung; von der Sprachgemeinschaft, zu der es gehört; von dem Grad, in dem die Mehrsprachigkeit bei den Vertretern dieser Sprachgemeinschaft entwickelt ist; von der Frage, ob die Sprache, die der Sprecher wählt, die dominierende oder die subordinierte Sprache im Land ist usw. Der Sprachgebrauch hängt nicht zuletzt auch von psychologischen Kriterien ab, z.T. vom Psychotypus, vom Stimmungszustand, von Altersbesonderheiten, vom intellektuellen Stand des Menschen u.a. Die Code-Umschaltung ist in zweibzw. mehrsprachigen Gemeinschaften und in zweibzw. mehrsprachigen Kommunikationssituationen ein Indikator für die sprachlichen Beziehungen. Man unterscheidet zwischen (A) sprachextern (soziolinguistisch) und (B) sprach- 3. Ukraine 117 intern (psycholinguistisch) bedingtem Code- Switching. Die meisten im vorliegenden Zusammenhang analysierten Beispiele betreffen sprachexterne, d.h. außersprachlich bedingte Code-Umschaltungen, die von der Situation oder von bestimmten Intentionen des Sprechers usw. beeinflusst werden. Insgesamt sind Code-Switching-Phänomene in unseren Belegen sehr zahlreich. Nicht selten wird innerhalb einer Äußerung mehrmals in beiden Richtungen oder sogar in drei Sprachen umgeschaltet, z.B.: (101) Bei uns? Hat [= ung. ja] mehr Kinder waren. In unser Klass waren sehr wenig. Schon in der achten Klasse waren gekommen die - schon die ukrainische Dorfer. (…) alle von Kroatendorf, von Plankendorf waren (…). Z Dawedkowa potim do nas prechodele ushe u - - [= ukr. Aus Dawidkowo waren dann schon zu uns gekommen]. Dies ist die Tante Marija mit ihre Joseph und die seine Kinder, die sein Zwillingkinder. Das ist mein Großmutter ihrer Schwager, Roshi-Nejnija [= ung. Tante Rosa]. Mutter ist dort und ihr Vater. Hier ist auch meine Mutter in der Schule, schauen Sie. (Ukr 1, MB: 8) (102) Ja. Das war damals, kole zajschle sjuda njimzi, ta me wid tech njimziw pochodeme. One tuj strojele zamok, zamok robele [= ukr. Wir stammen von den Deutschen ab, die hierher gekommen sind. Sie hatten hier die Burg gebaut.] Die waren alle Maurer. Sie alle waren Bau/ - beschäftigt. Sie waren alle, alle dort geblieben, dort geheiraten. So seien sehr viel Schwoben da. (Ukr 2, AB: 5) (103) Ah, Ukrainisch. Hat, dies geht alles in die ukrainische Schule und wissen Sie (…) überall wäre deutsche, deutschge die Kinder, wie sagen wir woljej njewojej [= russ. ob man will oder nicht] brauchen sie so reden und so überall ist Ukrainisch und sie hat die otnoschenija [= russ. Beziehungen], und sie lernen alles Ukrainisch - und sie muss Ukrainisch. (Ukr MK: 13) (104) a. Nein. Die Mutter sehr pereshiwaty [= ukr. sich aufregen], aber ich war gegangen, no, jak kashutj [= ukr. na, wie man sagt man] Deutsche habe sehr ihn verstanden, alles. So schön geredet. (Ukr MK: 14) b. Nein, sie haben gefragt Dialekt bei uns, sie sagen misnej [= ukr. lokaler Dialekt], wodj [= ung. oder] wie im Haus. (Ukr MK: 14) Oft können Zitate oder einfache lexikalisch-semantische Transfers Code-Switching auslösen. In einigen Fällen wird danach wieder zum Deutschen zurückgewechselt, z.B.: (105) Ich mit ihm sprechen, ich habe mit die Hände und die Füße gesprochen Ukrainisch, Ungarisch, und er sagt: Morischko, ponjimawu, ponjimawu. Ja znawu z rukame, schto, jak ide, dobre, dobre, no. [= ukr. Morischko, ich verstehe, ich verstehe, Ich weiß, wie es mit Händen und Füssen geht, gut, gu. So.] So geht es. Man drückt sich aus, wie es geht. (Ukr 2, AB: 10-11) (106) Das ist römisch-katholische, ukrainische parafialjna hazeta [= ukr. die kirchliche Zeitung]. Ist schon eine alte Zeitung, aber - (Ukr 3, BD: 13) In einigen Fällen bleibt die Gewährsperson für den Rest ihres Gesprächs beim Ukrainischen bzw. Russischen: (107) (Die Enkelin ist gekommen und spricht mit BD Mundart.) Kurem zakirjala [= ukr. Ich habe die Hühner in den Hof getrieben]. Kapura bola otkreta [= ukr. mund. Die Pforte war auf]. Spasiba tobi [= russ., ukr. Ich danke dir]. Pak zakrejesch, aj? [= ukr. Dann machst du zu, ja? ] (Ukr 3, BD: 2) Ähnlich in folgendem Beleg: (108) CR: Und Natascha, das ist Ihre einzige Tochter, oder haben Sie noch Kinder? KP: Ein Bruder, Bursch. M: Ja, einen. Schisnadzjatj ritschnej [= ukr. sechzehnjährige]. (Ukr, KP: 8-9) Bemerkenswert ist es, dass die ältere Generation auch beim Ungarischen bleiben kann. Das hängt vom Thema des Gesprächs ab und davon, mit wem sie sprechen: (109) AK: nach Nodj Gejewzi sind wir wohnen gegangen, weil er dort war Meister und hatte zwölf - - Pfau - zwölf - - SH: Dörfer. Dörfer. Olga Hvozdyak 118 AK: Tiesen keht folu [= ungr. zwölf Dörfer] (Ukr 11, AK: 3) Code-Switching ins Tschechische finden wir allerdings nur zu Demonstrationszwecken wie in folgendem Beispiel: (110) BD: Also zuerst deutsche Schule und dann zwei Jahre tschechische. Das waren die letzten Jahre. Ja umem po esky mluvit' [= tsch. Ich kann tschechisch sprechen] CR: Ja, ja, ja. BD: Co chcete? Nechcem nic. [= tsch. Was wollen Sie? Ich will nichts.] (Ukr 3, BD: 7) Im monolingualen Sprechmodus findet Code-Switching insbesondere dann statt, wenn Sachverhalte nicht anders ausgedrückt werden können, oder bei Lehnwörtern: (111) Dies ist war zehn Stunden gekocht, das soll nicht verderben, - solche, no jak, saljizilka, abe piddershuwale tji, to [= ukr. also, wie Salizyl, damit es nicht verdirbt]. (Ukr 1, MB: 3) (112) Das ist drei Grivnja, das schreiben a Konwert [= ukr. der Briefumschlag] und a Mark [= ukr. die Briefmarke] kaufen, das ist sehr teuer von uns. (Ukr 7, MO: 16) Bei der Generation II findet Code-Switching vor allem dann statt, wenn die Sprecher schwierige Sachverhalte nicht deutlich ausdrücken können, weil der ihnen im Deutschen noch verfügbare Wortschatz nicht reicht, z.B.: (113) Alles raus so schön wschetko wejschlo wshe, ale taka suchota, scho to propadaje [= ukr. mda. alles ist aufgekeimt, aber es ist so trocken, dass alles austrocknen kann]. (Ukr 2, AB: 1) (114) AB: Nur Deutsch mit ihr rede. Sie ist eine ältere Frau, sie ist krank, sie hat Fuß gebrochen und liegt im Bett und kann nicht aufstehen. Kostji tak stojatj [= ukr. die Knochen stehen so] (zeigt), sie hat sehr große Weh, sie kann nicht gehen. Ihre Sohn ist nach Deutschland gefahren und ist dort geblieben, mit der Frau und mit den Kindern. Er hatte keine Probleme mit den Dokumenten gehabt. Er ist dort geblieben mit den Kindern und der Frau. So ist er dort geblieben. OH: Und wann? AB: A, u dewjanostech ischtsche rokach. [= ukr. Ach, in den neunziger Jahren.] OH: Jak poljitetschne ubesheschtsche. [= ukr. als politisches Asyl.] AB: Aj, i win maw dushe weleku problemu. [= ukr. Ja, und er hatte sehr große Probleme gehabt.] (Ukr 2, AB: 8) Sehr oft kommt dies vor, wenn es um Fachterminologie geht, z.B. im Bereich der Schulbildung: (115) MB: Sie war - - wona kintschala ukrajinsjku filolohiju [= ukr. Sie hat die ukrainische Philologie absolviert] in Ushgorod, ja. Zuerst ging noch in pädagogische - - OH: Fachschule MB: Fachschule hier, sie war ein Kindergartnerin und - und - nach sie nach Ushgorod die ukrainische filologia [= ukr. Philologie] hat sie sechs Jahre - ja. (Ukr 1, MB: 7) (116) Dort lernte sie, dort, wo mein Schwiegertochter ist a Lehrerin, wie heißt das nur - pedutscheleschtsche [= ukr. pädagogische Fachschule] (Ukr, MK: 9) Die Informanten wechseln häufig auch ins Ukrainische oder Russische, wenn es um Berufsbezeichnungen geht: (117) CR: Was waren Sie von Beruf? Was haben Sie gelernt? AB: Ich war -, wie soll ich Ihnen sagen, - - chutro, chutrowij majsternji [= ukr. Pelzwerkstatt] (Ukr 2, AB: 4) (118) Sie hat gearbeitet in/ in die Kollektivwirtschaft, in Kalchos [= ukr. die Kollektivwirtschaft], sie war Lankowa [= ukr. Gruppenleiterin] (Ukr 3, BD: 14) (119) CR: Lehrer. Und was unterrichtet er? MO: Er, no [= ukr. na], was sagen die - trudowoje nawtschannja [= ukr. Werkunterricht] CR: Was? MO: Er trudowoje, dies was arbeiten die Kinder - - Er ist phisiko-matematetschnej 3. Ukraine 119 [= ukr. physikalisch-mathematische Fakultät] (Ukr, MO: 4) (120) CR: Was sind Sie von Beruf, Herr M.? M: Tokarj [= ukr. Dreher]. Nit Schlosser, wodj [= ung. aber] Drachseln. (Ukr, KP: 8) Ähnliches gilt für Krankheiten: (121) Eine Frau ist schon gestorben. Sie hat krowoizljijanjije, jak to bude? [= ukr. Gehirnblutung, wie sagt man ? ] (Ukr 2, AB: 10) (122) Geheirat haben wir dort. Wissen Sie Frau, ich bin schon so, vielmal studiere, studiere und dann weiß ich nicht, wie brauch ich das sagen, Skleroz [= ukr. Sklerose] habe ich schon. (Ukr, MK: 10) Einige Sprecher (meist die jüngere Generation) wechseln auch in der deutsch definierten Interviewsituation in die ukrainische Mundart, ohne sich dessen bewusst zu sein: (123) KP: Ukrainisch kann ja sprechen, kann ich gut Ukrainisch, ja. M: Nit Ukrainisch, siljsjkej djialekt jak to bude? [= ukr. wie sagt man, die Dorfmundart? ] CR: Den ukrainischen Dialekt. Okay. M: Nit po zakarpatsjke, bo po zakarpatsjke buljba [= ukr. und nicht transkarpatisch, weil man transkarpatisch „buljba“ sagt] -, u nas krumplji, no tak [= ukr. und bei uns Kartoffel, so] (Ukr KP: 7-8) Code-Switching findet auch bei in beiden Sprachen ähnlich lautenden Wörtern statt bzw. bei solchen, die in beiden Sprachen eine ähnliche Bedeutung haben: (124) Heben sie die Preis, heben sie die Preis. Und das Fleisch ist nocheinmal so viel wie war schon. Wisimnadzjatj hriwnjiw, schistnadzjatj, wisimnadzjatj hrywnjew [= ukr. achtzehn Griwnja, sechzehn, achtzehn Griwnja] kostet Fleisch, ein Kilo. Das ist unnormalisch. Mein Mann hat zwei Kilo Fleisch gekauft und vierunddreißig Hriwnja bezahlt für zwei Kilo Fleisch. (Ukr 2, AB: 11) (125) Ich, meine Schwester waren in - - Metrika [= ukr. in der Geburtsurkunde] njemka [= russ. eine Deutsche] Deutsch, und Pass auch Deutsch. (…) Und jetzt brobieren Sie den Beamten zu erklären, wie ist das geschehen. (Ukr 3, BD: 20) (126) Ist viere/ vier Jahre lernen -no teper jak [= ukr. aber jetzt wie] dort ist Hochschule, wer, wer, ja, wer dort lernt, sie geht schon auf/ Von Iwano-Frankowsk dort ist auch Filial [= ukr. die Filiale] dort schon bei uns, das geht nicht - hier schon - (Ukr 7, MO: 2) Dies ist oft der Fall bei internationalem Wortschatz: (127) Früher konnte man für zehn Griwnja mehr kaufen als jetzt. Vor zwei Jahren zehn Griwnja und jetzt, ist großes Unterschied. Sie brauchen die Kompensazija [= ukr. Kompensation]. (Ukr 2, AB: 15) Es gibt Beispiele von Doppelungen, wo ein Sprecher zuerst eine deutsche Äußerung und dann eine auf Ukrainisch wiederholte Form, meist in Form einer genaueren Erklärung bzw. einer Verbesserung, verwendet: (128) a. Ja, ja, hier war ein große Fluss bei uns, no, sauber, nicht wie jetzt. Überhaupt hier sollen die Kinder (…), so, das war sehr interessant. Nudel mit - mit - Mohn, z makom, haluschke z makom [= ukr. mit Mohn, Nudeln mit Mohn]. (Ukr 1, MB: 4) b. Sie, sie, meine Gevatterin, wona kuma, me kumowja [= ukr. Sie ist meine Gevatterin. Wir sind in Gevatterschaft]. (Ukr 1, MB: 9) c. Es war nicht aus, sie sind schon kommen, aber - wenig mal schon. So. Jeder hat Schreck gehabt, wissen Sie - Bule strachittja, znajete, jak [= ukr. Es war Angst, wissen Sie, wie es ist.] (Ukr 1, MB: 2) Bisweilen findet sich auch der umgekehrte Fall, d.h. dass zunächst ins Ukrainische geswitcht wird und danach die deutsche Übersetzung nachgetragen wird: (129) Und das war die Hochzeit nach dem Krieg, das war schon in sechziger Jahr, ich war noch jung (…). Das war in pjatdesjat schostomu rozi [= ukr. das war im Jahre sechsundfünf- Olga Hvozdyak 120 zig]. Sechsundfünfziger Jahr. (Ukr 1, MB: 8) (130) In Palanok war auch dort - sadek [= ukr. Kindergarten] - Kindergarten. (Ukr 3, BD: 23) In einigen Monologen kann man dreifaches Code-Switching beobachten. Im folgenden Beleg verwendet die Gewährsperson für die Bezeichnung ihrer Tante das deutsche Wort Tante, das ukrainische tjito ka und das ungarische nejni, z.B.: (131) MB: So, ja, nach dem Krieg. Im Hof war die Hochzeit. Im Sommer war die Hochzeit, im Winter wenig war die Hochzeit. No ze, ze moja tjitotschka, kole pretschaschtschalasja perschej raz, nascha Gisija. Taki m fotohrafiji stari wubrala [= ukr. Das ist meine Tante bei der ersten Firmung, unsere Gisela. Ich habe solche alte Fotos gewählt]. Das ist die Tante Jultschi, sie ist Juliana, sie ist jetzt in Deutschland in Schweinfurt, sie hat schon zweiundneunzig Jahre. CR: Ja? MB: Jetzt. Die Jultschi-Nejni [= ung. die Tante Julia]. Schauen Sie, sie war sehr krank. (Ukr 1, MB: 10-11) Ein Beleg für Switching zwischen Ukrainisch und Deutsch: (132) Schauen Sie, drei Mädchen, jak bulo zikawo. Se moja baba, - a ze moja mama [= ukr. Wie interessant es war. Das ist meine Großmutter und das ist meine Mutter]. Das ist mein Mutter. (Ukr 1, MB: 12) In mehreren Beispielen kommt Code- Switching vor, wenn der Gewährsperson das betreffende Wort im Deutschen nicht einfiel oder nicht bekannt war. Es zeigen sich (besonders bei den Generationen II und III) immer deutlicher bestimmte Anzeichen der Abschwächung ihrer mundartlichen Deutschkompetenz. Besonders bei den Generationen III und IV zeigt sich die zunehmende Unsicherheit des Basisdialekts, z.B.: (133) CR: Aber die Mutter und der Vater, wie haben die mit - als Kind geredet? M: Deutsch, nicht Deutsch, Schwobisch. Sadek, no, do posljidnjoho [= ukr. der Kindergarten, na, bis zum Ende] (…) CR: Und mit dem Bruder haben Sie immer Ukrainisch geredet? M: Ukrainisch, damals pytawsja, no chotjiw [= ukr. habe versucht, na, er wollte]. (Ukr, Popowitsch: 11) Nur diejenigen jungen Leute (Generation IV) können Dialekt sprechen, die eine deutsche Abteilung bzw. eine Hochschule beendet haben. Aber in meisten Fällen sprechen sie Hochdeutsch. Bei einem Sprecher, der sich im deutschen Dialekt unsicher fühlt, wird das Gespräch metakommunikativ begleitet (Kommentare, Pausen, Wiederholungen usw.): (134) CR: Also dann können Sie am besten Ukrainisch reden? Oder können Sie besser Schwobisch reden? M: Smotrja od obstanowke [= russ. Das hängt von der Situation ab]. Wenn Deutsch, dann hätte müsst Deutsch - dann müssen - perstrajowatesja [= russ. übergehen]. Zu wann Deutsch reden, alle sind ukrainisch. CR: Aber Deutsch verstehen können Sie schon alles? M: Lehsche tscherez perewodtscheka [= ukr. Es ist leichter mit Hilfe eines Dolmetschers.] (lacht) OH: Er versteht Schwobisch, aber reden kann er nicht. M: Kashdoje desjatoje [= ukr. jedes zehnte Wort] (…) OH: Er hat viel vergessen. KP: Sehr viel slowa, slowa, slowa [= ukr. Wörter, Wörter, Wörter], wie sagt man slowa [= ukr. Wörter], so dass pochoshi [= ukr. ähnlich sind]. (Ukr, KP: 10) 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines In den meisten Regionen der Ukraine, wo die Deutschen noch geblieben sind, sind sie 3. Ukraine 121 größtenteils verstreut und haben sich an die einheimische ukrainische bzw. russische Bevölkerung assimiliert und sprechen sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit, mit Freunden, Bekannten, im Geschäft usw. Ukrainisch bzw. Russisch. Nur die älteste Generation in ländlichen Gebieten spricht teilweise zu Hause oder mit Freunden ihres Alters (wenn solche in der Umgebung sind) Deutsch. Junge Leute, die die deutsche Sprache als Erstsprache zu Hause erworben haben, sind meist nach Deutschland ausgesiedelt oder haben vor, nach Deutschland auszureisen. Ein großes Problem besteht auch darin, dass die Generation I meist Dialekt spricht, die jüngeren Leute (Generationen III und IV) hingegen ein Standarddeutsch, das sie in der Schule oder Hochschule erworben haben. 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Nach den Angaben der Volkszählung aus dem Jahr 2001 von 33.302 Deutschen, die auf dem Territorium der Ukraine leben, halten nur 4.056 (12,2 %) Deutsch für ihre Muttersprache. Für 7.360 (22,1 %) Deutsche ist Ukrainisch ihre Muttersprache; 21.549 Deutsche (64,7%) nennen als ihre Muttersprache Russisch (Volkszählung 2001: 25). Wenn man die Volkszählung von 2001 mit der von 1989 vergleicht, kann man feststellen, dass sich die Zahl der Deutschen der Ukraine, die Deutsch als ihre Muttersprache bezeichnen, seither mehr als halbiert hat. Fast verdoppelt hat sich die Zahl der Deutschen, die Ukrainisch als ihre Muttersprache bezeichnen (vgl. Tabelle 6). Eine genauere Aufschlüsselung über die Angaben zur Sprachkompetenz bei der Volkszählung 2001 geben die Tabellen 13 bis 16 im Anhang auf S. 143-144. In den folgenden Kapiteln geht es um den Sprachgebrauch und die sprachliche Kompetenz der Deutschen von Transkarpatien, die bis heute ihre Muttersprache bewahrt haben. Die meisten Sprecher finden sich auf dem Lande; von den Stadtbewohnern deutscher Nationalität wird die deutsche Sprache gewöhnlich nicht (bzw. nur passiv) gebraucht, da die Familien meist gemischt sind. In solchen Familien wird gewöhnlich entweder Ungarisch oder Ukrainisch bzw. Russisch gesprochen. Ein Teil der Gewährspersonen (meist der Generationen I und II) stammen aus echten deutschen Familien, wo sowohl der Vater als auch die Mutter deutscher Nationalität sind, ein anderer Teil (meist der Generationen III und IV) stammt aus gemischten Familien, in denen der Vater Deutscher ist und die Mutter einer anderen Nationalität angehört oder umgekehrt. Im Falle der Mischehen geben die meisten Befragten an, die Muttersprache der Mutter übernommen zu haben, nur in wenigen Fällen die des Vaters. Unsere Befragung bestätigt die Einschätzung von Melika, dass dies damit zusammenhängt, dass die Erziehung der Kinder in erster Linie die Aufgabe der Mutter war und dass diese die meiste Zeit mit ihnen verbrachte, während der Vater bei der Arbeit war und das Geld für die Familie verdiente. Eine wichtige Rolle in gemischten Ehen spielte jedoch auch die Umgangssprache der Großmutter, die sich um die Enkelkindern kümerte, während die Eltern bei der Arbeit waren (Melika 1991: 89-91). Bei den Befragten aus Mischehen entstanden auch gewisse Verunsicherungen daraus, dass bei manchen Gewährsper- Deutsch als Muttersprache Ukrainisch als Muttersprache Russisch als Muttersprache absolut in Prozent absolut in Prozent absolut in Prozent Volkszählung 1989 8778 23,2 3466 9,2 25451 67,2 Volkszählung 2001 4056 12,2 7360 22,1 21549 64,7 Tabelle 6: Verteilung der Deutschen der Ukraine nach der Muttersprache (Volkszählungen 1989, 2001: P. 4) Olga Hvozdyak 122 sonen die Muttersprache und die Nationalitätszugehörigkeit nicht übereinstimmen. In den Dörfern wird noch Deutsch gesprochen. Alle Gewährspersonen der ersten Generation schätzen ihre Kompetenzen in der deutschen Sprache (Mundart) hoch ein. Die meisten von ihnen geben an, dass sie nach der deutschen Mundart besser Ungarisch bzw. Russisch sprechen als Ukrainisch. Ukrainisch beherrschen sie kaum oder nur die ukrainische Mundart (Russnakisch oder Ruthenisch). Das hängt damit zusammen, dass das Territorium von Transkarpatien geschichtlich in verschiedene Zeitperioden zu verschiedenen Staaten gehörte (siehe Kap. 3.3), was einen besonderen Einfluss auf die sprachliche Kompetenz dieser Personen hatte. Viele Gewährspersonen der Generation I haben nur die unteren Klassen der Grundschule absolviert. Einige von ihnen haben in der Grundschule Deutsch und Ungarisch gelernt, darum können sie ein bisschen Deutsch und Ungarisch schreiben. Die Gewährspersonen, die während der Tschechoslowakischen Republik die Schule besucht haben, können ein wenig Tschechisch lesen und schreiben, obwohl sie nach eigenen Angaben viel von dieser Sprache vergessen haben (Ukr BD: 6- 7). Bei den Befragten der Generation I wird ihre sprachliche Kompetenz in einem deutschen Dialekt sehr hoch eingeschätzt, das Beherrschen des Standarddeutschen allenfalls als gut bis mittelmäßig. Außerdem können sie Ungarisch und Ukrainisch (Russnakisch, Ruthenisch) sprechen und schreiben (Ukr BD: 6-7). Die ukrainische Literatursprache beherrschen sie nicht. Die Sprecherinnen und Sprecher der ersten Generation sprechen mit ihren Enkelkindern meist Hochdeutsch, obwohl diese oft auch die Mundart verstehen (Ukr MZ, 3). Einige sprechen bewusst die deutsche Mundart und begründen dies damit, dass ihre Enkelkinder die Sprache ihrer Großeltern nicht vergessen dürfen. Die Befragten der zweiten Generation schätzen ihre Kompetenz in der deutschen Sprache sehr unterschiedlich ein, von gut bis mangelhaft. Einige sagen, dass sie die russische bzw. die ungarische Sprache besser als die deutsche Mundart beherrschen, obwohl sie letztere im Gespräch mit ihren Eltern öfters gebrauchen. Die ungarische und die russische Sprache haben sie in der Schule gelernt, Russisch z.T. auch an der Hochschule (Ukr BD: 18). Die Selbsteinschätzung der Sprachkompetenz der Gewährspersonen hängt auch von ihrer Bildung ab. Je höher der Bildungsgrad der Informanten ist, desto kritischer wird die eigene Sprachkompetenz in der deutschen Sprache bzw. in deutscher Mundart eingeschätzt, auch wenn sie objektiv gesehen relativ hoch ist. Die Deutschkompetenz bei den Sprecherinnen und Sprechern der dritten und vierten Generationen wird ebenfalls sehr unterschiedlich eingeschätzt. Sie geben das Ukrainische bzw. Russische (manchmal Ungarische) als ihre bestbeherrschte Sprache an. Da einige der Informantinnen die deutsche Abteilung an der Universität Ushhorod absolviert haben, besitzen sie gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift. Aber fast alle Befragten der dritten und vierten Altersgruppe geben an, dass sie „Schwobisch“ entweder „schlecht“ oder „gar nicht“ beherrschen. Nur eine von ihnen (Ukr AS) gibt an, dass sie die deutsche Mundart gut beherrscht (beide Elternteile dieser Gewährsperson sind deutscher Abstammung). Die jüngere Generation begann aus eher wirtschaftlichem Interesse wieder, die deutsche Sprache zu erlernen (z.B. um eine Stelle als Dolmetscher zu bekommen oder als Deutschstämmige nach Deutschland ausreisen zu können). 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen Sprachgebrauch wie auch die Sprachkompetenz sind in den einzelnen Sprechergenerationen höchst unterschiedlich. In der Regel wird die deutsche Sprache bei den Generationen I und II häufiger gebraucht als bei den jüngeren. Insgesamt wurden für den Sprachgebrauch im Netzwerkmodell „Sprachgebrauch- und -kompetenz“ die Aussagen von 43 Gewährspersonen ausgewertet (nicht nur 3. Ukraine 123 die, die interviewt wurden, sondern auch neun Studenten deutscher Nationalität, die an der Universität Ushhorod studieren): - Generation I: vor 1930 geboren - Generation II: zwischen 1930 und 1945 geboren - Generation III: zwischen 1946 und 1970 geboren - Generation IV: zwischen 1971 und 1990 geboren 6.3.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte 6.3.1.1 Nahestehende Personen Alle Informanten der ersten Generation geben an, dass sie mit ihren Eltern nur Deutsch gesprochen haben. Die älteren Informanten sprechen mit ihren Ehepartnern (sofern sie noch leben) im alltäglichen Verkehr meist „Schwobisch“, switchen jedoch auch gelegentlich ins Ungarische und in die ukrainische Mundart. Die Sprecherinnen/ Sprecher, deren Partner schon gestorben sind, geben an, früher mit ihnen in deutscher Mundart gesprochen zu haben. Charakteristisch in diesen Konstellationen ist, dass die Befragten der ersten Generation auch mit ihren Kindern und Enkelkindern Deutsch (oder eine Mischung Deutsch und Ungarisch bzw. Deutsch und der ukrainischen Mundart) sprechen. Die Kinder antworten meist auch auf Deutsch, die Enkelkinder (Generationen III und IV) gemischt (Deutsch und Ukrainisch, manchmal Ungarisch). Manchmal sprechen die Großeltern mit den Enkelkindern Deutsch, diese antworten aber auf Ukrainisch bzw. auf Ungarisch. In den gemischten Familien der Generation II sprechen die Kinder öfters kein „Schwobisch“ (Ukr BD, 17). Die Enkelkinder der Generation II reden meist mit ihren Großeltern Ungarisch oder Ukrainisch (Ukr BD, 18; 20). Das hängt auch davon ab, in welcher Familie die Enkel erzogen wurden und welche Sprache in dieser Familie die dominante war. Die Problematik einer zweisprachigen Kindererziehung in echten deutschen Familien ist nicht zuletzt mit der Furcht vor Repressalien verbunden (die Großeltern haben das selbst erlebt), und auch mit gewissen Lebensumständen der Eltern. Nicht zuletzt hängt es davon ab, welche Schule die Kinder besuchen oder besucht haben. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine beobachtet man die Wiederbelebung der deutschen Sprache (bzw. der deutschen Mundart). In den deutschen Familien kann man feststellen, dass die Großeltern bzw. die Urgroßeltern mit ihren (Ur-)Enkelkindern die deutsche Sprache sprechen und diese auf Deutsch antworten. In einigen gemischten Familien kann man beobachten, dass die Kinder mit der Mutter deutscher Nationalität Deutsch sprechen und mit dem Vater, der Ungar ist, Ungarisch. Die übrigen Gewährspersonen, die mit ungarisch- oder anderssprachigen Ehepartnern verheiratet sind, gebrauchen in der Familie ausschließlich das Ungarische. Sie haben z.B. (wie etwa im Falle der Gewährsperson ED) Probleme mit dem Deutschen, weil sie diese Sprache nicht jeden Tag sprechen (Ukr ED 3, 18). Dieses Problem veranschaulicht der folgende Gesprächsauszug: (135) CR: Und Ihr Sohn ist ja, haben Sie gesagt, mit einer Ukrainerin verheiratet? JF: Ja. CR: Und wie reden denn die heim mit den Kindern? JF: Jetzt, wie soll ich sagen, zu Haus, er ist schuld, weil ich bin sehr - ich leide es nicht, sie reden Ruthenisch. Wenn er kommt zu mir, dann wird Deutsch gesprochen. Wegen die Schwiegertochter da muss ich Ruthenisch sprechen, weil sie versteht nicht. Die will nicht. Die seien so. Ich nicht/ ich jede National [= ukr. die Nationalität], nur ein leide ich nicht, warum nicht lernen die Sprache? Das schadet ja auch. Wie Sie sagen Französisch, no bei Ihnen ist es näher. CR: Ja. JF: Mir auch ist CR: Russisch oder Ungarisch JF: Ungarisch. No wenn der der von (…) kommt ich kann mit ihm auch mit der Hände auch mit mit Wörter. No doch Olga Hvozdyak 124 können wir verstehen. Und das ist gut, weil, weil ich (…) war ich bei meiner Cousine, sie hat geheiratet in Tschechei, ich bin zu ihr gekommen, ihr Mann und er hat gewusst schon, wenn ich zwei drei Wörter auch gewusst, was ich, so hat er mir erklärt. Und war zufrieden. (Ukr JF: 3) 6.3.1.2 Weitere nahestehende Personen Unterschiedlich ist auch der Sprachgebrauch mit den Geschwistern (je nach Generationszugehörigkeit). Das hängt davon ab, ob die Geschwister in Deutschland oder in der Ukraine bzw. in Ungarn, der Slowkei, Russland usw. leben. Die Gewährspersonen der ersten Generation geben an, dass sie mit ihren Geschwistern Deutsch sprechen (oder gesprochen haben), oder wenigstens Deutsch und Ungarisch, selten Ukrainisch oder Russisch gemischt. Mit den Geschwistern, die in Deutschland leben, korrespondieren sie in der Regel auf Deutsch; wenn sie sich treffen, unterhalten sie sich nur auf Deutsch. Viele Sprecherinnen und Sprecher haben nahestehende Verwandte in Ungarn. Wenn diese zu Besuch kommen, switchen sie zwischen Deutsch und Ungarisch. Sprecherinnen und Sprecher der zweiten Generation gebrauchen im Gespräch miteinander auch oft die deutsche Mundart. Aber öfter sprechen sie miteinander ebenso eine andere Sprache (meist Ungarisch oder Russisch). Hier ist des Weiteren zu beachten, wann die Geschwister geboren wurden (ältere und jüngere, nach dem Krieg, in der Sowjetzeit geborene Generation). Mit den älteren herrscht dann eine Sprachform vor, die durch sehr starkes Code-Switching zwischen dem Deutschen und Ungarischen bzw. Deutschen und Russischen geprägt ist. Mit den jüngeren Geschwistern wird in der Regel nur noch Ukrainisch, Ungarisch oder Russisch gesprochen. In den Generationen III und IV wird nur Ungarisch, Russisch und Ukrainisch als Geschwistersprache angegeben. Die gleichen Beobachtungen gelten auch für den Sprachgebrauch mit Cousinen und Cousins. 6.3.1.3 Weiterer Freundes- und Bekanntenkreis Viele Deutsche aus Transkarpatien sind in den letzten Jahren nach Deutschland (wenige nach Österreich) ausgesiedelt. Darum wird die Kommunikation mit ihnen in der Regel auf Deutsch (Generationen I, II, seltener III) geführt. Mit den Freunden und Nachbarn in ihrer eigenen Umgebung spricht die Generation I Deutsch; die Generation II switcht zwischen Deutsch und Ungarisch bzw. ukrainischer Mundart, manchmal Russisch. Die Generationen III und IV sprechen mit Freunden und Bekannten meist eine Mischvarietät (Russisch, Ukrainisch oder Ungarisch, selten nur Deutsch). In der Kirche beim Gottesdienst, im Begegnungszentrum „Wiedergeburt“, beim Chor usw. führen sie die Gespräche nur auf „Schwobisch“ (alle Generationen). 6.3.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte 6.3.2.1 Personen mit häufigem Kontakt Die meisten Gewährspersonen haben mindestens ein oder zwei Kinder in ihrer Nähe, meist auch die Enkelkinder. Als Familiensprache überwiegt die deutsche Mundart, obwohl man in letzten Jahren auch nicht selten die ukrainische Mundart vernehmen kann. Mit Bekannten und nahestehenden Personen sprechen die Deutschen von Transkarpatien die Sprache, die ihre Freunde bzw. Bekannten beherrschen. Auf die Frage „In welcher Sprache antworten Sie? “ hat MF so geantwortet: (136) CR: Aber, wenn Sie jemand auf der Straße anreden, dann reden Sie auf alle Fälle zuerst mal Ukrainisch, oder? MF: Wie sie fragen, so antworte ich. (…) CR: Und wenn Sie jemanden fragen? MF: Ich? N: Sie kennt schon nach Angesicht, ob er Ungare ist oder eine Ukrainka. Wir kennen schon. Nach ihrer Kleidung. Eine Deutsche/ MF: Das sieht man gleich. (Ukr MF: 6) Die Urenkel (Generationen III und IV) beherrschen die deutsche Mundart eher passiv 3. Ukraine 125 als aktiv. Das hängt aber auch davon ab, in welcher Familie sie geboren wurden (in einer deutschen oder in einer gemischten Familie): (137) OH: Und wie sprechen Sie mit Urenkeln? Hier, in Mukatschewo, Deutsch oder Ukrainisch? BD: Ukrainisch sprechen sie. Sie können, aber - no, Schreiben, in die Schule gehen sie in Ushgorod, in die Hochschule/ weiß ich - OH: in die Universität BD: und lernen sie deutsche Stunde, aber spricht auch schön Deutsche. Sie kann lesen und schreiben, sie kann sehr schön Deutsch sprechen. CR: Und dann reden sie daheim Ukrainisch. BD: No [= ukr. na], ja, ja. Die Mutter keine und - in die Schule in die ukrainische gegangen, alles hat Ukrainisch gesprecht. BD: Ich nur Deutsch. Nur Deutsch. OH: Sie verstehen alles. BR: Wer? OH: Die Urenkel. BD: Ja, verstehen. Die Enkel hier die andere sprechen Deutsch. Diese eine. Diese, was in die Stadt - OH: in Mukatschevo. (Ukr BD: 5-6; Ukr BD: 17) 6.3.2.2 Personen mit gelegentlichem Kontakt Zu Personen mit gelegentlichem Kontakt zählen wir Kollegen, Nachbarn und Freunde, mit denen die Konversation, je nach der Situation auf Deutsch oder Ungarisch (Generation I), auf Deutsch, Ungarisch, Ukrainisch oder Russisch (Generationen II und III), oder auf Russisch oder Ukrainisch (Generation IV) geführt wird. Der Gebrauch der Sprache hängt auch vom Thema ab. Im Geschäft z.B. wird das Gespräch in der Sprache der Verkäuferin durchgeführt. Es ist auffällig, dass die Informanten der ersten, zweiten und sogar der dritten Generation sehr leicht aus einer Sprache in eine andere übergehen. Meist sprechen sie miteinander Mundart. 6.3.2.3 Personen mit seltenem Kontakt Bei vielen Informanten sind sehr nahestehende Personen nach Deutschland ausgesiedelt. Sie treffen sich einmal, manchmal zweimal im Jahr. Viele von ihnen sprechen alle zwei Wochen per Telefon miteinander. Solche Gespräche finden auf Deutsch statt. Viele der Informanten (besonders die Generationen I und II) waren entweder noch nie oder höchstens einbis zweimal in Deutschland. Die ausgesiedelten Verwandten kommen zu ihnen zu Besuch (meist einmal pro Jahr). Die Kommunikation findet dann auf Deutsch statt. 6.3.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch Die ältere Leute geben an, dass sie Deutsch denken und rechnen, vgl.: (138) ich - ich denke Deutsch, und dann übersetze ich auf Ukrainische, das stimmt (Ukr JF: 3; MF: 2) (139) ich rechne im Kopf Deutsch (Ukr JF: 3). Eine Gewährsperson berichtet Folgendes: (140) OH: und wenn Sie rechnen? Wie rechnen Sie, Deutsch oder Ungarisch im Kopf? MK: Deutsch OH: Nur Deutsch, aha. Gut. Und wenn Sie mit jemandem sprechen, also, auf der Straße, wie können Sie am besten Ihre Gefühle äußern? MK: Alles eins. Ich kann auch gut Ungarisch reden, ich kann auch gut Schwabisch reden, mir ist alles eins wie geret. (Ukr MK: 10) Aber man beobachtet doch im Gespräch etwa bei der Benennung von Jahreszahlen den Einfluss der ukrainischen bzw. der russischen Sprache, bei Formen wie: im dreiundachtziger Jahr (Ukr MH: 2). - Die Gewährspersonen der ersten Altersgruppe, die dazu befragt wurden, gaben an, dass sie sowohl Schimpfwörter als auch Kosenamen zu ihren anderssprachigen Ehepartnern, Kindern oder Enkelkindern immer auf Deutsch bzw. auf Ungarisch artikulieren würden. Auch mit den Haustieren reden sie Deutsch. Von den Sprecherinnen und Sprechern der zweiten und dritten Generation wird dabei schon das Ungarische bzw. die Olga Hvozdyak 126 ukrainische Mundart oder das Russische gebraucht. Alle Informanten der Generation I geben an, dass sie deutsche Zeitungen, Zeitschriften, die Bibel, manchmal deutsche Bücher lesen. Bei den anderen Gewährspersonen beschränkt sich dies auf die Sprecherinnen und Sprecher, die aufgrund von Studium oder Beruf Deutsch lesen müssen (z.B. Deutschlehrerinnen). Fast alle Informanten der Generation I geben an, dass sie Briefe an Verwandte in Deutschland auf Deutsch schreiben. Die Befragten der Generation I schreiben auch auf Deutsch, und zwar oft noch in deutscher Handschrift (und besser als Russich bzw. Ukrainisch), wie sie es in der Schule gelernt haben (Ukr BD: 8-9): (141) CR: Sagen Sie, und schreiben Sie auch deutsch? BD: Ja. CR: Schreiben Sie, Ihrer Tochter z.B. Briefe auf Deutsch? BD: Ja, deutsche Briefe schreibe ich. CR: Können Sie gut deutsch schreiben? BD: No, sind auch Fehler drinnen, aber es geht. Ich kann auch Kurrentdeutsch schreiben. Wissen Sie - CR: Sie haben in der Schule - BD: Ja, Kurrentdeutsch habe ich in der Schule gelern. Ja, ja. (Ukr BD: 8-9) MH hat uns mitgeteilt, dass es für sie leichter ist Deutsch zu schreiben, als zu sprechen: (142) CR: Und Deutsch schreiben können Sie auch? MH: Ich schreibe, ja. Ich schreib besser, wie rede. CR: Ehrlich? (lacht) MH: Schreiben geht, schreiben geht, weil ich oft schreibe. (Ukr MH: 8-9) Es gibt aber auch Personen, die angeben, besser Russisch zu schreiben: (143) Hier war alles Russisch, so viele Jahre war Russisch. Bis neunziger Jahr hat alles, also mein Arbeit, überall nur Russisch. Und nach neunziger Jahr ist schon alles Ukrainisch. (Ukr MH, 5) Von den übrigen Informanten sind dies nur diejenigen, die beruflich mit Deutsch zu tun haben (Ukr, AS). Die jüngere Genaration, die in der Schule oder an der Universität Deutsch gelernt hat oder Deutsch lernt, kann „ein bisschen“ oder „schlecht“ Deutsch schreiben. Diejenigen, die die deutsche Abteilung der Universität absolviert haben, schreiben dementsprechend gut Deutsch. 6.3.4 Mediennutzung Die ältere Generation liest gern deutsche Zeitungen und Zeitschriften, die sie von der Kirche bekommen. So hat z.B. BD angegeben, dass sie die Zeitung „Zur Zeit“, die von der örtlichen Kirche herausgegeben wird, gern liest (Ukr BD: 15). Die jungen Leute lesen auch die Zeitung „Das neue Leben“ (Ukr AS: 7). Einige ältere Gewährpersonen können auch Ukrainisch lesen, aber nach eigener Auskunft nur „schwach“ (Ukr BD: 15). Die jüngere Generation liest gut Deutsch, weil sie es in der Schule gelernt, teils an der Universität studiert hat (Ukr AS: 5; Ukr MK: 5, 8). Die Deutschen von Transkarpatien, wie auch die Deutschstämmigen in anderen Regionen der Ukraine sehen gern deutsche Fernsehprogramme und hören gern deutsche Rundfunksendungen, besonders die Deutsche Welle (Ukr BD: 16; 24). Sie sehen auch gern die ukrainischen und die ungarischen Programme (Ukr BD: 13-14) (einige geben jedoch an, dass sie lieber ungarische Sendungen sehen). Besonders gern sehen sie Nachrichten und Kulturprogramme. 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen Die professionellen Sprecher, v.a. Deutschlehrer (Ukr, AS) und Studenten der deutschen Abteilung (Ukr, KT), benutzen die deutsche Sprache im Unterricht. Sie haben auch Beziehungen zu deutschsprachigen Personen im Ausland, mit denen sie nur Deutsch sprechen. Auch andere Gewährspersonen bekommen gelegentlichen Besuch aus Deutschland von Bekannten oder Verwandten, deren Kinder bereits in Deutschland geboren sind und keine andere Sprache (in unserem Falle Ukrainisch, Russisch, Ungarisch) sprechen. 3. Ukraine 127 Für die Generationen I und II stellt dies kein Problem dar. Den Generationen III und IV dagegen fällt es viel schwerer, sich des Deutschen als alleiniger Verständigungssprache zu bedienen. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahre 1991 kann man einen Zuwachs von Sprachkompetenz im Deutschen bei den karpatendeutschen Gewährspersonen feststellen. Eine große Rolle dabei spielen die Kirche und die neugegründten deutschen Begegnungszentren. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Alle Sprecher haben eine sehr positive Einstellung gegenüber der deutschen Sprache (bzw. der deutschen Mundart). Für die meisten Interviewten der Altersstufen I, II und III ist Deutsch die Muttersprache, obwohl einige von ihnen die deutsche Sprache und ihre Mundart nicht besonders gut oder nicht perfekt beherrschen (Ukr BD: 6). Als Umgangssprache zu Hause dient fast allen Sprechern die deutsche Mundart („Schwobisch“), obwohl sie auch die anderen Sprachen verwenden, insbesondere die ungarische. Auf die Frage „Welche Sprache benutzen Sie am häufigsten? “ hat eine der Befragten so geantwortet: (144) ED: Und - also, in Kljutscharka war es so: auf der Straße, mit die Kameraden, Russnakisch. Das ist ein Mundart von Ukrainischen, karpatenländische. BD: Und zu Hause nur auch Deutsch haben wir gesprochen. ED: Und wir sind in Haus gekommen - Schluss. Kein ukrainisches Wort. (Ukr BD: 22) In einigen Familien ist Ungarisch oder Ukrainisch (bzw. die ukrainische Mundart) die Haussprache: (145) ED: Ihr Mann ist ein Russyn [= ukr. Ruthene], Ukrainer, und sie reden nur Ukrainisch. CR: Reden Sie mit Ihren Enkelkindern - ED: Ungarisch. Ja. Meine Schwiegermutter war auch deutscher Abstammung, aber sie ist auch geheiratet ein Ungarn; und sie sind ungarisiert geworden. CR: Sie haben zu Hause dann ungarisch geredet. ED: Ja, Ungarisch gesprochen, mit ihr Mann und so weiter. Also, jetzt möchte ein jeder Deutsche sein, aber damals in - - in der Zeit dort - nach der/ (Ukr BD: 20) Die positive Einstellung zur Sprache kommt auch in den deutschen Liedern zum Ausdruck, die die Generationen , und sehr gern in der Kirche und im Klub (im Chor) singen. So gibt z.B. die Informantin AB an, dass sie mit Freundinnen singen geht. Die deutschen Lieder hat die Mutter von AB gesungen, und jetzt lernen wiederum sie diese Lieder im Chor (Ukr AB: 1). Im Chor, den MH organisiert und für den sie eine Liste von den deutschen Liedern aufgestellt hat, singen sie nicht nur deutsche Lieder (die Heimatlieder, wie z.B. „Karpatenland“), sondern auch Kirchenlieder (Ukr AB: 1). AB berichtet: (146) Die Lieder findet man in den Büchern, die älteren Frauen haben was in der Schule gesungen, und die wissen das. Die Magdalena hat uns mehr geschrieben. Sie haben gemacht solche große papki [= ukr. Mappen] und dort (…) schaut man. (Ukr AB: 1) Es gibt gemischte Familien, wo eine Großmutter Deutsch und die andere Ukrainisch spricht. Eine Sprecherin hat uns berichtet, dass ihr Enkelkind sehr gut Deutsch kann, obwohl sie auch Russnakisch (die ukrainische Mundart) versteht: (147) AB: Die Großmutter versteht nicht Deutsch. Sie versteht nur Ukrainisch und sagt, warum die Kinder nicht Ukrainisch lernen. Sie versteht nicht. Sie kann mit ihnen nicht reden. Sie fragt das Enkelkind Russnakisch, und es antwortet Deutsch. OH: Aber er versteht Russnakisch, ja? AB: Das Enkelkind versteht Russnakisch. (Ukr AB: 4) Olga Hvozdyak 128 In vielen deutschen Familien kann man auch oft die ungarische Sprache hören. Die Gespräche auf Ungarisch verlaufen öfters zwischen älteren Leuten; die Kinder verwenden in ihrer Kommunikation eher die ukrainische Sprache als die ungarische, obwohl viele von ihnen auch Ungarisch wie „Schwobisch“ gut beherrschen: (148) BD: Die Kinder sprechen schon meistens Ukrainisch nicht Ungarisch. CR: Aber Sie reden Deutsch mit den Kindern, und sie reden Ukrainisch zurück, oder wie? BD: Auch vielmals sage ich Deutsch, und sie reden auch - so. CR: Also, Sie reden mit ihnen Schwobisch, und die reden Ukrainisch. BD: Ja. CR: Oder gemischt. BD: Vermischt ist schon das Volk! So. (Ukr BD: 26) Auf die Frage „Was ist Ihre Heimat? “ haben die meisten Befragten nach kurzer Überlegung so oder ähnlich geantwortet: (149) CR: Aber Sie haben doch eine Heimat. Ist es nicht Ihre Heimat hier? N2: Das ist die Heimat, hier sind wir geboren, aber unsere Ureltern nicht. N1: Ur-, Ur-, Ureltern. AB: Das ist unsere Heimat. N2: Wir sind hier aufgewachsen. Wir wissen nichts anderes, nur das. (Ukr AB: 13) Für die meisten Sprecher der Altesstufen I, II und III ist Deutsch („Schwobisch“) ihre Muttersprache (Ukr BD, Ukr MH, Ukr TS u.a.): (150) CR: Wenn ich Sie frage, was ist Ihre Muttersprache, was sagen Sie? BD: Meine Muttersprache? Deutsch. Auch Deutsch. Ja. Meine Mutter hat sich geschrieben Fister. Maria Fister. CR: Und welche Sprache können Sie am besten sprechen? BD: No, Deutsch, sagt man so, Schwebisch, wie wir sprachen. (Ukr BD: 8). Ähnlich der folgende Beleg: (151) Wenn der Mundart geblieben ist, das ist ja die Muttersprache. (Ukr SK: 2) Für einige Gewährspersonen hängt die Feststellung, dass Deutsch ihre Muttersprache sei, mit ihrem Glauben zusammen: Sie sagen, dass Deutsch ihre Muttersprache ist, nicht, weil sie sie von Kind auf gelernt haben, sondern weil ihr Glauben in der Sprache ist (vgl. Ukr MF: 5). Bei einigen Sprechern spielt es eine wichtige Rolle bei der Bestimmung ihrer Muttersprache, was sie als Kind als Erstes gesprochen haben: (152) CR: Aha, sehr schön (lacht). Welche Sprache ist Ihre Muttersprache? MF: Deutsche. CR: Deutsch. Das habe Sie daheim gelernt, von zu Hause an. MF: Ich bin so eingeboren, in Muttersleib, hab schon gesungen (lacht). (Ukr MF: 2) Für die Altersstufe IV war es nicht besonders leicht zu beantworten, was ihre Muttersprache sei: (153) CR: Okay. Was würden Sie sagen, Ihre Muttersprache? AS: Das ist schwer zu sagen. Aber Anfang an Deutsch, kann ich sagen, dann Ukrainisch - und irgendwo auch Ungarisch. Irgendwo auch Ungarisch. (Ukr, AS, 4). Für einige Gewährspersonen war es auch eine schwere Frage, was ihre Muttersprache sei oder welche Sprache sie am besten können, weil in ihren Familien aufgrund der unterschiedlichen Nationalitäten der Eltern verschiedene Sprachen gesprochen wurden. Auf die Frage „Was können Sie am besten reden? “ hat MH so geantwortet: (154) MH: Welche Sprache? CR: Ja. MH: Welche Sprache? Schwobisch kann ich gut, no Deutsch ein bisschen schwerer, und Ukrainisch, Russisch, das ist - Ungarisch, die alle drei Sprache. CR: Gleich. MH: Perfekt, ja. (Ukr MH: 8-9) 3. Ukraine 129 Die Befragten der Generation I sprechen auch mehrere Sprachen. Beispielsweise gibt BD an, sie spreche auch „Mischmasch“ (d.h. Deutsch, Ungarisch, Ukrainisch): (155) BD: Ja, immer habe ich, immer. Immer habe immer mit ihr Deutsch gesprochen. Na, aber sie ist gut. Ich kann Deutsch, no, nicht perfekt, aber es geht Deutsch, Ungarisch und kann Ukrainisch so, Mischmasch, wie sagen die Ungarn, CR: Ungarisch können Sie besser? BD: Ungarisch kann ich besser. Ja. Das kann ich besser sprechen. Und auch ein wenig Tschechisch kann ich. Weil ich bin zwei Jahre in die tschechische Schule gegangen. (Ukr BD: 6) Die ältere Generation beherrscht auch gut Ungarisch, vereinzelt auch Slowakisch/ Tschechisch, weil in ihrer Jugend die politische Zugehörigkeit der Ukraine wechselte (Ukr JF: 1- 2). Auf unsere Frage „Was können Sie am besten sprechen? “ hat uns eine Gewährsperson Folgendes mitgeteilt: (156) MF: Deutsch und Ungarisch. Die zwei sind. Und Russisch. Russisch kann ich besser als Ukrainisch. CR: Besser, als Ukrainisch, ah ja. MF: Und verstehe ich auch Slowakisch. - - Wenn wir sich unterhalten, wir singen auch Slowakisch, auch Ukrainisch, auch Russisch, auch Ungarisch, auch Deutsch. Fünf Sprachen. Dann möchten Sie zuhören, das ist ein ganzer Karneval, Festival. (lacht) (Ukr MF: 2) Viele Informanten geben an, dass sie die russische Sprache besser beherrschen als die ukrainische, weil sie Russisch in der Sowjetzeit in der Schule bzw. in der Fach- und Hochschule gelernt haben. Für viele ist daher Russisch leichter als Ukrainisch (Ukr MH: 8). Auch die jüngere Generation hat zu Hause „Schwobisch“ von den Großeltern gehört und gelernt (Ukr MO: 13). Hochdeutsch haben sie in der Schule gelernt bzw. an der Universität studiert (Ukr AS: 5; Ukr MZ: 3), vgl.: (157) CR: Was können Sie Ihrer Meinung nach am besten sprechen? Können Sie das sagen? AS: Ich kann nicht sagen. CR: Alle gleich? AS: Alle gleich. Mir ist egal, ob Deutsch, ob Ungarisch oder Ukrainisch sprechen. CR: Aber zu Hause haben Sie Deutsch gelernt, als erstes, oder Schwobisch? AS: Schwobisch gelernt. Mundart. OH: Und mit Ihrer Mutter sprechen Sie auch Schwobisch? AS: Schwobisch. CR: Haben Sie Deutsch, also Hochdeutsch erst in der Schule gelernt oder schon vorher irgendwie? AS: Nein, nein, in der Schule. Nur in der Schule. (Ukr AS: 5) Auf die Frage „Wie schätzen Sie jetzt die Situation des Deutschen ein? Bleibt das Deutsche hier? “ haben wir pessimistische Antworten bekommen: (158) CR: Wie schätzen Sie jetz die Situation des Deutschen ein? Bleibt das Deutsche hier? Die deutsche Sprache? ED: Kaum. Kaum. BD: Ich werde Ihnen sagen, in jedem Haus wird das schon - Ukrainisch gesprochen. Sehr wenig Deutsch! Sehr wenig Deutsch! ED: Kaum. Also, nach meine Meinung, wir sind die letzte Mogikane. CR: Ja, also Sie, Ihre Generation? ED: No, vielleicht noch unsere Kinder. Weil meine Tochter kann schon nicht Deutsch. Ich habe in ungarische Familie geheiratet, und wir haben Ungarische geredet und nur in der Schul/ BD: Ukrainisch. (Ukr BD: 20) Dabei wird der deutschen Kultur, den Sitten und Bräuchen eine besondere Bedeutung beigemessen: (159) Ja, zwei Kinderchöre, ein alter Chor, und - haben wir auch jetzt - - drei Gruppen Kursen Deutsch/ Deutschunterricht und machen wir alle die - die Muttertag, auch Weihnachtsfest, neues Jahr, Fasching, alles, alles machen wir die jungen mit die alte. Und hier Olga Hvozdyak 130 ist unser, hier sind zwei Deutschstämmige: unser Bürgermeister ist auch deutschstämmig und ist Stellvertreter von - Gebietsrat auch deutschstämmige, Nusser, Herr Nusser und Herr Kull. (Ukr MH, 8) Die Sprecher sehen sich in einer besonderen Verantwortung: (160) Unsere Generation weiß noch die Lieder, auch alles, oder die jüngeren haben nicht gewusst. Die Hochzeit, der Hochzeit sind so, wie bei euch bestimmt. Nicht so große Hochzeit. Die großen Hochzeit waren früher, jetzt schon nicht. Jetzt sind schon - und die Hochzeitlieder und das alles, das ist - das ist die Gebrauche, und darum müssen wir alles gemacht, unsere Funktion und die - die Idee war nur, dass unser Gebrauche, unsere Sitzen/ Sitten, und alles, alles für unsere Kinder übergeben. Doch, wir müssen weg sein, doch bleiben Kinder. (…) soll nicht aussterben. (Ukr MH) Die affektive Einstellung zur deutschen Sprache kommt auch in ihrer Verwendung in emotionalen Kontexten zum Ausdruck. Während es für Sprecher der ersten Generation noch selbstverständlich scheint, mit ihren Haustieren Deutsch (bzw. den Dialekt zu sprechen), ist es in der zweiten, dritten das Ungarische und in der vierten, fünften das Ukrainische. In der religiösen Domäne hat die deutsche Sprache einen hohen Stellenwert, da Gesangbücher und die Bibel oft noch auf Deutsch vorliegen (und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden) und die Liturgie noch auf Deutsch abgehalten wird. Die Deutschen von Transkarpatien (Generationen I und II) beten auch jeden Tag zu Hause (Deutsch oder Ungarisch) (Ukr MK: 10). Die ältere Generation betet auf Deutsch. Auch die jungen Leute besuchen deutsche Messen und können auf Deutsch beten. In den römisch-katholischen Kirchen werden zwei Messen durchgeführt, eine deutsche und eine ungarische. 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation In der Kosten-Nutzen-Kalkulation wird das Deutsche hoch eingeschätzt. Die Sprecher messen der deutschen Sprache ein hohes Potenzial als Fremdsprache zu: (161) Oder das Hochdeutsch, wenn ich manchmal gehe zu mein Sohn, er hat so ein Fernseh - kann - er schaut immer Deutschland. Ich verstehe alles, alles sehr gut. Und so - ich fühle auch, wie soll ich Ihnen sagen, ein/ so ein Zufriedenheit, dass ich das verstehe. Das ist so ein Stolz, das ist etwas, dass man nicht aussprechen kann. (lachen) Muttersprache und der Glauben, der Glauben zu Gott, das zwei ist dass, das - was soll ich Ihnen sagen, die Hauptsache ist eines Menschens. (Ukr MF: 3) Die Lage des Deutschen als Fremdsprache wird von allen Gewährspersonen sehr positiv eingeschätzt: (162) AB: Nein, ich haben noch einen Sohn, er ist schon verheiratet und hat zwei wunderschöne Kinderli. Die Ewelina hat schon zehn Jahr, und der kleine Daniel war - wird jetzt drei Jahre am siebenten Mai. Die Mutter von den Enkelkindern ist Ukrainerin, aber trotzdem reden die Kinder Deutsch. Die Mutter redet mit den Kindern Deutsch. Sie hat die Schule gemacht Jeschko [= ukr. Jeschko-Kurs], sie hat nicht viel gelernt, aber jetzt geht sie zu einem repetjitor [= ukr. Nachhilfelehrer]. Die Kinder wissen besser, wie sie. Die kleine Enkelin, die Ewelina, sie war einen Monat in Deutschland, und dort hat sie mit der Kinder geredet, und dort hat sie so schön Deutsch gelernt, dass sie tut besser als ich. Sie korrigiert die Großmutter, wenn sie Deutsch spricht. Sie schaut nach die Fernseh deutsche. Der kleine Enkel redet auch sehr gut Deutsch. Er sieht auch gern fern. Er redet so, wie die Kinder im Fernseh. Die Kinder wissen sehr gut Deutsch. CR: Gehen die Kinder in den deutschen Kindergarten? 3. Ukraine 131 AB: Der Kleine, der Daniel, er wird jetzt drei Jahre, und geht in den Kindergarten. Dort ist eine deutsche Gruppe. Die älteren gehen in die Schule und lernen dort Deutsch. Sie haben Deutsch dreimal bzw. viermal in der Woche. Der Kleine redet perfekt Deutsch. (Ukr AB: 3-4) Es wird etwas dafür getan, dass die Kinder im Kindergarten und in der Schule von der ersten Klasse an Deutsch erlernen können: (163) MH: Wiederholung unsere - - Kultur, Gebrauche, sie dort alles fünfzig Jahre haben wir deutsche Sprache (…) mit Kinder zu Hause alles gemacht, auch gesungen, auch die Kirche war ungarisch, und jetzt Möglichkeit - in neunziger Jahr haben wir gegründet - - ein deutsche Gruppe in Kindergarten. Jetzt die Kinder können in deutschen Kindergarten lernen, die Schule - auch Deutsch die erste Klasse und jeden - jeden Tag. CR: Können sie jeden Tag Deutschunterricht haben. Seit wann ist es? Seit wann gibts, dass sie jetzt jeden Tag Deutschunterricht haben? MH: No [= ukr. „na“], von dreiundneunziger Jahr. CR: Ach, schon von dreiundneunzig MH: Ja, ja, ja. No, jetzt - ich glaube schon sind zehn/ CR: Oh, ja, schön! MH: die Kinder gehen alle auf die Kirche. Zwei deutsche Priester haben wir uns. Und die Kinder zum Kommunion und dort - zu die - - zu die Firmung, und jedes Jahr haben wir Kulturfest. Das haben ich Ihnen alles schon gezeigt. (Ukr MH: 8) In der Konkurrenz mit dem Englischen in der Schule ist die Lage der deutschen Sprache in den letzten Jahren jedoch schlechter geworden. Englisch wird als Fremdsprache in 475 Schulen des Gebiets unterrichtet, Deutsch dagegen nur an 347 Schulen. 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal Die Frage, ob Hochdeutsch oder Dialekt in Transkarpatien gesprochen wird, spielt keine Rolle, weil die Sprachform die Kommunikation nicht behindert. Die meisten Gewährspersonen geben an, sie sprechen „Schwobisch“, obwohl sie auch (besonders die Generationen I und IV) sehr gut Standarddeutsch sprechen. Für die Generation I ist es gleich, welche Sprache sie sprechen: Deutsch („Schwobisch“), Ungarisch, für manche auch die ukrainische Mundart (Ukr MK: 7-8). Auch die Gewährspersonen der Generation II können gut Deutsch sprechen, obwohl in der Schule das Fach Deutsch als Fremdsprache nur eine Formalität darstellte und nicht ernst genommen wurde (Ukr BD: 26-27). Die Sprecher der Generationen III und IV haben Deutsch sekundär in der Schule und Hochschule erworben, aber sie verstehen und sprechen auch den Dialekt. Diese jungen Leute, die an der Universität studiert haben oder studieren, sprechen meist mit ihren Großeltern Hochdeutsch (Ukr MK: 9). Ihre Grammatikkompetenz ist auch sehr gut. (Ukr MF: 6). Die Befragten der Generation I haben in der Schule und der Kirche die Standardsprache passiv erworben. Grundsätzlich wird in der deutschen Sprachgemeinschaft von Transkarpatien Identität über die Sprache „Schwobisch“ hergestellt. Hochdeutsch hat jedoch ein hohes Prestige. Oft hört man von den ältesten Sprechern sehr stolze Kommentare, dass ihre Enkelkinder „sehr schön“ Deutsch können (Ukr MK: 3). 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Die Deutschen auf dem Territorium des heutigen Transkarpatien waren von jeher stark von ihrem Herkunftsland isoliert. Die Besiedlung erfolgte im Laufe der Jahrhunderte in mehreren Ansiedlungswellen. Die ersten Deutschen kamen im 12. Jahrhundert nach Transkarpatien. Es folgte noch eine kleinere deut- Olga Hvozdyak 132 sche Ansiedlungswelle im 15./ 16. Jahrhundert. Die deutschen Ansiedler dieser Epochen haben sich als Ethnien mit eigener Sprache und Kultur nicht gehalten, weil ihre Gemeinschaften zu klein waren, um dem Assimilationsprozess widerstehen zu können. Spuren dieser Ansiedlerwelle finden wir nur in einigen Anthroponymen und Toponymen. Die Deutschen, die bis heute in Transkarpatien ihre Mundarten bewahrt haben, siedelten sich aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen in den oberungarischen Komitaten Bereg, Marmorosch und Ung an. Die Ansiedlung begann Ende des 17. Jahrhunderts, erreichte ihren Höhepunkt in der Mitte des 18. Jahrhunderts und endete in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Der Höhepunkt der Ansiedlung war in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Auf der Basis der deutschen Kolonisationsaktivität entstanden und entwickelten sich drei Sprachinseln: die fränkische, die südböhmische und die mittelbairische (salzburgische) Mundartinsel. Die übrigen deutschen Siedlungen waren übers ganze Gebiet verstreut und bildeten nur deutsche Enklaven. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten die Deutschen auf dem Territorium des heutigen Transkarpatien ziemlich isoliert von den übrigen Völkerschaften. Während des Zweiten Weltkrieges nahm die Zahl der deutschen Bevölkerung ständig ab. Nach der Angliederung von Transkarpatien an die Sowjetunion im Jahre 1945 wurden mehrere Tausend Deutsche aus Transkarpatien nach Sibirien deportiert. Viele Leute (meist Intellektuelle) waren gezwungen, ihr Land zu verlassen. Das hat einerseits die geographische Isolation noch weiter verstärkt, andererseits eine Vermischung der verschiedenen deutschsprachigen Gruppen begünstigt. Erst nach Stalins Tod durften die Deutschen in den Jahren 1956 bis 1960 nach Transkarpatien heimkehren. 8.2 Historische und demographische Faktoren Die veränderten historischen Bedingungen von Transkarpatien führten dazu, dass sich die deutschsprachige Bevölkerung dieser Region verstärkt anpassen musste. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs und danach bis zu Stalins Tod ließen sich viele Deutsche aus Angst, ohne Hab und Gut vertrieben zu werden, als Ungarn, Slowaken oder Ukrainer einschreiben, wodurch sich die offizielle Einwohnerzahl der Deutschen in Transkarpatien weiterhin künstlich reduzierte. Mit dem Beginn der Perestrojka änderte sich das Verhalten zu der deutschen Minderheit in der Ukraine. Die ständige Furcht, als Deutsche erkannt zu werden, ließ allmählich nach. Doch trotz der verbesserten Situation nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 nimmt die Zahl der Deutschen ab. Die jüngere Generation, die gut in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt ist, bekommt in der Regel die Möglichkeit, nach Deutschland auszusiedeln, was zur Verringerung der Zahl der Deutschen in Transkarpatien führt. Die ältere deutschstämmige Generation hingegen bleibt überwiegend im Lande. Die Sprechaktivität in der deutschen Standardsprache bei den Deutschen von Transkarpatien ist sprunghaft gestiegen. Das ist durch die Werterneuerung der deutschen Standardsprache im Bewusstsein der Transkarpatier hervorgerufen, besonders durch die Kontakte zwischen Deutschen aus Deutschland und den Karpatendeutschen bei Besuchsreisen in beide Richtungen. Viele deutschstämmige Bewohner haben ihre deutsche Staatsangehörigkeit wieder erworben; leider meistens, um das Recht zu bekommen, in die Bundesrepublik auszuwandern. Der Status der deutschen Sprache als Zweitbzw. Fremdsprache wird bei den nicht mehr im Deutschen sozialisierten Nachkommen der deutschen Bevölkerungsgruppe gestärkt. 8.3 Kulturelle Faktoren Die Tatsache, dass die Zahl der Deutschen in Transkarpatien immer geringer wird, hat jedoch bisher nicht zu einem Verlust der eigenständigen kulturellen Identität geführt. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine bekommt auch die deutsche Sprache mit Status der „Muttersprache“ ein immer höheres Gewicht. 3. Ukraine 133 Die meisten Deutschen auf dem Territorium von Transkarpatien leben auf dem Lande. Sie haben zahlreiche Möglichkeiten (mehr auf dem Lande als in den Städten) zur kulturellen Entfaltung. Die Pflege der deutschen Sprache und Kultur unterliegt den Begegnungszentren und Vereinen, die sich in der Organisation von Chor- und Folkloreprogrammen, Seniorentreffen, außerschulischen Sprachkursen usw. sehr engagieren. Die Karpatendeutschen erhielten das Recht, deutsche Kindergärten zu eröffnen, eine eigene Presse zu haben, deutsche Sendungen per Radio zu hören. Das Gebietsfernsehen in Ushhorod sendet viermal monatlich die deutschsprachige Sendung „Wort und Bild aus Transkarpatien“. Jährlich wird ein Kulturfestival der Karpatendeutschen veranstaltet, an dem sich Gäste aus nah und fern beteiligen. Im Jahre 1990 wurde von den Karpatendeutschen der Kulturverein „Wiedergeburt“ gegründet. Viele zerstörte deutsche römischkatholische Kirchen wurden renoviert und restauriert; das Kirchenleben normalisierte sich. Es wurden enge Verbindungen vorerst mit Verwandten in Deutschland und Österreich, dann auch mit vielen deutschen Institutionen und Gesellschaften aufgenommen. 8.4 Soziolinguistische Situation Aufgrund der historischen und wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen Sprache in Europa ist das Interesse am Deutschen groß. Bei der jüngeren Generation der deutschsprachigen Minderheit ist das Interesse mit der Suche nach eigenen Wurzeln und einer neuen Wertschätzung der Sprache ihrer Großeltern verbunden. Der Kompetenzgrad der Deutschen von Transkarpatien in einer der Varietäten des Deutschen gestaltet sich bei den Sprechern in einzelnen Generationen sehr unterschiedlich. Während in der ältesten Generation noch eine aktive Kompetenz sowohl in der Mundart als auch in der standardnahen Varietät des Deutschen vorhanden ist, kann man bei der mittleren Generation eine auf die Mundart beschränkte Sprachkompetenz beobachten. Die Vertreter der jüngeren Generation verfügen in der Regel über eine Kompetenz im Standarddeutschen als Zweitsprache, die sie in der Schule bzw. an der Universität erworben haben, aber sie verstehen gut und sprechen zum Teil auch „Schwobisch“. Diese jungen Leute, die an der Universität studiert haben oder studieren, sprechen meist mit ihren Großeltern Standarddeutsch. In gemischten Familien wird überwiegend Ungarisch bzw. Ukrainisch gesprochen. Die Deutschen in anderen Gebieten der Ukraine (außer Transkarpatien) sind heutzutage meist zerstreut und wohnen in den Städten, wo sie Ukrainisch bzw. Russisch sprechen. Nur die älteren Leute haben ihre Muttersprache nicht vergessen, haben aber (außer den Deutschen von Transkarpatien) wenig Möglichkeit, auf Deutsch zu verkehren. Die jüngere Generation spricht kein Deutsch oder allenfalls in der Schule gelerntes Deutsch als Fremdsprache. 9 Literatur Balla, Bálint/ Sterbling, Anton (Hrg.) (1998): Ethnicity, nation, culture. 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Olga Hvozdyak 140 10 Anhang: Tabellen 1959 1970 1979 1989 2001 Gesamt 41869046 47126517 49609333 51452034 48240902 Ukrainer 32158493 35283857 36488951 37419053 37541693 Russen 7090813 9126331 10471602 11355582 8334141 Weißrussen 290890 385847 406098 440045 275763 Moldauer 241650 265902 293576 324525 258619 Krimtataren — 3554 6636 46807 248183 Bulgaren 219409 234390 238217 233800 204574 Ungarn 149229 157731 164373 163111 156566 Rumänen 100863 112141 121795 134825 150989 Polen 363297 295107 258309 219179 144130 Juden 840311 775993 632610 486326 103591 Armenier 28024 33439 28646 54200 99894 Griechen 104359 106909 104091 98594 91548 Tataren 61527 72658 83906 86875 73304 Zigeuner 22515 30091 34411 47917 47587 Aserbaidschaner 6680 10769 17235 36961 45176 Georgier 11574 14650 16301 23540 34199 Deutsche — 29871 34139 37849 33302 Tabelle 7: Die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der Ukraine - absolute Zahlen (Nationaljnej sklad 2001: 7) 2001 in Prozent zu… 1959 1970 1979 1989 Gesamt 115,2 102,4 97,2 93,8 Ukrainer 106,4 106,4 102,9 100,3 Russen 117,5 91,3 79,6 73,4 Weißrussen 94,8 71,5 67,9 62,7 Moldauer 107,0 97,3 88,1 79,7 Krimtataren … 69,8 37,4 5,3 Bulgaren 93,2 87,3 85,9 87,5 Ungarn 104,9 99,3 95,3 96,0 Rumänen 149,7 134,6 124,0 112,0 Polen 39,7 48,8 55,8 65,8 Juden 12,3 13,3 16,4 21,3 Armenier 3,6 3,0 2,6 184,3 Griechen 87,7 85,6 87,9 92,9 Tataren 119,1 100,9 87,4 84,4 Zigeuner 2,1 158,1 138,3 99,3 Aserbaidschaner 6,8 4,2 2,6 122,2 Georgier 3,0 2,3 2,1 145,3 Deutsche … 111,5 97,5 88,0 Tabelle 8: Die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der Ukraine - prozentuale Veränderungen (Nationaljnej sklad 2001: 7) 3. Ukraine 141 1989 2001 2001 in Prozent zu 1989 Gesamt 2035279 2024056 99,4 Autonome Republik Krim Deutsche 2181 2536 116,3 Gesamt 3869858 3561224 92,0 Gebiet Dnipropetrovsk Deutsche 6396 3773 59,0 Gesamt 5311781 4825563 90,8 Gebiet Doneck Deutsche 6333 4620 73,0 Gesamt 1537604 1389293 90,4 Gebiet Žytomyr Deutsche 915 994 108,6 Gesamt 1245618 1254614 100,7 Transkarpatien Deutsche 3478 3582 103,0 Gesamt 2074018 1926810 92,9 Gebiet Zaporižja Deutsche 2330 2209 94,8 Gesamt 2857031 2540191 88,9 Gebiet Luhansk Deutsche 1958 1555 79,4 Gesamt 1328306 1262899 95,1 Gebiet Mykolaiv Deutsche 1372 1220 88,9 Gesamt 2624245 2455666 93,6 Gebiet Odessa Deutsche 3551 2877 81,0 Gesamt 1236970 1172689 94,8 Gebiet Cherson Deutsche 1450 1362 93,9 Gesamt 395216 377153 95,4 Sewastopol (Stadtrat) Deutsche 175 254 145,1 Tabelle 9: Die Verteilung der Deutschen auf dem Territorium der Ukraine (Nationaljnej sklad 2001: 7) Bezirk Insgesamt Deutsche Užhorod 115568 176 Berehovo 26554 16 Muka evo 81637 1592 Chust 31864 83 Bezirk Berehovo 54062 13 Bezirk V.Bereznyj 28211 2 Bezirk Vynohradovo 117957 34 Bezirk Volovec 25474 22 Bezirk Iršava 100905 47 Bezirk Mižhirja 49890 6 Bezirk Muka evo 101443 846 Bezirk Pere yn 32026 15 Bezirk Rachovo 90945 36 Bezirk Svaljava 54869 366 Bezirk Tja evo 171850 286 Bezirk Užhorod 74399 26 Bezirk Chust 96960 16 Summe 1254614 3582 Tabelle 10: Die Verteilung der Deutschen von Transkarpatien nach Bezirken (Volkszählung 2001: 24-61) Olga Hvozdyak 142 Stadtbevölkerung 1959 1970 1979 1989 2001 Insgesamt 19147419 25688560 30168937 34297231 32290729 Deutsche (absolut) 13266 20238 23397 26846 24605 Landbevölkerung 1959 1970 1979 1989 2001 Insgesamt 22721627 21437957 19440396 17154803 15950173 Deutsche (absolut) 9977 9633 10742 11003 8697 Tabelle 11: Die deutsche Stadt-Land-Bevälkerung in der Ukraine (Nationaljnej sklad 2003: 15-19) 1989 2001 2001 in Prozent zu 1989 Stadt Land Stadt Land Stadt Land Autonome Republik Krim Insgesamt 1309647 725632 1258720 765336 96,1 105,5 Deutsche 973 1208 1431 1105 147,1 91,5 Gebiet Dnipropetrovsk Insgesamt 3218479 651379 2951536 609688 91,7 93,6 Deutsche 5518 878 3160 613 57,3 69,8 Gebiet Doneck Insgesamt 4791165 520616 4345373 480190 90,7 92,2 Deutsche 5198 1135 3652 968 70,3 85,3 Gebiet Žytomyr Insgesamt 813500 724104 772679 616614 95,0 85,2 Deutsche 597 318 724 270 121,3 84,9 Transkarpatien Insgesamt 506464 739154 460429 794185 90,9 107,4 Deutsche 1549 1929 2556 1026 165,0 53,2 Gebiet Zaporižja Insgesamt 1567839 506179 1452828 473982 92,7 93,6 Deutsche 1647 683 1654 555 100,4 81,3 Gebiet Luhansk Insgesamt 2464785 392246 2183454 356737 88,6 90,9 Deutsche 1643 315 1321 234 80,4 74,3 Gebiet Mykolaiv Insgesamt 870350 457956 835012 427887 95,9 93,4 Deutsche 842 530 878 342 104,3 64,5 Gebiet Odessa Insgesamt 1725049 899196 1604669 850997 93,0 94,6 Deutsche 2093 1458 1721 1156 82,2 79,3 Gebiet Cherson Insgesamt 755224 481746 702291 470398 93,0 97,6 Deutsche 777 672 802 560 103,1 83,3 Sewastopol (Stadtrat) Insgesamt 374622 20594 355638 21515 94,9 104,5 Deutsche 169 6 239 15 141,4 250,0 Tabelle 12: Die Verteilung der deutschen Stadt-Land-Bevölkerung (Nationaljnej sklad 2003: 126-152) 3. Ukraine 143 Anzahl der Deutschen, die außer ihrer Muttersprache folgende Sprachen frei beherrschen: die Sprache ihrer Nationalität Ukrainisch Russisch absolut in Prozent absolut in Prozent absolut in Prozent 1989 k.A. k.A. 7863 20,8 8586 22,7 2001 6264 18,8 15277 45,9 6716 20,2 Tabelle 13: Die Verteilung der Deutschen der Ukraine nach anderen Sprachen außer der Muttersprache, die sie frei beherrschen (nach: Volkszählungen 1989, 2001: Kap.6) Als Muttersprache haben genannt: die Sprache ihrer Nationalität Ukrainisch Russisch insgesamt absolut in % absolut in % absolut in % Autonome Republik Krim Insgesamt 2024056 1632892 80,7 3906 10,0 372290 76,6 Deutsche 2536 234 9,2 29 1,1 2249 88,7 Gebiet Dnipropetrovsk Insgesamt 3561224 2945061 82,7 54427 67,0 548263 31,9 Deutsche 3773 222 5,9 767 20,3 2770 73,4 Gebiet Doneck Insgesamt 4825563 2981881 61,8 33435 24,1 1797260 74,9 Deutsche 4620 221 4,8 298 6,5 4096 88,7 Gebiet Žytomyr Insgesamt 1389293 1288125 92,7 65118 93,0 35341 6,6 Deutsche 994 68 6,8 591 59,5 334 33,6 Transkarpatien Insgesamt 1254614 1218857 97,1 14291 81,0 7977 2,9 Deutsche 3582 1810 50,5 1419 39,6 173 4,8 Gebiet Zaporižja Insgesamt 1926810 1417220 73,6 28344 50,2 474169 48,2 Deutsche 2209 138 6,2 293 13,3 1773 80,3 Gebiet Luhansk Insgesamt 2540191 1730507 68,1 19795 30,0 774999 68,8 Deutsche 1555 77 5,0 94 6,0 1381 88,8 Gebiet Mykolaiv Insgesamt 1262899 1036960 82,1 21107 69,2 203102 29,3 Deutsche 1220 65 5,3 327 26,8 826 67,7 Gebiet Odessa Insgesamt 2455666 1845687 75,2 32909 46,3 536677 41,9 Deutsche 2877 291 10,1 467 16,2 2098 72,9 Gebiet Cherson Insgesamt 1172689 1006904 85,9 21858 73,2 140217 24,9 Deutsche 1362 100 7,3 293 21,5 967 71,0 Sewastopol Insgesamt 377153 298836 79,2 6,8 486 72396 90,6 Deutsche 254 9 3,5 0,8 2 243 95,7 Tabelle 14: Die Verteilung der Deutschen nach der Muttersprache (Volkszählung 2001: Kap. 9) Olga Hvozdyak 144 als Muttersprache haben genannt: Deutsch Ukrain. Russisch Rumän. Slowak. Ungar. Andere Gesamt 3582 1810 1419 173 2 3 150 24 Užhorod 176 52 59 43 - 1 20 - Berehovo 16 3 7 6 - - - - Muka evo 1592 896 549 60 - - 80 7 Chust 83 18 36 3 - - 24 2 Bezirk Berehovo 13 8 - 2 - - 3 - Bezirk V.Bereznyj 2 - - 2 - - - - Bez. Vynohradovo 34 6 19 5 - - 4 - Bezirk Volovec 22 5 13 4 - - - - Bezirk Irschava 47 12 24 10 - - - 1 Bezirk Mižhirja 6 1 5 - - - - - Bezirk Muka evo 846 554 268 12 - 2 7 3 Bezirk Pere yn 15 5 10 - - - - - Bezirk Rachiv 36 25 7 3 - - - 1 Bezirk Svaljava 366 61 281 9 - - 5 10 Bezirk Tja evo 286 153 118 9 2 - 4 - Bezirk Užhorod 26 5 16 3 - - 2 - Bezirk Chust 16 6 7 2 - - 1 - Tabelle 15: Die Verteilung der Deutschen von Transkarpatien nach der Nationalität und der Muttersprache (nach: Volkszählung 2001: 24-61) Sprache Anzahl Deutsche insgesamt 3582 Nationalsprache 558 Ukrainisch 2019 Englisch 30 Deutsch Keine Angaben Polnisch 6 Russisch 1151 Rumänisch 1 Slowakisch 45 Ungarisch 675 Französisch 6 andere Sprachen 46 keine 621 Tabelle 16: Die Verteilung der Deutschen von Transkarpatien nach anderen Sprachen, die sie außer ihrer Muttersprache frei beherrschen (nach: Volkszählung 2001: 71) Polen 4 Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger Inhalt 1 Allgemeines und geographische Lage ................................................................................... 147 2 Statistik und Demographie ..................................................................................................... 148 3 Geschichte ................................................................................................................................ 150 3.1 Von den Anfängen bis 1795 ............................................................................................. 150 3.2 Ansiedlungen von Deutschen im geteilten Polen .......................................................... 151 3.3 In der Republik Polen 1918-1939 .................................................................................... 152 3.4 Zweiter Weltkrieg, Umsiedlungen und Vertreibungen ................................................. 153 3.5 Von der Volksrepublik Polen zur Republik Polen ........................................................ 154 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung .................................................................... 155 4.1 Wirtschaft ............................................................................................................................ 155 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Organe, Medien.................................................... 155 4.2.1 Verbandswesen und Politik.................................................................................... 155 4.2.2 Kultureinrichtungen ................................................................................................ 156 4.2.3 Deutschsprachige Medien ...................................................................................... 156 4.3 Rechtliche Stellung der Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen.......................... 157 4.3.1 Rechtliche Grundlagen seit 1991........................................................................... 157 4.3.2 Schulwesen und Sprachgebrauch .......................................................................... 158 5 Soziolinguistische Situation im Oppelner Schlesien ........................................................... 158 5.1 Das Oppelner Spracharchiv.............................................................................................. 159 5.2 Merkmale des Deutschen im Oppelner Schlesien ......................................................... 160 6 Sprachgebrauch und -kompetenz .......................................................................................... 164 6.1 Generationenspezifischer Sprachgebrauch..................................................................... 164 6.2 Die Situation nach 1989 ................................................................................................... 165 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 165 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 165 9 Literatur .................................................................................................................................... 167 Kapitel 1 bis 4: Tobias Weger; Kapitel 5 bis 8: Maria Katarzyna Lasatowicz. 1 Allgemeines und geographische Lage Wie kaum ein anderer Staat in Europa hat Polen in den vergangenen Jahrhunderten seine Gestalt und seine Grenzen mehrfach verändert und war zwischen 1795 und 1918 als souveräner Staat überhaupt nicht auf der Landkarte existent. Der folgende Überblick muss daher - in geschichtlicher Perspektive - verschiedenen Situationen Rechnung tragen. Polens überwiegend flaches Territorium wird von einer Reihe von Flusssystemen (Wis- a/ Weichsel, Odra/ Oder, Warta/ Warthe, Bug) bestimmt und weist insbesondere im eiszeitlich geprägten Norden große Seenlandschaften auf. Im Süden begrenzen es die lang gezogenen Gebirgssysteme der Sudeten bzw. der zu den Karpaten zählenden Beskiden und Bieszczady; im Norden besitzt Polen eine etwa 440 km lange Küste an der Ostsee. Kennzeichnend für die Deutschen in Polen war historisch stets ihre große Zerstreuung auf zahlreiche Regionen, in denen sie größtenteils nur einen geringen bis sehr geringen Bevölkerungsanteil ausmachten. Dieser Hinweis erscheint wichtig, um die von der deutschen Volks- und Kulturbodentheorie in den 1920er Jahren geprägte Vorstellung geschlossener deutscher „Siedlungsgebiete“ im östlichen Europa durch eine Darstellung der komplexeren geschichtlichen Wirklichkeit zu ersetzen. Dazu gehört auch die Korrektur unhaltbarer Konstrukte einer „deutschen Volksgruppe“ in Polen, deren politische Intention durch die in einschlägigen Publikationen bis in die Gegenwart getroffene Unterscheidung von „Grenzlandvolksgruppen“ und „Sprachinselvolksgruppen“ zutage tritt. Der Vereinzelung der deutschsprachigen Gruppen in Polen entsprachen ihre vor dem Zweiten Weltkrieg noch deutlich erkennbare, sehr unterschiedliche Siedlungsgeschichte sowie ihr sehr stark regional begründetes Bewusstsein. Deutsche lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen vor allem in folgenden Regionen: - In Pommerellen, dem sich östlich an Pommern anschließenden Gebiet zwischen Pars ta/ Persante, Wis a/ Weichsel und Nogat, sowie Warta/ Warthe und Note / Netze, das im Norden durch die Ostsee begrenzt wird und annähernd deckungsgleich mit dem Gebiet ist, für das Ende des 18. Jahrhunderts der deutsche historische Begriff „Westpreußen“ eingeführt wurde. In diesem Gebiet liegen unter anderem die Städte Gda sk/ Danzig, Bydgoszcz/ Bromberg, Toru / Thorn, Grudzi dz/ Graudenz und Che mno/ Kulm, in denen vor 1945 ein starker deutscher Bevölkerungsanteil zu verzeichnen war. - In Großpolen, dem alten Kerngebiet des mittelalterlichen polnischen Staates, das 1793 bis 1815 als „Südpreußen“ bezeichnet wurde und seit 1815 in etwa deckungsgleich war mit der preußischen Provinz Posen. Zu Großpolen gehörten unter anderem die Städte Pozna / Posen, Gniezno/ Gnesen, Leszno/ Lissa und Ostrów Wielkopolski/ Ostrowo, die einen deutschen Bevölkerungsanteil aufwiesen. - In Zentralpolen oder Mittelpolen, das sich östlich an Großpolen anschließt und etwa das Land beiderseits des mittleren Laufs der Wis a/ Weichel umfasst. In diesem Bereich existierten seit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert deutschsprachige Streusiedlungen, etwa in der Ziemia Che mska/ im Cholmer Land um die Stadt Che m/ Cholm, in und um ód / Lodz sowie entlang der Weichsel. - In Ostoberschlesien, das von der mittelalterlichen deutschsprachigen Ansiedlung nicht in gleichem Maße erfasst worden war wie Niederschlesien oder das westliche Oberschlesien, aber vor allem in der historischen „Sprachinsel“ um Bielsko-Bia a/ Bielitz-Biala (elf Ortschaften seit dem 13. Jahrhundert) sowie in der Gegend um Cieszyn/ Teschen deutsche Siedlungen aufwies. Einen Sonderfall bildete das erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der starken Industrialisierung zu einer Stadt angewachsene und aufgestiegene Katowice/ Kattowitz. - In Kleinpolen, dem Gebiet der Karpaten und des Karpatenvorlandes, das zur österreichischen Zeit die Bezeichnung „Galizien“ trug. Dort lebten Deutsche seit dem Hochmittelalter in einigen Dörfern und Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 148 Kleinstädten im äußersten, von Schlesien her beeinflussten Westen Galiziens (etwa in Wilamowice/ Wilmesau, gegründet um 1250 von friesischen und flandrischen Siedlern), in Mittelgalizien (etwa Albigowa, südlich von a cut, 13. Jahrhundert) oder in den auf die Kolonisation am Ende des 18. Jahrhunderts zurückzuführenden Siedlungen in Ostgalizien (etwa Lanivka/ Brigidau oder Ternopillja/ Dornfeld). Polnische Adelige setzten im 19. Jahrhundert die Ansiedlung von Deutschen in Galizien fort. - In Wolhynien, einem historischen Land zwischen westlichem Bug und Dniepr. Dort lebten Deutsche in einzelnen „Kolonien“ des 19. Jahrhunderts in den westlichen Kreisen Luc’k/ uck, Volodimir-Volinskij/ W odzimierz Wo y ski, Kove / Kowel und Gorodiv/ Horochów. Durch die Westverschiebung Polens 1945 kamen folgende ehemals preußische Ostgebiete zum polnischen Staatsgebiet: Niederschlesien, Oberschlesien, Ostbrandenburg, Hinterpommern und das südliche Ostpreußen. 2 Statistik und Demographie Ähnlich komplex wie die räumliche Beschreibung Polens fällt die statistische Aufschlüsselung seiner Bevölkerung zu bestimmten Zeitabschnitten aus. Hierbei kommen unterschiedliche Definitionen und Abgrenzungsmodelle zum Tragen. 1910 lebten auf dem Gebiet der historischen Rzeczpospolita (dem historischen Polen in den Grenzen von vor 1772) etwa 45.568.100 Menschen, von denen rund 11,6 Prozent Deutsch als Mutter- oder Umgangssprache angaben. Der hohe Anteil am Gesamtwert erklärt sich durch die beträchtliche statistische Angabe (55,3 Prozent) im preußischen Teilungsgebiet, während im russischen Teil nur 2,1 Prozent und im österreichischen Teil nur 2,0 Prozent der Bevölkerung Deutsch als ihre Muttersprache deklarierten. Bei der Errichtung der Republik Polen im Jahre 1918 sollen etwa 1,2 Millionen Deutsche auf dem Staatsgebiet gelebt haben, von denen viele ins Deutsche Reich abwanderten. Bei der ersten polnischen Volkszählung vom 30. September 1921 (noch ohne Ostoberschlesien, die Wojewodschaft Wilno/ Wilna und andere Regionen Ostpolens) wurden die Staatsbürger nach ihrem religiösen Bekenntnis, ihrer Muttersprache und ihrer Nationalität gefragt. Die religiöse Kategorisierung entsprach dem herkömmlichen Klassifikationsprinzip in Europa, während die Muttersprache 1872 auf dem Internationalen Statistischen Kongress in St. Petersburg als Paradigma eingeführt worden war und die Nationalität dem neuen völkerrechtlichen Kriterium des Selbstbestimmungsrechts entsprach. Ausgewertet wurden allerdings nur die Angaben zur Religion und zur subjektiven Nationalitätszuordnung. Im zweiten Zensus vom 9. Dezember 1931 wurde hingegen auf die Kategorie „Nationalität“ verzichtet. Beim Zensus von 1921 wurden insgesamt 25.694.700 Staatsbürger Polens befragt, von denen sich 17.789.300 Personen der polnischen und 769.400 der deutschen Nationalität zugehörig erklärten. Das Ergebnis des Zensus von 1931 zeigt die sprachliche Vielfalt im Polen der Zwischenkriegszeit. Das Deutsche - damals von 741.094 Personen gesprochen - nahm mit einem Anteil von 2,3 Prozent nach dem Polnischen, dem Ukrainischen, dem Jiddischen bzw. Hebräischen, dem Ruthenischen und dem Weißrussischen den sechsten Platz unter den Muttersprachen ein (vgl. Tabelle 1 auf S. 149; Angaben in Tausend). Am 14. Februar 1946 wurde ein summarischer Zensus durchgeführt, um nach der deutschen Besatzungszeit und den Bevölkerungs- und Grenzverschiebungen einen ersten Überblick über den Zustand der Bevölkerung zu erhalten. Dort wurden ohne Differenzierung die „Autochthonen“ in den sogenannten „Ziemie Odzyskane“ („Wiedergewonnenen Gebieten“, den ehemaligen preußischen Ostprovinzen) mit 2.288.400 Personen beziffert. Zur Zeit der Volksrepublik Polen wurden in den Jahren 1950, 1960, 1970, 1978 und 1988 Volksbefragungen durchgeführt. Diese erbrachten jedoch keine verlässlichen Zahlenwerte. 4. Polen 149 Wojewodschaft Gesamt Poln. Ukrain. Ruthen. Weißruss. Russ. Deutsch Jidd./ Hebr. Andere Warsz. (Stadt) 1.171,9 826,2 1,2 0,1 0,6 4,0 1,9 333,3 4,6 Warsz. (Woj.) 2.529,2 2.227,6 0,9 0,1 0,3 1,9 73,6 215,1 9,7 ód 2.632,0 2.108,4 1,4 0,0 0,2 1,6 155,3 359,4 5,7 Kielce 2.935,7 2.618,3 0,9 0,0 0,1 1,0 7,9 304,9 2,6 Lublin 2.464,9 2.109,2 63,1 10,7 1,3 2,8 15,9 259,5 2,4 Bia ystok 1.643,9 1.182,3 2,6 0,8 205,6 35,1 7,3 195,0 15,2 Wilno 1.276,0 761,7 0,4 1,2 289,7 43,3 1,3 108,9 69,5 Nowogródek 1.057,2 553,9 0,5 0,7 413,5 6,8 0,4 77,0 4,4 Polesie 1.131,9 164,1 54,0 — 75,4 16,2 1,0 113,0 708,2 Wo y 2.085,6 346,6 1.418,3 8,6 2,4 23,4 46,9 205,5 33,9 Pozna 2.106,5 1.906,4 0,8 0,1 0,3 0,6 193,1 3,3 1,9 Pomorze 1.080,1 969,4 0,3 0,0 0,2 0,4 105,4 2,0 2,4 l sk 1.295,0 1.195,6 0,2 0,0 0,0 0,2 90,6 6,5 1,9 Kraków 2.297,8 2.097,4 2,1 58,3 0,1 0,3 8,9 128,0 2,7 Lwów 3.127,4 1.805,0 579,5 487,7 0,2 0,7 12,1 232,9 9,3 Stanis awów 1.480,3 332,2 693,8 325,1 0,0 0,2 16,7 109,4 2,9 Tarnopol 1.600,4 789,1 402,0 326,2 0,0 0,2 2,7 78,9 1,3 Polen 31.915,8 21.993,4 3.222,0 1.219,6 989,9 138,7 741.0 2.732,6 878,6 Tabelle 1: Überblick über die verschiedenen Nationalitäten in den Städten (Zensus 1931) Von der Möglichkeit, aufgrund deutscher Abstammung in die Bundesrepublik Deutschland auszusiedeln, machten zwischen 1950 und 2005 insgesamt 1.569.703 polnische Staatsbürger Gebrauch (vgl. hierzu Tabelle 2). Die unterschiedlichen Wellen erklären sich durch politische Konjunkturen und bestimmte Ausreisegruppen. So verbirgt sich hinter der Spitze der späten 1950er Jahre die Spätaussiedlung von Fachkräften aus Niederschlesien, vor allem aus dem Gebiet um K odzko/ Glatz und Wa brzych/ Waldenburg, die nach 1945 zunächst zurückbehalten worden waren. Seit dem Beginn der 1970er Jahre machten sich die Auswirkungen des „Warschauer Vertrags“ bemerkbar, ab der Mitte der 1970er Jahre die Tauschpolitik „Kredite gegen Aussiedler“ sowie ab den späten 1980er Jahren die Ausreisemöglichkeit durch die Öffnung der Grenzen. Bei der Volksbefragung vom Mai 2002 bekannten sich 147.094 polnische Staatsbürger zur deutschen Nationalität, von denen die meisten im sogenannten „Oppelner Schlesien“ [Województwo opolskie] (70,9 Prozent) und in Ostoberschlesien [Województwo l skie] (20,8 Prozent) lebten, während sich dort gleichzeitig 173.148 Menschen selbst in die neu geschaffene Kategorie „schlesisch“ einreihten. In dieser Veränderung wurde unter anderem ein Ausdruck dessen gesehen, was früher mit dem Stichwort „schwebendes Volkstum“ - nach heutigen wissenschaftlichen Standards präziser mit „ethnische Indifferenz“ - bezeichnet wurde (Lozoviuk 2005). Die Angehörigen der deutschen Nationalität verteilten sich 2002 auf mehrere Wojewodschaften (vgl. Tabelle 3). Diese Zahlenangaben werden sowohl von Vertretern der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik Deutschland als auch von Minderheitenaktivisten in Oberschlesien in Zweifel gezogen, die in ethnischen Denkmustern (Abstammungsprinzip) verhaftet sind und daher von einer zu hohen Zahl ausgehen. Auch die Deutsche Botschaft in Warschau gibt Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 150 Jahr Anzahl Jahr Anzahl Jahr Anzahl Jahr Anzahl 1950 31.761 1967 10.856 1974 7.825 1991 40.129 1951 10.791 1968 8.435 1975 7.040 1992 17.742 1952 194 1969 9.536 1976 29.366 1993 5.431 1953 147 1970 5.624 1977 32.861 1994 2.440 1954 662 1971 25.241 1978 36.102 1995 1.677 1955 860 1972 13.476 1979 36.274 1996 1.175 1956 15.674 1973 8.906 1980 26.637 1997 687 1957 98.290 1974 7.825 1981 50.983 1998 488 1958 117.550 1965 14.644 1982 33.355 1999 428 1959 16.252 1966 17.315 1983 19.122 2000 484 1960 7.739 1967 10.856 1984 17.455 2001 623 1961 9.303 1968 8.435 1985 22.075 2002 553 1962 9.657 1969 9.536 1986 27.188 2003 444 1963 9.522 1970 5.624 1987 48.423 2004 278 1964 13.611 1971 25.241 1988 140.226 2005 80 1965 14.644 1972 13.476 1989 250.340 1966 17.315 1973 8.902 1990 133.872 Tabelle 2: Anzahl der Aussiedler zwischen 1950 und 2005 noch im Jahre 2006 auf ihrer Website „350.000 Bürger deutscher Nationalität“ in Polen an. Es besteht allerdings kein Anlass, das nach dem Bekenntnisprinzip unter demokratischen Bedingungen zustande gekommene Ergebnis des Zensus von 2002 in Frage zu stellen. Ein Missverständnis bzw. eine statistische Ungenauigkeit resultiert auch aus der häufig angeführten Zahl von etwa 280.000 deutschpolnischen Doppelstaatsbürgerschaften, da sich nicht alle Polen mit deutscher Staatsangehörigkeit automatisch der deutschen Minderheit in Polen zurechnen lassen. 3 Geschichte 3.1 Von den Anfängen bis 1795 Polen, dessen Gebiet im Zuge der Völkerwanderung seit dem 5. Jahrhundert von westslawischen Stämmen besiedelt worden war, wurde im 10. Jahrhundert als Herzogtum (ab 1025: Königreich) geeint. Das Land beherrschte die Dynastie der Piasten, die die Hauptstadt 1040 von Gniezno/ Gnesen nach Kraków/ Krakau verlegten und 1138 die Senioratsverfassung einführten, wonach jeweils die jüngeren Brüder unter der Oberherrschaft der ältesten über einen der Landesteile (Kleinpolen, Großpolen, Pommern, Pommerellen, Schlesien, Masowien) regierten. Drei der Teilherzogtümer lösten sich in der Folge aus dem polnischen Staatsverband: Pommern unter den Gryffiten (1181), Pommerellen unter den Samboriden (1227) und Schlesien als böhmisches Lehen unter den schlesischen Piasten (1348). Anfang des 14. Jahrhunderts wurde das geteilte Land unter W adys aw I. erneut geeint. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert kamen im Zuge des Landesausbaus deutsche, flämische, französische und andere westeuropäische Siedler nach Schlesien, Pommern, Großpolen, Pommerellen und Preußen (dem späteren „Ostpreußen“). Insgesamt soll es sich dabei um etwa 100.000 Menschen gehandelt haben. Im späten Mittelalter besaßen zahlreiche Städte Polens einen bedeutenderen deutschen Bevölkerungsanteil. Die Heirat der Königin Jadwiga mit dem litauischen Großfürsten Jagie o läutete die Dy- 4. Polen 151 Wojewodschaft (Hauptstadt) Zahl Prozent Województwo opolskie [Oppelner Schlesien] (Opole/ Oppeln) 104.399 9,89 Województwo l skie [Schlesien] (Katowice/ Kattowitz) 30.531 0,63 Województwo dolno l skie [Niederschlesien] (Wroc aw/ Breslau) 1.792 0,06 Woj. warmi sko-mazurskie [Ermland-Masuren] (Olsztyn/ Allenstein) 4.311 0,30 Województwo pomorskie [Pommerellen] (Gda sk/ Danzig) 2.016 0,09 Województwo zachodniopomorskie [West-Pommern] Szczecin/ Stettin) 1.014 0,06 Województwo wielkopolskie [Großpolen] (Pozna / Posen) 820 0,02 Województwo kujawsko-pomorskie [Kujawien-Pommern] (Toru / Thorn) 636 0,03 Woj. lubuskie [Lebuser Land] (Gorzów Wielkopolski/ Landsberg a.W.) 513 0,05 Województwo mazowieckie [Masowien] (Warszawa/ Warschau) 351 0,00 Województwo ódzkie [Lodz] ( ód / Lodz) 263 0,01 Gesamt 147.094 0,38 Tabelle 3: Anzahl der Deutschen in den verschiedenen Wojewodschaften nastie der Jagiellonen ein, die unter W adys- aw II. Jagie o den Doppelstaat Polen-Litauen begründete. Er war für die folgenden 300 Jahre eines der mächtigsten Staatsgebilde Europas. Der letzte Jagiellone, Zygmunt August, begründete 1569 mit der Union von Lublin die polnisch-litauische Adelsrepublik (Rzeczpospolita), die auf Gewaltenteilung und Wahlkönigtum durch den Adel (Szlachta) beruhte. Polen, das in seiner Selbstwahrnehmung zu jener Zeit ein „Goldenes Zeitalter“ erlebte, war ein Refugium verfolgter Glaubensgemeinschaften, darunter auch von Juden, die aus ganz Europa ins Land kamen. Doch auch deutschsprachige Protestanten, etwa aus den unter Habsburger Herrschaft stehenden Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, durften sich in Polen niederlassen, insbesondere im südlichen Teil Großpolens und in Pommerellen. Hinzu kamen Handwerker aus Pommern und der Neumark, die im westlichen Großpolen ansässig wurden. Die Trockenlegung von Sumpfgebieten in Großpolen und Pommerellen im 17./ 18. Jahrhundert führte im Zuge der „holländischen Kolonisation“ neue deutschsprachige Siedler ins Land. Eine besondere Gruppe bildeten katholische Bamberger Siedler in Dörfern des Posener Landes, die im 17. Jahrhundert infolge der Schwedenkriege und von Pestepidemien dezimiert worden waren. Innenpolitische Spannungen, wie etwa der Gegensatz zwischen Magnaten und Landadel, fehlende politisch-soziale Reformen sowie außenpolitische Bedrohungen durch Kriege mit Schweden, dem Osmanischen Reich, Russland und Brandenburg-Preußen, Aufstände von Kosaken und Ukrainern, versetzten Polen im 17. und 18. Jahrhundert in eine Krise und ließen es zunehmend zum Objekt der umliegenden Großmächte werden. In drei Teilungen wurde die Rzeczpospolita 1772, 1793 und 1795 von Russland, Preußen und Österreich zunächst in ihrer territorialen Integrität beschnitten und zuletzt für mehr als 130 Jahre als selbstständiger Staat von der Landkarte Europas gelöscht, sieht man von dem 1807 bis 1815 als französischer Vasallenstaat existierenden „Herzogtum Warschau“ ab. Auf dem Wiener Kongress wurde 1815 im russischen Teilungsgebiet das „Königreich Polen“ in Personalunion mit dem Kaiserreich Russland eingerichtet. 3.2 Ansiedlungen von Deutschen im geteilten Polen Im österreichischen Teilungsgebiet führte ab 1774 das sogenannte „erste Ansiedlungspatent“ Kaiser Josefs II. zur Niederlassung protestantischer Handwerker und Kaufleute in Lwów/ Lemberg, Jaros aw/ Jaroslau, Brody und Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 152 Zaleszczyki, denen neben dem freien Bürger- und Meisterrecht auch die Religionsausübung zugestanden wurde. Aufgrund des „zweiten Ansiedlungspatents“ von 1781 kamen vor allem katholische und evangelische Bauern aus Westdeutschland, insbesondere der Pfalz, nach Galizien. Daneben warben auch polnische Magnaten deutschsprachige Siedler, etwa aus dem böhmischen Egerland sowie aus dem Böhmerwald, an. Die insgesamt etwa 20.000 ländlichen Kolonisten gründeten 240 Dörfer. Im preußischen Teilungsgebiet kam es unter Friedrich II. und seinen Nachfolgern zu vergleichbaren Gründungen neuer, deutschsprachig bewohnter Ortschaften, wie damals übrigens auch in Nieder- und Oberschlesien sowie in der Neumark. Auch im russischen Kongresspolen erfolgte im 19. Jahrhundert eine gewisse Ansiedlung deutschsprachiger Personen. So kamen ab 1823 etwa 35.000 Textilhandwerker und -arbeiter ins aufstrebende „polnische Manchester“ nach ód / Lodz. Eine bäuerliche Ansiedlung fand hingegen in Dorfschaften des zum Königreich Polen gehörenden Teils Wolhyniens statt. Mehrere Aufstandversuche, bei denen auch deutschsprachige Landesbewohner sich für die Freiheit Polens engagierten, - zu nennen sind vor allem der „Novemberaufstand“ von 1830 und der „Januaraufstand“ von 1863 - schlugen fehl und führten zu Repressionen und zur Emigration eines großen Teils der politischen und kulturellen Elite. Das preußische Teilungsgebiet, das sich anfangs durch eine gewisse Liberalität ausgezeichnet hatte, wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von starken Germanisierungstendenzen bestimmt, während das österreichische Galizien vor allem ab 1867 als relativ gemäßigt gegenüber der polnischen Nationalkultur galt und zu einem Ausgangspunkt für die nationale Wiedergeburt wurde. Die Spannungen im preußischen Teilungsgebiet verstärkten sich nach der deutschen Reichsgründung von 1871. Ab 1884 wurde eine gezielte Ansiedlungspolitik im Posener Land und in Westpreußen betrieben und gleichzeitig im Zeichen des „Kulturkampfes“ die Religionsausübung der katholischen Polen erschwert. Der 1894 in Posen gegründete „Deutsche Ostmarkenverein“ (DOV), nach den Initialen seiner Gründer polnischerseits auch „H.K.T.“ (Hakata) genannt, wurde zum Instrument und gleichzeitig zum Symbol einer radikalen Germanisierungspolitik. Trotz der seit den 1870er Jahren gleichzeitig einsetzenden „Ostflucht“ aus den östlichen preußischen Provinzen stieg bis zum Ersten Weltkrieg der deutsche Bevölkerungsanteil in jenen Regionen an. 3.3 In der Republik Polen 1918- 1939 1918 erlangte Polen als Republik seine staatliche Souveränität wieder. Im Versailler Vertrag verpflichtete es sich am 28. Juni 1919 zur Gleichbehandlung und zum Schutz der „sozialen, nationalen, sprachlichen, rassischen und religiösen Minderheiten“. Diese Formulierung fand Eingang in Art. 95 der polnischen Verfassung vom 17. März 1921. Die Verfassung vom 23. April 1935 nahm die liberale Haltung gegenüber den Minderheiten wieder stark zurück, indem sie das polnische Staatsinteresse stark in den Vordergrund rückte. Von Preußen erhielt Polen einen Großteil der ehemaligen Provinzen Posen (Großpolen) und Westpreußen (Pommerellen). Die international instabile Situation nach dem Ersten Weltkrieg führte zu militärischen Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten: 1920 drangen die Bolschewiken im Polnisch-Sowjetischen Krieg von Osten bis Warschau vor. Oberschlesien, das bis zu einer Volksabstimmung über seine künftige Zugehörigkeit unter das Mandat des Völkerbundes gestellt wurde, entwickelte sich zu einer Kampfarena paramilitärischer Gruppen auf deutscher wie polnischer Seite; die anhaltenden Aufstände und Kämpfe sowie das ethnisch uneindeutige Ergebnis der Volksabstimmung vom 20. März 1921 veranlassten den Völkerbund am 15. Mai 1922 zur Teilung Oberschlesiens durch die „Genfer Konvention“. Sie sah weitreichende Minderheitenrechte vor. Damals entstand die Wojewodschaft l sk/ Schlesien mit Katowice/ Kattowitz als Verwaltungssitz. 4. Polen 153 Die Gebiets- und Hoheitsverschiebungen bedingten eine starke Abwanderung bei den ehemals preußischen Untertanen unter den Deutschen in Polen. Ursächlich dafür waren zum einen der Abzug preußischer Beamter, Soldaten und Angestellter sowie der erst im späten 19. Jahrhundert ins Land gekommenen Neubürger, zum anderen der Verlust des führenden Status der Deutschen im polnischen Staat, vielfach das Fehlen sprachlicher Kenntnisse und erschwerte Perspektiven der beruflichen und sozialen Entwicklung unter den neuen Bedingungen. Besonders drastisch war der Rückgang in den größeren Städten. Durch die Abwanderung - in erster Linie ins Deutsche Reich - verschoben sich in den 1920er Jahren die konfessionellen Verhältnisse unter den Deutschen in Polen. Der Anteil der Katholiken stieg leicht an, während gleichzeitig der Anteil der Protestanten und der deutschsprachigen Juden sank. Bei einem Teil der Verbliebenen verschärfte sich das Verhältnis zu Polen, zumal die Behörden des Deutschen Reiches und freie Träger im Reich die „deutsche Minderheit“ finanziell unterstützten und eine massive Revisionspropaganda gegen die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg betrieben. Ab 1923 unternahm das Deutsche Reich Anstrengungen, Deutsche in Polen zu halten, um an ihren Ansprüchen festhalten zu können. So erhielten beispielsweise Eltern, die ihre Kinder auf private Minderheitenschulen schickten, im Falle der Arbeitslosigkeit finanzielle Unterstützungen aus dem Reich. Nach der Machtergreifung der NSDAP 1933 stiegen die Hilfen für die Minderheit noch an, obwohl Deutschland auf diplomatischer Ebene durch den 1934 geschlossenen Nichtangriffspakt nach außen hin den Ausgleich mit Polen suchte. Die 1931 in Bielsko-Bia a/ Bielitz-Biala gegründete Jungdeutsche Partei unter Rudolf Wiesner entwickelte sich in den 1930er Jahren zu einer der stärksten politischen Organisationen der deutschen Minderheit und wurde von der reichsdeutschen NSDAP stark gefördert. Sie war ab 1934 in Ostoberschlesien, Großpolen, Lodz und der Wojewodschaft Pommern aktiv und zählte etwa 50.000 Mitglieder. Ihr Parteiorgan war die seit 1933 in Katowice/ Kattowitz erscheinende Zeitung „Der Aufbruch“. Daneben waren aber auch demokratische politische Kräfte der Deutschen in Polen tätig: sozialistische, sozialdemokratische, liberale und konservative. Viele ihrer Vertreter widersetzten sich massiv der Inanspruchnahme durch die reichsdeutsche Volkstumspolitik und hatten nach der Besetzung Polens 1939 unter Verfolgung zu leiden. 3.4 Zweiter Weltkrieg, Umsiedlungen und Vertreibungen Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten Deutschland und die Sowjetunion am 23. August 1939 die Aufteilung Polens. Am 1. September begann die deutsche Wehrmacht mit der Besetzung der Westhälfte Polens und löste damit den Zweiten Weltkrieg aus, ab dem 17. September nahm die Sowjetunion Ostpolen in Besitz. Die polnische Regierung floh nach London und organisierte von dort aus den Widerstand des polnischen Untergrunds. Die deutsche Besatzungsherrschaft war auf eine systematische Vernichtung der polnischen Intelligenz, die Ausbeutung polnischer Arbeitskräfte (Zwangsarbeitereinsatz im Deutschen Reich) und die Ausrottung der polnischen Juden gerichtet. Die UdSSR ging ebenfalls mit großer Härte gegen polnische Führungsschichten vor (u.a. Massaker von Katy ) und führte Massendeportationen von Polen nach Sibirien und Kasachstan durch. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion kam zwischen 1941 und 1944 auch Ostpolen unter deutsche Herrschaft und in den Zugriff der NS-Politik. Zu den Kriegsverbrechen nationalsozialistischer Politik gehörten auch die erzwungenen „Umsiedlungen“ von sogenannten „Volksdeutschen“ während des Zweiten Weltkriegs sowie die Kategorisierung der Bevölkerung durch die „Volksliste“. Bis zum 15. November 1944 wurden in die „angegliederten Gebiete“ insgesamt 631.485 „Volksdeutsche“ umgesiedelt (Warthegau: 536.951; Schlesien: 36.870; Danzig-Westpreußen: 50.204). Im sogenannten „Generalgouvernement“ (GG) lebten 1943 nach deutschen Angaben 259.100 Volks- und Reichsdeutsche. - Mit Wirkung Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 154 vom 4. März 1941 mussten sich die Deutschen im besetzten Polen in eine der vier Kategorien der sogenannten „Volksliste“ einordnen (Gruppe I: „Volksdeutsche“, Gruppe II: „Deutschstämmige“, Gruppe III: „Eingedeutschte“, Gruppe IV: „Rückgedeutschte“). Dabei bildeten in der Nachkriegszeit die Angehörigen der Gruppe III das Gros der Aussiedler aus der Volksrepublik Polen in die Bundesrepublik Deutschland seit 1958. Mit Beginn des Jahres 1945 fingen die NS- Behörden im Osten des „Großdeutschen Reiches“ und in den besetzten Gebieten mit der massenhaften Evakuierung der deutschen Bevölkerung an. Nachdem es stellenweise bereits im Frühsommer 1945 zu „wilden“ oder „spontanen“ Vertreibungen gekommen war, schuf die Potsdamer Übereinkunft der alliierten Mächte vom 2. August 1945 eine völkerrechtliche Grundlage für die massenhafte Ausweisung von Deutschen aus Polen (1946-1948). Die durch die Gemeinde-, Stadt- und Kreisstellen durchgeführten „Verifikationen“ lieferten dafür die Basis. Etwa 200.000 NS-Funktionäre und „Verifizierte“ wurden in Lagern wie beispielsweise wi toch owice/ Schwientochlowitz und ambinowice/ Lamsdorf interniert. Nach dem Abschluss der ersten großen Vertreibungswelle lebten nach offiziellen Angaben am 31. Dezember 1948 noch etwa 96.100 Deutsche auf polnischem Staatsgebiet, vor allem in den Wojewodschaften Wroc- aw/ Breslau und Szczecin/ Stettin. 1949 übersiedelten noch einmal 61.400 Personen nach Deutschland. 3.5 Von der Volksrepublik Polen zur Republik Polen In den Jahren 1948 bis 1950, der ersten Phase des Stalinismus, wurde die Existenz nationaler Minderheiten zugunsten der „sozialistischen Homogenisierung“ der Gesellschaft gering geachtet. 1951 setzte die freiwillige Aussiedlung Deutscher aus Polen nach Deutschland ein. Im Zeitraum zwischen 1952 und 1955 waren davon etwa 11.500 Personen betroffen, von denen sich 10.800 in der DDR niederließen. Mit dem Jahr 1956 stieg die Zahl der Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland stark an. Die Verfassung der Volksrepublik Polen vom 22. Juli 1952 schrieb theoretisch die Gleichberechtigung aller Staatsbürger „ungeachtet ihrer Nationalität, ihrer Rasse und ihres Bekenntnisses in allen Bereichen des staatlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens“ fest (Art. 6a), soweit sie sich nicht „abträglich gegenüber der Republik Polen“ (Art. 70) verhielten. In der zweiten Verfassung von 1976 fanden sich diese Bestimmungen im gleichen Wortlaut wieder. Im Zuge der Entstalinisierung auf dem 7. Plenum des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei 1956 wurde erklärt, dass jede Form von „Nationalismus, Chauvinismus und Diskriminierung der nationalen Minderheiten“ bekämpft werden solle. Daraufhin entstand 1957 im niederschlesischen Wa brzych/ Waldenburg die „Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen in Polen“. 1963 erfolgte die Aufhebung noch bestehender rechtlicher Beschränkungen für Bürger deutscher Nationalität in Polen. Dennoch hielt, auch angesichts der gesamtpolitischen und ökonomischen Lage, die Aussiedlung aus Polen an. Durch eine Reihe von Protestbewegungen (1956, 1968, 1970, 1976 und 1980) wurde das kommunistische Regime in Warschau zu sukzessiven politischen und ökonomischen Zugeständnissen gezwungen. Die Gründung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung „Solidarno “ [Solidarität] führte 1981 zur Verhängung des Kriegsrechts. Aus der Solidarno -Bewegung kamen, etwa in der Person der Bürgerrechtler Adam Michnik und Jacek Kuro , in den 1980er Jahren wichtige Impulse für ein neues Verhältnis des polnischen Staates gegenüber seinen Minderheiten. Die anhaltenden Protestbewegungen führten 1989 zu den ersten freien Wahlen und der Etablierung einer demokratischen Regierung. Es begann für Polen eine schwierige und noch nicht vollständig abgeschlossene Phase der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation. Die Republik Polen trat 1999 der NATO und 2004 der Europäischen Union bei. 4. Polen 155 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaft Aufgrund der skizzierten unterschiedlichen Siedlungsphasen wichen die einzelnen zerstreuten Gruppen in der Vergangenheit erheblich voneinander ab, was ihren sozialen und wirtschaftlichen Status betraf. So lagen etwa in der frühen Neuzeit bereits Welten zwischen den wohlhabenden Danziger Kaufleuten und den benachbarten Bewohnern mennonitischer Bauernsiedlungen im Weichseldelta. Auch im 19. und 20. Jahrhundert unterschieden sich Lodzer Textilarbeiter, westpreußische Stadtbürger, Gutsherren im Posener Land und wolhynische Kleinbauern im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Kraft extrem stark voneinander. Der Großteil der heute im sogenannten Oppelner Schlesien lebenden Menschen, die sich zur deutschen Nationalität bekennen, ist in ländlichen Gegenden beheimatet und arbeitet in der Landwirtschaft, im mittelständischen Gewerbe, in der Industrie oder im Dienstleistungssektor. In der benachbarten Wojewodschaft Schlesien, die stärker industriell geprägt ist, wurde die Bevölkerung in den vergangenen Jahren stark von der Strukturkrise des Bergbaus sowie der metallverarbeitenden Industrie getroffen. Aus beiden Regionen ist unter der Bevölkerung deutscher Nationalität die Arbeitsmigration nach Deutschland sehr intensiv, die durch die hohe Zahl an doppelten Staatsangehörigkeiten praktisch erleichtert wird. Für das Oppelner Schlesien war in den 1990er Jahren dadurch das saisonale Fehlen zahlreicher, insbesondere männlicher, Angehöriger der jüngeren und mittleren Generation kennzeichnend. 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Organe, Medien 4.2.1 Verbandswesen und Politik In den Jahren 1957 bis 1958 war im niederschlesischen Wa brzych/ Waldenburg eine unter kommunistischem Druck stehende „Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen in Polen“ aktiv, die jedoch keinerlei realpolitisches Gewicht besaß. Unter starker materieller und ideologischer Einflussnahme der Landsmannschaft Schlesien, des Bundes der Vertriebenen, der Schlesischen Jugend und der aus ihr hervorgegangenen „Arbeitsgemeinschaft Menschenrechtsverletzungen in Ostdeutschland“ (AGMO e.V.) entstanden in den 1980er Jahren in Oberschlesien erste illegale „Deutsche Freundschaftskreise“ (DFK), die sich ab 1988 öffentlich als Interessensvertretung artikulierten. Der Zentralverband der deutschen Minderheitenorganisationen in Polen ist gegenwärtig der „Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen/ Zwi zek Niemieckich Stowarzysze Spo eczno-Kulturalnych w Polsce“ (VDG/ ZNSSK) mit Sitz in Opole/ Oppeln. Er umfasst als ständige Mitglieder zehn Regionalverbände auf der Ebene der Wojewodschaften sowie als assoziierte Mitglieder den „Bund der Jugend der deutschen Minderheit“ (BJDM), den „Schlesischen Bauernverband“, den „Verein Schlesischer Landfrauen“, den „Schlesischen Medizinerverband“, den „Oberschlesischen Sängerbund“, die „Deutsche Bildungsgesellschaft“, die „Wohltätigkeitsgesellschaft der Deutschen in Schlesien“ und das „Eichendorff-Konversatorium“. Neben dem VDG bestehen noch weitere deutsche Regionalverbände, so die „Niemiecka Wspó nota ‘Pojednanie i Przysz o ’/ Deutsche Gemeinschaft ‘Versöhnung und Zukunft’“, die „Stowarzyszenie Mazurskie/ Masurische Vereinigung“ sowie der „Rada Niemców Górno l skich/ Rat der oberschlesischen Deutschen“. Die deutsche Minderheit tritt bei den polnischen Parlamentswahlen im Oppelner Schlesien seit 1993 mit einer eigenen Wahlliste („Komitet Wyborczy ‘Mniejszo Niemiecka’“) an, die von der „Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien“ getragen wird. Als Minderheitenrepräsentanz ist sie von der in Polen geltenden 5- Prozent-Klausel befreit. Bei den Parlamentswahlen von 1993 erreichte sie etwa 0,8 Pro- Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 156 zent aller in Polen abgegebenen Wählerstimmen und erhielt aufgrund ihres Sonderstatus vier Mandate im Sejm. 1997, 2001 und 2005 sank der Stimmenanteil auf etwa 0,4 Prozent; dies führte zu jeweils zwei Abgeordnetensitzen. Außerdem besitzen die Deutschen Freundschaftskreise im Oppelner Schlesien kommunal- und regionalpolitisch einen beträchtlichen Einfluss. In mehreren Kreis-, Stadt- und Gemeinderäten stellen sie die Mehrheit der Volksvertreter und die Bürgermeister. Ein spürbares Problem bildet die jahrzehntelange Abgeschnittenheit von Deutschland derjenigen Menschen, die sich zur deutschen Nationalität bekennen. Die ältere Generation pflegt vielfach ein Deutschlandbild, das mit den heutigen Realitäten nichts mehr zu tun hat, und die offiziellen Repräsentanten der Minderheitenorganisationen sind nur wenig darum bemüht, dieses Bild allmählich an heutige Bedürfnisse anzupassen. 4.2.2 Kultureinrichtungen Im südlichen Niederschlesien existierten zwischen 1950 und 1958 zahlreiche deutsche Laienspielgruppen, deren Tätigkeit aber nach dem Exodus der Waldenburger und Glatzer Arbeiter eingestellt wurde. Heute bestehen für kulturelle Aktivitäten und Initiativen der Deutschen in Polen keine Beschränkungen mehr; im Gegenteil: Sie werden vielfach von staatlicher und nichtstaatlicher Seite unterstützt. Dazu zählt unter anderem die vielfältige Tätigkeit des „Dom Wspó pracy Polsko-Niemieckiej/ Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit“ (DWPN/ HDPZ) in Gliwice/ Gleiwitz, das 1998 von Staatspräsident Aleksander Kwa niewski und Bundespräsident Roman Herzog eröffnet wurde und eine komplizierte Trägerstruktur polnischer und deutscher Einrichtungen unter dem Dach einer Stiftung polnischen Rechts vereint. Nach 1989 wurde in Opole/ Oppeln eine Joseph-von-Eichendorff-Gesellschaft gegründet, die mit ihrer seit 1992 vierteljährlich erscheinenden, von Adolf Kühnemann und Joanna Rostropowicz redaktionell betreuten, kulturwissenschaftlichen und kulturpolitischen Zeitschrift „Konwersatorium im. Josepha von Eichendorffa, Zeszyty edukacji kulturalnej/ Joseph-von-Eichendorff-Konversatorium, Hefte für Kulturbildung“ (zweisprachig, Auflage: 1.000 Exemplare) bereits im Namen an das in der Zwischenkriegszeit in Oppeln von einer Reihe von Kulturschaffenden getragene „Eichendorff-Konversatorium“ anknüpfen möchte. In Bytom/ Beuthen ist darüber hinaus die „Stowarzyszenie Autorów i Twórców Mniejszo ci Niemieckiej w Polsce/ Gesellschaft deutscher Autoren in Polen“ tätig. Die meisten Angehörigen der heutigen deutschen Minderheit in Polen sind katholischer Konfession. Dies war nicht immer so: In der Zwischenkriegszeit waren etwa sieben Achtel der Deutschen in Polen evangelisch. Seit 1990 unterhält die katholische Diözese Opole/ Oppeln, der seit 1977 der selbst in Oberschlesien aufgewachsene Bischof Alfons Nossol vorsteht, ein spezielles Minderheitenpastorat, um an verschiedenen Orten eine deutschsprachige Seelsorge zu garantieren. Außerdem unterhält die Diözese mit der Bildungsstätte in Kamie l ski/ Groß Stein ein wichtiges kulturelles Zentrum für ganz Oberschlesien. In religiöser Hinsicht spielen auch die traditionellen Wallfahrten zum Góra wi tej Anny/ Sankt Annaberg eine bedeutende Rolle. Auch im evangelischen Bereich gibt es eine deutschsprachige Seelsorge für die wenigen Restmitglieder der einst wichtigen Gemeinden, etwa in Wroc aw/ Breslau. 4.2.3 Deutschsprachige Medien In Polen gibt es gegenwärtig eine ganze Palette deutschsprachiger Minderheitenperiodika. Im Gegensatz zur zwischen Juli 1951 und April 1958 in Niederschlesien herausgegebenen parteioffiziösen „Arbeiterstimme“ werden diese Blätter seit der politischen Wende in Polen ohne jegliche Einschränkung gedruckt. Am größten ist das seit 1991 in Opole/ Oppeln im Verlag Silesiapress als Verlautbarungsblatt des VDG erscheinende „Schlesische Wochenblatt“ mit einer wöchentlichen Auflage von 6.500 Exemplaren. Weitere Zeitungen sind die „Masurische Storchenpost“ (Olsztyn/ Allenstein; seit 1990; monatliche Auflage: 500 Exemplare), das „Informations- und Kultur-Bulletin“ aus Racibórz/ Ratibor (seit 4. Polen 157 1989; monatliche Auflage: 1.000 Exemplare), das seit 1994 erscheinende „Mitteilungsblatt der deutschen Minderheit in den Bezirken Ermland und Masuren“ (Olsztyn/ Allenstein, monatlich) sowie die lokalen Blätter „Hoffnung“ (Katowice/ Kattowitz) und „Thorner Bote“ (Toru / Thorn). Die kurzzeitig erscheinende „Elbinger Zeitung“ (Elbl g/ Elbing) wurde zwischenzeitlich aus personellen und finanziellen Gründen eingestellt. In Oberschlesien finden auch die vom Senfkorn- Verlag (Alfred Theisen) in Görlitz herausgebrachten und von Góra wi tej Anny/ Sankt Annaberg aus vertriebenen Periodika „Unser Oberschlesien“ (zweiwöchentlich) und „Schlesien heute“ (monatlich) Verbreitung. Deutschsprachige Rundfunksendungen im öffentlich-rechtlichen Radio sind in Oberschlesien seit den 1990er Jahren gebräuchlich, unter anderem in Racibórz/ Ratibor und Opole/ Oppeln; die deutsche Minderheit in der Wojewodschaft l sk/ Schlesien verfügt über ein einstündiges Sendekontingent beim öffentlich-rechtlichen „Polskie Radio Katowice“. Im landesweit ausgestrahlten Fernsehen werden der deutschen Minderheit zehn Minuten im vierzehntägigen Rhythmus eingeräumt. Das Regionalprogramm „TV Opole“ sendet außerdem alle zwei Wochen eine Informationssendung unter dem Titel „Schlesische Wochenschau“. 4.3 Rechtliche Stellung der Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen 4.3.1 Rechtliche Grundlagen seit 1991 Im „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 17. Juni 1991 wurden ausdrücklich „die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Republik Polen, das heißt Personen polnischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung sind oder die sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen“, benannt (Art. 20). „Minderheiten und gleichgestellte Gruppen“ wurden als „natürliche Brücken zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk“ (Art. 2) angesprochen. Für sie sieht der Vertrag eine Reihe von Rechtsgarantien vor. Dazu zählt unter anderem die freie private und öffentliche Verwendung der Muttersprache, die Gründung von Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen sowie von Organisationen und Vereinigungen, die freie Religionsausübung, der muttersprachliche Gebrauch von Vor- und Familiennamen, die Bildung von Organisationen und Vereinigungen, die im Rahmen von internationalen nichtstaatlichen Organisationen fungieren, sowie der freie Einsatz von Rechtsmitteln „im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften“ (Art. 20). Beide Staaten verpflichteten sich zu dem Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität, insbesondere der Garantie von muttersprachlichem Unterricht und der Ermöglichung des Sprachgebrauchs bei Behörden, durch Unterrichtung von Kultur und Geschichte sowie das Recht, öffentlich für seine Angelegenheiten einzutreten (Art. 21). Ferner wurde die „Erhaltung und Pflege des europäischen kulturellen Erbes“ (Art. 28) in materieller und geistiger Hinsicht vereinbart. In Artikel 35 der polnischen Verfassung vom 2. April 1997 werden den nationalen und ethnischen Minderheiten die Erhaltung und Entwicklung der eigenen Sprache, Gewohnheiten und Traditionen sowie die Weiterentwicklung ihrer eigenen Kultur zugestanden; sie dürfen demnach Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen schaffen und Maßnahmen zur Behauptung ihrer Identität durchführen. Die Republik Polen ist diesen Verpflichtungen seither auf verschiedenen Ebenen nachgekommen. 1998 wurde im Sejm der Entwurf eines Minderheitengesetzes eingebracht, der am 6. Januar 2005 zur Verabschiedung des „Gesetzes über die nationalen und ethnischen Minderheiten sowie über die Regionalsprache“ führte. Aus dem Staatshaushalt werden die Aktivitäten der deutschen Minderheit jährlich mit etwa 12 Millionen Z oty unterstützt. Zusätzlich erhält die VDG jährlich etwa 17 Millionen Euro aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern. Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 158 Darüber hinaus ist die Republik Polen auch internationale Verpflichtungen eingegangen. 1995 gehörte sie zu den Unterzeichnern des „Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten“ des Europarats, das allerdings erst 2000 ratifiziert wurde. Darüber hinaus war die Erfüllung eines bestimmten Kriterienkatalogs in diesem Bereich Voraussetzung für den EU-Beitritt des Landes am 1. Mai 2004. 4.3.2 Schulwesen und Sprachgebrauch Durch das bis 1989 geltende Verbot, in Oberschlesien (Wojewodschaften Opole/ Oppeln und Katowice/ Kattowitz) Deutsch zu unterrichten, sind dort heute vor allem die Angehörigen der älteren und alten Generation aktive Sprecher, während die mittlere Generation in der Regel kein Deutsch spricht und die jüngere Generation es erst wieder erlernt. Ein Regelungsbereich der staatlichen Maßnahmen für die deutsche Minderheit ist das Schulwesen. Nach einer aktuellen Übersicht wird derzeit in 368 Einzelschulen (vom Kindergarten bis zur gymnasialen Oberstufe) landesweit muttersprachlicher Unterricht in deutscher Sprache angeboten, in einer Reihe von Grundschulen (1. bis 8. Jahrgangsstufe) in Form eines erweiterten Deutschunterrichts, in anderen als bilinguale Schulformen. Von diesem Angebot machen landesweit über 36.000 Schüler Gebrauch. Eine Reihe von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland bemüht sich, ein möglichst hohes Niveau dieses Unterrichts zu garantieren. So entsendet das Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) in Stuttgart Kulturassistenten und fördert deutschsprachige Kindergärten sowie Fortbildungsmaßnahmen für Erzieher und Deutschlehrer. Spezielle Programme betreffen den Medienbereich (Zeitungen, Radio, Fernsehen). Das Auswärtige Amt in Berlin koordiniert diese Aktivitäten über das Deutsche Generalkonsulat in Wroc aw/ Breslau und das Goethe- Institut in Kraków/ Krakau. Daneben führen auch Einrichtungen wie die Robert-Bosch- Stiftung in Stuttgart oder die Otto-Benecke- Stiftung in Bonn gezielte Projekte im Bildungs- und Kulturbereich durch. Seit 1993 vergibt auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) spezielle Stipendien für Angehörige der deutschen Minderheit in Polen, um sie durch einen Studienaufenthalt in Deutschland als Deutschlehrer zu qualifizieren. Nach den heute in der Republik Polen geltenden gesetzlichen Bestimmungen genießt das Deutsche als Sprache der deutschen Minderheit einen besonderen Schutz. Eine Vielzahl von zwischenzeitlich entstandenen deutschen Inschriften, deutschen Grabaufschriften und Hinweisschildern zeugt davon. Ein Stein des Anstoßes waren bisher an manchen Orten die Versuche, Kriegerdenkmäler für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs aufzustellen, wenn die verwendete Symbolik ein zu provokatives Gepräge oder ein zu unkritisches Verhältnis gegenüber der NS-Zeit zum Ausdruck brachte. Offiziell abgelehnt werden bisher auch Versuche, zweisprachige Ortsnamenschilder in Gemeinden aufzustellen, deren Bewohner sich mehrheitlich zur deutschen Nationalität bekennen. Häufig liegt der Grund aber auch darin, dass dabei nach dem Wunsch der Minderheitenpolitiker vor allem die während der NS-Zeit eingeführten Namensvarianten Verwendung finden sollen. 5 Soziolinguistische Situation im Oppelner Schlesien Die lange andauernden soziokulturellen und sprachlichen Kontakte in der Mehrsprachigkeitssituation haben Konsequenzen für die Sprache hervorgerufen. Um die Veränderungen bei den Sprachgebrauchsstrukturen des oberschlesischen Deutsch erfassen und auswerten zu können, müssen sprachliche Äußerungen, die oft auch Sprachbiographien erkennen lassen, in die soziale und politische Ereignisgeschichte eingebettet werden. Denn die als empirische Größe festgehaltene Sprache ist nur im Modus geschichtlicher Entwicklungen beschreibbar. Kulturgeschichtliche Perspektiven erlauben besonders die Sprachbiographien der ältesten Oberschlesier. 4. Polen 159 5.1 Das Oppelner Spracharchiv Im Rahmen des Aufbaus eines Spracharchivs am Germanistischen Institut der Universität Oppeln wurden Tonbandaufnahmen deutschsprachiger Oberschlesier gesammelt, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Sprechern der ältesten Generation. Es wurden nur einheimische Gewährspersonen interviewt. Viele von ihnen pflegen Sprachkontakte nach Deutschland, gerade dann, wenn sie familiäre Bindungen nach Deutschland haben. Die Befragten wurden in drei Altersgruppen eingeteilt: - Altersgruppe I: vor 1940 Geborene - Altersgruppe II: zwischen 1940 und 1970 Geborene - Altersgruppe III: nach 1970 Geborene Geographisch wurden in den Aufnahmen möglichst viele oberschlesische Regionen berücksichtigt. Die Erhebungen konzentrierten sich einerseits auf die Region Gleiwitz (Gliwice) mit den umliegenden Orten, wie z.B. Tost (Toszek) und Königshütte (Chorzów) in Richtung Kattowitz (Katowice), Beuthen (Bytom), Rauden (Rudy), und andererseits in der Region Oppeln (Opolskie), u.a. mit den Orten Krascheow (Krasiejów), Tworkau (Tworków), Kandrzin (K dzierzyn), Groß Döbern (Dobrzen Wielki), Rosenberg (Olesno), Oberglogau (G ogówek). Bei den Informanten wurde eine soziolinguistisch ausgerichtete Umfrage durchgeführt. Es wurde ermittelt, ob die Person in dem Ort aufgewachsen ist, in welcher Sprache sie erzogen wurde, welche Sprache zu Hause, in der Schule, in der Arbeit benutzt wird, mit wem zu Hause Deutsch gesprochen wird, in welchen Situationen Deutsch gesprochen wird. Die gleichen Fragen wurden bezüglich der schlesischen Mundart gestellt (gemeint ist hier und im Folgenden die schlesische Mundart des Polnischen). Die Umfrage endete mit Informationen über die Kontaktsprache, Deutsch als Fremdsprache (wo und wie lange gelernt) und zur Rezeption deutschsprachiger Medien im Haushalt der Informanten. Außerdem wurde die Aktivität der deutschen Minderheit in den genannten Orten hinsichtlich der Pflege der deutschen Sprache und Kultur erfragt. Daher enthalten die Daten auch Informationen über Sitten und Bräuche in Oberschlesien sowie Stellungnahmen der Oberschlesier zu Deutsch als Muttersprache und zur Pflege der deutschen Kulturtradition in dieser Region. Das im Oppelner Spracharchiv gesammelte Korpus besteht aus sprachlichen Äußerungen, die im Rahmen von Magisterarbeiten auf Tonträger aufgenommen und transkribiert wurden. Ungezwungene Gespräche und Befragungen stellten die Grundmethoden dar, mit denen Textkorpora konstituiert wurden. Die Informanten wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, wobei eine größere Zahl von Sprechern hinzuzuziehen ist. Den Gewährspersonen wurde das wissenschaftliche Ziel der Gespräche und der Aufnahme spontaner Aussagen erklärt. Die modernen Beschreibungsmodalitäten der Varietäten der deutschen Regionalsprache im oberschlesischen Gebiet sind auf Instrumente zurückführbar, die die vergleichende Methode in diachronischer und synchronischer Perspektive benutzt. Aber auch biographische, soziale und geschlechtsspezifische Zugänge bieten Ansätze zur Beschreibung dieses natürlichsprachlichen Materials. Auch wenn eine abschließende Analyse noch aussteht, so ist thesenhaft bereits formulierbar: Die natürlichsprachlichen Beispiele des Deutschen lassen erkennen, dass wir es mit Varietäten des Deutschen zu tun haben, die als Minderheitensprache im ständigen Sprachkontakt mit der (polnischen) Mehrheitssprache fungieren. In diesem Sinne belegt das erfasste natürlichsprachliche Material die kommunikative Norm in der zwei- oder mehrsprachigen Gemeinschaft, mit der man es aus sprachhistorischen Gründen in Oberschlesien zu tun hat. So ließen sich die Varietäten des Deutschen als eine Art Kompromiss zwischen den Normen der monolingualen Sprecher ansehen. Die Mehrheit der im Institut im Rahmen von Magisterseminaren zusammengestellten Texte beinhaltet freie Erzählungen älterer Oberschlesier, die meistens thematisch mit ihren Vergangenheitserinnerungen verbunden sind. Die älteren Frauen und Männer erzählen aus ihrer Jugend und ihre Arbeit, die Männer berichten von Kriegserlebnissen. Weitere Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 160 Themen sind die Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre, die Diskriminierung durch die polnische Seite und das verlorene Identitätsbewusstsein. 1 5.2 Merkmale des Deutschen im Oppelner Schlesien Die im Spracharchiv aufbewahrten sprachlichen Aufnahmen, besonders der Vertreter der älteren Generation der Oberschlesier, lassen die interlinguale Wechselbeziehung zwischen der regionalen Varietät des Deutschen und dem nichtstandardsprachlichen Polnisch gut erkennen. Transferenzphänomene treten in allen Sprachsystemen auf, sie erstrecken sich insgesamt über alle Dimensionen der Sprachverwendung bis hin zur soziokulturellen Transferenz. Phonetik/ Phonologie Den schlesischen Charakter der Aufnahmen kann man klar auf der phonetischen Ebene konstatieren; als häufigste Beispiele sind vor allem Vokalentrundung und Kürzung von Langvokalen zu nennen, z.B.: (1) Ich war iber drei Wochen bei meiner Tochter in Keln [Köln]. (2) Wann bist du zurik gekommen? (3) am friehen Morgen Die phonetische Transferenz ist in der Aussprache der Vokale von vielen Oberschlesiern sichtbar. Die fehlende Opposition zwischen gerundeten und nicht gerundeten Vokalen [ , ] gehört zu den typischen Merkmalen des oberschlesischen Deutsch. Diejenigen Oberschlesier, die im ständigen Kontakt mit Muttersprachlern aus Deutschland stehen, sei es familiär oder beruflich, zeigen in ihrer Aussprache keine größeren Abweichungen von der deutschen Standardsprache. Nach ihrer Satzmelodie und Intonation gefragt, betonen die meisten Informanten jedoch, ihre Sprache sei „hart und melodiearm“. Sie sind sich dessen bewusst, dass dieses Merkmal nicht zu überhören ist. 1 Im Folgenden stützen wir uns besonders auf Aufnahmen, die Jolanta Czaja, Anna Hurek und Ewelina Klaka durchgeführt haben. Morphosyntax Die gegenseitige Durchdringung deutscher und polnischer Elemente wird vor allem in den morphosyntaktischen Strukturen sichtbar. Außerdem zeigen die auf den Tonbändern aufgenommenen spontan formulierten Äußerungen Züge der gesprochenen Sprache, die zu den Besonderheiten dieser Sprachebene zu zählen sind, d.h. insbesondere Variabilität und Freiheit der mündlichen Sprachverwendung. Verhältnismäßig häufig lassen sich in den aufgenommenen Aussagen Schwankungen im Genus von Substantiven bzw. im Gebrauch des Artikels feststellen, die sich teilweise durch Interferenz erklären lassen, z.B.: (4) Deswegen habe ich die Interesse gehabt, als Fleischer zu sein. (5) In meinem Beruf als Ofensetzer brauchte ich folgende Werkzeug. (6) weil ich behindert war, weil ich ohne einen Bein bin. (7) Denn es muss ja eigene Weize/ Weizen da sein zum Mehl für den Kuchen. (8) Nach dem Mittagessen kam eine Taxe aus der Stadt vorgefahren. Wir waren auf eine Taxe angewiesen. (9) Dann hat er ein Vortrag gehalten. In Fällen, in denen standardsprachlich der Akkusativ Singular Maskulinum zu erwarten wäre, steht häufig der Nominativ Singular als eine Art Universalkasus, z.B.: (10) Ein Monat früher mussten wir zum Standesamt. (11) Ein Tag vor der kirchlichen Trauung sind wir zur Standesamttrauung gefahren. (12) Für ein Heizofen brauchte ich 48 Kachel, 28 Ecken, Gsims, Lehm und Schamottmehl und ein Jungen, der mir alles noch zuschaffen musste. (13) Dann nach der Volksschule hab ich kein Beruf erworben. (14) Da hab ich noch eine Tochter in Neudorf und ein Sohn in Gumpertsdorf. Es lässt sich eine gewisse Unsicherheit im Gebrauch des Artikels beobachten; dieselben Substantive können von einem Informanten 4. Polen 161 sowohl mit als auch ohne Artikel verwendet werden: (15) Da hab ich gemacht Leberwurst, Presswurst, Graupenwurst, Semmelwurst, manchmal auch Rohe/ da hab ich dann die Leberwurst gemacht (…) und die Presswurst/ (…). Da hab ich die Semmelwurst gemacht. (16) Und da haben sie Wellfleisch gegessen. Die Leute haben schon gewartet auf das Wellfleisch. (17) Am Heiligen Abend wird ein Fisch gegessen und Suppe - ist egal was fur eine Suppe - und Kartoffeln, Kraut dazu, und die Mohnkleeßel. (18) Die Leber hab’ ich gebraucht und Bauchfleisch. Der bestimmte Artikel steht auch oft vor Vornamen, 2 z.B.: (19) Dann kam der Gerhard nach Hause. (20) Meine Nichten, die wollten sie immer haben die Christa mit der Maria. (21) Dann kam noch der Stammhalter, der Thomas. Als eine Kontaktvariante (die zugleich durch bestimmte Formen des literarischen Standards gestützt wird) wäre der Gebrauch der Fragepronomina welcher, welche, welches als Relativpronomina aufzufassen, wie z.B.: (22) … wurde uns eine Arbeit angeboten, welche wir nachher am Sagewerk in Horst hatten. (23) Mit fünf Kindern, welche von 4 bis 14 Jahre alt waren … Charakteristisch ist der fast regelmäßige Gebrauch des in der Standardsprache als veraltet empfundenen Dativs auf -e, z.B. (24) am ersten Kriegstage im September (25) und nach dem Kriege (26) Ich habe sie kennen gelernt am Saale … (27) im Jahre 1941 - gerade zu meinem Geburtstag … (28) An dem Tage, da hab ich nämlich Pech gehabt. 2 Hier könnte jedoch die regionale Spezifik von Bedeutung sein: in Süd- und Mitteldeutschland werden Eigennamen regelmäßig mit dem bestimmten Artikel versehen (vgl. Engel 1999: 827). (29) Das haben wir gekauft im Geschäfte. Syntax Im Bereich der syntaktischen Konstruktionen, ähnlich wie in anderen mundartlichen Tonbandaufnahmen der gesprochenen Äußerungen, lässt sich generell die Tendenz zum Gebrauch von einfachen Satzstrukturen beobachten. Im einfachen Satz ist vor allem die Abweichung von der Zweitstellung des finiten Verbs zu beobachten. Das Finitum kann seine Position im Satz wechseln; häufig steht es - wohl unter dem Einfluss des Polnischen - an der ersten Position, z.B.: (30) Gingen wir zu Messe … (31) Hat man bloß Geweihtes gegessen. (32) Mussten wir warten, bis der erste Stern am Himmel war. (33) Trainierte ich in Döbern über vierzig Jahre. (34) Kamen die schon um vier Uhr früh … Das pronominale Subjekt kann aber auch ganz weggelassen werden, wie z.B.: (35) Versuchten da noch aus Oppeln, aus unserer Wohnung, die Gestelle, die noch von Möbeln dastanden, herauszubekommen. Das finite Verb kann im Satz ebenso weiter nach hinten rücken, z.B.: (36) Und dann meine Brüder und meine Mutter haben weiter den Kahn geführt. (37) Ich persönlich zu Hause da halt musste halt überall auch etwas anfangen. (38) Mit fünf Kindern (…) mit einem Handwagen kamen wir zu Fuß (…) nach Oppeln. Relativ häufig treten Ausklammerungen, d.h. Rechtsversetzungen von Stellungsgliedern außerhalb der Satzklammer, auf. (Dies ist jedoch weniger ein spezifisch schlesisches Phänomen, sondern hängt unmittelbar mit der informationsstrukturellen Gliederung von Äußerungen zusammen.) (39) Ich wurde schon lange erzogen, schon als Kind, zur Arbeit. (40) Meine Aufmerksamkeit möchte ich jetzt erstmal konzentrieren auf die erste Zeit meines, meiner Jugend … Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 162 (41) Ich habe die Verbindung gehabt mit meiner Schwester und mit der Schwägerin. (42) Von dort wurde ich übertragen auf ein fruheres Personenschiff. (43) Die haben von Krapitz aus eine Tour gemacht bis nach Danzig. (44) Das war in Klosterbrück der erste Sportverein also der Dorfsportverein gebildet ganz in Polen. (45) Rente bekomme ich nach meinem verstorbenen Ehemann Joseph und bin gut versichert von meiner Tochter Adelheid. (46) Na, zu jener Arbeit sind wir zu zweit gefahren auf einem Rade, denn jeder hatte/ keiner hatte gehabt nur ein Rad zur Verfügung. Bei den zusammengesetzten Sätzen überwiegen die mit der Relation der Nebenordnung. Oft werden Aussagen einfach nebeneinander gestellt; ihr Zusammenhang wird dann prosodisch hervorgehoben: (47) Wir mussten von der Fluss aus retarieren in eine kleine Bucht in der Mündung der/ der (…) Barz, und dort haben wir gelegen bis zum Frühjahr. (48) Von dort wurde ich übertragen auf ein früheres Personenschiff, und (…) da wurde ich eingesetzt im Osten. Bei mehrteiligen Verbkomplexen weicht die Reihenfolge der Stellungsglieder nicht selten von der Standardsprache ab: (49) … dort haben wir selbst müssen das Schiff ziehen, denn wir konnten nicht das Schleppgeld bezahlen. Fakultativ werden die Konjunktionen in der Hypotaxe verwendet, was in Verbindung mit Ausklammerungen den Eindruck von der freien Wortstellung des gesprochenen Deutsch in Oberschlesien verstärkt, wie z.B.: (50) … und da blieb ich dann bloß mit dem zweitältesten Bruder, der war in Brieg. (51) … wurde ich auf dem Schiffswerft, auf der Stocznia, angestellt, und zwar in der Schmiede als Zuschläger, trotzdem ich vorher Büroangestellter war, da/ trotzdem/ weil ich überhaupt die polnische Sprache beherrschte, musste ich alles annehmen. Sehr häufig im Belegmaterial ist die Neigung zur Verwendung von gesprächssteuernden Phrasen vom Typ kann man sagen, muss ich sagen, wie gesagt: (52) Meine Aufmerksamkeit möchte ich erstmals konzentrieren auf die erste Zeit meiner Jugend, kann man sagen. (53) So ungefähr, muss ich sagen, zweieinhalb Jahren. (54) Also bis 17 Jahre, wie gesagt, wohnte ich in Oppeln. Im Fluss der Rede lässt sich der Gebrauch von nicht am Ende einer Einheit beobachten, z.B.: (55) Es war Krieg und es fehlte an Personal und Leuten, nicht, und da mussten sogar die Kinder mithelfen … (56) Ja, zu Ostern, am Ostersonntag, da war zuerst Messe, nicht. (57) Dann haben sie sich mit Wasser gegossen, nicht. Am Satzende kommt auch nicht selten die Phrase nicht wahr vor und lässt eine verstärkende Funktion in der Gesprächssteuerung in Richtung der Rückversicherungssignale erkennen: (58) Ich habe auch Angst mit den Kindern gehabt, nicht wahr? (59) Da bekam sie auch keine Rente, nicht wahr? Einen hohen Gebrauchswert haben bei den Befragten gerade die Gesprächspartikeln, die die Rolle von Signalen bei der Gesprächsgliederung spielen. Sie kommen gleichzeitig als Verstärker der Aussagen vor und bewegen den Hörer zur Bestätigung. Zu solchen Gliederungssignalen gehören neben dem genannten nicht bzw. nicht wahr auch ne, ni, no, na ja, da. Dabei stehen ne, no, ni meistens am Ende der Aussage: (60) Der erste Feiertag ist so ein Familienfeiertag, ne? (61) Die Neste, die sind aus Stroh gemacht, ne? (62) Am Ostermontag wird gegossen, ne? (63) Das war damals alles Tradition hier, ni? (64) Auf jedes Feld kommen drei Kreuze, ni? 4. Polen 163 Die Verwendung von ne, ni und no ist nicht nur im polnischen Schlesischen, sondern auch in der polnischen Umgangssprache verbreitet; gestützt wird ein Transfer von ni und no dadurch, dass das Deutsche bereits über das rückversichernde ne als Gesprächspartikel verfügt. Am Anfang einer Aussage stehen die Partikeln no ja in der einleitenden Funktion im Rahmen der Gesprächssteuerung, wie z.B.: (65) No ja, ich habe eine kleine Wirtschaft gehabt. Ich habe fünf Kinder, sie sind jetzt alle verheiratet, no, und jetzt bin ich alleine. (66) No ja, man muss sagen, die Front ging schnell vorbei über Krascheow. Abbrüche, Pausen und Einschübe haben ihre kommunikative Bedeutung und verleihen den formulierten Äußerungen den Stil des freien, spontanen Sprechens, der Nähe von Sprecher und Hörer. Entlehnungen Nicht überraschend ist, dass sich zahlreiche Belege mit aus dem Polnischen übernommenenen Lexemen finden; die morphologische Integration ist meist unproblematisch: (67) Weil ich mich auch interessierte, dass hier ein Sportverein gebildet müsste, wurde ich auf dem Schiffswerft, auf der stocznia angestellt. (68) … da hatte sich jeder schon etwas mitgenommen und sagte: da werde ich mir gleich Klöße kochen oder placki machen. (69) Die W troba [poln.: Leber] war schon angegriffen. (70) Ich habe drei Wochen nur die Kroplówka [poln.: Dauertropfinfusion] gekreigt, da habe ich kein Smak [poln.: Geschmack] (71) Jeden Tag bin ich zur heiligen Messe in die Kapliczka [poln.: Kapelle] gegangen. (72) Ich habe Appetit nach Go b [poln.: Taube] bekommen. (73) Vor mir saß ein großer Glatzok [poln.: Glatzkopf] (74) Auf der Hand habe ich eine Bu a [poln.: Beule] (75) Ich kam nicht darauf, dass ich möchte die kamienie ó ciowe [poln.: Gallensteine] haben. Zusammenfassung Für die Analyse des hier präsentierten Belegmaterials aus dem Spracharchiv des Oppelner Instituts sind einige theoretische und methodische Überlegungen erforderlich. Die territorialen Subsysteme einer Sprache werden in der sprachwissenschaftlichen Literatur keinesfalls einheitlich beschrieben. 3 Zudem haben sich im Zuge einer vertieften Erforschung der gesprochenen Sprache und der Entwicklung der Soziolinguistik in den endsechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts weitere Termini herausgebildet. Das Verständnis des Begriffes „territoriale Subsysteme einer Gesamtsprache“ wurde in den der neueren Typologie der Gesamtsprache gewidmeten Auffassungen deutlich erweitert. 4 In die territorialen Subsysteme einer Gesamtsprache werden heute Dialekte, Mundarten, Sprachinseln, Ortsmundarten und regionale Subsysteme der deutschen Gesamtsprache eingeordnet (Schmidt 1968: 20). Generell weisen die Texte einen einfachen Stil auf. Man sieht, dass die Sprecher unterhalb der Möglichkeit einer ausgebauten Grammatik bleiben. Die Sätze erscheinen parataktisch gebaut. Charakteristisch ist die einfache Reihung nach dem Prinzip und dann, und dann. Die Sprache ist sehr emotional gefärbt; zu sehen ist dies an der Reihung und daran, dass kaum logische Kausalkonstruktionen benutzt werden. Mehr ausgebaute grammatische Konstruktionen sind kaum anzutreffen. Das hängt unter anderem auch mit der Bildungsschicht zusammen, aus der die Informanten in den ländlichen Gebieten zum großen Teil stammen. Insofern weisen die Texte auch zahlreiche allgemeine Züge des gesprochenen Deutsch und nicht nur spezifisch Oberschlesisches auf. Den schlesischen Charakter der Texte kann man hingegen sehr klar auf der phonologischen Ebene konstatieren; die prominentesten Merkmale sind die Vokalentrundung und die Kürzung von Langvokalen. Die Intonations- und Rhythmusabweichungen gegenüber der deutschen Standardsprache sind dagegen 3 Vgl. Schmidt 1968, Bichel 1973, Mattheier 1984. 4 Vgl. Mattheier 1984: 768-778, Hildebrandt 1984, Fleischer/ Hartung 1983: 384. Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 164 schwieriger erkennbar, vor allem wegen der schon genannten emotionalen Einfärbung der Gespräche und Erzählungen, wo fast jedes Wort einen Akzent tragen kann, je nachdem welches Wort der Sprecher stärker betonen möchte. Eine andere Gruppe von Texten zeigt eine viel stärkere regionale Bezogenheit und repräsentiert das sogenannte Wasserpolnisch. Wasserpolnisch ist hier als eine oberschlesisch-umgangssprachliche Varietät des Polnischen definiert. Sie entwickelte sich während der jahrhundertelangen Zugehörigkeit der Region zum deutschen Kulturbereich ohne jeden Einfluss der polnischen Hochsprache eigenständig und begegnet vor allem als lexikalisch „germanisiertes“ Wasserpolnisch. 5 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Generationenspezifischer Sprachgebrauch Über 42 Prozent der Informanten sprechen zu Hause die schlesische Mundartvarietät des Polnischen im Wechsel mit der deutschen Sprache; die polnische Standardsprache wird im Familienkreis kaum gesprochen. Nur ein Informant gibt an, die deutsche Sprache nicht zu verwenden. Mehr als die Hälfte betet in deutscher Sprache und gebraucht in jeder Situation die deutsche Sprache. Deutsch gesprochen wird auch bei Begegnungen in den deutschen Freundschaftskreisen und mit Besuchern aus Deutschland. In der mittleren Altersgruppe (zwischen 1940 und 1970 Geborene) lassen sich die stärksten Defizite in der Sprachkompetenz 5 In der Literatur von Zeitschriften und Zeitungen und in künstlerischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts kommt häufiger eine Sprache mit aus dem Polnischen entlehnten lexikalischen Elementen vor - das sog. Wasserpolnisch -, allerdings nicht als durchgehende Textsprache, sondern eher als eine das Lokalkolorit symbolisierende Sprachform, die humoristisch, satirisch-polemisch oder auch liebevoll erinnernd sein kann, wie z.B. bei Bienek 1983: 24ff. Zum Wasserpolnischen vgl. auch: Reiter 1960, Chmiel 1987, Olesch 1978, Reiter 1985, Matuschek 1997. des Deutschen feststellen. Die mittlere Generation spricht in der Regel kein Deutsch und beurteilt ihre deutschen Sprachkenntnisse bestenfalls als passiv. Infolge des Verbots des Deutschunterrichts in der Schule waren die Vertreter dieser Altersgruppe auf das Elternhaus angewiesen. Aus Angst vor Repressionen ist die deutsche Sprache aber in vielen Familien verschwunden. In den Schulen lernten die Kinder die polnische Standardsprache, die das höhere Prestige hatte und deren Beherrschung Voraussetzung für sozialen Aufstieg war. Erhalten hat sich die polnische Ortsmundart mit starker Beeinflussung des Deutschen in Richtung des Wasserpolnischen. Gleichzeitig blieb die schlesische Mundart diejenige Sprachform, die die Kommunikationswege zwischen den deutschsprachigen und den polnischsprachigen Oberschlesiern einleitete. Die dritte Altersgruppe umfasst die jüngste Generation der Oberschlesier. Sie verfügt innerhalb des Polnischen über bilinguale Sprachkompetenz, spricht sowohl Standadardpolnisch als auch die schlesische Mundart. Für viele ist aber das Deutsche zu einer Fremdsprache geworden. Erst die Bemühungen der deutschen Minderheit nach der Wende, Deutsch als Muttersprache in den Schulen einzuführen, hat zur Veränderung dieser Situation beigetragen. Der Prozess des Fremdsprachenerwerbs hatte oft seinen Anfang in der Familie; die Generation der Großeltern hatte ihren Enkeln Deutsch beigebracht, und dann wurde der Unterricht in der Schule fortgesetzt. Die jüngste Generation konnte, in der bilingualen Umgebung aufgewachsen, die Sprache und Kultur ihrer Vorfahren kennen lernen. Man beobachtet aber eine andere Wahrnehmung der Sprache als bei den älteren Generationen. Während bei den ältesten Vertretern der deutschen Minderheit Deutsch emotional als „Sprache des Herzens“ empfunden wird und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft mit gemeinsamer Sprache, Kultur und Tradition bedeutet, dominieren in der jüngsten Altersgruppe vielmehr praktische Kategorien: Deutsch wird im Beruf, bei Kontakten mit Freunden und Verwandten aus Deutschland und als Spra- 4. Polen 165 che der Freizeit und der Auslandsreisen gebraucht. In diesem Sinne ist Deutsch zu ihrer Zweitsprache geworden. 6.2 Die Situation nach 1989 Seit den 1990er Jahren haben sich neue Deutschkenntnisse etabliert; der Status der Beherrschung der deutschen Sprache hat sich gewandelt. Der Erwerb des Deutschen als Fremdsprache durch die schulischen und außerschulischen Bildungs- und Erziehungsangebote (z.B. der Organisationen der deutschen Minderheit) hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Insgesamt zeigt sich der Einfluss des Wirkens gut ausgebildeter Absolventen schlesischer Universitäten und Hochschulen als Lehrer in den Schulen der Region, der Einfluss deutschsprachiger Medien, die gezielte Bildungsarbeit aus Deutschland, zu der auch die Lehrerentsendung und die Kooperation der Schulen mit deutschen Partnern gehören. Auch die germanistischen Lehrstühle schlesischer Universitäten, der DAAD, Kooperationspartner aus Deutschland, Österreich und der Schweiz tragen zu dieser Explosion an kulturellem Wissen und eindrucksvoller Deutschkompetenz bei. Der Einfluss sowohl der extralinguistischen, vom Individuum nicht abhängigen Faktoren, als auch der Einfluss von Faktoren, die von der ethnischen Abstammung abhängig sind, haben zur Folge, dass sich eine deutsche, von der deutschen Minderheit gesprochene, Regionalsprache herausgebildet hat. Sie trägt einerseits Merkmale eines Randcodes und weist andererseits Merkmale einer Nationalsprache auf, die sich an den Grenzen dieser Sprache im ständigen Kontakt mit der polnischen Sprache entwickelt. 7 Spracheinstellungen Die älteste Gruppe der Befragten hält ausschließlich die deutsche Sprache für ihre Muttersprache. Diese Altersgruppe hat die deutsche Sprache im Elternhaus und in der Schule gelernt. Nach den Deutschkenntnissen befragt, beurteilen sie diese als sehr gut, dagegen werden die Kenntnisse des Polnischen als gut bzw. mittelmäßig bewertet, und zwar in Abhängigkeit von der beruflichen Ausbildung der Befragten (die meisten Informanten haben eine Grundschule oder Berufsschule absolviert). Viele äußern im Gespräch, sie sprächen einen Dialekt. Sie fühlen sich der deutschen Nationalität zugehörig, typischerweise mit einer Begründung nach folgendem Muster: „ich wohnte in Deutschland, Oberschlesien war deutsch, meine Heimat war Deutschland, ich bin als Deutscher geboren“. Dies sagt Einiges über die verwickelten Lebensschicksale vieler Oberschlesier aus. Bei der Antwort auf die Frage, mit wem sie Deutsch sprechen, überwiegen die Enkelkinder als Gesprächspartner in der deutschen Sprache. 8 Faktorenspezifik Betrachten wir die sprachlichen Verhältnisse historisch, das heißt bis zur Abstimmungszeit, also in den Jahren vor der Teilung Oberschlesiens, so lassen sich diese verallgemeinernd auf die Formel bringen, „dass die polnischen Mundarten hauptsächlich auf dem Lande und von der Arbeiterschaft des Industriegebietes gesprochen wurden. Die großen Städte waren vorwiegend deutschsprachig, die kleineren Landstädte deutsch- und polnischsprachig, wobei der Gebrauch der einen oder anderen Sprache in der Regel vom sozialen Status des Sprechers abhängig war“ (Olesch 1979: S. 15). Nach der Teilung Oberschlesiens änderten sich die Sprachverhältnisse in Ostoberschlesien, dem Teil, der dem polnischen Staat inkorporiert wurde, zugunsten des Polnischen auch in den Städten. Die Gründe dafür lagen u.a. in dem merklichen Polonisierungsdruck und in der Verfolgung der Deutschen. 6 Einen Einblick in die territoriale Verbreitung und eine entsprechende Verwendung der einzelnen Sprachen in Oberschlesien vermittelt das „Real-Handbuch des Bistums Breslau“ (1929). Die beiden Breslauer Bischöfe Georg Kardi- 6 Zu antideutschen Maßnahmen unter dem schlesischen Woiwoden Micha Gra i ski vgl. Matelski 1999: 62, 67, 81, 126. Maria Katarzyna Lasatowicz/ Tobias Weger 166 nal Kopp und Adolf Kardinal Bertram traten in einer Zeit wachsender nationaler und politischer Spannungen und der Verfolgung der für deutsche Sprache und Kultur Interessierten für die muttersprachliche Seelsorge in den Parochien ein, weshalb innerhalb der Kirche keine Bestrebungen bestanden, die statistischen Angaben über die sprachliche Zugehörigkeit der im Real-Handbuch verzeichneten Orte zu manipulieren. Aus diesem Zeitdokument geht hervor, dass es in Oberschlesien vor allem zweisprachige Ortschaften gab, wobei in manchen vorwiegend die deutsche Sprache gebraucht wurde, in anderen die oberschlesische polnische Mundart. Neben drei als polnischsprachig verzeichneten Dörfern (Chrumczütz, Groß Schimnitz, Tarnau) gab es in Oberschlesien eine Reihe rein deutschsprachiger Ortschaften. Abgesehen von der mittelalterlichen Sprachinsel Schönwald in der Nähe von Gleiwitz, gehörten dazu mehrere Orte südlich von Zülz und Oberglogau wie Dittmerau, Kasimir, Schönau, Gläsen, Deutsch Rasselwitz, Dittesdorf und Leuber. Von da aus in Richtung Norden über Neustadt, Kohlsdorf, Wiersbel und Tillowitz bis nach Falkenberg verlief die Grenze zwischen den westlich gelegenen, einsprachigen deutschen Ortschaften und den zweisprachigen östlich davon. Wenn ein Ort als deutschsprachig bezeichnet wird, kann man davon ausgehen, dass die Menschen, die ihn bewohnten, zum größten Teil monolingual Deutschsprachige gewesen sind, ihre Muttersprache demnach Deutsch war. Zur Stärkung des Deutschen in Oberschlesien kam es bei Kriegsbeginn durch die Abwanderung der polnischen und die Zuwanderung der deutschen Bevölkerung, darunter unabweisbar nationalsozialistisch eingestelltes Personal wie Verwaltungskräfte, Polizeibeamte und Industrieleiter, die bis 1944 anhielt. Unter dem Vorzeichen einer nach 1945 verordneten kulturellen Selbstaufgabe und durch den jahrelangen Gebrauch einer anfänglich fremden Sprache haben viele Deutsche ihre ehemalige Kompetenz in der Muttersprache verloren, so dass sie sich besser in der Zweitsprache ausdrücken können, die damit zur dominanten Sprache wurde. Dies ist die Situation vor allem jener Menschen, die in den dreißiger Jahren und Anfang der vierziger Jahre geboren wurden, Deutsch zwar noch als Muttersprache erworben haben, nach dem Krieg jedoch gezwungen wurden, diese Kompetenz zu verbergen, was nach mehreren Jahrzehnten dazu führte, dass sie sich heute besser in der polnischen Sprache bzw. dem polnischen Dialekt ausdrücken können als in ihrer Muttersprache Deutsch. Bei der heutigen mittleren Generation, die in die unmittelbare Nachkriegszeit hineingeboren wurde, lassen sich nur wenige Gruppen und Individuen finden, von denen sich sagen ließe, ihre Muttersprache sei Deutsch. Auch bei denen, die ungeachtet eines ausdrücklichen „Deutsch-Verbots“ und des „Zwangsnamen- Dekrets“ (vgl. Rogall 2001: 242) in der deutschen Sprache primär sozialisiert wurden, lässt sich ein deutlicher Verlust an Deutschkompetenz konstatieren. Nach der 1989 einsetzenden Öffnung auf die Kulturalität und auf gegenwärtige wirtschaftliche Interessenlagen dieser Region hin ist zu beobachten, dass immer häufiger Kinder in der deutschen Sprache erzogen werden. Oft setzt in zeitlicher Reihenfolge nach einer kurzen Phase des Monolingualismus der Bilingualismus ein. So verwirklicht sich eine Situation, die es schon in früherer Zeit gemeinsamer Geschichte gab, das Polnische gewinnt mit der Zeit die Oberhand, und das Deutsche wird zur Zweitsprache (Pelka 2004). Die Tendenz zur individuellen Mehrsprachigkeit wird weiterhin gesellschaftlich determiniert. Auch in Schlesien lässt sich eine neue große Entwicklungslinie im Spracherwerb und eine neue, noch kaum reflektierte Mehrsprachigkeitskonstellation nicht übersehen. Gegenwärtig kann man davon sprechen, dass sich beim Zweitsprachenerwerb in der Konkurrenz von Englisch und Deutsch auch in Schlesien die spezifische Wahlposition Polens widerspiegelt, nämlich sich einerseits in Europa zu platzieren, wofür Deutsch das geeignete Mittel ist, und sich andererseits in der Welt zu platzieren, wofür Englisch unabdingbar ist. Diese beiden Varianten sind für eine Situierung Polens in Europa und in der Welt gleichermaßen wichtig; anstrebenswert 4. Polen 167 ist daher sicher eine doppelte Mehrsprachigkeit. Das Erfordernis internationaler Zusammenarbeit und die Anforderungen an die sie vorbereitende sprachliche und interkulturelle Bildung sind längst in das Bewusstsein der akademischen Welt eingedrungen und stellen dort eine Fülle neuer Aufgaben dar. Seit nunmehr fünfzehn Jahren kann die deutsche Minderheit Instrumente lokaler Selbstverwaltung nutzen und eine mediale Kommunikationsstruktur aufbauen. Bereits die am 14. November 1989 in Warschau unterzeichnete „Gemeinsame Erklärung“ enthielt unter ihren 78 Punkten die Herstellung und Verbreitung deutscher Presseerzeugnisse in Polen (Punkt 49) sowie die Gründung von Vereinen zur Pflege der deutschen Sprache, Kultur und Tradition (Punkt 50). Dies alles fand in einer Reihe von Gesetzgebungen der polnischen Regierung Widerhall. An die Stelle manchmal gedankenloser, manchmal machtdemonstrativ vollzogener Assimilationspolitik trat in Polen die Anerkennung der deutschen Minderheit und damit implizit auch die Anerkennung und Wertschätzung sprachlicher und kultureller Heterogenität im Nationalstaat. Diese Anerkennung vermittelt Schlesien heute eine polyphone Struktur und setzt die erklingenden Sprachen und Sprachvarietäten in Beziehung zum europäischen Gedanken einer Vielfalt in der Einheit. 9 Literatur Aubin, Hermann/ Petry, Ludwig/ Schlenger, Herbert (1961): Geschichte Schlesiens. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526. Stuttgart: Brentano. 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Tschechien 5 Pavla Tišerová Inhalt 1 Geographie Tschechiens......................................................................................................... 173 2 Statistik und Demographie ..................................................................................................... 175 2.1 Entwicklung der Bevölkerungszahlen der deutschen Minderheit ............................... 177 2.2 Räumliche Ausbreitung der Deutschen .......................................................................... 178 3 Geschichte ................................................................................................................................ 179 3.1 Kurzer Abriss der Geschichte vor 1918.......................................................................... 179 3.2 Geschichte ab 1918 ............................................................................................................ 182 3.3 Zur Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen ............................................ 187 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung .................................................................... 189 4.1 Wirtschaftliche Entwicklung............................................................................................. 189 4.2 Politik ................................................................................................................................... 190 4.3 Kulturelle Verbände, Institutionen, Medien der deutschen Minderheit ..................... 191 4.3.1 Verbände der deutschen Minderheit..................................................................... 191 4.3.2 Kulturelle Institutionen .......................................................................................... 193 4.3.3 Medien ...................................................................................................................... 194 4.4 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen ......................... 195 5 Soziolinguistische Situation .................................................................................................... 199 5.1 Kontaktsprachen ................................................................................................................ 199 5.1.1 Kontaktsprachen des Deutschen .......................................................................... 199 5.1.2 Kontaktsprachen des Tschechischen.................................................................... 200 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ................................................................. 201 5.2.1 Regionaler Standard ................................................................................................ 201 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher ............................................. 203 5.2.3 Deutsche Dialekte ................................................................................................... 207 5.2.4 Transfererscheinungen ........................................................................................... 210 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) ......................... 214 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung ......................................................... 215 6 Sprachgebrauch und -kompetenz .......................................................................................... 216 6.1 Allgemeines ......................................................................................................................... 216 6.2 Einflussfaktoren auf die Dialektkompetenz ................................................................... 217 6.3 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten ....... 218 6.4 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen .............. 220 6.4.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte.................................................. 221 6.4.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte ............................................... 223 6.4.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch................ 224 6.5 Kommunikationssituationen des Deutschen.................................................................. 224 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 225 7.1 Affektive Bewertung .......................................................................................................... 225 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation ............................................................................................. 228 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal ................... 229 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 230 8.1 Geographische Faktoren ................................................................................................... 230 8.2 Historische und demographische Faktoren.................................................................... 230 8.3 Kulturelle Faktoren ............................................................................................................ 230 8.4 Soziolinguistische Situation............................................................................................... 230 9 Literatur .................................................................................................................................... 231 10 Anhang: Tabellen..................................................................................................................... 241 1 Geographie Tschechiens Die Tschechische Republik liegt in Mitteleuropa zwischen 48°34' und 51°03' nördlicher Breite sowie 12°05' und 18°51' östlicher Länge. Die Landesfläche beträgt 78.866 km², davon sind 33 Prozent Wald. Die Ausdehnung von West nach Ost beträgt 450 km und von Nord nach Süd 270 km. Die Tschechische Republik ist ein Binnenstaat. Die Landesgrenzen sind 1.881 km lang; davon entfallen auf die Grenze zu Österreich im Süden 362 km, zu Deutschland im Westen und Norden 646 km, zu Polen im Nordosten 658 km und zur Slowakei im Osten 215 km. Etwa ein Achtel der 10,3 Millionen Einwohner des Landes lebt in der Hauptstadt Prag. Administrativ besteht Tschechien seit der letzten Gebietsreform im Jahre 2000 aus 14 Regionen (kraje 1 ). In Böhmen sind das die Regionen Karlovy Vary [Karlsbad], Ústí nad Labem [Aussig an der Elbe], Liberec [Reichenberg], Plze [Pilsen], Mittelböhmen, Prag, Hradec Králové [Königingrätz], Südböhmen, Vyso ina und Pardubice [Pardubitz], in Mähren Olomouc [Olmütz], die Mährisch-Schlesische Region, Südmähren und Zlín. Die Bezirke werden weiter in insgesamt 77 Landkreise unterteilt. Böhmen [ echy] im Westen, Mähren [Morava] im Osten sowie Schlesien [Slezsko] im Norden sind die historisch-rechtlichen Landesteile der Tschechischen Republik. Obwohl diese Teile keine politisch-verwaltungsmäßigen Einheiten darstellen, haben sie so viele spezifische kulturelle Wesenszüge (einschließlich der sprachlichen Spezifika), dass sie als gewissermaßen natürliche Entitäten wahrgenommen werden. Dies wird auch durch die geographische Gliederung dieser Teile begünstigt: Während das Territorium Böhmens von allen Seiten von Gebirgen umgeben ist, stellt Mähren mit seinen Tiefebenen ein in Richtung Österreich und zum slowakischen Donaugebiet offenes Territorium dar (Nekvapil 1997: 1641). Geologisch gliedert sich Tschechien in zwei große Einheiten. Der Westen des Landes ge- 1 Die Übersetzung der Begriffe okres und kraj ist nicht einheitlich. Kraj wird überwiegend mit ‘Region’ oder ‘Bezirk’, okres mit ‘Kreis’ übersetzt. hört der Böhmischen Masse [ eský masív] an und ist damit Teil des sog. Variskischen Faltenbogens, der sich von Cornwall in England über das Zentralmassiv und die Vogesen in Frankreich bis nach Böhmen erstreckt. In Tschechien zählen dazu der an der Grenze zu Bayern gelegene Böhmerwald [Šumava] und der Oberpfälzer Wald [ eský les] sowie an der Grenze zu Sachsen das Erzgebirge [Krušné hory] und das Lausitzer Bergland [Lužické hory]. Hier endet die Grenze zum deutschsprachigen Raum. Weiter östlich folgen das Isergebirge [Jizerské hory], das Riesengebirge [Krkonoše], das Adlergebirge [Orlické hory], das Altvatergebirge [Prad d] und Gesenke [Jeseníky]. Auch die Böhmisch-Mährische Höhe [ eskomoravská vrchovina] im Südosten, über die die Grenze zwischen Böhmen und Mähren verläuft, ist Teil der Böhmischen Masse. Östlich der Linie Znojmo [Znaim] - Brno [Brünn] - Ostrava [Mährisch Ostrau], d.h. in Mähren, beginnt die geologische Einheit der Westkarpaten. Die Westkarpaten mit den Beskiden [Beskydy], dem Javorníkgebirge [Javorník], den Weißen [Bílé Karpaty] und den südlichen Kleinen Karpaten [Malé Karpaty] bilden die Grenze zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakei. Von den Grenzgebirgen abgesehen, haben die Landschaften Böhmens, wie z.B. in der Böhmischen Tafel [ eská tabule] oder der Böhmisch-Mährischen Höhe [ eskomoravská vrchovina], eher mäßig-hügeligen Charakter. Die Höhe über dem Meeresspiegel reicht hier von etwa 300 bis über 900 m über NN. Der höchste Berg Tschechiens ist mit 1.603 m die Schneekoppe [Sn žka] im Riesengebirge, der zweithöchste ist der Prad d [Altvater] im Altvatergebirge mit 1.492 m, der dritthöchste ist der Plechý [Plöckenstein] (1.378 m) im Böhmerwald. Mit einer Länge von 440 km ist die Moldau [Vltava] der längste Fluss des Landes. Sie entspringt im Böhmerwald, fließt zunächst nach Süden und macht nach dem Lipno-Stausee einen Bogen nach Norden. Auf ihrem Weg Richtung Prag ist die Moldau mehrfach angestaut. Sie mündet bei M lník, nördlich von Prag, in die Elbe [Labe], wobei dies eigentlich nicht ganz treffend ist: Die Moldau ist am Pavla Tišerová 174 Zusammenfluss sowohl länger als auch wasserreicher als die Elbe, die dennoch namengebend für den weiteren Flusslauf wurde. Die Elbe entspringt im Riesengebirge, ist bis zu ihrer Mündung in die Nordsee 1.165 km lang und legt bis zur Grenze bei H ensko (gleichzeitig der niedrigste Punkt des Landes) 359 km zurück. Entlang der böhmischen und mährischen Grenzgebirge verlaufen zum Teil europäische Hauptwasserscheiden. Bis auf einige sehr wenige Ausnahmen entwässern alle Flüsse Böhmens, darunter z.B. die Eger [Oh e], die Beraun [Berounka], die Wotau [Otava], die Luschnitz [Lužnice], die Sazawa [Sázava], die Iser [Jizera] u.a., über die Elbe in die Nordsee. Nur ein sehr kleiner Teil Nordostböhmens sowie Nordmähren gehören zum Einzugsgebiet der Oder [Odra] und entwässern dementsprechend in die Ostsee. Die nach Süden fließenden mährischen Flüsse erreichen über die March [Morava] und in Südmähren die Thaya [Dyje] die Donau [Dunaj] und enden im Schwarzen Meer. Entlang der Moldau gibt es eine Reihe von Stauseen (Lipno, Orlík, Slapy), die sowohl dem Hochwasserschutz als auch der Energiegewinnung sowie der Naherholung dienen. Auch andere Flüsse wie z.B. die Eger, die Elbe, die Želivka, die Thaya, die Iglau und die Moravice wurden aufgestaut. Insbesondere in Ortslagen wurden Flüsse begradigt und in Gebieten mit großflächiger, oberirdischer Rohstoffgewinnung sogar verlegt. Wie problematisch Eingriffe des Menschen in den natürlichen Verlauf der Fließgewässer sind, zeigte sich bei den verheerenden Hochwassern der Jahre 1997 (im Einzugsgebiet der March) und 2002 (in den Einzugsgebieten von Moldau und Elbe). Ebenso wie die Stauseen gehören Teiche zu den künstlichen Standgewässern. Während die Staustufen überwiegend im 20. Jahrhundert angelegt wurden, stammen die Teiche im südböhmischen Teichgebiet um die Kleinstadt T ebo aus dem Spätmittelalter. Die Teiche wurden und werden immer noch v.a. für die Karpfenzucht genutzt. Etwa 10 Prozent der Teiche stehen aber auch als Brut- und Rastplatz unter Naturschutz. Mit 720 ha Teichfläche, d.h. etwa einem Zehntel der gesamten Teichfläche um T ebo , ist der Rožmberk [Rosenberg] der größte Teich Tschechiens. Natürlich entstandene Standgewässer, d.h. Seen, gibt es in Tschechien nur sehr wenige. Sie sind entweder Gletscherseen, wie der Schwarze See [ erné jezero] und der Teufelssee [ ertovo jezero] im Böhmerwald, Karstseen (in der Macocha im Mährischen Karst) oder Moorseen (wie im Böhmerwald oder dem Isergebirge). Klimatisch liegt die Tschechische Republik im Übergangsbereich zwischen ozeanischem und kontinentalem Klima. Der kontinentale Charakter des Klimas, d.h. abnehmende Niederschlagsmengen und größere Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter, nimmt von West nach Ost zu. Entscheidenden Einfluss auf das Klima Tschechiens hat jedoch das Relief. Aufgrund der in Mitteleuropa vorherrschenden nordwestlichen Windrichtung entsteht insbesondere südlich des Erzgebirges, d.h. im Windschatten des Gebirges, ein ausgesprochen trockenes Gebiet mit durchschnittlichen Jahresniederschlägen unter 500 mm. Die meisten Niederschläge (> 1.200 mm) fallen in den Gipfellagen des Böhmerwaldes, des Riesengebirges, des Adlergebirges und des Altvaters. Die Gebirge sind gleichzeitig auch die Regionen Tschechiens mit den niedrigsten Jahresdurchschnittstemperaturen (um 0 °C). Besonders mild mit Durchschnitten von 10 °C ist das Elbgebiet [Polabská nížina] in Mittelböhmen. Die March- Niederung [Moravská nížina] in Südmähren wird wegen der fehlenden Barriere eines Gebirges bereits vom pannonischen Klima, d.h. dem Klima Ungarns, beeinflusst. Auch liegt die durchschnittliche Jahrestemperatur bei 10 °C, und die Niederschläge fallen gering aus. In den beiden letztgenannten Regionen herrschen bei gleichzeitig vorhandenen guten bis sehr guten Böden (Schwarzerde) optimale Bedingungen für die Landwirtschaft. Während in Mittelböhmen neben Weizen und Zuckerrüben auch der für die tschechische Bierwirtschaft wichtige Hopfen angebaut wird, ist Südmähren das Weinanbaugebiet sowie der Obstgarten des Landes. 5. Tschechien 175 An natürlichen Ressourcen verfügt das Land über größere Vorkommen Braunkohle (im Nordböhmischen Becken zwischen Sokolov und Ústí nad Labem) und Steinkohle (Reviere Ostrava, Kladno und Plze ). In Südmähren wird Erdöl gefördert. In den vergangenen Jahrhunderten wurden in den Gebirgen (Böhmerwald, Erzgebirge, Riesengebirge) verschiedene Erze (Eisen, Zinn, Zink, Uran) gefunden und abgebaut. Über das Land verteilt finden sich unzählige Ton-, Sand- und Kiesgruben sowie Steinbrüche zur Gewinnung von Baumaterial. Der Abbau all dieser Rohstoffe hat in Verbindung mit den Emissionen der verarbeitenden Industrien v.a. in Gebieten mit ungünstigen topographischen und damit klimatischen Verhältnissen (schlechte „Entlüftung“) zu massiven Umweltschäden geführt. Davon besonders betroffen waren in den 1980er Jahren das Nordböhmische Becken und das Erzgebirge, aber auch die Wälder im Iser- und Riesengebirge blieben vom Waldsterben nicht verschont. Heute haben sich die Wälder der genannten Gebirge zwar weitestgehend erholt, doch ist die Umweltsituation Nord- und Ostböhmens, aber auch in Prag, Kladno, Plze , im Gebiet Pardubice - Hradec Králové, in Brno sowie nicht zuletzt in und um Ostrava ist noch immer als schlecht einzustufen. Schuld daran haben trotz verbesserter Technik (Einbau von Filtern) immer noch die Emissionen der Industrie, die sich an den genannten Orten konzentrieren; sowie der motorisierte Individualverkehr, der seit 1990 erheblich zugenommen hat. 2 Statistik und Demographie Tschechien hat 10.230.060 Millionen Einwohner. Die Einwohnerzahl entspricht einer Bevölkerungsdichte von 130 Einwohnern pro Quadratkilometer. Tabelle 1 zeigt, zu welchen Nationalitäten sich die Einwohner nach der letzten Volkszählung vom 1. März 2001 bekannten. Die Nationalität wurde dabei nicht auf Grundlage der Muttersprache festgestellt, sondern auf deklarative Weise; man kann also nicht automatisch voraussetzen, dass ein Bürger, der diese oder jene Nationalität angab, zugleich auch Sprecher der entsprechenden Sprache ist (und umgekehrt). Die Klassifizierung der Nationalitäten reflektiert eine bestimmte Bewegung im Nationalitätenbewusstsein der Bevölkerung sowie ein sich entwickelndes Herangehen an die Nationalitätenfragen seitens der Behörden. So wurden z.B. seit 1991 anstelle der einheitlichen Kategorie tschechische Nationalität drei Kategorien eingeführt: tschechische, mährische und schlesische Nationalität (diese und die folgenden statistischen Angaben stammen, soweit nicht anders vermerkt, vom tschechischen Statistikamt; vgl. http: / / www.czso.cz). Bei den früheren tschechoslowakischen Volkszählungen 2 gilt es zu beachten, dass bis zum Zweiten Weltkrieg die Nationalität nach der Muttersprache eingetragen wurde, später jedoch das subjektive Bekenntnis der ethnischen Zugehörigkeit als Hauptkriterium herangezogen wurde (Kloss 1982: 61f.). Die einzige Ausnahme ist der Zensus von 1970, dem Muttersprache bzw. Umgangssprache zugrunde lag (Kloss/ McConnell 1984: 167ff., Herget 1979a: 11). Bis 1918 lebten auf dem Territorium der Tschechoslowakei keine deutschen, sondern nur österreichische Staatsangehörige (Herde/ Stolze 1987: 24). Diese wurden später als Deutsche bezeichnet. Auch der Begriff Sudetendeutsche 3 entstand erst vor dem Ersten Weltkrieg. So wurden die deutschen Muttersprachler österreichischer Staatsangehörigkeit in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien bezeichnet. Die Statis- 2 Die folgenden Ausführungen über die historische Statistik und Demographie der deutschen Volksgruppe in Tschechien stützen sich auf einen Text von Volkmar Engerer, den er als Entwurf zum geplanten Handbuchartikel im Jahre 1997 verfasste. 3 Die Bezeichnung Sudetendeutsche für die deutschen Volksgruppen leitet sich direkt von ihrer geographischen Lage ab. So spricht man in Bezug auf das Sudetengebirge (wie auch Karpatengebirge) von den Sudetenbzw. Karpatendeutschen. Unter ersteren fasst man die Deutschen aus Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien zusammen und stellt sie den Karpatendeutschen gegenüber, die in der Slowakei und Karpato-Ukraine beheimatet sind bzw. waren (Aschenbrenner 1988: 14). Der Gebirgszug der Sudeten erstreckt sich im nördlichen Mähren und Schlesien, umfasst das Altvater- und Adlergebirge, das sich im Riesengebirge nach Nordwesten fortsetzt. Pavla Tišerová 176 tik der Deutschstämmigen in der ehemaligen Tschechoslowakei unterscheidet nicht zwischen den Sudetenbzw. Karpatendeutschen und bezeichnet sie alle als Deutsche oder als Sudetendeutsche (Bohmann 1981: 133). Die nationale Zusammensetzung auf dem Gebiet des heutigen Tschechien wurde von mehreren Umwälzungen geprägt. Seit dem Spätmittelalter wurde das historische Ethnikum mit slawischen, keltischen und germanischen Wurzeln von drei großen Siedlungswellen aus deutschsprachigen Gebieten erfasst. Die erste Welle wurde von den P emysliden zum Zwecke der Besiedlung und Erschließung der Grenzgebiete ausgelöst. Die zweite Siedlungswelle erfolgte im 16. Jahrhundert im Zuge der Reformation, die dritte setzte im 17. Jahrhundert nach der Verwüstung des Landes durch den Dreißigjährigen Krieg ein, nachdem die Bevölkerungszahl um ein Drittel gesunken war. Deutsche Gemeinden verbreiteten sich über mehr als ein Drittel des Gesamtterritoriums. Bis 1848 war das Verhältnis der tschechisch- und deutschsprachigen Bevölkerung relativ stabil, da die offizielle Politik die Idee eines gemeinsamen Landes Böhmen mit zwei Landessprachen verfolgte. Eine erste große Veränderung im Verhältnis der Nationalitäten im 20. Jahrhundert verzeichneten die Volkszählungen in den Jahren 1910 und 1921 als Folge der neuen staatsrechtlichen Ordnung sowie der unterschiedlichen Erhebungsmethoden in Böhmen und Österreich. Damals stieg die statistische Zahl der tschechischen Bevölkerung um mehr als 6,2 Prozent an, während die Zahl der deutschen Bevölkerung um fast 14 Prozent sank (S ítání lidu v R S ze dne 1.12.1930). Zwischen 1921 und 1930 entwickelten sich die Bevölkerungszahlen wie folgt: Der Zuwachs der tschechischen Bevölkerung betrug 8,6 Prozent, bei der deutschen Bevölkerung 3,2 Prozent. Die Deutschstämmigen lebten auf einem Gebiet von 26.559 km² in 3.579 Gemeinden; davon waren 3.120 Gemeinden mit 80 bis 100 % deutscher Bevölkerung (Demografická p íru ka 1982: 46-51). Die Zerschlagung der Ersten Republik im Jahre 1938 führte zu gewaltigen Veränderungen in der natürlichen demographischen Entwicklung sowie zu großen Migrationen: Auf dem Gebiet des Protektorats mit 48.914 km² lebten 7.395.547 Einwohner, im Sudetenland mit 28.942 km² 3.405.168 Einwohner, im „Reichsgau Sudetenland“ mit 22.608 km² 2.943.187 Einwohner; davon waren 174.150 Tschechen (Chocholatý 1998). Einen weiteren dramatischen Eingriff in die Bevölkerungsstruktur brachte die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie verlief in drei Etappen: Die erste fällt in die letzten Kriegsmonate als Flucht vor den heranrückenden Alliierten ; die zweite, sogenannte wilde Vertreibung verlief vom Mai bis August 1945 unter Regie der staatlichen Macht und als Folge antideutscher Stimmungen, begleitet von Exzessen ; die dritte erfolgte von Dezember 1945 bis November 1946 als organisierte Zwangsaussiedlung. Die Angaben über Zahlen der vertriebenen bzw. ausgesiedelten Deutschen sind je nach Quelle verschieden (Stan k 1991). Nationalität Anzahl Tschechen 9.249.777 (90,42 %), Mährer 380.474 (3,72 %) Slowaken 193.190 (1,89 %) Polen 51.968 (0,51 %) Deutsche 39.106 (0,38 %), Schlesier 10.878 (0,11 %), Roma 11.746 (0,11 %), Ukrainer 22.112 (0,22 %) Vietnamesen 17.462 (0,17 %) Sonstige 25.3347 (2,48 %) Tabelle 1: Zugehörigkeit zu Nationalitäten 2001 Die Nationalitätenentwicklung der heutigen Tschechischen Republik weist erhebliche Unterschiede zu deren Vorgängerstaaten auf. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hörte die frühere Tschechoslowakische Republik auf, ein Vielvölkerstaat zu sein. Der Anteil an Minderheiten, der noch im Jahr 1930 31,6 Prozent betrug, erreichte nach der Volkszählung des Jahres 1950 nur noch 6,2 Prozent (Novotný 2002). Diejenigen, die zurückblieben, waren zu etwa 50 Prozent Partner aus 5. Tschechien 177 gemischtsprachigen Familien, 35 Prozent Fachkräfte und 15 Prozent Antifaschisten (Kuhn 1961: 51). Die heutige Tschechische Republik ist ein national weitgehend homogener Staat. Die Angehörigen der tschechischen, mährischen und schlesischen Nationalität bildeten im Jahre 2001 94,2 Prozent der Bevölkerung. 2.1 Entwicklung der Bevölkerungszahlen der deutschen Minderheit Die stärkste Vertretung der Deutschen auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik ist für das Jahr 1910 mit 3.492.362 belegt. Nach der Gründung der Ersten Republik waren die Deutschen mit 23,4 Prozent (1921) und einer Gesamtzahl von 3,35 Millionen nicht nur die größte Minderheit im neuen tschechoslowakischen Staat, sondern in ganz Europa (Komjathy/ Stockwell 1980: 17, Bohmann 1981: 133f.). Bis Kriegsende 1945 waren die Sudetenländer von keinen größeren demographischen Veränderungen betroffen, so dass diese Zahl relativ konstant blieb: Mitte 1945 lebten auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik 2.809.000 deutsche Einwohner (26,3 Prozent der Bevölkerung). Entscheidend für die weitere Entwicklung der Bevölkerungszahl waren jedoch die unmittelbaren, aber auch späteren Nachkriegsereignisse. Bereits Mitte 1947 betrug die Zahl der Deutschen nur noch 180.000 (2,1 Prozent der Bevölkerung). Die 1950 einsetzende tschechische Assimilierungspolitik brachte eine ständige Abnahme der deutschen Restbevölkerung in Gang, wie Tabelle 2 zeigt. Die Deutschen, die 1953 zwangsweise per Gesetzesbeschluss die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielten, behielten nach deutschem Recht weiterhin ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit (Bricke 1994: 56). Auch wenn die Assimilationsrate der deutschen Volksgruppe im Vergleich zu den anderen Nationalitäten in Tschechien niedriger ist, führte die historische Entwicklung zu ihrem klaren Rückgang. Durch die konsequente Isolierung des Landes von Westeuropa fehlte den Deutschen im Lande eine Alternative zur Assimilierung (Müller 1992: 99, Ku era 1965: 99). Der Höhepunkt des Bevölkerungsrückgangs unter den Deutschen wurde durch die Ausreisewelle zwischen 1967 und 1969 erreicht. Ab 1972 wurde die Ausreise seitens der Verwaltung erschwert, was sich in rückläufigen Zahlen widerspiegelt (Kuss 1989: 227). Die offiziellen Volkszählungen 1978 und 1980 verzeichnen 76.000 bzw. 62.000 Deutsche und damit erstmals ein Abrutschen unter die Ein-Prozent-Marke. Die letzte Volkszählung im Jahre 2001 bestätigte die demographische Entwicklung der deutschen Minderheit in Tschechien mit der Zahl 39.106 (0,38 %). Somit ist die Anzahl der Deutschen nach der Wende um ca. 1.000 pro Jahr gesunken (vgl. Abb. 1). 4 Die Hauptgründe für die rapide quantitative Abnahme der deutschen Bevölkerung in der Vergangenheit sind Assimilation, diskriminierende Minderheitenpolitik, zerstreute Ethnie, Auswanderung sowie ungünstige Altersstruktur. 5 Charakteristisch für die deutsche Bevölkerung ist eine sehr geringe Kinderzahl und ein hohes Maß an ökonomischer Einbindung, hauptsächlich in Arbeiterberufen. Personen weiblichen Geschlechts sind in den letzten Jahrzehnten prozentual in der Überzahl, und zwar in viel höherem Maße als bei den anderen Bevölkerungsteilen (Nekvapil 1997: 1644). Die hohe natürliche Sterberate spiegelt die Tatsache wider, dass die meisten Deutschstämmigen der ältesten Generation angehö- Jahr Deutsche 1950 159.938 1961 134.143 1970 80.903 1980 62.000 Tabelle 2: Abnahme der deutschen Bevölkerung 4 Vgl. auch Grünwald 1983: 18, Ritter 1988: 73, Kloss/ McConnell 1984: 170, Kuhn 1988: 119, Nekvapil 1997: 1644, Šatava 1987: Bd. 1, 21-22. 5 Das Durchschnittsalter der Mitglieder des Kulturverbands betrug zum 1.1.2002 69 Jahre, in der Landesversammlung 62 Jahre (Novotný 2002). Pavla Tišerová 178 Bevölkerungsentwicklung der deutschen Volksgruppe 1910-2001 0 500.000 1.000.000 1.500.000 2.000.000 2.500.000 3.000.000 3.500.000 4.000.000 ( 1 9 1 0 ) ( 1 9 2 1 ) ( 1 9 3 0 ) ( 1 9 4 5 ) ( 1 9 4 7 ) ( 1 9 5 0 ) ( 1 9 6 1 ) ( 1 9 7 0 ) ( 1 9 7 8 ) ( 1 9 8 0 ) ( 1 9 9 1 ) ( 2 0 0 1 ) Abb. 1: Deutsche Volksgruppe - Bevölkerungsentwicklung 1910-2001 in absoluten Zahlen ren. In keinem Jahr nach 1945 war die Zahl der Geborenen höher als die Zahl der Verstorbenen. Darüber hinaus sind Scheidungen in deutschen Ehen überdurchschnittlich häufig (Kuhn 1988: 120; Grulich 1984: 11). 2.2 Räumliche Ausbreitung der Deutschen Vor dem Zweiten Weltkrieg bewohnten die Sudetendeutschen an den Randgebirgen des böhmischen und des mährischen Beckens ein relativ geschlossenes, direkt an den deutschen Sprachraum angrenzendes Gebiet. Daran änderte sich auch nach 1945 nichts, so dass sich die heutige deutsche Volksgruppe 6 im Wesentlichen auf die deutschen Kontaktbereiche Böhmens und Mährens und insbesondere den sudetendeutschen Raum konzentriert. Die deut- 6 Den Sudetendeutschen kann man trotz ihrer Streulage in Tschechien nicht ihren Volksgruppencharakter absprechen, auch wenn der Prozentanteil der Deutschen in den einzelnen Siedlungen gering ist. Nach der Definition der Föderalistischen Union der Europäischen Volksgruppen (FUEV) heißt es: „Eine Volksgruppe ist eine volkliche Gemeinschaft, die durch die Merkmale wie eigene Sprache, Kultur oder Tradition gekennzeichnet ist. Sie bildet in ihrer Heimat keinen eigenen Staat oder ist außerhalb des Staates beheimatet.“ Demnach sind die Sudetendeutschen als Volksgruppe im Sinne des Völkerrechts anzusehen (Grulich 1984: 13). schen Sprachinseln dagegen sind mittlerweile bis auf wenige Ausnahmen verschwunden (Grulich 1984: 4, Bezd ková 1988: 115). Außerdem gab es v.a. in Mähren vor 1918 noch zahlreiche deutsche Enklaven, deren Bewohner die Lokaldialekte ihrer eingewanderten Vorfahren (Mitteldeutsch, Oberpfälzisch und Fränkisch) konserviert hatten. Die wichtigsten Gebiete in Mähren waren die Iglauer Sprachinsel und der Schönhengstau an der Grenze zu Böhmen mit den Hauptorten Landškroun [Landskron] und Svitavy [Zwittau] sowie das Kuhländchen um Opava [Troppau] und Ostrava [Ostrau]. Um 1955 gab es im Erzgebirge und Falkenauer Raum noch Orte mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung, heute existieren keine solchen Gemeinden mehr. Die meisten Deutschen leben in den westlichen, nordwestlichen und nördlichen Grenzgebieten Böhmens (Grulich 1984: 8, Bezd ková 1988: 128, Šatava 1987: Bd. 1, 21, Herget 1979a: 20, Bohmann 1981: 135). Größere Konzentrationen sind noch zu finden im nördlichen Egerland, dort vor allem um Sokolov im Falkenauer Kohlerevier mit dem höchsten Anteil von Deutschen, weiter im Großraum Karlovy Vary [Karlsbad], in den nordwestböhmischen Kohlerevieren, entlang der Linie Chomutov [Komotau] - Most [Brüx] - Teplice [Teplitz-Schönau] - Ústí nad Labem [Aussig an der Elbe], im Dreieck 5. Tschechien 179 Frýdland [Friedland] - Liberec [Reichenberg] - Jablonec nad Nisou [Gablonz an der Neiße], im Gebiet um Trutnov [Trautenau] sowie in kleineren Siedlungen in Mähren: Šumperk [Mährisch Schönberg] und Opava [Troppau], wobei diese sowohl in Binnenals auch in Grenzlage vom deutschen Sprachraum abgeschnitten sind (Grulich 1984: 8). Die höchsten Konzentrationen der Deutschstämmigen in der Tschechischen Republik ergab auch die letzte Volkszählung vor allem in den Grenzgebieten. Die Fünf-Prozent-Marke wird jedoch nirgendwo überschritten. So wurden in einigen Landkreisen Konzentrationen zwischen 1 Prozent und 5 Prozent und in anderen Konzentrationen zwischen 0,5 Prozent und 1 Prozent gezählt (vgl. Tabellen 5 und 6 auf Seite 242 im Anhang). In den restlichen Landkreisen liegen die Konzentrationen unterhalb der 0,5 Prozent-Marke. Für jeden Landkreis wurden jedoch mindestens 0,03 Prozent Deutsche gezählt. Die Grenzgebiete weisen im Vergleich zu den Bevölkerungszahlen der Vorkriegszeit insgesamt weniger Menschen auf. Die Besiedlung ist dort aufgrund einer starken Konzentration der Bevölkerung in größeren Ortschaften und in den Industrieregionen sowie durch den Untergang vieler kleiner Siedlungen und Einzelhöfe ungleichmäßig. Einige Regionen, v.a. im Bergland, zeichnen sich durch eine niedrige Zahl an ständigen Bewohnern und eine hohe Zahl an Saisonbewohnern aus. Die Ungleichmäßigkeit der Besiedlung wurde in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit dem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und mit der Konzentration der kleinunternehmerischen Aktivitäten auf die grenzüberschreitenden Verkehrswege noch größer (Zich et al. 1996: 56). Die relativ größere Migration in den Grenzgebieten ist als Folge der Transformationsprozesse in der Landwirtschaft und des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten zu werten. 3 Geschichte 3.1 Kurzer Abriss der Geschichte vor 1918 Die Geschichtsschreibung Böhmens, Mährens und Mährisch-Schlesiens spiegelt bis heute häufige nationale Voreingenommenheiten wider; die Wahrnehmung der böhmischen und mährischen Geschichte ist auf tschechischer wie auf (sudeten-)deutscher Seite stark von historischen Mythen geprägt. Während des 4. Jahrhunderts v. Chr. war das Territorium der heutigen Tschechischen Republik von keltischen Stämmen 7 besiedelt. Von den sogenannten keltischen Bojern stammt auch die lateinische Bezeichnung des Landes Boiohaemum (Bohemia), aus dem die deutschsprachige Bezeichnung Böhmen hervorgeht. Die Bojer wurden Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. von germanischen Stämmen, den Markomannen, verdrängt. Ihnen folgten die ersten Slawen, die während der Völkerwanderung im 6. Jahrhundert Gebiete Böhmens und Mährens besiedelten. Das von ihnen beherrschte Gebiet, nach ihrem Führer Samos benannt, gilt heute als das erste staatliche Gebilde der Slawen (Schwarz 1962: 17). Im 9. Jahrhundert hat der christliche Glaube nach der Missionierung durch Kyrill und Method in Böhmen und Mähren Fuß gefasst. Eines der entscheidenden historischen Ereignisse hinsichtlich des Deutschtums in der heutigen Tschechischen Republik war die sog. Ostkolonisation durch beweglichen Truppen aus deutschsprachigem Raum (Alexander 2002: 65f., Urban 1991: 35). Diese begann bereits im 11. Jahrhundert und fand im 13. und 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Initiiert wurde sie im Rahmen der Weiterentwicklung und Neugründungen von Städten von böhmischen Herzögen und Königen (P emysliden) sowie Klöstern. Diese riefen Bauern, Bergleute, Handwerker, Kaufleute und Künst- 7 Anhand von Untersuchungen einiger Ortsnamen ist erkennbar, dass die keltischen Ortsnamen in Böhmen und Mähren den Slawen durch Germanen überliefert worden sind. Keltischen Ursprungs sind z.B. die Namen Oh e (vgl. Eger, Agara) und Jizera (vgl. Iser, Isar, Oise) (Burgerstein 1998: 12). Pavla Tišerová 180 ler ins Land, um vor allem die bis dahin sehr dünn besiedelten Randgebiete erschließen und kultivieren zu lassen. In Nordböhmen, Nordmähren und Schlesien wurden hauptsächlich die Mitteldeutschen sesshaft, wobei Nordböhmen vorwiegend Lausitzer Siedler hatte. Die Bayern hingegen gingen nach Westböhmen, Südböhmen und Südmähren. Die Spuren dieser Besiedlung sind noch in den heutigen Mundarten bemerkbar, die bayrische, ostfränkische, obersächsische, Lausitzer bzw. schlesische Wurzeln 8 haben (Beranek 1970: 3). Die Herkunft der Siedler fand ihre Entsprechung auch in der Vergabe des Marktrechtes an böhmische Vorburgen, denn oftmals wurden die Siedlungen unterhalb der Burgen zu Städten 9 (Burgerstein 1998: 50). Die so neu entstandenen königlichen Berg- oder Erbstädte oder Lehnstädte ließen häufig ihre mitgebrachten deutschen Stadtrechte gelten und errichteten auf der Grundlage dieser Privilegien bald ein eigenes deutsches Patriziat (Skála 1987). Bis Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden rund zwanzig neue Städte, darunter 1213 Uni- ov [Mährisch Neustadt], vor 1224 Opava [Troppau], 1225 Hradec Králové [Königingrätz], 1230 Litom ice [Leitmeritz], 1235 Staré M sto Pražské [Prager Altstadt], 1240 Brno [Brünn], 1249 Jihlava [Iglau] als königliche Städte. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden über 120 neue Städte gegründet, darunter 1253 Olomouc [Olmütz], 1260 Ústí nad Labem [Aussig an der Elbe], 1265 8 Schwieriger wird diese Art der Zuordnung z.B. bei der Iglauer Sprachinsel. Sie zeigt sowohl bayrische wie auch sächsische Mundarten; die Bergleute konnten eben nicht aus einer beliebigen Gegend geholt werden, sondern kamen aus alten Bergbaugebieten, die man in Deutschland im Harz und an der Nordabdachung des Erzgebirges sowie Tirol fand (Franzel 1987: 74). 9 So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Endung -burk (z.B. Rumburk) in vielen Städtenamen wiederfinden lässt. Aber auch andere Ortsnamen geben Aufschluss darüber, ob der Name slawischen oder neueren kolonisatorischen Ursprungs ist: -itz-Endungen deuten auf einen slawischen Ursprung, Namen auf -dorf (Varnsdorf), -berg (Vimperk), -wald (Tanwald), -bach oder -tal (Rožmitál) hingegen auf deutschen Ursprung hin (Franzel 1987: 68f.). eské Bud jovice [Budweis], 1295 Plze [Pilsen] als königliche Städte. Zu den bedeutendsten Lehnstädten, die im 13. Jahrhundert entstanden, gehörten Ostrava [Ostrau], Pardubice [Pardubitz] und Liberec [Reichenberg]. In den nördlichen Regionen Böhmens hat sich das sog. Magdeburger Stadtrecht durchgesetzt, in den südlichen das Nürnberger Stadtrecht in verschiedenen Varianten. Die meisten Städte wurden auf relativ kleinen Flächen bis 20 ha angelegt und behielten über längere Zeit einen agrarwirtschaftlichen Charakter (Urban 1991: 36). Die erste Einwanderungswelle (12. bis 14. Jahrhundert) bewirkte eine umfangreiche Besiedlung von Grenz- und Sprachinselgebieten durch eine deutschsprachige Bevölkerung, deren Agrartechnik, Bergbaumethoden und leistungsstarkes Gewerbe die Entwicklung des Landes voranbringen sollten (Aschenbrenner 1988a: 15). Die böhmischen Länder waren seit dem 10. Jahrhundert ein Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches. Im 14. Jahrhundert reichte das deutsche Sprachgebiet in Westböhmen noch nicht an seine spätere Ausdehnung heran. In Mähren hingegen hatten die deutschsprachigen Gebiete schon fast eine Nord-Süd-Verbindung, so dass das Slawische beinahe in zwei Hälften gespalten war. Außerdem gab es in Mittelböhmen und -mähren zahlreiche kleine Sprachinseln. Das Aussterben der P emysliden und der Dynastiewechsel hatte den Machtantritt der Luxemburger zur Folge. Beide Königshäuser gründeten ihre Macht auf aktive Innen- und Außenpolitik, deren wirtschaftliche Hauptantriebskraft böhmisches Gold und Silber waren, die jedoch überwiegend als Zahlungsmittel für eingeführte Waren, weniger zu Investitionen im Inland eingesetzt wurden. Während des 13. und 14. Jahrhunderts entwickelten sich die Länder der böhmischen Krone zu einem politisch mächtigen, kulturell blühenden, jedoch wirtschaftlich wenig aktiven Staatsgebilde. Die Produktions- und Marktmöglichkeiten sowie Eigentumsverhältnisse der meisten Bauern und Handwerker haben sich nicht wesentlich weiterentwickelt. Auf der anderen Seite wuchs der Besitz in Händen der Kirche, nachdem ihr besonders durch 5. Tschechien 181 Karl IV. 10 ausgedehnte Privilegien und Eigentümer zufielen. Er benötigte die Unterstützung der Kirche in seinem Machtkampf gegen den böhmischen Adel um die Regierung des Landes. Der Widerspruch zwischen dem materiellen Reichtum einerseits und einer wenig effektiven Produktionstätigkeit andererseits führte zu sozialen Spannungen. Durch die Verweltlichung der Kirche, die inzwischen eine nicht wegzudenkende wirtschaftliche Macht im Land darstellte, wuchs deren Entfernung von den Idealen des Evangeliums immer mehr. Die bezogenen Positionen im ideologischen Konflikt mit der Kirche waren gleichzeitig das Scheidekriterium zwischen dem tschechischen Reformflügel gegenüber dem loyalen Flügel mit vor allem ausländischen, also deutschsprachigen Gruppen und hatten später u.a. eine nationale Trennung 11 zur Folge. In den Jahren 1419 bis 1436 wurden diese Konflikte in den sogenannten Hussitenkriegen ausgetragen 12 (Urban 1991: 63). 10 Karl IV., der 1347 böhmischer König und 1349 römischer Kaiser wurde, gründete 1348 in Prag die erste Universität auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der bald nicht nur eine wichtige bildungspolitische, sonder auch staatspolitische Rolle zukam (Urban 1991: 52). 11 Nachdem sich das Deutschtum vor allem in Prag immer weiter ausbreitete, so dass es sogar sozialen Vorrang vor dem Tschechischen erlangte, kam es allmählich zu nationalen Spannungen zwischen Böhmen und Deutschen, die sich unter Jan Hus, der die Verwendung einer Mischsprache attackierte, in einem der ersten Sprachkämpfe entluden. Durch die Hussitenkriege wurden die bis dahin ziemlich großen deutschen Sprachinseln in Innerböhmen vernichtet (Freund/ Vogelsang 1985: 180). 12 Eine Reihe königlicher Städte schlugen sich auf die Seite der Hussiten: Beroun, Slaný, Chomutov [Komotau], Litom ice [Leitmeritz], Kolín, Kutná Hora [Kuttenberg], áslav, Písek, Domažlice [Taus], Sušice [Schüttenhofen], während andere nie zum Hussitismus übertraten, z.B. Plze [Pilsen] und eské Bud jovice [Budweis]. Die zerstörerischen Hussitenkriege hatten verheerende Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben und Binnenmarkt sowie auf die Handelsbeziehungen mit dem Ausland. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erholte sich die Silberförderung in Kutná Hora [Kuttenberg] wieder, gefolgt von Jáchymov [Joachimsthal] ab den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts (Urban 1991: 64, Beran 2001). Bis dahin konnten sich aber in Böhmen eine dreisprachige (lateinisch-tschechisch-deutsche) Kultur und Bildung entwickeln, die zusammen mit der Wahrnehmung bestimmten ethnischer und sprachlicher Besonderheiten eine Quelle des nationalen Bewusstseins im Mittelalter wurden. Da dieses Bewusstsein weder ideologische noch politische Auswirkungen hatte und keine allgemeine Erscheinung war, kann man in dieser Zeit keine nationalen Konflikte beobachten. Der P emyslidenbzw. Luxemburgerstaat war ein dynastisches Territorialgebilde, in dem den ethnischen Problemen eine untergeordnete Bedeutung zukam. National gestimmte Gehässigkeiten und Anfeindungen (wie z.B. beim Autor der sog. Dalimil-Chronik) waren vor allem sozial motiviert als Reaktionen auf die Bevorzugung des ausländischen Patriziats im Staatsdienst (Urban 1991: 56). Außer einer deutlichen Schwächung der katholischen Kirche und Stärkung der Städte hatten die Hussitenkriege auch bestimmte nationale und demographische Veränderungen zur Folge, da die Idee der Kirchenrefomen mehr Anhänger unter der tschechischsprachigen Bevölkerung fand. Mit dem Einzug des tschechischen Hussitismus in die Städte wurden Grundlagen für die Enwicklung der tschechischen Kultur 13 und Bildung im 16. Jahrhundert gelegt. 1526 kamen die böhmischen Länder unter die Herrschaft der Habsburger und wurden damit ein Teil Österreichs. Die Böhmische Krone wurde 1627 für die Habsburger erblich, Deutsch wurde zur alleinigen Amtssprache, infolgedessen wurde die tschechische Sprache aus dem öffentlichen Leben verdrängt (Burgerstein 1998: 54). Durch die österreichischen Erbfolgekriege ging der größte Teil Schlesiens 1742 an Preußen verloren. Mit der Teilung Schlesiens entstand in den Ländern der böhmischen Krone eine tschechische Mehrheit. Den Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland konnte Preußen 1866 letztlich für sich entscheiden, so dass Österreich aus dem Deutschen Bund 13 Die erste Druckerei in Böhmen entstand in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts in Plze [Pilsen]. Bis 1500 werden ca. 30 Frühdrucke gezählt (Urban 1991: 81). Pavla Tišerová 182 ausscheiden und Preußen anerkennen musste. Dies führte zur weiteren Schwächung des Deutschen in Böhmen und Mähren (Franzel 1987: 281). Nach der Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten gegen Preußen 1866 wurde mit einem sogenannten Ausgleich die staatsrechtliche Umwandlung des Gesamtstaates Österreich in eine Österreichisch-Ungarische Monarchie vollzogen. Schon vor diesen Ereignissen hatten sich seit geraumer Zeit Ideen der Aufklärung bei der tschechischen Bevölkerung entwickelt, die dann Anfang des 19. Jahrhunderts in einer tschechischen Nationalbewegung sichtbar wurden. Sie übten offenen Widerstand gegen die Vorrechtstellung des Deutschen (Franzel 1987: 286). Die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 hatten die Tschechen boykottiert und in Prag einen Slawenkongress veranstaltet, auf dem Vertreter aller slawischen Völker der Habsburgmonarchie eine Umstrukturierung des Landes zugunsten von mehr Selbständigkeit gefordert hatten (Burgerstein 1998: 55). Nach dem Ende des Deutschen Bundes wurden Deutsch und Tschechisch als gleichberechtigte Sprachen anerkannt. Das Nationalbewusstsein der Tschechen wuchs, und die deutsch-tschechischen Gegensätze verschärften sich weiter (Bundeszentrale für politische Bildung 1993: 2). Die nationalen Auseinandersetzungen blieben bis 1918 gewaltlos. Bis zu diesem Jahr gehörten die Sudetendeutschen dem österreichisch-ungarischen Habsburgerreich an. Das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 brachte die Zerschlagung des Vielvölkerstaates. Die Tschechen forderten einen eigenen Staat, dem auch die industriereichen Siedlungsgebiete der Sudetendeutschen angehören sollten (Schickel 1985: 40, Bohmann 1981: 116). 3.2 Geschichte ab 1918 Am 21 Oktober 1918 erklärte die vorläufige Nationalversammlung Deutsch-Österreich ihre Gewalt in den deutsch besiedelten Gebieten Deutschböhmen (Egerland und Nordböhmen) und Sudetenland (Nordmähren mit Mährisch-Schlesien), während sich die Landkreise Deutschsüdböhmen, Oberösterreich und Deutschsüdmähren Niederösterreich angeschlossen hatten. Eine Woche vor der Entstehung der Tschechoslowakei gründeten somit die Deutschen Österreichs einen eigenen Staat, der nicht mehr als Vielvölkerstaat gemeint war. Im November 1918 wurde dann der Anschluss an das Deutsche Reich angestrebt. Eine Vereinigung Deutsch-Österreichs mit Deutschland war jedoch nach dem Versailler Friedensvertrag nicht zulässig (Škrábek 2002: 28). Am 28. Oktober 1918 wurde in Prag von Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš der neue tschechoslowakische Staat ausgerufen (Schickel 1985: 40, Bohmann 1981: 116). Seine Zusammensetzung wurde endgültig in den Versailler Friedensverträgen geregelt, nach denen folgende Gebiete der Tschechoslowakei zugeschlagen wurden: Böhmen, Mähren, Slowakei, Mährisch-Schlesien, Hultschiner Ländchen, Karpato-Ukraine (Kotzian 1987: 125). Das Ergebnis war ein äußerst heterogenes Staatsgebilde mit einem Minderheitenanteil von 37 Prozent (Hilf 1983: 25). Wie es die Verfassung aus dem Jahre 1920 vorsah, verstand sich die Tschechoslowakische Republik als ein Staat der Tschechen und Slowaken. Als Brüdervölker wurden diese beiden Nationen das bestimmende Element im Land. Die Stellung der zahlreich vertretenen deutschen Volksgruppe, deren Einwohnerzahl im Jahre 1880 2.927.684, im Jahre 1910 3.512.553 und im Jahre 1921 3.061.369 betrug, was einen Anteil von 30,6 Prozent der Gesamtbevölkerung bedeutete (Bohmann 1959: 14, 125), wurde damit wesentlich eingeschränkt. Die Deutsche Zeitung Bohemia vom 23. Dezember 1918 bringt Gefühle der Enttäuschung und Ausweglosigkeit zum Ausdruck, empfindet aber die Notwendigkeit, sich mit der Realität abzufinden, ohne sie rechtlich anzuerkennen. Diese Zwiespältigkeit der Abfindung ohne rechtliche Anerkennung hinderte die deutsche Minderheit an ihrer Zusammenarbeit an der ersten Verfassung und führte letztlich mancherorts zu blutigen Auseinandersetzungen (Škrábek 2002: 27). Zunehmende Radikalisierung und Politisierung der deutschen Bevölkerung setzte ein, verstärkt durch die ökonomischen Einbrüche 5. Tschechien 183 seit 1929, die die veraltete wirtschaftliche Struktur des Sudetenlandes besonders schwer trafen (Schickel 1985: 44, Kural 1986: 71). Da die bergigen Grenzgebiete der wachsenden Bevölkerung keine ausreichende Lebensgrundlage bieten konnten, standen besonders dort viele Arbeitskräfte der Industrie zur Verfügung. So gab es nicht nur gebiets-, sondern auch nationalitätenspezifische Unterschiede in der ökonomischen Bevölkerungsstruktur. Im Jahre 1921 arbeiteten in Böhmen 38,2 % Tschechen und 46,7 % Deutsche in der Industrie. Die Tschechoslowakei erbte 1918 zwar gut drei Viertel der gesamten Industrie von Österreich-Ungarn, gleichzeitig aber nur kleine Absatzmärkte, wobei das Ziel der Nationalwirtschaft der Schutz eigener autarker Märkte war (Škrábek 2002: 72). Das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen wurde in der Zeit der parlamentarischen Auseinandersetzungen in Wien und in den Landtagen Prag und Brünn (1864, 1914) erheblich gestört. Nachdem den Sudetendeutschen ihr Selbstbestimmungsrecht im neuen Staat verwehrt blieb, wurde der Wunsch nach Trennung immer stärker (Franzel 1987: 328). Die tschechoslowakische Staatsführung verfolgte eine diskriminierende Politik: Die Verdrängung der Deutschen aus dem öffentlichen Dienst, Beschränkung des deutschen Schul- und Bildungswesens und Tschechisch als Amtssprache waren nur einige Folgen. Die Währungs-, Wirtschafts- und Handelspolitik der Tschechoslowakei begünstigte systematisch die tschechischen Gebiete (Franzel 1987: 343). Ab 1933 wurde der Zulauf für Parteien rechtsnationaler Prägung immer größer (Hilf 1983: 28). Die sudetendeutsch-tschechischen Spannungen eskalierten schließlich im Laufe des Jahres 1938 unter Druck der deutschen Nationalsozialisten bis zur sogenannten Sudetenkrise im September. Zu diesem Zeitpunkt forderten England und Frankreich von der Tschechoslowakei die Abtretung der Sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich, nachdem dieses andernfalls mit Krieg gedroht hatte. Am 21. September unterbreiteten der französische und der britische Gesandte dem tschechischen Präsidenten die Forderungen ihrer Regierungen, die Gebiete mit mehr als fünfzig Prozent deutschstämmiger Bevölkerung an das Deutsche Reich abzutreten (Bundeszentrale für politische Bildung 1993: 14) 14 . Das umstrittene Gebiet um T šín [Teschin] in Schlesien fiel Polen zu. Das sog. Münchner Abkommen wurde am 30. September 1938 Arthur Neville Chamberlain, Edouard Daladier, Benito Mussolini und Adolf Hitler unterzeichnet. Es waren keine Vertreter der Tschechoslowakei zu den Verhandlungen eingeladen. Durch den Abschluss des Abkommens verfolgten die Großmächte die Absicht der Beilegung der Sudetenkrise sowie der Friedenssicherung in Europa. Alle Vertragspartner, auch das Deutsche Reich, garantierten außerdem den territorialen Bestand und die Sicherheit der Rest-Tschechoslowakei. In der Erklärung der tschechoslowakischen Regierung vom 30. September 1939 wird daraufhin u.a. festgelegt, dass auf Grund einer einvernehmlichen Zustimmung der Vertreter der politischen Parteien das Münchner Abkommen der vier Großmächte von der tschechoslowakischen Regierung angenommen wird (Rat 1965: 143). Am 5. Oktober 1938 trat Edvard Beneš als Präsident zurück. Durch die neue Festlegung der Staatsgrenzen unter militärisch-strategischen Aspekten fielen an das Deutsche Reich auch Gebiete mit tschechischer Bevölkerung. Das im Abkommen verankerte Optionsrecht ermöglichte den Deutschen aus dem Binnenland eine Umsiedlung in die abgetretenen Gebiete und den Tschechen aus den abgetretenen Gebieten eine Umsiedlung ins Binnenland. Das abgetretene Gebiet mit 28.680 km² zählte 3.751 Gemeinden mit 3.576.719 Einwohnern, davon 738.502 Tschechen. Nach den Umsiedlungen lebten im Reichsgau Sudetenland nur noch ca. 290.000 Tschechen. Einwohner deutscher Nationalität erlangten durch das Reichsgesetz vom 21. November 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit. Als Datum für den Abzug der Tschechen aus dem Sudetenland wurde 14 Im Mai 1939 zählten die Sudetenländer (abgetretene Gebiete auf Grund des Münchner Abkommens) 3.335.000 Deutsche, 1940 lebten im Protektorat Böhmen, Mähren und Schlesien 261.500 Deutsche. Die Schätzungen erfolgen nach der Ausgabe von Lebensmittelkarten (Kuhn 1970: 433). Pavla Tišerová 184 der 1. Oktober 1938 festgesetzt. Die Deutschen sollten zwischen dem 1. und 7. Oktober stufenweise vier festgelegte Bezirke übernehmen. Eine internationale Kommission, der Delegierte aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und der Tschechoslowakei angehörten, sollte feststellen, welche Gebiete außerdem noch vorwiegend deutsch besiedelt waren, und sie sollte in anderen umstrittenen Gebieten Wahlen veranlassen. Schließlich wurde eine neue Konferenz für den Fall vereinbart, dass die Forderungen der ungarischen und polnischen Minderheiten in der Tschechoslowakei nicht innerhalb von drei Monaten erfüllt werden sollten. Die Ereignisse vor und nach dem Abschluss des Münchner Abkommens zeigen, dass die Tschechoslowakei einer militärischen Bedrohung durch das Dritte Reich ausgesetzt war. Der Mangel an Interesse und Unterstützung seitens der Großmächte hatte diese Lage noch verschärft. Deutschland hatte nicht nur gegen die Grundprinzipien des internationalen Rechts, sondern auch gegen den Vertrag von Locarno und den Briand-Kellogg- Pakt verstoßen. Das Münchner Abkommen wurde für die nächsten Jahrzehnte zum belastenden Schwerpunkt der tschechisch-deutschen Beziehungen. Durch die späteren Verträge über bilaterale Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei (Vertrag über bilaterale Beziehungen zwischen der SSR und der Bundesrepublik Deutschland vom 11. Dezember 1972, sog. Prager Vertrag, und Vertrag zwischen der SFR und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992) wurde das Abkommen rückwirkend für nichtig erklärt. Von den anderen beteiligten Großmächten wurde es bereits im Laufe des Zweiten Weltkriegs für ungültig erklärt (Chocholatý 1998). Die Sudetendeutschen trennten sich durch die Umsetzung des Münchner Abkommens von den Tschechen, und nun rechnete man damit, dass durch einen Bevölkerungsaustausch die noch im Sudetengebiet verbliebenen Tschechen gegen die in der neuen Tschechoslowakei lebenden Deutschen ausgetauscht würden. Zwar waren die Deutschen in Praha [Prag], Jihlava [Iglau], Plze [Pilsen], eské Bud jovice [Budweis], Olomouc [Olmütz], Brno [Brünn], Ostrava [Mährisch Ostrau] und Vyškov [Wischau] schon seit 700 Jahren ansässig, aber man war trotzdem bereit, auf diesen Tausch einzugehen (Franzel 1987: 402). Doch schon bald wurde die Täuschung hinsichtlich der vermeintlichen Dauerhaftigkeit der neuen Grenzen klar. Während der Verhandlungen zwischen dem Präsidenten Emil Hácha und Adolf Hitler in Berlin vom 15. März 1939 wurde verkündet, dass das restliche Gebiet besetzt und zum Reichsprotektorat Böhmen und Mähren als autonomer Bestandteil des Dritten Reichs erklärt wird. Am selben Tag marschierte die deutsche Wehrmacht in die sogenannte Rest- Tschechoslowakei 15 ein. Die politische Vertretung der Sudetendeutschen Partei spielte hierbei eine entscheidende Rolle (Bundeszentrale für politische Bildung 1993: 21). Der Einmarsch bedeutete eine Annullierung des Münchner Abkommens und bescheinigte der englisch-französischen Appeasement-Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland Untauglichkeit als Mittel zur Aufrechterhaltung des Friedens in Europa. Alle Bürger deutscher Nationalität im Protektorat wurden zum 16. März 1939 laut Reichsgesetz über die Staatsangehörigkeit vom 13. September 1935 zu Reichsbürgern. Alle anderen Bürger wurden zu Staatsbürgern des Protektorats. Diesen neuen Reichsbürgern wurde dann wiederum im Jahre 1945 durch das Verfassungsdekret vom 2. August 1945 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft kollektiv aberkannt (Blumenwitz 1992: 22). Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wurde die Tschechoslowakei wieder errichtet. Wie schon in der Zwischenkriegszeit waren die wirtschaftlich deutlich weiter entwickelten tschechischen Länder die politisch dominierende Kraft im Gesamtstaat. Die Londoner Exilregierung, angeführt von Edvard Beneš, zog bis 1941/ 42 humane Nachkriegslösungen der sudetendeutschen Fra- 15 Die Slowakei schuf unter dem Patronat Hitlers den selbständigen slowakischen Staat und kämpfte an der Seite Deutschlands (Nekvapil 1997: 1642). 5. Tschechien 185 ge in Betracht. Nach den Massakern von Lidice und Ležáky 1942 erwog jedoch nun auch die Exilregierung radikalere Vorschläge, und in der Öffentlichkeit begann die Annahme einer Kollektivschuld der Deutschen zu überwiegen. Nationalistische Einstellungen gewannen an Einfluss, und ein Nachdenken über eine Massenaussiedlung der deutschen Volksgruppe mit dem Ziel eines national-vereinheitlichten tschechoslowakischen Staates setzte ein. Erste Anzeichen für eine radikale Lösung der sudetendeutschen Frage zeigten sich bereits im Jahre 1939 im Entwurf der tschechischen und slowakischen Staatsgrenzen sowie im Briefwechsel zwischen Edvard Beneš und dem tschechoslowakischen Widerstand. ( eši 1994: 2-6). Seit 1942 führte die Exilregierung intensive Verhandlungen mit der britischen Regierung über die Aussiedlung der Sudetendeutschen, die Festlegung der Staatsgrenzen und die Selbstverwaltung in den ethnisch homogenen Regionen ( eši 1994: 91- 111). Beneš legte 1942 in Moskau u.a. ein Memorandum bezüglich der Sudetendeutschen mit folgenden Forderungen vor: 1) die deutsche Sprache wird aus Ämtern und Schulen verdrängt, 2) die Deutschen mit Ausnahme von Antifaschisten verlieren die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, 3) die Staatsangehörigkeit wird auf Grund individueller Regierungsverordnungen zuerkannt, 4) für den „Transfer“ der deutschen Bevölkerung wird ein detaillierter Plan mit Festlegung der auszusiedelnden Bevölkerungskategorien erarbeitet, 5) die ausgesiedelten Deutschen werden für ihr in der Tschechoslowakei verlorenes Eigentum von den durch Deutschland geleisteten Reparationszahlungen entschädigt, und Deutschland wird die Verantwortung für die ausgesiedelte Bevölkerung übernehmen ( eši 1994: 131). Auch sämtliche weiteren Verhandlungen und Dokumente der Exilregierung bezüglich der sudetendeutschen Frage verfolgten den Kurs des künftigen Nationalstaates mit nur einer tschechoslowakischen Nation. Im April 1945 wurde den Sudetendeutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Eigentum beschlagnahmt und sie des Landes verwiesen. Gleich darauf setzten die sog. „wilden Vertreibungen“ 16 in Böhmen und Mähren ein. Bis zum Ende der Potsdamer Konferenz der Siegermächte am 2. August 1945 waren bereits bis zu 750.000 Sudetendeutsche vertrieben worden oder geflohen (Bundeszentrale für politische Bildung 1993: 27). Die Konferenz von Potsdam bestätigte den Tschechen das Recht zur Vertreibung, doch wurde verlangt, dass diese Ausweisungen in legaler und humaner Weise durchgeführt werden sollen (Franzel 1987: 413). Die Ausweisungen dauerten etwa bis November 1946 an und hatten eine weitgehende Räumung der sudetendeutschen Gebiete zur Folge (Schwarz 1962: 26). Der sog. „geregelte Transfer“ wurde seit Januar 1946 organisiert. Bis Mitte 1946 sollte in drei Etappen ausgesiedelt werden: 1) alle in Industrie, Land- und Forstwirtschaft in den Grenzgebieten beschäftigten Deutschen der Kategorie A; 2) alle übrigen Deutschen mit Ausnahme von Antifaschisten, Deutschen in Mischehen und Fachleuten mit ihren Familien. 3) Die Aussiedlungen von qualifizierten Arbeitskräften wurden gesondert geregelt. Im Sommer 1947 setzte die sogenannte Streuung als eine weitere und zugleich letzte Etappe des „Transfers“ ein, nachdem die Aufnahme der deutschen Bevölkerung in den deutschen Besatzungszonen auf immer größere Hindernisse gestoßen war. Die Massenübersiedlungen der Deutschen aus den Grenzgebieten wurden daher aus Sicherheits- und Wirtschaftsgründen ins Landesinnere umgelenkt. Ganze deutsche Familien wurden als Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Bergbau eingesetzt, mit Ausnahme von Antifaschisten, Personen mit Staatsangehörigkeitsnachweis, Partnern aus Mischehen und Fachleuten mit Sonderausweis. Da- 16 Die Deutsch-tschechische Erklärung von 1997 strebt bei der Benennung des sog. Transfers der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei einen terminologischen Konsens an: Nach den sog. „wilden Vertreibungen” [divoký odsun] unmittelbar nach oder bereits vor dem Kriegsende folgte nach der Potsdamer Konferenz die organisierte sog. „zwangsweise Aussiedlung” [odsun]. Die Ereignisse aus dem Jahre 1938 werden wiederum als „Flucht und Vertreibung“ [út k a vyhnání] bezeichnet (Erklärung 1997: 239-243). Pavla Tišerová 186 durch sank die Zahl der Arbeitskräfte und die Produktivität in den Grenzgebieten weiter. Bis Ende April 1948 wurden ca. 10.000 Personen umgesiedelt. Die Einwohnerzahlen aus dem Jahr 1949 belegen 183.000 Deutsche in der Tschechoslowakei. 17 Davon hätten weitere 60.000 Personen ausgesiedelt werden sollen. Für diese „nachträgliche“ Aussiedlung waren noch drei Sammelorte in Cheb [Eger], Lešany und Liberec [Reichenberg] in Betrieb (Chocholatý 1998). Im Jahre 1950 waren in der SSR 165.117 Bürger deutscher Nationalität verblieben, davon 159.138 in den Sudetenländern (Born/ Dickgießer 1989: 220). Der sog. „Transfer“ der meisten Deutschen aus der Tschechoslowakei bedeutete das Ende der Kontinuität des Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen in einem Staat (Stan k 1991). In Folge der Ausweisungen der Deutschen war der Anteil der Tschechen und Slowaken im Lande gestiegen (Ihme- Tuchel 1996; Hilf 1995: 112f). Im Jahre 1948 kam in der Tschechoslowakei die kommunistische Partei an die Macht, ähnlich wie in den übrigen Ländern des sog. Ostblocks. Sie erreichte bei den Wahlen 89,3 Prozent. Edvard Beneš trat als Präsident zurück, sein Nachfolger wurde Klement Gottwald. Er leitete eine politische Revolution, den Wechsel des herkömmlichen politischen Systems und teilweise auch einen Elitenwechsel ein. Die neue Bürokratie strebte eine Industrialisierung nach umfassenden Verstaatlichungen an und verhinderte die Demokratisierung. Dies hatte zur Folge, dass die Produktion von Konsumgütern nach 1948 unaufhaltsam zugunsten der Produktion von Arbeitsinstrumenten sank und die Wirtschaft zu stagnieren begann. Da die Regierung weder die Produktion noch ihre Effektivität zu kontrollieren vermochte, stellte sich die „realsozialistische“ Wirtschaftsplanung als völlig irreal heraus. Im Jahre 1957 wurde Antonin Novotný Staatspräsident, der bis Mitte der 17 Außerordentlich stark verringerte sich auch die Zahl der jüdischen Bevölkerung: Von mehr als 160.000 Angehörigen dieser Gruppe in der gesamten Tschechoslowakei kehrten nach dem Krieg nicht ganz 20.000 zurück (Nekvapil 1997: 1642). 60er Jahre eine Entstalinisierung vermied. Ein Umbruch erfolgte, nachdem auch die konservativen Teile des Politbüros der kommunistischen Partei um den Präsidenten Novotný eine notwendige Korrektur der Wirtschaftspolitik einsahen. Es wurden Reformen eingeleitet, ohne dass es dabei zu politischen Veränderungen kommen sollte. Die pragmatisch orientierten Mitglieder des Zentralkomitees, angeführt von Alexander Dub ek, die stärker in den Betrieben verwurzelt waren und immer mehr Unterstützung durch die Massenmedien gewannen, entwickelten eine neue Strategie, indem sie die Schuld für die gesellschaftliche Stagnation Präsident Novotný zuschrieben. Ende 1967 war es offensichtlich, dass sich Novotnýs konservativer Flügel nicht mehr halten konnte, und die Öffentlichkeit wurde mit Hilfe der Medien für eine Reform mobilisiert, die erstmalig als ein Wechsel im politischen Stil präsentiert wurde. Der „Prager Frühling“ versprach die Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, Demokratisierung, Aufhebung der Zensur usw. Inzwischen wuchs jedoch der Druck der übrigen sozialistischen Länder, namentlich der Sowjetunion, auf die Tschechoslowakei. In den Medien der sozialistischen Länder erschienen Berichte über die „Konterrevolution in der Tschechoslowakei“, die mit dem „internationalen Imperialismus“ in Verbindung gebracht wurde. Daraufhin wurde die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei aufgefordert, gegen die „rechtsradikalen und antisozialistischen Kräfte“ einzuschreiten. Am 20. August 1968 wurde der Reformprozess in der Tschechoslowakei durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes (außer Rumäniens und der DDR) beendet. Die Reform-Kommunisten wurden verhaftet und in Moskau zu ihrem Einverständnis zum Gewaltakt genötigt. Ein neues Zentralkomitee wurde gebildet. Die Besatzungstruppen blieben im Land stationiert. Im Jahre 1969 wurde Dub ek durch Gustav Husák ersetzt. In den 70er Jahren wurde die sog. Normalisierung eingeleitet. Ideologische Säuberungen, Massenauswanderungen und gesellschaftspolitische Stagnation waren die Folge. Im Jahre 1977 bildete sich unter Beru- 5. Tschechien 187 fung auf die Helsinki-Akte die Bürgerrechtsbewegung Charta 77, deren Gründer und Mitglieder politisch verfolgt wurden. Spätestens ab Mitte der 80er Jahre zeichnete sich eine tiefe innenpolitische Krise ab, nicht zuletzt als eine Reaktion auf die Perestrojka in der Sowjetunion und auf das Ende des Kalten Krieges. Nach einer Massenflucht von DDR-Bürgern im Sommer 1989 über die Prager westdeutsche Botschaft der Bundesrepublik und nach blutigen Übergriffen der Polizeikräfte auf eine Studentendemonstration für Menschenrechte am 17. November in Prag brachen Streiks im ganzen Land aus. Das neu formierte Bürgerforum (Ob anské fórum) unter V. Havel leitete die sogenannte „Sanfte Revolution“ (Sametová revoluce) ein. Die Regierung trat zurück. Dub ek wurde Parlamentspräsident und Vaclav Havel Staatspräsident. Aus den ersten freien Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei im Juni 1990 ging in der Tschechischen Republik das Bürgerforum als stärkste Kraft hervor, in der Slowakei war es dessen Schwesterorganisation „Öffentlichkeit gegen Gewalt“. Die Wahlsieger bildeten eine Koalitionsregierung unter Einschluss Parteiloser; Ministerpräsident wurde Márián alfa, Präsident des Gesamtstaates war bereits seit Dezember 1989 Havel. Die Innenpolitik der Tschechoslowakei wurde in der Folgezeit dominiert von der Auseinandersetzung zwischen Tschechien und der Slowakei über Art und Umfang der Wirtschaftsreformen und der föderalen Strukturen. Es kündigte sich die Trennung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten an. Aus den Wahlen zum Bundesparlament und zu den Länderparlamenten im Juni 1992 ging in der Tschechischen Republik die Demokratische Bürgerpartei (ODS) unter Vaclav Klaus als stärkste Partei hervor, eine Nachfolgepartei des Bürgerforums, das sich 1991 in die Demokratische Bürgerpartei (ODS) und die Demokratische Bürgerallianz (ODA) gespalten hatte. Nachdem die anschließenden Gespräche mit dem Wahlsieger in der Slowakischen Republik, der Bewegung für eine Demokratische Slowakei (HZDS) unter Vladimir Me iar, über eine Regierungsbildung für den Gesamtstaat und über die künftige Staatsform ergebnislos geblieben waren, erklärte im Juli 1992 das slowakische Parlament die Unabhängigkeit der Slowakei. Nach weiteren Verhandlungen einigten sich schließlich beide Ministerpräsidenten auf die Auflösung der Föderation zum 1. Januar 1993 (Nekvapil 1997: 1643). Die Tschechische Republik wurde ein souveräner Staat, und eine neue Verfassung trat in Kraft. Zum Präsidenten der Republik wurde im Januar 1993 Havel gewählt, die Regierung führte weiterhin Klaus. Im Jahre 1993 wurde die Tschechische Republik in die Vereinten Nationen und in den Europarat aufgenommen. Außerdem wurde ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet. Tschechien wurde Mitglied des NATO-Programms „Partnerschaft für den Frieden“ und wurde 1995 in die OECD aufgenommen. 1996 wurde der Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EU eingereicht. Im März 1999 trat die Tschechische Republik der NATO bei; zum 1. Mai 2004 wurde die Tschechische Republik zusammen mit neun weiteren ost- und südeuropäischen Staaten Mitglied der Europäischen Union. 3.3 Zur Geschichte der deutschtschechischen Beziehungen Nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1953 betrieb die tschechoslowakische Regierung eine assimilatorische Minderheitenpolitik, die die deutschen Muttersprachler als Individuen und als Angehörige einer sprachlichen Minderheit diskriminierte. Im Jahre 1953 wurden den verbliebenen Deutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zuerkannt, einen Minderheitenstatus räumte man den Deutschen jedoch nicht ein, bis 1968 wurde die Existenz einer deutschen Minderheit sogar geleugnet (Klete ka 1996: 250, Born/ Dickgießer 1989: 221). Die Verfassung vom 11. Juni 1960 bedeutete eine Enttäuschung für die sich langsam entwickelnde Kulturtätigkeit der Deutschen. Während andere Nationalitäten erwähnt und ihnen Rechte eingeräumt wurden, hatte man die Deutschen weiter übergangen und damit unter anderem auch von der gesetzlich zugesagten Möglichkeit zur Bildung Pavla Tišerová 188 in der Muttersprache ausgeschlossen. Das Ziel der tschechoslowakischen Politik war, die in ihrer Heimat verbliebenen Deutschen innerhalb eines absehbaren Zeitraums völlig zu assimilieren (Kuhn 1990: 90). Erst das neue Verfassungsgesetz vom 28. Oktober 1968 garantierte den Bürgern deutscher Nationalität ein Recht auf Bildung in ihrer Muttersprache und auf deren Verwendung im Amtsverkehr (Born/ Dickgießer 1989: 222, Sokolová 1988). Es wurde auch über die Initiierung einer selbständigen kulturellen Organisation der Bürger deutscher Nationalität entschieden. Die Gründung verzögerte sich allerdings infolge der Ereignisse des Prager Frühlings, so dass der Kulturverband der Bürger der SSR deutscher Nationalität mit Sitz in Prag erst 1969 entstand (Lemberg 1994: 100). Als Presseorgan diente die Prager Volkszeitung. Die meisten der vierzig Grundorganisationen entstanden im Grenzstreifen zur DDR. Von entscheidender Bedeutung für das Leben der Deutschen in der SSR war die Beziehung zu den beiden deutschen Republiken. Die Bundesrepublik Deutschland garantierte im Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955 denjenigen Verbliebenen, die 1953 per Gesetz die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit erhielten, die deutsche Staatsangehörigkeit, was die Auswanderungstendenz verstärkte (Schmied 1974: 27f.). Mit dem Prager Vertrag von 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der SSR wurden unter der sozialliberalen Koalition Ansprüche auf Grenzrevisionen aufgegeben und die völkerrechtliche Normalisierung im Verhältnis zur SSR eingeleitet. Insbesondere nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989 kam es zu zahlreichen Kontakten zwischen den vertriebenen Sudetendeutschen und Tschechen, in dem Bemühen, die gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren. Allerdings kam es bereits 1990 wieder zu einer Verschlechterung des Verhältnisses, als die Prager Regierung mit der Versteigerung des 1945 konfiszierten privaten Eigentums der Sudetendeutschen begann. In Prag setzte sich die Meinung durch, die sudetendeutsche Frage sei abgeschlossen, und mit der Forderung nach einem sogenannten Schlussstrich wurden offenbar eine „biologische Lösung“ angestrebt (Bundeszentrale für politische Bildung 1993: 55). Die Gespräche wurden kurzzeitig abgebrochen, jedoch im Herbst 1991 wiederaufgenommen. In den folgenden Jahren brachten sie einige Fortschritte des Völkerrechtes für die Sudetendeutschen: im Bereich des Vertreibungsverbotes, des Rückkehrrechts für Vertriebene und des Minderheiten und Volksgruppenrechts. Nachdem jedoch im März 1995 das tschechische Verfassungsgericht die sogenannten Beneš-Dekrete von 1945, auf deren Grundlage Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen erfolgt waren, für rechtmäßig erklärte, gerieten die deutsch-tschechischen Verhandlungen erneut in eine tiefe Krise. Erst am 21. Januar 1997 kam schließlich ein Dokument der Aussöhnung zustande: Ministerpräsident Václav Klaus und Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichneten die deutsch-tschechische Erklärung, in der die Tschechische Republik Leid und Unrecht, die den Sudetendeutschen zugefügt wurden, bedauerte und Deutschland sich zu seiner Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen an den Tschechen bekannte. Im Dezember 1997 richteten die Tschechische Republik und die Bundesrepublik den Deutsch- Tschechischen Zukunftsfonds ein, der den noch lebenden Opfern des NS-Regimes in der Tschechischen Republik zugute kommen und der gemeinsame Projekte zur deutschtschechischen Verständigung fördern soll. Das bilaterale Verhältnis zu Österreich wurde ebenfalls durch einen Konflikt um die sog. Beneš-Dekrete erneut belastet. Auslöser war die österreichische Forderung nach einer formellen Aufhebung der Dekrete als Voraussetzung für den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union. Das tschechische Parlament entschied jedoch im April 2002 einstimmig gegen eine Aufhebung der Dekrete. Die EU erklärte schließlich, dass die Dekrete nicht Bestandteil der Beitrittsverhandlungen seien. Die Deutschen in der Tschechoslowakei wurden hinsichtlich ihrer ungünstigen demographischen Entwicklung bereits in den 80er Jahren als „Gruppe ohne Zukunft bezeich- 5. Tschechien 189 net“ (Národnosti 1993: 19). Nach der Wende 1989 haben Angehörige der deutschen Minderheit Gespräche mit dem seit 1968 etablierten Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität initiiert. Da kein Konsens gefunden werden konnte, wurde im April 1990 der neue Verband der Deutschen in der SFR (VdD) registriert. Der Verband verfolgte eine Verstärkung der Förderung in den Bereichen Schulwesen und Presse. Unter dem Dach des Verbands entstand die Arbeitsgemeinschaft deutscher Verbände (AdV). Diese konzipierte als künftige Verbandsstruktur nach der Teilung der SFR die Herausbildung einer Landesversammlung (LV). Dabei ist der Kulturverband aus der AdV ausgeschieden. Die Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien wurde 1992 gegründet. Sie versteht sich als die Vertretung der Deutschen im Lande schlechthin und weist ein breitgefächertes Kulturleben auf. In ihrem Programm hat sie sich folgende Ziele gesetzt: Förderung des Schulwesens für die deutsche Minderheit, Regelung der Eigentums- und Entschädigungsfragen, soziale Angelegenheiten, Arbeitsmarktpolitik, Jugendaustausch, Kindererholung u.a. 18 Seit 1999 erscheint die Landes-Zeitung als ihr Presseorgan. Trotz intensiver Bemühungen gelang es bislang nicht, die Deutschen in der R in einer gemeinsamen Institution zu vereinen (Novotný 2002). 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Entwicklung Tschechien ist traditionell ein Industrieland. Sein heutiges Territorium gehörte zu den industriell entwickeltsten Gebieten des Habsburger Reiches; ein hohes wirtschaftliches Niveau hielt die Tschechoslowakische Republik auch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts (Nekvapil 1997: 1643). Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte wie in 18 Mehr dazu in: Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Erste Wahlperiode 1992-1995, Praha 1995, S. 8. den anderen Staaten des Ostblocks der Übergang zur Planwirtschaft, die der Moskauer Direktive unterlag. Ziel war die Umstrukturierung der Wirtschaft und eine rasche Industrialisierung der bis dato eher rückständigen Slowakei, um das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Landesteil zu mindern. In der Zeit bis 1989 wurden diese Ziele im Wesentlichen erreicht. Es kam zu einem starken Zuwachs des sekundären Wirtschaftssektors, zu einer proportionalen Abnahme des primären Sektors und lediglich zu einem geringen Zuwachs im tertiären Wirtschaftssektor. In der Slowakei entstanden dezentral über das ganze Land verteilt kleinere Industriestandorte. Von 1948 bis 1960 war die Entwicklung sogar durch Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, das sich aber bereits ab Mitte der 1950er Jahre verlangsamte und Anfang der 1960er Jahre in einen negativen Trend umschlug. Wiederholt kam es zu Umstrukturierungen bzw. zu Reformversuchen, um erneut positive Wirtschaftsbilanzen zu erzielen. Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre war die Tschechoslowakei erneut von einer Wirtschaftskrise betroffen. Auch wenn die Tschechoslowakei unter dem kommunistischen Regime oft als das wirtschaftlich am meisten entwickelte Land des Ostblocks eingeschätzt wurde, blieb sie hinter dem Niveau der entwickelten westlichen Staaten zurück (Nekvapil 1997: 1643). Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und somit des osteuropäischen Wirtschaftsraums RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) erfolgte eine schnelle und radikale geographische Umorientierung der tschechoslowakischen Außenwirtschaft in Richtung Westen. Ein entscheidender Schritt war der im Dezember 1991 paraphierte Assoziierungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft mit der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Die Grundlagen der wirtschaftlichen Transformation wurden bereits 1990 im Dokument „Szenarium der Wirtschaftsreform“ veröffentlicht. Demnach sollten folgende Schritte unternommen werden: Liberalisierung der Binnen- und der Außenwirtschaft, Privatisierung der Staatsbetriebe, Errichtung marktkonformer Institutionen, wirtschaftspolitische Pavla Tišerová 190 Flankierung der Transformation. Im Zusammenhang mit der Marktliberalisierung wurden u.a. die Joint-Venture-Bestimmungen gelockert, wodurch bald v.a. westliche Investitionen einen deutlichen Anstieg verzeichneten. Das bekannteste Beispiel ist der Einstieg Volkswagen-Konzerns bei Škoda Auto. Die damalige Sowjetunion wurde als wichtigster Exportpartner der Tschechischen Republik von der Bundesrepublik Deutschland abgelöst. Als sehr schwierig gestaltete sich die Schaffung marktkonformer Institutionen, wie u.a. ein hoher Grad an Steuerhinterziehung und eine Insolvenzwelle mehrerer Banken belegen. Im Vergleich zu den anderen postkommunistischen Ländern ist jedoch die Arbeitslosenquote in der Tschechischen Republik niedriger (Scholl/ Weger 2000). Nach den wirtschaftspolitischen Bewertungen ihres Transformationsstandes kann die Tschechische Republik als eine konsolidierte Demokratie charakterisiert werden (Beyme 1999: 298-299). Wichtige neu entstandene Strukturen der wirtschaftlichen und grenzüberschreitenden Entwicklung sind die an den Grenzen zu Deutschland und Österreich entstandenen Euroregionen: die Euroregion Bayrischer Wald - Böhmerwald - Šumava - Mühlviertel, die Euroregion Egrensis, die Euroregion Erzgebirge - Krušné hory, die Euroregion Elbe - Labe und die Euroregion Neiße - Nisa - Nysa. Sie sind ein wichtiger Faktor der europäischen Integration und der im Jahre 2004 vollzogenen Erweiterung der Europäischen Union, bei der Tschechien eines der zehn neu aufgenommenen Länder war. Als Grenz- und Vermittlungsraum dienen sie der deutschbzw. österreichisch-tschechischen grenzübergreifenden Zusammenarbeit und regionalen Entwicklung. Auch kultur- und sprachpolitisch bieten die Euroregionen neue Kontakträume (Jurczek 2000). 4.2 Politik Das gegenwärtige politische System der Tschechischen Republik knüpft an die demokratischen Traditionen der Tschechoslowakei aus den zwanziger und dreißiger Jahren und an die in der Tschechoslowakei nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1989 aufgebaute pluralistische Demokratie an. Die deutliche pro-östliche politische Orientierung des kommunistischen Regimes (1948-1989) wurde durch eine deutlich pro-westliche abgelöst. Die politische Struktur ist in der Verfassung von 1992 verankert. Nach der Wende im Jahre 1989 regierte bis 1997 eine Mitte-Rechts- Koalition unter Premier Vaclav Klaus. Die Koalitionsparteien waren aus der Sammelbewegung „Bürgerforum“ hervorgegangen, in dem sich 1989 alle unabhängigen und regimekritischen Strömungen versammelt hatten. Die Ziele der Regierung Klaus waren vor allem Marktwirtschaft und Westintegration. Nach einer Krise innerhalb der Koalition und schlechter werdender Wirtschaftszahlen waren die konservativen Koalitionsparteien im Dezember 1997 gezwungen zurückzutreten. Eine Übergangsregierung bis zu den vorgezogenen Wahlen im Juni 1998 unter Josef Tošovský wurde von Präsident Havel ernannt. Die Mehrheit bei den Wahlen erlangte die tschechische Sozialdemokratische Partei SSD, die nach langen Verhandlungen eine Minderheitsregierung mit Duldung der Demokratischen Bürgerpartei ODS einging. Das erste Mal nach 1989 wird die Tschechische Republik von einer links-orientierten Partei regiert. Ihr Premier war Miloš Zeman, der nach seinem Rücktritt im Jahr 2002 von Vladimír Špidla abgelöst wurde, sowohl in der Funktion als Parteichef als auch als Ministerpräsident. Im Jahre 2004 wurde er in beiden Positionen von Stanislav Gross abgelöst, der eine neue Regierung mit gleichen politischen Partnern zusammenstellte. Seit 2003 ist Klaus neuer Präsident. Im Parlament mit zwei Kammern sind folgende Parteien vertreten: eská strana sociáln demokratická ( SSD [Tschechische Sozialdemokratische Partei]), Ob anská demokratická strana (ODS [Demokratische Bürgerpartei]), K es anská demokratická unie - eskoslovenská strana lidová (KDU- SL [Christlich-demokratische Union - Tschechoslowakische Volkspartei]), Unie svobody (US [Freiheitsunion]), Demokratická unie (DEU [Demokratische Union]), Komunistická strana ech a Moravy (KS M [Kommunistische Partei Böhmens 5. Tschechien 191 und Mährens]). Die Republikaner sind nicht mehr im Parlament vertreten: Sdružení pro republiku - Republikánská strana eskoslovenská (SPR-RS [Vereinigung für die Republik - Republikanische Partei der Tschechoslowakei]) (Scholl/ Weger 2000). 4.3 Kulturelle Verbände, Institutionen, Medien der deutschen Minderheit 4.3.1 Verbände der deutschen Minderheit In den Nachkriegsjahren und in den 1950er Jahren war die kulturpolitische Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei unbefriedigend. Durch die Regierungsverordnung aus dem Jahre 1953 wurden sie zwar offizielle Staatsbürger der Tschechoslowakei, aber von einer eigenen auch kulturellen Repräsentation konnte keine Rede sein. Die öffentliche Erklärung des Staatspräsidenten Novotný, die deutsche Frage sei in der Tschechoslowakei durch die sog. Abschiebung endgültig gelöst, erschwerte ihre kulturelle Entfaltung, da sie einer Nichtanerkennung der deutschen Minderheit im Staat gleichkam und den Assimilierungszwang verstärkte. Trotzdem entstanden im Laufe der 1950er Jahre vor allem in Nord- und Westböhmen Kulturgruppen von engagierten Deutschen. Ihre Aktivitäten standen jedoch unter stetiger Überwachung. Darüber hinaus haben selbst viele Mitglieder der deutschen Volksgruppe die Assimilierung befürwortet (Bohmann/ Richter 1957: 25; Schalek 2002). Erst im Jahre 1968 wurde die Existenz einer deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei offiziell anerkannt; am 14. Juni 1969 wurde der Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität gegründet. Insgesamt entstanden 40 Grundorganisationen. Zu den stärksten gehörten die Grundorganisationen in Rumburk [Rumburg] mit 340 Mitgliedern und in Vejprty [Weipert] mit 310 Mitgliedern (Maier 1970: 75). Sie durften allerdings nicht in Südböhmen, Mähren und Schlesien gegründet werden, mit Ausnahme von Brno [Brünn] (Novotný 2002). In den 1970er Jahren wurde der Kulturverband im Zuge der Normalisierung zu parteipolitischen Zwecken eingesetzt. Nichtloyale Mitglieder wurden ausgeschlossen, und der Verband wurde Bestandteil der Nationalfront (Berger 1979: 10-12). Von den Mitgliedern selbst wurde der Kulturverband für seine Kulturtätigkeit überwiegend positiv angenommen. Auch wenn dabei für die Ermöglichung der kulturellen Veranstaltungen politische Schulungen, Vorträge und Runde Tische mit den kommunistischen Funktionären erforderlich waren, waren für die Deutschen vor allem das kulturelle Ereignis und die Unterhaltung in der Muttersprache von Bedeutung. Im Jahre 1990 gründete eine Gruppe der Kulturverbandmitglieder den Verband der Deutschen in der SFR, der als Dachorganisation für die selbst registrierten Verbände in den Regionen diente. Dadurch entstand die Arbeitsgemeinschaft deutscher Verbände. Nach der Teilung der Tschechoslowakei im Jahre 1993 wurde eine neue Organisation der Deutschen ins Leben gerufen, die Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die in der Öffentlichkeit und auch im Ausland als unbelastet durch die Vergangenheit positiv aufgenommen wurde. Auf Grund des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der SFR für gute Nachbarschaft aus dem Jahre 1992 wurden in den Regionen sog. Begegnungszentren errichtet. Zur Annäherung beider Dachverbände, des Kulturverbands und der Landesversammlung, kam es im Jahre 1997 durch eine gemeinsame Erklärung, in der der Wille zur Zusammenarbeit und gegenseitiger Achtung verankert wurde. Nach wie vor handeln jedoch beide Organisationen eigenständig. Die Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien versteht sich als Vertreter der deutschen Minderheit in Tschechien im In- und Ausland, bietet kulturelle Möglichkeiten und ist für verschiedene Meinungen offen. Der Kulturverband pflegt nach wie vor kulturelle Aktivitäten und spricht vor allem die älteren Generationen an. Beide Dachverbände zusammen zählen an die 8.500 Deutsche als Mitglieder; viele Mitglieder sind Mitglieder in beiden Verbänden. Die Zahl der Mitglieder im Kulturverband in dreißig Grundorganisationen wird auf insge- Pavla Tišerová 192 samt 3.500 geschätzt. Die Grundorganisationen sind verschieden groß, von 40 bis 250 Mitgliedern; das Durchschnittsalter liegt bei 69 Jahren. Der Kulturverband hat eine eigene Redaktion, die die Prager Volkszeitung herausgibt. Außerdem stellt er ein Mitglied im Rat der Regierung für die Minderheiten. Der Verband der Deutschen in der SFR, seit 1992 als Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, initiierte in seiner Entstehungsphase die Gründung der heutigen 22 Regionalverbände 19 , darunter 14 Begegnungszentren, und begründete zwei Stiftungen mit: das Bildungs- und Sozialwerk und Bohemia Troppau zur Förderung eigener Mitglieder sowie von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Als eigenes Medium gab der Verband der Deutschen die „Deutsche Zeitung“ heraus; die Landesversammlung initiierte die „Prager Zeitung“ und gibt heute die Landes-Zeitung heraus. Die Landesversammlung ist Mitglied der Föderalistischen Union der europäischen Volksgruppen (FUEV), stellt ebenfalls einen Vertreter im Rat der Regierung für die Minderheiten und 19 Die regionalen Verbände und Begegnungszentren sind: Begegnungszentrum Eger; Begegnungszentrum Trautenau; Böhmerwaldverein Krummau; Bund der Deutschen - Landschaft Egerland; Bund der Deutschen Region Erzgebirge und sein Vorland - Begegnungszentrum Komotau; Deutscher Freundeskreis - Begegnungszentrum Hultschin; Deutscher Freundeskreis - Begegnungszentrum Krawarn; Deutscher Freundeskreis; Deutscher Freundschaftskreis in der Ortschaft Ludgerstal; Deutscher Kulturverband Region Brünn - Begegnungszentrum Brünn; Egerländer Gmoi z’Schlaggenwald - Begegnungszentrum Schlaggenwald; Iglauer Regionalkulturverband; Organisation der Deutschen in Westböhmen - Begegnungszentrum Karl Klostermann, Schlesisch-Deutscher Verband - Begegnungszentrum Troppau; Schlesisch-Deutscher Verband im Hultschiner Ländchen; Schlesisch- Deutscher Verband Jägerndorf; Verband der Deutschen im Bezirk Gablonz - Begegnungszentrum Morchenstern; Verband der Deutschen in der R - Begegnungszentrum Walther Hensel Mährisch Trübau; Verband der Deutschen Nordmähren und Adlergebirge - Begegnungszentrum Mährisch Schönberg; Verband der Deutschen Region Prag und Mittelböhmen; Verband der Deutschen Region Reichenberg - Begegnungszentrum Reichenberg; Verband der Deutschen Regionalverband des Teschner Schlesiens - Begegnungszentrum Haví ov. einen im Koordinierungsrat des deutsch-tschechischen Diskussionsforums. Die Mitgliederzahl beträgt 7.500. Die regionalen Organisationen der Deutschen und die Begegnungszentren vereinen in ihren Reihen auch Mitglieder nichtdeutscher Abstammung. Sie verfolgen Ziele der deutsch-tschechischen Verständigung, der Pflege der Traditionen und des historischen Verständnisses sowie die Wiedergewinnung und Festigung der deutschen Identität (Deutsch 2000: 40). Neben kulturellen und landeskundlichen Programmen bieten sie weiterhin eigenständige Programme an, wie z.B. Ferienlager, Kinder- und Muttertage, Ausstellungen, Bildungsseminare, Projektarbeiten u.ä. Sie übernehmen auch den Deutschunterricht für Vorschulkinder, Schulkinder und Erwachsene in Anfänger- und Fortgeschrittenengruppen und haben eine eigene Verbandspresse (Mitteilungsblätter). Einige der Zentren haben eine Grundausstattung von Fachbüchern für den Deutschunterricht erhalten, die den Deutschlehrkräften in der Region zur Verfügung steht. Die Tätigkeit der Verbände und Begegnungszentren bleibt jedoch überwiegend auf die Unterhaltungsebene beschränkt, vor allem mit Hinblick auf das Alter der Mitglieder, auch wenn einige aktive Mitglieder und Vorstandsmitglieder oft über weitere Möglichkeiten wie die Teilnahme an Veranstaltungen mit Deutschen, Kulturabenden, Begegnungen mit Partner-, Patenstädten u.a. verfügen. Die Verzahnung der beiden Verbände durch doppelte Mitgliedschaft einzelner Mitglieder oder Gruppen kann am Beispiel der Verbände der Deutschen in Westböhmen veranschaulicht werden: Der Kulturverband registriert dort seine Grundorganisationen in Aš [Asch], Skalná [Wildstein], Sokolov [Falkenau], Kraslice [Graslitz], Chodov [Chodau], Karlovy Vary [Karlsbad] und Pernink [Bärringen]. Die meisten Gruppen haben im Durchschnitt 100 Mitglieder. Die Grundorganisationen in Aš, Skalná, Sokolov, Chodov und Kraslice sind auch Mitglieder beim Bund der Deutschen - Landschaft Egerland mit Sitz in Cheb [Eger] im Balthasar-Neumann- Haus, der wiederum Mitglied der Landesversammlung ist. Der „Bund der Deutschen: 5. Tschechien 193 Landschaft Egerland“ ist mit 1.200 Mitgliedern und zehn Ortsgruppen der größte regionale Verband der Deutschen in Tschechien überhaupt. 4.3.2 Kulturelle Institutionen Für die kulturelle Tätigkeit der deutschen Minderheit in der Zeit von 1945 bis 1989 gab es nur wenig Freiraum, es gab kein eigenständiges freies Kulturleben, da Aktivitäten jeglicher Art strengem politischem Reglement unterlagen (Grulich 1986). Im Jahre 1952 durften erste Kulturgruppen zum Zweck der Freizeitgestaltung im Sinne des sozialistischen Aufbaus entstehen. 1959 gab es 35 solcher Gruppen (Aufbau und Frieden 61/ 1959). Im Jahre 1954 wurde die Staatliche Wanderbühne in Prag gegründet. Das deutsche Schauspielensemble wirkte beim Staatlichen Wandertheater in Prag und bereitete das Programm für deutsche Werktätige vor (Aufbau und Frieden 68/ 1955). Auf dem Programm standen Werke von Schiller, Gogol, Wilde, Goldoni, Klicpera u.a. (Aufbau und Frieden 104/ 1955; 1/ 1958). In Folge mangelnden Interesses wurde das Wandertheater 1957 geschlossen. In den Regionen konzentrierte sich die Kulturtätigkeit bis 1989 auf Filmvorführungen überwiegend sozialistischer Provenienz, deutschsprachige Filme waren darunter eine Seltenheit (Aufbau und Frieden 64/ 1959). Die Betriebs- und Gemeindebibliotheken hatten in ihren Beständen eine unzufriedenstellende Auswahl an deutschsprachiger Literatur. Erst nach der Gründung des regimetreuen Kulturverbandes der Bürger deutscher Nationalität gelang es im höheren Maße, kulturelle Aktivitäten zu betreiben. Es wurden u.a. Betriebsfahrten in die Partnerbetriebe, Exkursionen in die Partnerstädte und Besuche kultureller Events in der DDR veranstaltet, die sich hoher Beliebtheit erfreuten. Nach 1989 erfuhren die kulturellen Aktivitäten eine Wiederbelebung. Der Nachholbedarf war groß, die Förderung durch die staatlichen Behörden im In- und Ausland ließ nicht lange auf sich warten. Für die deutsche Minderheit wurden Begegnungszentren gegründet, es entstanden Tanz- und Trachtengruppen, von den Verbänden werden Ausstellungen, Konzerte, Seminare u.ä. veranstaltet, Mitteilungsblätter werden herausgegeben. Trotzdem hält der allgemeine Trend des immer geringeren kulturellen Engagements der deutschen Volksgruppe an. Meistbesucht bleiben nach wie vor Ausflüge und Feste, Veranstaltungen mit Deutschen bzw. Sudetendeutschen sowie Gottesdienste. Eine besondere Bedeutung kommt den seit 1989 entstandenen kulturellen Institutionen mit landesweiter Wirkung zu, die in den Bereichen der kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit grenzüberschreitend tätig sind. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds in Prag hat die Aufgabe, Mittel zur Finanzierung von Kooperationsprojekten gemeinsamen Interesses der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland bereitzustellen. Solche Projekte sollen die Annäherung und Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen fördern, die Zahl beidseitiger Begegnungen erhöhen und eine in die Zukunft gerichtete Zusammenarbeit ermöglichen. Die Aktion „Österreich-Tschechische Republik, Wissenschafts- und Erziehungskooperation“ in Prag wurde 1992 als ein bilaterales Wirtschaftsförderprogramm ins Leben gerufen. Sie fördert Kooperationen zwischen Universitäten, Hochschulen und sonstigen tertiären Bildungseinrichtungen in Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie Mobilität von Studierenden und Akademikern. Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer, 1993 in Prag eröffnet, vertritt den Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT). Zum Dienstleistungsangebot zählen Bearbeitung von Kooperationsanzeigen, Vermittlung von Adressen, Gewährung von Handels- und Bonitätsauskünften, Unterstützung bei der Suche nach Geschäftspartnern, Erteilung von Informationen über Zoll- und Einfuhrverfahren, wirtschaftsrechtliche Auskünfte, Informationen zu Messen u.ä. Das Programm des Goethe-Instituts in Prag hat die Intensivierung des deutschtschechischen und des europäischen Dialogs auf kulturellem Gebiet sowie die Vermittlung eines differenzierten Bildes des aktuellen kulturellen Geschehens in Deutschland zum Ziel. Neben kulturellen Veranstaltungen wie Pavla Tišerová 194 Filmvorführungen, Theater-Werkstätten, Schriftstellerlesungen, Ausstellungen, mehrsprachigen Kinderfesten u.ä. unterstützt das Goethe- Institut alle Deutschlehrenden und -lernenden mit Bibliotheken, Sprachkursen, Fach- und Fortbildungsseminaren, Studienreisen, Stipendien, Beratungen usw. Das Österreichische Kulturinstitut in Prag und das Österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut in Brno [Brünn] dienen als Zentren und Vermittlungsstellen der österreichischen kulturellen Aktivitäten in Tschechien. Sie fördern kulturelle und wissenschaftliche Projekte, unterhalten Bibliotheken und koordinieren Aktivitäten im Bereich der Kultur, Bildung und Wissenschaft. Für die Vertiefung der deutsch-tschechischen Beziehungen setzen sich auch die Tschechisch-Deutsche Gesellschaft in Prag und die Deutsch-Tschechische Gesellschaft in Hamburg ein, indem sie Studienreisen nach Prag und Ausstellungen tschechischer Künstler in Hamburg organisieren, Bildungsseminare zu politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Themen veranstalten, Schüler- und Studentenaustausch fördern usw. Der deutsch-tschechische Jugendaustausch wird gefördert durch die Institutionen Tandem - Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch in Regensburg und Koordnina ní centrum esko-n meckých vým n mládeže in Plze [Pilsen], durch Partnerbörsen, Fortbildungsseminare, Beratungen, Hospitationen, Austausch zur beruflichen Orientierung u.a. Seit Anfang der 1990er Jahre wächst auch die Zahl der Schulpartnerschaften. Die Fremdspracheninstitute der Universitäten fördern bei Studierenden aller Fächer die Kenntnis von zwei Fremdsprachen, darunter auch Deutsch. Die dabei gewonnenen fachbezogenen Sprachkenntnisse sind ein wichtiger Bestandteil der akademischen Qualifikationsprofile. Der 1990 in Prag gegründete Tschechische Germanisten- und Deutschlehrerverband verfolgt das Ziel, das Niveau des Deutschunterrichts in allen Schultypen zu verbessern. Er unternimmt Aktivitäten zur Weiterbildung der Deutschlehrenden, gibt die Verbandszeitschrift „Auskunftsgeber“ heraus, pflegt Kontakte zu Verbänden im Ausland, betreut Lehrmittelzentren, beteiligt sich an der Deutsch-Olympiade und arbeitet am Entwurf der Abiturprüfungen mit. Der Germanistenverband der Tschechischen Republik wurde im Jahre 1999 in Prag gegründet; er hat die Koordination der Lehrprogramme des Germanistikstudiums, Unterstützung der wissenschaftlichen Publikationstätigkeit, die Zusammenarbeit mit anderen akademischen Institutionen im In- und Ausland u.a. zum Ziel. Die Goethe-Gesellschaft in der Tschechischen Republik wurde 1999 in Prag gegründet; sie setzt sich zum Ziel, der tschechischen Öffentlichkeit das Werk von Goethe näher zu bringen und das Interesse für das kulturelle Schaffen seiner Zeit zu vertiefen (Deutsch 2000). 4.3.3 Medien Die deutsche Minderheit in Tschechien nutzt die Möglichkeiten eigener Presse- und Rundfunkmedien. Bereits Anfang der 1950er Jahre wurde vom Zentralrat der Gewerkschaften im Gewerkschaftsverlag Práce die erste deutsche Zeitung herausgebracht. Sie hieß „Aufbau und Frieden“, erschien seit 1951 zunächst dreimal in der Woche mit einem Umfang von acht Seiten, mit dem Untertitel „Wochenblatt der deutschen Werktätigen in der Tschechoslowakei“; seit 1953 erscheint sie zweimal wöchentlich mit zehn Seiten. Die Auflage zählte ca. 5.000 Exemplare. Die Zeitung unterlag starker Zensur, es wurde wenig über die Belange der Deutschen berichtet, dafür mehr über Politik. Seit 1953 erschienen die Zeitschriften „Freundschaft“ und „Das rote Halstuch“ als didaktische Hilfsmittel für deutschlernende Kinder. Seit 1966 erscheint einmal wöchentlich die „Prager Volkszeitung“, mit regionalen Redaktionen in Karlovy Vary [Karlsbad], Ústí nad Labem [Aussig an der Elbe] und Liberec [Reichenberg], seit 1968 mit dem Untertitel „Zeitung der deutschen Werktätigen“. Die „Prager Volkszeitung“ wurde 1969 zum Presseblatt des Kulturverbandes der Bürger deutscher Nationalität. Das Periodikum diente primär zentralpropagandistischen Zwecken, auch wenn die Berichterstattung mitunter die Aktivitäten einzelner Grundorganisationen berücksichtigte. Seit 1991 erscheint sie wöchentlich als „Prager Zeitung“ und informiert über aktuel- 5. Tschechien 195 le Ereignisse aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Fremdenverkehr, Kultur, Regionen und internationale Begegnungen. Mit den regelmäßig erscheinenden Beilagen „Prager Wirtschaftszeitung“, „Prager Tageblatt“, sowie Literatur-, Regional-, Immobiliensowie thematischen Fachbeilagen zu Messen und Festivals kommt sie auch den Leseransprüchen näher. Sie ist an Kiosken, auf Bahnhöfen und Flughäfen in Tschechien und in den europäischen Metropolen sowie im Abonnement erhältlich. Auf deutsch erschien außerdem die „Neue Prager Presse“ und „Tschechoslowakisches Leben“, allerdings beide vor allen auf die ausländischen Touristen orientiert. Die „Landes-Zeitung“ ist das Presseorgan der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien und wird seit 1990 mit Unterstützung der tschechischen Regierung herausgegeben. Die inhaltliche Gestaltung führt ein leitender Redakteur mit dem Präsidenten der Landesversammlung. Es wird über aktuelle politische und kulturelle Themen berichtet, genügend Raum wird den Regionalverbänden zur Verfügung gestellt. Die Zeitung erscheint vierzehntägig in einer Auflage von 5.000 Exemplaren. Die Pressearbeit der einzelnen Verbände ist besonders wichtig für den Kontakt zu den Mitgliedern und für diese nicht selten der einzige Zugang zur deutschsprachigen Presse. Außer wichtiger Verbandsnachrichten enthalten die verbandseigenen Mitteilungsblätter auch Landeskundliches und Geschichtliches über die Region sowie Unterhaltungsecken. Sie werden den Mitgliedern in der Regel kostenlos zugeschickt. Ein nicht an die Minderheitenverbände gebundenes deutschsprachiges Periodikum gibt die Redaktion Lidové noviny unter dem Titel „Deutsches Blatt - N mecký list“ heraus. Es erscheint jeden Freitag als wöchentliche Sonderseite der Tageszeitung „Lidové noviny“ und enthält jeweils drei bis vier authentische Artikel aus der aktuellen deutschen Presse aus verschiedenen Themenbereichen. Die Texte werden mit tschechischen Übersetzungen schwieriger Ausdrücke versehen. Für Deutschlernende bietet das Blatt Anregungen zu Diskussionen im Unterricht (Deutsch 2000: 47). Deutschsprachige Rundfunkprogramme gibt es seit 1936, als Radio Praha begann, bestimmte Sendungen für das Ausland auszustrahlen. Das deutschsprachige Programm wird viermal täglich je eine halbe Stunde auf Kurzwelle und zweimal täglich über Satellit gesendet; es bietet in Nachrichten, aktuellen Beitragsblöcken und Sendereihen überwiegend Einblicke in das aktuelle Geschehen in Tschechien. (Die geschriebene Berichterstattung ist unter www.radio.cz abrufbar.) Eigene Rundfunksendungen für die deutsche Minderheit gibt es seit 1968 im Tschechischen Rundfunk, zunächst mit einem Umfang von ein bis zwei Wochenstunden, dann ab 1971 mit 15 bis 60 Minuten täglich. Ende der 1980er Jahre waren es schon 25 Minuten an Werktagen und 60 Minuten an Sonntagen (Born/ Dickgießer 1989: 224). An der jetzigen Ausstrahlung einer Sendung in deutscher Sprache am Mittwoch und Donnerstag von 19.00 bis 19.15 Uhr beteiligen sich beide Dachverbände der Deutschen. Seitens der Zuhörer wird dem jedoch nur wenig Interesse entgegen gebracht. In den Grenzregionen werden in der Regel ausländische deutschsprachige Sender empfangen. Ein eigenständiges deutschsprachiges Programm im staatlichen Tschechischen Fernsehen konnte trotz allen Bemühungen der deutschen Verbände bislang nicht durchgesetzt werden (Piverka 1993). 4.4 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Durch die Verordnung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom 19. November 1956 wurden in den Landkreisen mit höheren Anteilen deutscher Bevölkerung bei den Nationalausschüssen besondere Kommissionen für Minderheiten eingesetzt. Diese erfüllten, unter ständiger Kontrolle der Staatspolizei, vor allem politisch-ideologische Aufsichtsaufgaben. Erst allmählich durfte es zur Belebung der Kontakte und Reisefreiheit mit der DDR kommen. Im Jahre 1956 wurde das Kultur- und Informationszentrum der DDR in Prag eingerichtet. Anfang der 1960er Jahre setzte sich in der Partei- und Staatsführung Pavla Tišerová 196 eine Doktrin durch, wonach die deutsche Frage in der Tschechoslowakei mit der sogenannten Abschiebung endgültig gelöst sei und keiner weiteren Maßnahmen bedürfe. Die Gleichberechtigung aller Bürger ohne Rücksicht auf ihre Nationalität wurde im Artikel 20, Abs. 1 und 2 der Verfassungsurkunde vom 11. Juli 1960 verankert. Im Artikel 25 garantierte der Staat den Bürgern ungarischer, polnischer und ukrainischer Nationalität alle Möglichkeiten und Mittel zur Bildung in ihrer Muttersprache sowie zur kulturellen Entfaltung. Die deutsche Minderheit wurde dabei überhaupt nicht erwähnt, was der öffentlichen Meinung entsprach, dass es im Lande keine ethnische Volksgruppe der Deutschen mehr gäbe (Chocholatý 1998). Mit dem neuen Zugang zur Frage der nationalen Minderheiten in der Tschechoslowakei durch das Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei vom 5. April 1968 und durch das neue Regierungsprogramm vom 24. April 1968 kam es zu einem neuen Diskurs über die Perspektiven der deutschen Minderheit im Rahmen der Demokratisierungsprozesse. Es gab intensive Bestrebungen zur Gründung einer kulturellen Organisation. Am 8. November 1968 veröffentlichte die „Prager Volkszeitung“ den Entwurf der Programmerklärung des Kulturverbandes, der am 25. April 1969 als „Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität der SSR“ vom Innenministerium genehmigt wurde; am 14. Juni 1969 fand in Prag die konstituierende Versammlung statt. Ziel des Kulturverbandes war, die kulturellen Bedürfnisse der tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität zu befriedigen, ihre Interessen zu wahren und dazu beizutragen, dass sie im Land zufrieden leben und darin ihre Heimat sehen. Schon Ende des Jahres zählte der Kulturverband 72 Grundorganisationen mit 4.961 Mitgliedern. In den Jahren der Normalisierung nach 1970 fand das gesellschaftspolitische Klima auch im Kulturverband seinen Niederschlag. Im kulturellen Leben spielte das Kultur- und Informationszentrum der DDR in Prag eine bedeutsame Rolle. Nach 1968 stiegen die Zahlen der Ausreiseanträge, überwiegend ins deutschsprachige Ausland, deutlich an, womit die Bevölkerungszahl der Deutschen in der Tschechoslowakei weiter absank. 20 Zum 7. Juni 1980 zählte der Kulturverband in 62 Grundorganisationen 9.807 Mitglieder mit einem durchschnittlichen Alter von 64 Jahren, bis Mitte der 1980er Jahre sank die Mitgliederzahl auf 7.732. Einige Mitglieder des Kulturverbands wurden im Jahre 1981 in die Gemeindevertretungen gewählt, es gab 408 Abgeordnete deutscher Nationalität in den Nationalausschüssen, außerdem wurden ein Abgeordneter in den Tschechischen Nationalrat und zwei in die Föderalversammlung gewählt. Die Abgeordneten vertraten jedoch nicht ihre Volksgruppe, sondern die Wähler ihres Wahlbezirks. Erst Ende der 1980er Jahre verspürte man eine etwas gemäßigtere Einstellung der Kommunistischen Partei gegenüber der deutschen Minderheit und ihren Belangen (Novotný 2002). Heute leben nur noch knapp 40.000 Menschen deutscher Nationalität in Tschechien. Allerdings findet man sie nicht mehr in zusammenhängend besiedelten Räumen oder in geschlossenen Sprachinseln, sondern in kleinen Gruppen über das ganze Land verstreut (verstärkt jedoch in den Grenzregionen). Aufgrund dieser Streulage wurden bereits seit 1968 keine Grundschulen mit deutscher Unterrichtssprache mehr eingerichtet, woran sich bis heute nichts geändert hat. Wenn Deutsch gelehrt wird, dann fakultativ. Die ehemals zweite Landessprache hat sich im Zuge der gravierenden Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und der darauffolgenden assimilierenden Minderheitenpolitik in der Tschechoslowakei gegenüber der deutschen Minderheit zu einer Fremdsprache entwickelt. Dennoch spielt Deutsch keine unbedeutende Rolle in Tschechien. Obwohl es nur noch wenige deutsche Muttersprachler gibt, gewinnt aber das Deutsche ständig, wenn auch aus anderen Gründen, an Bedeutung. Dieses 20 Im Jahre 1965 siedelten 3.210 Deutsche aus, im Jahre 1966 waren es 5.925 Personen, 1967 bereits 11.628 Personen. Die stärkste Aussiedlungswelle fällt in die Zeit 1968/ 69, als 27.456 Deutsche das Land verließen. In den Jahren 1970 bis 1980 siedelten 8.703 Deutsche aus, bis 1985 dann noch weitere 1.529 Personen (Chocholatý 1998). 5. Tschechien 197 neue Interesse an der deutschen Sprache ist überwiegend durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt, wie z.B. Niederlassungen deutscher und österreichischer Firmen und zunehmenden Massentourismus aus Deutschland und Österreich. Die sich so ergebenden neuen Sprachkontakte führen besonders in den Grenzgebieten zu einer neuen Zweisprachigkeit, nämlich mit Tschechisch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache (Born/ Dickgießer 1989: 224). Dabei beruht die Zweisprachigkeit auf Seiten der Tschechen oft auf der Notwendigkeit zur Kommunikation im Betrieb. Die deutschen Mitarbeiter tun sich dagegen meist sehr schwer, die tschechische Sprache zu erlernen, weswegen sich die tschechischen Mitarbeiter gezwungen sehen, sich Deutsch anzueignen (Höhne/ Nekula 1997: 107). Die Sprachpolitik auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik änderte sich mit den wechselnden Staatsformen. Die Tschechoslowakei verpflichtete sich bei ihrer Gründung im Jahre 1918 durch die Konzeption eines einheitlichen tschechoslowakischen Volkes zur tschechoslowakischen Sprache, die zwei Formen aufweisen würde: die tschechische und die slowakische. Das Ziel war eine allmähliche Annäherung beider Sprachen über die passive tschechisch-slowakische Zweisprachigkeit. Sie fand ihr Ende durch die Trennung beider Länder im Jahre 1993. Die Sprachpolitik bezüglich des Deutschen durchlief unterschiedliche Etappen. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatten die Deutschen, ähnlich wie andere Minderheiten in der Tschechoslowakei, eine Reihe sprachlicher und kultureller Rechte, die in Bezirken mit einem Minderheitenanteil über 20 Prozent wirksam wurden. Die Deutschen besaßen ein ausgedehntes System von Grund-, Mittel- und Fachschulen und in Prag auch eine Universität (Nekvapil 1997: 1646). Die Sprachpolitik während des Zweiten Weltkriegs stand unter dem Zeichen der gewaltsamen Germanisierung (Malý 1991). Nach dem Kriegsende und nach den Vertreibungs- und Zwangsaussiedlungsprozessen waren die verbliebenen Deutschen in Tschechien einer stark diskriminierenden Sprach- und Minderheitenpolitik ausgesetzt. So erhielten sie die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit erst im Jahre 1953. 21 Seit dieser Zeit besaßen sie auch das durch das Verfassungsgesetz Nr. 144 garantierte Recht auf Bildung in der Muttersprache. Die Kommunikation in der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit wurde nicht mehr wesentlich eingeschränkt, ihre Benutzung bei Gerichtsverhandlungen wurde rechtlich geregelt. Die Praxis im amtlichen schriftlichen oder mündlichen Verkehr war jedoch von Ort zu Ort unterschiedlich. Obwohl der Unterricht in der Minderheitensprache rechtlich zugesichert war, gab es keine Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache. Das größte Hindernis war die Streulage der deutschen Bevölkerung und die fortgeschrittene Assimilierung in der jüngsten Generation. Die einzige Möglichkeit, Deutsch in der Schule zu erlernen, hatten die Schüler im Wahlfach Deutsch (Sprachzirkel). Dies geschah allerdings nur zweimal in der Woche, meistens nachmittags, außerhalb der regulären Unterrichtszeit. Der Unterricht litt unter mangelnden Deutschkenntnissen der Lehrer, technisch-organisatorischen Hindernissen, sinkendem Interesse bei den Eltern sowie erhöhten Leistungsanforderungen an Schüler in den Fächern Tschechisch und Russisch (Bahlcke 1992: 171f.). Die Sprachzirkel entstanden auf Antrag der Eltern und nach Genehmigung der örtlichen Nationalausschüsse. Die interessierten Kinder konnten sie erst ab dem 6. Schuljahr besuchen (Kuhn 1988: 116). Eingeführt wurden auch deutsche Bücher in Bibliotheken, die deutschsprachige Zeitung 21 Die Bedingungen zur Erlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft wurden in der Verordnung vom 29.11.1949, Nr. 252 Slg. verankert. Den Antragstellern über 15 Jahre wurde ein Bürgereid abverlangt. Die Bescheinigung über die Staatsangehörigkeit erwarben nur Personen mit erstem Wohnsitz in der Tschechoslowakei, die sich ihren Pflichten als Staatsbürger nicht widersetzten. Die Antragsfrist war vom 1.5. bis 31.10.1950. Den Rechtsstatus einer Minderheit erlangten die Deutschen erst durch das Gesetz Nr. 144 Slg. vom 27.10.1968 über die Stellung der Nationalminderheiten in der SSR. Das Gesetz garantierte ihnen die Gleichstellung als eigenständiges Ethnikum und staatsbildendes Subjekt (Chocholatý 1998). Pavla Tišerová 198 „Aufbau und Frieden“, die Monatzeitschrift „Freundschaft“, die „Zeitschrift für die deutsche Jugend der Tschechoslowakei“ mit einer Beilage „Unsere Muttersprache“ und die Zeitschrift „Das rote Halstuch“. Daneben gab es Kulturgruppen und Laienspieltheater. Das Interesse an Deutsch als Fremdsprache wuchs seit den 1960er Jahren in der tschechischen Öffentlichkeit kontinuierlich. Deutsch gehörte gemeinsam mit Englisch (neben dem Pflichtfach Russisch) zu den meist unterrichteten Fremdsprachen. Die Deutschkenntnisse, vor allem bei den jungen Menschen, wurden jedoch immer geringer. In der Verordnung Nr. 19 des Ministeriums für Schulwesen von 1971 über die Ausbildung von Schülern und Lehrlingen der slowakischen, polnischen und deutschen Nationalität wurde der Unterricht in der Muttersprache ermöglicht, allerdings nur unter der Bedingung, dass 30 Anträge von Eltern bzw. Erziehungsberechtigen vorlägen. Dass diese Zahl dann in der Praxis nicht erreicht wurde, ist auf die bereits genannten Hindernisse der Streulage, fortgeschrittener Assimilierung sowie Furcht in der deutschen Bevölkerung vor möglichen Benachteiligungen zurückzuführen. 22 Nach 1989 stieg das Interesse an Deutsch als Unterrichts- und Fremdsprache erheblich (Vasiljev 1993: 55). Der Verband der Deutschen und die Landesversammlung forderten eine positive Diskriminierung zur Wiedergutmachung der Folgen der benachteiligenden Bildungspolitik gegenüber der deutschen Minderheit (Veiter 1994: 73). Sie streben nach wie vor die Errichtung bilingualer Schulen bzw. die Erstellung bilingualer Lehrpläne an. Tatsächlich erlaubt die Streulage jedoch höchstens die Schaffung eines bilingualen Schulwesens ohne Unterschied der Nationalität, basierend auf dem Interesse an der deutschen Sprache. Im Jahre 1991 gründete der Ver- 22 Im Schuljahr 1979/ 80 waren von 2 Millionen schulpflichtigen Kindern in der Grundschule 1.296 Deutsche, 360 Deutsche waren in der Sekundärstufe, 34 besuchten eine vierjährige Lehrfachschule mit Reifeprüfung (Sokolová 1987: 58,196). Im Jahre 1988 besuchten 64 Studenten deutscher Nationalität eine Hochschule (Stan k 1993: 107). band der Deutschen eine private bilinguale deutsch-tschechische Grundschule in Prag (Oschlies 1991: 30). Im gleichen Jahr wurde eine Klasse mit den Unterrichtssprachen Tschechisch und Deutsch an einer staatlichen Grundschule in eský Krumlov [Krummau] eröffnet. Man begann auch, den Deutscherwerb in den Kindergärten zu fördern. 1995 gründete der Verband der Deutschen, Region Prag und Mittelböhmen, das Thomas-Mann- Gymnasium in Prag. Inzwischen entstanden weitere Grundschulen, Gymnasien und eine Auslandschule (Götze 1996: 368). Deutschlernende Schüler können alljährlich an der Deutsch-Olympiade, einem landesweiten Konversationswettbewerb, teilnehmen. Einige weitere Projekte zum gemeinsamen bilingualen und binationalen Bildungswesen folgten dann in den 1990er Jahren, so dass es inzwischen die erste grenzüberschreitende Beschulung tschechischer Kinder in Deutschland und deutscher Kinder in Tschechien in Vejprty [Weipert] und Chomutov [Komotau] gibt; in Bärenstein (Erzgebirge) wird die Gründung einer gemeinsamen Internationalen Schule erwogen u.ä. In den angrenzenden Regionen in Deutschland und Österreich wird wiederum die Einführung des Tschechischen als curriculare Sprache angestrebt. Im Jahre 2004 wurden dementsprechend in Sachsen neue Lehrpläne für Tschechisch an Grund-, Mittelschulen und Gymnasien eingeführt. Am binationalen Gymnasium in Pirna wurde 2004 das erste tschechische Abitur abgelegt. Deutsch als Unterrichtssprache wird heute an folgenden bilingualen Schulen angeboten: Grundschule Grenzenlose Schule - Škola bez hranic in Hartau und Hrádek nad Nisou, zwei staatliche Gymnasien mit tschechischem und deutschem Abitur in Liberec [Reichenberg] und Prag, Bischöfliches Gymnasium in Brno [Brünn], binationales Gymnasium in Pirna/ Sachsen, Deutsche Schule in Prag, Grundschule der deutsch-tschechischen Verständigung und Thomas-Mann-Gymnasium in Prag, Österreichische Schule in Prag, Gymnasium in Šternberk [Sternberg], Bernard-Bolzano- Grundschule in Tábor und Zweisprachiges Gymnasium in Znojmo [Znaim]. Bis heute hält der Trend aus der zweiten Hälfte des 20. 5. Tschechien 199 Jahrhunderts an, wonach die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Tschechien nur die Grundschulbildung besitzt. Der Zugang zur höheren Bildung war bis 1989 stark durch ihre Nationalität eingeschränkt. Die Deutschen durften nicht studieren, wodurch deren Assimilierung bzw. völlige Auflösung der Volksgruppe beschleunigt werden sollte (Novotný 2002). 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen In den Sprachregionen, wo die tschechische und die deutsche Bevölkerung nebeneinander lebte und wo mindestens teilweise Zweisprachigkeit herrschte, stellt sich die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Sprachen. Durch die Kontaktsprachenforschung wurde nachgewiesen, dass viele Erscheinungen, die auf den tschechischen Einfluss auf das Deutsche in Tschechien deuteten, tatsächlich in ganz Österreich verbreitet waren. Daneben bleibt jedoch unbestritten, dass es in den Varietäten des Deutschen in Tschechien Bohemismen gibt. Sie werden am stärksten im Deutschen derjenigen Tschechen vermutet, die das Deutsche als zweite Sprache erworben haben, z.B. indem sie tschechische Wendungen wörtlich ins Deutsche übertragen (Povejšil 1980: 109). 5.1.1 Kontaktsprachen des Deutschen Die Kontaktsprachen des Deutschen auf dem Gebiet der Tschechischen Republik sind vor allem das Tschechische, in den Grenzregionen zur Slowakei und zu Polen auch das Slowakische und das Polnische. Weitere Kontaktsprachen sind bzw. waren Mährisch, Schlesisch, Romani, Ukrainisch, Russisch, Ruthenisch, Ungarisch 23 (Nekvapil 1997: 1647), Vietna- 23 In Tschechien lebten nach der Volkszählung im Jahre 1991 knapp 20.000 Ungarn, wobei im Laufe des 20. Jahrhunderts jeweils ein leichter Zuwachs beobachtet werden kann. Bei der letzten Volkszählung 2001 wurde die ungarische Volkszugehörigkeit nicht erhoben. Die Ungarn in Tschechien gehören nicht zu den autochthonen Minderheiten, sondern leben zerstreut in allen Bezirken Tschechiens, besonders in mesisch (Preis 1997) oder das allerdings seltene Kroatisch in Südmähren, das inzwischen als ausgestorben gilt (Fürst 2003). Dabei hat der Kontakt zwischen Tschechisch und Deutsch die längste Tradition. Schon seit dem 9. Jahrhundert kann man offensichtlich von einer tschechisch-deutschen Zweisprachigkeit sprechen als Ergebnis des Zusammenlebens der Tschechen und der Deutschen in Böhmen, Mähren und Mährisch- Schlesien (Skála 1964, 1977). Die Besiedlung des Territoriums durch die beiden Volksgruppen und die dadurch entstandenen Sprachkontakte und Sprachgrenzen 24 wird historisch u.a. von den Ortsnamentypen dokumentiert, die bereits zu Beginn der deutschen Kolonisation ein engmaschiges Netz von tschechischen Ortschaften nachweisen. Der Umfang des tschechischen Altsiedelgebietes 25 in Böhmen bis etwa 1250 lässt sich durch folgende größere Orte abstecken: D ín [Tetschen] - Teplice [Teplitz] - Kada [Kaaden] - Teplá [Tepl] - P imda [Pfraumberg] - Domažlice [Taus] - Klatovy [Klattau] - Sušice [Schüttenhofen] - Prachatice [Prachatitz] - eské Bud jovice [Budweis] - Jind ich v Hradec [Neuhaus] - Pacov - áslav [Tschaslau] - Chrudim - Litomyšl [Leitomischl] - Jarom - Ji ín - Železný Brod [Eisenbrod] - eský Dub [Böhmisch Aicha] - Mladá Boleslav [Jungbunzlau] - D ín [Tetschen]. Als Trennungslinie zwischen der dünner besiedelten südwestlichen Hälfte und der fruchtbareren Nordosthälfte Böhmens, wo das Ortsnamennetz etwa dreimal dichter war, ist die Verbindung Kada [Kaaden] - Podbo any [Podersam] - Kladno den Industriegebieten im Westen und Norden Böhmens, im Norden Mährens (Landkreis Karviná) sowie in Prag (Nekvapil 1997: 1647). 24 Der heutige Stand der Sprachgrenze kristallisierte sich, bis auf kleinere Verschiebungen in Folge der Industrialisierung, um 1750-1780 heraus (Skála 1997). 25 Zu Böhmen gehörte außerdem bis 1346 die Zittauer Gegend und bis 1763 die Grafschaft Glatz. Das Egerland, das im 12. Jahrhundert eingedeutscht wurde, reichte ursprünglich bis zum Fichtelgebirge. 1322 wurde das Egerland an Böhmen verpfändet und kam unter böhmischen Einfluss. Heute gehört zu Böhmen ungefähr ein Drittel des historischen Egerlandes (Skála 1997). Pavla Tišerová 200 - so dass beide Sp or (‘Waschuptkommunikationsmittel ist hier Slowa bewegt, während die Beroun [Beraun] - Benešov - Vlašim anzusetzen (Skála 1997). Das Tschechische gliedert sich in drei Dialektareale: Es gibt nordosttschechische, mitteltschechische und südwesttschechische Mundarten (B li 1972). Die Lautveränderungen bei beiden Sprachen in Böhmen, dem Tschechischen und dem Deutschen, gingen jeweils eigene Wege. Es zeigt sich nämlich, „dass die deutschen und tschechischen Isoglossen nirgends aneinander anknüpfen, rachen in Böhmen als völlig autonom zu betrachten sind.“ (Skála 1997). Für die deutsche Sprache in Böhmen waren - auf Grund der Nähe zu Sachsen - mittelbzw. hochdeutsche Elemente in der nordböhmischen Umgangssprache charakteristisch. In den restlichen Arealen überwogen dagegen oberdeutsche Spracherscheinungen (Beranek 1970: 3). Ein auffälliges Kontaktphänomen sind tschechische Lehnwörter, sowohl in den Mundarten, als auch in der deutschen Umgangs- und Standardsprache, z.B. Straka (‘Elster’), Malina (‘Himbeere’), Kasch, Gasch (‘Brei’), Grenze, Gurke, Stieglitz u.v.m. (vgl. Skála 1964: 71, Kühnel 1988: 24, Müller 1995). Außerdem gelangte durch die historische Einheit der österreichischen und böhmischen Länder eine nicht geringe Anzahl von Austriazismen in die Umgangssprache, z.B. Law schüssel’), Paradeiser (‘Tomaten’), Erdäpfel (‘Kartoffeln’) (Kühnel 1988: 24). 5.1.2 Kontaktsprachen des Tschechischen Für den Sprachkontakt des Tschechischen in der Tschechischen Republik sind neben dem Deutschen vor allem das Slowakische, das Polnische und die Sprache der Roma prägend. Tschechisch und Slowakisch standen sich dabei von jeher strukturell sehr nahe. In der kommunikativen Praxis bedeutet das, dass sich die Slowaken und Tschechen jeweils ihrer Muttersprachen bedienen können und sich trotzdem gut untereinander verständigen. Dieser sog. passive Bilingualismus (bzw. Semikommunikation) war eines der bestimmenden Elemente der Sprach- und Nationalitätenpolitik in Tschechien und in der Slowakei bis 1993 (Nekvapil 1997: 1644). Die soziologischen Untersuchungen über das Sprachverhalten der Slowaken an Orten ihrer erhöhten Konzentration in Tschechien belegen einen allmählichen Übergang vom Slowakischen zum Tschechischen, und das nicht nur im Kontakt der Slowaken mit anderssprachigen Mitbürgern am Arbeitsplatz, sondern auch im Rahmen der Familienkommunikation: 20,8 Prozent Slowaken aus Nordböhmen, die sich zum Slowakischen als ihrer Muttersprache bekennen, führten an, dass sie in der Familie vorwiegend Tschechisch sprechen, 63,4 Prozent geben Tschechisch und Slowakisch an, und nur 10,4 Prozent sprechen in der Familie vorwiegend Slowakisch (Sokolová 1991). In Nordmähren, in der Gegend von Ostrava [Ostrau], einem weiteren Gebiet mit einer hohen Konzentration slowakischer Bevölkerung, ist die Orientierung zum Slowakischen hin zwar etwas höher, trotzdem belegten die festgestellten Daten auch hier eine relativ schnelle sprachliche Assimilierung in Richtung Tschechisch. Das Ha kisch bei 32,8 Prozent Slowaken (Sokolová 1992). Zum Sprachkontakt zwischen Tschechisch und Polnisch kommt es hauptsächlich im Grenzgebiet zu Polen in Nordmähren, im Gebiet von Ostrava. Die tschechische Dialektologie spricht über dieses Territorium als das tschechisch-polnische Sprach-Grenzland bzw. über das Mundartgebiet des polnisch-tschechischen Mischstreifens. Da es hier aber schon seit langem auch eine bedeutende Konzentration von Slowaken gibt, kommt es zu Kontakten dreier Sprachen: Tschechisch, Polnisch und Slowakisch, ferner - mit Einschränkung - die Sprache der Roma (Nekvapil 1997: 1644). Soziologische Untersuchungen in diesem Raum zeigen, dass die Polen viel stärker an der Sprache ihres Ethnikums orientiert sind als die Slowaken: In den erforschten Sprachgemeinschaften orientierten sich (fast) ausschließlich auf ihre Muttersprache: 87,3 Prozent Tschechen, 60,9 Prozent Polen und 34,5 Prozent Slowaken. Ein wichtiger Aspekt der Sprachsituation in diesem Gebiet ist auch der hohe Stellenwert der Mundart, besonders bei den Polen, bei denen sich der Gebrauch zwischen 24 und 72 Prozent 5. Tschechien 201 Ts hkeit sowie in der Kommunikation untereinander festzustellen ch sie nicht mehr aktiv. Die deutschen Dialekte chechen wesentlich niedrigere Werte anführen (Sokolová 1985a). Die territoriale Verteilung der Roma in Tschechien korrelierte lange mit der territorialen Verteilung der Slowaken und hing mit der Neubesiedlung der Grenzräume in der Zeit nach der Vertreibung der Deutschen zusammen (Nekvapil 1997: 1647). 26 Die Roma sind als zweisprachig zu charakterisieren. Unter sich benutzen sie das Romani, im Kontakt mit der Nicht-Roma-Bevölkerung sprechen sie Tschechisch bzw. Slowakisch. Bei der jüngsten Generation ist eine verstärkte Benutzung des Tschechischen bzw. des Slowakischen in der Öffentlic (Hübschmannová 1976). 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen Die deutsche Standardsprache war geschichtlich betrachtet die Sprache der Sekundärsozialisation im gesamten deutschsprachigen Gebiet in Tschechien bis 1945. 27 In der Ersten Republik (1918-1939) war sie weiterhin als Amtssprache anerkannt; lediglich die tschechischen Einwanderer beherrschten sie nicht. Im Dritten Reich war die deutsche Standardsprae die einzige Sprache im öffentlichen Bereich. Nach 1945 war ihr Gebrauch verpönt. In der Sozialisation nach 1945 ist die deutsche Standardsprache von geringer Bedeutung. Die nach 1939 Geborenen beherrschen noch Privat- oder sogar Ge- 26 Viele Roma wurden während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern ermordet. Der Großteil der heutigen Roma-Bevölkerung kam erst nach 1945 in die Tschechische Republik und ist stark urbanisiert. Die meisten leben in den Grenzstädten in Nordböhmen, z.B. in Most [Brüx], Teplice [Teplitz], Ústí nad Labern [Aussig], Chomutov [Komotau] und in Nordmähren, z. B. in Ostrava [Ostrau], Karviná (Hübschmannová 1976). 27 Die tschechische Standardsprache war auch im deutschsprachigen Raum ab 1918 die offizielle Landessprache und in der Sekundärsozialisation Unterrichtssprache oder Fremdsprache. Im Dritten Reich war die tschechische Standardsprache unerwünscht, ab 1945 dann wieder anerkannte Sprache im öffentlichen Bereich, in der institutionellen Sozialisation und im Alltag (Fürst 2002). bildeten hingegen die Alltagssprache im gesamten deutschsprachigen Raum. 28 Deutsch mussten alle beherrschen, die dort lebten. Im Dritten Reich war es die Alltagssprache, nach 1945 dann nur heimsprache. 29 5.2.1 Regionaler Standard Der geschriebenene regionale Standard Die geschriebene Standardsprache wird von der Generation der L1-Sprecher verwendet, die bis 1945 deutschsprachige Schulen besuchen konnte, oder von Sprechern (L1, L2), die das Deutsche als Fremdsprache erlernten. Die Schreibkompetenz der ersten Gruppe ist nicht durchgängig ausgebildet, da sie von der Anzahl der absolvierten Schuljahre der deutschsprachigen Ausbildung sowie vom Bildungsstand des Schreibers abhängt. Dort, wo die Ausbildung in deutscher Sprache nur begonnen wurde, ist die Schreibkompetenz nur bruchstückhaft. Dazu kommt die Tatsache, dass einige Schreiber der ältesten Generation nur die deutsche Schreibschrift bzw. Kurrentschrift, nicht aber die lateinische beherrschen (Interview C1-AD, Stod). Nur dort, wo die Schreibkompetenz erworben und bewusst gepflegt werden konnte, blieb sie voll erhalten (Tsch 7, BA, Liberec). Die wichtigste Domäne, in der die deutsche Schriftsprache gebraucht wird, ist der private Briefwechsel. Einige Informanten sind darüber hinaus als professionelle Schreiber tätig, als Autoren, Dichter, Übersetzer (Tsch 7, BA, Liberec), Geschäftsführer 28 Die tschechische Umgangssprache bzw. die tschechischen Dialekte waren an der Sprachgrenze bis 1918 Privatsprache und teilweise Alltagssprache. Nach 1918 wurden sie teilweise Alltagssprache an der Sprachgrenze und Privatsprache von Einwanderern, in Mischehen sowie unter Kindern von Tschechischsprachigen. Im Dritten Reich waren die tschechischen Dialekte unerwünscht; ihr Gebrauch wurde sanktioniert. Nach 1945 schließlich wurden sie zur Umgangssprache der Neusiedler aus verschiedenen Gebieten (Fürst 2002). 29 Bei Familien, in denen beide Elternteile deutsch waren, und dort, wo das Deutsche nicht an die Kinder weiter gegeben wurde, blieb das Deutsche die Sprache der Eltern, wenn sie nicht von den Kindern verstanden werden wollten (Fürst 2002). Pavla Tišerová 202 (Tsch 41, AL, Trutnov), Redakteure (Tsch 33, JU, Plze ) u.ä. Weitere Domänen der Schriftsprache sind auch der offizielle Briefwechsel, die Verwaltung, die Medien und die Li Fehlern) folge asussynkretismus von (1) Küche auf den Ofen stand ein kleiner (2) malen n stand das Datum. (4) d statt indeterminierend und umge- (5) ng, bzw. a linationstypen: (7) b (8) chechiderung, wie die rp (9) Glas Milch würde uns das Leischen auch in der Orthoce b. das Telegram. teratur. Anhand von Schriftstücken unserer Informanten, die im Rahmen des Projekts ausgewertet werden konnten, lassen sich (außer idiosynkratischen orthographischen nde Beobachtungen machen: Beispiele für den K Dativ und Akkusativ: In der Topf. Ein Dreieck vom Kuvert wo mit nor Bleistift geschriebe (3) vor einen Monat In ganzen großen nicht Unsicherheit im Artikelgebrauch (determinieren kehrt): Wir hatten die Ruhr. Unsicherheiten bei der Pluralbildu Schw nkung der Dek (6) schiefe Schlitzen durch die Schlitzen A weichungen im Bereich der Wortstellung: Im Sommer 1945 waren zwei mal Ts sche Polizei bei uns wegen Ausweisen. Abweichungen in der Interpunktion: Viele Texte des privaten Bereichs sind von konzeptioneller Mündlichkeit geprägt. Häufig fehlen Signale der Text- und Satzglie Inte unktion im Satzgefüge: Er sagte ein ben retten. Einfluss der Kontaktsprachen auf die Orthographie: Außer in der Lexik ist der Einfluss des Tschech graphie sichtbar: (10) a. auf einer Matra Daneben macht sich auch der mundartliche Einfluss der umliegenden deutschen Dialekte bemerkbar: (11) Meine Mutter hatte under dem Arm eine Laute. (12) a. drausen b. auser uns (13) Er brachte im Schwommansackl paar Kartoffel. (14) Er gab er ihm das Kastl zurück. (15) Darin war neues Möbel und die Schränkle voll Wäsche. (16) meinem Grossvater sein Bruder Anton, der Schuster Es sind auch Abweichungen in der Groß-, bzw. Getrennt- oder Zusammenschreibung festzustellen: (17) ohne Geld oder bezahlung (18) dir wird schon die musik noch vergehen (19) eingewisser Hösl (20) auf den Fuss boden (21) die Schlosser Werkstadt war leer (22) Privat Unternehmer Frühere Untersuchungen belegen für die geschriebene Form des Deutschen eine ganze Reihe von Lehnprägungen aus dem Tschechischen (vgl. Povejšil 1980), z.B.: er hat ihn gefolgt (im Tschechischen regiert das Verb následovat ‘folgen’ den Akkusativ), sie wollte nicht auf ihn vergessen (im Tschechischen zapomenout na n koho ‘jn. Vergessen’), sich ausgeben in der Bedeutung ‘sich von irgendwo auf den Weg begeben’ entspricht dem tschechischen Verb vydat se. Im Wortschatz treten tschechische Eigennamen auf, seltener Namen der Häuser oder Stadtteile und ganz selten Appellative. Tschechische Namenformen werden oft in tschechischer Orthographie wiedergegeben, oder es werden tschechische und deutsche orthographische Elemente vermischt. Die Namen der böhmischen bzw. mährischen Städte treten überwiegend in deutscher bzw. verdeutschter Form auf (Povejšil 1980: 110). Der gesprochenene regionale Standard Eine gesprochene Standardvarietät ist selten. Sie wird zumeist von den professionellen Spre- 5. Tschechien 203 chern verwendet. Der Grund dafür, dass diese Varietät verdrängt wurde, ist ein soziologischer. Durch die massiven Abwanderungen seit dem Kriegsende ging die Trägerschicht des Standarddeutschen verloren, während den Dialektsprechern der Zugang zur höheren Bildung längerfristig verwehrt blieb. Viele mussten ihre Schulbildung in deutscher Sprache nach nur wenigen Klassen abbrechen und bekamen nicht immer die Möglichkeit, sie anschließend in tschechischen Schulen fortzusetzen. Nach der Zwangsarbeit in Betrieben, in der Landwirtschaft oder im Haushalt blieben sie häufig im Arbeitermilieu ohne sicheren Zugang zu Schrift und Literatur, wie folgender Beleg illustriert: (23) Für die Deutschen war ja nix anderes. Dienstmädchen, Meierhof, Landwirtschaft oder die/ die Männer im Schacht oder Ziegelei, sonst war ja nix. Erst war ich, nachm Krieg, wartens nur, erst wenn ich noch ledig war, da war ich als Dienstmädchen in der Drogerie in K., im Haushalt. (Tsch 11, SU) Eine höhere Berufsausbildung konnten erst die Sprecher der mittleren und jüngeren Generation in tschechischen Schulen, also ausschließlich in tschechischer Sprache, erreichen. Somit gingen die wichtigsten Kommunikationssituationen verloren, in denen die gesprochene deutsche Standardsprache gebraucht wurde. Sie wurde in der Schule zwar noch im Fremdsprachenunterricht mit maximal zwei Wochenstunden vermittelt; dieser Unterricht war jedoch häufig uneffektiv. Der aktive Gebrauch des gesprochenen Deutschen blieb somit auf Familie und Freundeskreis beschränkt, so dass die meisten Sprecher der Nachkriegsgenerationen in einer dialektalen Varietät sozialisiert wurden. Die Intensität der Sozialisierung in der deutschen Sprache hängt dabei nicht nur von dem Umfang, sondern auch von der bewussten Sprachpflege innerhalb der Familie ab. Das erklärt, warum sich bestimmte Transfer- und Erosionserscheinungen bei den Sprechern unterschiedlich darstellen. 5.2.2 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher Nach dem Alterskriterium lassen sich verschiedene Sprechertypen feststellen (vgl. Tabelle 3). Die älteste und mittlere Generation (I) bzw. (II) sprechen den deutschen Dialekt als Erstsprache. Die älteste Generation (I) wurde vor dem Krieg geboren und besuchte noch deutsche Schulen. Das Standarddeutsche blieb nur rudimentär erhalten. Das Tschechische, teilweise als Interlanguage, weist starke deutsche Interferenzen auf und fand fakultative Verwendung. Die mittlere Generation (II) wurde während des Krieges oder kurz danach geboren. Der deutsche Dialekt als Verkehrssprache tritt nach 1945 in Folge der sekundären Sozialisierung in tschechischer Sprache zurück. Das Standarddeutsche wird auf unterschiedlichem Niveau im Wahlfach des DaF-Unterrichts vermittelt. Mischehen sind üblich, und der Sprachwechsel ist die Folge. In der jüngeren und jüngsten Generation Generation I Generation II Generation III Generation IV vor 1938 geboren zwischen 1939 und 1945 geboren zwischen 1946 und 1980 geboren seit 1981 geboren L1 Deutscher Dialekt mit Transfererscheinungen Deutscher Dialekt mit Attritionserscheinungen; Tschechisch Tschechisch; Deutscher Dialekt nur rudimentär Tschechisch L1' Standarddeutsch nur rudimentär L2 Tschechisch teilweise als Interlanguage Standarddeutsch als Interlanguage Standarddeutsch als Interlanguage, meist mit großer Entfernung zur Zielsprache Standarddeutsch als Interlanguage, auf unterschiedlichem Niveau Tabelle 3: Sprechertypen nach Alter Pavla Tišerová 204 (III) bzw. (IV) ist die Erstsprache das Tschechische. Die jüngere Generation (III) wurde nach dem Krieg geboren und besuchte nur noch tschechische Schulen. Der Spracherwerb des Deutschen vollzog sich durch Eltern, Großeltern bzw. nur einen (Groß-)Elternteil oder im Wahlfach des Fremdsprachenunterrichts. Das Deutsche wurde meist nicht mehr an die Kinder weitergegeben, der deutsche Sprachanteil ging in den Familien zurück. Der Assimilationsprozess erreichte in dieser Generation seinen Höhepunkt. Beide jüngeren Generationen (III und IV) sind nur selten zweisprachig. Sie beherrschen das Deutsche als Standardvarietät auf einem sehr unterschiedlichen Niveau aus dem DaF-Unterricht, falls sie daran teilnahmen. Bei der jüngsten Generation (IV) wurde durch die geänderte politische Situation nach 1989 der Erwerb des Deutschen als Zweitbzw. Fremdsprache sowohl allgemein als auch innerhalb der Familie begünstigt. So werden z.B. Großeltern aufgefordert, mit den Enkelkindern auf Deutsch zu kommunizieren (Tsch 6, EL). Die Einteilung der Altersgruppen in Tabelle 3 darf nicht streng genommen werden, da sich hin und wieder Sprecher finden, die, individuell begründet, vergleichbare Sprachkompetenzen wie die einer anderen Generation aufweisen. Einige Sprecher der Generation II besitzen z.B. eine ähnliche mundartliche Sprachkompetenz wie Sprecher der Generation I, falls der Gebrauch des Deutschen in der Familie nicht abbrach oder wenn die Umgebung deutschsprachig blieb. Umgekehrt gibt es auch Sprecher der mittleren (II) Generation, die das Deutsche verlernten (Fürst 2003). Tabelle 3 zeigt, wie sich die Sprachverhältnisse nach dem Krieg grundlegend geändert haben (vgl. auch Engerer 1997). Der direkte Kontakt zu deutschsprachigen Gebieten war bis zur Grenzöffnung 1990 weitgehend unterbunden. Das Nebeneinander vom Deutschen der Zurückgebliebenen, dem Tschechischen der Einheimischen und zahlreicher tschechischer Regionaldialekte der in die Randgebiete Zugezogenen führte zu Sprachwechsel und Zweisprachigkeit. Das Deutsche als ursprüngliche Erstsprache in den deutschsprachigen Gebieten entwickelte sich zur Fremdsprache (Bezd ková 1988: 127f.), die deutsche Sprachgemeinschaft ist in der Auflösung begriffen, auch wenn die deutschen Mundarten auf dem Land eine noch etwas längere Lebensdauer zu haben scheinen als in urbaner Umgebung (ADT, Bezd ková 1988: 128): (24) Ich möcht sagen, mir sind schon die Letzten jetzt, die älteren Leit. Die jüngeren, was sind, die sprechen ja kein Deutsch mehr. Nur wenig. Aber untereinander, dass sie Deutsch sprechen, da sprechen sie nicht mehr. (Tsch 10, IR) Das Erlernen und der Gebrauch der deutschen Muttersprache bleiben ausschließlich auf den familiären Bereich beschränkt. Dabei ist es keine Seltenheit, dass die Kinder das Deutsch ihrer Eltern verstehen und auf Tschechisch antworten (Kotzian 1987: 140, Kuhn 1988: 118): (25) Hanna versteht fast alles, aber sie kann nicht reden. Jetzt mit Opa bemüht sie sich, oft, dass sie, aber die verstehn sich prächtig, trotzdem dass sie nicht reden kann, sie verstehn sich. Sie ist schon gewöhnt auf den Opa seinen Dialekt, und sie versteht. Sie weiß schon, was er will, und verstehn sich. (Tsch 33, JU) 5.2.2.1 Sprachformen des Deutschen Die deutsche Standardsprache war im historischen deutschsprachigen Raum in Tschechien die Sprache der Sekundärsozialisation bis 1945. Tschechische Einwanderer beherrschten in der Ersten Republik (1918-1938) keine Standardsprache. Im Protektorat (1938-1945) war die deutsche Standardsprache die einzige Sprache im öffentlichen Bereich. Nach 1945 verlor sie als „Tätersprache“ immer mehr an Bedeutung. Die nach 1939 geborenen L1-Sprecher beherrschen sie nicht mehr vollständig. Die deutschen Dialekte waren bis 1918 die Alltagssprache. Deutsch mussten alle können, die im deutschsprachigen Raum lebten. Auch im Protektorat waren die deutschen Dialekte Alltagssprache, nach 1945 dann Privatsprache, bzw. Haussprache bis Geheimsprache (Fürst 2003). Einige Sprecher reflek- 5. Tschechien 205 tieren den Unterschied zwischen ihrer Privatsprache und anderen Varietäten des Deutschen: 30 (26) Na hochdeutsch ist das anders, und die Bayern sagen das auch anders. (Tsch 18, IN) Das Dialektkompetenzspektrum des Deutschen ist bis heute weit. So ist das gesamte mögliche Spektrum an Dialekt und Standardkompetenz vorhanden. Unter den Einsprachigen gibt es mehrere Typen der Dialektkompetenz. Es sind nicht selten (a) Sprecher, die nur gebrochen und mit einem sehr starken tschechischen Akzent sprechen. Daneben gibt es (b) Sprecher, die aktiv keinen deutschen Dialekt mehr sprechen, weil sie zwischen Dialekt und Standardsprache nicht unterscheiden können. Sie haben Deutsch als Schulsprache gelernt und konnten sich nur „eine“ deutsche Sprache einprägen. Eine weitere Gruppe bilden (c) diejenigen Sprecher, die zwischen Dialekt und Standardsprache sehr gut unterscheiden können und Übertragungen von standardsprachlichen Texten in den Dialekt und umgekehrt problemlos bewältigen. Dies gilt in erster Linie für professionelle Sprecher und Sprecher mit höherer 30 Eine aktuelle Untersuchung im Rahmen des Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien belegt, wie ein achtjähriger Junge in Nordböhmen den unterschiedlichen Stellenwert des Deutschen und seiner Haussprache, des „Ock“, erkennt. Aus seiner Sicht spricht man nirgendwo so wie in seiner häuslichen Umgebung. Ähnlich sind viele Sprecher in der Vorschulzeit bzw. als jüngere Schulkinder ihren Haussprachen begegnet. Ihre Lebenswelt haben sie vorzugsweise regionalsprachlich vermittelt bekommen, und zwar auf der Grundlage eines lexikalischen, morpho-syntaktischen und lautlichen Usus, oft genug abweichend von Regeln, die beim Erlernen der Schriftsprache gelten müssen. In Folge der Sekundärsozialisation haben sie dann u.U. unter schriftsprachlichen Einflüssen kommunizieren müssen. Somit ist in ihrer heutigen Sprachkompetenz zum Teil die Sprachkompetenz der Eltern und Großeltern als Erziehungspersonen mitaufgehoben (Scherf 2003). - Als Geheimsprache profilierte sich das Deutsche in den Familien, in denen beide Elternteile deutsch waren. Dort, wo das Deutsche nicht an die Kinder weiter gegeben wurde, blieb das Deutsche die Sprache der Eltern, wenn sie nicht von den Kindern verstanden werden wollten (Fürst 2003). Berufsausbildung, die ihre bilinguale Sprachkompetenz beruflich nutzen konnten. Dies trifft nicht mehr zu (d) bei den Sprechern, die nur den Dialekt können, weil sie keine deutsche Schulbildung hatten: (27) Mir/ mir können uns, so sogn mer mol fei net, dass mer aufschneidn wolln, drei Sprochn: Arzgebargerisch, einen tschechischn Teil, Deutsch - no kenn mer su aber net, aber mir redn a su a verpfuschtes Deutsch. (Tsch 5, GE) Die letzte Gruppe bilden (e) Sprecher, die den Dialekt weder beherrschten noch sprachen. Sie sprechen aus verschiedenen Gründen entweder die Standardsprache oder eine standardnahe Umgangssprache (Fürst 2003). Die im Rahmen des ADT-Projekts befragten einsprachigen L1-Sprecher mit verschiedenen Graden an Dialektkompetenz sind in der spontanen Rede authentisch. Nur manchmal zeigen sie Defizite auf verschiedenen Sprachebenen: Entweder haben sie einzelne Wörter vergessen oder nie gekannt, wenn sie mit dem jeweiligen thematischen Bereich nicht in Kontakt kamen, oder sie waren 1945 noch nicht sprachlich voll sozialisiert und konnten später nichts mehr dazulernen (Fürst 2003). Die Zweisprachigen, die vor 1945 bereits beide Sprachen konnten, haben in der Regel zum Tschechischen gewechselt und dabei den deutschen Dialekt bewahrt. Es sind darunter Sprecher vertreten, die den Dialekt und die Standardsprache passiv und aktiv klar unterscheiden können. Dabei ist nicht relevant, ob sie das Deutsche als Standard- oder als Fremdsprache in der Schule als Unterschied zum Dialekt lernten. Sie weisen in der Hochsprache häufig einen tschechischen Akzent auf, im Dialekt sind sie jedoch völlig authentisch. Daneben gibt es auch Sprecher, die aktiv keine Standardsprache beherrschen, weil sie keine deutsche Schule besuchten und die Standardsprache auch nicht woanders gelernt haben. Auf der anderen Seite begegnet man Sprechern, die aktiv keinen Dialekt mehr sprechen, weil sie ihn vergessen haben. Sie sprechen jetzt Standardbzw. Umgangsprache mit starkem tschechischem Akzent: Pavla Tišerová 206 (28) Ja, ich hab den Dialekt gesprochen, den Znaimerischen, den Znaimer Dialekt. Das ist eigentlich, zu Znaim ham´se immer gesagt, das ist Vorstadt vor Wien. Und die haben so einen so gemischten mit Österreichen. Auf meine Mutti isses noch zum Kennen trotz, dass sie Hochdeutsch spricht, aber es kommt raus bei ihnen, dass sie Südmährin ist, bei mir nicht mehr. Warum: ich hab die Sprache vergessen, ich hab´s immer verstanden, aber reden hab ich vergessen. (Tsch 33, JU) Der Sprachwechselprozess kann bis zum völligen Verlust des Deutschen zu Gunsten des Tschechischen führen, wie das folgende Zitat zeigt: (29) Ich bin in die „Jitona“ [Möbelfabrik] gegangen zur Arbeit, und da warn Deutsche, und nach Jahren hab ich erst festgestellt, dass sie Deutsche sind. Dann hat sie gesagt, ja ich hab auch a deutsche Mutter, und mein Vater war auch im Krieg, aber ich kann kein Deutsch. Das ist a Schande, ja. Ich sag, das is a Schande, wenn mer nicht einmal die Muttersprache kann, nicht? (Tsch 10, IR) 5.2.2.2 Zweisprachigkeit Deutsch- Tschechisch Bei der Erforschung der Sprachkompetenz im mehrsprachigen Gebiet kommt der Zweibzw. Mehrsprachigkeit, Sprachmischung sowie dem Code-Switching nicht nur innerhalb einer Nationalsprache, sondern vor allem zwischen beiden oder mehreren Sprachen besondere Bedeutung zu. Bis 1945 kommt die bilinguale Sprachkompetenz deutsch-tschechisch bei Sprechern mit Deutsch als Erstsprache am häufigsten in den Mischehen vor, besonders dann, wenn der tschechischsprachige Elternteil kein Deutsch sprach oder die tschechischen Großeltern in der Nähe waren, so dass die Kinder zweisprachig erzogen wurden. Ein weiterer Grund für die Zweisprachigkeit ist die Nähe der Sprachgrenze, wo die Zweisprachigkeit gefördert wurde. Die Kinder wurden „auf Wechsel“ 31 geschickt. 31 Besonders verstärkt in der Ersten Republik kamen tschechische Kinder aus dem Landesinneren für begrenzte Zeit in die deutschsprachigen Gebiete, um Tschechische Arbeiter wurden auf großen Höfen beschäftigt, so dass die Gutsbesitzer tschechische und deutsche Arbeiter anstellten. Im Grenzgebiet wurde die aktive Kenntnis des Tschechischen positiv bewertet, um die Wirtschaftsbeziehungen mit den tschechischen Orten jenseits der Sprachgrenze intensiv zu halten: (30) Vorwiegend warn Deutsche, dort, dort konnte jeder Tscheche Deutsch, aber mein Vater, der stammt aus N., in N. geboren, dort konnte wieder jeder Deutsche Tschechisch, weil dort mehr Tschechen waren. (Tsch 11, SU) Für die Zweisprachigkeit war die Sekundärsozialisation ausschlaggebend. In der Ersten Republik gingen viele Kinder, auch aus deutschen Familien, aus verschiedenen Gründen in die tschechischen Schulen. In der Protektoratszeit war Deutsch Pflichtfach, im deutschsprachigen Gebiet dann die einzige Sprache der Sekundärsozialisation. Mehrere Gewährspersonen bedauern, dass sie in dieser Zeit nicht die Gelegenheit hatten, beide Sprachen zu lernen, und so das Tschechische entweder gar nicht mehr oder erst im späteren Alter erlernen konnten: (31) Ich konnt ja früher net Tschechisch. (Tschechisch hab ich gelernt) nachm Krieg, und dann richtig erst, das Rechtschreiben, mitm Sohn, wenn der in die Schule gangen is. (Tsch 11, SU) Heute ist die Zweisprachigkeit nicht mehr zu verstehen als das Ergebnis eines engen Miteinanders zweier verschiedener Ethnien. Seit 1945 ist sie eine Begleiterscheinung beim Übergang der deutschsprachigen Minderheit zum Tschechischen. Beide Sprachen werden aktiv in der Alltagskommunikation nur noch in den Mischfamilien verwendet. Es gibt aber auch verschiedene andere Konstellationen. So ist sich beispielsweise eine unserer Gewährspersonen (Tsch 30, EM) der ersten Generation, aus Nejdek [Neudeck], ihres Varietätenspektrums voll bewusst. Sie beherrscht außer dem Egerländer Dialekt auch Deutsch zu lernen; deutsche Kinder gingen wiederum ins Landesinnere, um Tschechisch zu lernen. 5. Tschechien 207 Hochdeutsch „nach der Schrift“, das sie in der Grundschule lernte. Im Interview mit einer Linguistin spricht sie Tschechisch oder Deutsch. Wenn sie Deutsch spricht, benutzt sie Hochdeutsch. Wenn sie beim Erzählen z.B. einen Dialektausdruck verwendet, übersetzt sie ihn sofort ins Hochdeutsche und gibt einen metasprachlichen Kommentar dazu ab. Sie ist sich dessen bewusst, dass das Benutzen von Dialektausdrücken ohne Kommentar zu Missverständnissen in der Kommunikation führen könnte. Wenn sie Tschechisch spricht, benutzt sie abwechselnd die Umgangs- und die Gemeinsprache (Hášová 1999). Eine andere Sprecherin der ältesten Generation stellt hingegen ein großes Missverhältnis in ihrer Zweisprachigkeit zu Gunsten des Deutschen fest: (32) Je mehr Sprochn, dass mer ko, desto besser. Is ja, soch ich, net? Ich mein, ich hatt überhaupt kaa tschechische Schul, überhaupt kaane net. Un no, durch dann dass mer holt nich do worn, dass mer net perfekt Tschechisch kenne, des is klor, jo, perfekt kann mers net, aber doch a su immer bissl. Verständign, un wenns net richtig is, die wissen dann schon, wos mer meinen. (Tsch 5, CH) In der mittleren Generation (II) und in den beiden jüngeren Generationen (III und IV) ist diese Zweisprachigkeit nicht mehr selbstverständlich, wie zwei Sprecherinnen der ältesten Generation feststellen: (33) Ich möcht sagen, mir sind schon die Letzten jetzt, die älteren Leit. Die jüngeren, was sind, die sprechen ja kein Deutsch mehr. Nur wenig. Aber untereinander, dass sie Deutsch sprechen, da sprechen sie nicht mehr. (Tsch 10, IR) 5.2.3 Deutsche Dialekte Der Zustand der deutschen Sprache und ihrer Mundarten in Tschechien ist von den Sprachformen in den Ländern jenseits der Grenze, aus denen die Siedler kamen, abhängig: „Die Mundart ist an ihre Träger geknüpft.“ (Schwarz 1962: 22). An der Herausbildung der deutschen Mundartlandschaften in der Tschechischen Republik waren Sprachen aus der bairischen, ostfränkischen und mitteldeutschen Sprachlandschaft beteiligt, so dass drei große deutsche Dialektgebiete entstanden: das bairische, ostfränkische und schlesische Dialektgebiet (Schwarz 1954- 1958: Bd. 1, 12). Die bairische Sprachlandschaft teilt sich in zwei Sprachgebiete: Mittelbairisch und Nordbairisch. Das mittelbairische Dialektgebiet ist räumlich eine Fortsetzung der niederbayerischen, nieder- und oberösterreichischen Mundartlandschaften und erstreckt sich über den Südrand Mährens und den südlichen Teil des Böhmerwaldes mit den vorgelagerten Sprachinseln Brno [Brünn] und Vyškov [Wischau] in Mähren und mit der Sprachinsel um eské Bud jovice [Budweis] in Böhmen. Gegen das Nordbairische ist es durch die tuat - tuit/ tuot-Isoglosse im nördlichen Böhmerwald abgegrenzt. Das nordbairische Dialektgebiet grenzt an das Mittelbairische in Südböhmen und erstreckt sich in Südwest- und Westböhmen bis zu der Appel/ Apfel- und der tut/ tuot-Linie bei Doupov [Duppau] in Nordwestböhmen, die das Nordbairische von der ostmitteldeutschen Dialektlandschaft abgrenzen. Das nordbairische Dialektgebiet ist eine Fortsetzung des nordbairischen bzw. oberpfälzischen Dialektgebiets in Bayern und wird in den älteren Arbeiten auch als Nordgauisch, weiter auch als Westböhmisch oder Egerländisch bezeichnet. Im Norden des Egerländischen hat sich ein Mischgebiet mit nordbairischen und ostfränkischen bzw. mitteldeutschen Dialektmerkmalen herausgebildet, die an der hier verlaufenden Appel/ Apfel-Linie deutlich werden. Eine besondere Stellung nimmt die Ascher Mundart am Zusammenfall der Sprachgrenzen der nordbairischen, ostfränkischen und ostmitteldeutschen Dialekte ein. Das ostfränkische Dialektgebiet, häufig auch Nordwestböhmisch genannt, erstreckt sich in Nordwestböhmen zwischen dem Duppauer Linienbündel im Süden und dem Brüxer Linienbündel im Norden. Es umfasst das Erzgebirge mit dem Gebirgsvorland und erstreckt sich bis zur Stadt Žatec [Saaz]. Die auf ostfränkischer Grundlage in diesem Raum herausgebildeten Mundarten weisen zahlreiche mitteldeutsche Dialektmerkmale auf. Die größte deutsche Sprachlandschaft bilden die schlesischen Pavla Tišerová 208 Mundarten im Norden und Osten Böhmens und im Norden Mährens (Schwarz 1954- 1958: Bd. 1, 12). Es liegen ihnen schlesische, ostfränkische und thüringische, in Nordmähren auch hessische Mundarten zu Grunde. Das Schlesische wird in Nordböhmisch (Bezirke D ín [Tetschen], Liberec [Reichenberg], Jablonec nad Nisou [Gablonz an der Neiße] und Frýdlant [Friedland]), Ostböhmisch (Adlergebirge und Braunauer Land) und Nordmährisch unterteilt (Schwarz 1954-1958: Bd. 1, 12, Pugnerová 2000). Außer den großräumigen zusammenhängenden Dialektgebieten haben sich auch Sprachinseln im tschechischen Sprachraum bewahrt, die z.T. andere Dialektmerkmale aufweisen als der ihnen am nächsten stehende Dialektverband. Es sind die mittelbairische Sprachinsel Olomouc [Olmütz] im mittleren Nordmähren, weiterhin die Schönhengster Sprachinsel mit ostfränkischen, schlesischen sowie mittelbairischen Dialektzügen, und die Iglauer Sprachinsel an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren, deren Basis das mit mitteldeutschen Dialektmerkmalen vermischte Nordbairische bildet. Die Schönhengster und die Iglauer Sprachinseln entstanden durch zugewanderte nordbayrische und ostfränkische Bauern sowie osterzgebirgische Bergleute, die sich an den Abhängen der Böhmisch-Mährischen Höhe niedergelassen hatten und sprachlich durch nahe liegende Dialektlandschaften beeinflusst wurden. Sie bildeten von vornherein eine geschlossene Einheit, während andere Sprachinseln, beispielsweise die Brünner, Wischauer oder Budweiser Sprachinseln Randgebiete im räumlichen Sinne bildeten, die später ihre ursprüngliche Verbindung mit dem Dialektverband verloren. Es werden demnach fünf mundartliche Großlandschaften unterschieden (vgl. Abb. 2): 1. das Schlesische in Ostböhmen und Nordmähren, 2. das Obersächsische in Nordböhmen und als Mischdialekt mit dem Nordbairischen in der Iglauer Sprachinsel, 3. das Ostfränkische als die kleinste Sprachlandschaft in Nordwestböhmen im Erzgebirge, im Schönhengst und im mittleren Nordmähren, 4. das Nordbairische oder Oberpfälzische in Westböhmen und in der Iglauer Sprachinsel, 5. das Mittelbairische in Südmähren, im unteren und mittleren Böhmerwald, im Schönhengst und in den Sprachinseln eské Bud jovice [Budweis], Vyškov [Wischau], Brno [Brünn], Olomouc [Olmütz]. Im Varietätensystem des Deutschen in Tschechien spielen die deutschen Dialekte noch immer eine bedeutende Rolle. Viele Sprecher kommen im Laufe ihres Lebens mit ihnen in Kontakt. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die Dialekte noch ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt haben bzw. inwiefern sie als Misch- oder Ausgleichsformen anzusehen sind (vgl. Berend 1998). Seit dem 19. Jahrhundert lässt sich in Tschechien im Zuge der Industrialisierung ein starker Rückgang der gesprochenen Dialektformen durch Dialektangleichung beobachten. Dieser Verschmelzungsprozess war 1945 schon sehr weit fortgeschritten (Bezd ková 1988: 121, Gütter 1962: 6f.) und schlug sich in der Herausbildung der sog. sudetendeutschen Umgangssprache nieder. Sie diente als Verkehrssprache zwischen Angehörigen verschiedener deutscher Landschaften und war ein Produkt von Spannungen zwischen Standardsprache und Dialekt sowie bayerisch-österreichischer Superstrate (Beranek 1970: 1f., Kühnel 1988: 24). Außerdem kommen noch soziolektale Erscheinungen hinzu, z.B. „Mauscheldeutsch“, Jargons und eine Reihe von Lokalmundarten (Skála 1966). In unserem Korpus sind die genannten Großraumdialekte vertreten, jedoch nicht gleichmäßig. Die meisten Aufnahmen stammen aus Nord-, West-, Südwest- und Mittelböhmen, vereinzelt wurden auch Sprecher aus Nord- und Südmähren befragt. Im Korpus des Projektes Atlas der deutschen Mundarten auf dem Gebiet der Tschechischen Republik (ADT) - einem Regensburger Sprachatlasprojekt, das methodisch und auch organisatorisch stark den Teilprojekten des Bayerischen Sprachatlasses verpflichtet ist - werden alle Dialekt- 5. Tschechien 209 Abb. 2: Die deutschen Mundarten in Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien (aus Schwarz 1954-1958) landschaften systematisch erhoben und anschließend in einem Atlaswerk dokumentiert. Auf die Aufnahmen und Zwischenergebnisse des ADT wird hier Bezug genommen (zum ADT vgl. Bachmann/ Tišerová 2000, Fürst 2002a). Im Folgenden werden einige typische phonologische Merkmale der genannten deutschen Großraumdialekte in Tschechien angeführt. Das Schlesische Schlesische Dialektmerkmale, neben ostfränkischen, hessischen, niederdeutschen und thüringischen, weist u.a. die Kuhländler Mundart auf, was auf die Besiedlung des Kuhländchens zurückzuführen ist. Sie entwickelte sich vor allem aus niederschlesischen, gebirgsschlesischen Diphthongierungsdialekten. Phonologische Merkmale sind die häufige Diphthongierung der Vokale, Vokalisierung von r sowie Aufhellung der kurzen Vokale i, u zu den geschlossenen Vokalen e, o (vgl. Rušarová 2000: 25). Das Obersächsische Die Mundart in Nordböhmen lässt bzw. ließ ebenfalls Merkmale verschiedener Mundarten erkennen. Zu den ostfränkisch-nordbairischen Siedlern kamen Siedler aus dem südlichen Erzgebirge. Besonders das Gebiet östlich von Most [Brüx] bis eská Lípa [Böhmisch Leipa] weist thüringisch-obersächsische Merkmale auf (Schwarz 1962: 183ff.). Das Ostfränkische Der nordwestliche Teil Böhmens von Klášterec nad Oh í [Klösterle] bis Most [Brüx] weist bzw. wies Gebiete mit ostfränkischer Mundart auf. Es ist die kleinste Sprachlandschaft unter den deutschen Mundarten in Tschechien. Ein Merkmal des ostfränkischen Dialekts ist hier das nordwestböhmische lange a für ei (Schwarz 1962: 107). Hier ein Beispiel aus Vejprty [Weipert] im Erzgebirge: (34) Da durft mer nur bis um fünfe abends durft mer nüber, und ich ho der doch derzählt, dass ich auf aamal dan Eierschneider. Bie ich Pavla Tišerová 210 nunder, wie ich nunderkam, sagt die Zollbeamte, die is heute noch do, und sogt se, Herr Fiedler, was wolln se denn, etz ham mir grad zugemacht. Ich sacht, lassns mich ner noch a mal durch, ich muss da in dritten Haus nei gieh, hab ich gesagt, des gibts bei uns. (Tsch 5, GE) Das Nordbairische Der nordbairische Sprachraum erstreckt sich über den nördlichen Teil des Böhmerwaldes und des Egerlandes bis Doupov [Duppau], bis hin zur Iglauer Sprachinsel. Der hier auftretende Vokalismus geht auf das Nordbairische zurück, wie die gestürzten Diphthonge für mhd. uo, üe, ie belegen. Ein Großteil der Sprachlandschaft sprach die Diphthonge in der nordbairischen Lautung mit geschlossenem ersten Bestandteil, z.B. schlouf, schlauf ‘schlafen’, houch, hauch ‘hoch’. Das mhd. o wurde vor r nicht diphthongiert, z.B. orn, oarn ‘Ohren’ (Schwarz 1962: 93f., K epelová 1981). Das Mittelbairische Das Mittelbairische ist v.a. in Südmähren verbreitet, sowie in den Sprachinseln Brno [Brünn] und Vyškov [Wischau], in der Gegend von Jind ich v Hradec [Neuhaus] und Nová Byst ice [Neubistritz] und im südlichen Böhmerwald. In der mittelbairischen Mundart entwickelten sich die mhd. ie, üe, uo zu i , u . Zusätzlich stand der mittelbairische Sprachraum aufgrund seiner Lage unter österreichischem Einfluss (Schwarz 1962: 26). 32 5.2.4 Transfererscheinungen Die Transfererscheinungen in den heutigen deutschen Varietäten, also sprachliche Besonderheiten, die das Ergebnis des Sprachkontakts mit dem Tschechischen als Umgebungssprache sind, finden sich auf allen sprachlichen Ebenen: Lexik, Semantik, Syntax, Phonologie und Prosodie, Morphologie, Text und Diskurs. Im Bereich der Lexik wird ein tschechisches Äquivalent am ehesten dort verwendet, wo ein deutsches Lexem fehlt, 32 Weiteres zu den deutschen Dialekten in Tschechien bei Muzikant 2007. oder der Begriff wird entsprechend auf Deutsch umschrieben. (35) wenn wir schon výbor [Nationalausschuss], das ist die gemeinde (Tsch 5, GE) (36) meine Tochter hat ganz gut - äh russisch gekannt und die hat auch in d’ Schule länger ghabt, hat maturita [Abitur] (Tsch 18, IN) (37) er ist ein sehr großer chudák [ein armer Kerl] (Tsch 22, ED) Ein flüssiger authentischer Gebrauch des Deutschen mit den wenigsten Transfererscheinungen kommt in der ältesten Generation sowie bei professionellen Sprechern vor. Bei bilingualen Sprechern ist in der Regel ein problemloser Wechsel zwischen den beiden Sprachen zu erwarten, nicht selten mit Doppelformen: (38) Es war ein Betrieb, ein závod. (Tsch 7, BA) In der mittleren Generation wird im gesprochenen Deutschen wesentlich häufiger nach passenden Ausdrücken gesucht. Auch bei den grammatischen Strukturen in den Nominalsowie Verbalphrasen herrscht Unsicherheit, falls der aktive Sprachgebrauch des Deutschen zugunsten des Tschechischen bereits in der frühen Jugend abgebrochen war: (39) a. (Und dann) is Mama gestorben un mer sin dann - in Kladruby. te neumim íct - jetzt kann ich nicht ausdrücken - ein/ einz/ ziegen, zogen, ziegen? (Tsch 18, IN) b. (In der Grundschule) hab ich nicht können weiter gehen, darum war Papa politisch nicht gut und ähm, des war zweiundsechzig und - äh, er war - ähm jak se zase ekne statek? [wie sagt man denn Staatsgut? ] (Tsch 18, IN) c. Wer/ Werberin. Sag ich das gut oder nicht? äh v tkalcovn , tkadlena [in der Weberei, Weberin] (Tsch 18, IN) Auf der prosodischen Ebene fallen Intonationsmuster der tschechischen Umgangssprache auf, wie z.B. die anhaltende Kadenz vor Pausen. Da auch das Tschechische einen Initialakzent hat, ergeben sich keine gravierenden Abweichungen in der Wortbetonung. 5. Tschechien 211 Lediglich bei den nichttrennbaren Präfixen und bei Fremdwörtern besteht Unsicherheit, da sie häufig mit Anfangsbetonung ausgesprochen werden: (40) a. die ökonomische Schule b. in Büro c. besuchen (Tsch 18, IN) Auf der phonologischen Ebene dominiert die Entrundung der gerundeten Vokale ü, ö zu ie, e bzw. ä vgl.: (41) frieher, natierlich, iebernommen, ausfillen, Stick, Biste, plätzlich, Familienagehärige, Nordbähmen, Mäglichkeit, häher, Verhär (Tsch 7, BA) (42) Ich muss immer den bäsen Deutschen spielen. (Tsch 6, EL) Die geschlossenen Vokale werden offener realisiert als im Deutschen. Dies ist einerseits auf die Lautverhältnisse des Tschechischen, andererseits auf den Einfluss der deutschen Dialekte zurückzuführen. Auch umgekehrt sind Transfererscheinungen im Tschechischen der Deutschstämmigen zu beobachten. Das folgende Zitat zeigt, wie bestimmte lange tschechische Vokale kurz, normabweichend, ausgesprochen werden: (43) Ich war ungefähr neun oder zehnmal in der Kur, und wenn man dann mit fremden Leuten beim Tanzen oder so zusammen kommt, manche haben immer gesagt, ob ich aus Mährisch Ostrau bin. Da hab ich gedacht, jetzt fragst du mal, wieso. Und da hab ich eben die Strichen am a, ja, die langen Selbstlaute, die Stricheln hab ich nicht ausge/ . Sag ich, wieso? No, weil ich das so kurz sag. Wie zum Beispiel Apotheke. Ich hab nie gesagt lékárna [Apotheke]. Lekárna, le, le. (Tsch 11, SU) Im Bereich der Morphologie ist bei der mittleren und jüngeren Generation der Rückgang des Dativs und der Kasussynkretismus mit dem Akkusativ festzustellen: (44) dort waren wir bis fünfte Klasse, bei den Haus (Tsch 6, EL) (45) Auf andere Seite war alte Mann. (Tsch 18, IN) Der im Dialekt weit verbreitete Akkusativ Plural nach der Präposition mit wird als dialektal empfunden. Folgendes Beispiel zeigt, wie die Sprecherin im Interview eine solche dialektale Akkusativkonstruktion nach mit abbricht, sie umgehend korrigiert und den Dativ verwendet: (46) Der Vater war sowieso dann kränklich, konnte nicht mehr mit die Pfer/ mit den Pferden fahren. (Tsch 24, BI) Die Kasusmarkierung kann auch ganz ausbleiben, wie das folgende Beispiel für den Akkusativ zeigt: vgl.: (47) Mein Bruder (...), der gibt kein Anzug in Putzerei. (Tsch 33, JU) In der Kasusflexion der Nominalphrase wird die Mehrfachmarkierung der Flexionsendung -n sowohl bei den Adjektiven als auch im Plural der Substantive sporadisch abgebaut: (48) Dann hatten wir die gleiche Lebensmittelkarten wie die. (Tsch 37, ER) (49) Aber wenn bin ich mit Deutsche, dann red ich und red ich und sag ich so viel, dass wundert mich, dass ich kann überhaupt so viel, so viel sagen. (Tsch 18, IN) Auch bei der Pluralbildung der starken Substantiva zeigen sich Abweichungen, vgl.: (50) Ja, ja, und das sind, das sind Brüders. (Tsch 33, JU) Das Beispiel zeigt weniger den Einfluss der Kontaktsprache bzw. der Dialekte als eine Übertragung morphologischer Mittel anderer Flexionsformen bei der Pluralbildung durch Analysen. An einer anderen Stelle wird jedoch der Einfluss der Kontaktsprache auf den Numerus sichtbar, vgl.: (51) Ich hab einen Geschwister. [Entsprechung im Tschechischen: Mám jednoho sourozence.] (Tsch 33, JU) Die Verdrängung des Possessivgenitivs durch die Dativkonstruktion hat ihren Ursprung im Dialekt: Pavla Tišerová 212 (52) Der Vodi ka, der junge, der is mit der Frau ihrem Sohn in die Schule gegangen. (Tsch 08, HA) (53) Aus denen ihren Tellern haben dann wir gegessen. (Tsch 08, HA) Durch den Kasussynkretismus wird vereinzelt die Dativform durch den Nominativ verdrängt: (54) No und mein Mann seine Mutter auch. (Tsch 22, ED) Bei der Verbreflektion kommen Formen vor, die entweder auf dialektalen oder kontaktsprachlichen Einfluss zurückzuführen sind: (55) Ich verstehe Ihnen nicht [Entsprechung im Tschechischen mit Dativ: Nerozumím Vám.] (Tsch 13, RI) Bei der Genuszuweisung sowie im Artikelgebrauch herrscht eine gewisse Unsicherheit, die sich durch die Unterschiede in der Genusdistribution sowie durch das Fehlen des Artikels in der Kontaktsprache erklären lassen: (56) Wenn schaue ich äh auf so n normales Film, kein, auf die andere schaue ich sowieso nicht, dann verstehe ich, kann ich sagen, sehr gut. (Tsch 18, IN) Der Artikel, bzw. das Artikelwort bleiben in der Nominalphrase bei den Gattungsnamen aus: (57) Und wenn is jemand bei mir und will das übersetzen, dann geht mir das sehr schlecht, darum läuft mir Film weg. (Tsch 18, IN) Auf der anderen Seite wird der Artikel auch dort verwendet, wo er normalerweise nicht steht, wie z.B. bei Eigennamen, Berufsbezeichnungen, Stoffnamen, Abstrakta u.ä. In der Verbmorphologie ist bei der mittleren und jüngeren Generation eine häufigere Unsicherheit bei der Bildung der Verbformen zu beobachten, insbesondere bei den unregelmäßigen Verben: (58) Und Papa hat das schon nicht ausgehaltet. (Tsch 18, IN) Ebenso bei der Bildung des Partizips mit trennbarem Präfix: (59) Wir haben die Wohnung umtauscht. (Tsch 6, EL) Letzteres deutet auch auf Dialekteinfluss hin, wie z.B. eine vergleichbare Konstruktion im Bairischen zeigt: i hobs umdauscht. Ein in allen Generationen verbreitetes Phänomen ist die Verwendung des nichtdeklinierten Reflexivpronomens sich in Analogie zum Tschechischen, vgl.: (60) Ihr müsst sich schreiben gleich. [Entsprechung im Tschechischen: Musíte se psát stejn .] (61) Wir haben sich geschämt. [Entsprechung im Tschechischen: Styd li jsme se.] (Tsch 6, EL) Das Passiv wird selten gebraucht und beschränkt sich in der gesprochenen Sprache auf das Reflexivpassiv oder auf die Passivbildung mit der Kopula sein. Die Bildung der Infinitivkonstruktionen ist bei der ältesten und mittleren Generation normgerecht, in der jüngeren Generation schwindet die Infinitivkonjunktion zu, analog zur Infinitivkonstruktion im Tschechischen: (62) Ich hab alles verstanden, aber ich hab mich sehr geschämt deutsch reden. [Entsprechung im Tschechischen: Všemu jsem rozum la, ale velmi jsem se styd la mluvit n mecky.] (Tsch 33, JU) Die doppelte, u.U. auch mehrfache Verneinung, die sowohl der Dialekt als auch das Tschechische kennt, kommt häufiger vor: (63) Wir konnten ja nicht Tschechisch kein Wort. (Tsch 24, BI) (64) Da haben sie keine Deutsche zur Schule nicht gewollt. Da war kein Unterschied nicht. (Tsch 10, IR) Auf dem Gebiet der lexikalisch-semantischen Entlehnungen lassen sich neben (Marken-)Bezeichnungen für Produkte, z.B. Škoda [Automarke], Jar [Geschirrspülmittel], für technische Neuerungen und Verwaltungseinheiten auch geographische Bezeichnungen, z. B. Kraj [Bezirk], Okres [Kreis], Hejtmann [Be- 5. Tschechien 213 zirkshauptmann], Výbor [Ausschuss] beobachten. Zu den älteren Entlehnungen gehören Lexeme aus traditionellen Bereichen, wie neben Schwarz (1958, 1962) auch moderne dialektologische Untersuchungen belegen (vgl. Muzikant 2003, Kellner 1995-1997, Hiller 1990): Nahrungsmittel und Speisen, z.B. Topinka ‘gebackene Scheibe Brot’, Pletinko ‘geflochtene Semmel’ (tsch. pletýnka), Powidl ‘Pflaumenmus’ (tsch. povidla), Buchtl ‘kleines Hefegebäck, Buchfel’ (tsch. buchta), Schulanki ‘Mehlspeise’ (tsch. šulánky), Schligowitz ‘Zwetschgenwasser’ (tsch. slivovice), Kolaatschn ‘gefülltes Hefegebäck, Kolatschen’ (tsch. kolá e), Spalek ‘großes Zuckerl, Bonbon’ (tsch. špalek), Taatsch ‘Obstkuchen’ (tsch. tá ), Zmejte ‘Rahm, Sahne’ (tsch. smetana), Kalatkataatsch ‘Obstkuchen mit Pflaumen’ (tsch. tá se švestkami), Kascha ‘Brei’ (tsch. kaše), Klobassn ‘Wurstsorte’ (tsch. klobásy); Pflanzen: Pompalischka ‘Löwenzahn’ (tsch. pampeliška), Kosak ‘Steinpilz’ (tsch. kozák), Babka ‘Klette’ (tsch. babka), Budlitschken ‘Föhrennadeln’ (tsch. bodli ky), Schischka ‘Kiefernzapfen’ (tsch. šiška), Konwalinka ‘Maiglöckchen’ (tsch. konvalinka), Metschik ‘Sprosse’ (tsch. me ík), Petoscheel ‘Petersilie’ (tsch. petržel), Schopka ‘Schale von Obst und Kartoffeln’ (tsch. šlupka), Spendlik ‘frühe Pflaumensorte’ (tsch. špendlík), Janek ‘Birkenpilz’ (tsch. janek), Kalatka ‘Zwetschge, Pflaume’ (tsch. kadlátky), Madleine ‘Himbeere’ (tsch. malina); Tiere: Kosa ‘Ziege’ (tsch. koza), Beran ‘Widder, Bock’ (tsch. beran), Babutschiinen ‘Spinnweben’ (tsch. pavu iny), Kafka ‘Dohle’ (tsch. kavka), Tschunka ‘Sau, weibl. Hausschwein’ (tsch. uník), Paschka ‘verschnittenes männl. Schwein’ (tsch. pašík), Straaka ‘Elster’ (tsch. straka), Mesek ‘Maultier, Esel’ (tsch. mezek), Muraak ‘Truthahn’ (tsch. morák), Kuksch ‘Hahn’ (tsch. kokeš), Kriitsch ‘Hamster’ (tsch. k e ek), Pijaak ‘Zecke’ (tsch. piják); Zubehör und Instrumente: Sekaatsch ‘Hiebmesser für Kartoffeln und Rüben’ (tsch. seká ), Babka ‘Dengelamboss’ (tsch. babka), Klapatschka ‘Klapper’ (tsch. klpa ka), Klatzek ‘Prügel, Knüppel’ (tsch. klacek), Klotschka ‘Klinke’ (tsch. kli ka), Kabela ‘Handtasche’ (tsch. kabela), Zumml ‘Schnuller, Lutscher’ (tsch. cumel), Zuzack ‘Schnuller’ (tsch. cucák), Trakatsch ‘Schubkarren’ (tsch. traka ), Tschello ‘Stirnbrett des Wagens’ (tsch. elo), Spalek ‘Holzklotz’ (tsch. špalek), Kudla ‘Taschenmesser’ (tsch. kudla), Lennoch ‘Linienblatt’ (tsch. lenoch), Panenka ‘Puppe, Püppchen’ (tsch. panenka), Schoffanka ‘Schöpflöffel’ (tsch. šufánek), Rabitza ‘Sense mit Auffanggestänge oder Auffangtuch für Getreide’ (tsch. hrabice); Personenbezeichnungen nach der Art der ausgeübten Tätigkeit oder nach typischen Eigenschaften: Pitlaak ‘Wilderer, Wildschütz’ (tsch. pytlák), Straschaak ‘Gespenst, Schreckbild, Vogelscheuche, Angsthase’ (tsch. strašák), Baba ‘alte Frau’ (tsch. baba), Draap ‘Aufseher auf einem Gutshof’ (tsch. dráp), Bubaak ‘Kinderschreck, Butzemann, Vermummter, Schreckgestalt, Popanz’ (tsch. bubák), Schmatlaak ‘Hinkender’ (tsch. šmatloun), Nossaak ‘Mensch mit großer Nase’ (tsch. nosatec), Zaara ‘leichtes Mädchen’ (tsch. coura), Hadraasch ‘Lumpensammler’ (tsch. hadrá ), Drataasch ‘Kesselflicker, Drahtner’ (tsch. dráta ), Waapeniik ‘Kalkbrenner, Kalkhändler’ (tsch. vápeník), Ziglaasch ‘Ziegelbrenner’ (tsch. cihlá ), Tschutschaak ‘Gaffer’ (tsch. umil, abgeleitet vom Basisverb u et), Tschapaak ‘Mann mit schwerem Gang’, abgeleitet vom Basisverb ápat ‘stapfen’, Mischkaasch ‘Kastrator’ (tsch. myška ), Sekaatsch ‘Schnitter’ (tsch. seká ), Kominaasch ‘Schornsteinfeger’ (tsch. kominá ), Panaak ‘männliche Puppe, Strohmann’ (tsch. panák), Pohunka ‘Kleinknecht’ (tsch. poh nek), Sklenaasch ‘Glaser’ (tsch. sklená ), Sprk ‘Zwerg’ (tsch. špr ek), Tolaak ‘Vagabund’ (tsch. tulák); Haus, Wohnen, Haushalt: Schalanda ‘großer Raum, Gesellen- oder Gesindestube’ (tsch. šalanda), Kaluppa/ Chaluppa ‘Hütte, altes Haus’ (tsch. chalupa), Hisba ‘Haus, verächtl.’ (tsch. jizba), Patra, Patreng ‘Dachboden der Scheune’ (tsch. patro), Duchnet ‘Deckbett’ (tsch. duchna). Auch Bezeichnungen für Körperteile und Zahlen werden entlehnt. Das folgende Zitat zeigt, dass eine Sprecherin der ältesten Generation mit voll ausgebildeter Zweisprachigkeit beim Zählen das Tschechische bevorzugt: (65) Wenn ich rechnen tu (...), ich kanns, ich könnte es, aber mir gelingts viel besser Tschechisch. Also tu ich nur rechnen Tschechisch. Es geht schneller. (Tsch 22, ED) Eine systematische Beschreibung des tschechischen Lehnguts im Böhmisch-Deutschen Pavla Tišerová 214 bieten Mundartwörterbücher wie z.B. das Sudetendeutsche Wörterbuch. 33 Die Substantive aus der Kontaktsprache werden mit Hilfe des Artikels in das System des Deutschen integriert. Das Genus wird entweder vom Genus der Ausgangssprache bestimmt, oder das Substantiv erhält sein Genus nach einem ähnlichen Wort der Zielsprache. Seltener erscheinen auch hybride Bildungen in Form von Komposita aus entlehnten und heimischen Komponenten, z.B. odsun-Kiste ‘Gepäck’(Tsch 6, EL). Zu den voll integrierten Lehnwörtern aus dem Tschechischen, die sich im gesamten Untersuchungsgebiet feststellen lassen, gehört z.B. Schmettn ‘Schlagsahne’ (tsch. smetana) oder Powidel ‘Pflaumenmus’ (tsch. povidla). In den einzelnen Orten und Regionen gibt es natürlich noch viel mehr - allerdings kaum in den Gebieten, die fern der alten Sprachgrenze sind und schon seit dem Mittelalter deutschsprachig (z.B. Egerland). Bachmann (2000) stellte in der ostfränkischen Sprachinsel Dvorská [Maxdorf], südöstlich von Brno [Brünn], die Ende des 18. Jahrhundert vom Schönhengstgau aus besiedelt wurde, drei Wörter aus dem Tschechischen fest, die auch tschechisch ausgesprochen werden, aber deutsche Pluralformen bilden: pamva Sg. - pamven Pl., pánev ‘Pfanne’ (tsch. pánve), koza Sg. - kozen Pl. ‘Ziege’, žába Sg. - žáben Pl. ‘Frosch’. Der Grad der Integration von den aus der Kontaktsprache entlehnten Wörtern lässt sich einerseits an der morphologischen Einpas- 33 Bislang konnte für das Sudetendeutsche Wörterbuch nicht einmal die Hälfte des alphabetisch angeordneten Belegmaterials bearbeitet werden, so dass noch keine abschließenden Aussagen bezüglich der Quantität der tschechischen Entlehnungen getroffen werden können. Es tauchen jedoch immer wieder Entlehnungen im Bereich Essen und Lebensmittel, sowie Schimpfwörter auf. Endgültige Aussagen können erst nach vollständiger Bearbeitung des Belegmaterials getroffen werden. - Zu tschechischen Entlehnungen im Böhmisch-Deutschen vgl. auch Beranek 1970, Deibl 1940, Weinelt 1979, Kreller 1979, Kühnel 1969, Langer 1941, Lenz 1942, Mauk 1942, Muzikant 2003, Pecher 1941, Prexl 1979, Rieger 1934, Rotter 1940, Schacherl 1919, Schwarz 1930, 1954- 1958, 1958, Šrámek 1998, Strichhirtsch 1935, Sturm 1955, Swoboda 1943; jetzt Newerkla 2004. sung ins Flexionssystem der Zielsprache, andererseits an der phonetisch-phonologischen Einpassung in das entsprechende Lautsystem messen (Riehl 2004: 81). Einflüsse des Tschechischen finden sich auch auf der Text- und Diskursebene, besonders durch die Übernahme von Diskurspartikeln wie ježišmarjá ‘Jesusmaria’ (Ausdruck der Verwunderung), oder jo, no und tak, die eher gestenhaften Charakter aufweisen (vgl. Matras 1998): (66) Wie sagen das die beiden? Ježišmarjá, ich jetzt, ich, weiß ich nicht. (Tsch 18, IN) (67) No, ho ich gesogt, no ich bin die Emilie. Ježišmarjá, ježišmarjá! [Jesusmaria, Jesusmaria! ] No, das wor eine Begrüßung. (Tsch 05, CH) (68) Ježiš, wie sag ich (…) jo, no, [ja, na] aber viele sind geblieben (Tsch 6, EL) (69) Meine Mutter war auch, durch ihren Vater war sie eine Tschechin, žejo [nicht wahr], meine Mutter. (Tsch 22, ED) (70) Deutsch äh lese ich Romane, ja, deutsche. Wenn jemand kommt und bringt er so Romanhefte, tak [so]. Oder wir borgen sich so unter, da kenn ich eine Frau, und die bekommt immer von Deutschland, tak [so] das les ich in Deutsch. Und sonst les ich Zeitungen oder Zeitschriften in Tschechisch. No, normal, takle ty, ty [also die, die] Hefte. (Tsch 10, IR) 5.2.5 Umgangssprache (Binnenstandard, bilingualer Sprechmodus) Die deutsche Umgangssprache 34 in Tschechien erscheint mannigfaltig. In den ehemals deutschsprachigen Städten ist sie mundartlich gefärbt, in einigen Regionen, wie z.B. im Egerland, stärker. Auf dem Lande wird Dialekt gesprochen. Im Bewusstsein der Sprecher wird die Umgangssprache nicht als eine eigenständige Erscheinungsform erfasst, sie unterscheiden lediglich zwischen Dialekt und Hochsprache („nach der Schrift“), wobei letzteres die Varietät bezeichnet, die sie im Unterricht er- 34 Die Entwicklung der Umgangssprache wird nicht selten im Zusammenhang mit dem Prager Deutsch gesehen (Povejšil 1980). 5. Tschechien 215 worben haben und bemüht sind, diese nach Möglichkeit durch aktive sowie passive Kommunikation, durch Lektüre u.ä. zu pflegen. Dabei handelt es sich um eine Varietät, die als standardnahe Umgangssprache bezeichnet werden kann. Es gibt nur wenige Sprecher, die über eine Variationsbreite bzw. ein mehrschichtiges Varietätensystem des Deutschen verfügen. Die Sprecher der ältesten Generation können in der Regel die Laut- und Graphemabweichungen ihrer Varietät im Vergleich zum Hochdeutschen beschreiben, Aussagen über abweichende Verhältnisse in Silbenzahl, Formen- und Satzbau machen, sowie die Unterschiede in Lexik und Stil erfassen. In den Nachkommengenerationen ist die Reflexion über die Sprachvarietäten im eigenen Umfeld von Beobachtungsgabe, Bildungs- und Berufsstand sowie von der Intensität der Sprachkontakte abhängig. Am Beispiel der oben bereits genannten Sprecherin (Tsch 30, EM) der ältesten Generation aus Nejdek [Neudeck] in Westböhmen können drei Varietäten des Deutschen gezeigt werden: Egerländisch, Hochdeutsch und (Neudecker) Erzgebirgisch (Hášová 1999). Das Egerländische diente in ihrem Geburtsort bei Sokolov [Falkenau] als das einzige Verständigungsmittel und wurde sowohl von Deutschen als auch von Tschechen benutzt. Hochdeutsch erwarb sie in der Grundschule. In Nejdek [Neudeck] erlernte sie neben dem Tschechischen auch eine Varietät des Nordwestböhmischen. Nach ihrer eigenen Aussage hat sie aber diese Varietät des Deutschen nicht so gut erlernt, sie hält sich bis heute nicht für einen „echten Neudecker“. Im Interview spricht sie abwechselnd Tschechisch und Deutsch, ab und zu verwendet sie Ausdrücke aus dem Nordwestböhmischen, die sie gleichzeitig ins Hochdeutsche und ins Egerländer Deutsch übersetzt. Sie ist sich nicht nur der Unterschiede zwischen dem Egerländer Dialekt und Nordwestböhmisch bewusst, sondern auch der feinen Nuancen innerhalb des Nordwestböhmischen. Außerdem hat sie eine Vorstellung über das Erzgebirgische auf der anderen Seite, also aus dem Erzgebirge in Deutschland. Mit ihren Kindern spricht sie Tschechisch, wie auch ihr Partner, der Tscheche ist. Das Tschechische hat sie sich nach 1945 schrittweise angeeignet, wobei ihr in der Anfangsphase am meisten ihr Mann behilflich war. Später half sie ihren Kindern bei den Hausaufgaben und kam so intensiv in Kontakt mit dem Tschechischen. Als eine der wichtigsten Methoden zur Aneignung der fremden Sprache führt sie die Lektüre der Kommentare zu Bildern in den Zeitungen an: (71) Já jsem se za ala u it vlastn teprv s d tma. A tím že jsem hodn etla. Já jsem si t eba lánky v novinách, ne ákou knížku, to ne, pod obrázkem titulky vždycky jsem si etla, a ten obrázek už mi napovídal trošku. A tak jsem sama zjistila, jak ím dál víc chápu. [Ich begann zu lernen eigentlich erst mit den Kindern. Und indem ich viel las. Ich las zum Beispiel Artikel in den Zeitungen, kein Buch, das nicht, sondern die Zeilen unter einem Bild, und das Bild half mir dabei ein bisschen. Und so stellte ich selbst fest, wie ich immer mehr verstehe.] (Tsch 30, EM) Ein bilingualer bzw. multilingualer Sprechmodus mit mehreren Varietäten, wie bei EM (Tsch 30), kommt in Kontexten vor, in denen eine Sprachmischung stattfindet, vgl. Interviews mit CH und GE (Tsch 05), ED und RO (Tsch 34), JU (Tsch 33), IN (Tsch 18). 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Die Sprachenwahl richtet sich nach den Kommunikationskontexten und -partnern, mit denen man Deutsch sprechen kann. (72) Wos notwendig, da spreche ich Tschechisch, aber sonst spreche ich Deutsch. Ich weiß, wer Deutsch kann, mit dem spreche ich Deutsch. (Tsch 10, IR) Mitglieder der ältesten Generation sprechen untereinander Deutsch, gemischt mit Tschechisch. Zu Gesprächssituationen zwischen verschiedenen Generationen tritt nicht selten eine asymmetrische Kommunikation auf, wenn z.B. die Großeltern auf Deutsch sprechen und die Enkelkinder auf Tschechisch antworten. Häufig wird das Code-Switching auch im Pavla Tišerová 216 Gespräch mit den Haustieren beobachtet. Eine Gewährsperson wendet sich während des Interviews ihrer Katze auf Tschechisch zu: (73) Ja, das ist die kleine (Katze). (…) Micino, že se nestydíš, ty un ! No co je? [Mitzi, dass du dich nicht schämst, du Ferkel! Na, was ist denn? ] Komm mal her! Poj sem, Micinko, no pocem ke mn , pocem, ty si (…). [Komm her, Mitzi, na komm her, komm, du bist (…).] Hat sie zwei gehabt im April, eins haben wir weg und das will ein Mädchen, die ist noch im Ferienlager. (Tsch 30, EM) Auf die Frage der Interviewerin, warum mit den Tieren Tschechisch gesprochen wird, erklärt die Gewährsperson, sie glaube, dass es die Tiere doch besser verstehen. Außerdem findet sich das Code-Switching regelmäßig bei Namen, Begrüßungsformeln, Partikeln des Anbietens und Ablehnens, Gesprächspartikeln, Pronomina, Enklitika u.ä.: (74) No, normal, takle ty, ty [also die, die] Hefte. (Tsch 10, IR) In einer einsprachigen Interaktion hat das Tschechische Zitatfunktion: (75) (…) hat er gesagt: „To dít necháme tady.“ [Das Kind behalten wir hier.] Hab ich gesagt: „Herr Doktor, warum denn? Sie haben doch gesagt, ich kann sie mit nach Haus nehmen.“ (Tsch 30, EM) Dort, wo die Entsprechung im Deutschen nicht bekannt ist oder gar fehlt, kommt ebenfalls Tschechisch zur Geltung: (76) Dieser bezpe nostní referent [Sicherheitsbeamter], ein Herr Cé, der schaute auf den Hof und sagte (…) (Tsch 06, BA) (77) Ich war in der Papierfabrik, in der š icí dílna [Schneiderwerkstatt], aber ich bin erscht gange, da war ich schon Ende vierzig. (Tsch 05, CH) Um Missverständnissen in der Kommunikation vorzubeugen, wird der deutsche Ausdruck, häufig ein Eigenname, unmittelbar mit der tschechischen Entsprechung begleitet. Danach kann ein Übergang ins Tschechische folgen: (78) In Zwug auf dem Schacht. Zb ch je to. [Es heißt Zb ch.] (Tsch 10, IR) Bei der Suche nach passenden Formulierungen im Gespräch signalisiert das Tschechische eine metasprachliche Ebene, besonders bei den Sprechern der mittleren Generationen, mit starken Attritionserscheinungen: (79) Is Mama gestorben un mer sin dann in Kladruby, te neumim íct esky - jetzt kann ich nicht Tschechisch sagen - ein/ einz ziegen zogen ziegen? (Tsch 18, IN) Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, beinhalten Kommunikationssituationen, die als monolingual Deutsch definiert werden können, mitunter unintendiertes Code-Switching ins Tschechische. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik stellte über lange Jahrhunderte einen Raum intensiver sprachlicher Kontakte zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen dar. Bis zu der Zeit des Zweiten Weltkriegs lebten mehr als drei Millionen tschechoslowakische Bürger deutscher Sprache in den historischen Ländern der böhmischen Krone. Nach dem Krieg haben sich die Sprachverhältnisse grundlegend geändert. Der direkte Kontakt zu den angrenzenden deutschsprachigen Gebieten war bis zur Grenzöffnung 1989/ 90 weitgehend unterbunden, und es hat sich ein Nebeneinander des Deutschen der Zurückgebliebenen, dem Tschechischen der Einheimischen und zahlreicher tschechischer Regionaldialekte der Zugezogenen ergeben (Engerer 1997). Innerer und äußerer Sprachwandel sowie diglossisches Sprachverhalten sind die Folge, mittelfristig wird Deutsch als ursprüngliche Muttersprache in diesem Gebiet allmählich zur Fremdsprache. Die deutschen Mundarten haben zwar auf dem Land etwas größere Überlebenschancen als in urbaner Umgebung, das Erlernen und der Gebrauch der deutschen Muttersprache bleibt 5. Tschechien 217 jedoch auf den familiären Bereich beschränkt: Es ist keine Seltenheit, dass die Kinder von Sudetendeutschen das Deutsch ihrer Eltern zwar verstehen, aber auf Tschechisch antworten (Bezd ková 1988: 127f, Kotzian 1987: 140, Kuhn 1988: 118). Träger der deutschen Sprache sind vor allem in der ältesten Generation zu finden (vgl. Kap. 5). Jüngere Sprecher, die das Deutsche als Erstsprache zu Hause erworben haben, verwenden überwiegend Tschechisch als Verkehrssprache und schränken den Gebrauch des Deutschen auf den Kontakt mit ihren Eltern oder dann auch auf die Kommunikation im Minderheitenverband ein, falls sie dort aktive Mitglieder sind (vgl. Tsch 06, EL). Die beiden älteren Generationen verstehen und sprechen Dialekt, während die jüngeren Sprecher meist ein schulisch erworbenes Standarddeutsch gebrauchen, wenn sie zusammenhängend sprechen: (80) Und da tun wir nur Erzgebirgisch reden. Sie redet zwar Böhmerwaldisch, aber ich versteh das auch. Und jetzt tun wir Erzgebirgisch, das redet die gern, ja, weil sie da war. Jetzt versteht uns niemand. (…) Und dann wieder, aber dann müssen wir wieder Hochdeutsch reden. (…) Ich mein, ich hab ja das Hochdeutsche gelernt, aber muss ich mich ja sehr bemühen, dass ichs richtig ausspreche. Also das is schon so, ja, das muss ich freilich. Da bemüh ich mich schon sehr. Aber das tut mir wieder helfen, die Bücher, ich kann mir nicht helfen, das hilft sehr viel. Ja, die Sprache ist immer gut im Buch… (Tsch 22, ED) 6.2 Einflussfaktoren auf die Dialektkompetenz Zu den häufigsten Einflussfaktoren auf die Dialektkompetenz gehört das Alter. Je älter die Sprecher, desto höher ist ihre Dialektkompetenz. Bei jüngeren Sprechern, die nach 1940 geboren wurden, tritt ein geringeres Sach- und Sprachwissen auf. Sie verwendeten das Deutsche meistens nur als Haussprache mit einem deutschsprachigen Elternteil. Die Dialektkompetenz ist höher bei Sprechern mit Schulsprache Tschechisch, bei denen die deutsche Standardsprache den Dialekt nicht beeinflussen konnte. (81) Hammer im Dialekt gesprochen, auch weil meine Mama hat gekonnt mehr Dialekt wie Schriftsprache, aber da hammer eigentlich nur Deutsch gesprochen. (Tsch 12, SI) Die Dialektkompetenz wird im hohen Maße durch die Eltern gefördert, besonders dann, wenn nur ein Elternteil Deutsch sprach und lange lebte. Die deutschsprachigen Großeltern sind als Einflussfaktor dann von Bedeutung, wenn Kontakt zu ihnen bestand: (82) Also hab mitn/ mit mein Sohn hab ich gesprochn nur Erzgebirgerisch. Nur in Erzgebirgerisch, jo. Die Kinder, die sind in de Schul rein, die konntn net Tschechisch. Aber die habms ja gleich gelernt, des war kein Problem, und jetzt sind sie froh, dass sie können Tschechisch UND Deutsch, ne, das ist ja klor. (Tsch 5, CH) Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist der soziale Hintergrund, da sich die Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht auch in der Hinwendung zur Standardsprache äußert und sich somit negativ auf den Dialekt auswirkt. Deutschkenntnisse des Ehepartners wirken sich positiv auf den Dialekt aus, auch dann, wenn der Partner gut Standarddeutsch spricht. Ausschlaggebend ist, dass man den Dialekt mit dem Ehepartner aktiv sprechen kann: (83) Der Vater hat äh Tschechisch und Deutsch. Die Mutter hat auch ein bißchen Deutsch gekonnt. Das war so, wenn sie einen Deutschen heiratet, muss sie, musste sie auch Deutsch lernen damals. (Tsch 21, FR) Eine wichtige Bedeutung kommt ferner der Volkssowie Staatszugehörigkeit der Sprecher zu. Diese manifestieren sich verstärkt sprachlich, lassen die Furcht vor sozialen Sanktionen sinken, so dass dann auch Kinder auf Deutsch sozialisiert werden. (84) No ich denke schon, wenn ich, wenn ich äh deutscher Abstammung bin, dann denk ich, die deutsche Sprache sollt man wenigstens kennen. Wenigstens sprechen sollt mers kennen, nicht. (Tsch 10, IR) Pavla Tišerová 218 Intensive Kontakte mit dem deutschsprachigen Ausland wirken sich hingegen eher negativ auf den Dialekt aus. Solche anhaltenden Kontakte gibt es bei Sprechern mit Verwandten oder Bekannten im deutschsprachigen Ausland; außerdem bei Sprechern, die als Dolmetscher und Betreuer von Kinder-, Jugend-, Sportgruppen u.a., vor 1989 hauptsächlich in die DDR, nach 1989 auch in andere deutschsprachigen Länder reisen. (85) Ja. In der DDR war ich oft, da bin ich mit dem Auto gefahren, selber gefahren, da bin ich manchmal, sechsmal im Jahr bin ich manchmal hingefahren. Zu der ältesten Schwester. (Tsch 11, SU) 6.3 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Die Einschätzung der eigenen Sprachkompetenz fällt unterschiedlich aus. Eine Sprecherin erzählt, wie man die Sprache allmählich vergisst, wenn sie nicht mehr aktiv gesprochen wird: (86) Keine der Sprachen kann ich mehr besser oder schlechter. Tschechisch, das hab ich nur so gelernt. No, und Deutsch, wenn ma nicht so oft spricht mehr, dann vergisst mas. Da muss ich auch schon manchmal nachdenken über manches Wort, wie ichs aussprechen soll und so. Da kann ich nicht sagen, dass ich’s besser sprich, Deutsch oder Tschechisch. Es ist fast gleich schlecht, beides. (lacht) (Tsch 10, IR) (87) Es kommt auch vor, dass ich ein Wort in Deutsch nicht mehr weiß, weiß ichs in Tschechisch, aber nicht mehr in Deutsch. Und manche Wörter sagen wir auch in Tschechisch mehr, als in Deutsch. (Tsch 11, SU) Der Wechsel zum Tschechischen vollzog sich bei den bilingualen Sprechern fließend. Eine Sprecherin reflektiert anschaulich den Wechsel zum Tschechischen innerhalb ihrer Familie, nachdem die Kinder tschechische Partner heirateten: (88) Zuhause hammer immer Deutsch gesprochen, weil mein Mann ist auch ’n Deutscher, und seine Eltern waren rein deutsch, meine Eltern waren rein deutsch. Zuhause hammer eigentlich NUR deutsch gesprochen, auch mitn Kindern noch, als sie dann größer waren, haben alle Tschechen geheiratet. Dann hammer zuhause Tschechisch gesprochen, weil sonst hätt man ja alles zweimal sagen müssen oder hat der Andere den Eindruck, etwas gesprochen, was er nicht mitkriegt. (Tsch 12, SI) Die unilingualen Sprecher mussten das Tschechische zunächst erlernen. Dies geschah i.d.R. im Arbeitsprozess oder zusammen mit den Kindern, die das Tschechische als Unterrichtssprache hatten. In den Interviews werden auch einige Strategien zum schnelleren Erwerb der neuen Sprachkompetenz erwähnt: (89) Und mich interessiert halt alles. Und da hab ich die Bücher, und dort hab ich Deutsch- Tschechisch, Tschechisch-Deutsch, und hier hab ich ein Fremdwörterbuch, und da hab ich das Lexikon, und das muss ich wissen, und da steh’ ich manchmal um Mitternacht auf, wenn mir was einfällt, dann MUSS ich das schaun. (Tsch 11, SU) In der zweiten Generation ist das Deutsche die eindeutig schwächere Sprache, obwohl sie bis 1945 in den deutschsprachigen Familien aktiv gesprochen wurde. Es zeigen sich starke Attritionserscheinungen, 35 auch dort, wo die Sprache später, verstärkt nach 1989, in den Deutschkursen „wieder“ erworben wurde. Die Literarisierung in der Schrift ist, falls bei den Sprechern entwickelt, fast ausschließlich das Ergebnis des späteren Fremdsprachenunterrichts. Alle Befragten der zweiten Generation halten das Deutsche für ihre Muttersprache, auch wenn beide Sprachen gleich gut beherrscht werden, oder das Tschechischen die stärkere Sprache ist. Die Sprecher der ältesten Generation schätzen ihre Kompetenzen der deutschen Sprache als vollständig ein; die meisten von ihnen 35 Das Ausmaß der Attrition hängt neben den linguistischen Faktoren wie Sprachkontakt und Sprachwechsel auch mit außerlinguistischen Faktoren zusammen, z.B. Identitätsbewahrung, Akkulturation, Grad der schriftsprachlichen Kompetenz, Funktionen der Sprache, Alter, wann der Gebrauch der Sprache reduziert wurde u.ä. (vgl. Riehl 2004: 75ff.). 5. Tschechien 219 sind zweisprachig, beherrschen also auch das Tschechische, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Bei einer Gruppe der Sprecher ist ein deutscher Akzent im Tschechischen feststellbar, besonders in den ehemals überwiegend deutschsprachigen Gebieten, die von der Sprachgrenze am weitesten entfernt sind. Nur selten ist das Deutsche als die alleinige Sprachkompetenz vorzufinden, wie folgendes Zitat belegt: (90) Ich kann Tschechisch nicht so perfekt. Ich versteh wohl, aber ich kann, na ja, aber so sprechen kann ich net. (…) Auch schreiben kann ich nich. (Tsch 34, RO) Ab der zweiten Generation werden die Kompetenzen in der tschechischen Sprache höher eingeschätzt. In Abhängigkeit von Bildungsstand und beruflicher Orientierung stellt sich die Diskrepanz zwischen der subjektiven Einschätzung eigener Sprachkompetenz und deren objektiven Bewertung unterschiedlich dar. Professionelle Sprecher und Sprecher mit einem stark entwickelten Sprachgefühl - nicht selten sind es Frauen - stufen ihre Sprachkompetenz wesentlich kritischer ein. Die Sprecher der ältesten Generation haben einige Klassen oder zumindest eine Klasse an einer deutschen Grund-, bzw. Volksschule besucht, wodurch sie an der sekundären Sozialisation in deutscher Sprache ganz oder teilweise teilnahmen. Die Geburtsjahrgänge bis 1932 besuchten zunächst tschechische Schulen, in der Zeit 1939 bis 1945 deutsche und nach 1945 wieder tschechische Schulen, falls ihre Ausbildung in Folge der Kriegsgeschehnisse und Zwangsarbeit nicht abbrach und auch nach dem Kriegsende fortgeführt werden durfte. Die Ältesten erwarben eine schriftsprachliche Kompetenz im Tschechischen bereits vor dem Krieg und konnten sie dann später weiter entwickeln. Für die Geburtsjahrgänge nach 1933 kam das Tschechische als Verkehrssprache erst nach 1945 entweder in ihrer schulischen Ausbildung oder im Arbeitsprozess hinzu. Die meisten schätzen ihre deutsche Sprachkompetenz als voll ausgebildet ein, einige geben an, besser Deutsch als Tschechisch zu beherrschen. Alle verfügen über eine sichere Dialektkompetenz, bis auf einige Sprecher, die aus den Ballungsgebieten (Prag, Brünn) stammen oder durch ihren familiären bzw. sozialen Hintergrund und den Ausbildungsgrad zur Standard- oder einer überregionalen Varietät tendierten (Fürst 2003). Ein dialektfreies Hochdeutsch ist in der ältesten Generation nur selten anzutreffen. Meistens handelt es sich entweder um ein Hochdeutsch mit Dialektanklang, der merken lässt, aus welcher Landschaft der Sprecher kommt, oder um mundartlich gefärbte, besonders in Städten gesprochene Umgangssprache (Rein 1977: 214). Ab der zweiten Generation ist das Tschechische die Sprache, die besser und aktzentfrei beherrscht wird. Viele Mitglieder dieser Generation sind mit tschechischen Partnern verheiratet. Eine Gewährsperon erzählt, wie sie bis 1945 nur Deutsch sprach, heute jedoch besser Tschechisch beherrscht: (91) Jetzt kann ich besser Tschechisch. (…) Bis sechs Jahre war ich nur Deutsche, hab nur Deutsch gesprochen. Dann, als meine Mutti erfahren hat, dass sie nicht weg muss, dass sie bleibt, jetzt hat sie sich bemüht, schnell, schnell, schnell, dass ich tschechisch sprechen kann. Aber ich hab ganz wenig: Dobrý den! [Guten Tag] und Rozumíš? [Verstehst du? ]. Das waren einzige Worte, die ich kenne. (Tsch 33, JU) Die Kompetenz in der deutschen Sprache wird unterschiedlich eingeschätzt. Professionelle Sprecher, die ein Hochschulstudium absolvierten, beherrschen ein sicheres Hochdeutsch (Tsch 2, MI). Andere Sprecher haben das Hochdeutsche entweder gar nicht erworben, da sie keine deutschen Schulen besuchten (Tsch 13, RI), oder sie haben es erst später (in den 1990er Jahren) in Deutschkursen erlernt (Tsch 6, EL). Alle verfügen jedoch über eine authentische Dialektkompetenz. Ihre Schreibkenntnisse werten die professionellen Sprecher als einwandfrei, die anderen als schlecht oder mäßig. In der dritten Generation sind die Attritionserscheinungen am stärksten, wenn die Sprecher das Deutsche in der Familie erworben haben. Dabei ist zu unterscheiden, ob ein Elternteil oder beide deutschsprachig sind. Pavla Tišerová 220 Wenn nur ein Elternteil deutschsprachig ist, haben die Kinder die Sprache in der Schule gelernt, sprechen aber keinen Dialekt, nur eine standardnahe Varietät des Deutschen oder aber Tschechisch. Anders ist es, wenn beide Elternteile deutschsprachig sind. Dann sprechen auch noch die vor 1955 Geborenen die Mundart sehr gut (Tsch 42, AL). In der dritten und vierten Generation spielt die Kompetenz der tschechischen Sprache die primäre Rolle. Das Deutsche wird dagegen auf einem sehr unterschiedlichen Niveau beherrscht. Hochdeutsch wird ausschließlich von Sprechern verwendet, die das Deutsche als Fremdsprache gelernt oder studiert haben. Einige Gewährspersonen aus der dritten Generation sind qualifizierte Deutschlehrer (Tsch 3, JA; Tsch 14, RA; Tsch 16, OL; Tsch 19, LE; Tsch 25, LI; Tsch 27, SO). Sie schätzen daher auch ihre Schreibkenntnisse als gut oder sehr gut ein. Die Dialektkompetenz tritt entweder ganz zurück (Tsch 14, RA; Tsch 44, DA) oder ist nur passiv bzw. rudimentär erhalten. Die Sprecher selbst geben an, dass sie keinen Dialekt beherrschen. In der vierten Generation sind Deutschkenntnisse nur ausnahmsweise vorhanden, etwa wenn sie im Fremdsprachenunterricht oder bei ausbildungs- oder berufsbedingten Auslandsaufenthalten erworben werden. Die Zeit nach der Wende brachte eine neue Welle interkultureller Eheschließungen sowie die Gründung mehrerer spezieller Bildungseinrichtungen und internationaler Unternehmen mit ausgewählten Fremdsprachen als Unterrichtsbzw. Verkehrssprachen mit sich. 6.4 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen Auf den Sprachgebrauch wirken sich neben der Generationszugehörigkeit auch die Sprachsituation in der Familie, der Bildungsgrad, berufliche Orientierung, soziales Umfeld u.ä. aus. Nach Auswertung der Angaben einzelner Gewährspersonen wird die deutsche Sprache am häufigsten von der ältesten Generation verwendet und/ oder von professionellen Sprechern. In den Folgegenerationen tritt der Gebrauch des Deutschen zurück. Die älteste Generation verfügt über eine Triglossie von regionalem Dialekt der deutschen Sprache, passiver oder aktiver Kenntnis der Standardvarietäten des Deutschen und des Tschechischen. Ein wichtiges Kommunikationsmittel stellt dabei der Dialekt dar, er gilt als wichtiger Identifikationsfaktor und Kommunikationsmittel in der Gruppe der gleichsprachigen Interagierenden. Die Rolle der Mehrheitssprache ist eher komplementär (Bezd ková 1988: 128). Die zweite Generation ist zwar mit der sekundären Sozialisierung auf Tschechisch aufgewachsen, der Gebrauch des Deutschen in der Familie führte jedoch dazu, dass hier noch gute Deutschkenntnisse vorhanden sind. Solche Sprecher wurden aber schon mit der Assimilierung konfrontiert. Wenn bei ihnen eine Diglossie vorkommt, übernimmt der Code der Mehrheit die Dominanz. Für die Sprecher der dritten und vierten Generation ist das Deutsche bereits eine Fremdsprache; die meisten sind in der Mehrheitsumgebung herangewachsen, ihnen ist die Kultur der Majorität eigen. Das Kulturgut ihrer Vorfahren wird zwar geehrt und respektiert, aber nicht mehr gepflegt und erweitert. Das zeigt eine wesentliche Schwächung des Generationentransports der Sprache. Diese Tendenz wird sich in der Zukunft noch verstärken. Eine wesentliche Verbesserung der Deutschkenntnisse bei Angehörigen der deutschen Minderheit ist auch trotz der Grenzöffnung nach der Wende und der Kontaktmöglichkeit zu deutschen Organisationen nicht in Sicht. 36 Der Rückgang des Deutschen als Muttersprache bei der deutschen Minderheit setzt sich weiter fort. Allerdings wird Hilfe seitens der Bundesregierung geleistet, unter anderem 36 Vorschlag des Verbandes der Deutschen in der SFR schon Anfang der 1990er Jahre, Angehörigen der deutschen Minderheit Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland zu ermöglichen, was zu einer Verstärkung der Sprachkenntnisse führen könnte, wurde aus Kurzsichtigkeit der Beamten von deutscher Seite nicht verabschiedet. (Walter Piverka, Interview, 1. Dezember 2002, Loket.) 5. Tschechien 221 wird der Deutschunterricht in den Begegnungszentren 37 unterstützt und Projekte, Seminare und Autorenlesungen werden durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds mitfinanziert (Meier 1995: 78). 6.4.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte 6.4.1.1 Nahestehende Personen Der deutsche Sprachgebrauch bleibt im engsten Familienkreis erhalten, wenn der Ehepartner ebenfalls deutschsprachig ist. Von den mündlich sowie schriftlich befragten Gewährspersonen der ältesten Generation haben bzw. hatten 23 Personen einen deutschen Ehepartner und sprechen bzw. sprachen mit ihm zu Hause Deutsch. Bei einigen ist der erste Ehepartner verstorben. Falls neue Partnerschaften eingegangen wurden, ist der neue Partner meistens tschechischsprachig (Tsch 22, ED; Tsch 9, AN; Tsch 11, SU), seltener deutschsprachig (Tsch 8, HA und MA; Tsch 5, CH und GE). Tschechisch wird gelegentlich auch gesprochen, wie einige Partnerinterviews zeigten (Tsch 36, TH und IV; Tsch 8, HA und MA; Tsch 5, CH und GE) und wie auch häufiger schriftlich berichtet wird. Während mit dem Ehepartner konsequent Deutsch gesprochen wird, ändert sich die Situation im Sprachgebrauch mit den Kindern. Einige Sprecher gaben an, mit ihren Kindern ebenfalls konsequent Deutsch zu sprechen. Die meisten davon verwenden bewusst beide Sprachen im Kontakt mit den Kindern; daneben findet man auch solche Sprecher, die sich nur einer der beiden Sprachen bedienen. In der Kommunikation mit den Kindern sind die meisten Fälle von Code-Switching zu beobachten. Es wird eine Mischung aus dem deutschen Ortsdialekt, Hochdeutsch und Tschechisch gesprochen. Es passiert relativ häufig, dass die Eltern auf Deutsch sprechen und die Kinder auf Tschechisch antworten. In der Kommunikation mit den Enkelkindern tritt das Deutsche völlig in den Hinter- 37 Im Jahre 1995 wurden der Deutschunterricht in den Begegnungszentren mit einer Summe von 26.000 DM und die Ausgabe von Mundartgedichten und Erzählungen mit 38.000 DM finanziert. grund, trotz einiger Bemühungen seitens der Großeltern oder der Eltern, wie das folgende Zitat zeigt: (92) Wir sprechen (mit dem Sohn) Deutsch und Tschechisch, das is egal. Nur, nur die Enkelkinder, äh, das Mädel, die wollt nicht reden, und der Sohn hat mir das vorgehalten. Also ich sollte mit den Kindern Deutsch reden, aber wenn sie net wollten, wollten sie halt net. (Tsch 11, SU) Die übrigen 19 Personen der ältesten Generation sind oder waren mit einem tschechischsprachigen Ehepartner verheiratet. Hier ist vom überwiegenden Gebrauch des Tschechischen in der Kommunikation mit dem Partner auszugehen. Mit den Kindern spricht der deutschsprachige Partner Deutsch (Tsch 7, BA; Tsch 10, IR, Tsch 22, ED) oder ausschließlich Tschechisch (Tsch 17, WE; Tsch 21, FR). Mit den Eltern wurde zeitlebens in allen Fällen Deutsch gesprochen, solange das Deutsche auch die Muttersprache war. In der zweiten Generation sind bei sechs Personen ausschließlich tschechische Ehepartner vorzufinden. Das Deutsche wird mit den deutschsprachigen Eltern verwendet (z.B. Tsch 33, JU), nur selten wird versucht, die deutsche Kompetenz an die Kinder weiter zu geben (Z.B. Tsch 13, RI). In der dritten Generation haben drei von insgesamt zwölf befragten Personen einen deutschsprachigen Partner gefunden, nämlich während eines Studienaufenthaltes in Deutschland (Tsch 14, RA; Tsch 19, LE; Tsch 58, PA). In diesen Mischpartnerschaften entsteht eine Zweisprachigkeit, diesmal jedoch auf der Basis des Hochdeutschen, ohne die Varietät der Ortsmundart. In der dritten Generation gibt es zwei Personen, die das Deutsche als L2 von ihren Großeltern lernten (Tsch 14, RA; Tsch 25, LI). Einer Mischfamilie in der dritten Generation entstammt eine Tochter, die als Sprecherin der vierten Generation befragt wurde (Tsch 57, DE). Mit ihr wird gleichermaßen Deutsch und Tschechisch gesprochen, und sie antwortet in beiden Sprachen. Auch im Kontakt zu den Großeltern verwendet sie die Muttersprache der jeweiligen Familienange- Pavla Tišerová 222 hörigen. Da der Gebrauch des Deutschen als Verkehrssprache nicht mehr gesellschaftlich stigmatisiert wird und da die Befragte DE deutsche und tschechische Schulen besucht, können bei ihr beide Sprachen vital sein. Entsprechendes gilt für andere bilinguale Sprecher der jüngsten Generation (Tsch 59, VA; Tsch 60, TE, Tsch 61 RE), die alle Kinder aus Mischehen sind und gleichzeitig Schüler des deutsch-tschechischen Gymnasiums in Sachsen. Das Deutsche wird sowohl in der Familie, als auch in der Schule aktiv gesprochen. 6.4.1.2 Weitere nahestehende Personen Zu den weiteren nahestehenden Personen werden in erster Linie die Geschwister gezählt. Der Kontakt zu ihnen wird aufrechterhalten in Abhängigkeit davon, welcher Generation sie angehören und ob sie in Tschechien oder im Ausland leben. Die ältesten Sprecher gaben an, mit allen ihren Geschwistern auf Deutsch zu kommunizieren, z.B. HA, MA (beide Tsch 8), ED (Tsch 22), JU (Tsch 33), RO (Tsch 34). Daneben gibt es Sprecher, die mit einigen, nämlich den älteren, Geschwistern Deutsch sprechen, mit den jüngeren aber Tschechisch, z.B. LU (Tsch 15), FR (Tsch 21). Falls die Geschwister in Tschechien leben, kann die Kommunikation auch gemischt geführt werden, mit Code-Switching, z.B. TR (Tsch 55). Wenn die Geschwister im Ausland leben, wird ein deutschsprachiger Briefwechsel unterhalten, oder sie telefonieren auf Deutsch, z.B. SU (Tsch 1). In der zweiten Generation vollzieht sich in der Kommunikation der Geschwister der Wechsel zum Tschechischen. Nur die wenigsten verwenden Deutsch, falls sie in Tschechien leben. So spricht z.B. EL mit ihrer Schwester abwechselnd Deutsch und Tschechisch (Tsch 6, EL); ähnlich ist es bei IN mit ihrem Bruder, der in Deutschland lebt (Tsch 18). In der dritten und vierten Generation kommt in der Kommunikation zwischen Geschwistern oder mit Cousinen und Cousins fast ausschließlich Tschechisch vor. Eine Ausnahme stellen hier die Geschwister TE und RE aus der jüngsten Generation dar, die untereinander abwechselnd Deutsch und Tschechisch sprechen (Tsch 60, Tsch 61). 6.4.1.3 Weiterer Freundes- und Bekanntenkreis Für die Kommunikation im Freundes- und Bekanntenkreis ist nicht mehr ausschlaggebend, welcher Generation die Sprecher angehören, sondern ob die Bezugspersonen im In- oder Ausland leben, sowie das Umfeld und Anlässe der Kontakte. In allen Generationen werden Verwandte und Freunde in Deutschland oder Österreich erwähnt, mit denen Deutsch gesprochen wird. Zum Bekanntenkreis werden Arbeitskollegen, Freunde in Deutschland, z.B. IN (Tsch 18), Nachbarn, z.B. KR (Tsch 38), TH, IV (beide Tsch 36), Freunde und Kollegen im Minderheitenverein bzw. Begegnungszentrum, z.B. EL (Tsch 6), FR (Tsch 21), Kollegen in den Gremien der Minderheitenvertretungen, z.B. ED (Tsch 22), WI (Tsch 29), BE (Tsch 39), Kommunalpolitiker aus Partnergemeinden in Deutschland, z.B. HA (Tsch 8), Schulfreunde, z.B. RO (Tsch 34), Brieffreunde im deutsch- oder anderssprachigen Ausland, z.B. IL (Tsch 26), SO (Tsch 27) gezählt. Einige Sprecher berichten, dass sie gerne gezielt verschiedene Anlässe wahrnehmen, um Deutsch reden zu können. So trifft sich IR regelmäßig mit ihren tschechischen Bekannten bei der regelmäßigen Grabpflege auf dem Friedhof: (93) Mein Mann ist in Ch. begraben am Friedhof, und da wenn ich immer hinfahre am Rad und kommen die älteren Leute immer so zusammen, das sind Tschechen, aber wir sprechen Deutsch. Weil sie sagen, sie sprechen gern Deutsch, dass sie sie/ die Sprache, nicht verlernen. (Tsch 10, IR) Daneben findet man Sprecher, die außerhalb ihrer engsten Familie und Verwandtschaft in ihrem Bekanntenkreis keine weiteren deutschsprachigen Kontaktpersonen haben. Einige geben sogar an, dass sie nur in der engsten Familie Deutsch sprechen, ansonsten Tschechisch, z.B. MA (Tsch 8). Im Kontakt mit dem Freundes- und Bekanntenkreis in Tschechien wird in der Regel eine Mischvarietät zwischen Deutsch und Tschechisch verwendet. Folgendes Zitat zeigt, dass 5. Tschechien 223 Deutsch als alleiniges Kommunikationsmittel nur in spezifischen Situationen benutzt wird: (94) Nur Deutsch spreche ich mit Mitglied unseres Verbandes aus Deutschland, der keine andere Sprache spricht. (Tsch 6, EL) Die wichtigsten Institutionen mit Deutsch als Verkehrssprache sind die Minderheitenverbände und Begegnungszentren, Deutschkurse, Schulen, Veranstaltungen des Kulturverbands, Arbeitsplätze sowie Ziele des Einkaufstourismus in Deutschland und Seniorenheime. Nur selten trifft man das Deutsche als Sprache des Gottesdienstes. 6.4.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte 6.4.2.1 Personen mit häufigem Kontakt Der häufigste Sprachkontakt vollzieht sich innerhalb der Familie. Dort, wo die (erwachsenen) Kinder in der Nähe leben, ist außer Tschechisch auch noch mit Deutsch und mit dem Nebeneinander beider Sprachen als Familiensprachen zu rechnen. Am Beispiel von HA und MA aus Vejprty [Weipert] (Tsch 8) ist zu sehen, dass sie untereinander sowie mit ihren beiden Kindern und deren Familien und auch mit der Schwiegermutter, die in Teplice [Teplitz] lebt, Deutsch sprechen. Beide Partner geben Deutsch als Muttersprache an. In den meisten deutschsprachigen Familien wird mit den Kindern und Enkelkindern auch Tschechisch und gemischt gesprochen. Typisch ist dabei wiederum der Sprachwechsel vom Deutschen zum Tschechischen zwischen den Generationen, wie etwa am Beispiel der Familie von WA (Tsch 43) illustriert werden kann. Dort wird mit den Kindern Deutsch, mit den Enkelkindern aber bereits nur Tschechisch gesprochen. In den Mischehen, z.B. WE (Tsch 17) oder JU (Tsch 33), stellt sich das Varietätenspektrum hingegen anders dar. Hier wird mit den Kindern und deren Familien fast ausschließlich Tschechisch gesprochen, auch wenn die Kinder Deutsch verstehen. Eine Sprecherin aus der ältesten Generation berichtet aber auch, dass ihre Kinder kein Deutsch verstehen, da sie es ihnen nicht beibringen durfte (Tsch 52, EN): (95) Ich spreche mit den Kindern Tschechisch, ich durfte sie nicht Deutsch lernen. (Tsch 52, EN) 6.4.2.2 Personen mit gelegentlichem Kontakt Zum Personenkreis mit gelegentlichem Kontakt zählen Verwandte, Freunde, Kollegen und Nachbarn, die man nicht regelmäßig trifft. Der Kontakt spielt sich in der ältesten Generation häufiger noch auf Deutsch ab, in den jüngeren Generationen überwiegend auf Tschechisch. Diejenigen Sprecher, die an den Veranstaltungen der Minderheitenverbände und Begegnungszentren teilnehmen, pflegen ihre Kontakte in beiden Sprachen, häufig in einer Mischvarietät zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen. Zu diesen Kontakten zählen weiterhin spontane Begegnungen (auf der Straße, beim Einkaufen, im Gasthaus, gesellschaftliche Veranstaltungen), bei denen allgemeine Informationen und Neuigkeiten ausgetauscht werden. Dabei bedienen sich die deutschstämmigen Sprecher der ältesten Generation des Deutschen, das nicht zuletzt als ein Identitätsmerkmal verstanden wird, das nun auch in der Öffentlichkeit wieder verstärkt gesprochen wird. Das folgende Zitat zeigt, wie das Deutsche als Sprache in der Öffentlichkeit in den jüngeren Generationen schwindet: (96) GE: Die Junge sagt, die sagt, die sei Deutsche, aber denken Se, die reden auf der Straße? Die schäme sich. Auf der Straß´ a Wort deutsch zu redn. CH: Die meisten kennes a net. (Tsch 5, CH/ GE) 6.4.2.3 Personen mit seltenem Kontakt Zum Personenkreis mit seltenem Kontakt gehören recht häufig Familienmitglieder, darunter Kinder, Eltern, Geschwister, Cousinen und Cousins, die im Ausland leben. Die gegenseitigen Besuche finden eher selten statt, ein- oder zweimal im Jahr, wobei deren Häufigkeit mit zunehmendem Alter der Respon- Pavla Tišerová 224 denten nachlässt. Das Deutsche als Familiensprache wird dadurch immer seltener gebraucht. Es wird versucht, diese nachlassende Familienverbindung mit Telefon- und Schriftverkehr aufrechtzuerhalten. Hier ist das Kommunikationsmedium zumeist Deutsch. Zu den seltenen Kontakten zählen des Weiteren die Teilnahme an offiziellen Treffen der Zentralorgane der Minderheitenverbände sowie Fahrten zu Partnerverbänden nach Deutschland. Auch hier ist die Verkehrssprache zumeist Deutsch. 6.4.3 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch In monolingualen Sprechsituationen befinden sich regelmäßig professionelle Sprecher (Lehrer, Vertreter der Verbände u.ä.). Die Beobachtungen des aktiven Sprachverhaltens genauso wie eigene Aussagen unserer Gewährspersonen zeigen, dass es beinahe in allen Kommunikationssituationen zu Code-Switching kommt. Wenn es gilt, das Verständnis zu sichern, wird der deutschsprachige Ausdruck ins Tschechische übersetzt oder umgekehrt. Ähnlich wird zwischen Dialekt und Hochsprache vermittelt. Eine ganze Reihe von Lehnwörtern findet Eingang in die deutsche Sprache, seien es Sachbezeichnungen oder Gesprächspartikeln. Daneben werden regelmäßig Eigennamen, Kosenamen, Schimpfwörter, Mengen- und Maßeinheiten (kilogram statt zwei Pfund) und Interjektionen übernommen. Folgendes Zitat belegt, wie eine Sprecherin der dritten Generation beim Zählen ins Tschechische verfällt: (97) Mit Zählen (…) geht mir das sehr schlecht. Darum ist das Tschechische. Sage ich t icet osum [achtunddreißig]. Und achtunddreißig und achtunddreißig, und wenn muss ich das zsamm rechnen, dann geht mir das sehr langsam. Darum sind die äh umgedreht, ne? (Tsch 18, IN) Zum Umgang mit Tieren und zur Sprache der Träume geben viele der ältesten Sprecher an, dass sie die deutsche Sprache verwenden (Tsch 8, HA) oder abwechselnd beide (Tsch 17, WE). In den jüngeren Generationen wird bis auf Ausnahmen das Tschechische in den monolingualen Situationen verwendet. Deutsche Bücher und Zeitungen werden regelmäßig von professionellen Sprechern gelesen, sowie auch von allen anderen Sprechern, die auf Deutsch sekundär sozialisiert wurden. Es wird ein ganzes Spektrum an Literaturgenres und zu beziehenden Zeitungen genannt. Deutschsprachige Belletristik wird entweder aus den öffentlichen Bibliotheken oder über Privatausleihen bezogen. Häufig werden auch Schenkungen von Verwandten aus Deutschland als Quelle erwähnt. Unter den Periodika kommen aktuelle Ausgaben vor, z.B. die „Landes-Zeitung“, die „Prager Volkszeitung“, der „Landesanzeiger“, regionale Heimatblätter, sowie ältere Ausgaben der Unterhaltungsblätter aus Deutschland. Der schriftliche Sprachgebrauch kommt am häufigsten in der Privatkorrespondenz vor. Die älteste Generation pflegt nach wie vor schriftliche Kontakte zu Verwandten und Freunden in Deutschland. Im Kontakt mit deutschen Behörden werden entweder eigene Texte auf Deutsch verfasst, oder es wird die Hilfe eines professionellen Übersetzers in Anspruch genommen. Dieser Schriftverkehr betrifft v.a. Anträge auf Altersrente, Einbürgerungsverfahren, Arbeitsgenehmigungen, Steuer- oder Bußgeldverfahren u.ä. Einige Sprecher sind als Korrespondenten der regionalen Heimatblätter oder der landesweiten deutschsprachigen Zeitungen tätig und streben daher bewusst eine anspruchsvollere deutschsprachige Schreibkultur an. Die Sprecher, die weder eine sekundäre Sozialisierung auf Deutsch erlebten noch Deutschkurse besuchten, geben an, dass sie entweder schlecht oder gar nicht Deutsch schreiben können. 6.5 Kommunikationssituationen des Deutschen Als ausschließliche Domänen des Deutschen gelten solche Kommunikationssituationen, in denen sich regelmäßig professionelle Sprecher befinden: Lehrer, Sprachassistenten, Dolmetscher, Übersetzer, Manager in deutschen Firmen, Redakteure, Korrespondenten, Wissenschaftler, Studenten, Vertreter der Minderhei- 5. Tschechien 225 tenverbände und deren Regional- und Nationalversammlungen. Sie kommen in Kontakt mit anderen aktiven Sprechern des Deutschen, sowohl im Inland, als auch im Ausland, was ihre Kompetenz des Deutschen direkt beeinflusst. Im Allgemeinen ist seit der Wende ein Zuwachs von Sprachkompetenz bei den aktiven Sprechern des Deutschen in Tschechien zu vermerken, die in ihrer beruflichen Tätigkeit die deutsche Sprache verwenden. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Alle befragten Sprecher sind sich einig in der sehr positiven Bewertung der deutschen Sprache. Sie verbinden mit ihr gleichzeitig die Wahrnehmung ihrer eigenen Identität. Sprache spielt eine wichtige Rolle bei der Konstruktion sowohl der individuellen als auch der ethnischen Identität. Sie gilt als Codesystem zur kulturellen Identifizierung, als Mittel zum Kodieren und Dekodieren. Die Konstruktion der Identität kann zunächst als ein sprachlicher Sortierungsprozess beschrieben werden. Die Identität und ihre Elemente werden in der Kommunikation vermittelt. Zu den wichtigsten Einflussfaktoren der Identität gehören Kultur, soziale Umgebung, Religion, Ethnikum und Sprache. Wenn die eigene Sprache als bedroht empfunden wird, kann das dazu führen, dass sich die Sprecher weigern, eine zweite Sprache zu erlernen (Heinz 1993: 111). Obwohl im Allgemeinen der Sprache eine wichtige Rolle als Identifikationsfaktor für Minderheiten zugeschrieben wird, stellen wir in unserem Untersuchungsgebiet fest, dass sich die Funktion des Deutschen als Ethno-Identifikationsfaktor im Zeitraum von knapp einer Generation (nach 1945) stark abgeschwächt hat (Povejšil 1997). Gepflegt wird daher das Kulturgut, das Interesse sinkt aber kontinuierlich mit jeder Nachkommengeneration. Die „Wiederfindung“ der eigenen Identität postulierte der Präsident der Landesversammlung Walter Piverka daher bald nach der Wende 1989 als Programm der deutschen Minderheit in Tschechien. Er dachte dabei in erster Linie an die Wiedererinnerung an Traditionen und Bräuche sowie an religiöses, sprachliches, soziales und völkerrechtliches Kulturgut. Im Alltag werden Fragen aufgeworfen, wie z.B. das Minderheitenschulwesen der Gebrauch der Minderheitensprache im öffentlichen Verkehr, die Namensführung in der Muttersprache u.a. (Novotný 2002). Das Ergebnis der Befragung von deutschsprachigen Respondenten in Westböhmen über die Möglichkeiten der Bewahrung bzw. Stärkung der deutschen Identität ist Abbildung 3 zu entnehmen. Der Zusammenhang zwischen Identität und Muttersprache wird auch von unseren Gewährspersonen thematisiert: (98) Wenn ich deutscher Abstammung bin, dann denk ich, die deutsche Sprache sollt’ man wenigstens kennen. Wenigstens sprechen sollt’ mers kennen, nicht. (Tsch 10, IR) Diese Einstellung ist in allen Generationen festzustellen. Diejenigen Sprecher, die das Deutsche als Erstsprache und somit öfter gebrauchen, sehen darin eindeutig das wichtigste Identitätsmerkmal. Auch die Sprecher mit einer geringeren Deutschkompetenz betrachten die Sprache ihrer Vorfahren als wichtiges Zeichen für das Bestehen der Minderheit. Kommentiert wird die Frage meistens mit der skeptischen Feststellung, dass in vielen Familien heute mit den Kindern nur noch Tschechisch gesprochen wird: (99) Manche Deutschleute haben den Kindern nicht Deutsch gelernt. Und das, das verurteile ich ein bisschen. Ich meine, in meinen vier Wänden kann ich sprechen, wie ich will. (Tsch 34, RO) Auch andere soziolinguistische Untersuchungen belegen, dass sich die Funktion des Deutschen als Identifikationsfaktor der deutschen Volksgruppe in Tschechien im einem Zeitraum von nicht ganz einer Generation stark abgeschwächt wurde: Während 1970 nur 7,2 Prozent Deutsche Tschechisch als ihre Muttersprache ansahen, waren es 1987 schon 33 Prozent. Im gleichen Jahr führten 8 Prozent der Deutschen an, die sich zu Deutsch als ih- Pavla Tišerová 226 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Prozent Kulturentfaltung deutsches Schulw esen Muttersprache Deutsch Volksgut dt. Reisepass; Arbeitsmöglichkeiten in deutschspr. Ländern Sonstiges Abb. 3: Einflussfaktoren der Bewahrung der Identität (Novotný 2002) rer Muttersprache bekannten, dass sie in der Familie vorwiegend Tschechisch sprechen; 79,8 Prozent führten Tschechisch und Deutsch an, und nur 5 Prozent sprechen in der Familie vorwiegend Deutsch (Sokolová 1991; Nekvapil 1997). In Novotnýs soziolinguistischer Studie (Novotný 2002) sehen 83 Prozent der befragten Deutschen sogar die Identität der deutschen Minderheit in Tschechien durch den Verlust der Muttersprache Deutsch gefährdet. Die Gründe für die Schwächung der Identität werden meistens im Verlust der Muttersprache Deutsch und der Verletzung der Tradition und Kulturkontinuität gesehen. Als Verbesserung wird dabei vorgeschlagen, mehr Jugendtreffen zwischen den jungen Angehörigen der deutschen Minderheit und deutschen Jugendlichen zu veranstalten, um Kontakt mit der Sprache und der Kultur herzustellen. Als wichtigste Einflussfaktoren auf die Zugehörigkeit zur nationalen Minderheit (vgl. Abb. 4) wird dabei der Einfluss beider Eltern, der Schule und der kulturellen Einrichtungen angeführt. Die meisten Befragten der ältesten Generation gaben an, dass das Deutsche ihre Muttersprache ist. Nur einige, deren Eltern tschechischsprachig waren, haben das Deutsche entweder von ihren Großeltern (Tsch 9, AN) oder als Zweitbzw. Fremdsprache in deutschen Schulen (Tsch 39, AD) oder auch später während des Hochschulstudiums (Tsch 9, AN; Tsch 32, VL) erlernt. Am Beispiel einer Gewährsperson (Tsch 39, AD) kann verfolgt werden, wie er als Tscheche aus einer tschechischen Familie im deutschsprachigen Umfeld in Westböhmen bei Plze [Pilsen] und in einer deutschen Schule sekundär auf Deutsch sozialisiert wurde. Während des Zweiten Weltkriegs war er zum sog. Totaleinsatz in Deutschland, danach lebte und arbeitete er bis zu seinem Ruhestand als Facharbeiter in Westböhmen. Er beherrscht beide Sprachen und spricht den deutschen Ortsdialekt sowie die normnahe Varietät. Obwohl er in beiden Sprachen liest, beherrscht er schriftlich nur die deutsche Kurrentschrift. Er hat nie die tschechische Orthographie gelernt, kann nach eigener Aussage den Schriftverkehr mit Behörden nur mit fremder Hilfe führen. Die, die über ein volles, authentisches Repertoire von Dialekt und Hochsprache verfügen, zeichnen sich durch eine stark emoti- 5. Tschechien 227 0 5 10 15 20 25 30 Prozent Mutter oder Vater beide Eltern kulturelle Einrichtungen nationale Struktur der Region Massenm edien Schule öffentliche Meinung Abb. 4: Einflussfaktoren auf die Zugehörigkeit zur nationalen Minderheit (Novotný 2002) onelle, positive Einstellung zum Deutschen und durch eine bewusste Pflege der Kultur ihrer Vorfahren aus (Tsch 42, AL). Auf die Frage nach ihrer Muttersprache erwidern die L1-Sprecher, dass das Deutsche ihre Muttersprache ist, auch wenn sie nicht (mehr) beherrscht wird. Die direkte Frage nach der Lieblingssprache führt häufig zu der Feststellung, dass sich beide Sprachen gleicher Beliebtheit erfreuen, oder man legt sich nicht fest, wie das folgende Zitat zeigt: (100) Ich hob meine Eltern, wenn sind mit mir, dann wird das liebe Sprache Deutsch, darum warn wir deutsch und haben Deutsch geredet. Aber normal rede ich nur Tschechisch, dann kann ich schlecht sagen, was hab ich lieber gern. (Tsch 18, IN) Die meisten Befragten dieser Generation sind professionelle L2-Sprecher (z.B. Deutschlehrer, Redakteure, Wissenschaftler, Archivare), die das Deutsche in der Schule oder während des Studiums erworben haben. Ihre Einstellung zur deutschen Sprache und Kultur ist eindeutig positiv. Alle unsere Befragten der vierten Generation sind bilingual. Sie entstammen Mischehen und sprechen beide Sprachen aktiv. Alle halten das Deutsche wie auch das Tschechische für ihre Muttersprache. Dabei werden in den Mischfamilien keine deutschen Ortsmundarten mehr gesprochen, da alle deutschsprachigen Ehepartner aus Deutschland stammen und nun als eine der zwei Familiensprachen eine umgangsprachliche (Tsch 57, DE; Tsch 58, VA) oder standardnahe Varietät sprechen (Tsch 59, TE und RE). Ihre Einstellung zum Deutschen ist dementsprechend positiv. In allen Fällen fanden die deutsche Sprache und das deutsche Kulturgut in die Familien nicht Pavla Tišerová 228 nur durch den deutschen Ehepartner hinein, sondern auch durch die sekundäre Sozialisierung in deutscher und tschechischer Sprache am deutsch-tschechischen Gymnasium in Sachsen. Die persönliche Einstellung zum Deutschen ist häufig mit einer emotionalen Komponente besetzt. Ob das Deutsche gleichzeitig die Muttersprache ist, hängt von mehreren Parametern ab. Neben der emotionalen Komponente ist es meistens der Umstand, welche Sprache man als Kind als erste gesprochen hat. Daneben spielt eine ausschlaggebende Rolle, zu welcher Nationalität man sich bekennt und welche man im Pass vermerkt hat, welche Sprache man besser beherrscht oder welche Sprache man aus wirtschaftlichen Gründen bevorzugt. In den emotionalen Kontexten (Kosenamen, Beschimpfungen) wird in der ältesten Generation regelmäßig das Deutsche bzw. der deutsche Dialekt verwendet, wie auch beim Sprechen mit den Haustieren. In der Kommunikation mit dem nichtdeutschsprachigen Partner wird jedoch in der Regel nicht ins Deutsche gewechselt. Das Deutsche als Sprache der religiösen Domäne steht bei unseren Informanten nicht im Vordergrund. Nur eine Sprecherin berichtet über ihre Gottesdienstbesuche, in der Kriegszeit in beiden Sprachen, später dann nur auf Tschechisch (Tsch 11, SU). In der zweiten und dritten Generation bleiben die emotionalen Kontexte dem Tschechischen vorbehalten, während in der jüngsten Generation wieder beide Sprachen zum Einsatz kommen. Die positive Einstellung zur Sprache äußert sich auch in der intensiven Pflege eigener Sprachkompetenz, sei es durch bewussten aktiven Sprachkontakt, Lektüre und Privatverleih von Büchern, Abonnements deutschsprachiger Zeitungen und Heimatblätter, regelmäßige Teilnahme an Treffen und Veranstaltungen der Minderheitenverbände u.ä. Viele Informanten besuchten Deutschkurse oder machten den professionellen Umgang mit dem Deutschen zu ihrem beruflichen Ziel. Wenn das Deutsche nicht als Familiensprache an die eigenen Kinder weiter gegeben wurde, hört man Enttäuschung oder gar kritische Stimmen: (101) Als deutsche Mutter müsst ich mich schämen, wenn mein Kind nicht Deutsch kann. (Tsch 11, SU) Auch die Abkehr vom Deutschen als Fremdsprache in der Schule wird bedauert. Ein Sprecher der ältesten Generation zitiert sichtlich enttäuscht seine Tochter, die jahrelang als Deutschlehrerin an einer Hauptschule tätig war, wie wenig Interesse die Kinder am Erlernen des Deutschen mitbringen: (102) Se hat gefrogt die Kinder. (…) Sagten’s auf Tschechisch, net a mol uf Deutsch, nemám zájem o n m inu [ich interessiere mich nicht für Deutsch], ich hab keine Interesse für Deutsch. (Tsch 5, GE) 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Der Verlust des Deutschen als Familiensprache wird in den Interviews bedauert. Es wird als wichtig empfunden, dass die Kinder beim Erlernen des Deutschen in der Schule die aktiven Sprachkenntnisse der ältesten und mittleren Generationen nutzen. Einige Sprecher gaben an, dass die Sprache ihrer Großeltern der Auslöser zum Erlernen des Deutschen war (Tsch 14, RA, Tsch 25, LI). In der dritten und vierten Generation beobachtet man besonders in den Grenzgebieten eine Kosten-Nutzen-Kalkulation aus beruflichen und wirtschaftlichen Gründen. So berichtet GU (Tsch 56), dass es für seinen Beruf als Grenzpolizist an der böhmisch-sächsischen Grenze unentbehrlich ist, seine Deutschkenntnisse weiterzuentwickeln. Viele Personen im aktiven Berufsalter erhoffen sich durch die Deutschkenntnisse bessere Berufschancen oder sogar den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Einige verbinden damit, bei entsprechenden Voraussetzungen in der Familie, den Weg zur Anerkennung als deutscher Staatsangehöriger, was den direkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zur Folge hat. Allgemein wird festgestellt, oft mit Bedauern, dass Deutsch als Muttersprache keinen Bestand mehr hat und dass es sich nur noch als Fremdsprache halten kann. Das Deutsche als Fremdsprache wird ebenfalls positiv eingeschätzt. Es behält seine Vor- 5. Tschechien 229 rangstellung nach wie vor in den zahlreichen deutsch-tschechischen Unternehmen und Bildungseinrichtungen. Im Berufsleben der jüngeren Generationen belegt jedoch das Englische den Rang der wichtigsten Fremdsprache und wird auch höher in der Kosten- Nutzen-Kalkulation eingestuft als das Deutsche, das sich als die zweitwichtigste Fremdsprache zu behaupten versucht. 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal Die Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache ist durchgängig positiv. Das Hochdeutsche genießt in allen Generationen ein hohes Ansehen. Bei den Versammlungen der Bezirks- und Landesgremien der Minderheitenverbände wird eher Hochdeutsch gesprochen, in den regionalen Arbeitsgemeinschaften und Heimatstuben Dialekt. Die Hochsprache gilt als das wichtigste Integrationsmittel über die Mundartgrenzen hinaus und steht als ein traditionelles Symbol für Bildung, Kultur, sozialen Status, Prestige und politisches Gewicht. Im Deutschunterricht und in den deutschsprachigen Medien, z.B. „Radio Prag“, ist sie die alleinige Sprachvarietät. Die meisten Informanten führen an, dass sie am liebsten Sendungen und Programme auf Hochdeutsch verfolgen, da ihnen das Hochdeutsche als Sprache der Medien am besten vertraut ist. Der Dialekt profilierte sich als das wichtigste Identitätsmerkmal der ältesten Generation. Alle, auch jüngere im Dialekt sozialisierte Sprecher berichten über eine starke emotionelle Einstellung dazu. Die meisten Mundartsprecher nutzen gern Gelegenheiten, in ihrem Dialekt zu sprechen. Sie treffen sich regelmäßig mit Bekannten und sprechen im Dialekt, damit sie die Sprache nicht verlernen (Tsch 10, IR). Die Untersuchungen des ADT zeigen, dass den einzelnen Varietäten des Deutschen ein unterschiedlicher Stellenwert beigemessen wird. Ein achtjähriger Junge in Nordböhmen unterscheidet Hochdeutsch, Sächsisch und „Ock“, den Ortsdialekt, und besteht darauf, „Ock“ ausschließlich mit Personen seines Vertrauens zu sprechen (vgl. oben Anmerkung 30; Scherf 2003). 38 In einigen Interviews werden auch die einzelnen Mundartvarietäten gewertet, wie das folgende Zitat zeigt: (103) Des wor Neugeschrei, und des is der bessere Teil von Weipert, hot aber immer gehert immer schon zu Weipert, ne. Aber die hatten, wissen se, wie mer sogt, die Nase a bissl hoch. Die ham besser gesprochen. (…) Die warn a bissl mehr eigebildet, ne, und besser angesehn. Und heut noch. (Tsch 5, GE) An einer anderen Stelle im Interview fangen die beiden Gesprächspartner CH und GE einen Scheinstreit darüber an, in welcher Mundart bestimmte Speisen „richtig“ benannt werden: (104) GE: Bei uns heißt das net Küchler, das is ganz verpfuschts Daitsch, sonnern des heißt bei uns Glatscher, Glotscher oder a bissl besser hochdeutsch Glitscher. CH: Glitscher ist was annersch! (Tsch 5) Sehr positiv wird es bewertet, wenn auch Kinder den Dialekt übernehmen und sprechen. CH erzählt mit Stolz, dass auch ihr Sohn die Mundart beherrscht und bis heute zweisprachig ist: (105) Mit mein Sohn hab ich gesprochn nur Erzgebirgerisch. Nur in Erzgebirgerisch, jo. Die Kinder, die sind in de Schul rein, die konntn net Tschechisch. Aber die hams ja gleich ge- 38 Die Dialekte werden aufgrund ihres ziemlich engen Verwendungsradius und ihres im Verhältnis zur Standardsprache eher negativen sozialen Prestiges im Allgemeinen als sprachliche Varietäten mit dem niedrigsten sozialen Status beschrieben. Diese Bewertung muss allerdings nicht den individuellen Einstellungen des jeweiligen Sprechers und/ oder den sprachlichsoziologischen Verhältnissen im Ort entsprechen. Durch den Mundartgebrauch bringen die Sprecher u.a. auch ihre Ortsloyalität sowie ihre emotionelle Bindung an den Ort zum Ausdruck, ohne die Mundart als eine Sprachvariante mit niedrigstem sozialem Status unbedingt empfinden zu müssen. In ganz kleinen Ortschaften kann die Ortsmundart die einzige verwendete Sprachvarietät sein und daher einen „höheren“ sozialen Status beanspruchen (vgl. Huesmann 1998: 38). Pavla Tišerová 230 lernt, des war kein Problem, und jetzt sind sie froh, dass sie können Tschechisch UND Deutsch, ne, das ist ja klor. (Tsch 5, CH) 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Die deutsche Sprachgruppe in Tschechien bewohnte neben einem relativ geschlossenen Territorium in den Grenzgebieten mit Gebirgsketten und -vorland bedeutende städtische und ländliche Inselgebiete im Landesinneren. Trotz der Nähe zum Mutterland waren die Deutschen isoliert, was die Herausbildung einer eigenen Minderheitenkultur und die Erhaltung verschiedener Sprachvarietäten begünstigte. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs bedeuteten den größten Einschnitt in die geographische Struktur der deutschen Sprachgruppe. Viele Landesteile und Ortschaften wurden entvölkert oder verschwanden gänzlich; Umsiedlung, Vertreibung und Binnenwanderung hatten eine weitere Zersplitterung zur Folge. Das Deutsche büßte seine flächendeckende Verbreitung ein und hält sich seitdem nur noch in der Diaspora. 8.2 Historische und demographische Faktoren Die historische Entwicklung seit der Nachkriegszeit brachte einen eindeutigen Rückgang der deutschen Sprachgruppe in Tschechien. Das zeichnet sich auch in der demographischen Struktur ab; die meisten Deutschstämmigen sind über 60 Jahre alt. Die jüngeren Generationen unterliegen sprachlich sowie kulturell einem Assimilierungsprozess, der mit einem Identitätswechsel einhergeht. Die Zahl der Deutschsprecher nimmt weiter ab, auch wenn sich die kulturpolitische Situation nach 1989 verbesserte. 8.3 Kulturelle Faktoren Die deutsche Minderheit in Tschechien trägt Züge, die sie mit anderen deutschen Minoritäten in den Ländern Mittel- und Osteuropas gemeinsam hat, wie z.B. die Tendenz zum Verlust der Muttersprache, sekundäre Sozialisation in der Majoritätssprache oder Bilingualismus, Verlust religiöser Traditionen, Stereotypisierung und Vereinfachung des Kulturlebens, Leben in verstreuter Lage innerhalb des Landes usw. Fehlende Strukturen und einheitliche Konzepte der Schul- und Kulturpolitik erschweren die Situation. Um die eigenständige Kulturpflege, die Vertretung der Minderheit auf der Landesebene sowie um die Pflege der deutschen Sprache sind zwei große überregionale Verbände bemüht, die verschiedene kulturpolitische Ziele verfolgen und nicht zwingend eine Zusammenarbeit anstreben. Ihr Netzwerk schließt mehrere Begegnungszentren und Kulturinstitute ein, die sich in der Organisation von Sprachkursen, Folkloreprogrammen, Ausstellungen, Bildungsseminaren und -reisen sowie Seniorentreffs engagieren. Einen Beitrag zur Pflege der deutschen Sprache leisten auf institutioneller Ebene neben Schulen, Fremdsprachenschulen und -instituten auch die Kirchen. Im Allgemeinen ist über die Minderheiten in der Tschechischen Republik wenig bekannt. Die Berichterstattung in den Medien über die deutsche Minderheit verliert seit 1989 an Intensität und Attraktivität. Daraus lässt sich einerseits eine gleichgültige oder auch negative Einstellung der Majorität gegenüber den Minoritäten schließen; andererseits zeugt es auch davon, dass sich die Lage der Minderheit seit 1989 normalisierte. Im Bereich der Minderheitenforschung in Tschechien besteht bezüglich der deutschen Volksgruppe nach wie vor Forschungsbedarf. 8.4 Soziolinguistische Situation Das Deutsche hat sich von der Erstzur Zweitbzw. Fremdsprache entwickelt. Das Interesse an der Fremdsprache Deutsch ist gleich nach dem Englischen ziemlich groß. Bei den Sprechern deutscher Abstammung ist das Interesse an der Sprache gestärkt durch die eigene Identitätsfindung. Der Rückgang des Deutschen als Erstsprache ist jedoch trotz positiver Einstellung der Sprecher nicht aufzuhalten, da sich das Tschechische als die dominante Sprache im Umfeld wie auch in den 5. Tschechien 231 Familien durchsetzte, die Weitergabe der Sprache an die Nachkommengenerationen über längere Zeit aus Angst vor Sanktionen unterbrochen war und das systematische Erlernen der Sprache zu spät einsetzte. Die Varietäten des Deutschen weisen im unterschiedlichen Maße Sprachkontakterscheinungen aus dem Tschechischen auf. Die rezenten Mundarten stützen sich auf die Ausgleichsdialekte der ursprünglichen Siedler. Am häufigsten sind Mischmundarten mit nordbairischen und mitteldeutschen Merkmalen vertreten. Die Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten des Deutschen gestaltet sich bei einzelnen Sprechern wie auch im Vergleich der Generationen sehr unterschiedlich. Zu den häufigsten Einflussfaktoren auf die Dialektkompetenz gehört das Alter. Je älter die Sprecher, desto höher ist ihre Dialektkompetenz. Während bei der ältesten Generation die Dialektkompetenz neben der standardsprachlichen Kompetenz voll ausgeprägt ist, tritt bei jüngeren Sprechern, die nach 1940 geboren wurden, ein geringeres Sach- und Sprachwissen im Deutschen auf. Sie verwendeten das Deutsche meistens nur als Haussprache mit einem deutschsprachigen Elternteil, wobei die Dialektkompetenz bei Sprechern mit Schulsprache Tschechisch etwas höher ist. Die Kompetenz in den standardnahen Varietäten wird bei den jüngeren Sprechern durch das Erlernen des Deutschen als Zweitbzw. Fremdsprache gefördert. 9 Literatur Alexander, Manfred (2002): Die deutsch-tschechischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart: Aktuelle und historische Probleme. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung; Pädagogisches Zentrum Prag (Hrg.): Die deutschtschechischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart: Aufgaben für die Zukunft. Kooperationsprojekt zwischen der Tschechischen Republik und Nordrhein-Westfalen. Prag (=Materialien zur Lehrerfortbildung), S. 65-76. Aschenbrenner, Viktor (1988a): Wer sind die Sudetendeutschen? In: Aschenbrenner, Viktor (Hrg.): Typisch sudetendeutsch. Würzburg: Weidlich, S. 14-21. Aschenbrenner, Viktor (Hrg.) (1988b): Typisch sudetendeutsch. Würzburg: Weidlich. Bachmann, Armin/ Tišerová, Pavla (2000): Der Atlas der historischen deutschen Mundarten in der Tschechischen Republik (ADT). Ein Bericht. 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Zich, František/ Houžvi ka, Václav/ Je ábek, Milan/ Kastner, Quido (1996): Kdo žije v pohrani í? eská ást esko-n meckého pohrani í v procesech spole enské transformace a evropské integrace. Ústí nad Labem. 5. Tschechien 241 10 Anhang: Tabellen Jahr 1921 % 1930 % 1950 % 1961 % gesamt 10.005.734 100 10.674.386 100 8.896.133 100 9.571.531 100 tschechisch 6.758.983 67,50 7.304.588 68,43 8.343.558 93,79 9.023.501 94,20 mährisch* schlesisch* slowakisch 15.732 0,16 44.451 0,42 258.025 2,90 275.997 2,88 ukr./ russ./ ruth. 13.343 0,13 22.657 0,21 19.384 0,22 19.549 0,20 polnisch 103.521 1,03 92.689 0,87 70.816 0,80 66.540 0,70 ungarisch 7.049 0,07 11.427 0,11 13.201 0,15 15.152 0,10 deutsch 3.061.369 30,60 3.149.820 29,51 159.938 1,80 134.143 1,40 Roma* vietnamesisch* nicht gezählte 45.737 0,46 48.754 0,46 31.211 0,35 36649 0,38 Jahr 1970 % 1980 % 1991 % 2001 % gesamt 9.807.697 100 10.291.927 100 10.302.215 100 10.230.060 100 tschechisch 9.270.617 94,40 9.733.925 94,58 8.363.768 81,18 9.249.777 90,42 mährisch* 1.362.313 13,2 380.474 3,72 schlesisch* 44.446 0,43 10.878 0,11 slowakisch 320.998 3,27 359.370 3,49 314.877 3,06 193.190 1,89 ukr./ russ./ ruth. 16.413 0,17 15.322 0,15 15.208 0,15 22.112 0,22 polnisch 64.074 0,60 66.123 0,64 59.383 0,58 51.968 0,51 ungarisch 18.472 0,19 19.676 0,19 19.932 0,19 o.A. o.A. deutsch 80.903 0,82 58.211 0,57 48.556 0,47 39.106 0,38 Roma* 32.903 0,40 11.746 0,11 vietnamesisch* 17.462 0,17 nicht gezählte 36.220 0,37 39.300 0,38 40.829 0,72 253.347 2,48 * erst seit 1991 bzw. 2001 erhoben Tabelle 4: Nationalitäten nach den Volkszählungen in den Jahren 1921 bis 2001 Pavla Tišerová 242 Landkreis Personen Prozentualer Anteil im Landkreis Sokolov [Falkenau] 4.349 4,65 Karlovy Vary [Karlsbad] 2.931 2,40 Chomutov [Komotau] 2.389 1,91 Cheb [Eger] 1.645 1,85 Jeseník [Freiwaldau] 692 1,63 Teplice [Teplitz] 2.007 1,59 Jablonec nad Nisou [Gablonz an der Neiße] 1.400 1,59 D ín [Tetschen] 2.017 1,51 Trutnov [Trautenau] 1.550 1,28 Most [Brüx] 1.462 1,25 Opava [Troppau] 2.171 1,20 Tabelle 5: Konzentration der Deutschstämmigen in den Landkreisen der R im Jahr 2001 (Anteile zwischen 1 Prozent und 5 Prozent) Landkreis Personen Prozentualer Anteil im Landkreis eský Krumlov [Krummau] 561 0,94 Liberec [Reichenberg] 1.391 0,87 eská Lípa [Böhmisch Leipa] 820 0,78 Plze -sever [Pilsen-Nord] 537 0,73 Ústí nad Labem [Aussig an der Elbe] 825 0,70 Tachov [Tachau] 320 0,62 Louny [Laun] 494 0,57 Náchod 609 0,54 Tabelle 6: Konzentration der Deutschstämmigen in den Landkreisen der R im Jahr 2001 (Anteile zwischen 0,5 Prozent und 1 Prozent) Slowakei 6 Albrecht Plewnia/ Tobias Weger Inhalt 1 Allgemeines und geographische Lage ................................................................................... 245 2 Statistik und Demographie ..................................................................................................... 246 3 Geschichte ................................................................................................................................ 246 3.1 Von den Anfängen bis 1918 ............................................................................................. 246 3.2 In der Tschechoslowakischen Republik, 1918-1939 ..................................................... 248 3.3 Autonome Slowakei, 1939-1944/ 45 ................................................................................ 248 3.4 Tschechoslowakei, 1945-1992 .......................................................................................... 248 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung ............................................................. 249 5 Soziolinguistische Situation .................................................................................................... 250 5.1 Kontaktsprachen ................................................................................................................ 250 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ................................................................. 250 5.2.1 Sprachlagen .............................................................................................................. 250 5.2.2 Dialekte ..................................................................................................................... 251 5.2.3 Sprachliche Charakteristika der deutschen Varietäten........................................ 252 5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung ......................................................... 257 6 Sprachgebrauch und -kompetenz .......................................................................................... 257 6.1 Allgemeines ......................................................................................................................... 257 6.2 Sprachkompetenz nach Generationen ............................................................................ 258 6.3 Sprecherkonstellationen und -typen ................................................................................ 259 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen.................................................................. 260 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 260 7.1 Affektive Bewertung und Identitätsfragen ..................................................................... 260 7.2 Vitalitätsprognosen ............................................................................................................ 261 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 261 8.1 Geographische Faktoren ................................................................................................... 261 8.2 Historische und demographische Faktoren.................................................................... 261 8.3 Kulturelle Faktoren ............................................................................................................ 262 8.4 Soziolinguistische Situation............................................................................................... 262 9 Literatur .................................................................................................................................... 262 Kapitel 1 bis 4: Tobias Weger; Kapitel 5 bis 8: Albrecht Plewnia. 1 Allgemeines und geographische Lage Als offizieller Staatsname taucht die Slowakei (Slovensko) erst 1918 als Teil der Tschechoslowakischen Republik ( eskoslovenská republika, SR) auf. Dennoch ist sie - ungeachtet der Jahrhunderte währenden Zugehörigkeit zu Ungarn - bereits älter, zumal die ethnische Bezeichnung „Slowaken“ schon seit dem hohen Mittelalter in Gebrauch war. Die Slowakei, seit Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union, liegt im Karpatenbogen und zeichnet sich durch eine extreme Vielfalt der Landschaftsformen aus, die von den milden Weinbaugebieten im Süden bis zu der auf 2.655 m aufragenden Hohen Tatra (Vysoké Tatry) im Norden reicht. Deutschsprachige Siedler kamen vom 11. bis 19. Jahrhundert in mehreren Wellen ins Land. Bei der Gründung der SR zählten sie knapp 150.000 Menschen, womit im slowakischen Landesteil weit weniger Deutsche lebten als im tschechischen, wo sich zur gleichen Zeit etwa 2,97 Millionen Menschen zur deutschen Nationalität bekannten. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung wichtig, dass die Deutschen in der Slowakei nie in völlig geschlossenen Gebieten lebten, sondern stets in interethnischem Kontakt mit anderen Gruppen, vor allem Slowaken, Ungarn, Ruthenen, Ukrainern, Roma und Juden. Diese Erfahrung des Neben- und Miteinanders war für die Deutschen in der Slowakei kulturell prägend, auch wenn die „Volkstumsforschung“ des 19. und 20. Jahrhunderts ein Kulturgefälle und einen einseitigen westöstlichen Kulturtransfer suggerieren wollte. Die komplexe Geschichte der Ansiedlung, die verstreute Siedlungssituation und die kulturelle Vielfalt laufen der Sammelbezeichnung „Karpatendeutsche“ zuwider, zumal diese im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach politisch instrumentalisiert wurde. Dieses ethnische Konstrukt wurde kurz nach 1900 durch den österreichischen Volkskundler und Historiker Raimund Friedrich Kaindl entwickelt. Deutsche lebten in der Slowakei vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem in folgenden Gegenden: - in Bratislava/ Pressburg (bis 1919 auch slowakisch: Prešporok) und ihrer Umgebung, etwa in den an der Ostflanke der Kleinen Karpaten (Malé Karpaty) gelegenen Weinbauorten Svätý Júr/ Sankt Georgen, Pezinok/ Bösing und Modrá/ Modem, sowie in acht Ortschaften auf der Schüttinsel (Žitný ostrov) östlich von Bratislava, von denen Prievoz/ Oberufer (heute ein Stadtteil im Bezirk Bratislava I-Ružinov) am bekanntesten war; - in der Mittelslowakei, für die in den 1930er Jahren - vermutlich durch den deutschböhmischen Volkskundler Josef Hanika - die Sammelbezeichnung „Hauerland“ eingeführt wurde. Dieser Begriff, der auf das in 24 deutschsprachigen Ortsnamen zu findende Suffix „-hau“ (von hauen - ‘roden’) zurückgeht, ist zum einen ungenau und hebt zum anderen einseitig auf die von der deutschen Ostforschung früher einseitig betonte Rolle der Deutschen als „Kulturträger“ ab. Präziser handelte es sich um die geographisch voneinander getrennten, mehrheitlich deutschsprachigen Gegenden um Kremnica/ Kremnitz und Nitrianske Pravno/ Deutsch-Proben (slowakisch bis 1946: Nemecké Pravno); - in der östlich der Hohen Tatra (Vysoké Tatry) gelegenen Oberzips (Horný Spiš), entlang der Flüsse Popper (Poprad) und Hernad (Hornád), um die Städte Poprad/ Deutschendorf, Kežmarok/ Kesmark und Levo a/ Leutschau; - in der Unterzips (Dolný Spiš), insbesondere entlang des Flusses Göllnitz (Hnilec) und seiner Zuflüsse, vor allem in Gelnica/ Göllnitz, Smolník/ Schmöllnitz, Mníšek nad Hnilcom/ Einsiedel an der Göllnitz, Švedlár/ Schwedler, Vondrišel/ Wagendrüssel und Dobšiná/ Dobschau; - im 35 km westlich von Košice/ Kaschau gelegenen Bodwatal (údolie Bodvy) zwischen Slowakischem Erzgebirge (Slovenské rudohorie) und Slowakischem Karst (Slovenský kras), in den Ortschaften Štós/ Stoß, Nižný Medzev/ Untermetzenseifen, Vyšní Medzev/ Obermetzenseifen und Jasov/ Joßau. Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 246 2 Statistik und Demographie Statistische Angaben aus der Zeit vor der modernen Volkszählung sind allenfalls als Annäherungswerte aufzufassen. Sicher scheint zu sein, dass der deutsche Anteil an der Gesamtbevölkerung der Slowakei in der Frühen Neuzeit nie ein Fünftel überstieg. Erhebungen im ungarischen Teil der Habsburger Doppelmonarchie im 19. Jahrhundert weisen den Deutschen auf dem Gebiet der heutigen Slowakei einen Bevölkerungsanteil von etwa zehn Prozent mit sinkender Tendenz zu. Diese Entwicklung setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Einen dramatischen Einschnitt bedeutete die Evakuierung und Vertreibung der in der Slowakei lebenden Deutschen ab 1944. Dadurch wurden die im Lande verbliebenen Deutschen zu einer marginalen Minderheit (vgl. unten Tabelle 1). Die Zahlenangaben in Tabelle 1 beziehen sich auf die gesamte Landesbevölkerung. Tatsächlich konnte der deutsche Bevölkerungsanteil regional sehr stark variieren, wie alleine die Werte für 1930 zeigen. Während es damals Orte mit einer klaren deutschen Bevölkerungsmehrheit gab, wie etwa Mníšek nad Hnilcom/ Einsiedel (91,9 %) oder Švedlár/ Schwedler (88,5 %), und in anderen Städten bedeutende Anteile lebten, etwa in Kežmarok/ Käsmark (39,9 %) oder Bratislava/ Pressburg (28,1 %), hatte sich etwa in Levo a/ Leutschau (8,7 %) der deutsche Anteil stark verringert. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die prozentualen Anteile durch allgemeines Wachstum der Städte veränderten, während häufig die absolute Zahl der in einer Stadt ansässigen Deutschen über Jahrzehnte relativ konstant blieb. Aufgrund der städtischen Expansion sank etwa in Košice der Anteil der Deutschen von 17 Prozent (1880) auf 9 Prozent (1900). 3 Geschichte 3.1 Von den Anfängen bis 1918 Die ersten Spuren von Deutschen in der Slowakei reichen vermutlich bereits bis in die Zeit des ungarischen Königs Stephan I. zurück, der ihnen im frühen 11. Jahrhundert die Niederlassung in den gebirgigen Regionen Oberungarns ermöglichte, nachdem er die ungarische Oberherrschaft über das Fürstentum von Nitra/ Neutra gesichert hatte. Dessen Ausdehnung kam dem heutigen Staatsgebiet der Slowakei nahe. Die Zuwanderung von Deutschen intensivierte sich aber vor allem in der Regierungszeit von König Géza II. in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts sowie nach den Bevölkerungsverlusten, die der Westzug der Mongolen von 1241/ 42 verursacht hatte. Infolge dieser Ereignisse forcierte König Béla IV. die Ansiedlungspolitik in den vom Krieg betroffenen Gebieten. Deutsche ließen sich sowohl in Städten als auch in ländlichen Regionen nieder und wurden mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Sie stiegen in den Städten vielfach zur führenden sozialen Schicht auf und erlangten bürgerliche Freiheiten. Während die deutschen Siedler in der Zips vorwiegend auf den Fernhandel aus- Zensus Anzahl Anteil an der Gesamtbevölkerung der Slowakei in Prozent 31.12.1910 198.405 6,8 15.2.1921 145.844 4,6 1.12.1930 154.821 4,5 4.10.1946 24.000 0,5 1.3.1961 6.259 0,1 1.11.1980 5.121 0,1 3.3.1991 5.380 0,1 26.5.2001 5.405 0,1 Tabelle 1: Deutsche in der Slowakei 1910-2001 6. Slowakei 247 gerichtet waren, engagierten sie sich in der Mittelslowakei stark im Bergbau. Tiroler Bergleute brachten besondere Kenntnisse im Stollenbau mit, die es ermöglichten, auch tiefer gelegene Erzvorkommen abzubauen. Berühmt waren im späten Mittelalter das Gold aus Kremnica/ Kremnitz, das Silber aus Banská Štiavnica/ Schemnitz und das Kupfer aus Banská Bystrica/ Neusohl. 24 Städte der Oberzips schlossen sich 1370 zu einem Städtebund zusammen, den ein Graf nach außen vertrat und der rechtliche Selbständigkeit besaß („Zipser Willkür“). Allerdings wurden schon 1412 dreizehn dieser und drei weitere Zipser Städte durch Kaiser Sigismund an das Königreich Polen verpfändet, darunter Spišská Nová Ves/ Zipser Neudorf. Diese Städte kehrten erst 1769/ 72 zum Königreich Ungarn zurück. Die kulturelle Blüte der Zips im 16. Jahrhundert manifestierte sich zum einen in der Zusammenarbeit der Augsburger Fugger mit der einheimischen Adelsfamilie der Thurzo, zum anderen in herausragenden kulturellen Artefakten wie dem monumentalen spätgotischen Schnitzaltar des Meisters Paul von Leutschau in der St.-Jakobskirche von Levo a/ Leutschau. Die Reformation und anschließende Gegenreformation wirkte sich auch auf die Deutschen in der Slowakei aus. Im Endergebnis führten sie dazu, dass etwa zwei Drittel der Deutschsprachigen katholischer Konfession waren, während ein Drittel sich zur lutherischen bzw. zur calvinistischen Variante des Protestantismus bekannte. Auch nach dem Ende des Mittelalters kam der Zustrom von Deutschen nie ganz zum Erliegen. Eine Sondergruppe bildeten deutschsprachige Wiedertäufer aus der Schweiz und Tirol. Es handelte sich dabei um Religionsflüchtlinge, die sich um 1540 - ähnlich wie im benachbarten Mähren - in bestimmten Ortschaften der südlichen Slowakei niederließen. Zwischen 1545 und 1621 errichteten sie 23 Brüderhöfe, in denen sie nach ihren strengen religiösen Grundsätzen lebten und wirtschafteten. Sie wurden „Habaner“ genannt und waren insbesondere für ihre Fayence- und Steingutwaren berühmt. Die meisten Wiedertäufer zogen im 17. Jahrhundert von der Slowakei nach Siebenbürgen weiter, andere emigrierten im 18. Jahrhundert nach Nordamerika. Der Landesausbau unter Kaiserin Maria Theresia und ihrem Nachfolger Josef II. förderte ebenfalls weitere Ansiedlungen. In die Regierungszeit Josefs II. fallen 1786 die Niederlassungen von Deutschen in den am Fuße der Tatra gelegenen Ortschaften Sládkovi ovo/ Deutsch Dioseg und in den Gütern des aufgelassenen Kamadulenserklosters von Javorina/ Urngarten. Nach Deutsch Dioseg kamen Siedler aus unterschiedlichen süddeutschen Regionen, die bei ihrer Ankunft in Wien einen Pass, Reisegeld und die Zusicherung zahlreicher Privilegien, darunter der zehnjährigen Steuerbefreiung, erhielten. In den zum ehemaligen Roten Kloster von Ungarten gehörenden Orten Dolná Lechnica/ Unter-Lechnitz und Staré Majere/ Altmeierhof ließen sich insgesamt etwas mehr als hundert evangelische Deutsche nieder, die jedoch später angesichts der harten Lebensbedingungen größtenteils in die Unterzips abwanderten. Für das 19. Jahrhundert gilt es noch zwei kleine, aber aufgrund ihrer Herkunft interessante Gruppen zu erwähnen: Im Jahre 1857 standen die Güter des Grafen Degenfeld-Schinburg und des Barons Heinrich von Splenyi in der Gegend von Nitra zum Verkauf an. Agenten warben in Norddeutschland Siedler an, die gemeinsam die Ländereien erwerben sollten. In den kinderreichen katholischen Gegenden im deutschen Nordwesten herrschte seinerzeit das sächsische Erbrecht vor, das es nur dem ältesten Sohn ermöglichte, das elterliche Anwesen zu übernehmen. Deshalb fanden sich dort Kaufinteressenten, in Suttrup bei Freren im Emsland sowie in Schemde bei Steinfeld im Oldenburger Münsterland. Etwa hundert Familien (ungefähr vierhundert Personen) machten sich 1858/ 59 in zwei Zügen in die südliche Slowakei auf. Auf diese Weise entstanden die zum Teil deutschsprachigen Siedlungen ermany/ Tscherman und Ve ké Rip any/ Groß Rippen (ab 1869). 1899 erwarben deutsche Bauern aus Ostgalizien in der ostslowakischen Gemeinde Michalok, zehn Kilometer nördlich von Vranov nad Top ou/ Vrönel an der Töpl, Grund und Boden. Ihre Vorfahren waren aus der Gegend Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 248 um das westböhmische Tachov/ Tachau nach Galizien ausgewandert, glaubten aber, in der Slowakei ein sichereres Auskommen zu finden. Die Männer, zumeist gelernte Zimmerer, arbeiteten überwiegend in der Quecksilbergrube von Merník. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Deutschen wie alle nicht-ungarischsprachigen Gruppen in der Slowakei der Magyarisierungspolitik der Regierung in Budapest ausgesetzt. Sie betraf insbesondere das Schulwesen. Viele Menschen wanderten in jener Zeit nach Budapest ab oder emigrierten nach Übersee. In gleicher Weise waren von der Magyarisierung auch die Slowaken selbst betroffen, deren nationale Institutionen - etwa die 1863 gegründete Matica slovenská - Repressionen ausgesetzt waren. 3.2 In der Tschechoslowakischen Republik, 1918-1939 Angesichts dieser Vorgeschichte war die Einbeziehung der Slowakei in die SR 1918/ 1919 de facto sowohl für Slowaken als auch für Deutsche eine Art Befreiung, auch wenn dies zeitgenössisch nur von einem geringen Teil der politisch Aktiven so artikuliert wurde. Der neue Minderheitenschutz regelte die Einführung von Schulen, die Existenz nationaler Vereine und Presseorgane. Als verhängnisvoll erwies sich jedoch, dass aufgrund der begrenzten Zahl an eigenen Führungspersönlichkeiten die Deutschen aus der Slowakei zunehmend unter den Einfluss der benachbarten sudetendeutschen völkischen Bewegung gerieten, die ihrerseits die „Karpatendeutschen“ als Objekt ihrer pseudowissenschaftlichen Aktivitäten und großdeutschen Aspirationen missbrauchte. Dies blieb langfristig gesehen nicht ohne Folgen: Während sich die 1920 gegründete Zipser Deutsche Partei (ZDP) auf dem Boden der Republik bewegte und vor allem mit den Vertretern der ungarischen Minderheit kooperierte, entwickelte sich die 1928 initiierte Karpatendeutsche Partei (KdP), ähnlich wie später die Sudetendeutsche Partei (SdP) im tschechischen Teil der SR, zu einem willfährigen Handlanger nationalsozialistischer Interessen, zu denen sie sich ab 1937/ 38 auch in aller Offenheit bekannte. Mit ihrem Vorsitzenden Franz Karmasin hatte sie Anteil an der Unterhöhlung des demokratischen Systems der Tschechoslowakischen Republik. 3.3 Autonome Slowakei, 1939- 1944/ 45 Im Oktober 1938 benannte sich die verbotene Karpatendeutsche Partei in Deutsche Partei (DP) um. Sie wurde zum politischen Transmissionsriemen der NS-Politik bei der Regierung in Bratislava nach der Proklamation der autonomen Slowakei im März 1939. Durch den Aufbau paramilitärischer Organisationen und ihre Anbindung an die „Volksdeutsche Mittelstelle“ (Vomi) schuf die DP einen Staat im Staat. Sie konnte 1944 auch die Zugehörigkeit der deutschen Militärangehörigen in der Slowakei zur Waffen-SS durchsetzen. Dennoch gelang es der DP nicht, alle Reste politischer Pluralität zu beseitigen. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kam es sogar zu offenen Protesten gegen die „Volksgruppenführung“. Andererseits konnte die NSDAP in der Slowakei ein geheimes Agentennetz aufbauen, mit dessen Hilfe sie Widerspruch gewaltsam unterdrückte. 3.4 Tschechoslowakei, 1945-1992 Wie neuere Forschungen ergeben haben, waren am Slowakischen Nationalaufstand gegen das Tiso-Regime und die NS-Fremdherrschaft zwischen August und Oktober 1944 auch deutsche Antifaschisten beteiligt. Zeitgleich kam es, insbesondere in der Mittelslowakei, zu vereinzelten Exzessen gegen dort lebende Deutsche, die der Kollaboration mit den Nationalsozialisten bezichtigt wurden. Die Verantwortung für diese Übergriffe trugen allerdings in den meisten Fällen sowjetische Partisanen. Zwischen September 1944 und Januar 1945 wurden etwa 95 Prozent der slowakischen Deutschen auf Befehl der NS-Führung „evakuiert“, da sie so den „Fortbestand der Volksgruppe“ sichern wollte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten manche der auf diese Weise von NS-Behörden vertriebenen Deutschen, in ihre Wohnorte zurückzukehren. Aufgrund der „Potsdamer Beschlüsse“ vom 2. Au- 6. Slowakei 249 gust 1945 wurde der überwiegende Teil von ihnen ein zweites Mal ausgesiedelt. In der Slowakei blieb eine verschwindend kleine deutsche Minderheit zurück: anerkannte Antifaschisten, nach 1945 benötigte Facharbeiter und Ehepartner aus gemischtnationalen Ehen. Ein prominenter Vertreter der deutschen Minderheit in der slowakischen Politik ist Rudolf Schuster aus Medzev/ Metzenseifen, der zwischen 1999 und 2004 das Amt des slowakischen Staatspräsidenten als Nachfolger von Michal Ková ausübte. Er geriet allerdings wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der KS sowie diverser Skandale in Misskredit und erhielt bei seiner erneuten Kandidatur 2004 im ersten Wahlgang nur noch 7,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung Angehörige der deutschen Minderheit in der Slowakei waren bereits im 1968 gegründeten „Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität der SSR“ („Kulturné združenie ob anov nemeckej národnosti SSR“) organisiert. Die politische Wende von 1989/ 90 brachte auch hinsichtlich der rechtlichen Stellung der Bürger nicht-slowakischer Abstammung einen Wandel. Am 30. September 1990 wurde in Mezdev/ Metzenseifen der „Karpatendeutsche Verein in der Slowakei“ KDS („Karpatskonemecký spolok na Slovensku“ KNS) ins Leben gerufen, der sich als Vertretung der deutschen Minderheit versteht. Der KDS ist eine Untergliederung der nach ethnischen Prinzipien verfassten „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FEUV) und kooperiert eng mit der „Karpatendeutschen Landsmannschaft Slowakei“ in der Bundesrepublik Deutschland. Nach eigenem Bekunden verfolgt der KDS die „Erneuerung und Festigung der Identität der deutschen Minderheit“ sowie Fördermaßnahmen auf kulturellem, sozialem, gesellschaftlichem, bürgerlichem und wirtschaftlichem Gebiet wie auch die „Revitalisierung des Deutschen als Muttersprache“. Der KDS unterhält Geschäftsstellen in Košice und Bratislava. Er zählt gegenwärtig etwa 4.800 Mitglieder und gibt in monatlicher Folge das „Karpatenblatt“ (Erscheinungsort: Poprad) heraus. Außerdem existieren an mehreren Orten sogenannte „Häuser der Begegnung“ (Domy stretánia) für die Angehörigen der deutschen Minderheit. Die Deutschen sind als eine von dreizehn nationalen Minderheiten in der Slowakei gesetzlich anerkannt. Der Vorsitzende des KDS ist Mitglied des Minderheitenrates bei der Slowakischen Regierung (Rada vlády SR pre národnostné menšiny a etnické skupiny). Seit 1997 besteht unter der Regie des KDS das „Múzeum kultúry karpatských Nemcov“ („Museum der Kultur der Karpatendeutschen“) als autonome Abteilung des Slowakischen Nationalmuseums (Slovenské národné múzeum, SNM) in Bratislava. Das „Haus der Begegnung“ in Handlová/ Krickerhau zeigt als Außenstelle eine Dauerausstellung mit dem Titel „Dejiny a kultúra Hauerlandu“ (Geschichte und Kultur des Hauerlandes). Aus dem KDS ging 1997 die Jugendorganisation „Internationale Kontakte Jugendarbeit - Karpatendeutsche Jugend“ (IKeJA - KDJ) hervor, die sich 2000 verselbständigte und Mitglied der „Jugend Europäischer Volksgruppen“ (JEV) ist. Zur Transferierung von wirtschaftlichen Hilfsmitteln für Existenzgründer aus den Kreisen der deutschen Minderheit, die von der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt wurden, wurde 1993 in Košice eine Karpatendeutsche Stiftung ins Leben gerufen. Sie ging 1997 in die „Karpatskonemecká asociácia“ („Karpatendeutsche Assoziation“) über. Das Studio Košice des Slowakischen Fernsehens (Slovenská televízia) strahlt in unregelmäßigen Abständen ein „Deutsches Magazin“ aus. Der Slowakische Rundfunk (Slovenský rozhlas) sendet einmal wöchentlich eine deutschsprachige Rundfunksendung der Redaktion für national-ethnische Sendungen (Redakcia národno-etnického vysielania). Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 250 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Die hauptsächliche Kontaktsprache für die Bewohner aller deutschsprachigen Gebiete in der Slowakei ist das Slowakische, das auch alle Angehörigen der deutschen Minderheit beherrschen und das in den meisten Fällen in den jüngeren Generationen sogar zur Erstsprache geworden ist. Monolingual deutschsprachige Personen gibt es spätestens seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr. In den Gebieten mit ungarischer Minderheit (nach der letzten Volkszählung von 2001 leben in der Slowakei rund 521.000 Ungarn, die meisten davon in den an Ungarn angrenzenden Gebieten im Süden der Slowakei) ist auch mit Ungarisch als Kontaktsprache zu rechnen; dies betrifft neben Bratislava/ Pressburg und auch Nitra/ Neutra teilweise die Unterzips und vor allem das Bodwatal mit der Gegend um Košice/ Kaschau. Vor allem im letztgenannten Gebiet, aber auch in Bratislava/ Pressburg, sind auch trilinguale Sprecher (Slowakisch, Deutsch, Ungarisch) anzutreffen. Für die von den übrigen Minderheiten in der Slowakei gesprochenen Sprachen, nämlich Ruthenisch (Karpato-Russinisch) bzw. Ukrainisch im Nordosten an der Grenze zu Polen und zur Ukraine, vereinzelt Polnisch im nördlichen Grenzgebiet zu Polen sowie eventuell Kroatisch im Gebiet um Bratislava/ Pressburg, ist allenfalls von individuellen Kontakt- Konstellationen auszugehen; sie stehen nicht in stabilen Mehrsprachigkeitskonstellationen mit dem Deutschen und spielen somit für den systematischen Sprachkontakt eine deutlich untergeordnete Rolle. Ähnliches gilt im Prinzip auch für die Sprachkontakte zur Gruppe der verstreut in der Slowakei lebenden ca. 90.000 Roma 1 die sich lediglich in einigen wohl recht früh erfolgten lexikalischen Übernahmen aus dem Romani (Romanes) ins Deutsche mani- 1 Diese Zahlenangabe aus der Volkszählung von 2001 ist etwas kritisch, weil die Roma in der slowakischen Gesellschaft kein hohes Sozialprestige genießen, was zu Assimilierungsbemühungen und Umorientierungen in der ethnischen Selbstbezeichnung führt (Ondrejovi 1997: 1674-1675). festieren. Jiddisch kommt nur als historische Kontaktsprache in Frage; die Juden in der Slowakei waren bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts während der Magyarisierungspolitik einem starken Assimilierungsdruck ausgesetzt. Nach den Deportationen während des Zweiten Weltkriegs in die nationalsozialistischen Vernichtungslager und den Auswanderungswellen nach dem Krieg leben heute noch ca. 3.000 Juden in der Slowakei, die jedoch sprachlich vollständig assimiliert sind (Ondrejovi 1997: 1675-1676). Wegen der großen systematischen Nähe zum Slowakischen sind Einflüsse des Tschechischen als Kontaktsprache im Einzelfall schwer nachzuweisen. Das Tschechische hat jedoch im Bereich der Massenmedien auch für die deutschsprachige Minderheit in der Slowakei eine hohe Präsenz, einerseits direkt über die tschechischen Rundfunk- und Fernsehsender, andererseits, weil regelmäßig auch tschechische (und also tschechischsprachige) Produktionen im slowakischen Fernsehen gesendet werden. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Sprachlagen Wie in den meisten Sprachminderheitsgebieten ist das Sprachlagengefüge etwas unübersichtlich und von verschiedenen Asymmetrien geprägt. Auch wenn sich die Situation in den einzelnen Gebieten mit deutschsprachiger Bevölkerung leicht unterschiedlich darstellt und es sprecherindividuell je nach Lebensalter und Lernbiographie teilweise erhebliche Differenzen gibt, lassen sich doch folgende verallgemeinernde Aussagen treffen. Die deutschen Ortsdialekte, die praktisch nur als gesprochene Varietät existieren, erfüllten über Jahrhunderte die Funktion der L-Varietät im kleinräumigen Verkehr; für die älteren Generationen gilt dies weithin noch heute. Die überdachende Standardsprache war bis 1867 das Deutsche, dann bis 1918 das Ungarische, seither das Slowakische. Obwohl also für die deutsche Minderheit schon sehr lange die Notwendigkeit des Erwerbs einer exogenen H-Varietät bestand, spielte die deutsche Stan- 6. Slowakei 251 dardsprache dennoch immer eine gewisse Rolle, und zwar sowohl in ihrer schriftsprachlichen als auch in einer gesprochensprachlichen Realisierung; in jüngster Zeit nimmt ihr Gewicht im Sprachlagengefüge (auf Kosten der Ortsmundarten) noch zu. Der (zunächst schriftsprachlich orientierte) Erwerb der Standardsprache ist immer stark mit den schulischen Gegebenheiten verknüpft. Nachdem während der Magyarisierungspolitik der Schulunterricht in deutscher Sprache durch die Apponyischen Schulgesetze im Jahre 1907 massiv eingeschränkt worden war (Deutsch und übrigens auch Slowakisch durften nur noch eine Stunde pro Woche als Fremdsprache unterrichtet werden), besserte sich die Situation nach 1918 wieder. In der Zeit der Autonomen Slowakei wurde das deutsche Schulwesen sogar kurzzeitig gefördert. 2 Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen wurde das Deutsche wieder nur als Fremdsprache unterrichtet. Seit 1992 gibt es verstärkte Bemühungen um die Einrichtung deutschsprachiger Bildungseinrichtungen. 3 Diese wechselnden Verhältnisse spiegeln sich unmittelbar in den generationenabhängig unterschiedlich verteilten Varietätengebrauchsprofilen (zu den Kompetenzverteilungen vgl. unten Kapitel 6). Die jüngsten Möglichkeiten der Institutionalisierung der Minderheitenarbeit (etwa im Karpatendeutschen Verein, in der Karpatendeutschen Assoziation, in der Jugendorganisation IKeJA-KDJ, beim Karpatenblatt usw.) erhöhen deutlich die Frequenz der Gebrauchsanlässe für die deutsche Standardsprache und stabilisieren so den Schriftsprachgebrauch ebenso wie die standardnah intendierte gespro- 2 Im Jahre 1943 verfügten die Deutschen in der Slowakei in 122 Gemeinden über 141 Volksschulen, 23 Bürgerschulen, drei Gymnasien, eine Lehrerakademie, zwei Handelsakademien und 17 Fachschulen verschiedenster Art. 3 In sechs Grundschulen wird Deutsch bereits ab der ersten Klasse unterricht; in Kežmarok/ Käsmark gibt es ein bilinguales Gymnasium. Seit 2005 existiert in Bratislava/ Pressburg die Deutsch-Slowakische Begegnungsschule mit Deutsch und Slowakisch als Unterrichtssprachen, die derzeit neben einem Kindergarten und einer Vorschule den Unterricht in den Klassenstufen 1 bis 4 anbietet; Fernziel ist eine Sekundarstufe II mit einem deutsch-slowakischen Abitur. chene Varietät, die als Kommunikationsmittel auch dadurch an Gewicht gewinnt, dass vielen Angehörigen der Minderheit der jüngeren Generationen die dialektalen Kompetenzen fehlen. 5.2.2 Dialekte Die dialektalen Verhältnisse in den Sprachminderheitsgebieten lassen sich als Spiegelungen von deren Besiedlungsgeschichte lesen, so dass der Rekurs auf die Herkunftsmundarten der Siedler immerhin schon eine grobe Kategorisierung erlaubt, auch wenn natürlich, insbesondere bei den älteren Sprachinseln, die Sprachgeschichte einen je individuellen Verlauf genommen hat. Entsprechend der uneinheitlichen Siedlungsgeschichte der deutschen Siedlungen in der Slowakei unterscheiden sich die dialektalen Basen in den einzelnen Gebieten deutlich voneinander. In Bratislava/ Pressburg, das unmittelbar an das geschlossene deutsche Sprachgebiet angrenzt, hat es eine deutsche Bewohnerschaft schon seit dem 12./ 13. Jahrhundert gegeben. Bis 1900 hatte die Stadt eine deutsche Bevölkerungsmehrheit; gegenwärtig (Volkszählung von 2001) leben im Kreis Bratislava/ Pressburg noch 1.200 Deutsche (teils mit deutschslowakisch-ungarischer Dreisprachigkeit). In den umliegenden Dörfern ist das Deutsche sehr stark zurückgegangen; zu nennen sind noch die sog. Bösinger Sprachinsel (um Pezinok/ Bösing) und die sog. Mischdorfer Sprachinsel (um Nové Košarišká/ Mischdorf, heute zusammen mit dem Ort Schildern ein Teil von Dunajská Lužná), deren Dialekte sich an den benachbarten mittelbairischen Raum anschließen. Die einzigen niederdeutschen Siedlungen in der Slowakei waren die 1858 bzw. 1869 gegründeten Orte ermany/ Tscherman und Ve ké Rip any/ Groß Rippen in der Nähe von Nitra/ Neutra. Der dorthin mitgebrachte, schon stark von hochdeutschen Zügen geprägte, nordniedersächsische Dialekt ist praktisch erloschen. 4 4 ermany/ Tscherman hatte 2001 noch elf, Ve ké Rip any/ Groß Rippen noch einen deutschen Bewohner. Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 252 In der Hauptsache mitteldeutsch, allerdings mit nordbairischen Zügen, sind die Dialekte in der Mittelslowakei im sog. Hauerland (zur Problematik des Terminus vgl. oben S. 245) um die Städte Kremnica/ Kremnitz und Nitrianske Pravno/ Deutsch-Proben. Dort waren im 14. Jahrhundert einige Siedlungen entstanden, die einerseits von Schlesien aus, andererseits von nordbairischen Bergleuten aus der Oberpfalz und schließlich von Siedlern aus der Unterzips besiedelt wurden, so dass sich auf engem Raum eine starke dialektale Diversifizierung inklusive einer eigenen Kremnitzer Stadtsprache ergab (Hanika 1952). Vor 1945 lebten im Hauerland ungefähr 40.000 Deutsche, im Jahre 2001 waren es etwa 1.500. Eine starke Binnendifferenzierung weisen auch die Dialekte der bereits um 1200 besiedelten Oberzips auf. Dabei handelt es sich um stark ostmitteldeutsch geprägte Mischmundarten auf mittelfränkischer Basis (Schwarz 1957); man unterscheidet das Oberländische im Süden um Kežmarok/ Käsmark vom Niederländischen um Podolinec/ Pudlein (im Kreis Stará ! ubov a/ Altlublau); schlesisch hingegen ist das nördlich gelegene Chme nica/ Hopgarten (Valiska 1967). Ähnlich kleinräumig, allerdings auf bairischer Grundlage, sind die Verhältnisse in der Unterzips (einschließlich des Bodwatals), die ein gutes Jahrhundert später und teilweise von der Oberzips aus besiedelt wurde. Eigene Charakteristika zeigen hier vor allem die Dialekte von Medzev/ Metzenseifen (mit der Selbstbezeichnung Mantakisch) und Dobšiná/ Dobschau. Bis zum Jahre 1945 lebten in der Zips etwa 35.000 Deutsche, im Jahre 2001 waren es rund 2.000. 5.2.3 Sprachliche Charakteristika der deutschen Varietäten Unsere Aufnahmen 5 dokumentieren eine standardnah intendierte gesprochene Varietät, die sich in einigen charakteristischen Zügen von einer als Bezugssystem des Vergleichs angenommenen idealisierten Standardvarietät des Deutschen unterscheiden. Dabei sind einerseits Divergenzen im Vergleich zu erwartba- 5 Die Erhebungen hat Lucia Rusová (Prag) gemacht; ihr sei herzlich dafür gedankt. ren Formen des Binnenstandards zu beobachten, die auf bestimmte dialektale Korrespondenzformen zurückzuführen sind. Andererseits sind Einflüsse der Kontaktsprachen, in erster Linie des Slowakischen, festzustellen, die teils als einfache Interferenzen, teils schon als Attritionserscheinungen gelesen werden können. Divergenzen zum schriftsprachlichen Standard können in bestimmten Fällen allerdings durchaus auch auf allgemeine Regularitäten bzw. typische Phänomene der Gesprochensprachlichkeit (Häsitationsformen, elliptische und anakoluthische Konstruktionen usw.) zurückgeführt werden. Daneben ist natürlich auch mit Idiosynkrasien und außerdem schlicht mit individuellen Fehlleistungen zu rechnen. Da die Beurteilung eines einzelnen Belegs nur vom Resultat des Sprachproduktionsprozesses ausgehen kann und also oberflächengebunden erfolgen muss, ist die Zuordnung zu einer dieser Gruppen im Einzelfall nicht immer eindeutig möglich. Gleichwohl ergibt sich über die Masse der Belege ein einigermaßen klar konturiertes Bild. Morphologie Zu den morphologischen Auffälligkeiten im Material gehören Abweichungen bei den Genera der Substantive. In den meisten Fällen betrifft dies Lexeme, die in ähnlicher Form auch im Slowakischen vorkommen (vielfach sind dies Lexeme aus dem graeco-lateinischen Kulturwortschatz); hier ist von einer Interferenz mit der Kontaktsprache auszugehen: (1) der System [slowak. systém mask.] (SK 2- 1-25) (2) der Programm [slowak. program mask.] (SK 2-5-0) (3) a. Das ist der Problem. [slowak. problém mask.] (SK 2-1-15) b. ist schon kein großer Problem (SK 2-1- 35) (4) a. der nächster Projekt [slowak. projekt mask.] (SK 2-1-15) b. ein vier Tage langen Projekt (SK 2-1-40) Es gibt jedoch auch einzelne Belege, bei denen trotz Lexemverwandtheit keine Interferenz aus dem Slowakischen vorliegen kann, weil die Genera nicht identisch sind: 6. Slowakei 253 (5) die Interesse (fem. sg.) [slowak. interes mask.] (SK 2-1-35) Hier kann angenommen werden, dass es sich um einfache Fehler im Sprachproduktionsprozess handelt. Daneben gibt es eine Reihe von Fällen mit abweichendem Genus, bei denen weder Interferenz mit dem Slowakischen noch eine Orientierung am Basisdialekt plausibel erscheint, z.B.: (6) jedes Monat (SK 2-2-10) (7) das Ort (SK 2-1-30) (8) a. das ist der Sommerlager (SK 2-1-10) b. der (..) Kinderlager ist sehr beliebt (SK 2- 1-15) Wie es zu diesen Abweichungen kommt, ist im Einzelfall schwer zu beurteilen; die Möglichkeit individueller Produktionsirrtümer ist jedenfalls immer einzukalkulieren. Im Bereich der Flexionsmorphologie sind hingegen durchaus systematische Aussagen möglich. Dialektal basiert ist bei der Adjektivflexion die Verwendung der starken Flexion bei attributiver Stellung der Adjektive auch nach determinierenden Artikelwörtern (die im Standard die schwache Flexion auslösen), sichtbar im Maskulinum Singular: (9) der zweiter Teil (SK 3-1-20/ 25) (10) der deutscher Dialekt (SK 6-1-15) (11) der nächster Projekt (SK 3-1-5) Auch hier ist allerdings mit individuellen Fehlleistungen zu rechnen, wie das folgende Belegpaar (12) - zwei Äußerungen von demselben Sprecher - zeigt: (12) a. aus der deutscher Seite (SK 3-1-25) b. aus der deutsche Seit (SK 3-1-25) Im Bereich der Flexion der Artikelwörter gibt es zum Teil Unschärfen bei den Dativformen, wie die Belegreihe (13) bis (16) zeigt: (13) in dieser zwei (.) Städten (SK 3-1-0) (14) Danach ist das Treffen (.) in (.) in eh/ (.) den (.) unteren Teil (SK 3-1-10) (15) Auch über die Tätigkeit in den eh/ Ort Metzenseifen können wir sagen (SK 3-1-5) (16) auf den Stößer Bergwerk bei der Kapelle (SK 3-1-5) Der Vergleich der Belege (15) und (16), in denen die Nominalgruppen jeweils im Dativ stehen (nach in bzw. auf ) zeigt, dass hier Ansätze zu synkretischen Formen von Dativ und Akkusativ inklusive Transfer über die Genusreihe vorliegen, indem das Neutrum (in Beleg (16)) mit den schon dieselbe Form wie das Maskulinum (in Beleg (15)) aufweist. Bei der Substantivflexion gibt es insgesamt kaum Auffälligkeiten; vereinzelt lassen sich Belege finden, bei denen Flexionsendungen verkürzt oder apokopiert werden, wie in den folgenden Beispielen: (17) bei diesen Kinderlager (pl.) (SK 3-1-10) (18) das größte Treffen im Rahmen den Region (SK 3-1-10) (19) es ist durchgeführt eh/ von unseren Mitglieder, (.) die mit den Kindern Mantakisch sprechen (SK 3-1-15) Bei der Flexion der Verben kommen bisweilen Formen vor, die auf den ersten Blick als Übergeneralisierungen oder Hyperkorrektismen erscheinen (und damit Hinweise auf Kompetenzlücken wären), tatsächlich aber ihren Bezugspunkt im dialektalen Inventar haben; so etwa der folgende Beleg: (20) dass die Lehrer gedenkt haben (SK 4-4-0) Ähnlich die folgende Form, die auch als veralteter Standard gelesen werden kann: (21) der Vorstand ladet ein (SK 4-1-10) Kollisionen gibt es gelegentlich bei den Formen sein (Infinitiv) bzw. sind (3. Person Plural): (22) manche, wenn sie größer schon sein oder erwachsen, dann haben sie schon eigene Wege (SK 4-1-20) Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich, wie in Beleg (22), um ein Kopulaverb handelt, oder, wie bei den folgenden Belegen, um ein Hilfsverb: (23) und die Projekte eh/ sein dann vorgelegt eh/ (.) auf das Kulturministerium (SK 4-1-25) (24) Veranstaltungen, die in Rahmen der KDV (.) sein gemacht (SK 6-1-30) Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 254 (25) wo die Kinder auch eh/ (.) nicht nur mit einem Diplom, aber auch finanziell (.) eh/ belohnt sein (SK 4-1-35) Übrigens würde man im Binnenstandard bei der Belegreihe (23) bis (25) ohnehin eher ein werden-Passiv als ein sein-Passiv erwarten. Syntax Zu den markantesten Auffälligkeiten im Bereich der Syntax gehören Abweichungen bei der Serialisierung. Auch wenn auch hier im Einzelfall schwer zu beurteilen ist, welche Divergenzen zu einem idealisierten Schriftstandard auf Konstanten der Gesprochensprachlichkeit zurückzuführen sind, ob Interferenz mit der Kontaktsprache vorliegt, inwieweit Einflüsse eines dialektalen Substrats geltend gemacht werden können oder ob eine individuelle Fehlleistung vorliegt, lassen sich auf der syntaktischen Oberfläche gleichwohl einige typische Muster beschreiben. Die für das Deutsche (und seine Varietäten) so charakteristische Verbklammer dient gemeinhin als Serialisierungsanker. Für Dialekte ebenso wie für standardnahe Gebrauchsnormen sind Ausklammerungen bestimmter syntaktischer Einheiten, etwa von Adverbialien, vielfach beschrieben; Ausklammerungen des direkten Objekts wie im folgenden Beleg (26) sind nicht standardkonform: (26) und wir haben dann auch eh/ (.) mit der Zeit erworben ein Haus (..) der Begegnung (.) sogenanntes (SK 5-2-0) Analoge Objektsausklammerungen gibt es auch in untergeordneten Sätzen mit dem Stellungstyp Verbletztstellung: (27) wo die Ortsgemeinschaft Kaschau für die ganze Region (.) eh/ veranstaltet so ein eh/ (..) Weihnachtstreffen (SK 5-1-10) (28) dass die Kinder verstehen auch die Mundart, (.) was die ältere Generation spricht (SK 5- 1-35) (29) Weiter kommt das Landestreffen in Käsmark, wo die Mitglieder (.) eh/ haben die Möglichkeit, eh/ (..) eh/ mitzufahren und dort eh/ (.) sein dabei bei den Auftritten (.) von unseren eh/ Kulturkörpern (SK 5-1-5) Beleg (29) zeigt überdies mit der fehlenden Infinitivkonjunktion (nach der dritten Sprechpause) sowie der Inversion von Präfix und Stamm (statt dabeizusein) noch weitere Auffälligkeiten, die sich jedenfalls nicht auf die dialektale Basis zurückführen lassen. Ausklammerungen dieses Typs sind zwar bei weitem nicht die Regel; Beleg (30) zeigt zu Illustrationszwecken eine völlig unauffällige Serialisierung: (30) und dort bei einem gemeinsamen Essen noch (.) eh/ treten noch die (.) meisten/ (.) die (.) Ortsgemeinschaften mit einem kleinen Kulturprogramm auf (SK 5-1-10) Dass aber dieser Bereich (der übrigens auch bei Lernern des Deutschen als Fremdsprache notorisch Probleme bereitet) vergleichsweise kritisch ist, darauf deutet auch das Auftreten von Mischformen wie in Beleg (31) hin: (31) am meisten sind das die Gemeinden, die mit deutschen Besiedlern über die Bergarbeit und eh/ Bergbau eh/ dort eh/ (.) besiedelt dieses Gebiet haben (SK 5-1-0) Auch Ausklammerungen des Subjekts kommen vor: (32) aber da müssten mehr eingebunden sein die mittlere und jüngere Generation (SK 5-1-20) Beleg (32) ist mindestens stilistisch markiert; in Nebensätzen sind die Subjektsausklammerungen noch auffälliger: (33) bei dem Festival, wo eh/ (.) wird präsentiert eh/ (.) die Kultur (.) (SK 5-1-10) (34) dass auch durch die Schulen/ (.) durch das Deutsch/ eh/ (.) durch die deutsche Sprache (.) kann (.) eh/ erweckt sein der/ die Interesse von der Jugend (.) auch für den: eh/ (-) Mundart oder für die mantakische Sprache (SK 5-1-35) Die Belege (33) und (34) zeigen zusätzlich zur Subjektsausklammerung noch eine Inversion der Prädikatsteile (mit Voranstellung des Finitums: wird präsentiert statt des bei Verbletztstellung erwartbaren präsentiert wird bzw. kann erweckt sein statt erweckt sein kann). Solche Inversionen, auch mit Ausklammerungen anderer Satzglieder, sind nicht selten: 6. Slowakei 255 (35) der nächster Projekt, was wir haben vorbereitet für die Mitglieder (SK 6-1-5) Doch auch ohne Ausklammerungen kommt die Inversion der Prädikatsteile häufig vor, wie die Belege (36) bis (39) illustrieren: (36) Veranstaltungen, die im Haus der Begegnung sind gemacht (SK 6-1-25) (37) wenn schon die Kinder (.) Deutsch (.) haben gelernt (SK 6-1-35) (38) In der Schule (.) vielleicht konnte man merken, dass diese Kinder, die aus den mantakischen Familien (.) sind gekommen, dass sie das Deutsch besser und leichter begriffen haben. (SK 6-2-0) (39) weil (.) sie eh/ leben in/ in einer Stadt oder einer Gemeinde, wo da/ der metzensei/ der mantakische(r) Dialekt noch sehr häufig von der älteren (.) oder auch mittleren Generation (.) ist eh/ benutzt (SK 6-1-15) Auch Mischformen treten auf, bei denen die Inversion mit einer Teilausklammerung bzw. der Etablierung einer Verbalklammer wie im Verbzweitsatz kombiniert wird: (40) dass wir im Dezember müssen Projekte ausarbeiten (SK 6-1-25) (41) den Kindertag, wo die Kinder von unseren Mitgliedern können durch die spielerische Art eh/ (.) bekommen Süßigkeiten (SK 6-1-15) Ähnlich ist der folgende Beleg (42) strukturiert, bei dem nach der Inversion der Prädikatsteile die Temporaladverbiale in eine V2- Verbklammer geraten ist: (42) wo unser Heimatdichter hat viele Jahre gelebt, und dort ist er auch begraben (SK 6-1-10) Diese Formen lassen sich unverkennbar als Attritionserscheinungen lesen. Etwas unklarer ist die Sache hingegen bei den mit weil eingeleiteten Nebensätzen, für die es auch in standardnahen Sprechlagen des gesprochenen Binnenstandards ein Syntagma mit Verbzweitstellung gibt (epistemisches weil ). Beleg (43) mit Verbzweitstellung ist in diesem Sinne völlig unauffällig: (43) Die Kinder sind verbunden mit dem Dialekt, weil sie kommen sowieso jeden Tag mit dem Dialekt ehm/ (.) zusammen (SK 7-1-15) Für die gesprochene Sprache sind Konstruktionswechsel im Zuge einer kognitiven Neuorientierung während des Sprachproduktionsprozesses prinzipiell nichts Ungewöhnliches; Nebensatzgrenzen sind dabei frequente Übergangsstellen, meist verbunden mit einer Sprechpause oder einem anderen Häsitationsmarker nach der Subjunktion: (44) aber auch das Wirken in der Ortsgemeinschaft ist eh/ (..) sehr aktiv, weil (.) hier in Metzenseifen (.) ehm/ (..) sind eh/ (.) kommen viele Gäste aus Ausland (.) (SK 7-1-5) (45) weil in: / in Metzenseifen (.) eh/ war auch durch eh/ die deutsche Seite gestiftet ein (.) Kabelfernseh(n) (.) oder Satellitenfernseh(n) (SK 7-1-35) Die Belege (44) und (45) sind insofern absolut unproblematisch. Anders hingegen der folgende Beleg (46): (46) Mit dem Dialekt ist es problematisch, (.) weil die Kinder am meisten [= ‘meistens’] lernen die deutsche Sprache schon von der ersten Klasse (..) von der Grundschule (.) (SK 7-1- 15) Hier kommt zur Verbzweitstellung noch die Ausklammerung hinzu; dieser Beleg gehört in die Reihe der Attritionssignale. Von wiederum erkennbar anderer Qualität ist der folgende Beleg (47): (47) Weiter wenn wir gehen, kommen wir in die dritte Region (SK 6-1-0) Die Linksversetzung eines fokussierten Ausdrucks vor das Einleitewort des Nebensatzes ist als Reflex der dialektalen Basis zu interpretieren. Entsprechendes gilt für Relativsatz- Anschlüsse mit wo, wie in Beleg (48): (48) weil (.) hier in Metzenseifen (.) ehm/ (..) sind eh/ (.) kommen viele Gäste aus Ausland (.) und auch von Inland (.) eh/ wo sich interessieren noch ü/ eh/ für die (.) deutsche (.) eh/ oder (.) die mantakische Kultur (SK 7-1-15) Ein typisches Interferenzphänomen hingegen (das systematisch den oben beschriebenen Ausklammerungen bzw. Prädikatsinversionen nahesteht) ist die doppelte Besetzung des Vorfelds, der Position vor dem fini- Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 256 ten Verb, typischerweise durch das Subjekt und eine adverbiale Einheit oder ein Modalwort: (49) die Ortsgemeinschaft Metzenseifen (.) eh/ regelmäßig trifft sich mit den Jubilanten (SK 8- 1-10) Die interne Reihenfolge bei dieser Doppelbesetzung variiert; häufiger steht jedoch, wie in Beleg (50), das Subjekt in der zweiten Position: (50) Außerdem die Tätigkeit in der Ortsgemeinschaft ist nicht nur eh/ über die (.) Intressengruppe (.) eh/ (.) Sängergruppe und eh/ (.) Tanzgruppen (SK 8-1-5) Der Adverbialausdruck kann auch satzförmig sein, wie in Beleg (51): (51) Wenn wir en/ in das Metzenseifen kommen, das Begegnungszentrum (.) liegt eh/ so ungefähr in der eh/ Mitte von der Gemeinde (.) auf der Stößer Straße (SK 8-1-0) Interferenzerscheinungen lassen sich auch in kleinräumigen Syntaxbereichen feststellen. Ein kritischer Punkt im Sprachkontakt mit slawischen Sprachen ist immer der Gebrauch des Artikels. Dabei kann der Artikel entweder fehlen, wie in den Belegen (52) bis (54), oder es wird gegen die Erwartung des Standards ein Artikel gesetzt, wie in den Belegen (55) bis (57a.). Typischerweise treten diese Abweichungen im Zusammenhang mit Präpositionalphrasen auf: (52) ungefähr fünfhundert Exemplare gehen nach Ausland (SK 9-1-20) (53) Fasching (.) ist das erste Treffen in Jahr (SK 9-1-5) (54) die Jugend von KDV (SK 9-1-25) Auffällig ist die Setzung des Artikels im Zusammenhang mit Ortsnamen (vgl. auch oben Beleg (51)): (55) ins Ungarn (SK 9-2-5) (56) ins Käsmark (SK 9-2-25) Allerdings ist dieser Gebrauch keineswegs stabil; die beiden Äußerungen im folgenden Belegpaar (57) stammen von derselben Sprecherin mit wenigen Minuten Abstand: (57) a. ins Österreich (SK 9-2-20) b. in Österreich (SK 9-2-20) Ein weiteres typisches Phänomen im deutsch-slawischen Sprachkontakt ist das Auftreten des Reflexivums sich in unflektierter Form, wie in Beleg (58), bzw. der reflexive Gebrauch eines nichtreflexiven Verbs, wie in Beleg (59): (58) denn wir haben hinter sich (.) sehr schöne/ (.) sehr schöne (.) Auftritte in Deutschland (SK 12-2-5) (59) jeder kann sich etwas dort finden (SK 12-1- 25) Formen dieser Art finden sich allerdings in unserem Material nur sehr vereinzelt. Abweichungen vom Binnenstandard treten auch im Bereich der präpositionalen Anschlüsse auf: (60) erinnere ich m/ mich auch (.) mehr auf das/ (.) die Jahre (.) von der Kindheit (SK 10-3- 5) (61) die (.) Häuser der/ von/ der Begegnung sind eh/ vorfinanziert aus der deutsche Seit (SK 10-1-25) (62) diese Frauen, die kümmern sich wieder nicht für das Lernen, aber für die (..) Seite, dass die Kinder (usw.) (SK 11-1-15) Auch hier gibt es Schwankungen bei ein und demselben Sprecher, wie im folgenden Belegpaar (63): (63) a. die besteht von drei Ortsgemeinschaften (SK 10-1-0) b. besteht aus siebzehn Ortsgemeinschaften (SK 10-1-0) Unsicherheiten dieser Art sind bereits als Attritionserscheinungen zu interpretieren. Auch in der Konnektorensyntax gibt es einige Auffälligkeiten. So erfolgt im adversativen Konjunktorenpaar nicht (nur) - sondern (auch) der Anschluss nach dem ausgeschlossenen ersten Konjunkt in der Regel nicht (wie im Standard erwartbar) mit sondern, sondern mit aber, wie in den folgenden Belegen (64) bis (66): (64) es wurde dort nicht nur gespielt, aber es wurde auch Deutsch unterrichtet (SK 11-2-20) 6. Slowakei 257 (65) die (..) war nicht nur für die (.) deutsche Minderheit gemeint, aber auch für alle (-) Bürger, die in Metzenseifen leben, gemeint (SK 11-1- 35) (66) nicht nur in/ im Rahmen der Region, aber auch im Rahmen der Slowakei (SK 11-1-5) Ähnlich ist auch oben Beleg (62) strukturiert. Ein weiteres, für deutsch-slawische Kontaktkonstellationen vielfach beschriebenes Phänomen ist die Verwendung eines haben-Syntagmas bei der Altersangabe, so in den beiden folgenden Belegen (67) und (68): (67) er hat neunzig Jahre (SK 13-3-10) (68) sie hat ungefähr (.) zweiundsechzig (SK 13- 6-0) Ein markanter Phraseologismus ist das parenthetische kann man sagen, das relativ frequent als Gliederungspartikel auftritt, wie in den folgenden Belegen (69) und (70): (69) Weil die deutsche Minderheit (.) kann man sagen (.) sehr klein ist, ist auch das Paket für die deutsche Minderheit nicht so groß. (SK 13-1-20) (70) Und so, (.) kann man sagen, sind die Kinder über den ganzen Tag mit der deutschen Sprache oder mit der (.) mantakischen Mundart verbunden. (SK 13-1-20) Als Häsitationsmarker oder Autokorrektursignal kommt gelegentlich die auch im Slowakischen geläufige Gesprächspartikel no vor, vgl. Beleg (71): (71) die Jugend KDJ/ no/ IKeJa-KDJ ehm/ (.) am meisten (.) eh/ ist eh/ , kann man sagen, beschäftigt mit dem/ oder macht Projekte für/ (.) für junge Leute (SK 13-1-30) 5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung Die Sprachenwahl ist natürlich stark durch die je generationenspezifisch unterschiedlichen Kompetenzlagen (vgl. dazu das folgende Kapitel 6) determiniert. Verallgemeinernd lässt sich Folgendes feststellen: Die Sprachenwahl ist (wie bei vielen Minderheiten) tendenziell defensiv, d.h. von einer großen Bereitschaft geprägt, sich im Rahmen der eigenen Mehrsprachigkeit auf die sprachlichen Wünsche des Kommunikationspartners einzustellen. Slowakisch hat dabei klar die dominante Position. Es ist die Sprache, mit der man mit der höchsten Wahrscheinlichkeit Fremde ansprechen wird; und in Gegenwart auch nur einer Person, die nur Slowakisch spricht, wird auch eine Gruppe Deutschsprachiger immer auf das Slowakische umschalten. Der Dialekt wird gewählt gegenüber Personen, mit denen man auch sprachlich vertraut ist und um deren dialektale Kompetenz man sicher weiß. Die deutsche Standardsprache hat ihre Rolle in offizielleren Kontexten der Minderheitenarbeit sowie in schulischen und akademischen Zusammenhängen. Wegen der relativ klaren Domänentrennung der einzelnen Sprachen bzw. Varietäten und wegen der recht hohen Sprachbewusstheit der deutschsprachigen Minderheit treten Code-Switching und Sprachmischungsphänomene prinzipiell vergleichsweise selten auf. Man findet sie am ehesten bei einzelsprachgebundenen Termini, bei bestimmten Realien und der Bezeichnung bestimmter, an die gesellschaftliche oder politische Situation gebundener Spezifika (politische Institutionen usw.). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Ein maßgeblicher Faktor für den Spracherhalt in Sprachminderheitssituationen ist der innerfamiliäre Sprachgebrauch, insoweit die Familie die zentrale Instanz des Erstspracherwerbs darstellt. Insofern bedeuten exogame Konstellationen für die Sprachminderheit immer dann ein Risiko, wenn die Minderheitensprache auch kleinräumig regional die weniger prestigereiche Sprache ist, so dass es in der Folge im Generationenübergang zu innerfamiliären Sprachwechseln kommt. Der erhebliche Prestigeverlust des Deutschen, auch der Mundarten, nach dem Zweiten Weltkrieg, verbunden mit dem dramatischen Rückgang Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 258 Generation I Generation II Generation III Generation IV vor 1933 geboren zwischen 1933 und 1952 geboren zwischen 1952 und 1980 geboren seit 1980 geboren L1 deutscher Dialekt deutscher Dialekt deutscher Dialekt/ Slowakisch Slowakisch L1' Standarddeutsch Slowakisch (ggf. Ungarisch), teilw. Standarddeutsch deutscher Dialekt in Resten, meist passiv L2 Slowakisch schwach (ggf. Ungarisch) Standarddeutsch mit Schwächen Standarddeutsch Tabelle 2: Kompetenzverteilungen in den einzelnen Generationen der Sprecherzahlen nach Aussiedlung, Flucht und Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung kurz vor und nach Kriegsende, hat dazu geführt, dass im Kollisionsfalle generell das Slowakische die dominante Sprache ist. Erst in jüngerer Zeit mit der politischen Öffnung nach Westen und der Zugehörigkeit der Slowakischen Republik zur Europäischen Union ist ein gewisser Prestigegewinn des Deutschen zu verzeichnen, bezogen allerdings in erster Linie auf das Standarddeutsche als Fremdsprache vor allem in ökonomischen Kontexten. Ein weiterer zentraler Faktor ist die schulische Situation; sie spielt insbesondere für die Möglichkeiten des Erwerbs der Standardvarietät eine entscheidende Rolle. Die im Einzelnen wechselnden, von der Phase der ersten Slowakischen Republik abgesehen, überwiegend jedoch nicht guten schulischen Bedingungen spiegeln sich in den Erwerbsbiographien der Gewährspersonen. In jüngster Zeit bessert sich die Situation, wie beschrieben, ganz erheblich; das Deutsche steht jetzt jedoch als Fremdsprache in verstärkter Konkurrenz zum (und mit einigem Abstand hinter dem) Englischen. 6.2 Sprachkompetenz nach Generationen Erwartungsgemäß sind die Kompetenzen in den einzelnen Generationen recht unterschiedlich verteilt. Hauptbefund des Repertoireumbaus über die Generationen ist die mehrheitliche Ablösung des deutschen Dialekts als ersterworbene Varietät in den älteren Generationen durch das Slowakische in der jüngsten Generation. Eine (notwendigerweise in gewissem Umfang vergröbernde) Übersicht zur Kompetenzverteilung bietet Tabelle 2. Generation I: vor 1933 Geborene Die meisten Sprecher der Generation I sind in Orten mit deutscher Mehrheitsbevölkerung oder jedenfalls mit einer zahlenmäßig und prozentual starken deutschen Minderheit aufgewachsen (teilweise, jedenfalls für die frühen Phasen der Kindheit, gilt dies auch für die Angehörigen der Generation II). Die Sozialisation erfolgte durchgehend im jeweiligen deutschen Dialekt. In der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg gab es in vielen Gebieten, besonders in der Zips, deutsche Schulen, so dass die deutsche Standardsprache vielfach als Dachsprache fungierte. Viele Sprecher der Generation I haben in der Folge nur eine schwache Kompetenz im Slowakischen (ggf., je nach Region, auch im Ungarischen) ausgebildet, soweit dies nötig war, um im slowakischen Arbeitsumfeld bestehen zu können. Generation II: zwischen 1933 und 1952 Geborene Etwas komplizierter ist die Situation für die Angehörigen der Generation II. Auch hier verlief der Erstspracherwerb in aller Regel im deutschen Dialekt; angesichts der Kompetenzschwächen der Elterngeneration im Slowakischen ist dies auch nicht überraschend. Die schulische Sozialisation hingegen erfolgte 6. Slowakei 259 ab Kriegsende vollständig auf Slowakisch; 6 auch als Pausensprache war Deutsch in den ersten Nachkriegsjahren nicht gestattet. An den weiterführenden Schulen wurde Deutsch als Fremdsprache jedoch bald wieder unterrichtet, so dass ein Teil dieser Sprechergruppe auch standardsprachliche Kompetenzen erwerben konnte. Generation III: zwischen 1952 und 1980 Geborene Diejenigen Angehörigen der Generation III, die in Familien aufgewachsen sind, deren Eltern beide den deutschen Dialekt sprachen, sind vielfach auch mit dem Dialekt als Erstsprache aufgewachsen. In exogamen Ehen hingegen, bei denen einer der Partner Slowakisch (oder z.B. Ungarisch) als Muttersprache hatte, wurde in aller Regel Slowakisch (bzw. ggf. auch Ungarisch) zur Familiensprache. Sprecher mit deutschem Dialekt als Familiensprache haben das Slowakische schon in früher Kindheit, meist bereits im Kindergarten, erworben. Unterrichtssprache in der Schule war immer Slowakisch; das in der Schule erworbene Standarddeutsch hat deutlich den Charakter einer Fremdsprache und weist entsprechende Schwächen auf. Generation IV: nach 1980 Geborene Für die jüngste Generation ist nahezu durchgehend das Slowakische die Erstsprache. Die deutschen Ortsdialekte sind kaum mehr als mit passiver Kompetenz vorhanden. Das bedeutet andererseits, dass dort, wo das Deutsche auch als Identitätsträger eine Rolle spielt, diese Funktion von der Standardsprache mit erbracht werden muss. Es gibt bereits mehrere Grundschulen mit erweitertem Deutschunterricht, die Deutsch ab der ersten Klasse mit fünf Wochenstunden anbieten. Zusammen mit den Sprachfördermaßnahmen des Karpatendeutschen Vereins (Kinderferienlager) führt das dazu, dass vielfach bereits recht gute Kompetenzen im Standarddeutschen zu verzeichnen sind. 6 Der Wechsel erfolgte übergangslos auch für die bereits eingeschulten Kinder, die dann vielfach nach ihrem ersten slowakischen Schuljahr wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht versetzt wurden. 6.3 Sprecherkonstellationen und -typen Die Kommunikationskonstellationen spielen eine entscheidende Rolle für die Sprachenbzw. Varietätenwahl; diese erfolgt in Abhängigkeit vom Kommunikationspartner, wobei die zentralen Auswahlparameter einerseits auf einer Achse familiär/ vertraut - öffentlich/ förmlich zu verorten sind und andererseits durch die Generationenzugehörigkeit der Kommunikationspartner bestimmt werden. Für die Angehörigen der Generation I ist bzw. war der deutsche Dialekt immer Haus- und Familiensprache, Sprache des näheren Umfelds und damit weiter Teile des Lebensalltags; das Slowakische wurde in professionellen und öffentlichen Zusammenhängen gebraucht. Die Angehörigen der Generation II hingegen sind zwar in aller Regel im deutschen Dialekt erstsozialisiert, haben aber bereits durch die Schule eine vollständige Slowakisch- Kompetenz erworben. Der Dialekt war immer Familiensprache mit den Eltern und ist es meist nach wie vor mit den Geschwistern und deren Partnern (soweit diese Dialektsprecher sind), mit gleichaltrigen Verwandten (Cousins, Cousinen), alten Freunden usw.; Familiensprache mit dem Ehepartner und den eigenen Kindern ist im Regelfalle dann der Dialekt, wenn ihn beide Partner von Hause sprechen. Auch in diesem Falle läuft aber die Kommunikation vielfach schon asymmetrisch (die Kinder sprechen eher Slowakisch); spätestens bei den Enkelkindern (Generation IV) ist meist nur noch eine eingeschränkte Kompetenz vorhanden: (72) no/ mit den Enkelkindern (.) geht es nicht so gut, aber die Enkelkinder, (.) wenn sie (.) ein wenig (.) Mut haben, sprechen sie auch Dialekt (SK 14-7-5) Slowakisch ist für diese Generation die selbstverständliche Kommunikationsform für alle professionellen und öffentlichen Kontexte, also auch für Fremdansprachen. Diese erkennbaren Trends setzen sich für die Generation III noch verstärkt fort. Auch für diejenigen, die noch in Familien mit dem Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 260 deutschen Dialekt als Familiensprache aufgewachsen sind und daher zunächst den Dialekt erworben haben, ist Slowakisch die dominante Sprache. Der Dialekt bleibt die Sprache mit den Eltern (und Großeltern), ggf. Schwiegereltern, außerdem eventuell mit alten Freunden aus der Kindheit. Schul- und Pausensprache war allerdings stets Slowakisch, so dass sich die Sprecher auf diese Weise auch innerfamiliär ein adressatenspezifisches Sprachverhalten aneigneten: (73) zum Beispiel erinnere ich mich, dass/ (.) ich komme zu meiner Großmutter, sprech ich mit ihr Mantakisch, kommt meine Cousine, sie spricht auch mit (.) ihrer Großmutter Mantakisch, und wir untereinander (.) sprechen Slowakisch, das war so gelernt von der Schule (SK 14-3-0) Mit den eigenen Kindern wieder ist die Sprachsituation meist ähnlich asymmetrisch: (74) das ist schwer, weil (-) eh/ (..) ich hab mit/ (.) mit den Kindern auch Mantakisch gesprochen, aber (.) sie haben das (Slowakische) (.) schon in der/ in dem Kindergarten (.) gelernt und eh/ (.) und (.) sie (-) verstehen, sie/ (.) aber sie möchten nicht (.) Mantakisch sprechen, sprechen schon eher Deutsch (..) (SK 14-3-10) Slowakisch ist jedenfalls die Sprache aller professionellen und öffentlichen Zusammenhänge und auch der weiteren sozialen Netze. Für die Angehörigen der Generation IV ist in den meisten Fällen, selbst wenn ihre Eltern zu ihnen den deutschen Dialekt sprechen, Slowakisch die Hauptgebrauchssprache. Im deutschen Dialekt haben sie mehrheitlich allenfalls eine passive Kompetenz: (75) mit der Mund/ Mundart/ (.) eh/ (.) die verstehen, aber sprechen (.) wollen sie schon nicht (SK 14-1-15) Der schulische Deutschunterricht, der ja die Standardsprache als Zielsprache hat, ist dabei keine Hilfe: (76) Und so bleibt die deutsche Sprache nur in der Schule, und eh/ (..) so (.) die Kinder lernen auch (.) eh/ (.) kann man sagen eh/ (.) die (.) deutsche Sprache. (SK 14-1-15) Gemeint ist hier, dass die Kinder zwar Deutsch lernen, aber eben nicht den Dialekt. 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen Das Standarddeutsche hat seinen festen Platz dort, wo es, in schulischer und akademischer Lehre, Unterrichtsgegenstand und Unterrichtssprache ist, außerdem bisweilen in den offizielleren Teilen von Veranstaltungen im Bereich der Minderheitenarbeit sowie in deren schriftlichen Manifestationen. An verschiedenen Orten werden auf Betreiben des Karpatendeutschen Vereins auch wieder Messen ganz oder teilweise in deutscher Sprache abgehalten. Auch für den Dialekt sind es generell meist die Institutionen der Minderheitenarbeit, die einen stabilen Rahmen für deutschsprachige Kommunikationssituationen schaffen. Bei den Veranstaltungen des Karpatendeutschen Vereins, im Chor usw. wird (auch in Korrelation mit dem hohen Altersdurchschnitt der Teilnehmer) in aller Regel Dialekt gesprochen. Dies gilt jedoch nur mit Einschränkung etwa für die Tanzgruppen für Kinder und Jugendliche, die ausdrücklich auch slowakischen Kindern offenstehen (zumal die Kinder untereinander ohnehin eher Slowakisch sprechen). 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung und Identitätsfragen Die Frage nach der Muttersprache und die daran geknüpfte Frage nach der Identität ist für die Älteren überwiegend leicht zu beantworten. Deutsch als die amtliche Muttersprache und noch mehr der Dialekt als die tatsächliche Erstsprache werden als identitäre Orientierungsanker wahrgenommen; Slowakisch hingegen ist die Sprache der Anderen: (77) Ich spreche zwar Slowakisch, aber als Slowakin fühle ich mich nicht. (SK 14-2-30) 6. Slowakei 261 Für die Angehörigen der Generation III dagegen ist die Situation schon oft eher unklar. Dem deutschen Dialekt wird zwar eine hohe affektive Bedeutung, insbesondere als Nähe- und Familiensprache zuerkannt (die deutsche Standardsprache spielt hier keine Rolle); dies kontrastiert aber mit der oft schon vom Slowakischen dominierten Sprachalltagswirklichkeit: (78) Na ja, das ist schwer, das/ (-) ich (.) fühl mich/ man spricht mehr (.) Slowakisch, ja, das ist/ auch in der Arbeit/ ( ) aber (..) immer kommt mir das Mantakische so (.) sehr nah v/ vor (..) (SK 14-3-5) Dies gilt umso mehr für die Angehörigen der jüngsten Generation. Der Kompetenzverlust im Dialekt hin zu Generation IV wird durchweg bedauert: (79) I: Und mit den Enkelkindern? G: Spreche ich leider Slowakisch. (SK 14-2- 15) 7.2 Vitalitätsprognosen Auch wenn sich die Rahmenbedingungen für das Deutsche durch Förderungsmaßnahmen der Minderheitenpolitik und im Bereich des Unterrichtswesens in jüngster Zeit erheblich gebessert haben, erscheint die langfristige Vitalität des Deutschen als Minderheitensprache als sehr fraglich. Die Sprecherzahlen sind sehr niedrig, und zumindest der deutsche Dialekt bietet keinen entscheidenden kulturellen Mehrwert. So sind denn auch die Prognosen für das längerfristige Überleben des deutschen Dialekts überwiegend skeptisch: (80) die deutsche Sprache wird sich ja erhalten, es ist ja eine Weltsprache, aber der Dialekt, glaube ich, in der Zukunft, (.) er wird sich nicht erhalten. (.) Ich weiß nicht, wie viel Jahre noch, aber das sieht man schon in Familien, dass die (..) jungen Leute und die Jugend/ (-) die jetzige/ eh/ die jetzige Jugend (.) wird mit ihren Kindern schon Dialekt nicht mehr sprechen, glaub ich. (SK 14-2-30) Zutreffend wird gesehen, dass die Vitalität einer Minderheitensprache kaum allein mit externen Sprachförderungsmaßnahmen garantiert werden kann, wenn die innerfamiliäre Weitergabe im ungesteuerten Erstspracherwerb nicht mehr gesichert ist; dieses Problem wird immer wieder benannt: (81) mit der Mund/ Mundart/ (.) eh/ (.) die verstehen, aber sprechen (.) wollen sie schon nicht (SK 14-1-15) Es finden sich allerdings auch optimistische Stimmen, sogar in Bezug auf die Zukunftschancen des Dialekts - wenngleich vermutet werden darf, dass solche Äußerungen bis zu einem bestimmten Grade auch von einem gewissen Funktionärsoptimismus mitgeprägt sein mögen: (82) Und so, (.) kann man sagen, wird auch der Dialekt (.) laut mir (.) weiter auch leben bleiben, weil es sind viel eh/ (.) Ehen (.), wo der deutscher Dialekt noch ist gesprochen auch von den Kleinsten schon. (SK 7-1-15) Insgesamt überwiegt aber eine deutliche Skepsis: (83) das kann ich nicht sagen, weiß ich nicht (SK 14-3-10) 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Die im Karpatenbogen gelegene Slowakische Republik bietet mit ihrer Erstreckung von der Hohen Tatra im Norden bis zur Ungarischen Tiefebene im Süden verschiedenste Landschaftsformen. Von den heute rund 5,4 Millionen Einwohnern der Slowakei sind rund 86 Prozent Slowaken, etwa 9,5 Prozent Ungarn, etwa 1,8 Prozent Roma und, unter anderem, 0,1 Prozent Deutsche. 8.2 Historische und demographische Faktoren Seit dem Mittelalter war das Gebiet der heutigen Slowakei mehrfach Ziel deutschsprachiger Siedler, die sich in verschiedenen Regionen des Landes niederließen. Siedlungsre- Albrecht Plewnia/ Tobias Weger 262 gionen waren das Gebiet um Bratislava/ Pressburg, außerdem die Gegenden um Kremnica/ Kremnitz und Nitrianske Pravno/ Deutsch- Proben in der Mittelslowakei, ferner die Ober- und Unterzips einschließlich des Bodwatals bei Košice/ Kaschau. Im Jahre 1930 lebten in der Slowakei rund 150.000 Deutsche (das entsprach ca. 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), von denen der größte Teil 1944 und 1945 ausgesiedelt wurde. Bei der letzten Volkszählung (2001) gaben 5.405 Personen als Nationalität deutsch an; in der ungefähren Größenordnung ist diese Zahl seit längerem stabil. Funktionäre des Karpatendeutschen Vereins nennen zum Teil deutlich höhere Zahlen. 8.3 Kulturelle Faktoren Nach der in der Tschechoslowakei über Jahrzehnte schwierigen Situation der zahlenmäßig kleinen (und daher im öffentlichen Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung wenig präsenten) deutschsprachigen Minderheit sind in jüngster Zeit auf vielen Gebieten Fortschritte zu verzeichnen. Der mit öffentlichen Mitteln geförderte Karpatendeutsche Verein unterhält zahlreiche Ortsgemeinschaften mit Chören, Tanzgruppen usw. und sogenannte „Häuser der Begegnung“ als regionale Kulturzentren; in Bratislava/ Pressburg existiert ein Museum der Kultur der Karpatendeutschen, das Teil des Slowakischen Nationalmuseums ist. Im Unterrichtswesen gibt es verstärkte Bemühungen zur Stärkung des Deutschunterrichts schon in den Grundschulen. 8.4 Soziolinguistische Situation Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebten die Deutschen oft in Orten mit deutscher Mehrheitsbevölkerung oder doch mit einer zahlenmäßig und prozentual starken deutschen Minderheit, so dass die deutschen Ortsdialekte eine stabile Position im allgemeinen Lebensalltag besaßen. Für die Folgegenerationen hingegen wurde das Deutsche mehr und mehr auf die Funktion als Haus- und Familiensprache zurückgedrängt; in exogamen Konstellationen wurde es in der Regel aufgegeben. Während bei vielen Angehörigen der älteren Generationen der deutsche Dialekt noch gut verankert ist, ist für die meisten Sprecher der jüngeren Generationen Slowakisch Hauptgebrauchssprache geworden. In der jüngsten Generation ist eine aktive Kompetenz im deutschen Dialekt sehr selten. Allerdings ist hier zunehmend, gestützt auch durch den Schulunterricht, eine stabile Kompetenz im Standarddeutschen festzustellen. 9 Literatur Bobrík, Miroslav (1994): Die Karpatendeutschen in der Slowakei in den Jahren 1918-1945. In: Österreichische Ortshefte 36/ 4, S. 753-767. Born, Joachim/ Dickgießer, Sylvia (1989): Deutschsprachige Minderheiten. Ein Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. Cesnaková-Michalcová, Milena (1997): Geschichte des deutschsprachigen Theaters in der Slowakei. Köln/ Weimar/ Berlin: Böhlau (=Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte; A 17). 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Ungarn 7 Elisabeth Knipf-Komlósi Inhalt 1 Allgemeines und geographische Lage ................................................................................... 267 2 Statistik und Demographie ..................................................................................................... 269 3 Geschichte ................................................................................................................................ 270 3.1 Die Anfänge .................................................................................................................. 270 3.2 Die großen Ansiedlungswellen ................................................................................... 271 3.3 Die Ungarndeutschen im 20. Jahrhundert................................................................. 274 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung ............................................................. 275 4.1 Wirtschaftliche Situation: Stadt-Land-Bevölkerung ................................................. 275 4.2 Kultur und Medien ....................................................................................................... 277 4.2.1 Kulturelle Institutionen und Verbände ................................................................ 277 4.2.2 Medien und Pressewesen........................................................................................ 279 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen............................................................................. 279 4.3.1 Schulwesen ............................................................................................................... 280 4.3.2 Ortsnamen................................................................................................................ 281 5 Soziolinguistische Situation .................................................................................................... 281 5.1 Die kontaktierenden Sprachen.................................................................................... 281 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ............................................................ 283 5.2.1 Übersicht über die deutschen Dialekte in Ungarn .............................................. 283 5.2.2 Die Rolle der Ortsmundarten ................................................................................ 285 5.2.3 Das gehobenere Deutsch der Ungarndeutschen................................................. 288 5.2.4 Die Kontinuumsformen (bilingualer Sprachmodus) .......................................... 291 5.3 Die Sprach(en)wahl: Code-Switching, Sprachmischung.......................................... 293 5.4 Sprachliche Charakteristika der ungarndeutschen Sprachvarietäten...................... 297 6 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz ............................................................................... 299 6.1 Allgemeines.................................................................................................................... 299 6.2 Sprachgenerationen ...................................................................................................... 301 6.3 Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten ................................................ 303 6.4 Sprecherkonstellationen ............................................................................................... 307 6.4.1 Nahestehende Personen ......................................................................................... 307 6.4.2 Fernerstehende Personen, Öffentlichkeit, Halböffentlichkeit .......................... 308 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 308 7.1 Einstellungen zum Standarddeutschen und zum Dialekt........................................ 309 7.2 Affektive Einstellungen zu Deutsch als Muttersprache .......................................... 311 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 312 8.1 Geographische Faktoren.............................................................................................. 312 8.2 Historische und demographische Faktoren .............................................................. 313 8.3 Kulturelle Faktoren....................................................................................................... 313 8.4 Soziolinguistische Situation ......................................................................................... 314 9 Literatur .................................................................................................................................... 315 1 Allgemeines und geographische Lage Ungarn wird gelegentlich als eine Sprachinsel inmitten Europas bezeichnet, weil die ungarische Sprache zur finnougrischen Sprachfamilie gehört und mit keiner der Sprachfamilien verwandt ist, die in der unmittelbaren Nachbarschaft des Landes zu finden sind. Aus typologischer Sicht ist Ungarisch eine überwiegend agglutinierende Sprache; es existiert in den benachbarten Ländern das Stereotyp, dass das Ungarische eine exotische, daher auch eine schwer erlernbare Sprache ist. Das Land liegt im geschützten Karpatenbecken, auf einer Fläche von 93.000 km 2 , mit einer Einwohnerzahl von rund 10 Millionen. Außerhalb der ungarischen Landesgrenzen sind etwa fünf Millionen Menschen ungarischer Muttersprache beheimatet. Mit seinem kontinentalen Klima, den schönen langen Sommern und verhältnismäßig milden Wintern, außerdem mit vielen Thermalbädern, ist es ein beliebtes Urlaubsland. Besonders der Plattensee (Balaton), einer der größten und wärmsten Seen Mitteleuropas, lockt viele Touristen an. 1 In der Österreichisch-Ungarischen Monarchie galt Ungarn wegen seines fruchtbaren Bodens als die Kornkammer des Reichs. Aufgrund seiner geographischen Lage - die Donau fließt durch die Mitte des Landes - und seiner Ausbreitung wird oft von einer Ost-West-Gliederung im Land gesprochen: Im Osten liegt der flache Teil, die (noch heute weniger urbanisierte) große ungarische Tiefebene, während der westliche Teil des Landes aus dem hügeligen, waldigen, abwechslungsreicheren Transdanubien mit erheblich besserer Infrastruktur und dem Plattensee in seiner Mitte besteht. Dieses West-Ost-Gefälle ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung. Ein erster Blick auf die Landkarte macht ersichtlich, dass Ungarn umgeben ist von einer bunten Vielfalt von Sprachen und Ethnien; die ungarischen Landesgrenzen sind keine natürlichen, durch geographische Begebenhei- 1 Zur Zeit des Eisernen Vorhangs war der Plattensee ein bevorzugter Treffpunkt vieler deutscher Touristen aus West und Ost. ten gezogenen Grenzen, sondern im Laufe der Geschichte entstandene und geänderte politische Grenzen. Im Norden grenzt das Land an die Slowakei, im Osten an die Ukraine und Rumänien, im Süden an Serbien, Kroatien, Slowenien und im Westen an Österreich. Ungarn galt Jahrhunderte lang - bis zum Friedensvertrag von Trianon - als ein typischer Vielvölkerstaat. In diesem Teil Europas ist die ethnische und sprachliche Vielfalt, das Nebeneinander- und Miteinanderleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität und Muttersprache eine alltägliche Erscheinung. Insgesamt leben in Mittel- und Südosteuropa 107 nationale und ethnische Minderheiten, die aber nur 8,6 Prozent der Gesamtbevölkerung dieses Teils Europas ausmachen, unter denen die deutsche Minderheit zwar noch in sechs Staaten existent ist, doch in der Gegenwart keine zahlenmäßig starke Minderheit mehr darstellt. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebte die genannte Vielzahl von Minderheiten dieser Region durch die Ethno- und Genozide, die „ethnischen Säuberungen“, die Zwangsvertreibungen, die Aus- und Umsiedlungen und deren negative Auswirkungen eine ständige zahlenmäßige Abnahme. Besonders die vier sog. historischen Minderheiten Ungarns (Südslawen, Rumänen, Slowaken und Deutsche) weisen einige Gemeinsamkeiten in ihrer Geschichte auf: Die Ansiedlung der heute hier lebenden Nationalitäten ist auf die Türkenzeit zurückzuführen und war verbunden mit der Urbarmachung, Rückeroberung und Neubesiedlung des damals verwüsteten Landes. Die Nachfolgegenerationen der angesiedelten vier Nationalitäten waren alle im Agrarbereich verwurzelt und konnten so eine gewisse Kontinuität in ihrer Wirtschafts- und Lebensweise aufrecht erhalten und ausbauen, die jedoch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ein abruptes Ende fand. Durch die Kontinuität der gemeinsamen Lebensform entwickelten sich auch Gemeinsamkeiten habitueller und struktureller Art, so z.B. in ihren kulturellen Traditionen und in der demographischen Struktur dieser Minderheiten (Seewann 2000: 76). Ungarn gilt heute als ein einsprachiges Land, in dem jedoch Reste von Minderheiten leben. Elisabeth Knipf-Komlósi 268 Von den in Ungarn registrierten dreizehn Minderheiten (Kroaten, Serben, Rumänen, Ruthenen, Slowaken, Deutsche, Ukrainer, Griechen, Sinti und Roma, Polen, Bulgaren, Slowenen) ist die deutsche Minderheit eine der zahlenmäßig bedeutendsten und mit einer mehrhundertjährigen Vergangenheit eine der historisch tradiertesten. Als verhältnismäßig kompakte Siedlungsgebiete werden auf dem Territorium des historischen Ungarn (vor 1919, heute auf dem Territorium von Österreich, Ungarn, Serbien, Kroatien, Rumänien und in der Slowakei) folgende betrachtet (Bellér 1986: 10-11): - Das Leitha-Gebiet (Komitat Wieselburg/ Moson), - die Raaber-Gegend (Komitat Ödenburg/ Sopron und Eisenburg/ Vas), - der Bakonyer-Wald (Komitat Veszprém/ Vesprim) oder das Ungarische Mittelgebirge, - das Schildgebirge (Komitat Weißenburg, Fejér, Komárom/ Komorn, Pest), - das Mecseker-Gebiet (Komitat Tolna/ Tolnau, Baranya/ Branau, die sog. Schwäbische Türkei), - Südungarn (Komitat Bács-Kiskun/ Batsch, Torontal,Temesch, Arad, Karasch-Severin), auch Batschka genannt, - das Kraszna-Gebiet (Komitat Szatmár/ Sathmar), das Gebiet der Sathmarer Schwaben, - das Tatra-Gebiet (die Zips), - das Fatra-Gebiet (Komitat Turotz, Neutra, Barsch), - Kroatien. Heute noch als kompakte von Ungarndeutschen bewohnte Gebiete in Ungarn sind: - Das Ofner Bergland mit der Umgebung von Budapest (Budai Hegyvidék), - das Schildgebirge (Vértes), - das Bakonyer Gebiet/ Buchenwald oberhalb des Balatonsees/ Plattensees mit dem Zentrum Veszprém/ Vesprim, - die sog. Schwäbische Türkei im Süden des Landes mit dem Zentrum Pécs/ Fünfkirchen (auch Branau/ Baranya genannt, als Übersetzung der ungarischen Bezeichnung der Verwaltungseinheit), - der südöstliche Teil zwischen den Flüssen Donau/ Duna und Theiß/ Tisza, auch Nordbatschka genannt, mit dem Zentrum von Baja/ Frankenstadt, - die Tolnau mit den Zentren Szekszárd und Bonyhád/ Bonnhard, - der an Österreich grenzende Streifen Ungarns mit dem Zentrum von Sopron/ Ödenburg, Szombathely/ Steinamanger und K"szeg/ Güns, - außerdem vereinzelte Streusiedlungen im Nordosten Ungarns. Die Selbstbezeichnung der Deutschen in Ungarn war schon immer von großer Variabilität gekennzeichnet. So finden sich Bezeichnungen wie „Deutsche in Ungarn“, „Deutschungarn“, „Ungarndeutsche“, „Donauschwaben“. Die geläufigste Bezeichnung „Schwabe“ (ungarisch „sváb“) war sowohl als Eigenals auch als Fremdbezeichnung in den verschiedenen Epochen der Geschichte mit sehr unterschiedlicher Konnotation vorhanden. Freilich macht das echt schwäbische Element kaum zwei Prozent der gesamten Ungarndeutschen aus. Diese Bezeichnung lässt sich darauf zurückführen, dass die überwiegende Mehrheit der ersten nachtürkischen Ansiedler tatsächlich aus dem Schwabenland (Württemberg und Schwaben) über Ulm in den so genannten „Ulmer Schachteln“ auf der Donaustraße nach Ungarn kam. Hutterer schreibt dazu Folgendes: „Als Sammelname aller nachtürkischen deutschen Siedler im Karpatenbecken hat ihr Stammesname in die Sprache Südosteuropas Eingang gefunden. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß der namengebende Stamm in diesem Raum heute größtenteils nur in seinem Namen weiterlebt. Die Schwaben wurden von den schrecklichen Pestseuchen des 18. Jahrhunderts dezimiert, und sie waren es, die entlang der Donau nach Süden - über die Dobrudscha und die Ukraine bis an die Wolga, in die Krain und nach Transkaukasien - weiterzogen. An ihre Stelle traten im Karpatenbecken fast überall die Baiern und die Franken, auf die der Schwabenname übertragen wurde. Das 18. Jahrhundert war noch nicht das Zeitalter des Stammesbewußtseins in Europa, und die meisten Siedler galten eben nur als „Deutsche“, nicht als selbstbewußte Trä- 7. Ungarn 269 ger einer bestimmten geschlosseneren ethnischen Einheit: auch von dieser Seite stand daher der Ausbreitung des Schwabennamens nichts im Wege.“ (Hutterer 1975: 27-29) Allein für die in Westungarn und in Nagybörzsöny/ Deutschpilsen lebende Minderheit deutscher Muttersprache wird diese Bezeichnung aus historischen Gründen (3.1) nicht gebraucht. 2 Statistik und Demographie Die nationalen und ethnischen Minderheiten lebten und leben heute noch zum überwiegenden Teil in Streu- und Mischsiedlungen. Die Tatsache, dass keine der Minderheitengruppen über abgrenzbare, einheitliche Gebiete verfügte, hat historische Ursachen. Die internen soziopolitischen Faktoren des 20. Jahrhunderts, die mit der eintretenden Industrialisierung verbundene Mobilität der Bevölkerung, die innere Migration vom Land in die Stadt, haben diese Zerstreutheit der Minderheiten noch verstärkt. Hinsichtlich ihrer Siedlungsstruktur lassen sich für die Ungarndeutschen heute folgende Siedlungsschwerpunkte, die gleichzeitig das Forschungsgebiet der vorliegenden Untersuchung darstellen, ausmachen: - die Umgebung von Budapest (das Ofner Bergland), - die Gebiete an der Westgrenze zu Österreich (Komitate Vas und Gy"r-Sopron), - Südungarn (Komitat Baranya/ Branau, Bács- Kiskun und Tolna/ Tolnau), die Schwäbische Türkei und die Batschka. Laut Angaben der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen aus dem Jahre 2001 lebt die Mehrheit der Minderheitenbevölkerung in ländlichen Gemeinden und Dörfern. Ihre Zahl ist einer kontinuierlichen Abnahme ausgesetzt. Die ethnische Zusammensetzung dieser Ortschaften war keineswegs homogen. Besonders im Süden Ungarns, aber auch an der Westgrenze, gab und gibt es heute noch Ortschaften, in denen neben der ungarischen Bevölkerung auch ein beachtlicher Anteil deutscher und slawischer Minderheit lebt. Es kommt allerdings nur noch ganz selten vor, dass in einem Dorf eine Minderheit die Bevölkerungsmehrheit bildet; in den meisten Fällen geht es um mehrheitlich ungarischsprachige Dörfer mit einem kleineren Bevölkerungsanteil einer oder mehrerer Nationalitäten. Im Übrigen ist für die Minderheitenbevölkerung in Ungarn im Allgemeinen, so auch bei den Deutschsprachigen - besonders nach dem Zweiten Weltkrieg -, teils als Zeichen ihres Assimilationswillens, die Exogamie charakteristisch geworden. Der frühere Verband der Ungarndeutschen schätzte die Zahl der Ungarndeutschen auf 200.000 bis 220.000 Personen. Auch die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen geht nur von Schätzungen aus. Bekannt ist, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Angaben der Volkszählungen von der tatsächlichen Stärke der Minderheiten abweichen. In Ungarn finden seit 1870 Volkszählungen statt. Seit 1941 wird auch nach der Nationalität gefragt. 2001 wurde zum ersten Mal nach dem Sprachgebrauch in der Familie gefragt. Im Vergleich zu den Volkszählungsangaben der letzten Jahrzehnte haben sich bei der letzten Volkszählung die Fragestellungen aber auch die Daten in vieler Hinsicht (z.T. zum Positiven) geändert. 2001 erfolgte die Volkszählung und die darin gestellten Fragen zur Minderheitenzugehörigkeit unter Berufung auf das Minderheitengesetz von 1993 anonym. Demzufolge konnte jeder einer nationalen oder ethnischen Minderheit angehörende Staatsbürger frei darüber entscheiden, ob er seine Zugehörigkeit zu einer Nationalität bei der landesweiten Volkszählung freiwillig bekundet. In einigen Angaben soll die Tendenz der Volkszählungsangaben veranschaulicht werden: (1) Muttersprache: 1880 lebten innerhalb der Staatsgrenzen Ungarns 1.798.373 ungarische Staatsbürger deutscher Muttersprache (13,1 Prozent der Gesamtbevölkerung). 1920 (nach dem Friedensvertrag von Trianon) wurden noch 551.211 Deutschsprachige gezählt. Danach kam es zu drastischen Veränderungen, die Zahl und die Mentalität dieser Minderheit betreffend (vgl. Tabelle 2 auf Seite 270). Elisabeth Knipf-Komlósi 270 (2) Bekenntnis zur deutschen Nationalität: Jahr Nationalität deutsch 1960 8.640 1980 11.310 1990 30.824 2001 62.233 Tabelle 1: Bekenntnis zur deutschen Nationalität (3) Bindung an kulturelle Werte und Traditionen: Insgesamt haben die Ungarndeutschen eine positive Einstellung zu ihrer Sprache und Kultur, auch wenn viele diese Sprache nicht mehr als ihre Muttersprache betrachten. Allgemeine Tendenz ist, dass in Ungarn die deutsche Sprache immer noch eine bedeutende Rolle, sowohl kulturell als auch wirtschaftlich, einnimmt und dass Deutsch die zweitpopulärste Fremdsprache ist (nach Englisch). Zum deutschen Minderheitenunterricht sind alle Schüler unabhängig von ihrer Nationalität zugelassen. Die in den letzten Jahren stetig steigenden Schülerzahlen (im Jahre 2001: 53.040) sind ein deutlicher Hinweis auf den aktuellen Prestigerückgewinn des Deutschen. Interessant ist ein Vergleich der Zahlen des nördlichen und südlichen Teils der von Ungarndeutschen am dichtesten bewohnten Gegenden. In der dialektfesten Branau (Fünfkirchen und Umgebung) haben sich dreimal so viele Personen zur deutschen Muttersprache bekannt wie in der Umgebung von Budapest (Ofner Bergland). Auch die übrigen Antworten zeigen ein sehr ähnliches Verhältnis: So haben sich in der Branau doppelt so viele Personen wie im Ofner Bergland zur deutschen Nationalität bekannt. Interessanterweise stieg in der Umgebung von Budapest die Zahl derjenigen, die einen häufigeren deutschen Sprachgebrauch im alltäglichen Leben angegeben haben. 3 Geschichte 3.1 Die Anfänge Die Deutschen zählen im Karpatenbecken nicht zu den Ureinwohnern. Ihr Erscheinen zog sich zeitlich gesehen über tausend Jahre hinweg, und auch die Art und Weise ihres Erscheinens gestaltete sich im Laufe der Geschichte recht unterschiedlich. Die ersten Ansiedlungen von Deutschen im Karpatenbecken setzten ziemlich früh ein, fast gleichzeitig mit der Landnahme Ungarns. Eine Entfaltung der deutsch-ungarischen Beziehungen ist zeitlich auf das 10. Jahrhundert zu setzen, auf die Zeit, als das ungarische Staatswesen nach westlich-feudalem Vorbild unter der Herrschaft des ersten ungarischen Königs, Stephans des I. (†1038), ausgebaut wurde. Nach dessen Heirat mit der bayerischen Königstochter Gisela kamen Adelige, Beamte, Ritter, Priester, Kaufleute und Handwerker ins Land, die zu einem wichtigen Bestandteil der Herrscherklasse wurden und nach einigen Generationen entdeutscht wurden. Diese deutschen „Gäste“ (hospites) hatten bedeutenden Anteil am politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ausbau und an der Stabilisierung des neuen Staates, aber auch in der Bekehrung der Ungarn zum Christentum. Die erste planmäßige Kolonisation erfolg- Jahr der Volkszählung Personen mit deutscher Muttersprache Prozentanteil der Gesamtbevölkerung 1941 475.491 5,2 1949 22.455 0,2 1960 50.765 0,5 1980 31.231 0,3 1990 37.511 0,4 2001 33.774 0,3 Tabelle 2: Anteil der deutschen Muttersprachler 7. Ungarn 271 te Mitte des 12. Jahrhunderts, als aus westdeutschen und niederländischen Gebieten eine Wanderwelle nach Osten ausging und König Geysa II. vor allem Handwerker, Bergleute und Bauern ansiedelte. So entstanden bereits in der Zeit der Arpaden die geschlossenen Siedlungsräume der sog. Sachsen in Siebenbürgen und in der Zips (vgl. Hutterer 1991c: 255). Die Sachsen wurden in mehreren Wellen im 12. und 13. Jahrhundert angesiedelt, und es wurden ihnen durch das Andreanum, den großen Freiheitsbrief, ziemlich viele Freiheiten, Rechte und in erster Linie bedeutende wirtschaftliche Begünstigungen zugesichert (vgl. Bellér 1986: 23). So verfügten die privilegierten Deutschen über eine unabhängige Rechtssprechung und Verwaltung und durften ihre Würdenträger und Beamten selbst wählen, wodurch ihre städtische Entwicklung ihren Anfang nahm. Auch König Béla IV. trieb nach dem großen Mongolensturm die Ansiedlung weiterer deutscher Kolonisten voran, um die entvölkerten Städte neu zu beleben und eine industrielle Entwicklung herbeizuführen. Insgesamt wurde jedoch in der Arpadenzeit nur ein Bruchteil der deutschen Bevölkerung in Ungarn angesiedelt, so die Bergmannstadt Nagybörzsöny/ Deutschpilsen in Nordungarn, sowie die Deutschen an der Westgrenze. Die Könige maßen den deutschen hospites in der Entwicklung des Städtewesens im Mittelalter eine große Rolle bei, die von den deutschen Kolonisten auch wahrgenommen wurde. Diese bildeten in den mittelalterlichen Städten Ungarns einen wichtigen wirtschaftlichen und politischen Faktor. Ein großer Teil der königlichen Freistädte um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts war schon deutsch oder wurde es mit der Zeit, z.B. Preßburg (Pozsony/ Bratislawa), Kaschau (Kassa/ Kosice), Eperjes (Presov) usw. Das 14. und 15. Jahrhundert brachte für das Bürgertum in den Städten einen weiteren Aufschwung. Die deutschen Bauern verloren jedoch ihre Freiheiten; für sie bedeutete dies einen langsamen Niedergang. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurde auch der städtischen Entwicklung und somit dem Bürgertum Einhalt geboten: Die städtischen Privilegien wurden vom Adel im Interesse einer Refeudalisierung angegriffen. Mit der Verbreitung der Reformation in den deutschen Städten verschlechterte sich die Lage des Bürgertums weiter, weil die Habsburger katholisch blieben, so dass das deutsche Bürgertum auch vom Herrscherhaus keine Unterstützung mehr erhoffen konnte. So schloss es sich den ungarischen Ständen an, mit denen es dann auch in den Unabhängigkeitskämpfen gegen die Habsburger stand. Die ungarländische deutsche Kultur war eng mit der Reformation verbunden. Besonders die Zipser Bergstädte und die Siebenbürger Sachsen hatten eine reiche protestantische Kultur. Auch die weltliche deutschsprachige Kultur blühte in den Städten Ungarns. In dieser Zeit wurden viele junge Ungarn zum Studium an deutsche Universitäten geschickt; auch Handwerker erlernten ihr Handwerk in Wien und im deutschsprachigen Ausland. Die Kontakte zwischen den zwei Kulturen wurden u.a. durch die Vermittlerrolle des städtischen deutschen Bürgertums gefördert: „Aus der Zeitspanne vom 14. Jahrhundert bis 1686 haben wir ein ziemlich reichhaltiges deutsches Schrifttum, darunter vom vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts an auch Drucke. […] Die Textsorten reichen von den verschiedenen Gattungen der Kanzleipraxis und des praktischen Schrifttums der Bürger (Geschäftsbuch, Hausarzneibuch, Chronik, usw.) bis zum Schöngeistigen.“ (Mollay 1986: 113) 3.2 Die großen Ansiedlungswellen Das 18. Jahrhundert war für die Lage des Deutschtums in Ungarn entscheidend. Die zweite Etappe der Kolonisation, eigentlich die zahlenmäßig bedeutende Ansiedlung der Deutschen in Ungarn, die auch die große Ansiedlung genannt wird, erfolgte nach der Vertreibung der Türken. Als Folge der andauernden Kriege und der 150-jährigen türkischen Besetzung Ungarns war ein Großteil der Siedlungen völlig zerstört und verwüstet, die Bevölkerung dezimiert. So mussten nun die entvölkerten und verödeten Gebiete von den Türken und auch von der Natur zurückerobert werden. Dazu benötigte es äußerer Hilfe, die dann von deutschen Landen aus kam, wo die Bereitschaft zur Auswanderung wegen der Elisabeth Knipf-Komlósi 272 immer stärker gewordenen feudalen Unterdrückung wuchs: „Die Menschen nahm man dorther, wo sie in großer Zahl und mit den besten Fachkenntnissen zur Verfügung standen, aus dem westlichen, überbevölkerten Teil Deutschlands, das infolge der deutsch-französischen Kriege, der hohen Steuer und der religiösen Fehden sich dem Niedergange neigte.“ (Bellér 1986: 64) Die Werbung um Kolonisten wurde sowohl von Agenten ungarischer Grundherrschaften als auch von der katholischen Kirche und der königlichen Kammer eingeleitet. Die ersten drei größeren Gebiete, so der mittlere Teil Ungarns (Komitat Veszprém, Pest und Esztergom/ Gran), das südöstliche Transdanubien (Komitate Tolnau, die sog. Schwäbische Türkei/ Branau und Somogy/ Schomodei) sowie der nordöstliche Teil, das Komitat Sathmar, waren im Grunde Gebiete der privatherrschaftlichen Ansiedlungsunternehmen, wohingegen die Batschka und das Banat das Ergebnis der staatlichen Siedlungsaktion waren. Die Ankömmlinge erhielten verschiedene wirtschaftliche und steuerliche Vergünstigungen; 2 im Gegenzug erhoffte man sich von ihnen unter anderem moderne Kenntnisse in der Landwirtschaft sowie einen wirtschaftlichen Aufschwung dieser Gebiete. Neben den primär wirtschaftlich besseren Aussichten in Ungarn standen bei den Auswanderern oft auch religiöse Motive im Hintergrund ihrer freiwilligen Aussiedlung nach Osteuropa: „Im Erfolg der Kolonisation spielte auch der Umstand keine geringe Rolle, dass lutherische und kalvinische deutsche Bauern bei protestantischen ungarischen Grundherren auf ein besseres Asyl hoffen durften als in deutschen 2 „Die Kolonisten erhielten während der südungarischen Kolonisation des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen soviel Land, wie sie mit ihrer Familie bestellen konnten. Sie bekamen Häuser bzw. Unterstützung zum Bauen, außerdem Vieh, Futter, Wirtschaftsausrüstung, Futter- und Geldvorschüsse, Investitionskredite, Fahrgeld, Personenzulagen, erhielten ärztliche und seelische Betreuung, usw.“ (Bellér 1986: 80). Trotz aller versprochenen Begünstigungen war das Schicksal der Angesiedelten nicht leicht; ein Sprichwort legt davon Zeugnis ab: „Der erste hat den Tod, der zweite hat die Not, der dritte erst das Brot“. bzw. österreichischen Ländern, die damals schon von der Gegenreformation stärker bedrängt waren.“ (Hutterer 1991c: 257) Während der sog. drei „großen Schwabenzüge“ im Laufe des 18. Jahrhunderts erfolgte die Ansiedlung des Großteils der heute in Ungarn lebenden deutschsprachigen Bevölkerung. In der ersten Etappe, der sog. Karolinischen Kolonisation unter Kaiser Karl IV. (1711-1740), die sich auf die Besiedlung der Gebiete Transdanubiens (Pest, Veszprém/ Wesprim, Gy"r/ Raab), auf die unteren Gebiete der Tiefebene (Békés) und auf den schwäbischen Siedlungsraum Sathmar sowie die Sprachinsel Munkatsch erstreckte, wurden 15.000 Kolonisten aus Köln, Trier, dem Rheinland und Schwaben in 46 Siedlungen angesiedelt. Unter der Herrschaft von Maria Theresia (1740-1780) setzte die zweite Etappe der Kolonisation ein, vor allem durch Bauern aus Elsass-Lothringen, Baden, aus der Pfalz, Schwaben, auch aus Tirol, die die späteren jugoslawisch-rumänischen Gebiete besiedelt haben. Das Interesse an deutschen Kolonisten stieg in jener Zeit in Europa, was dazu führte, dass die religiösen Beschränkungen durch den Wiener Hof aufgehoben wurden und auch protestantische Siedler gerne gesehen waren. Die Fürsten und Aristokraten des Deutschen Reiches versuchten, die Abwanderung der wohlhabenderen Schichten zu verhindern, und so kamen größtenteils ärmere Schichten nach Ungarn. 1767 lebten in der Tolnau etwa 75.000 Deutsche. Mit der letzten organisierten Kolonisationswelle (1782-1790) unter der Herrschaft von Josef II. wurde der große Schwabenzug abgeschlossen. Jetzt kamen Bauern aus den mittleren und westlichen Teilen Deutschlands (Pfalz, Saar, Hessen) und besiedelten alle bisherigen Siedlungsgebiete, doch überwiegend die Batschka und das Banat. 1790 lebten 70.000 deutsche Kolonisten in Südungarn. Um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert lebten insgesamt 1,1 Millionen Deutsche in Ungarn. Infolge dieser großen Siedlungsaktionen verloren die mittelalterlichen deutschen Siedlungsgebiete an Bedeutung. Die damals geschlossenen Siedlungsgebiete erreichten einen ho- 7. Ungarn 273 hen Prozentsatz an nichtungarischem Bevölkerungsanteil; so waren es in der Tolnau und der Branau 67 Prozent, in der Batschka 42 Prozent. Siedlungsgeographisch ergibt sich ein sehr gegliedertes Bild der Deutschen in Ungarn, obwohl sie selber anfänglich kein ausgeprägtes Gruppen- und Nationalitätenbewusstsein hatten. Die Ankömmlinge entsprachen den ihnen gegenüber gestellten Erwartungen: Sie waren erfolgreich durch ihre höher entwickelten Bau- und Wirtschaftsmethoden, was sich günstig auf ihre Lebensweise und auf die der anderen Ethnien auswirkte. Das 19. Jahrhundert war die Zeit der Stabilisierung und des Ausbaus von Dörfern, Siedlungen, auch Tochtersiedlungen: „Für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle, insonderheit für die sprachlich-ethnische Entwicklung des ungarndeutschen Volkes war diese Periode ausschlaggebend, als die aus allen Teilen Deutschlands herbeigeströmten Kolonistengruppen sich begannen innerhalb der Dorfgemeinschaften über den Ausgleich erster Stufe hinaus auch im landschaftlichen Rahmen zu größeren, umfassenden ethnischen Einheiten zu konstituieren.“ (Hutterer 1991c: 259) Das 19. Jahrhundert war reich an politischen Ereignissen. Zur Zeit der Revolution 1848 zeigten viele Ungarndeutsche, besonders das deutsche Bürgertum, eine Loyalität mit der Landesbevölkerung und kämpften für die Unabhängigkeit Ungarns gegen die Habsburger, u.a. aus Gründen der wirtschaftlichen Interessengemeinschaft, die den ungarischen Adel und das deutsche Bürgertum verband. Auch dies war ein Baustein zur Magyarisierung des deutschen Bürgertums, die bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte und besonders die Hauptstadt und die größeren Städte betraf. 3 Die Position des deutschen 3 „Ofen hatte Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts 30.000 deutsche und 7.500 ungarische Einwohner, Pest jedoch hatte genauso viele ungarische wie deutsche Bürger: 30.000. Die Magyarisierung war in den Städten, die in den Nationalitäten-Randgebieten des Landes lagen, so in Preßburg, Ödenburg, in der Zips, in Temeschwar usw. langsamer und oberflächli- Bürgertums und der deutschen Arbeiterschaft in der Zeit der kapitalistischen Entwicklung im 19. Jahrhundert führte zu ihrer natürlichen Assimilation, ein Prozess, der auch dadurch unterstützt wurde, dass das einheimische Deutschtum nicht organisiert war und ein sehr niedriges Minderheiten-Selbstbewusstsein hatte. 4 Das Bündnis zwischen den österreichischen und ungarischen Herrscherklassen, der so genannte Ausgleich von 1867, brachte vorübergehend eine Stärkung der Position der in Ungarn lebenden Deutschen, doch bereits um die Jahrhundertwende verschlechterte sich ihre Lage wieder. Die bestehenden deutschen Autonomien wurden weiter abgebaut und das Bürgertum magyarisiert. So gestaltete sich die Lage des ungarländischen Deutschtums in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts ungünstig. Die staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Maßnahmen, die zur Schaffung des bürgerlichen ungarischen Nationalstaates führen sollten, betrafen die jeweiligen Nationalitätenbestrebungen und -bewegungen am härtesten; betroffen waren gerade die Deutschen, obwohl bei ihnen die Magyarisierung am weitesten fortgeschritten war. 5 Selbst die in Vrsac/ Werschetz 1906 gegründete Ungarländische cher und machte vor den deutschen Dörfern halt.“ (Bellér 1986: 99ff.) 4 Lediglich die Siebenbürger Sachsen verfügten über ein ausgeprägtes Minderheitenselbstbewusstsein, was auf ihre jahrhundertelange territorial-verwaltungsmäßige Absonderung, ihre wirtschaftlich-ökonomische Autonomie zurückzuführen ist (vgl. Bellér 1986: 101). 5 „Die 120.000 deutschen Einwohner von Ofen/ Buda haben im Jahr 1880 keine einzige Schule mit deutscher Unterrichtssprache, gemischte, ungarisch-deutschsprachige gibt es auch nur sechs. […] Im Schuljahr 1899/ 90 gibt es in Ungarn 423 Schulen mit deutscher Unterrichtssprache; davon befinden sich aber 266 in Siebenbürgen und nur 157 in Ungarn. Den ungarndeutschen Kindern standen außerdem noch 713 gemischte ungarisch-deutsche Schulen zur Verfügung. Während in der Unterstufe die deutsche Sprache noch einigermaßen zur Geltung kam, wurde sie aus dem mittleren und höheren Unterricht - durch Beeinträchtigung des Nationalitätengesetzes - völlig ausgeschlossen. Deutsche Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten haben nur die Siebenbürger Sachsen; die ungarländischen Deutschen wie auch die Slowaken haben keine einzige solche Institution.“ (Bellér 1986: 131). Elisabeth Knipf-Komlósi 274 Deutsche Volkspartei blieb erfolglos und konnte keine breite Masse erfassen. 3.3 Die Ungarndeutschen im 20. Jahrhundert Ein Überblick über die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und sprachliche Lage der Ungarndeutschen im letzten Jahrhundert ergibt ein abwechslungsreiches Bild. Dieses bewegte Jahrhundert erschütterte sowohl die Mehrheitsbevölkerungen als auch die Minderheiten in den Ländern Europas von Grund auf. In den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs erwachte bei einem Teil der Ungarndeutschen ein neues Selbstbewusstsein: In dieser Zeit trat Jakob Bleyer auf, ein Universitätsprofessor ungarndeutscher Abstammung (aus der Batschka), der sich vor allem auf das ungarndeutsche Bauerntum konzentrierte. Das Neuerwachen eines nationalen Selbstbewusstseins ist teils darauf zurückzuführen, dass ungarndeutsche Soldaten im Krieg die wirtschaftliche und militärische Kraft der deutschen Staaten kennen lernten und ihrer deutschen Abstammung gewahr wurden. Auch die gegen Ende des Krieges heranreifende Revolution eröffnete neue Möglichkeiten zur Lösung der Nationalitätenfrage. Die ungarische bürgerlich-demokratische Revolution 1918 erkannte das Deutschtum als eine einheitliche Nation an und gewährte den von Deutschen bewohnten Gebieten Autonomie, einen deutschen Minister in der ungarischen Regierung und deutsche Abgeordnete in der ungarischen Nationalversammlung. Diese Autonomie wurde von der Räterepublik 1919 für kurze Zeit anerkannt und ausgebaut. Im August 1919 wurde die Räterepublik jedoch niedergeschlagen; Jakob Bleyer verlor sein Ministeramt. Mitte der 20er Jahre wurde eine liberal erscheinende Nationalitätenpolitik vom Ministerpräsidenten Graf Istvan Bethlen unternommen. Als Folge dieser Politik kam es zu Verordnungen, die mit dem Ziel völliger Rechtsgleichheit das Unterrichtswesen regulierten und die Gründung kultureller und wirtschaftlicher Vereinigungen der Nationalitäten ermöglichten. So kam es 1924 zur Gründung des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins (UDV); 1922 wurde das „Sonntagsblatt“ gegründet. Der UDV wurde allerdings bald des Pangermanismus bezichtigt. Die Assimilation schritt voran; zwischen 1920 und 1930 ging die Zahl der Ungarndeutschen um 13 Prozent zurück. Bleyer strebte mit seiner Politik die Treue zum ungarischen Staat und gleichzeitig auch zum deutschen Volk an, doch er scheiterte damit. Sein Nachfolger, Franz Basch, verfolgte eine Politik der ungarndeutsch-reichsdeutschen Schicksalsgemeinschaft („völkische“, d.h. nationalsozialistische Ideologie), die selbst der deutschfreundlichen Gömbös-Regierung widerstrebte. Trotz der Repressalien gegen die Partei konnte sich die „völkische“ Opposition - unterstützt durch das nationalsozialistische Deutschland - durchsetzen: 1938 wurde der „Volksbund der Deutschen in Ungarn“ unter der Präsidentschaft von Franz Basch ins Leben gerufen. Selbst auf seinem Höhepunkt zählte der Verein in den Jahren 1940/ 41 von den 477.000 Einwohnern deutscher Muttersprache nur 130.000 bis 150.000 Mitglieder. Die Treue-Bewegung wiederum sah die Lösung des deutschen Problems einzig in der Magyarisierung der Ungarndeutschen. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs trafen die Ungarndeutschen äußerst hart. Das Kriegsende brachte doppeltes Leid für die Schwaben. Mehrere zehntausend Menschen wurden zur Zwangsarbeit in Arbeitslager in die Sowjetunion verschleppt, wo sie unter unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen mehrere Jahre verbrachten. Tausende von ihnen kamen infolge von Kälte, Hunger und Krankheit um. Währenddessen wurden die Daheimgebliebenen infolge einer kollektiven Schuldzuweisung aus ihren Häusern vertrieben und ausgesiedelt. Die Aussiedlung der Deutschen zwischen 1946 und 1950 erfasste mehr als 170.000 Menschen, nicht nur frühere Anhänger des Volksbundes, sondern auch Personen deutscher Muttersprache und deutscher und ungarischer Nationalität. Mit der Aussiedlung, den Kriegsverlusten und den vertriebenen Flüchtlingen verlor die deutsche Minderheit mehr als die Hälfte ihrer Zahl. Der Neubeginn in den 50er Jahren wurde durch viele äußere Umstände erschwert. Man hatte nicht nur mit der negativen Einstellung 7. Ungarn 275 der Landesbevölkerung gegenüber der Ungarndeutschen zu rechnen, sondern diese Minderheit war durch die großen Verluste auf ein sozial äußerst niedriges Niveau zurückgeworfen worden: besitzlos, den Vergeltungsmaßnahmen und wirtschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt, bis 1950 entrechtet, aller Verbindungen mit der eigenen Volksgruppe beraubt. Der Neuanfang konnte nur durch eine völlige wirtschaftliche und soziale Umstrukturierung der ungarndeutschen Bevölkerung angegangen werden. Die gewaltsame Organisierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in den 1960er Jahren bedeutete eine weitere Umstellung für die in ländlicher Umgebung lebenden Ungarndeutschen. Zunächst galt in der Politik das Prinzip des Automatismus, das bedeutete, man erwartete, dass sich die Probleme der Nationalitäten im Zuge des Aufbaus des Sozialismus von selbst lösen würden. Seit 1968 wurde ein neues Konzept verfolgt, das die Integration der Nationalitäten anstrebte, doch ihre sprachliche Assimilation nicht mehr erzwingen sollte. Die ungarische Politik sah mit Besorgnis, wie sich die Politik der Nachbarländer gegenüber der dort lebenden ungarischsprachigen Bevölkerung gestaltete. Es begann die musterhafte Nationalitätenpolitik in Ungarn, man betonte die Brückenfunktion der Nationalitäten, um den Nachbarn ein gutes Beispiel vorzuführen, mit den eigenen Minderheiten gut umzugehen. In der Kádár-Ära wie auch später trachtete man nicht danach, die Wunden der Nachfolgezeit des Zweiten Weltkriegs zu heilen. Obwohl die Verbände der Nationalitäten bereits Ende der 1950er Jahren ins Leben gerufen wurden, waren jedwede Art der Selbstorganisation und Vereine im Kreise der Minderheiten untersagt. Für die deutsche Minderheit bildete die DDR die einzig offizielle Beziehung zum deutschsprachigen Ausland, doch die ausgesiedelten Familienhälften lebten zum Großteil im Westen. Erst seit 1986 kam es zu einer Änderung der Politik, als man sich, wirtschaftlichen Überlegungen folgend, immer intensiver der Bundesrepublik zuwandte. 1987 unterschrieb Ungarn einen Vertrag mit der Bundesrepublik über die Unterstützung der Ungarndeutschen und ihrer Kultur, wodurch der Weg für den Ausbau der kulturellen Beziehungen, der Partnerschaften, freigegeben wurde. Nach 1989 änderte sich die Situation vollständig; schon 1992 kam es zur Unterzeichnung des „Vertrags zwischen Ungarn und Deutschland über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa“; Artikel 19 dieses Vertrags regelt auch die Rechte der einheimischen Minderheiten. Seit dieser Zeit gibt es in allen Bereichen Hilfeleistungen aus Deutschland, insbesondere aus Baden- Württemberg und Bayern. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Deutschen in Ungarn ziemlich stabil ausgebildet. Bis 1945 konnten die verhältnismäßig zusammenhängenden Siedlungsräume der Deutschen in Ungarn erhalten bleiben, doch nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte nicht nur ein gravierender zahlenmäßiger Einschnitt dieser Volksgruppe, sondern es änderte sich auch ihre Siedlungsstruktur von Grund auf: Die einst mehrheitlich von Schwaben bewohnten Dörfer sind heute zu ungarischen Mehrheitsdörfern mit einem kleinen, mitunter spärlichem Anteil von Menschen deutscher Zunge geworden. Nach 1945 ging es vor allem darum, dass sich diese Minderheit aus sozialer und rechtlich-politischer Sicht neu definieren, sich ihren Platz in einer neuen Gesellschaftsordnung suchen musste. Noch 1989 änderte sich die Lage wiederum grundlegend; im Jahre 1993 wurde das Minderheitengesetz vom Ungarischen Parlament verabschiedet, das gegenwärtig einer Modifizierung unterzogen wird. 4.1 Wirtschaftliche Situation: Stadt- Land-Bevölkerung Im Mittelalter spielten die deutschen Bürger der Städte eine wichtige wirtschaftliche und kulturelle Rolle im Land. Ziel der deutschen Ansiedlung war ja nicht zuletzt, durch die Fachkenntnisse der Kolonisten einen wirt- Elisabeth Knipf-Komlósi 276 schaftlichen Aufschwung in den von den Türken verwüsteten Gebieten des Landes herbeizuführen. Die deutschen Ansiedler konnten den Erwartungen des Aufnehmerlandes, vor allem aus wirtschaftlich-ökonomischer und sozialer Sicht entsprechen: Sie wurden zu arbeitsamen Bürgern dieses Staates und fanden ihren sozialen Status und ihre Integration in dem Lande. In der Zeit nach ihrer Ansiedlung gab es in der sozialen Schichtung der Kolonisten noch keine Differenzierung: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten 85 Prozent dem Bauernstand und etwa 15 Prozent dem Handwerkerstand an. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind hingegen drei soziale Schichten unter den Ungarndeutschen zu verzeichnen: erstens die dünne Schicht der Intelligenzler, zweitens die Handwerkerschicht und die Arbeiter sowie drittens die breite, jetzt schon nach Vermögen differenzierte Schicht der Bauern. 6 Letztere fanden ihren Unterhalt durch den bäuerlichen Alltag auf dem Lande in den am Anfang des Jahrhunderts noch kompakten, mehrheitlich von Deutschen bewohnten Siedlungen. Die Handwerker lebten in Kleinstädten und Städten, aber auch in kleineren Ortschaften, wohingegen die meisten Intelligenzler ihr Leben in den Städten führten, die allerdings, anders als im Mittelalter, keine deutschen Städte mehr waren. Bedeutend war ferner die Schicht der Bergleute, Handwerker und Industriearbeiter, die sich eher in der Nähe von Städten niederließen, etwa in Pest und Ofen, und den größeren Städten; sie beschritten jedoch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Weg der Assimilation. Die an den Alltag und das bäuerliche Leben gebundenen Sitten und Bräuche lebten überwiegend im Kreise der Landbevölkerung, die sog. höhere Kultur wie Literatur und die anderen Kunstarten waren in den Städten zu finden. Die Intelligenzler, deren soziale Auf- 6 Die soziale Differenzierung der Bauernschicht bedeutete die Entwicklung der Großbauern zu „Herren“, die sich die ungarischen Intelligenzler als Vorbild nahmen, eine breite Schicht der Mittelbauern sowie die Schicht der Kleinbauern und Häusler. stiegschancen an das vollkommene Beherrschen der ungarischen Sprache gebunden war, die im Unterrichtswesen, im kirchlichen Leben und in der Verwaltung angestellt waren, betraten den Weg der Assimilation bereits im 19. Jahrhundert. Sie haben ihre Zweisprachigkeit zu Gunsten des Ungarischen bald aufgegeben. In ihren Kreisen vollzog sich der Sprachwechsel am schnellsten; sie assimilierten sich weiter durch Mischehen, deren Zahl auch in den anderen sozialen Schichten der Ungarndeutschen nach 1945 deutlich anstieg. Hinsichtlich ihrer Verteilung auf die Siedlungstypen Stadt-Land gibt es für die Gegenwart keine genauen statistischen Angaben; laut Schätzungen der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen leben heute mehr Ungarndeutsche auf dem Lande als in der Stadt. Die meisten Kolonisten waren römischkatholischen Glaubens, was auch den Erwartungen des königlichen Hofes entsprach. Doch es gibt unter den Ungarndeutschen auf dem heutigen Gebiet in Ungarn auch Lutheraner (z.B. in der Umgebung von Bonnhard) und in anderen Teilen der Tolnau Kalvinisten. Der Glaube spielte in allen Lebensbereichen der Ungarndeutschen eine wichtige Rolle. Oft gestaltete sich auch die Struktur eines Dorfes nach der Konfession der Einwohner. Der Erhalt der deutschen Sprache war aufs engste mit ihrem Glauben verbunden. Noch heute pflegt die älteste Generation in deutscher Sprache zu beten, zu singen und zu beichten. Eine wichtige Lektüre bedeuteten für die Ungarndeutschen die deutschsprachigen Gebetbücher, und selbstverständlich hängen zahlreiche Sitten und Bräuche mit dem Glauben zusammen. Hinsichtlich der sozialen Schichten kann festgestellt werden, dass eine breite Schicht der Ungarndeutschen den Weg des Studiums einschlägt und so den Intelligenzler angehört, und dass nur ein im Vergleich zu früheren Zeiten unwesentlich kleiner Teil von ihnen der Landwirtschaft treu geblieben ist. Die vor 1945 stark vertretene Schicht der Handwerker ist auch zurückgegangen; heute kann man nicht mehr von spezifischen Handwerkerberufen der Ungarndeutschen sprechen. Auch zeigen die Fragebogenuntersuchungen, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre 7. Ungarn 277 durchgeführt worden sind (vgl. Knipf-Komlósi 2002b: 295ff.), dass die in den Dörfern und kleineren Ortschaften lebenden Ungarndeutschen heute noch ihre Sitten und Bräuche pflegen und bewahren, eine ausgeprägtere Minderheitenidentität haben und sich nicht mehr scheuen, diese in der Dorföffentlichkeit zu präsentieren, wohingegen die Stadtbewohner dies nicht mehr tun. Leider gibt es in immer weniger Dörfern Priester, die auch der deutschen Sprache mächtig sind und die Messe in der Sprache der Minderheit halten könnten (regelmäßig gibt es deutsche Messen in Baja, Pécs und Budapest). Mit der Wende von 1989/ 90 trat eine gravierende Änderung im Verwaltungssektor des Landes, so auch bei den Verwaltungsorganen der Minderheiten, ein. Das hatte unter anderem zur Folge, dass in Ortschaften, wo im Zuge der Kommunalwahlen (seit 1993) eine Minderheitenselbstverwaltung von den dort lebenden Bürgern gewählt wurde, den Vertretern der Minderheiten ein Mitspracherecht in der Gestaltung der Tagespolitik auf kommunaler Ebene eingeräumt wurde. Diese Möglichkeit wurde von allen dreizehn Minderheiten wahrgenommen, und es gelang auch auf diesem Wege, den Minderheitenrechten einen (wenn auch vorerst administrativen) Weg der Realisierung zu schaffen. 4.2 Kultur und Medien Es wäre ein schwieriges Unterfangen, heute Ungarndeutsche von Nicht-Ungarndeutschen aufgrund ihrer Sprache, ihres sozialen Status, oder ihrer Lebensweise zu unterscheiden, doch aufgrund der Selbstbekenntnisse kann durchaus über die Ungarndeutschen als eine objektivierbare Größe im soziologischen Sinne gesprochen werden. Man kann die Ungarndeutschen in ihrer heutigen Situation als statistisch noch erhebbare und nachweisbare Größe definieren, die vor allem eine Gesinnungsminderheit mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Gruppenbewusstsein ist, hinsichtlich ihrer Muttersprache jedoch durch eine Abbausprache mit einem großen Verlust der deutschen Mundart gekennzeichnet ist. Diese Charakteristika entwickelten sich insbesondere im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte und prägen heute maßgebend das Image dieser Minderheit. 4.2.1 Kulturelle Institutionen und Verbände In der Verfassung von 1949 wurden zwar allen dreizehn in Ungarn lebenden Nationalitäten ihre Rechte zugesichert, doch konnten diese Rechte bis in die 1950er Jahre nicht wahrgenommen werden. Erst Ende der 1950er Jahre konnten die ersten kulturellen Ensembles, Tanzgruppen, Musikkapellen und Chöre ins Leben gerufen werden, deren Tradition durch die heutigen Nachfolger gepflegt und aufrecht erhalten wird. 1955 wurde der „Kulturverband der Deutschen Werktätigen in Ungarn“ gegründet, der ab 1969 unter dem Namen „Demokratischer Verband Ungarländischer Deutscher“, ab 1978 als „Demokratischer Verband der Ungarndeutschen“ und schließlich als „Verband der Ungarndeutschen“ wirkte. Damit wurde das Ende der Entrechtung dieser Minderheit signalisiert, wenngleich sich die hier lebende deutsche Minderheit sich aus verständlichen Gründen - wie auch aus den demographischen Angaben ersichtlich - lange Zeit nicht zu ihrer Nationalität bekannte. Seit 1990 können die Ungarndeutschen auf lokaler Ebene in Fragen, die ihre Minderheit betreffen, mitentscheiden. Es entstanden in den von Ungarndeutschen bewohnten Ortschaften die Minderheitenselbstverwaltungen, in anderen Ortschaften sind Ungarndeutsche Vertreter in den Selbstverwaltungen auf kommunaler Ebene. 1992 wurde die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen ins Leben gerufen, die in den einzelnen, von Ungarndeutschen bewohnten Komitaten/ Regionen durch Regionalbüros vertreten ist. 1993 wurde das Minderheitengesetz verabschiedet, doch bis heute gibt es im Ungarischen Parlament keine Vertretung der Minderheiten. Gegenwärtig gibt es in Ungarn auf kommunaler Ebene 321 Minderheitenselbstverwaltungen; in 38 Gemeinden ist die Gemeindeselbstverwaltung gleichzeitig auch die Minderheitenselbstverwaltung. Die Anzahl der in den einzelnen Komitaten präsenten und aktiven Selbstverwaltungen deuten gleichzeitig die Elisabeth Knipf-Komlósi 278 Bevölkerungsdichte der Ungarndeutschen in den betreffenden Komitaten, ihre Engagiertheit und ihre Aktivität in der Teilnahme im öffentlichen Leben an. 7 1985 wurde in Pécs der „Nikolaus-Lenau- Kulturverein“ als erster Verein der Ungarndeutschen, aber auch als erster Minderheitenverein im Lande, gegründet. Der Verein betrachtet die Pflege und den Ausbau der Beziehungen zwischen den vertriebenen und heimischen Ungarndeutschen auf den Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft, Kirche, Schule und Kultur als seine Hauptaufgabe. In den 1990er Jahren entstand eine ganze Reihe von volkstumsbewahrenden Vereinen. Das wichtigste Ziel des 1996 gegründeten „Landesrates der Chöre, Tanzgruppen und Musikkapellen der Ungarndeutschen“ ist die Pflege und Bewahrung der kulturellen und musikalischen Traditionen und Werte, aber auch ein Zusammenhalt und die Kooperation dieser verschiedenen Vereine, die alle das gleiche Ziel verfolgen. Dank dieses Landesrates, der zurzeit 532 Mitglieder (Vereine) zählt, werden sogar die kleinsten Ortschaften, in denen Ungarndeutsche leben, mit kulturellen Programmen bespielt und versorgt. In nahezu allen von Ungarndeutschen bewohnten Städten und Dörfern gibt es Heimathäuser, Begegnungsstätten, Muttersprachvereine, Chöre, Kultur- und Tanzgruppen. Diese aktive Kulturtätigkeit wurde seit Ende der 80er Jahre auch aus Deutschland maßgebend unterstützt, zum Großteil durch Partnerschaftsbeziehungen und auch mit Hilfe der Donauschwäbischen Kulturstiftung in Stuttgart. In Ungarn gibt es zwei deutsche Theatergruppen: die seit 1989 in Szekszárd (Tolnau) tätige „Deutsche Bühne“ sowie das seit Ende der 90er Jahre in Budapest entstandene „Budapester Theater“, die beide eine identitätsfördernde und -stärkende Funktion ausüben. Vor einigen Jahren wurde auch eine Schüler- 7 Auf die einzelnen Komitate verteilt sehen die Zahlen der Minderheitenselbstverwaltungen folgendermaßen aus (Angaben von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen von 2002): Bács-Kiskun 17, Csongrád 2,Szabolcs-Szatmár 4, Budapest 23, Fejér 15, Gy"r-Sopron 10, Veszprém 36, Komárom-Esztergom 16, Pest 33, Baranya 56, Somogy 3, Borsod 8. theater-Bewegung ins Leben gerufen, die v.a. die Förderung des Deutschunterrichts und die Pflege und Verbreitung der deutschen Sprache zum Ziel hat. Gut organisiert ist auch die „Gemeinschaft junger Ungarndeutscher“ (GJU), deren erstrangige Aufgabe die Förderung der Entwicklung einer ungarndeutschen Identität sowie die Förderung der Deutschkenntnisse der Jugendlichen ist. Die GJU als Dachorganisation der ungarndeutschen Jugendlichen gründete in verschiedenen Ortschaften des Landes Freundeskreise und örtliche Vereine (zurzeit mit über 2000 Mitgliedern) und organisiert für ihre Mitglieder Jugendlager, Kultur- und Sportveranstaltungen, Wettbewerbe usw. Sie hat guten Kontakt zu anderen Minderheitengruppen in Europa, mit denen sie internationale Treffen zu Fragen der Kultur, Identität und europäischen Integration der Minderheiten durchführen. Seit einigen Jahren gibt es auch einen „Verein Ungarndeutscher Studenten und Studentinnen“. Bei den Ungarndeutschen fehlte besonders nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutschsprachige Schriftlichkeit. Es gab weder repräsentative, vor der Öffentlichkeit auftretende deutsch schreibende Autoren, noch sonstige Möglichkeiten, sein Deutschsein zu bekunden. Eine Gruppe deutsch schreibender und sich zur deutschen Minderheit bekennender Autoren etablierte sich erst in den 70er Jahren. Ihre Akzeptanz und ihre Bekanntheit bei der Landesbevölkerung ist jedoch noch nicht bedeutsam. Ihre Bekanntheit erreichen sie in erster Linie durch die ungarndeutschen Medien (sie publizieren regelmäßig in der Neuen Zeitung, im Sonntagsblatt). 1992 wurde der Verband Ungarndeutscher Autoren und Künstler (VUdAK) mit einem dreifachen Ziel gegründet: Durch die Förderung von Literatur und Kunst will der Verband zur Identität der Ungarndeutschen beitragen; es sollen das deutschsprachige Schrifttum, die literarischen und künstlerischen Traditionen im Karpatenbecken bekannt gemacht, dokumentiert werden; und es soll die Zusammenarbeit mit Schriftsteller- und Künstlerverbänden in den deutschsprachigen Ländern angestrebt sowie 7. Ungarn 279 mit anderen deutschsprachigen Minderheitengruppen gepflegt werden. 4.2.2 Medien und Pressewesen Das deutschsprachige Wochenblatt der Ungarndeutschen, die „Neue Zeitung“ (gegründet 1957), und der Regionalsender des Fünfkirchner Rundfunks (gegründet 1956) übten schon seit ihrer Entstehung eine große Wirkung auf die deutschstämmige Bevölkerung, insbesondere im Süden des Landes aus. Sie waren populär und wurden regelmäßig gelesen bzw. gehört, waren es doch die einzigen in deutscher Sprache erreichbaren Informationsquellen für diese Sprachgemeinschaft. Die Zeitung erscheint wöchentlich auf 16 Seiten in einer Auflage von 3.000 Exemplaren; ihre Zielgruppe sind alle Altersgruppen der Ungarndeutschen. Die Zeitung gibt im Auftrag der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen den „Deutschen Kalender“ auf 320 Seiten in einer Auflage von 8.000 Exemplaren heraus, der auch von der gleichnamigen Stiftung getragen wird. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Vereinsblätter in deutscher Sprache, der „Deutsche Bote“ vom Budapester Deutschen Kulturverein und das bekannte „Sonntagsblatt“ von der Jakob-Bleyer-Gemeinschaft aus Budapest. Beide Blätter sind selbsterhaltend und möchten gegenüber der Neuen Zeitung eine Alternative bilden. Mehrere Wochenzeitungen in Ungarn verfügen über eine deutschsprachige Beilage. Daneben gibt es die wirtschaftlich-kulturellen deutschsprachigen Wochenzeitungen, den „Pester Lloyd“ sowie die „Budapester Zeitung“, deren Zielgruppe in erster Linie nicht die deutsche Minderheit Ungarns, sondern die in Ungarn ansässigen ausländischen Firmen bzw. deren Vertreter oder in Ungarn lebende Deutsche, Österreicher und Schweizer Staatsbürger sind. Eher zurückhaltend ist die Präsenz der Ungarndeutschen im medialen Bereich. Sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen ist dem zeitlichen Rahmen ebenso wie der landesweiten Empfangsmöglichkeit für die Ungarndeutschen eine Grenze gesetzt. Ein deutschsprachiges Fernsehprogramm vom Regionalfernsehen Pécs/ Fünfkirchen, das landesweit in wöchentlich fünfundzwanzig Minuten unter dem Titel „Unser Bildschirm“ ausgestrahlt wird, gibt es seit 1978. - Der Rundfunk und insbesondere das Fernsehen erreichen die Minderheit zu einer Zeit, wo in der Sprachgemeinschaft der Ungarndeutschen bereits eine Dialekterosion eingesetzt hat, wo der Sprachverlust schon fortgeschritten ist und Generationen in ungarischer Sprache sozialisiert worden sind. Träger und Konsumenten dieser medialen Vermittlung des Deutschen blieben in erster Linie die älteste Generation bzw. jene Mitglieder der mittleren Generation, die in der Schule Deutsch gelernt haben. Aktuell ändert sich jedoch vieles: Laut Umfragen haben die höchsten Einschaltquoten nicht die heimischen deutschsprachigen Medien, sondern die ausländischen deutschsprachigen Satellitenfernsehprogramme. Das bedeutet, dass der Einfluss des Deutschen durch die Medien der deutschen Sprachgebiete zur ungarndeutschen Bevölkerung gelangt. Genauere Erhebungen zu Fragen des Spracherhalts bzw. einer verbesserten Sprachkompetenz der Ungarndeutschen aufgrund des Einflusses des Medienkonsums sind jedoch bislang noch nicht durchgeführt worden. 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen Die im letzen Jahrzehnt erfolgten politischen Veränderungen, die sowohl die Gesamtgesellschaft als auch das soziale Gefüge des Einzelnen oder der Sprachgemeinschaften betroffen haben, setzten neue Markierungen im Alltag auch der Minderheiten. Der in der Minderheitenpolitik Ungarns eingetretene Strukturwandel auf der Verwaltungsebene zog eine Neudefinition des Ungarndeutschtums mit sich. Besonders einschneidende Veränderungen gab es in der Verwaltung auf Landesebene und auf kommunaler Ebene, in der Selbstorganisation sowie in der Neuregelung der Rechte der Minderheiten und der Minderheitenkommunen. Ebenfalls große Veränderungen sind im Bereich des Schulwesens zu verzeichnen. Elisabeth Knipf-Komlósi 280 4.3.1 Schulwesen Die langsam einsetzende politische Entspannung Ende der 1950er Jahre hatte zur Folge, dass der Deutschunterricht erneut in den Schulen und Kindergärten Einzug fand. Da der Russischunterricht als obligatorisches Unterrichtsfach Stunden im Lehrplan beanspruchte, konnte der Minderheitenunterricht an vielen Schulen in den 60er, 70er Jahren nur in Anschluss-Stunden an den regelmäßigen Schulunterricht erfolgen, leider oft verbunden mit einer niedrigen Effizienz. Seit 1982 jedoch begann in Ungarn ein auf bildungspolitischer Ebene abgesichertes Programm, das die Gründung zweisprachiger Gymnasien vorsah. Im Zuge dieser Maßnahmen entstanden neben den Minderheitengymnasien dann auch ungarisch-deutsche zweisprachige Gymnasien. So konnten noch vor Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts die Deutschstunden Teil des normalen Curriculums an der Schule werden. Vielfach wurden - ähnlich wie in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas - Russischlehrer zu Fremdsprachenlehrern, auch zu Deutschlehrern umgeschult. Wenn auch die deutsche Minderheit nicht über ein voll ausgebautes deutschsprachiges Schulsystem verfügte, so gibt es gegenwärtig im Bildungssektor gut ausgebaute Möglichkeiten, für die Nachkommen ungarndeutscher Eltern das Erlernen der deutschen Sprache auf institutioneller Ebene zu gewährleisten. Dafür bestehen Möglichkeiten sowohl im Bereich Deutsch als Minderheitensprache als auch im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Der schulische Deutschunterricht hat eine neue Funktion zuerteilt bekommen: Die Institution Schule muss inzwischen versuchen, bei der Vermittlung der deutschen Sprache - anstelle des Elterhauses - auch die Identität der Minderheitenkinder aufzubauen, die deutsche Sprache als sog. Zweitsprache zu vermitteln, eine Kultur- und Traditionspflege zu bewerkstelligen und die Fremdsprachenkompetenz der Schüler zu entwickeln. In etwa 280 Grundschulen Ungarns wird Deutsch als Minderheitensprache, in noch mehreren Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Im Unterrichtssektor ist die gymnasiale Ebene am Besten ausgebaut: In den dreizehn Gymnasien für die deutsche Minderheit im Land, von denen drei über eine jahrzehntelange Tradition verfügen (Baja/ Frankenstadt, Pécs/ Fünfkirchen und Budapest), lernen etwa 1.790 Schüler neben der deutschen Sprache und Literatur in erhöhter Stundenzahl auch - dank der aus Deutschland entsandten Gastlehrer - die Fächer Geographie, Geschichte, Mathematik und Biologie auf Deutsch. Ein Teil des Ungarndeutschen Bildungszentrums in Baja/ Frankenstadt wurde vor vier Jahren als Deutsche Schule im Ausland anerkannt und hat damit die Befugnis erhalten, den Absolventen ein deutsches und ein ungarisches Abitur gleichzeitig zu vergeben. Im Jahre 2000 gab es 284 Schulen, in denen für 45.240 Schüler Deutsch als Minderheitensprache unterrichtet wurde. Die Zahl der Schüler, die in Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden, dürfte deutlich höher liegen. Im Kindergartenbereich (etwa 250 Kindergärten) werden in den letzten zwanzig Jahren landesweit in den sog. Nationalitätenkindergärten ganztägige Betreuungen in deutscher Sprache angeboten; auch in den übrigen sprachunterrichtenden Kindergärten gibt es täglich deutschsprachige Betreuungen. Im Bereich des Hochschulwesens gibt es zurzeit fünf Hochschulen für die Ausbildung von Kindergärtnerinnen, Grundschullehrern und Fachlehrern für die Sekundarstufe. An den Universitäten in Pécs, Budapest und Veszprém werden Gymnasiallehrer für Deutsch als Fremdsprache als auch für die Minderheit ausgebildet. Im Rahmen der PhD-Ausbildung an den Universitäten in Pécs, Veszprém und Budapest kann sogar der wissenschaftliche Nachwuchs für diesen Bereich ausgebildet werden. Die fremdsprachenfreundliche Einstellung der ungarischen Schulpolitik und Politik trägt wesentlich dazu bei, dass die deutsche Sprache in der Fremdsprachenwahl in Ungarn einen vornehmen zweiten Platz einnimmt. Immer mehr Eltern ungarndeutscher Abstammung - auch ohne aktive Deutschkenntnisse - erkennen den wirtschaftlichen Wert der deutschen Sprache und bestehen darauf, dass ihre Kinder auf gesteuertem Wege die deutsche Sprache erlernen. Eine durch politische 7. Ungarn 281 Maßnahmen initiierte Rehabilitierung der Identität der Ungarndeutschen (z.B. auch durch die materielle Entschädigung der Ungarndeutschen), die zeitlich einhergeht mit einem wachsenden Interesse der ungarischen Bevölkerung an der deutschen Sprache, unterstützen diesen Prozess in großem Maße. 4.3.2 Ortsnamen Zur Zeit des „Gulaschkommunismus“, als schon viele Verwandte und Vertriebene ihre alte Heimat und die „Daheimgebliebenen“ besuchten, wurde auch im Rahmen der liberaleren Nationalitätenpolitik Ungarns die Errichtung zweisprachiger Ortsschilder in den von Minderheiten bewohnten Ortschaften zugelassen. Somit konnten die - von einigen Generationen schon vergessenen - früher deutschen Dorfnamen wiederbelebt werden und wieder in Gebrauch kommen. In den deutschsprachigen Medien in Ungarn werden seitdem konsequent die deutschen Ortsnamen benutzt. 8 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Die kontaktierenden Sprachen Der metaphorische Begriff der Sprachinsel impliziert das Vorhandensein mehrerer Sprachen: zunächst die Sprache der Sprachinselsprecher, sodann die Sprache oder die Sprachen der Umgebung, in die die Sprachinsel eingebettet ist. So umfasst das sprachliche Gesamtprofil einer Sprachgemeinschaft neben der autochthonen Varietät auch alle anderen Sprachen und Varietäten, die mit dieser - meistens schon längere Zeit - in Kontakt stehen. Sprachliche Kontakterscheinungen liefern einen Beweis für die sprachliche Entwicklungsgeschichte der Sprachgemeinschaft. Daneben sind die Konsequenzen des Aufeinanderwirkens zweier Sprachen und Kulturen immer auch ein Indikator von nachweisbaren Veränderungen in den autochthonen Sprachen selbst. Die durch die Kontaktsituation chrono- 8 Im Jahre 2004 erschien die zweite Auflage einer Landkarte Ungarns, die alle deutschen Ortsnamen anführt. logisch entstehenden sprachlichen Innovationen stellen unter Beweis, dass die sprachlichen Erscheinungen ein Polysystem darstellen. Das Verhältnis zwischen den Ortsdialekten und der überdachenden Kontaktsprache blieb in der Literatur der Sprachinselforschung lange Zeit im Hintergrund. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat man sich intensiver den Kontakt- und Lehnerscheinungen zugewandt (vgl. Erb 2002b). Die Interferenzprozesse, insbesondere die Untersuchung der Code-Switching- Formen, sind verständlicherweise im Laufe der strukturellen Beschreibung der einzelnen sprachlichen Ebenen der Sprachinseldialekte vermehrt zum Vorschein gekommen. Wie aus der bereits geschilderten historischen Situation der Ungarndeutschen ersichtlich ist, gestaltete sich das sprachliche Leben dieser Minderheit - auch wenn sie bis zum 20. Jahrhundert in mehr oder weniger intakten deutschsprachigen Siedlungen gelebt hat - in einem unzertrennlichen Kontakt mit dem Ungarischen. Grundsätzlich stand im Mittelpunkt der Forschung der Kontakt der Ortsmundarten zu dem Ungarischen, später der Kontakt des Ungarischen zur Ortsmundart bzw. zu dem in der Schule vermittelten und erlernten Hochdeutsch. Die vor dem Zweiten Weltkrieg dominierende Kontaktrichtung von deutscher Ortsmundart auf Ungarisch hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer Kontaktrichtung von Ungarisch auf die Ortsmundart/ Standarddeutsch verschoben. Vereinzelt, insbesondere in Grenzregionen im Süden und Südwesten des Landes, bestand aufgrund der ethnischen Zusammensetzung in einigen Ortschaften (so z.B. in Kunbaja, Gara, Katymár, Bácsszentgyörgy, Nadály, Horvátzsidány) ein enger Kontakt auch mit der slawischsprachigen Minderheit, der sich in erster Linie in den lexikalischen Lehneinflüssen dieser Gegenden niederschlug (z.B. die Übernahme von Fluch- und Schimpfwörtern und Realienbezeichnungen). In der aktiven Sprachkompetenz der Erwachsenenbevölkerung dieser Ortschaften sind in der Gegenwart, wie dies in Fragebogenerhebungen nach- Elisabeth Knipf-Komlósi 282 bis 1945 50er bis 70er Jahre 80er bis 90er Jahre Kommunikationssprache Ortsmundart Ungarisch, Ortsmundart Ungarisch Identitätssprache Ortsmundart Ungarisch, Ortsmundart Ungarisch Prestigesprache Standarddeutsch, Ungarisch Ungarisch Ungarisch, Standarddeutsch Tabelle 3: Prestigelagen im 20. Jahrhundert zuweisen ist (vgl. Jäger-Manz 2004), keinerlei slawische Einflüsse mehr erkennbar. 9 Im Prozess der gegenseitigen Beeinflussung der kontaktierenden Sprachen, der Minderheitensprache, einer deutschen Hochsprache und der jeweiligen Landessprache, gibt es keine Ausgewogenheit. In Abhängigkeit der jeweiligen historisch-sozialen Umstände und der Zeit überwiegt im Sprachgebrauch der Sprachinselminderheit mal die Minderheitensprache, mal die Mehrheitssprache, mal bekommt, wie gegenwärtig, die deutsche Hochsprache eine wichtige Rolle. Die unterschiedliche Intensität des wechselseitigen Aufeinanderwirkens führt letztlich zu verschiedenen Formen der Zweiund/ oder Gemischtsprachigkeit oder aber zur völligen Aufgabe der Minderheitensprache. Im Einfluss der ungarischen Gemeinsprache auf den Sprachgebrauch der deutschen Minderheit erscheinen relativ wenig dialektale Einflüsse. 10 Selbstverständlich sind im ungarischen Sprachgebrauch der ältesten, auf dem Lande lebenden und nicht schriftbeflissenen Generation der Ungarndeutschen substandardliche Formen des Ungarischen zu erkennen. 11 Vertreter der mittleren und jungen Generationen, die ihr Ungarisch bereits in ihrer primären bzw. auch in ihrer sekundären Standard. 9 Die Generation der Ungarndeutschen, die infolge des engen Zusammenlebens eine slawische Sprache beherrschten, ist schon verstorben. 10 Eine der Ursachen ist darin zu suchen, dass die ungarische Sprache - im Gegensatz zur deutschen Sprache - weniger variationsreich ist und auch weniger regionale Unterschiede aufweist. 11 Beispielsweise die im Ungarischen als stark substandardlich eingestuften Formen des Flexionsparadigmas mit -suk, -sük (wie meglássukwir werden sehen) oder die phonologischen Reduzierungen einzelner Funktionswörter wie mié statt miért. Sozialisation durch das ungarische Schulsystem mit der ungarischen Sprache als Unterrichtssprache und gleichzeitig als erster Funktionssprache erworben haben, sprechen das Standardungarisch als ihre Muttersprache (Erstsprache) und zeigen keinerlei über das normale Maß hinausgehende phonetische oder morphosyntaktische Abweichungen vom ungarischen Aussagen über den Reichtum des heute noch existenten Wortschatzes in den Ortsdialekten im Sprachrepertoire der Ungarndeutschen können nur auf der Grundlage empirischer Erhebungen (Interviews und Fragebogenerhebungen, teilnehmende Beobachtungen) gemacht werden. Untersuchungen diesbezüglich gibt es bislang keine, genauso wie auch ein Ungarndeutsches Wörterbuch noch auf sich warten lässt. Der deutsche Wortschatz der ungarndeutschen Sprachgemeinschaft der Gegenwart setzt sich, sehr stark abhängig von der Bildung und der Altersgruppe der Sprecher, aus einem in Resten - oft ohne volle Sprechkompetenz - noch vorhandenen dialektalen Wortgut, aus Entlehnungen der neueren sprachlichen Ausdrücke aus dem Ungarischen und aus Entlehnungen evtl. aus der deutschen Standardsprache zusammen. Es entsteht auf diese Weise eine Mischung von nicht homogenen Varietäten der beiden Sprachen, die im Sprachgebrauch der Sprecher eine substandardliche Ausgleichssprache der kontaktierenden Sprachen, eine Mischsprache, ergeben. Ein kurz geraffter chronologischer Überblick des 20. Jahrhunderts über das Prestige der kontaktierenden Sprachen zeigt, wie unterschiedlich die einzelnen Sprachen in bestimmten historischen Epochen in der Beurteilung der Sprecher eingeschätzt werden (vgl. Tabelle 3). 7. Ungarn 283 Die Sprachverhältnisse vor 1945 entsprechen einem zweipoligen Modell, mit den Ortsmundarten am einen Pol und der je nach sozialer Schicht in unterschiedlichem Grad erlernten Landessprache, dem Ungarischen, am anderen Pol. Eine über den lokalen Mundarten stehende Ausgleichsform, eine Umgangssprache und selbst die Hochsprache mussten und konnten sich nicht alle Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft aneignen. Bis 1945 war bei der überwiegenden Mehrheit der deutschen Minderheit der jeweilige Ortsdialekt das wichtigste und wohl das einzige Kommunikationsmittel und zugleich auch die Sprache, mit der man sich identifizierte. Ursachen dafür sind z.B. eine feste Ortsansässigkeit und die sehr geringe Mobilität, was auch bedeutete, dass die von Gebiet zu Gebiet recht unterschiedlichen Ortsmundarten in der Wirklichkeit kein kommunikatives Hindernis bedeuteten, weil sie miteinander nur äußerst selten konfrontiert wurden. So traf sich z.B. ein aus der Batschka stammender Bauer nie mit einem aus dem Buchenwald (in der Umgebung von Veszprém) stammenden Bauern. Daneben existierte in bestimmten Domänen auch die deutsche Hochsprache, so in der Kirche und in der Schule oder in einigen juristischen Bereichen (etwa Vertragsdokumente), doch für diese Domänen galt, dass sie eher auf rezeptiver als auf produktiver Ebene relevant waren. Zu einer die Mundarten überdachenden Sprachform wurde bei den Ungarndeutschen die ungarische Sprache, die in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens herrschte und an die die sozialen Aufstiegschancen gebunden waren. Interessant in diesem Geflecht der Sprachen ist, dass die ungarische Sprache im Kreise der Ungarndeutschen schon immer ein hohes Prestige hatte. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts änderte sich die Einstellung der Sprecher und ihre Beurteilung der einzelnen Sprachen und Varietäten grundlegend. Als Identifikations- und Kommunikationssprache rückte das Ungarische an die erste Stelle; in jüngster Zeit legt man als Ungarndeutscher aber auch Wert darauf, ein anspruchsvolles Deutsch sprechen zu können. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Übersicht über die deutschen Dialekte in Ungarn Die deutschen Mundarten in Ungarn sind Siedlungsmundarten, die in einem langen Prozess von Mischung und Ausgleich in Ungarn entstanden sind und heute als dachlose Mischmundarten in ihrer Abbauphase existieren. Die angesiedelten Deutschen sprachen verschiedene mittel- und süddeutsche rheinfränkischhessische und bairisch-österreichische Dialekte. Der oben angedeutete Prozess der Mischung und des Ausgleichs erfolgte stufenweise und in komplexen Sprachausgleichsprozessen: „In der ersten Etappe hat sich innerhalb je einer Dorfgemeinschaft, manchmal dank der Integration sehr verschiedener Mundarten, eine homogene Ortsmundart entwickelt, in der zweiten Etappe erfolgt die weitere Integration benachbarter Ortsmundarten innerhalb großräumiger Zusammenhänge ebenfalls aufgrund eines Ausgleichs der beteiligten Ortsmundarten. Das ist im allgemeinen auch sonst der natürliche Weg zur Entstehung von nationalen Einheitssprachen, vorausgesetzt, daß die Entwicklung noch eine dritte Stufe durchläuft, auf der die einzelnen, in sich schon einheitlichen Regionalmundarten integriert werden (= Ausgleich dritter Stufe). In typologischer Hinsicht sind alle ungarndeutschen Mundarten, von einigen isolierten Fällen abgesehen, sogenannte Mischmundarten.“ (Hutterer 1961a: 19) Die so entstandenen Mischdialekte bildeten als Ortsdialekte bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das wichtigste, wenn nicht das einzige Kommunikationsmittel. Seit ihrer Ansiedlung lebte die deutsche Minderheit nie in geschlossenen Regionen. Dennoch gibt es mehr oder weniger kompakte Gebiete, in denen Ungarndeutsche bis heute sesshaft geworden sind: In Südungarn, in den Regionen der Branau, Tolnau, Batschka und Schomodei, die oft als „Schwäbische Türkei“ zusammengefasst werden, an der Westgrenze Ungarns im Heideboden, „Hienzenland“ genannt, leben die „Heanzen“ und die „Bohnzichter“. Das „Ofner Bergland“ umfasst die Elisabeth Knipf-Komlósi 284 Dörfer und Ortschaften in der unmittelbaren Umgebung von Budapest; zum Mittelgebirge oberhalb des Plattensees gehört das Schildgebirge und der Buchenwald (Bakonyer Wald). Vereinzelt gibt es weitere Streusiedlungen in Nordostungarn, die einst mehrheitlich deutschsprachig waren, doch wegen ihrer doppelten Inselsituation nunmehr völlig assimiliert sind. Die wichtigsten Dialektlandschaften im heutigen Ungarn (vgl. Manherz/ Wild 2002: 64ff.) im Überblick: - In Nordwestungarn (Heideboden) und in der Umgebung von Ödenburg werden ostdonaubairische bzw. ostmitteldeutsche Dialekte gesprochen (Beispiele: muide ‘Mutter’, hoes - ‘heiß’, fü - ‘viel’, föid - ‘Feld’, pfoad - ‘Hemd’). - Das Ungarische Mittelgebirge gliedert sich mundartlich in einen Ost- und einen Westabschnitt. Im östlichen Teil erfolgte der Ausgleich an die bairischen Mundarten des Ofner Berglandes; außerdem gibt es hier einige kleine rheinfränkische Sprachinseln. Im Donauknie existiert eine ziemlich einheitliche rheinfränkisch-donaubairische Mischmundart. Ofen/ Buda und Pest haben bis um die Jahrhundertwende die Formen der wienerischen ostdonaubairischen Verkehrssprache an die umliegenden Ortschaften vermittelt. - Die Übergangszone vom Ofner Bergland zum Schildgebirge (Vértes) zeichnet sich durch das Vorhandensein von uasowie ui-Mundarten aus. - Im westlichen Teil des Mittelgebirges herrschen die ostdonaubairischen ui-Mundarten vor, wobei auch hier vereinzelt rheinfränkische Siedlungen vorzufinden sind (Kisl"d, Városl"d, Bánd). - Das südöstliche Transdanubien ist sowohl aus dialektaler als auch aus konfessioneller Hinsicht stark durchgegliedert. Vom Ursprung her ist die deutsche Bevölkerung fränkisch oder schwäbisch. Es ist auch nicht selten, dass in der gleichen Ortschaft katholische, lutherische und kalvinistische Deutsche zusammen leben. Bis 1950 gab es nur selten Mischehen zwischen den einzelnen Konfessionsangehörigen. Schwierig verlief auch der sprachliche Ausgleich in dieser Region: Der Ausgleich der fränkischen Mundarten wurde von der bairischösterreichisch geprägten Umgangssprache der Städte gehemmt, aber diese Hemmung wirkte auch umgekehrt. So entstand im südlichen Transdanubien der sog. „fuldische Sprachraum“, benannt nach den „Stiffollern“ (Stift-Fuldaer), deren sprachliche Merkmale vor allem das alte Perfektpräfix geim Infinitiv nach Modalverben (ich kon getrenk - ‘ich kann trinken’) sowie die starke Diphthongierung, besonders vor r (Wuest ‘Wurst’, Stien ‘Stirn’) sind. 12 - Im Norden der Schwäbischen Türkei bzw. zwischen der Tolnau und der Branau werden hessische Mundarten gesprochen. Bei den Protestanten wird aus dem d ein r, bei den Katholiken bleibt es unverändert: prudr/ prure ‘Bruder’. - In der Tolnau überwiegen zwar hessische Mundarten, doch gibt es Ausnahmen: Györköny, Bikács sind bairische Inseln, in Kisújbánya und Pécsvárad wird eine wienerisch gefärbte ua-Mundart gesprochen. - Pfälzische Mundarten sind typisch für die Batschka; auch hier gibt es einige kleine Sprachinseln (z.B. Csávoly als fränkischbairische Sprachinsel). - Schwaben im linguistischen Sinne des Wortes sind nur in wenigen Dörfern zu finden: in Hajós in der Batschka an der Donau, des Weiteren in Tevel, Zomba, Kisdorog in der Tolnau, außerdem drei Dörfer im Nordosten im Sathmarer Gebiet. Eine schwäbisch-fränkisch gemischte Mundart wird in Gyód in der Baranya, eine alemannische Mundart in Nagyárpád (verwaltungsmäßig zu Pécs/ Fünfkirchen gehörend) gesprochen. - In den wenigen Ortschaften im Südosten (Komitat Békés), in denen noch vereinzelt Ungarndeutsche leben, werden ostfränkische bzw. fränkische Mundarten gesprochen. 12 Ausführlich dazu Wild 1994 und Wild 2003. 7. Ungarn 285 Karte 1: Deutsche Mundarten in Ungarn Die größeren charakteristischen Sprachräume sind somit in Westungarn, im Ofner Bergland und im Ungarischen Mittelgebirge das Ostdonaubairische, das Rheinfränkische mit der Untergliederung eines hessischen und eines fuldischen Binnenraumes in der Schwäbischen Türkei, und das Rheinfränkische gemischt durch pfälzischen Einfluss in der Batschka. Dieser Überblick zeigt, dass in Ungarn fast alle hoch- und mitteldeutschen Dialekte vertreten sind bzw. waren. Die Vergangenheitsform ist deshalb angebracht, weil es heute nur noch wenig Sprecher und Sprecherinnen dieser im Sprachinselkontext als Basisdialekte einzustufenden Mundarten gibt. Selbst im Kreise der Sprecher der ältesten Generation kann aufgrund der nicht mehr vorhandenen Funktion des Dialekts bzw. aufgrund des Domänenverlustes von einem beachtlichen Grad von Dialekterosion 13 gesprochen werden. 13 Auf Initiative und als Nachfolge von C. J. Hutterer bahnte sich eine Forschungsrichtung den Weg, die die sprachstrukturelle Erforschung der noch gesprochenen Ortsmundarten in den Dialektgebieten Ungarns zum Ziel hat. So entstanden zu jedem Disserta- 5.2.2 Die Rolle der Ortsmundarten Die am besten erforschten Varietäten sind die einzelnen Ortsmundarten, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen. Aus verschiedenen Gründen (wie der Dachlosigkeit, der fortgeschrittenen Assimilation bzw. des historischen Werdegangs dieser Minderheit schlechthin) nehmen die Mundarten im heutigen Sprachgebrauch der ungarndeutschen Sprachgemeinschaft eine sehr geringe Rolle ein. Der geographischen Verteilung des Dialektabbaus zufolge kann man bei der deutschen Minderheit über ein geographisches Gefälle sprechen. Während im nördlichen Gebiet um das Migrationszentrum Budapest bereits um die Jahrhundertwende eine fortgeschrittene Assimilation zu konstatieren war (vgl. Erb/ Knipf 1998: 259ff.), weil wegen der Arbeitsmögtionsthema wertvolle Tonaufnahmen zu den einzelnen Dialekten, die transkribiert wurden und als großes Mundartkorpus für die Forschung zugänglich sind (vgl. Mundartkorpora u.a. von Manherz 1978, Wild 1989, Márkus 2003, Brenner 2004, Erb 2003 und weitere). Elisabeth Knipf-Komlósi 286 lichkeiten in der Hauptstadt und der Umgebung gute Ungarischkenntnisse bereits bei der älteren Generation unentbehrlich waren, kann man im südlichen Gebiet, in der Schwäbischen Türkei, mit den lange Zeit noch bodenständigen, dialektfesten Ortschaften feststellen, dass die deutschstämmigen Ortsbewohner bis vor 1945 über relativ wenig Ungarischkenntnisse verfügten. Nur die Handwerker und die äußerst dünne Schicht der Intelligenzler waren des Ungarischen mächtig. Die lokalen Mundarten fungierten in den kleinen, überwiegend von „Schwaben“ bewohnten Ortschaften als einziges Kommunikationsmittel und genossen im Kreise der sozialen Schicht der Bauern ein gewisses Prestige: „Bei den Bauern stellte also die Mundart ein wichtiges Merkmal ihrer Identität dar, sie galt als Statussymbol, und deshalb beharrten sie so sehr darauf.“ (Wild 2003: 58) Auch das Ungarische gewann an Gewicht, indem es mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes Ende des 19. Jahrhunderts aus alltagspraktischen Gründen eine Motivationsbasis auch für die Bauern darstellte. Ungarisch galt als Statussymbol der strebsamen ungarndeutschen Intelligenzlerschicht. Nach der großen Zäsur des Zweiten Weltkriegs begannen für die deutsche Sprache und ihre Sprecher in Ungarn schwierige Jahre, die bei einer völligen Zurückdrängung des Deutschen der allgemeinen Verbreitung und Verwendung des Ungarischen noch mehr Raum gaben. Der Prestigewert des Deutschen war dermaßen gesunken, dass die Ortsmundarten und deren Gebrauch noch mehr sowohl in der Eigeneinschätzung als auch in der Fremdeinschätzung stigmatisiert wurden. 14 Ungarndeutsche schämten sich, ihre Muttersprache „Schwäbisch“ zu sprechen. Die in den 50er und 60er Jahren einsetzende Mobilität und Migration, das beginnende Pendlerleben zwischen 14 Abschätzende Werturteile der Mehrheitsbevölkerung über das „Schwäbische“ der Ungarndeutschen („ihr könnt ja kein richtiges Deutsch“, „ihr sprecht ein schlechtes Deutsch“, „mit diesem Deutsch kommt ihr nicht weit“ etc.) trugen dazu bei, dass die Ungarndeutschen selbst ihre Sprache oft als etwas Minderwertiges empfunden und ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit vermieden haben. Stadt (mit dem sicheren Arbeitsplatz) und Dorf (dem festen Wohnsitz der Familie), führte für viele Mitglieder der Sprachgemeinschaft zu einer allmählichen Aufgabe ihrer Ortsmundart und zur Einschränkung, wenn nicht zum Verlust, ihrer Minderheitenidentität. Der damals begonnene Prozess ist nicht mehr aufzuhalten und ist irreversibel: In den 60er, 70er und 80er Jahren erodierten die lokalen Mundarten wegen der verlorenen Domänen und Funktionen weiter, ihr Prestigewert bleibt sowohl im Kreise der Minderheiten als auch bei der Mehrheit gering. Das stellen Fragebogenerhebungen und Interviews unter Beweis, z.B. tut sich die mittlere Generation heute noch bei der Definition ihrer Muttersprache schwer, und die jüngere und junge Generation benennt eindeutig Ungarisch als Muttersprache. Die politische Wende Anfang der 1990er Jahre bringt zwar einen Sichtwechsel in der Beurteilung des Deutschen, 15 doch der Dialektverlust ist unaufhaltbar. Durch das wachsende Ansehen und Anerkennen des Deutschen mit seiner wichtigen Kommunikationsfunktion in Europa (und der wirtschaftlichen Rolle Deutschlands) werden auch die Dialektkenntnisse von der Mehrheitsbevölkerung akzeptiert und aufgewertet, sogar geschätzt. 16 Vereinzelt kommt es heute noch - insbesondere in den letzten anderthalb Jahrzehnten - im südlichen Gebiet (in der Umgebung von Baja/ Frankenstadt und in der Umgebung von Pécs/ Fünfkirchen) vor, dass junge, bewusste ungarndeutsche Eltern mit ihren Kindern Deutsch oder evtl. die Mundart sprechen, doch diese bilden eher die Ausnahme als die Regel. Erfreulicherweise bildete sich in den letzten Jahren/ Jahrzehnten eine dünne Schicht ungarndeutscher Intellektuellen heraus, die sich ihrer Abstammung bewusst und vieles zu unternehmen bestrebt sind, um ihre Sprache und die Kultur aufrecht zu erhalten. 15 Unter Deutsch wird hier jede in Ungarn bekannte und verwendete Varietät des Deutschen verstanden (Ortsmundart, Mischsprache, Hochdeutsch). 16 Bei Arbeitsgelegenheiten in Deutschland konnten die Ungarndeutschen mit ihren (wenn auch spärlichen) Dialektkenntnissen schon oft als Sprachvermittler für ihre Landsleute ungarischer Muttersprache dienen. 7. Ungarn 287 Für Vertreter der mittleren Generation (der Nachkriegsgeneration der zwischen 1946 und 1960 Geborenen) auf dem Lande sind die Domänen des Gebrauchs der Ortsdialekte sehr eingeschränkt. Da mit ihrer Erwerbstätigkeit im überwiegenden Teil die ungarische Sprache verbunden ist, gebrauchen sie den Ortsdialekt (falls sie ihn noch sprechen) nur in der Interaktion mit der älteren Generation. Mit Gleichaltrigen wird meistens Ungarisch gesprochen. In der Regel gibt es in dieser Generation die häufigsten Mischehen, so dass das Ungarische auch ihre Familiensprache und ihre funktional am meisten gebrauchte Sprache geworden ist. Die mittlere Generation in den Städten (Kleinstädte wie Großstädte) bedient sich auch in der Interaktion mit der älteren Generation in den meisten Fällen des Ungarischen. Das bekannte Klischee, dass nur die älteste Generation den Basisdialekt/ Ortsdialekt beherrsche und gebrauche, entspricht der Wirklichkeit. Sie sind die Gewährspersonen, die native speakers par excellence bei der Erforschung der deutschen Dialekte in Ungarn. Die mittleren und jüngeren Generationen besitzen noch in unterschiedlichem - meistens sehr geringen - Grade aktive oder passive Dialektkenntnisse, doch sind ihre basisdialektalen Kenntnisse vielen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Der Kontinuitätsbruch in der Dialektkompetenz ist zwischen Stadt und Dorf sehr unterschiedlich. Es ist kein Regelfall, doch vereinzelt kommt es vor, dass in kleineren Ortschaften der Schwäbischen Türkei heute noch die (lokale) Nähe zwischen den einzelnen Generationen besteht und dadurch die Häufigkeit der Interaktionen zwischen dialektsprechenden Großeltern und ihren nichtdialektsprechenden Enkelkindern gegeben ist. Die sprachlichen Folgen dieser Konstellationen führen oft zu einer situationsgebundenen passiven Dialektkenntnis der jungen Generation, wie das im folgenden Gespräch zwischen Großmutter und Enkelkind ersichtlich wird (G = Großmutter, 68 Jahre; E = Enkelsohn, 16 Jahre): (1) G: Na, was war heunt in dr Schul, David? E: Nem volt semmi különös, kaptunk egy csomó házit… [ung.: Es war nichts Besonderes, wir haben eine Menge Hausaufgaben bekommen…] G: Du sellscht dei házi feladat [ung.: Hausaufgaben] bal mache, na kennscht mr a bissl helfe im Garte… E: Ez nem nagyon megy, mert délután focizni megyünk még… és nem lesz id m… [ung.: Das wird nicht gehen, weil ich am Nachmittag noch zum Fußballspielen gehe, und dann bleibt mir keine Zeit…] (Ung 2, RE, RD) Trotz der zweisprachig verlaufenden Kommunikation zwischen der ältesten und der jungen Generation kommt es zu keinen Verstehensschwierigkeiten, weil von beiden Seiten eine kommunikative Anpassung stattfindet: Die Großmutter stellt ihre Frage - vielleicht bewusst - routinemäßig wahrscheinlich jeden Tag auf Deutsch, so dass der Enkel bereits versteht, was gefragt wird. Zum anderen übernimmt auch die Großmutter bestimmte (ungarische) Lexeme des Enkels wie házi ‘Hausaufgabe’, die sie nicht auf Deutsch sagt, um auch auf diese Weise die Kommunikation mit dem Enkel zu erleichtern. Das sinngemäße Weiterführen des Gesprächs deutet darauf, dass der Enkelsohn, wahrscheinlich dank der häufigen Treffen und einer intensiven Interaktion mit der konsequent Deutsch (Dialekt) sprechenden Großmutter, in diesen Situationen passiv zweisprachig geworden ist. In diesem Sinne kann wahrhaftig von einer „Großmuttersprache“ gesprochen werden, die situationsgebunden bestimmte kommunikative und auch identitätsstiftende Zwecke erfüllen kann. Die von Noch-Sprechern beklagten lexikalischen Defizite in der Ortsmundart werden von den befragten Personen folgenderweise erklärt: (2) die Mundart kann mit der technischen, kulturellen Entwicklung nicht Schritt halten. (Ung 6,UH) (3) die Mundart meidet Neubildungen, der mundartliche Wortschatz ist sehr begrenzt, die Menschen kennen diese neuen Begriffe nur Unga- Elisabeth Knipf-Komlósi 288 risch, woher sollen sie sie Deutsch sagen können. (Ung 8, VM) Selbst in der Gegenwart symbolisieren die Ortsmundarten - unabhängig davon, ob sie aktiv oder passiv gesprochen werden - die Ortsloyalität, 17 die Zugehörigkeit zu dieser Sprachgemeinschaft. Auch wenn die Einbindung in fest gefügte familiäre (und evtl. landwirtschaftliche) Verhältnisse nicht mehr gegeben ist, bedeutet der Gebrauch der Ortsmundart ein freies Mittel der sozialen Identifikation. Der Dialektgebrauch von erwachsenen Noch-Dialekt-Sprechern symbolisiert eine Verbundenheit der Sprecher mit (früheren) vertrauten sozialen Lebensumständen; die kommunikativen Funktionen des Dialektes wurden also durch die sozialen Funktionen abgelöst. Trotz allem muss betont werden, dass heute Generationen von Ungarndeutschen aufwachsen, ohne dass sie je mit Ortsmundarten konfrontiert werden, in der familiären Umgebung jedoch eine gewisse ungarndeutsche Identität (vielleicht in Form von Bräuchen, Essgewohnheiten, kulturellen Gepflogenheiten usw.) erleben. 5.2.3 Das gehobenere Deutsch der Ungarndeutschen Die deutsche Hochsprache, sowohl geschrieben als auch gesprochen, hatte im Leben der deutschen Sprachgemeinschaft die auch in anderen Sprachinselgemeinschaften üblichen Funktionen: Sie galt als die Varietät der Intelligenzschicht, als die „noble Sprache“ der gebildeten Schicht der Ungarndeutschen, die sich gerade durch die Verwendung dieser Varietät von allen anderen sozialen Schichten abhoben. Trotzdem gibt es zu dieser Varietät ziemlich wenig linguistische Beschreibungen. Wild (2003: 51ff.) schreibt bezogen auf das 19. Jahrhundert über die sprachlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land: „So bestanden zwischen Stadt und Land schon von der Ansiedlungszeit an nicht nur sozio- 17 In teilnehmender Beobachtung und in Interviews wurde bestätigt, dass der Mundartgebrauch für die ihr Dorf besuchenden Städter eine soziale Funktion hat: Sie bekunden so ihre (frühere) Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft. kulturelle, sondern auch herkunftsbedingte sprachliche Unterschiede. Dem Bairisch-Österreichischen der Städte standen die hessischfränkischen Bauernmundarten des Umfelds gegenüber. […] Allen Schichten war gemeinsam, dass sie das österreichische Deutsch als Prestigeform des Deutschen betrachteten.“ Die Hochsprache, die sich wahrnehmbar von den Mundarten unterschied, 18 wurde als „herrisch“ und „nobel“ etikettiert, d.h. als Varietät der höheren sozialen Schichten betrachtet. Für die Bauernschicht waren die wichtigsten Domänen des Hochdeutschen (vor 1945) die Sprache der kirchlichen Liturgie, der Predigten, der Beichte, der Gebete und der Kirchenlieder. 19 Es war die Sprache, die in der Schule unterrichtet wurde (doch nicht die Sprache in der Pause). Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sie sogar eine Funktion in einigen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die Intelligenzler fanden den Zugang zu ihr durch die Literatur, die schriftlichen kulturellen Produkte bzw. durch einige juristische Textsorten und durch viele Presseprodukte. Im Alltagsverkehr hatte sie zwar für die übrigen Mitglieder der Sprachinselminderheit weder gesprochen noch geschrieben eine relevante Funktion, doch stellte sie für alle Schichten eine bestimmte Norm dar, deren Gebrauch an die gebildeten sozialen Schichten gebunden war. Die ungarndeutschen Medien wie das Wochenblatt die „Neue Zeitung“ bzw. die übrigen Zeitungen gebrauchen diese Varietät als die standardsprachliche Varietät in ihrer spezifisch ungarndeutschen Ausprägung (vgl. Weintritt 1990: 149ff.). Im Schriftverkehr spielte diese Varietät im Leben der Sprachinselminderheit im Allgemeinen keine bedeutende Rolle. Privatpersonen bedienen sich nur in seltenen Fällen des privaten Briefverkehrs dieser Varietät, die dann zu einer bloßen Verschriftlichung der gesprochenen Sprache wird. Der folgende Ausschnitt aus einem Privatbrief einer Großmutter an ihre 18 Vgl. Wild 2003: 55ff. 19 Auch heute wird in Ortschaften, in denen es noch eine deutschsprachige Messe gibt (immer weniger und seltener), das vom Priester erlernte Hochdeutsch gebraucht und von den Gläubigen in dieser Sprache gebetet und gesungen. 7. Ungarn 289 Enkelin (aus dem Jahr 1993) zeigt phonetisch und lexikalisch ebenso wie orthographisch (4) Gib acht und trage riebenen Hochsprache nahe eben aktu abonnie sten des Telefonierens sta lexion und rl (5) eburtstag am 12. November] lge folgen den Regeln der deutschen Sprache: große Standardferne: Liepi Erika, ih sike tir tie kstrikti suh, jetz pin ich fertich mittem strike. Kep owacht, un trak sie net wie slape, [Liebe Erika, ich schicke dir die gestrickten Schuhe, jetzt bin ich fertig mit dem Stricken. sie nicht wie Schlappen]. Generell gab es kaum wichtige Anlässe, sich im Schriftlichen mitzuteilen. Erst in der Zeit nach der Aussiedlung eines Großteils der Ungarndeutschen begann zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgesiedelten auf privater Ebene ein reger Briefverkehr, der sich - wie wir aus der Einsichtnahme in einige private Dokumente und Briefe schließen können - in ganz ähnlicher Weise wie das vorangegangene Beispiel gestaltete: Es ging um eine verschriftlichte konzeptionelle Mündlichkeit. Lediglich die gebildete Schicht (die Dorf- und Stadtintelligenz wie Lehrer, Apotheker, Ärzte, Notare, Geschäftsleute) pflegte den Kontakt zur gleichen sozialen Schicht in der geschriebenen Hochsprache oder mindestens in einer der gesch n Sprachform. Bei offiziellen Anlässen bediente man sich hauptsächlich der ungarischen Sprache, oder man wandte sich an eine hochdeutschkundige, „eine geschulte Person“, die den ell hochdeutschen Brief aufsetzte. Schöne Literatur wurde und wird in der Gegenwart auf dem Lande weniger gelesen. Als Jahreslektüre galt schon immer der Kalender, heute der „Deutsche Kalender“, bzw. die deutschsprachigen Zeitungen, die rt oder gelegentlich gekauft werden. Die Generationen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg in der Schule deutsch gelernt haben, sind bis heute noch in der Lage, Briefe auf Deutsch zu schreiben, und sie kennen bis heute noch die alte deutsche Schrift, doch insgesamt ist ihre Schreibkompetenz bruchstückhaft. Diese älteste Generation der Ungarndeutschen gebraucht (nach ihrer subjektiven Einschätzung) das geschriebene Deutsch im Alltag höchstens, wenn sie an den lokalen deutschen Rundfunk schreiben, um sich etwas im Wunschkonzert zu wünschen, oder wenn sie den Verwandten in Deutschland schreiben. Das Briefschreiben ist übrigens in der Gegenwart zu Gun rk zurückgegangen. Einige Textbeispiele von Wunschkarten an den Regionalsender in Pécs in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren sind ein Spiegelbild für die allgemeine Sprach- und Schriftkompetenz der verschiedenen Generationen in halbformellen Situationen, die als eine Verschriftlichung der gesprochenen Sprache zu betrachten sind. Sie zeugen davon, dass mit der Kriegsgeneration eine Generation von Ungarndeutschen (die „stumme Generation“) herangewachsen ist, die in ihrer schulischen Sozialisation an keinem Deutschunterricht teilnehmen konnte und daher eine nur bruchstückhafte Schreibkompetenz im Deutschen hat. Bei diesen Generationen klafft die gesprochensprachliche und die schriftsprachliche Kompetenz weit auseinander. Folgender Ausschnitt dürfte von einer Vertreterin dieser mittleren Generation verfasst worden sein, die keinen gesteuerten Deutschunterricht erfahren hat, doch des Deutschen auf einer Hören-Lesen-Basis kundig ist. Auffallend sind die Unsicherheiten in der Kasusf natü ich in der Rechtschreibung: Bitte an schener Waltzer for mai Mann zu saim Geburstag am tswelfte November. [Bitte einen schönen Walzer für meinen Mann zu seinem G (1996). Beim Verfasser von Beleg (6) dürfte es sich um einen Vertreter der ältesten Generation handeln. Charakteristisch sind hier die mundartbedingten Flexionsendungen und Unsicherheiten in der Rechtschreibung (teils nach den Regeln der ungarischen Orthographie und nach der ungarischen Aussprache), die auch daher rühren, dass die gesprochene Sprache einfach verschriftlicht wurde. Darauf sind auch die Probleme mit der Stimmhaftigkeit/ Stimmlosigkeit und der Schreibweise der sch-Laute, die hier in ungarischer Schriftform erscheinen, zurückzuführen. Satzbau und Wortfo Elisabeth Knipf-Komlósi 290 (6) Für Johan in… Libes kint Johan Ein söner Kruz cu teinem Geburstak wincse ih tir. Fil Klük unt geszunt Heit unt ein frohes lankez Lepen, wünst tir tein Sviker Fater auz… Bite einen sönen Valzer fon Konrat Freidah Muzikanten auz Háságy. [Ein schöner Gruß zu deinem Geburtstag wünsche ich dir und Gesundheit und ein frohes langes Leben wünscht dir dein Schwiegervater aus… Bitte einen schönen Walzer von den Musikanten unter der Leitung von Konrad Freitag aus Hásságy] (1998). Einen gesprochensprachlichen, ziemlich unstrukturierten Satzbau, verschriftlicht nach den Regeln der ungarischen Orthographie, weist folgender Wunsch auf: (7) Mit einem bunden blumen strausz möchten wir die aller schönste glück wüncse auf …. für die Frau K.M. zum 60. geburtztag alles gute fihl glück und Gottes segen guthe gesuntheit noch fihl söne jahren im greisze ihre Familie wüncsen, gegrüszt von… [Mit einem bunten Blumenstrauß möchten wir die allerschönsten Glückwünsche auf… für die Frau K.M. zum 60. Geburtstag alles Gute, viel Glück und Gottes Segen, gute Gesundheit, noch viele schöne Jahren im Kreise ihre Familie wünschen, gegrüßt von…] Sehr oft werden Schüler, die an einem gesteuerten Deutschunterricht teilnehmen, gebeten, eine Wunschkarte für die Nachbarn, Bekannten an den Rundfunk zu schreiben (das verrät u.a. auch ihre Buchstabenform); so im folgenden Beispiel: (8) Wir grüßen ganz herzlich den Herrn… aus der Erkel F. Strasse in… Er feiert seinen 75. Geburtstag am Nikolaustag. Die Grüße kommen aus… von Tante… und Onkel… Bitte ein schöner Waltzer. [Wir grüßen ganz herzlich den Herrn X.Y. aus der Erkel F. Straße in … Er feiert seinen 75. Geburtstag am Nikolaustag. Die Grüße kommen aus… von Tante… und Onkel… Bitte ein schöner Walzer.] Die schriftsprachliche Kompetenz der jungen Generation der Ungarndeutschen änderte sich in den letzten Jahrzehnten von Grund auf. Dank des regelmäßigen schulischen Deutschunterrichts werden beide Fertigkeiten gleichmäßig entwickelt, wodurch der Kompetenzgrad der beiden Fertigkeiten nicht mehr so große Unterschiede zeigen wird. Durch den gesteuerten schulischen Deutschunterricht, das Lesen in deutscher Sprache, auch durch das Konsumieren von Fernsehsendungen aus dem deutschen Sprachraum, die über Satellit empfangen werden können, sowie durch die persönlichen Erlebnisse durch Reisen im deutschsprachigen Ausland werden der jungen Generation vielfach Impulse gegeben, welche die mittlere und ältere Generation nie bekommen hatte und durch die diese Generation bereits in Wort und Schrift eine solide und sichere Grundlage im Standarddeutschen erhält. Einen besonderen Fall stellt die Verstehenskompetenz des Hochdeutschen bei den Ungarndeutschen dar. Bei Umfragen geben fast alle Generationen an, das Hochdeutsche gut zu verstehen, allerdings wird bei weiterem Nachfragen eingeräumt, dass man nicht alle Fernsehsendungen versteht und bei manchen Sendungen sprachliche Schwierigkeiten hat. Die Präsenz und das Konsumieren von deutschsprachigen ungarndeutschen Medien der letzten 40 bis 50 Jahre blieb selbstverständlich nicht ganz ohne Wirkung. Es wurden deutschsprachige Rundfunksendungen gehört, und es wurde und wird auch - wenn auch nicht regelmäßig - die deutsche Zeitung gelesen und das deutschsprachige Regionalfernsehen gesehen. 20 Während vor 1945 die meisten Generationen der Ungarndeutschen nur in einer dialektalen Varietät sozialisiert wurden und sich fast keine Kommunikationssituationen im Alltag fanden, in denen Hochdeutsch hätte gebraucht werden können, gilt heute das Gegenteil. Die Nachkommen der Ungarndeutschen werden heutzutage nicht mehr in einer dialektalen Varietät als L1 in familiärer Umgebung sozialisiert, sondern sie erhalten ihre deutschsprachige Sozialisation ausschließlich als L2 in der Schule im Deutschunterricht. So ist es ver- 20 Vgl. Erb/ Knipf 1995. 7. Ungarn 291 ständlich, dass die jungen Ungarndeutschen - falls sie einen gesteuerten Sprachunterricht genossen haben - in Kommunikationssituationen, in denen sie Deutsch sprechen, das in der Schule erlernte Hochdeutsch verwenden. Eine standardnahe gesprochene Sprachform in alltäglichen Kommunikationssituationen ist bei vielen Ungarndeutschen nachzuweisen, die in Abhängigkeit von ihrem Alter, ihrem Beruf, ihrer Bildung oder/ und aufgrund ihrer Aufenthalte im deutschen Sprachgebiet ein fließendes Deutsch sprechen. Es geht hierbei nicht nur um die Generationen von Deutschlehrern der letzten Jahrzehnte, die eine Ausbildung als Deutschlehrer für die Minderheitenschulen und -gymnasien an einer Universität oder Hochschule genossen haben, die hierzulande als Normautoritäten, als professionelle Sprecher betrachtet werden können. Es geht auch um zahlreiche Vertreter aus anderen Berufen, wie Unternehmer aus verschiedenen Bereichen, Juristen, Ökonomen, im Außenhandel tätige Personen, Kleinunternehmer, Handwerker (auch im Ausland arbeitend), Verkäufer, Hausfrauen, Babysitter, Hausbedienstete etc., die sich alle einer hochsprachlich-umgangssprachlich gemischten gesprochenen Form des Deutschen bedienen, wie das in den Beispielen unserer Tonaufnahmen zu sehen ist: (9) Also, hier zu Hause, kann ich sagen, sprechen wir meist Ungarisch, wo C. alles versteht, und kann auch Deutsch, und der I. überhaupt, mein Sohn auch und der David, der ist ja gut in… im Deutsch. Aber ich weiß nicht, das Ungarische geht so schneller und wird halt dann im Haus Ungarisch gesprochen. Aber ich, ich lieb das Deutsche sehr, das stickt im Blut, und das ist meine Muttersprach. Und/ und von zu Haus aus, von Kind, ich war zehn Jahre, ich konnte kein Ungarisch, und da kommt es von einem Tag auf der andere, dass man Deutsch überhaupt nicht mehr sprechen darf. Und ich holte die deutsche Sendungen… (Ung 2, RE, 68 J.) (10) HS: das deutsche Fernsehen… Und dann sind wir auch sehr glücklich… GH: nur seit einige Jahren… HS: das hilft für den Kindern vielleicht noch, die Fremdsprachen viel besser zu behalten oder erlernen, dass sie können die deutsche Sprache, weil hier, wo wir wohnen, damals war/ die jugoslawischen Sender konnte man empfangen, aber deutsche Sender haben wir keine gehabt. Na gut, Gruß und Kuß konnte man in der Woche einmal hören… (Ung 5, GH, 45 J; HS, 51 J.) Die beiden Belege stammen von engagierten, bewussten Sprechern der ungarndeutschen Minderheit, die durch Arbeitsaufenthalte in den 90er Jahren eine längere Zeit in Deutschland verbrachten. In ihrer sprachlichen Formulierung finden sich Spuren aller ihnen vertrauten Varietäten, aus der Mundart, dem Ungarischen und der deutschen Umgangssprache. Elemente der Mundart: „das stickt im Blut,… von zu Haus aus, von einem Tag auf der andre“. Als Spuren des Ungarischen, ihrer funktional ersten Sprache, sind der Satzbau (Wortfolge) und Wendungen zu erkennen: „Aber ich weiss nicht, das Ungarische geht so schneller…“ (ung.: De nem tudom, a magyar gyorsabban megy…), „das hilft den Kindern vielleicht noch, die Fremdsprache viel besser behalten und erlernen, dass sie könen die deutsche Sprahe“ (ung.: et segít a gyerekeknek talán au idegen nyelvet jobban megtartani vagy megtanulni, hogy tudjanak németül…). 5.2.4 Die Kontinuumsformen (bilingualer Sprachmodus) Die in der mittleren und der jungen Generation nachweisbare deutsche Sprachkompetenz ist bei den meisten eine durch den Deutschunterricht erworbene Deutschkenntnis. Die Vertreter fast aller Generationen können hinsichtlich der eigenen Sprachkenntnisse Einstufungen und Skalierungen vornehmen. Mit großer Selbstverständlichkeit beurteilen sie ihre eigenen Sprachkenntnisse mit „gut“ oder „schlecht“, wobei objektiv vorhandene Sprachkenntnisse nicht notwendig mit der eigenen Selbsteinschätzung oder Identifikation korrelieren. Laut Umfragen unter ungarndeutschen Normautoritäten/ Deutschlehrern gibt es im Sprachrepertoire der ungarndeutschen Min- Elisabeth Knipf-Komlósi 292 derheit gegenwärtig mehrere Varietäten. 21 Als primäre, wenn auch nicht mehr oft gebrauchte Varietät gilt der Ortsdialekt. Am anderen Pol ist die im schulischen Deutschunterricht vermittelte deutsche Standardsprache angesiedelt, die eigentlich das Deutsch der jungen Generationen darstellt, jedoch bei den älteren Generationen nicht die Funktion einer gesprochenen Varietät einnimmt. Vertreter der älteren Generationen stufen sich als Mundartsprecher ein, die die Hochsprache gut verstehen. Darüber hinaus wird eine weitere Varietät lokalisiert, die von den befragten Normautoritäten als „Ungarndeutsch“, als „mundartgefärbte Umgangssprache“, als „regionales Hochdeutsch“ bezeichnet wird, eine Varietät, die auf vertikaler Ebene von der Standardsprache und den Ortsmundarten abgrenzbar ist und als eine Verschmelzung von Hochdeutsch und Mundart betrachtet wird. Es geht hierbei um Textbeispiele, in denen die Sprecher sich bemühen, eine über der Ortsmundart stehende Sprachebene anzustreben, indem sie äußerst komplexe Satzbaumuster produzieren, auf der morphologischen Ebene versuchen möglichst korrekte Kasusendungen zu setzen und sich lexikalisch „gehoben“ ausdrücken: (11) Darum meinte ich diese Frage, weil meistens die nicht zu Hause geblieben sind, die haben nicht so gut die ungarische Sprache lernen können, oder mussten sie nicht spreche, darum behüten sie besser diese Sprache. Und das ist auch interessant, öfter gehe ich, weil ich geh ja in verschiedne Häuser, dass die von Jugoslawien gekommen sind oder übersiedeln mussten, haben sie viel besser ihre Sprache behalten, als die ungarische Schwabe, die hier waren, weil die waren vielleicht dort ein wenig besser gezwängt, dass sie dort ihre Mundart behalten sollen und dass sie waren strenger zu ihren Kindern als die Ungarn. Weil die Unerbatschkamer, das heißt die von Jugoslawien, 21 Im Jahre 2000 wurden 84 Deutschlehrer, die an Bildungseinrichtungen der ungarndeutschen Minderheit als Deutschlehrer tätig sind, zu dem Varietätenrepertoire der Ungarndeutschen befragt. 63 von ihnen gaben an, auch eine Ortsmundart zu sprechen (vgl. Knipf-Komlósi 2001). die haben viel besser ihre Sprache behalten und (…) sie hatten keine Beziehung zur ungarischen Sprache, oder das war dritte Sprache für sie, darum sind sie bei der deutschen geblieben, meine ich. (Ung 5, HS, 51 J.) Negativ bewertet wird von den ungarischen Deutschlehrern die sog. Mischsprache, eine Varietät, die oft als „Übergangssprache“, oder „Zwischensprache“ bezeichnet wird. Es geht um eine Mischform, die aus Elementen der Mundart, der ungarischen Sprache und des Hochdeutschen besteht, und bei der die Mischung kein bewusster Vorgang ist. Die Herausbildung dieser Sprachform ist als Ergebnis der 300-jährigen Kontaktsituation zu betrachten, doch trugen maßgebend die in den letzten Jahrzehnten beschleunigten Assimilierungsvorgänge, die Auflösung der früher festen Großfamilienstrukturen bei den Ungarndeutschen, auch die Exogamie, zum Entstehen dieser Mischform bei. Die lange Zeit kontinuierlich einseitige, vom Ungarischen dominierte Kontaktsituation führte zu massenweise auftretenden lexikalischen Lücken in der Sprache der Ungarndeutschen, die nur auf eine Weise, nämlich durch Übernahmen aus dem Ungarischen gefüllt werden konnten. Im Sprachgebrauch von heute wird diese Mischsprache als etwas Selbstverständliches empfunden, und niemand nimmt daran Anstoß, weil man ja ohnehin beide Sprachen beherrscht und diese Mischform gut verstehen kann: (12) Do im községháza [ung.: Gemeindehaus] hot’ ghasse, dass mr die kárpótlási Papiere [ung.: Entschädigungsscheine] kriege were. (Ung 6, TH, 65 J.) Häufig erscheint diese Varietät in der Interaktion zwischen der älteren und der jungen Generation, wie dies oben in Beleg (1), im Dialog zwischen Großmutter und Enkel, bereits dargestellt wurde. Die Übergangsformen ersetzen hinsichtlich ihrer Funktion zum Teil die verlorenen Funktionen der Ortsmundarten in einigen Domänen. Beide Sprachformen sind in einem Zwischenbereich zwischen lokalen Mundarten, der ungarischen Sprache bzw. der in der Schule erlernten deutschen Standardsprache anzusie- 7. Ungarn 293 deln, also zwischen jenen Sprachen, die dieser Sprachgemeinschaft am nächsten stehen und ihnen am meisten vertraut sind. Ihre kontaktlinguistisch determinierte Entstehungsgeschichte impliziert einen auf soziale Schichten und teils Altersgruppen gebundenen Gebrauch dieser sprachlichen Formen. Typische Sprecher dieser Varietät sind die alte und älteste Generation bzw. jene „stumme Generation“, die an keinerlei schulischem Deutschunterricht teilnehmen konnten. Ihr kognitiv erlebter Alltag, ihre sprachliche Mikro- und Makroumgebung ist dominiert von der ungarischen Sprache. Insofern ist es verständlich, dass sie ihre Nominationslücken durch diese Sprache decken. Auch hinsichtlich der Themen gibt es keine spezifischen Prioritäten, weil neben der Arbeitswelt selbst Alltagsthemen und Domänen der Privatheit in dieser Sprachvarietät verlaufen. 5.3 Die Sprach(en)wahl: Code- Switching, Sprachmischung Der Wandel der Varietäten des Deutschen kommt am deutlichsten im Generationenwechsel zum Ausdruck. Will man den Prozess des Sprachwechsels in den oben geschilderten Generationen nachvollziehen, so begegnet dieser Sprachwechsel am eklatantesten zwischen der Generation I und II. Die Generationen III und IV befinden sich in einem Zustand nach dem Sprachwechsel, d.h. dass sich ihre primäre Sozialisation bereits grundsätzlich anders gestaltete als die der zwei vorangehenden Native-speaker-Generationen. Im Prozess des Sprachwechsels der deutschen Minderheit haben wir es mit einem zeitlichen und geographischen Nord-Süd-Gefälle zu tun, mit einem früheren Vollzug des Sprachwechsels im nördlichen Teil Ungarns und einem verlangsamten und verzögerten Prozess in den südlichen von Ungarndeutschen bewohnten Gebieten. Die den Prozess beschleunigenden soziologischen Faktoren sind die Auflockerung und Umstrukturierung der ungarndeutschen Siedlungsräume durch einsetzende Industrialisierung, durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung, die aus bilingualen zu monolingualen Sprechern gewordenen Nachkommen der Ungarndeutschen (stumme Generation) sowie durch eine fehlende institutionelle und politisch-öffentliche Unterstützung der Minderheit von Seiten der Mehrheitsbevölkerung. Die vertikale Schichtung des Deutschen als Minderheitensprache zeigt folgendes Bild: Auf individueller Ebene kann von einem Verlust der Minderheitensprache gesprochen werden. Auf der Ebene der Gemeinschaft sind dennoch jene kulturell-sozialen Formen nachzuweisen, in denen die Sprachgemeinschaft - auch bei einem Verlust der Minderheitensprache - ein Interesse an der deutschen Sprache und Kultur zeigt und ihre Zugehörigkeit zu dieser Kultur bekundet. Selbst wenn man den Sprachgebrauch in den öffentlichen Bereichen des Minderheitendaseins, wie z.B. in den Minderheitenkommunen der einzelnen Ortschaften und Städte, in den verschiedenen Gremien der Landesselbstverwaltung, in Vereinsversammlungen, in den Minderheitenschulen betrachtet, fällt ins Auge, dass in all den Situationen und Interaktionen der Ortsdialekt längst nicht mehr erscheint, völlig funktionslos wurde, dass abwechselnd Deutsch und Ungarisch gebraucht werden, oder dass die deutsche Sprache als Verkehrssprache durch die ungarische ersetzt wird. Als Antwort auf leise Vorwürfe bezüglich der Sprachwahl bei diesen Gremien ist oft zu hören, dass es keine triftigen Gründe gebe, warum man in diesen Situationen Deutsch, geschweige denn einen Ortsdialekt sprechen solle, wo sich doch jede Kommunikationssituation problemlos und bequem durch die ungarische Sprache erledigen lasse. Die Sprachwahl, die teils bewusst, teils jedoch auch unbewusst geschieht, stellt bei einer auf die Interaktionspartner ausgerichteten Modellierung ein dynamisches System dar, das nach den soziolinguistischen Parametern wie Alter, Bildung, Situation, Thema und Ort variiert. Auf die gegenwärtige Sprachsituation und die nachfolgend (vgl. Kap. 6.2) skizzierten Sprachgenerationen bezogen entsteht ein Gefüge der Sprachenwahl, das in den Tabellen 4 bis 7 näher veranschaulicht wird. Generation I verwendet (mindestens im südlichen Teil des Landes: Schwäbische Türkei, Tolnau, Batschka) mit den Vertretern der anderen Generationen der Sprachgemeinschaft Elisabeth Knipf-Komlósi 294 Sprechergeneration Hörergeneration gewählte Varietät I # I Mundart/ Mischsprache I # II Mundart/ Mischsprache I # III Mundart/ Ungarisch I # IV Mundart/ Ungarisch Tabelle 4: Sprachwahl der Sprechergeneration I Sprechergeneration Hörergeneration gewählte Varietät II # I Mundart/ Mischsprache II # II im Beisein von Gen. I Mundart, sonst Ungarisch II # III Ungarisch II # IV Ungarisch Tabelle 5: Sprachwahl der Sprechergeneration II noch die Mundart bzw. die o.g. Mischsprache; in allen öffentlichen Bereichen bedient man sich der ungarischen Sprache. Bei Generation II zeichnet sich bereits eine sehr eingeschränkte Verwendung des deutschen Ortsdialekts bzw. der Mischsprache ab, und zwar beschränkt auf die ältere Generation. Ansonsten ist sowohl in den privaten als auch in den öffentlichen Domänen die ungarische Sprache das wichtigste Kommunikationsmittel. Hier ist deutlich die Zäsur wahrzunehmen, in der ein Sprachwechsel zwischen den Generationen stattgefunden hat. Die beiden jungen Generationen verkörpern die „neuen“ Generationen der Sprachinselminderheit. Geboren und sozialisiert nach dem Sprachwechsel, kann ihnen gegenüber keine Erwartung hinsichtlich des Gebrauchs der deutschen Sprache als alltägliches Kommunikationsmittel gestellt werden. Sie sind die Generationen, die in der Schule eine deutschsprachige Sozialisation in Form eines Nationalitätenunterrichts oder eines einfachen DaF-Unterrichts und zu Hause eine sekundäre kulturelle (ungarndeutsche) Sozialisation, im optimalen Fall mit einem passiven dialektalen Hintergrund, erfahren haben. Eine Varietätenumschichtung setzt bei Generation III ein, die mangels dialektaler Kenntnisse die deutsche Standardsprache als Kommunikationsmittel mit Ungarndeutschen einsetzen kann. Bei Generation IV sind aufgrund mehrerer externer Faktoren interessanterweise Anzeichen einer bewussten Revitalisierung der ungarndeutschen Identität bzw. der Mundart zu sehen, wobei diese Revitalisierungsversuche mit dem erhöhten Prestige der deutschen Sprache in der Gegenwart zusammenfallen. Bestimmend und charakteristisch für eine Minderheit ist ihre - aus welchen Gründen auch immer getroffene - Wahl vom gegebenen Repertoire, in einer gegebenen Situation, unter gegebenen soziokulturellen Umständen. Aus der dargestellten Konstellation und aufgrund der Fragebogenergebnisse wird aus der Untersuchung deutlich, dass die Allgegenwärtigkeit der ungarischen Sprache, ihr Nutzbarkeitsgrad und ihr kommunikativer Wert auch für die Sprecher der Minderheit dermaßen hoch ist, dass - bis auf einige private Situationen in den Sprachhandlungen der ältesten Generation - kein Anlass und keine Notwendigkeit bestehen, Sprachhandlungen in einer Varietät des Deutschen weder in der Öffentlichkeit noch im privaten Bereich zu führen. Der private wie berufliche Alltag ist für die Minderheit (wie auch für die übrigen Minderheiten in Ungarn) durch die ungarische Sprache und soziokulturelle Umgebung des Landes geprägt. Lediglich bei Generation I lässt sich über mundartgebundene und -geprägte Narrativik sprechen, die in Erzählungen über die 7. Ungarn 295 Sprechergeneration Hörergeneration gewählte Varietät III # I Standarddeutsch/ Ungarisch III # II Ungarisch III # III Ungarisch III # IV Ungarisch Tabelle 6: Sprachwahl der Sprechergeneration III Sprechergeneration Hörergeneration gewählte Varietät IV # I Ungarisch/ Standarddeutsch/ selten Dialekt IV # II Ungarisch IV # III Ungarisch IV # IV Ungarisch/ selten Standarddeutsch/ Dialekt zur Abgrenzung von anderen Tabelle 7: Sprachwahl der Sprechergeneration IV Vergangenheit, in der Schilderung der Kindheitserlebnisse, der Familiengeschichten bzw. in den mit den Bräuchen und Sitten zusammenhängenden situationsgebundenen Alltagsthemen ihre Ausdrucksform finden. Doch selbst diese Situationen werden nicht ausschließlich im Dialekt versprachlicht, sondern abwechselnd im Ortsdialekt und auf Ungarisch bzw. in einer Mischsprache. Der Ortsdialekt ist in diesen Fällen nur eine komplementäre Form zum Ungarischen. In Fällen, in denen der Ortsdialekt gebraucht wird, dominieren die Norm und die Regeln der Mundart, wenn auch eine Reihe von Interferenzphänomenen und Übernahmen aus der ungarischen Sprache erkennbar sind. Während vor etwa zwanzig bis dreißig Jahren bei Dialektaufnahmen von älteren Gewährspersonen in ihren ungarischsprachlichen Äußerungen noch klare und eindeutige Belege des Einflusses ihrer Ortsmundart nachzuweisen waren, hat sich bis heute diese sprachliche Situation umgekehrt. So können nur noch bei Sprechern der ältesten Generation (im Alter von über 70 Jahren), deren Mutter- und Erstsprache ihr deutscher Dialekt war, heute noch vereinzelt, insbesondere auf der suprasegmentalen Ebene (Intonation) und in der Artikulation einiger Konsonanten, Einflüsse ihres deutschen Dialekts nachgewiesen werden (z.B. der Wechsel von stimmhaften und stimmlosen Konsonanten: die Plus ‘Bluse’, die natrák (ung. nadrág) ‘Hose’, unsr Ropi ‘unser Robi’. In den übrigen Altersgruppen der ungarndeutschen Gewährspersonen sind heute Einflüsse (bes. im lexikalischen Bereich) des Ungarischen eindeutig nachzuweisen. Lehnerscheinungen können in der Sprachinselsprache nach verschiedenen Aspekten gruppiert werden: Nach dem Zeitpunkt der Übernahme kennen wir ältere und neuere Übernahmen, 22 die in den Belegen (1), (5) und (6) dokumentiert sind. Es kann angenommen werden, dass Generationen unterschiedliches, dem jeweiligen Zeitgeist entsprechendes, Wortgut übernehmen. So kommt es fast nie vor, dass im Gespräch von jüngeren Gewährspersonen redeeinleitende Wörter wie istenem, hát (‘Mein Gott, also’) erscheinen. Auch der funktionale Aspekt, die Sprecherintention und der Kommunikationszweck beeinflussen die Übernahmen, die von Generation zu Generation unterschiedlich sein können. Im alltäglichen, informellen Sprachgebrauch der noch eine Ortsmundart sprechenden Gewährspersonen sind Transfererscheinungen gang und gäbe. Der häufige Gebrauch ungarischer Wortentlehnungen in dialektalen und auch hochdeutschen Interaktionen ist für alle Generationen charakteristisch, 22 Vgl. dazu Erb 1993 und 2002. Elisabeth Knipf-Komlósi 296 doch in unterschiedlichem Ausmaß und in Abhängigkeit der Themen und Situationen. Code-Switching-Formen sind nicht nur bewusst und intendiert, sondern in vielen Fällen ohne konkrete Intention und punktuell und haben einen ad hoc-Charakter. Unsere Fragebogenerhebungen und Interviews zeigen, dass nach Selbsteinschätzungen der Befragten die Mundart ihre Basissprache ist, d.h. dass Sätze und Phrasen in der Mundart (L1) von Elementen der ungarischen Sprache (L2) durchsetzt werden und es zu einer regelrechten Verschiebung, zu einem Wechsel zwischen L1 und L2 kommt. Das Repertoire der Code-Switching-Formen ist reichhaltig. Es geht vor allem um Inhaltswörter (Autosemantika), die mangels entsprechender deutscher Äquivalente notgedrungen auf Ungarisch eingesetzt werden, aber es gibt auch viele Beispiele für redeeinleitende und diskurssteuernde Partikeln aus dem Ungarischen, Konjunktionen de (‘aber’), mert/ mer (‘weil’), Indefinitpronomina aus dem Ungarischen (hát, dehogy, dehogynet, akarwann, akarwie), die in den Mundartgesprächen (Interviews und Dialogen) häufig auftreten. Namen von Firmen und Positionen werden in aller Selbstverständlichkeit als Fremdeinschübe verwendet: (13) Unser unoka is an dr egyetem in Pest, sie werd közgazdász. [Unsere Enkelin ist an der Universität in Budapest, sie wird Ökonomin.] (Ung 7, GA, 71 J.) (14) wann’s foglalt jelezni tot, na is des wegr dem beázás vum Rege [Wenn es besetzt ist, ist es wegen der Durchnässung (der Telefonleitung) durch den Regen] (Ung 10, GK, 74 J.) (15) Un no, istenem, hot er’s halt vrgesse… (Ung 4, TK, 64 J.) Istenem (‘mein Gott’) ist hier eine Partikel, ein satzstrukturierendes Element, ein Füllwort (im Ungarischen auch in der Funktion als Interjektion), das hier unbewusst (aus Routine) eingesetzt wird. Füllwörter, emotive und affektive Ausdrücke werden aus der funktional ersten Sprache entlehnt: (16) Ich hon ehm gsaht, net dra lange, isten ments [Gott behüte], das no was passiert (Ung 2, KK, 64 J.) (17) …hát [also] die is jetz bei der Magas-und mélyépít Kft. agstellt… (Ung 6, TA, 59 J.) Hier wird hát als übliches redeeinleitendes Wort des Ungarischen benutzt; der Name der Firma (Hoch- und Tiefbau) wird einfach Ungarisch beibehalten. Dasselbe gilt für Berufsbezeichnungen und Positionen: (18) Ja, mai Soh war f el adó [Oberreferent], awr jetz isr noch hechr, jetz isr ügyvezet igazgató [Geschäftsführender Direktor geworden] wore… (Ung 2, RE, 68 J.) (19) … hát in deni beosztások [Positionen] kenn ich mich net aus, des kann ich nar Ungrisch sage. (Ung 2, RE, 68 J.) Bezeichnungen von Positionen und Funktionen des heutigen Alltags werden von älteren Menschen einfach Ungarisch gebraucht: (20) Hát [also], jetz hab ich diese erste Mal wie jetz war doch die, was war, számlálás? [Volkszählung? ] (Ung 10,GK, 74 J.) (21) un no hen sie uns ge-irányít [umgeleitet], wal die Stroß war abgsperrt wegr ame baleset… [Unfall] (Ung 9, MA, 66 J.) In diesem letzten Beleg haben wir es mit einer wortinternen (flexionsinternen) Code- Switching-Form zu tun, die in der Interaktion zwischen Ungarndeutschen häufig vorkommt, wenn das Verb (der Stamm) in der Ortsmundart nicht bekannt, nicht geläufig ist. Diese Lehnlexeme sind in die Sprache der Ungarndeutschen völlig integriert. Auch Funktionsverbgefüge sind davon betroffen: (22) die hen na a fellebezés [Berufung] eingreicht (Ung 4, TS) Code-Switching tritt oft dann auf, wenn die Worte eines anderen (ungarischer Muttersprache) zitiert oder wiederholt werden: (23) der hot uns awr gsagt: Vigyázzatok, mert nem lesz jó, ha németül beszéltek [Passt auf, denn es ist nicht gut, wenn ihr Deutsch sprecht] (Ung 6, KF, 68 J.) 7. Ungarn 297 Es geht bei den zahlreichen Fällen der Übernahmen um intersequentielle Code-Switching-Formen, denen im Sprachgebrauch der Minderheit die wichtige Funktion zukommt, im Kommunikationsakt eine höhere referentielle Effizienz zu erzielen. Zu verstehen ist dies aufgrund der Überzeugung der Sprecher - dies belegen unsere Untersuchungen -, dass gewisse für die Gesprächssituation oder das Thema relevante Begebenheiten für den aus dem gleichen Milieu kommenden Gesprächspartner durch gewisse Inhaltswörter und Lexeme in der ungarischen Form aussagekräftiger, expressiver und semantisch transparenter sind, als die in der Ortsmundart gebrauchten oder aus dem Ungarischen übersetzten lexikalischen Einheiten. Darüber hinaus ist es nach Einschätzung der Befragten oft auch schneller und ökonomischer, zu vorhandenen ungarischen Wörtern zu greifen, als lange nach dem entsprechenden deutschen (mundartlichen) Wort zu suchen. Aussagekräftiger erscheinen die Code-Switching-Formen auch aus dem Grunde, dass die Begrifflichkeit der Alltagssprache dieser Sprecher, ihre kognitive Erfahrung aufgrund ihrer soziokulturellen Einbettung in der Gesellschaft, sich in ungarischer Sprache gestaltet. Infolge des ständigen inter- und intrasequentiellen Code-Switchings wird zwar die aus systemlinguistischer Sicht monolinguale Kohärenz ihrer Äußerungen verletzt, indem im Laufe einer Interaktion durchgehend die Systeme von zwei Sprachen gewechselt werden, doch gleichzeitig wird in der Wahrnehmung der Sprecher, die kommunikative Kohärenz der Äußerungen gestärkt und unterstützt, weil die teilnehmenden Gesprächspartner die Fremdeinschübe mitsamt ihren Konnotationen verstehen und situationsadäquat deuten können. Das bedeutet jedoch, dass der Kommunikationsradius dieser Varietät eingeschränkt ist auf die Interaktion mit den Ortsansässigen und den Ungarndeutschen, die beider Sprachen mächtig sind. 5.4 Sprachliche Charakteristika der ungarndeutschen Sprachvarietäten Das sprachliche Bild der Ungarndeutschen ist im Allgemeinen betrachtet ziemlich heterogen. Diese Heterogenität setzt sich aus mehreren soziolinguistischen Komponenten zusammen, die auf den ersten Blick als gegenläufige Tendenzen wirken, tatsächlich jedoch einander auslösen. Zur Entstehung der heutigen Situation führten folgende wichtige Faktoren: - die Tatsache, dass die Ortsmundarten in ihrer Geschichte in Ungarn mehrere Ausgleichsprozesse mitgemacht haben und das Ungarische die Dachsprache dieser Dialekte wurde, - der vollzogene Sprachwechsel zwischen Generation I und II bzw. Generation II und III, - der Prestigeverlust Mitte des 20. Jahrhunderts und neuerdings ein Prestigezuwachs des Deutschen als Verkehrssprache in Europa. Die Ungarndeutschen bildeten aus einer soziolinguistischen Sicht nie eine einheitliche Gruppe, doch aufgrund der soziokulturellen Umstände der Makro- und Mikroumgebung, in die sie in den letzten fünfzig Jahren eingebettet sind, zeichnen sich Tendenzen ab, die für alle sich heute noch als Ungarndeutsche bekennende Sprecher gelten. Im Allgemeinen kann über die sprachlichen Besonderheiten bei den Ungarndeutschen als Ausgangspunkt folgendes festgehalten werden: Das dreipolige Modell Ortsmundart - Kontinuumsformen - Standardsprache bedeutet, dass die Sprecher der angegebenen Generationen sich nach einer diesen Varietäten adäquaten Norm richten. Dieses Dreier-Modell kann als eine Entwicklungslinie eines Dialektabbauprozesses gesehen werden, indem der Sprecher bei einem Verlust der Mundartkompetenz die zweite Stufe der Kontinuumsformen erreicht. Bei einem Abbau dieser Übergangsphase kann als Revitalisierungsmaßnahme die Möglichkeit genutzt werden, auf gesteuertem Wege und durch individuelle Motivation eine Standard- Elisabeth Knipf-Komlósi 298 sprache bzw. eine standardnahe Umgangssprache zu erlernen oder aber seine Deutschkompetenz völlig zu verlieren, sie aufzugeben. Der dritte Grad muss nicht immer erreicht werden; schon nach der zweiten Phase kann es zur völligen Aufgabe der Sprache kommen. Typische sprachliche Merkmale sind bei fast allen Sprachgenerationen auf den Ebenen der Lexik, der Syntax, der Morphologie, auf der Textebene und auf der Ebene der Phonetik nachzuweisen. Es werden hier nur jene Besonderheiten angemerkt, die nicht für die Varietät der Ortsmundarten, sondern für die Varietäten der Kontinuumsformen und des Hochdeutschen typisch sind. Bei der Auflistung der sprachlichen Besonderheiten der ungarndeutschen Varietäten ist es oftmals - trotz der gezielten Abfragungen und Interviews - schwierig zu entscheiden, ob es sich um typische und konventionalisierte Abweichungen von einer Norm (z.B. der entsprechenden Ortsmundart) handelt, oder ob einfach nur individuelle sprecherspezifische Phänomene der Performanz vorliegen. Im Folgenden wird eine kurze Auswahl der sprachlichen Besonderheiten dargestellt. Auf der suprasegmentalen Ebene fallen bei der älteren, manchmal sogar bei der mittleren Generation Intonationsmuster des Ungarischen, besonders bei Fragesätzen, auf. Auch das ewige Problem der stimmhaften Anlaute bleibt bei der älteren Generation sichtbar. Im phonetischen Bereich kommen bei der älteren Generation Beispiele vor, in denen die Umlautformen mit entrundeten Vokalen ausgesprochen werden, was wahrscheinlich auf einen Einfluss der Mundart zurückzuführen ist: (24) a. da waren immer die Prifungen b. und der hat sich verkihlt c. das muss man nachprifen (Ung 10, TK) (25) Gut, Kroatisch hab ich nicht kennen, aber Ungrisch hab ich kennen. (Ung 3, JU) Auf der morphologischen und morphosyntaktischen Ebene kommt es zu Kasus- und Rektionsunsicherheiten. In der Kasusflexion wird die Mehrfachmarkierung abgebaut: (26) und da treffen wir uns jed Dienstag Nachmittag mit so zwelf ältere Frauen, das ist bisschen so Handarbeit und bisschen so Ratsch, erzählt jede seine/ ihre Probleme und so, und dann im/ jeden Monat ist einmal dann Klubabend (Ung 2, RE) (27) Ich habe gesagt, ich bin ein Deutsche (Ung 3, HS) (28) a. wir waren doch zwei Wochen bei meinem Cousin, dass doch neben der Rhein b. da hämme gewartet, das mal die nächste Wochen oder Monaten oder Jahren kennen nach Haus gehn, un dort bin ich na in die ungrisch Schul gangen und… c. und dort hab ich auch gespielt mit der Kinder und so (Ung 3, JU) (29) er hat sich angepasst dann das Bairische (Ung 2, RE) Seltener kommen mundartbedingte Konjugationsprobleme bei unregelmäßigen Verben vor: (30) das habe ich nicht gewisst [gewusst] (Ung 3 JM) (31) das hab ich mir nicht gedenkt [gedacht], dass es so weit kommt (Ung 10, TK) (32) er hat das empfehlt [empfohlen] (Ung 11, TF) Zeitangaben zeigen eine bunte Vielfalt, z.B. ungenauer Gebrauch der temporalen Präposition: (33) aber später war, aber Zeit um Neunziger ist jetz natirlich ist es ganz anders, nicht? (Ung 11, ZH) Bei der Angabe eines regelmäßigen Zeitabstandes können Kardinalia und Ordinalia durcheinander geraten („alle zwei Monate“ vs. „jeden zweiten Monat“). Diese Formen entstanden wahrscheinlich durch Einfluss der Mundart: (34) Hát [ung.: also], sehr wenig, ich bekomm aller zwei Monat so eine, eine, wisse Sie, eine Apatiners Tagesblatt in Deutschland (Ung 3, JU) (35) alle zweite Monat krieg ich die Infusio (Ung 10, TK) Jahreszahlen werden gelegentlich als Ordinalzahlen realisiert: 7. Ungarn 299 (36) da is jetz schon vom Neunzigte, Einundneunzigte ein österreichischer Eigentümer, wissen’s? [seit neunzig, einundneunzig] (Ung 4, TS) Unsicherheiten im Gebrauch der Präpositionen sind sehr häufig; teils treten sie aufgrund von Interferenzen mit dem Ungarischen auf, teils aufgrund von Unsicherheiten in den präpositionalen Rektionen des Standarddeutschen, die man zwar rezeptiv kennt, aber nicht gelernt hat: (37) Mein Sohn, der/ der kann auch/ Englisch kann er perfekt, aber Deutsch kann er auch, weil er arbeitet jetz in holländische Firma, weißt, da die, die Sprache ist Deutsch (Ung 3, JM) (38) er ist noch ein Verwandter zu uns [von uns], zu ihm rede ich nur Deutsch… (Ung 2, RE) Die Umschreibung der Genitivkonstruktionen ist ebenfalls auf den Einfluss der Mundart zurückzuführen: (39) und dem Ern sein (Auto) vorm/ vor der Haustir in Dombóvár haben sie auch gestohlen, und meinem Jungen sein haben sie bei der Elisabeth ihre Wohnung gestohlen. (Ung 2, RE) Zahlreich sind die typischen Merkmale auf der lexikalischen Ebene, z.B. durch die falsche Wortwahl, semantische Ungenauigkeiten: (40) Da haben wir immer Fragen bekommen, und dann haben wir es geantwortet und einen Brief dafür geschickt (Ung 3, HK) Typisch im Deutsch der Ungarndeutschen sind die sehr oft auftretenden Nominationslücken, die z.B. durch Lehnübersetzungen aus dem Ungarischen gelöst werden: Benzinbrunnen ‘Tankstelle’ (ung. benzinkút), Plusarbeit ‘Mehrarbeit’ (ung. plusz munka), Teilnehmerpreis ‘Teilnahmegebühr’ (ung. részvételi díj), Familienhaus ‘Einfamilienhaus’ (ung. családi ház), Zwillinghaus ‘Doppelhaus’ (ung. ikerház), in erster Reihe ‘in erster Linie’ (ung. els sorban). Für Lehnwörter aus dem Ungarischen gibt es zahlreiche Beispiele: Dolmetsch ‘Dolmetscher’ (ung. tolmács), Riporter ‘Reporter’ (ung. riporter), weniger für Lehnbedeutungen: Eingeteilter ‘Angestellter’ (ung. beosztott). Auch bei der Wortbildung ist der ungarische Einfluss durch die Übernahme desr Suffixform erkennbar: Jubilant ‘Jubilar’ (ung. jubiláns), Alkoholist ‘Alkoholiker’ (ung. alkoholista). Häufig sind hybride konjugierte Verbformen mit deutschem Präfix und ungarischem Stamm anzutreffen: gefellebezt ‘Berufung eingelegt’, geporszivózt ‘staubgesaugt’, er hat des kikekanalazt ‘er hat das ausgelöffelt’. Semantische Überlappungen, die auf Interferenzen des Ungarischen zurückzuführen sind bzw. darauf, dass die Bedeutungen der Partikeln, Präpositionen den Sprechern nicht ganz geläufig sind, kommen ebenfalls häufig vor: (41) a. die NZ junior ist ziemlich ganz gut b. und dann haben wir gesungen und dann ist diese Stunden verlaufen… [ung. és akkor lement az óra] (Ung 3, HS) 6 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz 6.1 Allgemeines Ein chronologischer Rückblick zeigt den Wandel der Sprachen und Varietäten im Sprachgebrauch der Ungarndeutschen in den letzten fünfzig Jahren: Bis 1945 war die erste und wichtigste Sprache die deutsche Ortsmundart, danach folgte bei einigen sozialen Schichten wie den Intelligenzlern, den Handwerkern und einigen Bauern Ungarisch und ggf. Hochdeutsch. Radikal änderte sich diese Situation in den 50er und 60er Jahren: Zur ersten und wichtigsten Sprache und zum öffentlichen Kommunikationsmittel für die Minderheiten wurde Ungarisch; die Ortsmundart wurde nur für den privat-vertrauten Gebrauch behalten, vielfach nicht einmal das. Kenntnisse in der deutschen Standardsprache konnten in dieser Zeit mangels des Deutschunterrichts nicht ausgebaut werden. Mit dem Einsetzen des Deutschunterrichts und des Nationalitätenunterrichts konnten Ende der 60er, Anfang der 70er und in den 80er Jahren Hochdeutschkenntnisse wieder ausgebaut und sta- Elisabeth Knipf-Komlósi 300 bilisiert werden, wobei Ungarisch weiterhin die funktional erste Sprache in allen öffentlichen, halböffentlichen Domänen und zum Großteil auch im familiären Bereich blieb. Einen sehr eingeschränkten Kommunikationsradius hatte die jeweilige Ortsmundart; es bahnte sich der Weg einer Mischsprache an, die Elemente der beiden Varietäten, der Mundart und der ungarischen Sprache, enthielt. In den 90er Jahren blieb die Dominanz der ungarischen Sprache in allen Domänen erhalten, doch das Standarddeutsch der Schule bekam ein immer höheres Prestige für die erwerbstätigen Jugendlichen und für die mittlere Generation. Die erwähnte Mischsprache, das spezifische Umgangsdeutsch in Ungarn bzw. die Ortsmundart nehmen heute eine geringere Rolle im Gesamtrepertoire der ungarndeutschen Bevölkerung ein. Die gegenwärtige Popularität des Deutschen bei den Ungarndeutschen und bei der Mehrheitsbevölkerung ist nicht nur den wirtschaftlichen Vorteilen dieser Sprache in Europa zu verdanken; sondern es spielen dabei auch die historischen Traditionen Ungarns seit König Stefan I. bis zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, durch die Ungarn mit dem deutschsprachigen Kulturgut eng verbunden ist, eine bedeutende Rolle. Der Rückgang der Ortsmundarten in Ungarn ist vor dem historischen Hintergrund betrachtet kein neues Phänomen in der Sprachbiographie dieser Minderheit. Die große Zäsur, 1945, „eine Qualitäts- und Quantitätsgrenze in der Geschichte der Kontakte“ (Erb 2002b: 30), begünstigte die Verwendung der deutschen Sprache in Ungarn in keiner Weise. Selbst in den von Deutschstämmigen bewohnten, dialektfesten südlichen Gegenden des Landes wurde der Gebrauch der Dialekte auf die private Sphäre, auf den engen Verwandten- und Bekanntenkreis und im späteren noch mehr auf die enge Familie und heute vielfach (wie oft bei der ältesten Generation) nur auf den Ehepartner beschränkt. Dass bei den Ungarndeutschen heute die ungarische Sprache die dominierende Sprache in fast allen Lebensbereichen geworden ist, wird von keinem Vertreter der deutschen Minderheit hinterfragt und gilt für alle Mitglieder dieser Sprachgemeinschaft als selbstverständlich, genauso wie die oben in Kapitel 5.3 explizierte Mischsprache als eine natürliche Kommunikationsstrategie empfunden wird. Die Ursachen für diese selbstverständliche Akzeptanz sind auf mehreren Ebenen zu suchen: Aus einer historischen Perspektive ist nachweisbar, dass bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein intensiver Prozess der Assimilation einsetzte, zunächst in den Städten in der Umgebung von Budapest, später in den Städten auf dem Lande und zuletzt in den dem Sog der Urbanisierung ausgesetzten Dörfern auf dem Lande. Damit zeitgleich verlief auch eine Magyarisierungswelle (man denke auch an die Wellen der Namensveränderungen). Auch die Wichtigkeit der soziologischen Tatsache muss immer wieder betont werden, dass alle sozialen Aufstiegschancen für Staatsbürger dieses Landes unabhängig von ihrer Muttersprache an das vollkommene Beherrschen der ungarischen Sprache gebunden war. Weitere externe Ursachen, wie die bis in die 80er Jahre dauernde negative Einstellung der Majorität zur Sprache der Minderheit sowie die vorherrschende Rolle der ungarischen Sprache als die am meisten brauchbare und auch genutzte Sprache im öffentlichen Bereich, setzten einen Prozess in Gang, dessen einzelne Stadien - wie der Domänenverlust der Ortsdialekte und damit eng verbunden der Funktionsverlust - zu einem allmählich fortschreitenden Sprachverlust der Minderheit (auch der anderen Minderheiten) geführt haben. Es ist ein Prozess, der aus einer zahnradähnlichen Verflechtung von Ursachen und Folgen besteht. Bei der Explikation der Ursachen dieses Prozesses spielen die Sprachbiographien unserer Gewährspersonen eine besonders wichtige Rolle. Sie geben einen Einblick in das individuelle Schicksal der einzelnen Sprecher dieser Minderheit, gleichzeitig enthalten sie wichtige Hintergrundinformationen der jeweiligen geschichtlichen Epoche, und selbstverständlich sind die in den Texten mitschwingenden Reflexionen und Selbstreflexionen, Werturteile der Sprecher zu den Ereignissen und Vorfällen wichtige Indikatoren für die Deutung der Ereignisse und Pro- 7. Ungarn 301 zesse. Als Beispiel stehe hier ein Absatz aus einer Sprachbiographie 23 eines Vertreters der mittleren Generation aus der Umgebung von Budapest: „Mein Vater hat im Krieg sich noch mit den Deutschen verständigen können, aber in den Sechzigern hat er nur noch vereinzelt etwas auf Deutsch gesagt. Üblich war dafür von ihm noch in den 70er Jahren, ge ma schlafen zu sagen. Und der Ausdruck kommt ja sicherlich nicht von der Soldatensprache. Das muss er noch vom Vater gehört haben, jedoch nicht von der Mutter, da sie tschechischer Herkunft war (auf diesem Breitengrade nicht untypisch). In meiner Kindheit, da soll ich etwa fünf Jahre alt gewesen sein, hatte auch der kleine F. Deutsch lernen sollen. Die Aufgabe konnte aber mein Vater nicht mehr übernehmen. So habe ich dann erst mit achtzehn Jahren angefangen Deutsch zu lernen. Das heißt, mag vielleicht das genetisch nicht verloren sein (sc. das Deutschtum), dafür ist es sprachlich gesehen kein Überleben mehr, sondern eher ein Neubeginn.“ 6.2 Sprachgenerationen Die Einteilung der Vertreter einer Sprachinselminderheit in Sprachgenerationen gestaltet sich v.a. nach dem jeweiligen Werdegang der Minderheit, nach ihrer aktuellen sprachlichen und soziolinguistischen Situation, d.h. nach der Beurteilung ihrer Sprachkompetenz und ihres Sprachgebrauchs. Die Variablen Alter und Bildung bzw. die Generationsunterschiede sind für die zwei Bereiche der Sprachkompetenz und des Sprachgebrauchs in Minderheitensituation ausschlaggebend. Im Folgenden steht eine auf den bisherigen Untersuchungen basierende Einteilung nach Sprachgenerationen, die hier als weitere Orientierung der Ausführungen dienen soll. 23 Der Ausschnitt (gesammeltes schriftliches Dokument) enthält den vollen Wortlaut einer Sprachbiographie ohne Veränderungen des Originals. Der Text stammt von einem Mann (43 Jahre alt), der aufgrund seines Berufes an intensiven Deutschkursen teilgenommen hatte und sich heute als Ungarndeutscher bekennt. Der Titel seiner Sprachbiographie lautet: „Wie unsere Familie die Muttersprache verloren hat… (wenn Sie einmal N.N. [deutscher Familienname] heißen, warum reden Sie nicht Deutsch? )“ Demnach lassen sich primär nach dem Geburtszeitpunkt und der darauf folgenden Sozialisation folgende Sprachgenerationen abgrenzen: Generation I: Dialektal geprägte Generation (Vorkriegsgeneration, vor 1930 Geborene) Die ethnisch soziokulturell deutsch geprägte familiäre Umgebung mit einem mundartlichen Milieu war die Basis für die heute älteste und ältere Generation, die in ihrer primären Sozialisation eine solide dialektale Kompetenz (stabile Dialektstrukturen) als Muttersprache entwickelte, doch in der sekundären Sozialisation in der Schule wegen des fehlenden Deutschunterrichts ihre Deutschkenntnisse weder festigen noch weiter entwickeln konnte (ablesbar auch an der völlig fehlenden Schreibkompetenz dieser Generation), sich aber auch nur mangelhafte Ungarischkenntnisse angeeignet hat. Diese Ungarischkenntnisse wurden im Laufe ihres Erwerbslebens natürlich mehr und mehr ausgebaut, doch konnte auch hier die Schriftlichkeit nicht entsprechend stabilisiert werden. Sie sind noch mundartdominante Zweisprachige, die meistens ortsansässig und wenig mobil sind. Diese Generation erreichte im späteren weder eine Stabilisierung ihrer mundartlichen Basis noch eine standardsprachliche Kompetenz, die sie ja erst aufbauen musste, was wiederum nur Personen möglich war, die einen längeren Bildungsweg mitgemacht haben. Für diese Generation ist das durch die Medien vermittelte Deutsch keine adäquate Basis für den tatsächlichen Erhalt ihrer vorhandenen Deutschkenntnisse. Ihre Muttersprache ist eine dialektale Mündlichkeit, die sie heute nur mehr sehr eingeschränkt, im familiären Kreis, unter Freunden, nahen Bekannten und mit Verwandten und Besuchern aus Deutschland, einsetzen können. Ihre Sprachkompetenz erstreckt sich also auf ihren jeweiligen deutschen Dialekt und auf die ungarische Sprache, die durch ihre Erwerbstätigkeit und das Alltagsleben funktional die wichtigste geworden ist. Daneben kann - je nach Bildung, Beruf und Arbeitskreis - auch von einem gewissen Grad einer Substandardkompetenz im Deutschen gesprochen werden, weil bei dieser Generati- Elisabeth Knipf-Komlósi 302 on das über der Ortsmundart stehende „noblere Deutsch“ (gehobener als die Mundart, eine Mischung aus Mundart und Umgangssprache) noch ein Prestige hat und dieses Deutsch mit Besuchern aus Deutschland gebraucht wird. Generation II: sog. „stumme Generation“ (Kriegsgeneration, 1930 bis 1945 Geborene) Wenn auch ihre primäre Sozialisation im lokalen Dialekt erfolgte, ist ihre funktional erste Sprache durch ihre sekundäre Sozialisation und durch die Erwerbstätigkeit die ungarische Sprache geworden. Sie ist die sog. „stumme Generation“, die ihre Muttersprache zu Gunsten der Landessprache verdrängen musste und aufgegeben hat. Sie hat noch eine gewisse Dialektkompetenz, doch sind diese Dialektstrukturen nicht mehr stabil, so dass hier häufig eine Mischsprache (ein deutscher Ortsdialekt gemischt mit Ungarisch) erscheint. Der damals noch uneffiziente (oft in Anschluss-Stunden gehaltene) oder nicht vorhandene Deutschunterricht war nicht geeignet, diese noch nicht ausgebauten Strukturen des Deutschen aufzuholen und stabil auszubauen. Diese Generation ist schon etwas mobiler als die Generation I, ihr Dialektgebrauch ist beschränkt auf die Kommunikation mit den Eltern oder mit der älteren Generation; in der Kommunikation mit Gleichaltrigen gebraucht sie gewöhnlich das Ungarische. In den meisten Fällen leben diese Sprecher in Mischehen. Generation III: Generation mit erlernten Deutschkenntnissen (Nachkriegsgeneration, 1946 bis 1960 Geborene) Im günstigen Fall haben die Mitglieder dieser Generation zu Hause noch von den Großeltern den Ortsdialekt gehört und so passive Dialekterfahrungen gesammelt, doch es fehlte in der familiären Umgebung meistens ein stabiles mundartliches Milieu. Diese Generation wurde überwiegend durch Schule, Ausbildung und Beruf ungarisch sozialisiert. Die Mischehen mit Ungarisch als Familiensprache sind in dieser Generation alltäglich. Die Mobilität ist in dieser Generation groß, auch gab es für sie die Möglichkeit, schon in der Schule an einem gesteuerten Deutschunterricht (DaF) oder an einem Minderheitenunterricht (früher: Nationalitätenunterricht) teilzunehmen. Durch die bereits in den 80er Jahren erweiterten Reisemöglichkeiten, die deutschsprachigen Medien und durch persönliche Kontakte, evtl. auch durch ihren Beruf, sprechen die Mitglieder dieser Generation in der überwiegenden Mehrheit die deutsche Standardsprache oder eine umgangssprachliche Varietät des Deutschen. In der Schwäbischen Türkei und in der Batschka hat ein Teil dieser Sprecher noch eine Verstehens-, evtl. auch eine Sprechkompetenz in der Mundart, die auch mit einem Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Minderheit verbunden ist. Aufgrund einer starken emotionalen Bindung an das Deutsche konnten die nicht vorhandenen sprachlichen Grundlagen mit Hilfe von Sprachkursen, durch Auslandsaufenthalte, mit Hilfe der deutschsprachigen Medien usw. selbst aufgebaut werden. Grundsätzlich kann in dieser Generation eine ziemlich fortgeschrittene Assimilation konstatiert werden. Generation IV: Dialektal entwurzelte Generation (nach 1960 Geborene) Die junge Generation wuchs nicht mehr im mundartlichen Milieu auf; ihre Deutschkenntnisse sind die in der Schule erworbenen Fremdsprachenkenntnisse. Ihre primäre wie sekundäre Sozialisation verlief auf Ungarisch; meistens sind keine oder nur noch wenige und wenn überhaupt passive Dialektkenntnisse vorhanden (mit einigen Ausnahmen im Süden Ungarns). Die deutsche Sprache bzw. deren Vaietäten wie die Standardvarietät, die Umgangssprache, die Jugendsprache, evtl. auch Fachsprachen, haben die Vertreter dieser Generation in der Schule, durch Medien, Reisen, Schulpartnerschaften usw. erlernt. Für sie stehen bereits Möglichkeiten der Aufrechterhaltung und Vertiefung ihrer Deutschkenntnisse zur Verfügung: Auslandsaufenthalte, Arbeitsmöglichkeiten im Ausland, die mit dem täglichen Gebrauch der deutschen Sprache verbunden sind, deutschsprachige Medien im Alltag etc. Ausgebaut und gestärkt wird bei dieser Generation die standardsprachliche und auch die lockerere sprechsprachlich orientierte umgangssprachliche Kompetenz. Im Kreise der Jugendorganisation der Ungarndeut- 7. Ungarn 303 schen (GJU) gibt es Anzeichen einer Mundart-Revitalisierung, einer erwachenden ungarndeutschen Identität. Motiviert ist diese durch die Rolle des Deutschen als Wirtschaftsfaktor in Europa und unterstützt durch die ungarndeutschen Medien, aber auch durch Partnerschaften in den deutschsprachigen Ländern, durch längere Studienaufenthalte in Deutschland und durch Reise- und Arbeitsmöglichkeiten in dem deutschen Sprachgebiet. 6.3 Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten Die bereits angedeuteten sprachlichen Übergangszustände in der Sprache der Ungarndeutschen vollziehen sich nicht im Leben einer einzigen Generation, sondern treten dann auf, wenn sich ein Sprachzustand durch seine Sprecher aufgrund von inneren oder äußeren Ursachen grundsätzlich ändert. Dies erfolgte im Leben dieser Minderheit als mittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs. Eine weitere entscheidende, wenngleich wesentlich geringfügigere Veränderung in der Einstellung zur deutschen Sprache erfolgte in den 90er Jahren nach der politischen Wende. Die determinierenden Faktoren, die sozialen und funktionalen Variablen, die in der Entstehung des Sprachrepertoires dieser Sprecher eine Rolle spielen, bilden auch die Grundlage für die soziolinguistische Schichtung der Sprachvarietäten. Im Folgenden wird exemplarisch die Entwicklung der sprachlichen Situation dieser Minderheit in zwei im Leben dieser Minderheit typischen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dargestellt. Die hier angeführten Angaben stimmen mit den Angaben des Zensus in diesen Jahrzehnten überein. 1970er Jahre Die 1970er Jahre markieren eine Zeitspanne, in der die sprachliche Assimilation der deutschen Bevölkerung in Ungarn schon sehr fortgeschritten war, doch auf politischer Ebene (vorbildliche Nationalitätenpolitik Ungarns) eine Reihe von Spracherhaltsmaßnahmen getroffen wurden, wie die funktionierenden ungarndeutschen Medien und der landesweit verbreitete Deutschunterricht, die dem Assimilationsprozess scheinbar entgegen steuerten. In Wirklichkeit erwies sich aber der Prozess des Dialektverlustes und des Identitätsverlustes als unaufhaltsam. 1990er Jahre Die 1990er Jahre spiegeln die Zeit nach der Wende in Osteuropa wider und signalisieren hinsichtlich der Sprachkompetenz dieser Sprecher letztlich noch wenig Veränderungen, abgesehen von der noch mehr fortgeschrittenen Assimilation. Vielmehr erscheint in dieser Zeit die Wichtigkeit und das Greifen jener Veränderungen auf der Verwaltungsebene (Kommunalwahlen, Elektoren, die wachsende Zahl der gewählten Minderheitenselbstverwaltungen usw.), die ihre Wirkung langfristig und vor allem auf indirekte Weise auf die Sprachkompetenz und den Sprachgebrauch der Sprecher ausüben werden. Bei einem Vergleich zeigen sich keine Unterschiede in der Generation der über Sieb- Gen. I Gen. II Gen. III Gen. IV Muttersprache: Deutsch + +/ - -/ + - Muttersprache: Ungarisch - +/ - +/ - + Dialektkenntnisse + +/ - -/ + - Kompetenz in der deutschen Standardsprache +/ - -/ + -/ + -/ + Kommunikationssprache Deutsch + -/ + -/ + - Kommunikationssprache Ungarisch + +/ - + + Identifikationssprache Deutsch + +/ - - - Identifikationssprache Ungarisch - -/ + + + Tabelle 8: Sprachkompetenz der einzelnen Sprechergenerationen in den 1970er Jahren Elisabeth Knipf-Komlósi 304 Gen. I Gen. II Gen. III Gen. IV Muttersprache: Deutsch + +/ - - - Muttersprache: Ungarisch - +/ - + + Dialektkenntnisse + -/ + -/ (+) - Kompetenz in der deutschen Standardsprache + +/ - +/ - + Kommunikationssprache Deutsch + +/ - -/ + - Kommunikationssprache Ungarisch -/ + +/ - + + Identifikationssprache Deutsch + -/ + -/ + - Identifikationssprache Ungarisch - + + + Tabelle 9: Sprachkompetenz der einzelnen Sprechergenerationen in den 1990er Jahren zigjährigen. Kleinere, doch nicht gravierende Unterschiede sind bei der Generation der Fünfzigbis Siebzigjährigen wahrzunehmen. So hat z.B. die Zahl der Dialektsprecher in den 90er Jahren abgenommen, jedoch die Zahl derer, die Deutsch auch als die Sprache der Kommunikation angeben, leicht zugenommen (Deutsch ist in Ungarn in den 1990er Jahren eine gefragte Fremdsprache geworden). Eine steigende Tendenz ist bei der Identifikationssprache Deutsch sowie bei der standardsprachlichen Kompetenz wahrzunehmen. Die letzteren beiden Werte gehen auf die veränderten soziohistorischen Umstände der jüngeren Generationen zurück und signalisieren gleichzeitig auch den steigenden Mut der Minderheitenbevölkerung, sich zu ihrer Tradition und zur „schwäbischen Kultur“ zu bekennen (vgl. die Ergebnisse der Volkszählung 2001). Zusammenfassend kann in der Gegenwart folgende Verteilung der Sprachen und Varietäten bei den Ungarndeutschen konstatiert werden: Die von der ungarndeutschen Minderheit am meisten gebrauchte, funktional wichtigste Sprache ist das Ungarische, gleichzeitig die Dachsprache für alle anderen Varietäten, und die H-Varietät für die Mehrheit der Sprecher. Sie wird von allen Generationen und allen sozialen Schichten der Ungarndeutschen mündlich wie schriftlich beherrscht und gebraucht. Für die beiden älteren Generationen (I und II) ist sie eine in der zweiten Sozialisation erlernte Sprache, für die jüngeren zwei (III und IV) eine in der ersten Sozialisation angeeignete Sprache. So äußert sich eine Sprecherin: (42) Ja, jetz wenn ich mich mit so alten Oma treffe, dann spreche ich schon mal Deutsch mit ihr, aber das ist ganz selten, und, und mit unserer Generation wird’s nur Ungarisch gesprochen. Das ist es, die Leute haben sich so vermischt mit den Ungarn, die meisten haben ungarische Schwiegersohn oder ungarische Schwiegertochter, oder die Kinder in der Schule, die, die lernen jetzt das Deutsch nur also Stunden, nur in der Woche nur Stunden, und nur die einzigen, die wo sagen, ich will mein Studium in deutsche Sprache weiter machen, die lernen dann bisschen mehr Deutsch. Aber die anderen, die sind/ die sind eins mit den Ungarn, die verschwinden… (Ung 2, RE, 68 J.) Nur ein kleiner Prozentsatz der Minderheit - mit steigendem Alter - kann als kompetente Mundartsprecher betrachtet werden. Hierbei geht es um eine Kompetenz der konzeptionellen Mündlichkeit dieser Varietät. Den Selbsteinschätzungen der Sprecher ist zu entnehmen, dass die Mundart heute nicht mehr stigmatisiert ist, sondern neutral bewertet wird. Das ist die Varietät, die wegen des Kontinuitätsbruchs (die „stumme Generation“) und mangels einer Vermittlergeneration sowie wegen des Fehlens ihrer Funktionen und Domänen nicht mehr revitalisiert werden kann. Ihre Funktionen wurden von den anderen Varietäten, den Kontinuumsformen und je nach Bildungsrad, Alter und sozialer Schicht von der Standardsprache übernommen. Wie schon erwähnt, gibt es in den einzelnen von Ungarndeutschen dichter bewohnten Regionen große Unterschiede im Gebrauch 7. Ungarn 305 der Ortsmundart. Zunächst ist das Gefälle zwischen Stadt und Land (Dorf) für die Mundart zugunsten des Dorfes auffallend. Zum anderen wird in den Gebieten der Schwäbischen Türkei (Branau, Tolnau) und der Batschka von der älteren Generation mehr die bodenständige Ortsmundart gebraucht als etwa im Ofner Bergland, in der Umgebung des Migrationszentrums Budapest. Dort ist sogar für die älteste Generation das Ungarische zur Verkehrssprache, zur Sprache der alltäglichen Kommunikation geworden. Somit verteilen sich die Kommunikationssituationen für das Deutsche in den einzelnen Regionen ziemlich ungleichmäßig. Ein weiteres Problem taucht mit der Funktionstüchtigkeit der Ortsmundarten auf: Aufgrund der Nominationsbedürfnisse in der Mundart kam und kommt es zu massenweisen (und nicht einmal immer notwendigen) Entlehnungen aus der ungarischen Sprache. Diese Übernahmen verdrängen selbstverständlich die Mundartlexeme, wodurch diese Wörter an die Peripherie des Wortschatzes dieser Sprecher gelangen und nicht mehr aktiv in der Sprachproduktion hervorgerufen werden können. Ein zweiter Grund für den Rückgang der Mundarten ist die Folge des bisher Erörterten: Die Ortsmundarten können für die übrigen in der Mundart nicht kompetenten Sprecher und Generationen eine Verstehensbarriere darstellen. Dessen sind sich die Vertreter der älteren Generationen bewusst, deshalb bevorzugen sie auch im Gespräch mit ihren Enkelkindern oft die ungarische Sprache. Je höher der Bildungsstand der Sprecher ist, desto strenger stufen sie ihre Mundartkenntnisse ein, und desto selbstkritischer fällt ihr Werturteil über die eigene Sprachkompetenz aus. So ist auch bei der Selbsteinschätzung über die standardsprachliche Kompetenz Vorsicht geboten, weil hier unter Standardsprache in der subjektiven Beurteilung der Sprecher der ältesten Generation oft nicht die heutige Standardsprache verstanden wird, sondern die Sprache der deutschen Liturgie in der Kirche oder die Sprache der aus Deutschland zu Besuch kommenden Verwandten, Bekannten. Ein Indiz dafür ist z.B., dass von dieser Generation viele TV-Sendungen aus sprachlichen und wie aus nichtsprachlichen Gründen nicht korrekt verstanden werden. Die junge Generation hat zur Ortsmundart ein völlig anderes Verhältnis entwickelt, das sich letztlich in Abhängigkeit von ihrer persönlichen Beziehung zu den in der Familie noch Mundart sprechenden Personen gestaltet. Haben sie ein vertrautes, gutes Verhältnis zu den Mundart sprechenden Großeltern, wird ihre Einstellung zur Ortsmundart mindestens positiv ausfallen, und sie werden eine Affinität gegenüber dieser Varietät zeigen, auch wenn sie selbst keine aktive Mundartkompetenz erreichen. Die Tatsache, dass dem so ist, beweist auch jene Schicht der Jugendlichen, die den Beruf als Deutschlehrer ergriffen haben und sich noch verpflichtet fühlen, die deutsche Sprache und Tradition auf diesem Wege zu pflegen und weiter zu geben. Wenn der Begriff der Zweisprachigkeit sehr weit gefasst wird, kann ein hoher Prozentsatz der Ungarndeutschen als zwei- oder mehrsprachig betrachtet werden. Die Zahl kann sich jedoch bei Zugrundelegen eines engeren Bilingualismusbegriffes reduzieren. Selbsteinschätzungen zufolge kann diesen Sprechern eindeutig eine Bilingualität und jedenfalls Bikulturalität bescheinigt werden. Drei Varietäten lassen sich voneinander abgrenzen, die in nicht allen Generationen als aktiv gesprochene Varietäten vorhanden sind: Die H-Varietät, das Ungarische, ist in allen Generationen als wichtigste Sprache der Kommunikation existent. Die anderen zwei Varietäten, die Ortsmundart (und die Kontinuumsformen) und die deutsche Standardsprache sind in den meisten Fällen entweder in der einen oder in der anderen Generation vertreten, je nachdem, wie sich die Variablen Alter, Sozialisation und Bildung gestalten. Bei einer diachron wie synchron so komplexen sprachlichen Situation kann selbstverständlich über keine Ausschließlichkeit einer dieser Varietäten gesprochen werden. Vertikal gesehen ist für die einzelnen Altersgruppen eine überwiegend diglossische Situation festzustellen, immer mit der ungarischen Sprache als H- Varietät und entweder der Ortsmundart/ Misch- Elisabeth Knipf-Komlósi 306 sprache oder der Standardsprache als zweiter Sprache. Horizontal gesehen kann von einer triglossischen Sprachsituation gesprochen werden, in der alle drei Sprachen/ Varietäten, das Ungarische, der Dialekt und die deutsche Standardsprache, nachzuweisen sind. Vor dem Hintergrund einiger für die Ungarndeutschen typischen Familienmodelle wird das Konzept des zweisprachigen Ungarndeutschtums einigermaßen relativiert. Ein detaillierteres Bild entsteht erst bei Berücksichtigung bestimmter Aspekte, die die Entstehung und den Grad der Zweisprachigkeit beeinflussen. Diese sind in erster Linie die Muttersprache der Eltern, das Verhältnis der Sprache der Eltern zur dominanten Sprache der Gemeinschaft sowie die kommunikative Strategie der Eltern in der primären Sozialisation ihrer Kinder bzw. in späterer Zeit. Darüber hinaus spielt natürlich auch die (sprachliche) Unterstützung der Sprachgemeinschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Entstehung bzw. Erhaltung der Zweisprachigkeit dieser Minderheit. In der Regel erfolgt heute in ungarndeutschen Familien - unabhängig von der Muttersprache der Eltern - die Erziehung in der primären Sozialisation in Ungarisch als L1. 24 Belegt sind in letzter Zeit einige Ausnahmefälle (überwiegend Vertreter der Intelligenzschicht) in der Umgebung von Baja und Pécs, in denen bewusst und rigoros die Familiensprache Deutsch als L1 gewählt wird und Ungarisch als L2 fungiert. Allerdings ist auch hier der Sprachwechsel in der Familie zeitbedingt. Eine unlängst durchgeführte Erhebung weist darauf hin, dass die einsprachig deutsche Erziehung in der informellen Domäne Familie nur bis zum Eintritt der Kinder in den Kindergarten erhalten werden kann, denn bei Beginn eines institutionalisierten Erziehungsprozesses in ungarischer Sprache wird diese zur dominant ersten Sprache, und auch die Eltern geben ihre Konsequenz in der 24 1994 wurde in Palotabozsok und Baja eine Erhebung zur Sprachkompetenz von Schülern aus ungarndeutschen Familien im Alter zwischen 10 bis 14 Jahren durchgeführt. Bei den hier angeführten Feststellungen wurde teils auch auf diese Ergebnisse Bezug genommen (vgl. Knipf 1995, 74-83). deutschsprachigen Erziehung zugunsten der Landessprache ziemlich schnell auf. 25 In exogamen Ehen, in denen nur eines der Elternteile deutschstämmig (oder auch deutscher Muttersprache) ist, wird in den meisten Fällen die ungarische Sprache zur Sprache der Familie, zur Sprache der primären Sozialisation. Dass der anderssprachige Elternteil sich die deutsche Sprache (oder die Ortsmundart) aneignet, kam in der Zeit vor 1945 noch gelegentlich vor, ist aber heutzutage ganz selten der Fall. Der Sprachaneignungsprozess gestaltet sich in den einzelnen Generationen sehr unterschiedlich: Bei der ältesten Generation haben wir es mit einer frühkindlichen Zweisprachigkeit mit der Ortsmundart als L1 zu tun. Die mittlere Generation begann ihre Primärsozialisation im günstigen Fall (Südungarn) mit einer simultanen Zweisprachigkeit durch den familiären Gebrauch des Ortsdialektes und der in ungarischer Sprache verlaufenden schulischen Laufbahn. Diese simultane Zweisprachigkeit wurde dann zu einer ungarisch dominierten Zweisprachigkeit. Generation III wurde bereits in der Familie in der ungarischen Sprache als L1 sozialisiert und erlebte die deutsche Sprache/ Ortsmundart als L2, als Sprache der Großeltern, nur passiv. Ihre schulische Laufbahn verlief im günstigen Fall bereits mit einem soliden Unterricht in Deutsch als Minderheiten- oder Fremdsprache. So entwickelte sich bei dieser Generation in einem Idealfall eine Erwachsenen-Zweisprachigkeit, insbesondere wenn durch den späteren Beruf ein häufiger und qualitativ hoher Gebrauch des Deutschen verlangt wird. Je nach individueller Biographie gibt es bei dieser Generation verschiedene Mischtypen einer Zwei- oder Mehrsprachigkeit: Deutsch, gleich welcher Varietät, kann daher individuell als Zweit- oder Fremdsprache betrachtet werden. Bis 1945 konnte bei den Deutschen in Ungarn von einer von der Ortsmundart geprägten Monolingualität gesprochen werden 25 Vgl. die unveröffentlichte Dissertation von Monika Jäger-Manz zum Thema Sprachsozialisation und Sprachgebrauch bei ungarndeutschen Kindern (Jäger-Manz 2004). 7. Ungarn 307 bzw. von einer aus alltagspraktischen Gründen von der Sprachgemeinschaft selbst unterstützten endogenen Zweisprachigkeit. Bei den übrigen Generationen liegt exogene Zweisprachigkeit vor, mit der Feindifferenzierung, dass hier die Zweisprachigkeit im günstigen Fall nur von der Familie eine Unterstützung findet, nicht aber von der Sprachgemeinschaft oder der Mehrheitsbevölkerung. Das Gruppenzugehörigkeitsgefühl und die sog. kulturelle Identität zeigen ebenfalls ein wechselhaftes Bild und stehen in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Anerkennung der Sprachen und Varietäten. 26 6.4 Sprecherkonstellationen 6.4.1 Nahestehende Personen Im bisher Erörterten war schon mehrfach von den Kommunikationsgewohnheiten der Sprecher die Rede. Hier sei lediglich eine kurze Zusammenfassung des individuellen kommunikativen Netzwerkes gegeben. Die älteste Generation, die selten in Mischehen lebt, spricht heute noch - falls der Ehepartner noch lebt - die Ortsmundart. Auch im Verkehr mit den Gleichaltrigen, den Nachbarn und Bekannten, von denen man weiß, dass sie die Ortsmundart verstehen, wird der deutsche Dialekt oder die Mischsprache gebraucht. Gesprächssituationen, die von homogenen Gesprächsteilnehmern (ortsansässige Ungarndeutsche der älteren Generation) geführt werden, verlaufen bei Gleichaltrigen auf Deutsch. Tritt jedoch eine dritte nicht ungarndeutsche Person hinzu, wird in die Landessprache gewechselt. Anders sieht es jedoch mit der Interaktion mit den eigenen jüngeren Familienmitgliedern aus: Ungarndeutsche aus der Stadt sprechen in der Familie nur Ungarisch. Auf dem Lande kommt es vor, dass dort von der Urgroßeltern- und Großelterngeneration noch die Mundart verwendet wird, auch wenn darauf - in den meisten Fällen - eine ungarische Antwort zu erwarten ist, wie der folgende Beleg zeigt: 26 Vgl. dazu ausführlicher Bindorffer 2001. (43) Also, hier zu Haus kann ich sagen, sprechen wir meist Ungarisch, das verstehen alle, die können alle Deutsch, aber Ungarisch geht viel besser… Ich weiß nicht, das Ungarisch geht schneller, besser, und so wird dann halt im Haus Ungarisch gesprochen… Mein Mann kann des auch viel besser, wegen seiner Arbeit… Der kann im Telefon nie mehr gut Deutsch sprechen. Ich weiß nicht, warum… (Ung 2, RE, 68 J.) Selbst in der ältesten Generation finden sich keine Sprecher mehr, die des Ungarischen nicht mächtig wären. Manchmal wird von den Befragten angegeben, dass sie in der Familie die Ortsmundart lediglich in der Funktion einer Geheimsprache gebrauchen, als eine Ausgrenzung, wenn es um Themen geht, die die Kinder nicht hören sollen. Diese Strategie ist manchmal auch bei Jugendlichen zu beobachten, die das Standarddeutsche zu ähnlichen Zwecken im Kreise von nicht-deutsch sprechenden Jugendlichen einsetzen. Die Kirchensprache ist nur dann Deutsch, wenn es einen Priester gibt, der Deutsch kann. Dies ist jedoch immer seltener der Fall. Gibt es noch einen Deutsch sprechenden Pfarrer im Dorf, wendet sich die älteste Generation auch außerhalb der Kirche in der Ortsmundart an ihn. Sprecher in den übrigen Generationen leben in der Regel in gemischtsprachigen Familien, in denen auf selbstverständliche Weise das Ungarische die fast alleinherrschende Sprache ist. Bei privaten Anlässen wie bei Familienfesten, Hochzeiten etc. wird selbst im weiteren Familienkreis Ungarisch gesprochen. Die Sprachenwahl wird in diesen Fällen nicht vom Zugehörigkeitsgefühl gesteuert, sondern es dominieren andere Kriterien bei der Kodewahl, etwa die persönlichen Kontakte zu den Personen oder die Stellung des Individuums im Beziehungsgefüge seiner nahen und weiten Umgebung. Auch Geschwister der Kriegsgeneration (Generation II) sprechen untereinander Ungarisch. Elisabeth Knipf-Komlósi 308 6.4.2 Fernerstehende Personen, Öffentlichkeit, Halböffentlichkeit In allen Domänen der Öffentlichkeit wird in allen Generationen Ungarisch gesprochen. Von der deutschen Sprache wird nur ab und zu Gebrauch gemacht, vor allem bei Vertretern der Intelligenzschicht. Mit Bekannten und Besuch aus Deutschland wird Deutsch gesprochen. Beherrscht man die Ortsmundart nicht mehr, wird eine der Kontinuumsformen eingesetzt; oft kommt es dadurch bei den Verwandten und Bekannten aus Deutschland zu Verstehensschwierigkeiten, weil sie die Mischsprache (die darin auftauchenden ungarischen lexikalischen Einheiten) nicht verstehen. Die passive Zweisprachigkeit einiger Vertreter der jüngeren Generation sowie die Mischsprachigkeit der älteren Generation (vgl. Beleg (1), das Gespräch zwischen Großmutter und Enkel) zeugen davon, dass die zwei genannten Generationen in ihren Kommunikationsstrategien eine Annäherung anstreben. Gleichzeitig konvergieren diese Strategien in Richtung der Landessprache hin. Die Nachkriegsgenerationen (Generation III und IV), aber auch die „stumme Generation“ bevorzugen in der Interaktion untereinander unabhängig von den Domänen und dem Thema, auch unabhängig von ihrer Bildung, die ungarische Sprache: (44) weil es so viel leichter geht (Ung 11, TM, 48 J.) Grundsätzlich kann über ein aktives Vereinsleben der Ungarndeutschen berichtet werden, doch dies beschränkt sich fast ausschließlich auf die Pflege der Kultur (Tänze, Musik, Brauchtumspflege, Chorbewegung). Der Sprache, d.h. dem Spracherhalt oder der Sprachpflege, wird sehr wenig Beachtung geschenkt. So ist die Sprache des Vereins- und Klublebens nur in den seltensten Fällen der Ortsdialekt, vor allem aus dem Grunde, weil die Mitglieder dieser Vereine keine dialektale Sprachkompetenz mehr haben. Die Sprache des Deutschunterrichts und Minderheitenunterrichts ist die deutsche Sprache, doch in den Pausen oder in den außerschulischen Beschäftigungen wird selbst in den Minderheitenschulen und -gymnasien sowohl in der Stadt als auch in den Dörfern in selbstverständlicher Weise die ungarische Sprache bevorzugt. Eltern-Lehrer-Sprechstunden verlaufen in der Regel sowohl in den Minderheitenschulen und -gymnasien als auch in den zweisprachigen Schulen und Gymnasien in ungarischer Sprache. Selbst vor dreißig bis vierzig Jahren war dies nicht anders. Der Medienkonsum spielt im Leben dieser Minderheit eine wichtige Rolle; allerdings gibt es noch keine Untersuchungen über die sprachlichen Auswirkungen. Zurzeit sind die deutschsprachigen Medien aus der Sicht der Kenntnis der deutschen Kultur und der aktuellen politischen, wirtschaftlichen Situation für die mittlere und jüngere Generation im Alltag wichtig geworden. Die jüngsten Nachkommen erlernen durch das Fernsehen eine standardorientierte deutsche Aussprache und erwerben eine hohe Verstehenskompetenz - was von den Deutschlehrern noch nicht durchgängig genutzt wird. Ferngesehen wird oft auf Deutsch, in manchen Familien bevorzugt man sogar die Sendungen der deutschen Sprachgebiete, jede Generation nach ihren spezifischen Interessen. Rundfunksendungen werden hingegen viel seltener konsumiert; auch gelesen wird eher selten. Nicht zu verschweigen ist, dass heutzutage, nach dem EU-Beitritt Ungarns, bei den Generationen III und IV der Ungarndeutschen auch ein ökonomisches Kalkül eine Rolle spielt, wenn es um das Erlernen, den Ausbau oder die Weiterentwicklung ihrer Deutschkenntnisse geht. Doch auch die Verwandten- und Bekanntenbeziehungen nach Deutschland stellen einen wichtigen motivierenden Faktor dar. 7 Spracheinstellungen Erhebungen bezüglich der Einstellung der ungarndeutschen Minderheit zu ihrer Muttersprache und zu ihrem Sprachgebrauch standen in der Minderheitenforschung in Ungarn lange Zeit im Hintergrund. Die Ursache dieser Vernachlässigung war, dass die traditionelle Mundartforschung auf die Erfassung und Beschreibung der deutschen Mundarten fokussiert war. Erst in den 1980er Jahren 7. Ungarn 309 rückte das Thema der Spracheinstellungen ins Blickfeld. In der Einstellungsforschung geht es um affektive Wertungen der Sprecher bezüglich ihres Sprachverhaltens, ihres Denkens über ihre Sprache, ihren Sprachgebrauch, ihrer Sprachgewohnheiten. Einstellungen können erst bei einem Vorhandensein eines gewissen Sprachbewusstseins artikuliert werden, und durch die Artikulation der Einstellungen kann sich bei den Sprechern oft auch eine Bereitschaft zum Handeln entwickeln. Bei Sprachinselminderheiten ist es oft mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden, Mitteilungen und Äußerungen über ihr eigenes sprachliches Verhalten oder über ihre Einstellung zur Muttersprache und zum Sprachgebrauch zuverlässig zu interpretieren, weil das Sprachverhalten durch eine ganze Reihe externer Faktoren beeinflusst, oft auch geregelt und gesteuert wird. Einstellungen beruhen auf gesellschaftlichen und individuellen Erfahrungen in den unterschiedlichen Sozialisationsprozessen der Individuen, ebenso wie auf Interpretationen dieser Erfahrungen. Die Sprache (und besonders die Muttersprache) als Sozialsymbol hat in diesen Fällen mehrere und komplexe Funktionen im Leben der Minderheit zu übernehmen: nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als Identitätsmarker. Daher sind auch die vielfältigen Funktionen der Einstellungen zu erklären. Sie können eine Wissens-, eine soziale Anpassungs-, eine Wertausdrucksfunktion sowie die Funktion einer Ich-Abwehr ausdrücken und als Abschirmung gegen andere Gruppen und Individuen fungieren. 7.1 Einstellungen zum Standarddeutschen und zum Dialekt Einstellungen können gleichzeitig auch die Beurteilung der Minderheitengruppe durch die Mehrheitsgesellschaft reflektieren. Diese Beurteilung durch die Mehrheit ist für die Minderheit und ihr Fortbestehen überaus wichtig. Im Falle der Ungarndeutschen im 20. Jahrhundert waren die Eigenwahrnehmung der deutschen Minderheit gegenüber der eigenen Sprache und die Außenwahrnehmung der Mehrheit zunächst nicht kongruent (vgl. Knipf 1994: 106). In den 1950er Jahren war die deutsche Sprache (hier: der Ortsdialekt) in Ungarn bei der Mehrheitsgesellschaft unbeliebt und abgewertet. Diese negative Beurteilung der Mehrheitsgesellschaft übertrug sich bald auf die deutschsprachige Minderheit selbst, die unter einem starken inneren und äußeren Anpassungsdruck stand, wenn sie einen höheren sozialen Rang in der Gesellschaft erreichen wollte. Insbesondere die damals von der bäuerlichen, auf dem Lande lebenden, deutschsprachigen Bevölkerung gebrauchten deutschen Mundarten wurden von der Mehrheitsbevölkerung negativ bewertet, mit Werturteilen wie „das ist ja kein richtiges Deutsch“ abgetan. Das in den 1980er Jahren in Ungarn zu seinem alten Prestige gelangte „Hochdeutsch“ wurde jedoch von großen Teilen der deutschen Minderheit nicht beherrscht, und so wurde die eigene, von der Mehrheitsbevölkerung stigmatisierte Muttersprache verdrängt, kam infolgedessen bald außer Gebrauch, wurde funktionslos und geriet in Vergessenheit. Die Lage hinsichtlich der Fremd- und der Eigenbeurteilung hat sich jedoch in der Gegenwart deutlich geändert: Sowohl die eigene Einstellung der Minderheit zur Sprache und Identität als auch die Einstellung der Mehrheit zur Minderheit ist inzwischen als positiv zu bezeichnen. Die in unseren Erhebungen zu den Einstellungen der Sprecher zum Ortsdialekt sowie zur deutschen Standardsprache gestellten Fragen ergeben ein je nach Generationen, Schulbildung und sozialer Stellung differenziertes Bild. Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass Gewährspersonen mit Mundartkompetenz auch der deutschen Standardvarietät gegenüber eine positivere Einstellung haben (vgl. Erb/ Knipf 1998, Deminger 2004). Seit der Wende in den 1990er Jahren hat die deutsche Standardvarietät einen bedeutenden Prestigezuwachs in der Mehrheitsbevölkerung und so auch bei der deutschen Minderheit erfahren. Vor allem für die mittlere und jüngere Generation der Ungarndeutschen ebenso wie bei der Mehrheitsgesellschaft gilt das in erster Linie für das Standarddeutsche, doch auch Elisabeth Knipf-Komlósi 310 die Ortsdialekte haben viel von ihrer Stigmatisierung verloren. Ein entscheidender Faktor bei der Bewertung ist die Sprachkompetenz: Je umfangreicher die Sprachkompetenz der Sprecher ist, desto positiver fällt auch die Einstellung zur Sprache aus. Und umgekehrt gilt: Je positiver die Einstellung zur gebrauchten Varietät ist, desto öfter gebraucht man sie, desto mehr Selbstsicherheit gewinnt man im Sprachgebrauch. Sprecher können heutzutage ihre deutschen Sprachkenntnisse ziemlich realistisch einschätzen. Selbst ältere Sprecher thematisieren oft die „Schwächen“ der Ortsdialekte, insbesondere dann, wenn sie erklären wollen, warum dieser nur in wenigen Domänen und von wenigen Sprechern gebraucht wird. Es werden vor allem die Nominationslücken genannt, die großen Abweichungen von der Standardsprache, das niedrigere Prestige dieser Varietät, und natürlich der geringe Nutzen der Mundart in Ungarn. Eine Äußerung wie die folgende ist durchaus typisch: (45) Des Schwowische is zuruckgebliewe. Mit tem kamer in dr heuntich moderne Welt net alles sage, da fehle die Werter, die kenne mr nimi, hat do sage mers halt Ungrisch. (Ung 2, 72) Gemessen an dem Deutsch, das in der Schule erlernt wird, weisen die Ortsdialekte viele Mängel und lexikalische Defizite auf. Der Maßstab, die Norm für die deutsche Sprache in Ungarn und auch bei der deutschen Minderheit, wird somit durch die in der Schule erlernte Standardvarietät gesetzt. Den Dialekten kommt in einer Sprachinselsituation mehr und mehr eine identitätsstiftende, traditionsbewahrende Funktion zu, viel weniger eine kommunikative. Trotz des allgemeinen Vordringens des Englischen als Fremdsprache auch in Ungarn wird das Deutsche von der älteren und mittleren Generation noch immer als eine der wichtigsten Sprachen in Europa, oft auch als „Weltsprache“ betrachtet. Hierbei spielt die Kosten-Nutzen-Kalkulation eine wichtige Rolle: Man schickt seine Kinder vor allem deshalb in den Deutschunterricht, damit sie dort ein richtiges, gutes, im Berufsleben brauchbares Deutsch erlernen. Die deutschen Ortsdialekte leisten eben dies nicht, wie die folgenden Bemerkungen älterer Gewährspersonen illustrieren: (46) Mit dem Schwowische kumme mr net so weit wie midem Deitsche (…) mit tem kamr in dr Welt rumkumme, wal des Schwowischi vrstehn jo net alli (…). (Ung 2, 73) (47) Schwowisch kenne nar mir Alti, die Junge kenne mehr Hochdeitsch, was sie in der Schul glennt henn (…), un des is a gut so. (Ung 2, 73) Grundsätzlich zeigen alle bisher durchgeführten Erhebungen, dass die Mundart nur in der älteren Sprechergeneration mit aktiver Mundartkompetenz ein höheres Prestige sowie eine Identifikationsfunktion inne hat; für die anderen Generationen trifft dies nicht mehr zu. Für die Generation der älteren Sprecher ist die Mundart die Sprache, die sie als Muttersprache erlernt hat. Dieser Dialekt war bzw. ist auch lange Zeit ihres Lebens - in vielen Fällen heute noch - die dominante Varietät geblieben. So kann mit abnehmendem Alter (also bei der jüngeren Generation) eine weniger positive Einstellung zum Dialekt konstatiert werden. Diese Ergebnisse werden auch in Demingers statistischen Erhebungen bewiesen, die sie für drei Generationen durchgeführt hat (Deminger 2004: 97ff.). Die weniger positive Spracheinstellung der jungen Generation kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden: Erstens sprechen junge Ungarndeutsche - auch wenn sie sich zu der Minderheit bekennen - diese Varietät nicht mehr (können sie aber oftmals verstehen). Zweitens können sie sich mit dieser Varietät - da sie sie meist nicht mehr sprechen - nicht identifizieren. Und drittens bevorzugen sie eher das Standarddeutsche als die Varietät mit der höheren kommunikativen Reichweite. Die im letzten Punkt genannte Haltung wird übrigens auch von ihren Eltern und Großeltern unterstützt, wie die folgende Aussage einer Sprecherin der älteren Generation, die mehrmals bei Verwandten in Deutschland zu Besuch war, bestätigt: 7. Ungarn 311 (48) die Kiner solle nar in dr Schul des Deitschi lene, net vun uns, so wie mir drham rete. (Ung 3, 65) In den letzten Jahren, verstärkt durch den EU-Beitritt Ungarns, spielen diese wirtschaftlichen Überlegungen eine immer größere Rolle. Obwohl auch in Ungarn das Englische in der Fremdsprachenwahl führend geworden ist, hat das Deutsche immer noch - insbesondere in Gegenden mit deutschstämmigem Bevölkerungsanteil (Pécs und Baja und Umgebung) - einen hohen Anteil. Die jüngeren Sprecher sehen das durchaus positiv: (49) Ich bin froh, dass ich schon im Kindergarten mit Deutsch begonnen hatte und dass ich acht Jahre lang in der Schule auch Deutsch gelernt hatte, dass sind gute Grundlagen gewesen. Englisch war am Gymnasium - nach Deutsch - schon viel leichter für mich. (Ung 7, 25) Viele Sprecher der mittleren Generation stellen fest, dass sie heute auf ihrem Arbeitsplatz deshalb Vorteile haben, weil sie beim Erwerb des Standarddeutschen von ihrer wenngleich nur lückenhaften, oft nur passiven, Mundartkenntnis profitiert haben: (50) Eigentlich war Deutsch für mich gar nicht so schwer. Als ich Kind war, hat meine Großmutter nur Schwäbisch mit mir und meinen Eltern gesprochen, und ich habe Ungarisch geantwortet, aber verstanden habe ich alles. Heute bin ich dankbar, weil ich kann gut in Deutsch verständigen, ich verstehe noch immer besser, mein Wortschatz ist nicht groß, aber ich habe nicht so viel Fehler, wie andere, die Deutsch erwachsen das erste Mal gelernt haben. (Ung 7, 49) Selbst Veränderungen im Standarddeutschen werden von sensibilisierten Sprechern wahrgenommen: (51) Vieles verstehe ich nicht, weil so viele fremde, ich glaube englische Wörter im Deutschen sind, darum ist Deutsch im Fernsehen schwierig für mich, aber ich sehe gern deutsch TV, weil ich merke, dass ich mehr verstehe als früher. (Ung 6, 53) Deutschsprachige Medien tragen im Allgemeinen viel dazu bei, dass die Einstellungen zur deutschen Standardsprache positiver werden. Die ungarndeutschen Medien thematisieren das Verhältnis der Sprecher zu ihrer Sprache eher selten; der oben konstatierte Wandel der Einstellung der Mehrheitsgesellschaft dem Deutschen gegenüber wird aber durchaus wahrgenommen: „Die Mehrheitsbevölkerung wertete in den Schulen unsere deutsche Muttersprache auf, sie singt, musiziert und tanzt mit uns in unseren Vereinen. Ohne Übertreibung darf still festgestellt werden: Es ist erneut ein gutes Gefühl, Ungarndeutscher zu sein.“ (Neue Zeitung 51-52/ 1998: 1-2) 7.2 Affektive Einstellungen zu Deutsch als Muttersprache Untersuchungen zum Sprachgebrauch der Ungarndeutschen in den 1990er Jahren haben ergeben, dass der Begriff Muttersprache bei Sprachinselminderheiten nicht so leicht zu definieren ist (Erb/ Knipf 1998). Das liegt vor allem daran, dass sich in dieser Begrifflichkeit viele subjektive, emotionale und auch objektive Elemente verbinden. Diese Minderheit zeigte schon immer eine starke Loyalität zum ungarischen Staat und erst sekundär eine Loyalität zur deutschen Sprache. Die Komplexität des Begriffs konstituiert sich aus mehreren Aspekten, aus soziolinguistischen, psycholinguistischen und kommunikativen. So wird von den Minderheitenangehörigen wahlweise diejenige Sprache als Muttersprache bezeichnet, - die als erste Sprache erlernt wurde, - die in der Familie, d.h. vor allem von der Mutter, gesprochen wurde, - die am häufigsten verwendet wird, - in der man die höchste Kompetenz erreicht hat, - die die Sprache der Abstammung (der familiären Verbundenheit) ist. Sprecher der ältesten Generation haben die positivsten Einstellungen zur deutschen Sprache überhaupt, aber insbesondere zu ihrem Ortsdialekt, den sie noch aktiv beherrschen. Auch jene Sprecher der mittleren und jünge- Elisabeth Knipf-Komlósi 312 ren Generation, die die Sprache in der Schule, im Minderheitenunterricht gelernt haben, haben positive Einstellungen zur deutschen Sprache. Besonders Sprecher der mittleren Generation sind oft unsicher, zu welcher Muttersprache sie sich bekennen sollen. Das ist aus den bereits angeführten historischen, sozialen und kulturellen Umständen, unter denen die Minderheit lebte, abzuleiten. Nur wenige Sprecher auch der mittleren und jüngeren Generation bekennen sich als deutsche Muttersprachler. Das bedeutet nicht nur, dass sie die ortsansässige Mundart nicht mehr als Muttersprache beherrschen, sondern auch, dass sie sich mit dieser Mundart nicht mehr identifizieren. Sie sprechen oft von einer sekundären Muttersprache; typisch sind Äußerungen wie die folgende: (52) Also, ich weiß gar nicht, also Deutsch ist meine zweite Muttersprache, wegen meiner Familie und der Abstammung, aber sprechen kann ich sie nicht mehr, aber ich verstehe sie (…), und sie steht mir nahe. (Ung 3, 47) Aus den Erhebungen geht hervor, dass bei der älteren und mittleren Generation die emotionale Bindung zur Familie sehr stark ist, auch wenn nur noch lückenhafte oder keine Mundartkenntnisse vorhanden sind. Bei vielen Vertretern der mittleren Generation war eine deutsche Varietät (Dialekt oder Umgangssprache) in der primären Sozialisation mindestens auf der Ebene der Rezeption und als erlebte Sprache vorhanden und ist insofern in vielen Fällen auch als die erste erlernte Sprache zu betrachten. Obgleich sie später in ihrer Verwendung, ihren Domänen in großem Maße reduziert und in den Kommunikationsmöglichkeiten weitestgehend eingeschränkt wurde, blieb sie für diese Generation eine emotional empfundene Muttersprache, auch wenn sie nicht die aus allgemein kommunikativer Sicht erste Sprache ist (vgl. Knipf 1994: 103). Für die jüngere Generation ist die deutsche Sprache (bis auf einige Ausnahmen in sehr identitätsstarken und bewussten jungen ungarndeutschen Familien) keine Muttersprache mehr, sondern eine Fremdsprache, an die sie durch die familiäre und emotionale Sozialisation mehr gebunden sind als an eine andere Fremdsprache. Dieser emotionale Hintergrund sowie die Kosten-Nutzen-Kalkulation (Deutsch als Wirtschaftsfaktor, Deutsch als berufliche Aufstiegschance, bessere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt) sind die Motive, Deutsch als Minderheitensprache oder Fremdsprache auf gesteuertem Wege gut zu erlernen: (53) Meine Großeltern leben in einem Dorf, sie sprechen miteinander noch Deutsch, auch mit meinem Vater, meine Mutter ist Ungarin. Auch mein Vater antwortet schon oft Ungarisch, aber er kann noch die Mundart, er ist 48 Jahre alt. Wir Enkelkinder antworten immer Ungarisch, aber wir verstehen fast alles, was die Großeltern sagen. Mit meinen Eltern sprechen wir zu Hause selbstverständlich Ungarisch. Aber ich habe Deutsch in der Schule gelernt, nicht zu Hause von meinem Vater. In der Schule habe ich sehr viel über die Geschichte, Sitten und Kultur der Ungarndeutschen gelernt, und meine Oma erzählte mir auch viel davon. (Ung 7, 24) Diese Äußerungen sowie soziolinguistische Erhebungen zu dieser Frage (vgl. Deminger 2004: 112ff.) zeigen, dass sich seit der Nachkriegszeit ein deutlicher Wandel sowohl in der Einstellung der Sprecher dieser Minderheit als auch in der Einstellung der Mehrheitsgesellschaft vollzogen hat. Von beiden Seiten sind die Beurteilungen der deutschen Sprache gegenüber allem, was mit deutscher Sprache und Kultur verbunden ist, positiver geworden. 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Die deutschen Sprachgruppen in Ungarn zählen zu den Außensprachinseln des deutschen Sprachgebiets, deren lange Geschichte bis zur Staatsgründung Ungarns unter König Stefan I. zurückreicht. Die historisch auf mehrere Jahrhunderte verteilte Ansiedlung deutscher Sprachgruppen in Ungarn führte dazu, dass es in Ungarn keine zusammenhängenden Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachi- 7. Ungarn 313 ger Minderheit gab und gibt. Geographisch gesehen ist die deutschsprachige Minderheit in Mittelosteuropa, in der unmittelbaren Nachbarschaft eines deutschsprachigen Staates, Österreichs, sehr gut lokalisiert. Die geographische Nähe und die historische Verbundenheit mit Österreich fruchteten vor allem darin, dass die deutsche Minderheit schon immer ein Stück „Nabelschnur zum deutschsprachigen Kulturgut“ hatte, d.h. dass die Insellage der Deutschen in Ungarn keine völlige Abgeschiedenheit und Isolation von dem Kreislauf der deutschen Kultur und Geschichte bedeutete. Dieser Umstand begünstigte u.a. in der Vergangenheit die Weiterexistenz dieser Minderheit und erleichtert es in der Gegenwart, dass die Ungarndeutschen sich heute noch als eine eigenständige, wenn auch in einem fortgeschrittenen Assimilationsprozess befindliche Minderheit verstehen, die sowohl zahlenmäßig als auch soziologisch erhebbar bleibt. 8.2 Historische und demographische Faktoren Die abwechslungsreiche Geschichte Ungarns, die politische Stellungnahme des Landes in den verschiedenen Epochen der Geschichte bedeutet auch für die ungarndeutsche Minderheit eine Aufgabe der Anpassung und Entscheidung in gewissen brisanten historischen Situationen. Die deutschen Sprachinseln in Ungarn basieren auf den ehemals bodenständigen deutschen Ortsmundarten der Bauernschicht, die in Ungarn eine neue Heimat gefunden haben. Der soziale Status der Sprecher spielte in diesem Teil Europas (wie bei den in westeuropäischen Sprachinselsituation lebenden Minderheiten) beim Erhalt ihrer Sprache eine nicht immer positive Rolle. Besonders nach 1945 war das sprachliche Selbstwertgefühl der ungarndeutschen Minderheit schwer beschädigt; außerdem wurde ihre Sprache von außen stigmatisiert. Beide Begebenheiten führten zur Verdrängung bzw. später zur Aufgabe ihrer Muttersprache. Durch ihr für diese Minderheit typisches Anpassungsvermögen und -bestreben nahm auch die Tendenz zu, ihre ungarndeutsche Identität aufzugeben oder sich zu einer schwebenden Identität zu bekennen. Die heutige Zahl der Ungarndeutschen zeigt ein differenziertes Bild dieser Minderheit: einer sinkenden Zahl der Muttersprachler steht eine steigende Zahl der sich zur deutschen Nationalität und Kultur bekennenden Personen gegenüber (Volkszählung 2001). Die Minderheitenrechte, die erstmals in der Verfassung Ungarns von 1949 verankert waren, erfuhren durch das Gesetz Nr. LXXVII 1993 eine Stärkung, die nicht nur als eine politische Geste der Regierung zu deuten war, sondern auch als ein Selbstbekenntnis der Minderheiten, da der Wunsch ihrer rechtlich fixierten Anerkennung auch von ihnen selbst initiiert wurde. Es wurden drei wichtige Kriterien der Anerkennung einer Bevölkerungsgruppe als Minderheit festgelegt: erstens historische Kontinuität, zweitens eine gemeinsame Sprache und Kultur und drittens das Selbstbekenntnis der Minderheit als Gruppe. Sowohl die individuellen Minderheitenrechte als auch die Gemeinschaftsrechte der Minderheiten bedeuten eine juristische Garantie für die Minderheiten zum Gebrauch ihrer Rechte im Alltag, im privaten und im öffentlichen Bereich. Trotz des Verlustes der Ortsmundarten kann die Entstehung der Minderheitenselbstverwaltungen als Indiz für ein wieder aufkommendes Selbstbewusstsein dieser Gemeinschaft gedeutet werden, das das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärkt, die Assimilation jedoch nicht aufhalten kann. 8.3 Kulturelle Faktoren Aufgrund der geringen Zahl der Minderheitenangehörigen und durch ihre verstreute Lage im Lande kann kaum von einer eigenständigen ungarndeutschen kulturellen Identität gesprochen werden. Spezifikum der ungarndeutschen Minderheit ist ein kulturelles Konglomerat aus der ungarischen Landeskultur und der im familiären Bereich weiter vererbten ungarndeutschen Kultur. Genauso ist auch ihre Identität eine durch zwei Sprachen und zwei Kulturen geprägte doppelte Identität. Zur kulturellen Entfaltung sowohl auf individueller als auf Gemeinschaftsebene gibt es Elisabeth Knipf-Komlósi 314 zahlreiche Möglichkeiten, auf dem Lande vielleicht sogar mehr als in den Städten. Der Landesverein der kulturtragenden und -vermittelnden Institutionen und Vereine (Landesrat der Kulturgruppen) steht für alle Bürger offen. Die kulturellen Aktivitäten der ungarndeutschen Minderheit sind eingebettet in den Rahmen der durch die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutsche initiierte und geförderte Kulturarbeit, die das Ziel hat, die kulturellen Eigenheiten dieser Minderheit am Leben zu erhalten und weiterzugeben; sie tragen die Wesenszüge einer Minderheitenkultur. Die Ungarndeutschen verfügen auch über ein reichhaltiges Kulturangebot, das sie pflegen, aufrechterhalten und verbreiten. Auf institutioneller Ebene verfügen sie über deutschsprachige Medien (Rundfunk, TV, Zeitung), über deutschsprachige Theater, Dorfmuseen, Begegnungsstätten und ein gut ausgebautes Unterrichtsnetz (auch wenn dies kein eigenständiges deutschsprachiges Schulwesen war und ist). Deutsch als L2 kann im Unterricht in Deutsch als Fremdsprache oder im Minderheitenunterricht von allen Bürgern dieses Landes angeeignet werden. 8.4 Soziolinguistische Situation Die heute im Sprachverhalten dieser Minderheit wahrnehmbaren Veränderungen sind zu einem großen Teil auf die Auswirkungen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Ost-Mitteleuropa zurückzuführen. In den letzten Jahren wurden mehrere Erhebungen zur Sprachkompetenz und zum Sprachgebrauch von ungarndeutschen Ortschaften und Sprachgemeinschaften durchgeführt (vgl. Manherz 1978, Erb/ Knipf 2000, Gerner 2003, Jäger-Manz 2004). Die Ergebnisse zeigen eindeutig die Tendenz des Dialektabbaus und Dialektschwunds, gleichzeitig jedoch auch eine Zuneigung und Zuwendung zur deutschen Sprache und Kultur der Gegenwart. Dies letztere wird oft mit der wirtschaftlichen Bedeutung des Deutschen im heutigen Europa begründet, doch im Falle der Minderheit kann es zugleich auch als eine bewusste (oder nicht-bewusste) Revitalisierungsmaßnahme ihrer eigenen Sprache und Kultur interpretiert werden. Es kann bei den Ungarndeutschen heute von einem deutlichen Sprachbewusstsein gesprochen werden, was sich nicht nur auf das Verstehen von Sprache, sondern auch auf Kenntnisse über die Sprache wie das Erkennen verschiedener Existenzformen der deutschen Sprache, bezieht. Der Kompetenzgrad in einer der Varietäten des Deutschen gestaltet sich bei den Sprechern in den einzelnen Generationen freilich sehr unterschiedlich. Die große sprachliche Wende vollzog sich bei dieser Minderheit im 20. Jahrhundert. Es erfolgte ein Sprachwechsel in der Richtung und zeitlichen Distanz von Norden nach Süden: Was vor 1945 die Nähesprache dieser Minderheit war, wurde danach allmählich zu ihrer Distanzsprache, während die Landessprache zur Nähesprache avancierte. Nur noch in den ältesten Generationen kann eine aktive Mundartkompetenz in Form einer Muttersprache nachgewiesen werden. Bei den anderen Generationen ist generell eine Dialekterosion, sogar ein Dialektverlust zu verzeichnen. Wird hier über Dialektkompetenz gesprochen, dann ist stets von Gesprochensprachlichkeit die Rede, nicht aber von Schriftlichkeit, die bei dieser Minderheit nicht voll ausgebaut war. Der fortschreitende Assimilationsprozess der deutschen Minderheit geht auf sprachlicher Ebene einher mit dem Verlust der lokalen Dialekte zugunsten des Ungarischen, der Landessprache. Dennoch lässt sich eine starke emotionale Bindung an eine ungarndeutsche Identität festhalten, auch bei Menschen, die keine aktiven Mundartsprecher mehr sind und nur über eine eingeschränkte Verstehenskompetenz verfügen. Diese Doppelidentität bedeutet, dass die Angehörigen dieser Minderheit voll und ganz in Ungarn sozialisiert wurden; man ist sich dabei aber seiner familiären, historisch-kulturellen und sprachlichen Wurzeln bewusst. Der Prestigewert der einzelnen Sprachen und Varietäten hat sich seit der großen Ansiedlung bis in unsere Tage des Öfteren und von Grund auf geändert. Auch in den letzten fünfzig Jahren sind wir Zeugen eines Presti- 7. Ungarn 315 gewandels des Deutschen. Prestigeträchtig waren für diese Minderheit schon immer einerseits die ungarische Sprache und andererseits das „noblere Deutsch“ der Intelligenzschicht der Ungarndeutschen; die Ortsmundarten waren lange Zeit stigmatisiert und wurden so aus dem Alltagsgebrauch verdrängt, was auch maßgebend zu ihrem Abbau beigetragen hat. Heute ist der Prestigewert der deutschen Sprache - insbesondere auch wegen des EU- Beitritts - im Allgemeinen gestiegen; die Dialekte werden zwar nicht mehr abgewertet, doch aus dem Sprachrepertoire dieser Sprecher sind sie nunmehr weitgehend verschwunden. Ob die im gesteuerten Deutschunterricht erlernte deutsche Sprache die Funktionen und Domänen der Ortsmundarten übernehmen kann und wird, hängt von sehr vielen internen und externen Faktoren des Lebens dieser Sprachinselminderheit ab. 9 Literatur Árkossy, Katalin (1997): Sprache und Gesellschaft eines ungarndeutschen Bergmannsdorfes im Spiegel seines Liedergutes. 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Rumänien 8 Johanna Bottesch Inhalt 1 Geographische Lage ................................................................................................................ 331 2 Demographie und Statistik ..................................................................................................... 332 3 Geschichte ................................................................................................................................ 333 3.1 Zur Geschichte der Rumäniendeutschen vor 1918 ....................................................... 333 3.2 Zur Geschichte der Deutschen in Rumänien nach 1918.............................................. 342 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung .................................................................... 344 4.1 Wirtschaftliche Situation ................................................................................................... 344 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien ................................................................... 345 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, Sprachregelungen ......................... 346 5 Soziolinguistische Situation .................................................................................................... 348 5.1 Kontaktsprachen ................................................................................................................ 348 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ................................................................. 349 5.2.1 Regionaler Standard (geschrieben und gesprochen) ........................................... 349 5.2.2 Umgangssprache...................................................................................................... 351 5.2.3 Dialekte ..................................................................................................................... 352 5.2.4 Sprechergruppenspezifische Verteilung der Sprachformen .............................. 356 5.2.5 Sprachliche Charakteristika der regionalen Standardvarietät............................. 359 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung ......................................................... 365 6 Sprachgebrauch und -kompetenz .......................................................................................... 366 6.1 Allgemeines ......................................................................................................................... 366 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten ....... 367 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen .............. 371 6.3.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte.................................................. 372 6.3.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte ............................................... 375 6.3.3 Der Sprachgebrauch in den anderen Untersuchungsgebieten .......................... 377 6.3.4 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch................ 377 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen.................................................................. 379 7 Spracheinstellungen................................................................................................................. 381 7.1 Affektive Bewertung .......................................................................................................... 381 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation ............................................................................................. 383 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal ................... 385 8 Faktorenspezifik ...................................................................................................................... 387 8.1 Geographische Faktoren ................................................................................................... 387 8.2 Historische und demographische Faktoren.................................................................... 387 8.3 Kulturelle Faktoren ............................................................................................................ 388 8.4 Soziolinguistische Situation............................................................................................... 388 9 Literatur .................................................................................................................................... 388 10 Anhang: Beispieltext................................................................................................................ 391 1 Geographische Lage Rumänien hat eine Fläche von 237.502 km 2 und eine Bevölkerung von rund 21.700.000 Menschen, wovon die ethnischen Minderheiten heute etwa 10 Prozent ausmachen. Das Land ist in 42 Verwaltungskreise eingeteilt; die großen historischen Provinzen sind die Moldau, die Walachei und Siebenbürgen. Bestimmende Elemente der Geographie Rumäniens sind die Karpaten, die Donau und das Schwarze Meer. Letztere begrenzen das Land im Süden und im Südosten, während die Karpaten es in weitem Bogen durchziehen. Sie verlaufen von Norden in süd-südöstlicher Richtung (Ostkarpaten), bilden dann ein Knie und nehmen als Südkarpaten eine Ost-West-Richtung an, um schließlich südwestwärts zur Donau hinzuschwenken. Ungefähr entlang dieses Bogens verlief ehemals die Ostgrenze der österreichisch-ungarischen Monarchie, die - sieht man von der Dobrudscha ab - zugleich die Ostgrenze der einst teilweise deutsch besiedelten Gebiete des heutigen Rumänien ist. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall, denn die Ansiedlung von Deutschen hing zusammen mit dem von Ungarn im Mittelalter und von Österreich ab dem 18. Jahrhundert verfolgten Landesausbau. Im Zentrum des Landes, innerhalb des Karpatenbogens, liegt Siebenbürgen, das bereits Mitte des 12. Jahrhunderts eine größere Zahl deutscher Siedler, die „Siebenbürger Sachsen“, aufnahm. Die natürlichen Grenzen Siebenbürgens werden fast rundum von Gebirgskämmen gebildet: im Norden und Osten von den Ostkarpaten (bis 2.305 m), im Süden von den Südkarpaten (der höchste Gipfel ist der Moldoveanu, 2.544 m), im Westen vom Rumänischen Westgebirge (bis 1849 m), wobei zahlreiche Pässe, nach Westen hin aber auch das weite Miereschtal die Verbindung zu den umliegenden Gebieten ermöglichen. Das Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen umfasst: - einen südsiebenbürgischen Teil mit Broos/ Or\^tie, Mühlbach/ Sebe^, Hermannstadt/ Sibiu, Mediasch/ Media^, Schässburg/ Sighi- ^oara und Reps/ Rupea als städtischen Zentren, - das Burzenland, eine Senke im Karpatenknie mit dem Zentrum Kronstadt/ Bra^ov und - das Nösnerland im Nordosten Siebenbürgens mit den Städten Bistritz/ Bistri a und Sächsisch Reen/ Reghin. Siebenbürgen ist mit einer Fläche von nahezu 56.000 km² größer als Belgien oder die Schweiz. Das von Bergen umgebene Hochland fällt von Osten nach Westen hin ab (von über 800 m auf etwa 300 m), was den Flüssen eine Ost-West-Richtung verleiht. In Siebenbürgen haben im 18. und 19. Jahrhundert weitere Siedler aus dem deutschen Sprachraum eine Heimat gefunden: die aus Baden-Württemberg kommenden und vor allem in Mühlbach ansässig gewordenen „Durlacher und Hanauer“, die aus dem katholischen Österreich ihres evangelischen Glaubens wegen ausgewiesenen „Landler“ (Hermannstadt und Umgebung) sowie die kurz vor der Revolution von 1848 nach Siebenbürgen gerufenen Schwaben (zwischen Mühlbach und Broos). Von diesen siebenbürgischen Spätsiedlern haben bloß die Landler ihre Mundart und dadurch auch eine eigene Gruppenidentität bis heute bewahrt. Flacher als Siebenbürgen und tiefer gelegen sind die Siedlungsgebiete deutscher Gruppen im Westen Rumäniens. Dazu gehört im äußersten Nordwesten der Kreis Sathmar, wo ab 1712, dem Ruf ungarischer Adliger folgend, sich Bauern aus Oberschwaben niederließen. Das Siedlungsgebiet dieser als „Sathmarer Schwaben“ bekannten Gruppe ist zum großen Teil eine Verlängerung der ungarischen Tiefebene. Die wenigen Berge steigen im Osten (F\get- oder Buchengebirge) nur bis 575 m an und überschreiten im Norden (Oa^-Gebirge) knapp 800 m. Von den Flüssen, die westwärts fließen, um dann auf ungarischem Gebiet in die Theiß zu münden, sind vor allem der Somesch (auch Samosch oder Samisch) und die Krasna zu nennen. Auch das im Südwesten des Landes gelegene Banat, das einst mehr deutsche Einwohner hatte als jede andere Provinz des heutigen Rumänien, besteht in seinem westlichen Teil aus einer Tiefebene und steigt nach Johanna Bottesch 332 Osten hin an. Hier verläuft der Anstieg allerdings bis ins Hochgebirge, denn an der Ostgrenze des Banats überschreiten mehrere Gipfel die Höhe von 2.000 m (höchste Spitze: Godeanu, 2.229 m). Anfang des 18. Jahrhunderts (die Ansiedlung der „Banater Schwaben“ erfolgte ab 1718) war der flache Westen weitgehend von Sümpfen und Mooren bedeckt, die durch Entwässerung in fruchtbares Ackerland umgewandelt wurden. Das historische Banat, 1718 von den Türken an Österreich abgetreten und später zum Großteil dem ungarisch verwalteten Gebiet der Habsburgermonarchie angeschlossen, wird im Osten von dem bereits erwähnten Gebirge, im Übrigen aber von drei Flüssen begrenzt: dem Mieresch (auch die Marosch genannt) im Norden, der Theiß im Westen und der Donau im Süden. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel der westliche Teil des Banats an Jugoslawien, ein kleiner Flecken im Nord-Westen blieb bei Ungarn, der weitaus größte Teil kam zu Rumänien. Zu diesem heute rumänischen Banat gehört auch das Banater Bergland mit dem Hauptort Reschitza/ Re^i a, in dem sich eine einst bedeutende Hüttenindustrie entwickelte. Die Hauptstadt des Banats, Temeswar/ Timi^oara, liegt in der Heide in einer Höhe von weniger als 100 m über dem Meeresspiegel. Gebirgig ist hingegen die Landschaft im Norden Rumäniens, in der ab 1876 Waldarbeiter aus Oberösterreich und der Zips (heute in der Slowakei) angesiedelt wurden. Diese insgesamt als „Zipser“ bekannte deutschsprachige Gruppe bevölkerte die waldreiche Gegend entlang des Wasserflusses (rum. râul Vaser) mit dem Hauptort Oberwischau/ Vi- ^eul des Sus, in der Maramurescher Senke der Karpaten gelegen. Weiter östlich, am Außenrand des Karpatenbogens erstreckt sich die Bukowina, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, nachdem sie unter österreichische Verwaltung gelangt war, Siedler verschiedener Muttersprache, darunter auch eine beträchtliche Zahl Deutscher, aufnahm. Zwischen Galizien und der Moldau gelegen, ist die Bukowina in beide Richtungen „offen“, d.h. nicht durch natürliche Grenzen abgetrennt. Vom Dnjester im Nordosten gerade noch berührt, wird sie von mehreren Flüssen, darunter vom Pruth und dem Sereth, die in Richtung des Schwarzen Meeres südostwärts fließen, durchzogen. Die nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien gefallene Bukowina blieb nur bis 1940 als Ganzes unter rumänischer Verwaltung. Der Norden musste damals an die Sowjetunion abgetreten werden und gehört heute zur Ukraine. Das östlichste Gebiet des heutigen Rumänien mit einst teilweise deutschsprachiger Bevölkerung ist die Dobrudscha. Zwischen der Donau und dem Schwarzen Meer gelegen, gehört ihr nördlicher Teil zu Rumänien, der südliche zu Bulgarien. Von Norden nach Süden erstreckt sich, parallel zur Küste, eine Hügelkette, deren größte Höhe im Norden erreicht wird (M\cin-Gebirge, 459 m). Kleinere Gewässer fließen von der Mitte dieses Hochlandes entweder westwärts in die Donau oder ostwärts ins Schwarze Meer. 2 Demographie und Statistik Bei der Volkszählung von 2002 haben sich in Rumänien knapp 60.000 Personen als Deutsche erklärt, von denen allerdings bloß 42.000 Personen angeben, Deutsch als Muttersprache zu haben. 1 Ein Jahrzehnt davor waren in Rumänien noch doppelt so viele Deutsche erfasst worden, während 1940, als das Land in den Zweiten Weltkrieg eintrat, auf seinem damaligen Gebiet 800.000 Deutsche lebten. Über die Aufteilung nach Regionen 1940 gibt Tabelle 1 Auskunft (Wagner 1991: 40). Das damalige „Großrumänien“ bestand aus dem heutigen Landesgebiet, zusätzlich Bessarabien, der Nordbukowina und der Süddobrudscha, die bereits 1940 an die Sowjetunion bzw. an Bulgarien abgetreten wurden. Die deutschsprachige Bevölkerung aus der Bukowina, aus Bessarabien und aus der Dobrudscha (insgesamt 215.000 Personen, Wagner 1991: 40) wurde aufgrund von Verträgen zwischen Deutschland und der Sowjetunion bzw. Rumänien während der Kriegsjahre in Gebiete des Deutschen Reiches umgesiedelt. 1 ISN (2003), Tabelle 17: Von den Personen, die sich als Deutsche erklärt haben, geben rund 11.000 Rumänisch als Muttersprache an, etwa 6.500 Ungarisch. 8. Rumänien 333 Historische Provinz Personen (gerundet) Anteil an der Gesamtbevölkerung der Provinz Banat (mit dem Kreis Arad) 280.000 20 % Siebenbürgen 250.000 8 % Bukowina 85.000 9 % Bessarabien 85.000 3 % Altrumänien (Walachei und Moldau) 45.000 0,5 % Sathmar, Nordwestrumänien 40.000 2,5 % Dobrudscha 15.000 1,5 % Gesamt 800.000 4 % Tabelle 1: Deutsche in Großrumänien 1940, Aufteilung nach Regionen Einen weiteren zahlenmäßigen Rückgang der Rumäniendeutschen brachten der Krieg, die darauf folgende Deportation in die Sowjetunion (1945-1949) und die in den Sechzigerjahren einsetzende Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung der Bevölkerungszahlen auf dem Gebiet des heutigen Rumänien ist in den Tabellen 2 und 3 2 zusammengefasst. Einen höheren prozentualen Anteil als die Deutschen haben im Jahr 2002 noch die Roma (2,4 Prozent), einen ungefähr gleichen die Ukrainer (0,3 Prozent) (INS 2003: Tabelle 14). 3 Geschichte 3.1 Zur Geschichte der Rumäniendeutschen vor 1918 Die unterschiedlichen Ansiedlungszeiten und -gebiete sowie die verschiedenartige historische Entwicklung der deutschsprachigen Gruppen in Rumänien machen Einzeldarstellungen ihrer Geschichte notwendig. Die folgen- 2 Die Angaben für das Jahr 1930 beziehen sich in diesen beiden Tabellen auf das Gebiet des heutigen Rumänien, d.h. ohne Bessarabien, die Nordbukowina und die Süddobrudscha (die 1930 ebenfalls zu Rumänien gehörten).Quelle der Angaben: für die Jahre 1930, 1977, 1992 (mit Ausnahme der Landler) aus: CNS (1995: 2-13); für das Jahr 2002 (mit Ausnahme der Landler) aus: INS (2003: Tabelle 14); für die Landler aus: Bottesch 2002: 125 ff. den Darstellungen werden in der Reihenfolge der Ansiedlung der Gruppen gebracht. Die Siebenbürger Sachsen Im Unterschied zu allen anderen deutschen Siedlergruppen, die es auf dem Gebiet des heutigen Rumänien seit dem 18. und zum Teil erst seit dem 19. Jahrhundert gibt, haben die Siebenbürger Sachsen eine 850-jährige Geschichte. Sie beginnt mit der Ansiedlung um das Jahr 1150 und kann im Hinblick auf die staatliche Zugehörigkeit Siebenbürgens folgendermaßen gegliedert werden: - 1150-1541: Siebenbürgen ist Teil des mittelalterlichen Ungarn. - 1541-1691: Siebenbürgen ist selbstständiges Fürstentum unter türkischer Oberhoheit. - 1691-1867: Siebenbürgen ist eine Provinz Österreichs. - 1867-1918: Siebenbürgen ist Teil Ungarns im Rahmen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. - Ab 1918: Siebenbürgen gehört zu Rumänien. Die Tatsache, dass sich eine deutschsprachige Gruppe, die während der ganzen Dauer ihres Bestehens eine kleine Minderheit war 3 - ab dem 18. Jahrhundert machte sie kaum mehr als ein Zehntel der Bevölkerung Sieben- 3 Der Hauptteil der Bevölkerung Siebenbürgens bestand aus Rumänen, Ungarn und Seklern (diese ebenfalls ungarischsprachig). Johanna Bottesch 334 Gruppe 1930 1977 1992 2002 Banater Schwaben (Kreise Arad, Temesch) 237.000 138.000 36.000 19.000 Banater Berglanddeutsche (Kreis Karasch-Severin) 37.000 22.000 12.000 6.150 Siebenbürger Sachsen (neun siebenbürgische Kreise) 232.000 172.000 41.000 18.000 Landler (Kreis Hermannstadt) 5.000 5.000 450 150 Sathmarschwaben (Kreise Sathmar, Bihor, Salasch) 27.000 8.000 16.000 7.700 Zipser (Kreis Maramuresch) 3.600 3.500 3.400 2.000 Bukowinadeutsche (Kreis Suceava = Südbukowina) 46.000 2.200 2.300 1.800 Dobrudschadeutsche (Kreise Tulcea, Konstanza) 12.000 650 680 400 Bukarest (nur die Hauptstadt) 14.400 5.500 4.400 2.350 Deutsche in anderen Gebieten Rumäniens 19.000 2.150 3.270 2.150 Gesamt 633.000 359.000 119.500 59.800 Tabelle 2: Deutsche auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens (gerundete Zahlen) bürgens aus -, über achteinhalb Jahrhunderte unter derart wechselvollen Bedingungen erhalten konnte, ist vor allem auf zwei Umstände zurückzuführen: Einerseits war den Siebenbürger Sachsen von den ungarischen Königen das Recht auf Selbstverwaltung verliehen worden, das sie bis ins späte 19. Jahrhundert, wenn auch in zunehmend eingeschränktem Maße, ausüben konnten; andererseits ist die Verbindung der Siebenbürger Sachsen zum deutschsprachigen Raum nie abgebrochen. Hinzu kommt eine durch die Selbstverwaltung begünstigte kirchliche und kulturelle Entwicklung: Der geschlossene Übergang der Siebenbürger Sachsen zur evangelischen Konfession (1542-1550) führte zur Entstehung einer eigenen „Volkskirche“ mit Deutsch als Verkündigungssprache und zum Ausbau des eigenen, konfessionellen (und daher deutschsprachigen) Schulwesens. Die Frage nach der Herkunft der Siebenbürger Sachsen wurde vielfach untersucht; da schriftliche Zeugnisse dazu aus der Zeit der Ansiedlung fast gänzlich fehlen, sind entscheidende Einsichten von den Mundartforschern eingebracht worden. Eine um die Wende zum 20. Jahrhundert vor allem von der Nösner Germanistenschule (Georg Keintzel, Gustav Kisch, Richad Huss u.a.) vertretene These, die „Urheimat“ der Sachsen lasse sich auf Grund von vergleichenden Sprachstudien genau lokalisieren und sei in einem begrenzten geographischen Raum - man meinte, in Luxemburg - zu suchen, erwies sich bald als unhaltbar. Dazu hat auch eine ernüchternde Luxemburgfahrt von siebenbürgisch-sächsischen Wissenschaftlern aus dem Jahr 1905 beigetragen (Rein 1983: 194). Obwohl die „Urheimatthese“ von Andreas Scheiner, Hermine Pilder-Klein und Karl Kurt Klein widerlegt worden war, bestimmte die von der Populärwissenschaft und der neuromantischen Dichtung übernommene Vorstellung von einer fest umrissenen Urheimat in Luxemburg noch lange das siebenbürgisch-sächsische Gemeinbewusstsein (Rein 1983: 195 f.). Nach heutiger Erkenntnis kamen die ersten Siedler aus westrheinischen Gebieten und waren nicht ausschließlich deutschsprachig: „Flamen, Franken und Wallonen folgten als erste dem Ruf nach Ungarn und Siebenbürgen“ (Nägler 1992: 111). Die frühen urkundlichen Bezeichnungen für diese Siedler (priores flandrenses, alii flandrenses, theutonici, saxones, latini) deuten nicht nur auf die verschiedene 8. Rumänien 335 1930 1977 1992 2002 Rumänen 77,8 % 88,1 % 89,4 % 89,4 % Ungarn 9,9 % 7,9 % 7,1 % 6,6 % Deutsche 4,4 % 1,6 % 0,5 % 0,3 % Tabelle 3: Prozentualer Anteil von Rumänen, Ungarn und Deutschen Sprachzugehörigkeit hin, sondern auch auf unterschiedliche Ansiedlungszeiten (Capesius 1993: 72). Eine Ansiedlung in mehreren Etappen wird von den Historikern auch auf Grund anderer Erwägungen angenommen. Fest steht, dass anfangs die Siedler aus dem mittleren Westen Europas kamen, später aber die Binnenkolonisation an Bedeutung gewann. Nach Thomas Nägler (1992: 141ff. und Karte XIX) wurde ab der Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst ein Streifen Südsiebenbürgens entlang der Karpaten „sächsisch“ besiedelt, es folgten im 12. und 13. Jahrhundert das Nösnerland in Nordsiebenbürgen, ab 1211 das Burzenland im Südosten, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Gebiet zwischen Altland und Großer Kokel und als letztes das Zwischenkokelgebiet. Nägler nennt die Siebenbürger Sachsen „Sammelkolonisten“ und führt aus: „Schriftliche Quellen, Sachkultur und Mundart, vor allem aber der Verlauf der deutschen Geschichte und ihrer Ostsiedlung im allgemeinen führen uns auf der Suche nach der sächsischen Herkunft in viele weit auseinander liegende Gebiete des Deutschen Reiches des 12. und 13. Jahrhunderts. Als Räume der sächsischen Herkunft mag ich bloß den Nordsaum auszuschließen, der sich von Friesland über Niedersachsen bis Mecklenburg erstreckt ohne in der Lage zu sein, die Breite dieses Streifens näher angeben zu können“ (Nägler 1992: 111). Dem entspricht auch die große Buntscheckigkeit der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten, die in ihrer Gesamtheit aber auch einheitliche Züge aufweisen und mit den Mundarten aus dem west-mitteldeutschen Raum und Luxemburg weit mehr Ähnlichkeit haben als mit deutschen Mundarten aus anderen Gebieten (Capesius 1993: 71). Die den deutschen Siedlern von den ungarischen Königen verliehenen Rechte (festgeschrieben im „Goldenen Freibrief“ von König Andreas II. aus dem Jahr 1224) waren großzügig: Die Siedler, die ihre Pfarrer und Richter selbst wählen durften, waren von jeder fremden Gerichtsbarkeit befreit; Wald und Gewässer durften sie frei nutzen, ohne dafür Abgaben leisten zu müssen; Adlige konnten auf dem den Siedlern zugeteilten Gebiet keinen Besitz erwerben. Dafür mussten die „Gäste“ dem König Abgaben und bei Kriegszügen Heerfolge leisten, wobei der Umfang genau festgelegt war. Durch den erwähnten Freibrief wurde das gesamte Ansiedlungsgebiet in Südsiebenbürgen - das Land „zwischen Broos und Draas“ (Draas bei Reps) - dem Hermannstädter Grafen unterstellt und somit zu einer politischen und verwaltungsmäßigen Einheit gemacht (Gündisch 1998: 40f.). Die Entstehung der „Sächsischen Nation“ als einem auf ethnischer Grundlage gebildeten Rechtsverband fand allerdings erst 1486 ihren Abschluss, als König Matthias Corvinus dem Wunsch führender sächsischer Kreise entsprach und die Rechte des Andreanischen Freibriefes auf alle von den Sachsen verwalteten Gebiete (den so genannten „Königsboden“) ausdehnte. Nun konnte eine Körperschaft geschaffen werden, die sich mit Fragen der Politik, der Verwaltung und des Rechts der Siebenbürger Sachsen befasste. Sie bestand aus Vertretern aller sächsisch verwalteten Gebiete und trug den Namen „Sächsische Nationsuniversität“ (abgeleitet von lat. universitas saxonum, d.h. Gesamtheit aller Sachsen). Zwischen den in der Regel jährlichen Zusammenkünften der Nationsuniversität oblagen die laufenden Aufgaben der Verwaltung des Königsbodens dem Magistrat der Stadt Hermannstadt. Die zur Zeit des mittelalterlichen Königreichs Ungarn entstandenen politischen und administrativen Strukturen der Siebenbürger Johanna Bottesch 336 Sachsen bewährten sich auch, als Siebenbürgen selbstständiges Fürstentum unter türkischer Oberhoheit war (1541-1691). Das Fürstentum gründete sich auf drei „ständische Nationen“, aus deren Vertretern sich der Landtag zusammensetzte. Diese drei Stände, der ungarische Adel, die ebenfalls ungarischsprachigen Sekler und die Siebenbürger Sachsen, wählten den Fürsten, der vom Sultan bestätigt werden musste, das Land jedoch weitgehend autonom regieren konnte. Um ihre politische Position und das Recht auf Selbstverwaltung zu wahren, mussten die Sachsen häufig die Übergriffe des Adels abwehren, doch konnten sie sich dank der wirtschaftlichen Kraft ihrer Städte im Allgemeinen behaupten. Das Fürstentum lag allerdings auch in der Interessensphäre Österreichs, es kam wiederholt zu Kriegen, was die Sachsen dazu veranlasste, ihre Städte zu befestigen und in den Dörfern Kirchenburgen zu errichten. Eine Festigung ihrer Autonomie erreichten die Siebenbürger Sachsen durch die geschlossene Annahme des lutherischen Glaubensbekenntnisses um die Mitte des 16. Jahrhunderts unter ihrem Reformator, dem Kronstädter Humanisten Johannes Honterus. Der siebenbürgische Landtag erkannte die lutherische Kirche 1557 an, bald darauf dann die reformierte (nach Calvin) sowie die unitarische (antitrinitarische). Humanismus und Reformation leiteten bei den Siebenbürger Sachsen eine kulturelle Blütezeit ein, und es kam zu einer Umgestaltung und zu einem Ausbau des Schulwesens. Der schrittweise Verlust der sächsischen Sonderrechte begann mit dem Übergang Siebenbürgens unter österreichische Herrschaft (1691). Zwar erkannte Leopold I. die siebenbürgische Verfassung an, doch die Bedeutung der Stände schwand zusehends, die wichtigen Entscheidungen wurden in Wien getroffen und die Kompetenzen der siebenbürgischen Verwaltungsstrukturen immer mehr verringert. Als bedeutendster sächsischer Politiker in österreichischer Zeit gilt Samuel von Brukenthal, der in Wien Karriere machte und 1777- 1788 das höchste Amt in Siebenbürgen, das des Gouverneurs, bekleidete. Für die Sachsen konnte er eine Erleichterung der drückenden Steuerlast erwirken. Als großer Kunstliebhaber hinterließ Brukenthal umfangreiche Sammlungen von Gemälden, Antiquitäten, Münzen u.a., mit denen 1817 in seinem Palais in Hermannstadt das erste Museum Südosteuropas, das Brukenthalmuseum, eingerichtet wurde. Als Kaiser Joseph II. (1780-1790) die Selbstverwaltung der Sachsen vorübergehend auflöste, sahen diese ihren Untergang nahen. War es ihnen bis dahin gelungen, Andersnationalen das Bürgerrecht in ihren Städten zu verweigern, so sah das Concivilitäts-Rescript Josephs II. vor, dass sowohl Ungarn als auch Rumänen auf dem Königsboden mit den Sachsen con-cives, also Mitbürger mit gleichen Rechten, sein sollten. Die alte Verfassung wurde zwar nach dem Tode des Kaisers wieder eingeführt, doch hatten die Sachsen im darauf folgenden Jahrhundert bei dem Versuch, ihre Rechte zu wahren, einen immer schwereren Stand, da sowohl die Madjaren als auch die bis dahin weitgehend rechtlos gebliebenen, hingegen an Zahl allen anderen Völkerschaften überlegenen Rumänen ihre nationalen Belange durchzusetzen trachteten. Im Übrigen war das aus dem Mittelalter überkommene politische System des Landes nicht mehr zeitgemäß. Nach dem staatlichen Anschluss Siebenbürgens an Ungarn, der mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) einherging, kam es bald (1876) zur endgültigen Auflösung des sächsischen Selbstverwaltungsgebietes. Die Siebenbürger Sachsen wurden zu einer nationalen Minderheit im modernen Sinn. Sie waren, zusammen mit allen anderen nicht madjarischen Bevölkerungsgruppen Ungarns, der von der Regierung betriebenen Madjarisierung ausgesetzt, die sie jedoch dank ihrer gefestigten schulischen und kirchlichen Strukturen unbeschadet überstanden. Die Existenz eines siebenbürgisch-sächsischen Schulwesens ist seit dem 14. Jahrhundert urkundlich bezeugt. Aus der Vielzahl von Belegen über Schulhäuser und Schulmeister bis 1540 lässt sich schließen, dass bereits in vorreformatorischer Zeit nicht nur in den sächsischen Städten, sondern auch in den sächsischen Dörfern in der Regel Schulen bestanden haben (Philippi 1996: 130f.). Die Reformation brachte die Umwandlung der städti- 8. Rumänien 337 schen siebenbürgisch-sächsischen Schulen in humanistische Gymnasien mit sich, eine Entwicklung, die auch auf ländliche Gebiete ausstrahlte. Die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen wurde von der Synode der evangelischen (sächsischen) Kirche Siebenbürgens im Jahr 1722 ausgesprochen (König 1996a: 283). Als Maria Theresia 1765 die statistische Erfassung aller Schulen der „sächsischen Nation“ anordnete, war der Befund beachtlich: 5 Gymnasien (in Hermannstadt, Kronstadt, Schässburg, Mediasch und Bistritz), 16 höhere Volksschulen, in denen einige Schüler auch Lateinunterricht erhielten, und 236 gewöhnliche Volksschulen - wobei die „Nation“ damals aus nicht mehr als etwa 125.000 Personen bestand (König 1996a: 285). Schulträger waren die Gemeinden. Bei der Auflösung des Königsbodens und der Nationsuniversität (1876) gelang es, einen Teil des Vermögens der Nationsuniversität in eine Stiftung einzubringen, die (bis zu ihrer Auflösung durch die rumänische Regierung 1937) die Kosten des höheren sächsischen Schulwesens mit trug. Ein eigenes Hochschulwesen hatten die Siebenbürger Sachsen - sieht man von der Rechtsfakultät in Hermannstadt in den Jahren 1844 bis 1888 ab - nicht. Siebenbürger Sachsen studierten über Jahrhunderte hindurch an westlichen Universitäten, was zur Folge hatte, dass auch die Impulse für das sächsische Geistesleben zumeist aus Deutschland kamen. Die Sathmarer Schwaben Siedler aus dem deutschsprachigen Raum hatten sich in der Gegend um Sathmar/ Satu Mare im äußersten Nordwesten des heutigen Rumänien - bis 1918 gehörte das Gebiet zu Ungarn - bereits ab dem 11. Jahrhundert niedergelassen. Im Jahr 1230 stellte König Andreas II. diesen Siedlern, ähnlich wie sechs Jahre zuvor den Siebenbürger Sachsen, einen Freibrief aus, doch trotz weiteren Zuzugs deutscher Handwerker in den darauf folgenden Jahrhunderten blieb von den mittelalterlichen deutschsprachigen Siedlergruppen keine bis in die Gegenwart bestehen. Die ersten Vorfahren der heute im Sathmarer Gebiet lebenden Schwaben kamen 1712 ins Land, dem Ruf des Grafen Alexander Károlyi folgend, der seine durch Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien entvölkerten Dörfer neu besiedeln wollte. Ab 1720 folgten weitere Züge, so dass am Anfang des 19. Jahrhunderts etwa 40 Siedlungen gezählt wurden, in denen die Schwaben allein oder zusammen mit Madjaren und Rumänen lebten. Zu einem sathmarschwäbischen Zentrum wurde das Städtchen Großkarol/ Carei. Die Sathmarer Schwaben stammen in ihrer großen Mehrheit aus Oberschwaben - daher ihre alemannische Mundart -, waren römisch-katholisch und wurden als Fronbauern, zu einem kleinen Teil als Handwerker angesiedelt. Zwar hatten die sathmarschwäbischen Dörfer in der ersten Zeit nach ihrer Gründung eine deutschsprachige Verwaltung, Schulen und Kirchen mit deutscher Unterrichtsbzw. Verkündigungssprache, doch bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte die Madjarisierung ein. Sie wurde von der katholischen Kirchenleitung voll unterstützt, die 1836 die Einführung der ungarischen Sprache in der Schule und zum Teil auch in der Kirche vorschrieb (Berner 1996: 208). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Madjarisierung der Sathmarer Schwaben bereits weit fortgeschritten. Unter den Geistlichen, die diesen Prozess im Allgemeinen unterstützten, gab es auch einige, die ihm entgegen wirkten. Zu diesen zählt Michael Haas aus Fünfkirchen/ Pécs, der 1858-1866 das Bischofsamt in Sathmar bekleidete und als „Retter“ der Sathmarschwaben gilt. Er setzte sich dafür ein, dass in den Schwabendörfern wieder in deutscher Sprache gepredigt und unterrichtet wurde. Der Erfolg währte allerdings nur kurze Zeit, denn nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) wurde die allgemeine Einführung der ungarischen Sprache im Sathmarer Gebiet konsequent umgesetzt. Deutsch war nun in den Schulen nicht mehr Unterrichtssprache, sondern bestenfalls noch Unterrichtsfach und verschwand bald ganz. Die Madjarisierung hatte jedoch nicht in allen sathmarschwäbischen Gemeinden die gleiche Wirkung. Während sie in der Ebene Johanna Bottesch 338 schneller voranschritt, waren die Gemeinden am Rande des Buchengebirges weniger davon betroffen (Berner 1996: 208f.). Die Banater Berglanddeutschen Das über den östlichen Teil des Banats sich erstreckende Banater Bergland deckt sich flächenmäßig ungefähr mit dem heutigen Verwaltungskreis Karasch-Severin. Nachdem im Jahr 1718 die Türken das Banat an Österreich abgetreten hatten, ging die Wiener Regierung daran, den Bergbau, der in dieser Gegend zwar Tradition hatte, aber zur Zeit der Türken vernachlässigt worden war, wieder zu beleben (Hromadka 1995: 25/ 30). Bereits 1720 wurden Bergleute aus Österreich (aus der Steiermark, aus Tirol und aus Oberösterreich), aus Böhmen und aus der Zips angesiedelt, ebenso auch Polen, Tschechen, Italiener und Franzosen als Fachkräfte im Bergbau, im Forst- und Hüttenwesen. Die Ansiedlung im Banater Bergland dauerte bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei die Siedler aus verschiedenen Teilen der österreichischen Monarchie angeworben wurden. Sowohl vor als auch nach dieser Ansiedlung bildeten die Rumänen die Bevölkerungsmehrheit im Banater Bergland. Sie betrieben vor allem Ackerbau und Viehzucht (Hromadka 1995: 30/ 43). Die Mehrheit der im Bergbau Beschäftigten hatte als Muttersprache Deutsch. Von den übrigen Zuwanderern nahmen nach einigen Generationen viele ebenfalls die deutsche Sprache als Muttersprache an. Ortschaften, die im 18. Jahrhundert deutsche Siedler in größerer Zahl erhielten sind u.a. Dognatschka/ Dognecea, Bokschan/ Boc^a und Reschitza/ Re^i a. Als im Jahr 1778 das Banat dem ungarischen Teil der Habsburger Monarchie angeschlossen wurde, blieben das Montangebiet und die Militärgrenze weiterhin unter österreichischer Verwaltung (Hromadka 1995: 44). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Deutsche in Russberg/ Rusca Montan\ (1804) und Neukaransebesch (1812) angesiedelt. In den Jahren 1827 bis 1828 entstanden die deutschböhmischen Siedlungen Wolfswiese, Wolfsberg/ G\râna, Lindenfeld und Weidenthal/ Brebu Nou, nachdem der Versuch, in dieser hochgelegenen Gegend Rumänen anzusiedeln, misslungen war. Der Zweck dieser Dorfgründungen war die Nutzung der Wälder und die Überwachung der Grenze (Lup^iasca 2002). Im Unterschied zu den Banater „Schwaben“ werden die deutschsprachigen Bewohner des Banater Berglands „Deutsche“ genannt. Sie bezeichnen sich selbst als „Berglanddeutsche“, sind in der Regel katholisch und sprechen bairische Mundarten (Göllner 1979: 306). Die Banater Schwaben Der westliche Teil des Banats, eine flache, zur Zeit der Türkenherrschaft (1552-1718) zu großen Teilen mit Sumpf bedeckte Landschaft, war Anfang des 18. Jahrhunderts äußerst dünn besiedelt. Um das 1718 den Türken entrissene Gebiet wirtschaftlich zu beleben, rief die österreichische Regierung Siedler ins Land, die sie vor allem in deutschen Ländern anwerben ließ. Zwar waren bereits 1718 Hunderte von Handwerkern für den Bau von Befestigungen, Kasernen und öffentlichen Gebäuden ins Banat gekommen, doch die Ansiedlung von Bauern entlang der Donau und des Mieresch begann erst 1722 und gelangte mit dem österreichisch-türkischen Krieg 1737-1739 zunächst einmal zum Stillstand. Während dieser ersten Ansiedlungszeit (dem „ersten Schwabenzug“) entstanden etwa 55 Siedlungen deutscher Kolonisten, die allerdings in dem darauf folgenden Krieg zum Teil wieder verlassen wurden (Göllner 1979: 291). Während der Regierungszeit Maria Theresias (1740-1780) wurde die Besiedlung fortgesetzt und erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1763 bis 1766 („zweiter“ oder „großer Schwabenzug“, bis 1772). Die Siedler ließen sich vor allem in den ehemaligen Sumpfgebieten nieder sowie in der Heide westlich und nordwestlich von Temeswar. Viele Sümpfe waren mittlerweile durch Kanäle, insbesondere durch den Begakanal trockengelegt worden. Ein weiterer Zuzug von Deutschen ins Banat erfolgte während der Regierungszeit Josephs II. („dritter Schwabenzug“, 1782-1786). Im Jahr 1787 wurde die Kolonisation von Seiten der Behörden eingestellt. Zuzüge aus Deutschland erfolgten zwar auch in den nächsten drei 8. Rumänien 339 Jahrzehnten noch, doch nun war eher die Binnenkolonisation von Bedeutung. Insgesamt wurden im 18. Jahrhundert etwa 60.000 Deutsche im Banat ansässig. Zu den Banater Schwaben werden heute auch die nördlich des Mieresch im Arader Komitat auf Privatgütern ebenfalls im 18. Jahrhundert angesiedelten Deutschen gezählt, obwohl dieses Gebiet nicht zum Banat gehört. Die schweren Bedingungen in der ersten Zeit nach der Ansiedlung, das ungewohnte Klima und Seuchen hatten eine hohe Sterblichkeit unter den Siedlern zur Folge. Es dauerte Generationen, bis die Nachkommen einen gewissen Wohlstand erlangten, so dass der alte Kolonistenspruch „Der erste hat den Tod, der zweite hat die Not, der dritte erst hat Brot“ auch im Banat seine Bestätigung fand. Die in der Banater Ebene angesiedelten deutschen Bauern kamen aus der Rheinpfalz, aus Hessen, Trier, Lothringen, Franken, einige wenige aus Bayern und Württemberg. Die Banater „Schwaben“ sind demnach ihrer Herkunft nach keine Schwaben (oder nur zu einem ganz geringen Teil). Dieser Name, der zu jener Zeit für die deutschen Ansiedler in Ungarn üblich war, wird auch durch die im Banat gesprochenen Mundarten keinesfalls gerechtfertigt, da diese zum größten Teil westmitteldeutsch, im übrigen bairisch (in den Städten) oder oberfränkisch (nördlich des Mieresch) sind (Göllner 1979: 306). Die Gründe für die Auswanderung ins Banat sind in den sozialen Verhältnissen der Herkunftsgebiete zu finden: „…das mit der Leibeigenschaft verbundene Untertanenverhältnis mit seinen Abgaben und Leistungen; das Land des Bauern reichte oft nicht für den Lebensunterhalt der Familie, die Besonderheiten des Anerbenrechts, die Bedingungen zum Erlangen der Heiratsgenehmigung und andere Bestimmungen erschwerten dem Nachwuchs das Unterkommen in der Landwirtschaft, aber auch im Handwerk“ (Göllner 1979: 280). Die im Banat angesiedelten deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen erhielten keinerlei Sonderrechte. Nach Ablauf der Freijahre mussten sie Kontribution und Zehnten leisten und waren zu Arbeiten an Brücken- und Straßenbau, an Flussregulierungen und an der Entwässerung von Sümpfen verpflichtet. Der ihnen zugeteilte Boden war nicht ihr Eigentum, sondern sie waren Hörige auf Staatsboden (Göllner 1979: 304f.). Ihr Hörigenstand wurde schwerer, nachdem das Banat 1778 verwaltungsmäßig dem ungarischen Staat angegliedert und der Boden samt den Dörfern, darunter auch viele schwäbische, an Adlige verkauft wurde. Politisch traten die Banater Schwaben als eigene Gruppe lange Zeit nicht in Erscheinung, was dadurch zu erklären ist, dass sie keinen besonderen Rechtsstatus hatten und ihre kulturellen, an die Sprache gebundenen Interessen in der Anfangszeit hinter den wirtschaftlichen zurückstehen mussten. Zu einer banatschwäbischen politischen Willensbekundung sollte es erstmals im Verlauf der Revolution von 1848/ 49 kommen, als die Banater Serben für sich Selbstverwaltung forderten. Von schwäbischer Seite wurde 1849 eine Petition an den Kaiser gerichtet, in der ein eigenes Oberhaupt „etwa unter dem Namen eines deutschen Grafen, nach dem Vorbilde des Sachsen-Grafen in Siebenbürgen“ verlangt wird. Dazu sollte es nach der Niederschlagung der Revolution nicht kommen. Mehr noch, die Madjarisierung begann, besonders nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, auch bei den Banater Schwaben Wirkung zu zeigen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann sich jedoch in den Reihen der schwäbischen Bauernschaft ein Widerstand gegen die Entnationalisierung zu regen. Die Vorkämpfer dieser Bewegung waren Edmund Steinacker und Adam Müller-Guttenbrunn. 1906 wurde die „Ungarländische deutsche Volkspartei“ gegründet, die sich für den Erhalt der deutschen Muttersprache einsetzte und die enge Verbundenheit mit den anderen nationalen Minderheiten betonte. Sie konnte bei den Wahlen von 1910 zwar keinen Parlamentssitz erringen, doch der ins Parlament gewählte Siebenbürger Sachse Rudolf Brandsch setzte sich für ein gemeinsames schwäbisch-sächsisches politisches Handeln ein. Johanna Bottesch 340 Die Landler Als im 18. Jahrhundert die katholischen Habsburger ihre österreichischen Erbländer vom „ketzerischen Feuer“ des Protestantismus reinigen wollten, die Rekatholisierungsversuche bei einem kleinen Teil der Bauern in entlegenen Alpentälern jedoch keinen Erfolg hatten, gingen sie dazu über, zunächst die „Rädelsführer“, danach aber alle, die sich weiterhin zum Luthertum bekannten, nach Siebenbürgen zu deportieren. Die Nachkommen dieser vor allem in Hermannstadt und dessen Umgebung zwangsweise angesiedelten evangelischen Österreicher, tragen den Namen „Landler“ (nach dem „Landl“ in Oberösterreich, der Gegend von Wels, Vöcklabruck, Gmunden). In den Jahren 1734 bis 1737 wurden zunächst etwa 625 Personen aus dem oberösterreichischen Salzkammergut unter Militärbegleitung nach Siebenbürgen verschickt und in den nahe bei Hermannstadt gelegenen Ortschaften Neppendorf/ Turni^or (heute ein Stadtteil von Hermannstadt) und Großau/ Cristian angesiedelt. Ein größeres Ausmaß erreichten die Umsiedlungen zur Zeit Maria Theresias. Sie ließ in den Jahren 1752-1757 und 1773-1776 über 3.000 evangelische Österreicher nach Siebenbürgen bringen und auf über zwanzig Ortschaften verteilen. Die meisten gelangten nach Hermannstadt oder in Dörfer aus dessen Umgebung. Sie stammten aus dem „Landl“, aber auch aus Kärnten und der Steiermark. 4 Die Deportierten wurden rechtlich den Siebenbürger Sachsen gleichgestellt und in deren evangelische Kirchengemeinden eingegliedert. In den meisten Ortschaften kam es zu einer Assimilation der Landler durch die Sachsen, nicht aber in Neppendorf und Großau sowie in einer weiteren, westlich von Hermannstadt gelegenen Gemeinde, Großpold/ Apoldu de Sus. In diesen drei Orten haben die Landler ihre österreichische Mundart und eine spezi- 4 Der Name „Landler“ bezeichnete ursprünglich nur die Siedler aus dem Landl und wurde später auf die Nachkommen aller nach Siebenbürgen verschickten Österreicher ausgedehnt. - Zur Geschichte der Ansiedlung sowie zum Namen „Landler“ s. Beer (2002: 23 ff.). fische Tracht bewahrt. Darauf sowie auf das Herkunftsbewusstsein gründet sich auch heute noch ihr Gruppen-Selbstverständnis (vgl. Bottesch 2002b: 155ff.). Die Zipser in der Maramuresch Deutsche Bergleute und Handwerker wurden in dem im äußersten Norden Rumäniens gelegenen Maramurescher Gebiet bereits im 13. und 14. Jahrhundert ansässig und gründeten die Bergwerkstädte Frauenbach (später Neustadt/ Baia Mare), Mittelberg (später Mittelstadt/ Baia Sprie) und Kapnik/ Cavnic. In den ungarischen Chroniken jener Zeit wurden sie - wie die Siedler im Süden Siebenbürgens - als hospites („Gäste“ des Königs) und saxones („Sachsen“) bezeichnet, konnten sich jedoch als Gruppe mit eigener Identität nicht erhalten. 5 Ab 1776 kamen in das Gebiet entlang des Wasserflusses (rum.: râul Vaser) Holzarbeiter aus der Gegend um Gmunden (Oberösterreich) und aus der Zips (Slowakei). Weitere Einwanderer aus der Zips zogen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu und siedelten sich in Oberwischau/ Vi^eul de Sus an. Als Holzarbeiter auf staatliche (österreichische) Domänen gerufen, hatten die Österreicher bei ihrer Ansiedlung mit den Behörden einen Vertrag abgeschlossen, auf Grund dessen ihnen für ihre Arbeit eine jährliche Menge an Naturalien sowie eine Parzelle für den Hausbau, die sie selber roden mussten, zustand. Als jedoch die Behörde bald darauf versuchte, die Bedingungen zu ihren Gunsten zu ändern, verweigerten die österreichischen Siedler die Arbeit und drohten mit der Abwanderung. Daraufhin wandte sich die Behörde an die in einem eigenen Viertel von Oberwischau angesiedelten Zipser, die bereit waren, auch auf diese Bedingungen einzugehen. Die Österreicher, die sich dennoch nicht zur Abwanderung entschließen konnten, betrachteten die Zipser als „Streikbrecher“, und es kam zu andauernden Spannungen zwischen den beiden Gruppen, die jahrzehnte- 5 Ausführliches über die frühe deutsche Besiedlung der Maramuresch in Göllner (1979: 323f.). 8. Rumänien 341 lang räumlich und gesellschaftlich voneinander getrennt lebten (Thudt/ Richter 1993: 92). Später erfolgte dann eine Annäherung und Vermischung der beiden Siedlergruppen, doch die beiden Mundarten - die oberösterreichische (mittelbairische) und die zipserische (eine mitteldeutsche Mundart mit überwiegend rheinischen Elementen; vgl. Thudt/ Richter 1993: 103) - blieben weiterhin in Gebrauch. Die Buchenlanddeutschen Auch in das Fürstentum Moldau, einschließlich dessen nördlichsten Teil, der Bukowina, gab es eine frühe deutsche Einwanderung: Bereits seit dem 14. Jahrhundert haben sich deutsche Siedler hauptsächlich aus Siebenbürgen in den aufblühenden Städten (Sereth/ Siret, Sutschawa/ Suceava u.a.) niedergelassen. In den kriegerischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts gingen diese Gruppen jedoch unter, so dass die späteren Bukowinadeutschen erst aus der Ansiedlung zur Zeit der österreichischen Verwaltung der Bukowina hervorgegangen sind. Das 1775 von den Türken übernommene Gebiet war dünn besiedelt und wirtschaftlich unterentwickelt. In kurzer Zeit siedelten sich zahlreiche Ukrainer, Rumänen, Juden, Polen, Slowaken und Ungarn zumeist aus den Nachbarländern an, die durch günstige Bedingungen (niedrige Steuern, Freistellung vom Militärdienst) angezogen wurden. 6 Die ersten deutschen Siedler kamen 1782 aus dem Banat; weitere folgten aus verschiedenen Teilen des deutschen Sprachraumes, darunter eine größere Anzahl von Pfälzern. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden deutsche Bergleute (größtenteils aus der Zips) für den sich entwickelnden Abbau von Bodenschätzen gerufen, und aus Böhmen kamen deutsche Arbeiter, um in den neu errichteten Glashütten zu arbeiten. Nach der Schließung der Minen und Betriebe verarmten die meisten von ihnen und betrieben fortan Ackerbau, Viehzucht und Forstwirtschaft. Zwischen 1835 und 1870 wanderten aus Böhmen auch deutsche Bauern ein und gründeten nach Ro- 6 Zur Geschichte der Deutschen in der Bukowina vgl. z.B. Turczynski 1999: 214ff., Göllner 1979: 325ff. dung des Waldes kleine Siedlungen. In den Städten ließen sich zahlreiche österreichische Offiziere, Beamte und Kaufleute nieder. Die Mehrheit der Siedler war katholisch, ein nicht geringer Teil jedoch evangelisch. Im 19. Jahrhundert erlebte das Buchenland einen raschen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung; die Städte blühten auf, und 1875 wurde in Tschernowitz eine Universität eröffnet, deren Unterrichtssprache vorrangig (aber nicht ausschließlich) Deutsch war. Um 1900 kam es zu zahlreichen Auswanderungen von Buchenlanddeutschen in andere Teile der Monarchie sowie nach Kanada und in die USA. Im Jahr 1910 lebten im Buchenland rund 300.000 Ukrainer, 275.000 Rumänen, 100.000 Juden, 75.000 Deutsche, 35.000 Polen, 10.000 Ungarn, 1.000 andere (Tschechen, Slowaken u.a.) unter Verflechtung westlicher und östlicher Lebensart zusammen. Die Dobrudschadeutschen Im 19. Jahrhundert wanderten in mehreren Schüben (1841, 1872-1878, 1890-1891) Deutsche aus Bessarabien und aus den nördlich des Schwarzen Meeres gelegenen Gebieten Südrusslands (heutige Ukraine) in die Dobrudscha ein. 7 Gründe der Auswanderung waren der Verlust alter Rechte (u.a. die Aufhebung der Befreiung vom Militärdienst) und schlechte Lebensverhältnisse. In der Dobrudscha bildeten diese zumeist katholischen oder evangelischen Siedler, zu denen noch eine geringe Zahl von Adventisten und Baptisten hinzukam, weder politisch noch verwaltungsmäßig eine einheitliche Gruppe. Die Dobrudscha gehörte bis 1878 zum Osmanischen Reich. Die einzelnen von Deutschen besiedelten Ortschaften waren bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend selbstständig und wurden von gewählten „Schulzen“ verwaltet. Die einzige Pflicht der Gemeinden war die pünktliche Steuerzahlung. Die Einwohner lebten in ärmlichen Verhältnissen, anfangs in Erdhütten, die wiederholt das Ziel plündernder Tataren und Tscherkessen wurden. 7 Diese Zusammenfassung folgt im Wesentlichen den Ausführungen bei Petri 1956. Johanna Bottesch 342 Nachdem die Dobrudscha nach dem rumänischen Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1878 ein Teil Rumäniens geworden war, mussten ihre Bewohner die neue Staatssprache erlernen und den verpflichtenden Militärdienst ableisten. Nun wurden rumänische Bürgermeister eingesetzt; in mehreren Ortschaften siedelte die Regierung Veteranen des Türkenkrieges an, die eine bevorzugte soziale Stellung genossen. Da die Deutschen zunächst materiell nicht in der Lage waren, ein eigenes Schulwesen aufzubauen, besuchten ihre Kinder rumänische Schulen. Nur die Fächer Deutsch und Religion wurden als zusätzliche Fächer von deutschsprachigen Lehrern unterrichtet. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage wanderten um die Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder Familien in die USA oder nach Kanada ab. Gleichzeitig entstanden aber wegen des natürlichen Bevölkerungsanstiegs neue Ortschaften mit deutscher Bevölkerung. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die schwersten Jahre überstanden, es kam zur Anstellung von immer mehr deutschsprachigen Pfarrern und Lehrern. Anstatt der alten Bethäuser wurden Kirchen errichtet, erste Schulen wurden gebaut. Der Erste Weltkrieg hatte auf die Dobrudschadeutschen beträchtliche Auswirkungen. Nach dem Kriegseintritt Rumäniens im Jahr 1916 wurde der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit untersagt, viele Männer kamen in Zivilgefangenschaft, zahlreiche Ortschaften wurden in den Kämpfen zerstört. 3.2 Zur Geschichte der Deutschen in Rumänien nach 1918 Durch den Gebietszuwachs, den Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr, wuchs sowohl die Fläche als auch die Bevölkerung des Landes auf mehr als das Doppelte an. Neu hinzu kamen Siebenbürgen, das Banat, das Kreischgebiet, das Sathmarer Land, die Maramuresch, die Bukowina und Bessarabien, während die Süddobrudscha bereits nach dem Zweiten Balkankrieg (1913) von Bulgarien übernommen worden war. War der rumänische Staat („Altrumänien“, bestehend aus Moldau und Walachei) vor dem Krieg fast ausschließlich von Rumänen bewohnt gewesen, so machten in den nach 1918 hinzugekommenen Gebieten die nationalen Minderheiten 43 % der Bevölkerung aus (Volkzählung von 1930, vgl. König 1995: 251). Besorgt um die Integrität des entstandenen Staates, an den die Nachbarn rundherum Gebietsansprüche stellten, definierten die rumänischen Politiker Rumänien als „einheitlichen Nationalstaat“ - so auch in der Verfassung von 1923 - und versuchten, in den neuen Gebieten das rumänische Element zu stärken. Wege dazu waren u.a. die stärkere Gewichtung der Landessprache in den Schulen, die Besetzung der leitenden Verwaltungsstellen und Ämter durch Rumänen, die Zulassung nur des Rumänischen in den meisten Behörden. Die Deutschen erkannten alsbald die Notwendigkeit des politischen Zusammenschlusses und gründeten 1921 in Hermannstadt den „Verband der Deutschen in Rumänien“, eine Dachorganisation ihrer politischen Vereinigungen aus den einzelnen Gebieten (König 1995: 260). Anders als die an Zahl viel größere ungarische Minderheit, waren die Deutschen zur loyalen Zusammenarbeit mit dem rumänischen Staat entschlossen. Durch Bündnisse mit der jeweiligen Regierungspartei gelang es ihnen fast immer, mehr Parlamentssitze zu erhalten, als ihrem Anteil von vier Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprochen hätten. So stellten sie in den Jahren 1920 bis 1928 jeweils 6 bis 11 Abgeordnete und 2 bis 4 Senatoren (König 1995: 261). Trotz dieser relativ guten Vertretung im Parlament konnte jedoch wenig von den Belangen der Minderheit durchgesetzt werden, so dass sich Enttäuschung und Unzufriedenheit breit machten. Einen Grund dazu bot die Agrarreform. Da die sächsischen und schwäbischen Bauern in der Regel kleinen oder mittleren Grundbesitz hatten, wurde ihnen kaum Boden weggenommen, dafür aber verloren die Gemeinden und Stiftungen einen Teil ihrer Bodenflächen. Im Schulbereich war die Entwicklung unterschiedlich. Die evangelischen, wie auch alle anderen konfessionellen Schulen wurden 8. Rumänien 343 nach dem Unterrichtsgesetz von 1925 als „Partikularschulen“ eingestuft, konnten weiter bestehen und erfreuten sich dank ihrer kirchlichen Trägerschaft sogar einer beschränkten Autonomie. Im Westen des Landes, vor allem im Banat und in der Sathmarer Gegend, wo die Madjarisierung zur Auflösung der meisten deutschen Schulen geführt hatte, kam es nach 1918 vielerorts zur Wiedereinführung des deutschsprachigen Unterrichts. Im Banat wurde dieser Prozess nun auch von der katholischen Kirche unterstützt, während im Sathmarer Land der Widerstand der ungarisch-national eingestellten Geistlichen beträchtlich war. Dennoch entstanden auch in dieser Gegend deutsche Volksschulen und eine deutsche Abteilung am Gymnasium in Großkarol/ Carei. Das Hauptmotiv der rumänischen Regierung, das deutsche Schulwesen in dieser Region zu fördern, war die Zurückdrängung der ungarischen Sprache. Ganz anders verlief die Entwicklung in der Bukowina, wo eine Rumänisierung einsetzte und von den 73 staatlichen Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache des Jahres 1913 nach dem Krieg fast alle in rumänischsprachige Schulen umgewandelt wurden. Zwar konnte der deutschsprachige Unterricht teilweise wieder eingeführt werden, aber die Zahl der Schulen, an denen er angeboten wurde, war schwankend und viel kleiner als vor 1918 (König 1995: 259). Die Wirtschaftskrise vom Anfang der Dreißigerjahre leistete auch in Rumänien der politischen Radikalisierung Vorschub. Die 1927 gegründete „Legion des Erzengels Michael“ („Legiunea Arhanghelului Mihail“), auch unter dem Namen „Eiserne Garde“ („Garda de Fier“) bekannt, forderte die moralische Erneuerung der rumänischen Nation, verachtete aber die Demokratie und schreckte auch vor Mord als Mittel zur Erreichung ihrer politischen Ziele nicht zurück. Auf die Rumäniendeutschen blieb die politische Entwicklung in Deutschland nicht ohne Einfluss. Mitte der Zwanzigerjahre wurde die „Erneuerungsbewegung“ gegründet, die zwar keine direkte Verbindung zu der NSDAP hatte, ihr aber in Ideen und Anschauungen wesensverwandt war (König 1995: 262). Nach 1930 nahm die politische Bedeutung der Erneuerungsbewegung zu, am Sachsentag von 1933 erzielten ihre Vertreter 62 Prozent der Stimmen. Zwei Jahre später wurde der bis dahin lose „Verband der Deutschen in Rumänien“ in die straff organisierte „Volksgemeinschaft der Deutschen in Rumänien“ umorganisiert (König 1995: 262). Der direkte Import von Gedankengut aus Deutschland, das der spezifischen Situation im Lande nicht mehr angepasst wurde, bedeutete einen Bruch mit der Tradition der Siebenbürger Sachsen. Die Entwicklung verlief derart, dass die 1940 gegründete, mit der NSDAP gleichgeschaltete „Deutsche Volksgruppe in Rumänien“ unter dem Druck Deutschlands vom rumänischen Staat als Institution des öffentlichen Rechts anerkannt und zur alleinigen politischen Vertretung aller Rumäniendeutschen wurde. 1940 musste Rumänien infolge eines Ultimatums Bessarabien und das nördliche Buchenland samt dessen Hauptstadt Tschernowitz an die Sowjetunion abtreten. Im Hitler- Stalin-Pakt von 1939 hatten Deutschland und die Sowjetunion ihre Interessensphären im östlichen Europa abgegrenzt, wobei diese Gebiete in die Sphäre der Sowjetunion gefallen waren. Danach wurde seitens Deutschlands die Aktion „Heim ins Reich“ eingeleitet, durch welche deutschen Volksgruppen, darunter auch die Bukowina-, die Bessarabien- und die Dobrudschadeutschen 1940- 1941 auf Reichsgebiet umgesiedelt wurden. Die Gleichschaltung der „Deutschen Volksgruppe in Rumänien“ mit Hitlerdeutschland und die 1943 auf Grund eines deutsch-rumänischen Abkommens erfolgte Einreihung rumäniendeutscher Männer in Einheiten der deutschen Armee sollten sich nach dem 23. August 1944, dem Tag, an dem Rumänien die Waffen wendete und den Krieg auf der Seite der Alliierten weiterführte, als verhängnisvoll erweisen. Die allesamt zu Hitler-Kollaborateuren erklärten Rumäniendeutschen mussten die Enteignung ihres landwirtschaftlichen Besitzes und den Verlust bürgerlicher Rechte für etwa ein Jahrzehnt erdulden. Hinzu kam die Deportation der arbeitsfähigen deutschen Frauen und Männer zur Aufbauarbeit in die Sowjetunion von 1945 bis 1949. Johanna Bottesch 344 Die Vertreibung aus der Heimat blieb ihnen jedoch, zum Unterschied zu den Deutschen in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, erspart. Mehr noch, auch in kommunistischer Zeit war der Schulunterricht in den Sprachen mehrerer Minderheiten, darunter auch der deutschen, erlaubt. Durch die Verstaatlichung der Schulen im Jahr 1948 sicherte sich die kommunistische Regierung die Möglichkeit, das Schulwesen zu kontrollieren und es als Instrument zur Verbreitung kommunistischer Ideologie einzusetzen. Der Staat übernahm aber mit der Trägerschaft der Schulen zugleich auch die Pflicht ihrer Erhaltung. Entscheidend für das Fortbestehen der deutschen Minderheit war, dass der Unterricht in ihrer Sprache stattfinden konnte, dass es zu keiner Zeit verboten war, die deutsche Sprache auch in der Öffentlichkeit zu gebrauchen. So blieb den Rumäniendeutschen ihre Muttersprache erhalten, und ihre nationale Identität war nicht sonderlich gefährdet. Der Krieg hatte jedoch viele Familien getrennt: Männer, die im deutschen Heer gedient hatten, durften nach Kriegsende nicht heimkehren; die vor der Roten Armee Geflohenen waren nur zum Teil zurückgekehrt; aus den sowjetischen Arbeitslagern waren viele Krankentransporte nicht nach Rumänien, sondern nach Deutschland gegangen. Somit gab es eine beträchtliche Anzahl von Familien mit einem Teil der Angehörigen in Rumänien und dem anderen in Deutschland oder Österreich. Als sich in den Sechzigerjahren die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien zu normalisieren begannen und die Familienzusammenführung möglich wurde, verlief sie infolge des wirtschaftlichen West-Ost-Gefälles fast ausnahmslos in Richtung Deutschland. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Die Rumäniendeutschen leben heute vorwiegend in Städten und weisen eine Altersstruktur mit einem hohen Anteil von über Sechzigjährigen auf. Das lässt sich durch die vom rumänischen Statistikamt veröffentlichten Daten belegen (vgl. Tabellen 4 und 5). Wie aus Tabelle 4 ersichtlich ist, lebten 1930 beinahe 80 Prozent der Einwohner Rumäniens auf dem Land, von den Deutschen waren es knapp drei Viertel. Die planmäßige Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und die schlechten Verdienstmöglichkeiten in der sozialistisch umgestalteten Landwirtschaft führten dazu, dass zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Kommunismus etwas über die Hälfte der Landesbevölkerung in Städten wohnte. Von den nach 1989 in Rumänien verbliebenen Deutschen sind es mehr als zwei Drittel. Tabelle 5 enthält Angaben über die Altersstruktur und zeigt, dass bei den Rumäniendeutschen bereits im Jahr 1977 - anders als im Landesdurchschnitt - die Gruppe der über Sechzigjährigen jene der Kinder (bis 14 Jahre) überstieg. Seither ist eine Überalterungstendenz der Bevölkerung landesweit erkennbar, doch im Falle der Deutschen ist sie besonders ausgeprägt - bedingt vor allem durch die Tatsache, dass die jüngere Generation in größerem Maß nach Deutschland ausgewandert Jahr Bevölkerungsgruppe Stadt Land Quelle der Daten Gesamtbevölkerung Rumäniens 21,4 % 78,6 % CNS: XV 1930 Rumäniendeutsche 27,2 % 72,8 % CNS: XV Gesamtbevölkerung Rumäniens 54,3 % 45,7 % CNS: XV 1992 Rumäniendeutsche 67,2 % 32,8 % CNS: XV Gesamtbevölkerung Rumäniens 52,7 % 47,3 % INS, Tabelle 5 2002 Rumäniendeutsche 69,6 % 30,4 % INS, Tabelle 5 Tabelle 4: Verhältnis der Stadt-Land-Bevölkerung 8. Rumänien 345 ist als die ältere. Waren Sachsen, Schwaben und Landler einst zum Großteil Bauern, so sind sie es heute nur noch zu einem geringen Teil. Über die Beschäftigung der Deutschen Rumäniens im Jahr 2002 gibt Tabelle 6 Aufschluss (Daten aus: INS, Tabelle 21). Wohl als Folge der Überalterung beträgt im Falle der Deutschen der Anteil der aktiven Bevölkerung lediglich 29,3 Prozent, während er landesweit 36 Prozent ausmacht (errechnet aufgrund von INS, Tabelle 21). 4.2 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Der bedeutendste rumäniendeutsche Verband nach 1989 ist das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR). Laut Satzung nimmt der Verband „die spezifischen Anliegen seiner Mitglieder, die sich aus der Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit ergeben, wahr und schützt und fördert sie durch alle gebotenen politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftsbelebenden und sonstigen Maßnahmen, die der Erhaltung und Entfaltung der ethno-kulturellen Identität und des Muttersprachenbewußtseins förderlich sind.“ (Forum 2000: 121). Sowohl vom rumänischen Staat als auch von der Bundesrepublik Deutschland als Vertretungsorganisation der Deutschen in Rumänien anerkannt, wurde dem DFDR von beiden Regierungen eine projektgebundene finanzielle Unterstützung zuteil. Die meisten kulturellen Veranstaltungen der Rumäniendeutschen finden seit 1990 im Rahmen der DFDR-Strukturen statt. Über diese wurden auch - vor allem durch rumänische Fördermittel - deutschsprachige Bücher herausgegeben sowie Bücher in rumänischer Sprache, deren Inhalt zur deutschen Minderheit Bezug hat. Mehrere aus öffentlichen Mitteln unterstützte Institutionen sind dem Kulturbereich der deutschen Minderheit zuzuordnen. Dazu gehört das Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt/ Sibiu, in dem deutsch- und rumänischsprachige Forscher vorrangig auf den Gebieten der Geschichte, der Volks- und Mundartkunde arbeiten. Bei diesem von der Rumänischen Akademie der Wissenschaften eingerichteten Institut ist auch die Arbeitsstelle des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs untergebracht, dessen erste Bände in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen sind (Niedermaier 2000: 99). 8 Das ehemalige „Nationalmuseum“ der Siebenbürger Sachsen, das Hermannstädter Brukenthalmuseum, ist Ende 2005 der evangelischen Kirchengemeinde Hermannstadt zurückerstattet worden. Drei Bühnen führen Stücke in deutscher Sprache auf: das Deutsche Staatstheater Temeswar (vom Kreisrat Temesch finanziert), die deutsche Abteilung des Hermannstädter Radu-Stanca-Theaters (von der Stadt finanziert) sowie die deutsche Abteilung des Hermannstädter Puppentheaters „Gong“ (vom Kreisrat Hermannstadt getragen). Soziale Einrichtungen der Rumäniendeutschen haben entweder kirchliche Trägerschaft, z.B. das Diakonische Werk der evangelischen Kirche in Rumänien, oder private (Dr. Carl- Wolf-Verein in Hermannstadt, Adam-Müller- Guttenbrunn-Stiftung in Temeswar). Auch die Tätigkeit der fünf vom DFDR gegründeten Stiftungen zur wirtschaftlichen Förderung von Kleinbetrieben („Saxonia“ in Siebenbür- bucharbeit: Im 8 Gegenwärtiger S Wörter Jahr uchstaben N-P gedruckt tand der 2002 wurde Band 8 mit den B Jahr Bevölkerungsgruppe 0-14 Jahre über 60 Jahre Quelle Gesamtbevölkerung Rumäniens 25,4 % 14,4 % CNS: XXV 1977 Rumäniendeutsche 19,4 % 21,0 % CNS: XXV Gesamtbevölkerung Rumäniens 22,7 % 16,4 % CNS: XXV 1992 Rumäniendeutsche 14,6 % 28,4 % CNS: XXV Gesamtbevölkerung Rumäniens 17,6 % 19,3 % INS, Tab. 17 2002 Rumäniendeutsche 10,7 % 36,2 % INS, Tab. 17 Tabelle 5: Anteil der Kinder und der älteren Bevölkerungsschicht Johanna Bottesch 346 Rumänien gesamt Deutsche in Rumänien Tätigkeitsbereich abs. Zahl Prozentanteil abs. Zahl Prozentanteil Landwirtschaft 2.156.049 27,6 % 2.766 15,8 % Verarbeitende Industrie 1.780.300 22,8 % 4.877 27,9 % Handel, Dienstleistung 801.419 10,3 % 1.991 11,4 % Verwaltung 473.855 6,1 % 709 4,1 % Bauwesen 442.915 5,7 % 932 5,3 % Lehramt 395.041 5,1 % 1.614 9,2 % Gesundheitswesen 317.128 4,1 % 1.110 6,3 % Andere Bereiche 1.445.026 18,5 % 3.490 20,0 % Tabelle 6: Tätigkeitsbereiche der Deutschen in Rumänien gen, „Banatia“ im Banat und je eine Stiftung in Nordwestrumänien, in Bukarest sowie in der Bukowina) hat eine soziale Komponente. In Bukarest erscheint als Tageszeitung die „Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien“ (ADZ) mit ihren wöchentlichen Beilagen „Banater Zeitung“ (Redaktion in Temeswar) und „Karpatenrundschau“ (Redaktion in Kronstadt), während in Hermannstadt das Wochenblatt „Hermannstädter Zeitung“ (HZ) herausgegeben wird. Sowohl ADZ als auch HZ sind bald nach 1990 von je einer eigens dafür gegründeten Stiftung herausgegeben worden, die finanziell vom DFDR aus Mitteln unterstützt werden, die der Minderheitenrat der rumänischen Regierung bereitstellt. Seit 2006 wird die ADZ vom DFDR selbst herausgegeben. Ebenfalls in deutscher Sprache erscheint die Monatsschrift „Deutsche Vortragsreihe Reschitza“, herausgegeben vom Kultur- und Erwachsenenbildungsverein, während die evangelische Kirche in Hermannstadt zweimal im Monat die „Landeskirchlichen Informationen“ und monatlich die „Kirchlichen Blätter“ herausgibt. Drei überregionale Inlandsprogramme des öffentlich-rechtlichen rumänischen Fernsehens haben je eine wöchentliche Sendung in deutscher Sprache (TVR1 von eineinhalb Stunden, TVR2 von einer Stunde und TVR cultural von einer halben Stunde). Hinzu kommt TVR international mit zwei einstündigen deutschsprachigen Sendungen im Monat. 9 In Rumänien gibt es zurzeit sechs Radiosender, die auch deutschsprachige Programme ausstrahlen: der öffentlich-rechtliche Hörfunk Rumäniens in Bukarest sowie die Regionalsender Temeswar und Neumarkt/ Târgu Mure^ mit täglich einer Stunde und die Regionalsender in Arad (eine halbe Stunden pro Woche), Großkarol/ Carei (eine Stunde pro Woche) und Reschitza (eine Stunde pro Woche). 10 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, Sprachregelungen Zum Unterschied zu anderen Staaten Mittel- und Osteuropas hat es in Rumänien auch in kommunistischer Zeit ohne Unterbrechung ein deutschsprachiges Schulwesen gegeben. Im Jahr 1948 sind die bis dahin meist konfessionellen deutschsprachigen Schulen verstaatlicht und die Lerninhalte der kommunistischen Ideologie angepasst worden. Der Unterricht in den Sprachen der verschiedenen 9 Mündliche Information von Christel Ungar- _opescu, Chefredakteurin der deutschen Sendung, Dezember 2005. 10 Informationen nach: www.funkforum.net (Stand: Dezember 2005). Die Internetseite führt auch eine deutschsprachige Sendung in Schässburg/ Sighi^oara an, die jedoch eingestellt worden ist - so Ingrid Schiffer (Temeswar), die die Seite betreut (Dezember 2005). 8. Rumänien 347 nationalen Minderheiten war jedoch grundsätzlich vom Kindergarten bis zum Abitur möglich. An mehreren Universitäten gab es zudem Germanistiklehrstühle. Durch die Aussiedlung der Rumäniendeutschen geriet das deutschsprachige Schulwesen in eine schwierige Lage, so dass sich 1990 die Frage stellte, ob es überhaupt erhalten bleiben könnte. Die Entwicklung verlief dennoch zu Gunsten der deutschsprachigen Schulen: Kinder rumänischer Muttersprache gingen in größerer Zahl als bis dahin in diese Schulen, die somit zwar nicht auf dem Lande, wohl aber in den Städten in einer beachtlichen Zahl erhalten blieben. Mittlerweile haben über 90 Prozent der Schüler deutschsprachiger Klassen Rumänisch als Muttersprache. Das größte Problem des rumänischen Unterrichtswesens in deutscher Sprache ist der Lehrermangel. Je kleiner die Ortschaft ist, desto schwieriger wird es, Lehrer zu finden, die in deutscher Sprache unterrichten können. So kommt es, dass es nur in größeren Städten Schulen gibt, die fast sämtliche Unterrichtsfächer auf Deutsch anbieten können, während in kleineren Ortschaften der Unterricht gemischt stattfindet: eine Anzahl von Fächern wird in deutscher, die übrigen werden in rumänischer Sprache unterrichtet. Da die Zahl der Lehrer, die Deutsch als Erstsprache haben, seit 1990 ständig abnimmt, ist die Frage nach der Qualität des in diesen Schulen vermittelten Deutsch in den Vordergrund gerückt. 11 Eine Stütze erhielt das deutschsprachige Schulwesen 1998 durch die Gründung des Zentrums für Lehrerfortbildung in deutscher Sprache (mit Sitz in Mediasch), eine dem rumänischen Bildungsministerium unterstellte und von diesem finanzierte Einrichtung. Obwohl durch die Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft das deutschsprachige Schulwesen in Rumänien seinen Minderheitencharakter mehr und mehr einbüßt, hat die Minderheitenorganisation DFDR die Auf- 11 Das Lehrerentsendeprogramm der Bundesrepublik Deutschland kann wegen seiner geringen Dimension den Lehrermangel an den deutschsprachigen Schulen Rumäniens nicht beheben. Die Bedeutung dieses Programms liegt in der Multiplikatoren-Funktion der entsandten Lehrer und Fachberater. rechterhaltung und die weitere Entwicklung dieses Schulwesens zu einem ihrer Hauptziele erklärt. Das DFDR hat auf Landesebene eine Schulkommission, die vom rumänischen Bildungsministerium als Partner für die Lösung von Problemen des deutschsprachigen Unterrichts akzeptiert und zur Bewältigung konkreter Aufgaben herangezogen wird. So wurde dem DFDR die Erstellung eines Schulbuchs für das Fach „Geschichte und Traditionen der deutschen Minderheit in Rumänien“ (Pflichtfach in den Schuljahren 6 und 7 bei Klassen mit deutscher Unterrichtssprache) übertragen. Von Bedeutung ist die Verfügung des Bildungsministeriums aus dem Jahr 2005, derzufolge Übersetzungen rumänischer Schulbücher ins Deutsche erst erscheinen dürfen, nachdem die DFDR-Schulkommission deren sprachliche Qualität überprüft und als gut befunden hat. In den Jahren 2001 bis 2004 hatte das DFDR selbst ein Programm für die Herausgabe deutschsprachiger Schulbücher - durchweg Übersetzungen aus dem Rumänischen -, wobei Mittel aus dem deutschsprachigen Ausland, aber auch solche vom rumänischen Minderheitenrat eingesetzt wurden. Für das deutschsprachige Schulwesen ist im Bildungsministerium die „Generaldirektion für Unterricht in den Sprachen der Minderheiten“ zuständig. Gemessen an den Schülerzahlen steht nach dem ungarischsprachigen Schulnetz das deutschsprachige an zweiter Stelle. Im Schuljahr 2004/ 2005 gab es landesweit 157 Kindergärten mit deutschsprachigen Gruppen (ca. 5.700 Kinder), 90 Schulen mit deutschen Abteilungen (im Einzelfall Schulen mit ausschließlich deutschsprachigen Klassen) mit ca. 14.500 Schülern (Statistik der DFDR-Schulkommission für 2004/ 2005). Hinzu kommen 9 Germanistik-Studiengänge und 18 deutschsprachige Studiengänge verschiedener Fachausrichtung an Universitäten in Rumänien. Im Hochschuljahr 2002/ 2003 wurden für Studienanfänger etwa 800 gebührenfreie und eine unbestimmte Anzahl gebührenpflichtige Studienplätze in deutscher Sprache angeboten (Deutschsprachige Studiengänge 2002/ 2003). Die meisten deutschsprachigen Studiengänge sind an der Babe^-Bolyai-Universität in Klausenburg/ Cluj-Napoca eingerichtet worden, die Johanna Bottesch 348 neben einem rumänischsprachigen und einem ungarischsprachigen Zweig auch einen deutschsprachigen besitzt. Amtssprache ist in ganz Rumänien Rumänisch. Das Recht auf Unterricht in der Muttersprache ist in der Verfassung festgeschrieben und in der Praxis gewährleistet. In Ortschaften mit einem wesentlichen Minderheitenanteil kann mit den Verwaltungsbehörden schriftlich und mündlich auch in der Sprache der jeweiligen Minderheit verkehrt werden (Verfassung Rumäniens, Artikel 120 (2)). Außerdem ist die Möglichkeit zur Verwendung der Muttersprache vor Gericht gewährleistet (Verfassung Rumäniens, Artikel 128, (2)). Von diesen Bestimmungen kann jedoch gegenwärtig aufgrund ihrer zahlenmäßig stärkeren Präsenz nur die ungarische Bevölkerungsgruppe Gebrauch machen. Eine gesetzliche Regelung sieht vor, dass auf Ortsschildern der Name der Ortschaft auch in der Sprache der Minderheit geschrieben werden muss, wenn diese mindestens 20 Prozent der Einwohner ausmacht (Gesetz 215/ 2001, Artikel 90 (4)). Obwohl es keine Ortschaften mehr mit einem deutschen Bevölkerungsanteil von mindestens 20 Prozent gibt, sind etwa seit dem Jahr 2000 auch Schilder mit deutschen Ortsnamen häufiger anzutreffen. Minderheitenorganisationen können sich, den politischen Parteien gleich, an den Kommunal- und an den Parlamentswahlen beteiligen. Von allen nationalen Minderheiten Rumäniens haben allein die Ungarn eigene Fraktionen in den beiden Kammern des rumänischen Parlaments. Auf kommunalpolitischer Ebene spielt jedoch auch die deutsche Minderheit eine Rolle. Konnte in den 1990er Jahren das DFDR bloß in der Sathmarer Gegend einige Gemeindebürgermeister stellen, so änderte sich die Lage im Jahr 2000, als in Hermannstadt ein Bürgermeister aus den Reihen der deutschen Minderheit gewählt wurde. Im Jahr 2004 ist er nicht nur im Amt bestätigt worden, sondern das DFDR erhielt im Hermannstädter Stadtrat eine Zweidrittelmehrheit, wurde sogar im Kreisrat mit einem Drittel der Sitze zur stärksten Fraktion und stellte den Kreisratsvorsitzenden (entspricht etwa einem deutschen Landrat). Somit wurde einer Minderheit, die lediglich 1,5 Prozent der Bevölkerung des Kreises Hermannstadt ausmacht, die Verantwortung der Stadt- und Kreisverwaltung übertragen. Außer der Leistung einzelner Personen spielt dabei auch das aus der Vergangenheit übernommene Image der Siebenbürger Sachsen eine Rolle. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Rumänisch als alleinige Staats- und offizielle Amtssprache ist in fünf der sechs beschriebenen Gebiete die hauptsächliche Kontaktsprache des Deutschen: in Siebenbürgen, im Banat und im Banater Bergland, in Oberwischau und in der Bukowina. Selbst im Sathmarer Gebiet herrscht allgemein das Rumänische vor; da jedoch in vielen sathmarschwäbischen Familien Ungarisch als Erstsprache gesprochen wird, erhält diese Sprache hier eine größere Relevanz als Kontaktsprache des Deutschen als das Rumänische. Bis zum Ersten Weltkrieg kam auch im Banat dem Ungarischen als der Sprache, zu der vor allem die schwäbischen Intellektuellenfamilien übergingen, eine größere Rolle zu, während die Siebenbürger Sachsen wenig Kontakt zu der ungarischsprachigen Bevölkerung hatten und die Beeinflussung des Deutschen durch das Ungarische auf vereinzelte lexikalische Übernahmen in die siebenbürgisch-sächsischen Dialekte beschränkt blieb. Heute ist auch im Banat die Bedeutung des Ungarischen als Kontaktsprache des Deutschen im Vergleich zum Rumänischen vernachlässigbar. Aus den Sprachen der Slowaken, Tschechen, Polen, Italiener und Franzosen, die im 18. Jahrhundert zusammen mit den Deutschen im Banater Bergland angesiedelt wurden, sind zwar einige Wörter (vor allem in die städtischen Umgangssprachen) entlehnt worden (nach Rum 33, CL), in der von den Informanten gebrauchten deutschen Standardvarietät konnten jedoch keine Einflüsse aus diesen ehemaligen Kontaktsprachen ausgemacht werden. 8. Rumänien 349 Sowohl das Rumänische als auch das Ungarische zeichnen sich durch geringe Variation aus. Regionale Eigenheiten in Lautung und Wortschatz sind so gering, dass sie die Verständigung zwischen Sprechern der verschiedenen Gebiete kaum beeinträchtigen. Mitunter sind Regionalismen der Kontaktsprachen zwar in die Dialekte der Rumäniendeutschen entlehnt worden, die in Rumänien gesprochene deutsche Standardvarietät wird jedoch, Sathmar ausgenommen, ausschließlich vom Standardrumänischen beeinflusst, jener Sprachform, die in Schule und Verwaltung, in den Medien und als Alltagssprache Verwendung findet. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard (geschrieben und gesprochen) Den Termini „Deutsche in Rumänien“ bzw. „Rumäniendeutsche“, die Gruppen und Personen in Rumänien einschließen, die sich als deutsch bezeichnen, entspricht auf sprachlicher Ebene der Terminus „Rumäniendeutsch“, der als Oberbegriff für eine Vielzahl sprachlicher Varietäten zu verstehen ist. Trotz seiner geringen Sprecheranzahl kann das Rumäniendeutsche auch heute noch als voll ausgebautes Varietätensystem bezeichnet werden, da grundsätzlich die drei Existenzformen des Deutschen - Standardvarietät, Umgangssprache und Dialekte - aktiv gebraucht werden. Die Auswertung der Befragungen hat bestätigt, dass in dem Nebeneinander der Sprachformen sowohl gebietsmäßig bedingt als auch sprechergruppenbezogen Unterschiede auszumachen sind (vgl. dazu Tabelle 7 in Abschnitt 5.2.4). „Rumäniendeutsch“ steht in erster Linie für die relativ einheitliche, vor allem als Schrift-, Unterrichts- und Kirchensprache gebrauchte Standardvarietät, die - trotz ihrer Ausrichtung an der in Deutschland gebrauchten Standardsprache - ihre Eigenheiten auf beinahe allen sprachlichen Ebenen aufweist. Die in Rumänien gebrauchte deutsche Standardsprache ist daher als regionale Standardvarietät zu bezeichnen, die sich in eine geschriebene und eine gesprochene Variante differenzieren lässt. Alle befragten Sprecherinnen und Sprecher geben an, die geschriebene deutsche Standardsprache zu beherrschen, unabhängig davon, ob Deutsch für sie alleinige Erstsprache ist, ob sie bilingual aufgewachsen sind oder Deutsch als L2 erlernt haben (zur Sprachkompetenz vgl. Abschnitt 6.2.). In den Untersuchungsgebieten Siebenbürgen, Banat, Banater Bergland und Oberwischau konnten die Sprecher aller Altersgruppen sowohl die Grundschule (Klassen 1 bis 7/ 8) als auch das Lyzeum (Klassen 8 bis 11 vor 1970, Klassen 9 bis 12 ab 1970) in deutscher Sprache besuchen. In Sathmar und in der Bukowina hatten nur die Gewährspersonen der ersten Generation diese Möglichkeit, jüngere Personen haben entweder ungarische Schulen (in Sathmar) oder rumänische Schulen besucht und sich geschriebenes Standarddeutsch im Selbststudium oder in Sprachkursen selbst angeeignet. Alle Befragten haben Zugang zu Printmedien in deutscher Sprache: zu den in Rumänien erscheinenden deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen, zu Zeitungen und Zeitschriften aus Deutschland und Österreich, zu Belletristik und Fachliteratur. Von diesen Möglichkeiten wird in unterschiedlichem Maße Gebrauch gemacht; allgemein bevorzugen die Befragten jedoch deutschsprachige Printerzeugnisse gegenüber rumänischen, da ihnen die Textrezeption in deutscher Sprache leichter fällt als in rumänischer. In Einzelfällen allerdings, etwa bei bilingualen Sprechern und jenen, die wenige Kommunikationssituationen für das Deutsche haben, soll das Lesen deutscher Texte auch Lernzwecken dienen. Während die Kompetenz in der Rezeption des geschriebenen Standarddeutschen allgemein als hoch einzuschätzen ist, hängt die Schreibkompetenz stark von Schulbildung und Berufstätigkeit ab. Bei Sprecherinnen und Sprechern der ersten Generation, die auf dem Dorf leben, ist der Gebrauch der Schriftsprache auf den privaten Briefwechsel beschränkt; für das Verfassen amtlicher Schreiben wie etwa Ansuchen, Anträge, Lebensläufe wird die Hilfe jüngerer Personen mit meist höherer Schulbildung in Anspruch genommen. Johanna Bottesch 350 Die Sprache persönlicher Briefe ist bei Sprechern dieser Generation (abgesehen von individuellen orthographischen Fehlern) nicht selten durch allgemeine Ungeübtheit und umständliche Formulierungen gekennzeichnet sowie durch eine Vorliebe für floskelhafte Ausdrücke aus dem religiösen Sprachgebrauch. Für Deutschsprecher der jüngeren Generationen bieten sich weit zahlreichere Gebrauchsdomänen der Schriftsprache: Durch ihre berufliche Tätigkeit oder ihre Mitarbeit bei der Kirche, in deutschsprachigen kulturellen Institutionen, bei den Zweigstellen des Deutschen Forums usw. kommen sie in die Lage, eine ganze Reihe von Textsorten wie Protokolle, Verträge, Verordnungen, Satzungen usw. auf Deutsch zu verfassen, was eine höhere Schreibkompetenz voraussetzt und herausbildet. Für mehrere der Befragten kam nach 1990 eine weitere Domäne hinzu, nämlich das Verfassen von Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Abhandlungen. Folgende allgemeine Charakteristika und Tendenzen lassen sich herausstellen: 1. In Rechtschreibung, Interpunktion, Flexion und weitgehend in Syntax und Lexik folgt das in Rumänien geschriebene Deutsch der für den binnendeutschen Standard geltenden Normgebung. Eventuelle Normverstöße sind als sprecherspezifische Fehlleistungen zu werten, nicht als konventionelle Abweichungen. 2. Süddeutsch-österreichische Wortvarianten kommen in geschriebenen Texten eher selten vor (etwa heuer, oder in Kochrezepten Semmelbrösel, Topfen, Schlagobers u.a.). 3. Aus dem Rumänischen entlehnte Wörter, die in der gesprochenen Standardvarietät geläufig sind, werden in der geschriebenen Sprache vermieden, was gelegentlich dazu führt, dass lateinbasierte Internationalismen, die im deutschen Sprachraum gebräuchlich sind, im Rumäniendeutschen durch oft veraltet anmutende deutsche Entsprechungen ersetzt werden. In literarischen Werken rumäniendeutscher Autoren hingegen ist der Gebrauch rumänischer Wörter und Wendungen in eingelauteter Form oder als Zitatwörter gewollt und dient der Vermittlung des Lokalkolorits. 4. Eine Besonderheit stellen die zahlreichen Benennungen für politische, administrative und kulturelle Einrichtungen und Sachverhalte dar, die meist wörtliche Übersetzungen der offiziellen rumänischen Bezeichnungen sind: Definitivatsprüfung (entspricht etwa der Abschlussprüfung des Referendariats), Erste-Grad-Prüfung (eine Prüfung zum Erhalt einer höheren Lehramtstufe), Generalschulinspektor usw. 5. In der deutschsprachigen Presse- und Mediensprache aufkommende Neubildungen werden in den rumäniendeutschen (Print-) Medien - wenn überhaupt - mit erheblicher Verzögerung rezipiert, was wohl auf die Distanz zum deutschen Kulturraum zurückzuführen ist und mit dazu beiträgt, „unser Hochdeutsch als arrid und steril“ (Rum 21, UW) erscheinen zu lassen. Auffällig ist das zahlenmäßig geringe Vorkommen von Anglo-Amerikanismen, nicht nur in der geschriebenen, sondern, wie die Befragungen belegen, auch in der gesprochenen Sprache. Die Frage, ob diese Erscheinung nur darauf zurückzuführen ist, dass bei den Sprechern der ersten und zweiten Generation Kenntnisse des Englischen völlig fehlen und bei der dritten Generation eher rudimentär vorhanden sind, oder ob sie durch eine gesteigerte Sensibilität der Rumäniendeutschen „sprachlichen Fremdkörpern“ gegenüber bedingt wird, bedürfte weiterer Untersuchungen. 6. Weniger in Pressetexten, jedoch in Fachtexten rumäniendeutscher Autoren besonders der älteren Generationen ist ein etwas schwerfälliger Schreibstil auszumachen, gekennzeichnet durch eine Vorliebe für überlange Satzgefüge, ineinander verschachtelte Sätze und komplexe Verknüpfungen. Alle im Rahmen der Untersuchung befragten Rumäniendeutschen beherrschen eine Form der gesprochenen deutschen Standardvarietät, die sie als Familien- und Alltagssprache, in einzelnen Fällen auch als Berufssprache gebrauchen, oder aber, sofern die sprachliche Sozialisation in einem deutschen Dialekt er- 8. Rumänien 351 folgte, nur in bestimmten Kommunikationsbereichen einsetzen. Während sich die rumäniendeutsche Schriftsprache durch relative Einheitlichkeit auszeichnet und lexikalische bzw. syntaktische Besonderheiten (wie etwa Gebrauchspräferenz und -frequenz einiger Wörter und Strukturen) eher als individueller Schreibstil denn als regionale Eigenheit zu werten sind, ist das Bild der in den sechs Untersuchungsgebieten gesprochenen Standardvarietät weit weniger einheitlich. Abweichungen von der standardsprachlichen Norm (vgl. dazu Abschnitt 5.2.5) sind bedingt durch den eventuell als Erstsprache erlernten Dialekt, durch die Länge der Schul- und Ausbildung, die berufliche Tätigkeit, die Gebrauchshäufigkeit dieser Sprachform, durch die Zweisprachenkompetenz. Die meisten befragten Sprecherinnen und Sprecher sind sich der Besonderheiten und Normabweichungen in ihrer Sprechweise bewusst, selbst L1-Sprecher schätzen ihre Kompetenz im gesprochenen Deutsch zwar als „gut“, selten jedoch als „sehr gut“ ein. Von denselben Sprechern wird allerdings das allgemein in Rumänien gesprochene Deutsch als „gutes Deutsch“ angesehen. So antwortet eine Sprecherin der zweiten Generation auf die Frage, wie sie das in Siebenbürgen gesprochene Deutsch einschätze: (1) Es ist auf jeden Fall Hochdeutsch und die deutsche Schriftsprache. So ist das hier gesprochen worden, es ist, zum Unterschied von Deutschland Hochdeutsch. Und oft ein korrekteres Deutsch, ich verfolge ja die deutschen Fernsehsendungen, weil ich Satellitenantenne habe und finde da immer wieder Fehler, sogar von Fernsehreportern. (Rum 2, SZ) Derselben Auffassung ist eine aus dem Banat stammende Sprecherin der dritten Generation: (2) Ich glaub, hier spricht man schon ein recht gutes Hochdeutsch, WENN man Hochdeutsch spricht. Während in Deutschland, zumindest womit ich zu tun hatte, dann sehr viel Mundart drin ist. (Rum 3, MJ) Regional bedingte Unterschiede des gesprochenen Rumäniendeutsch werden auch von Sprechern ohne linguistische Ausbildung wahrgenommen. Ein Sprecher der zweiten Generation aus Siebenbürgen dazu: (3) Ich denk, unser Deutsch ist auch stark österreichisch gefärbt. Inzwischen hab ich’s ein bisschen abgelegt. Ich hab aber im Banater Bergland gelebt und hab versehentlich dort mal gesagt: „Ach, Ihr seid ja Schwaben“. Ach, da hab ich ins Fettnäpfchen getreten, die fühlten sich SO beleidigt, sie seien ja Steirer und keine Schwaben. Das sind die Berglanddeutschen und die sprechen mit sehr stark österreichischem Akzent (…) Ansonsten würd ich noch bemerken, dass unser Deutsch, unser hiesiges, und dessen bin ich mir auch bewusst, dass es ein bisschen ein archaisches Deutsch ist, eben aus Schulzeiten, das sind die vierzig Jahre, wo ich mein Deutsch lernte, und auch weil dazumal man meinte, DAS sei Deutsch, denn wir gehörten ja sehr lange zur Österreich-Ungarischen Monarchie, und das hat sich um ein Jahrhundert zumindestens noch weiter bemerkbar gemacht. (Rum 12, HS) „Rumäniendeutsch“ steht heute nicht mehr ausschließlich für die von L1-Sprechern gebrauchten Varietäten, sondern auch für das Deutsch zahlreicher Sprecherinnen und Sprecher mit rumänischer oder ungarischer Erstsprache, die an Schulen mit deutscher Unterrichtssprache lernen und meist eine sehr hohe Kompetenz in der geschriebenen und gesprochenen Standardvarietät erreichen. Für einige dieser L2-Sprecher wird Deutsch zur Berufssprache, für andere bleibt es Schul- und Bildungssprache, für deren Verwendung nach Schulabschluss nur wenige oder keinerlei Kommunikationssituationen bestehen bleiben. 5.2.2 Umgangssprache Während die Sprecher eines Siedlungsgebietes untereinander noch den jeweiligen Dialekt verwenden können, verläuft die Kommunikation mit Deutschsprachigen aus einem anderen Siedlungsgebiet auch bei informellen Gesprächsanlässen fast ausnahmslos in der Standardvarietät, da es eine allgemein-rumäniendeutsche Umgangssprache nicht gibt. So ist in Siebenbürgen infolge der erheblichen Unterschiede zwischen den siebenbürgisch-sächsischen Dialekten und der neuhoch- Johanna Bottesch 352 deutschen Schriftsprache eine Sprachform, die in der Rede einen fließenden Übergang von der einen zur anderen ermöglicht hätte, nicht zustande gekommen (Capesius 1993: 74). Zwischen Dialekt und Hochsprache gab es stets eine strenge Trennung, wobei der Gebrauch letzterer, vor allem auf dem Dorf, auf wenige Bereiche beschränkt blieb. Die Dialekte der Städte wurden zwar zu Verkehrsmundarten für die sie umgebenden Dörfer, doch die sogenannte „gemeine Landsprache“, eine Koine, die im gesamten Dialektgebiet gesprochen wurde, ist bereits im 19. Jahrhundert von der deutschen Schriftsprache abgelöst worden. Komplexer ist das Varietätenspektrum im Banat und im Banater Bergland, wo zumindest in den Städten eine Umgangssprache gebräuchlich ist. Außer den bairisch-österreichischen Stadtmundarten, für deren Entwicklung das Wienerische bestimmend war (Wolf 1987: 122), bildete sich z.B. in Temeswar eine bairisch-österreichisch gefärbte städtische Verkehrssprache heraus, die „verschiedene Erscheinungsformen von der mundartnahen bis zur gehobenen Umgangssprache annimmt“ (Wolf 1987: 126). Sie wurde im Verkehr der Dörfer mit der Stadt verwendet und galt nicht nur dem Bauern, sondern auch dem einfachen Mann aus der Stadt als „Nobeldeutsch“. Einen Schritt weiter weg vom Hochdeutschen befand sich die Temeswarer Vorstadtsprache, ein Slang mit lässiger Ausdrucksweise, humorvollen bis ironischen Wortprägungen, mit oft trivialen, vulgären Ausdrücken und einer großen Anzahl von Entlehnungen aus anderen Sprachen (vgl. Wolf 1987: 126f.). Hinzu kommt, dass die deutschsprachigen Bewohner der banatschwäbischen Dörfer im Umgang miteinander nicht die städtische Umgangssprache verwendeten, sondern eine eigene landschaftliche Verkehrsmundart entwickelt haben (Wolf 1987: 131). Ähnlich ist die Sprachlage im Banater Bergland, wo die Deutschsprachigen in den Dörfern Dialekt sprachen, in den Städten eine Umgangssprache verwendet wurde und beide von der Standardvarietät überdacht wurden. Ein Sprecher der zweiten Generation aus Reschitza, einer Stadt im Banater Bergland, meint: (4) Auch das Temeswarer, auch das Lugoscher, auch das Reschitzarer ist eigentlich eine Umgangssprache, die verschmelzt verschiedene Dialekte, damit die Leute sich verstehen können. (Rum 33, CL) In der Umgangssprache des Banater Berglandes kommen zahlreiche „österreichische Regionalismen, Begriffe aus der böhmischen und slowakischen Küche“ (Rum 33, CL) vor. Dass sich im Sathmarer Gebiet keine Umgangssprache herausgebildet hat, liegt einerseits daran, dass die dort gesprochenen Dialekte sehr einheitlich waren und die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Bewohnern verschiedener Ortschaften gewährleistet waren, andererseits wurden beide deutschen Sprachformen, der Dialekt und die Standardvarietät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr durch das Ungarische verdrängt. 5.2.3 Dialekte „Rumäniendeutsch“ steht auch für die in den einzelnen Siedlungsgebieten der Rumäniendeutschen gebrauchten Dialekte. Diese Dialekte, besonders jene des Banats und Siebenbürgens, sind, bedingt durch die siedlungsgeschichtlichen Gegebenheiten, von starker gruppeninterner Differenziertheit geprägt. Dass der Dialektgebrauch in den letzten 10 bis 15 Jahren merklich zurückgegangen ist, hat weniger soziale als vielmehr demographische Gründe: Nur in Ausnahmefällen geben Dialektsprecher diese Sprachform zugunsten der Standardsprache oder einer standardsprachenahen Varietät auf; der Rückgang ist vielmehr eine Folge der Aussiedlung einer großen Anzahl von Sprechern nach Deutschland. Die Differenziertheit der deutschen Dialektlandschaft in Rumänien geht auf die Vielzahl der Ursprungsgebiete der deutschen Siedler zurück. Zwischen den historischen Siedlungsgebieten (Siebenbürgen, Banat usw.) gibt es so bedeutende sprachliche Unterschiede, dass eine Verständigung im Dialekt zwischen Sprechern verschiedener Regionen nicht mög- 8. Rumänien 353 lich ist, doch auch innerhalb desselben Gebietes unterscheiden sich die Idiome der einzelnen Ortschaften erheblich voneinander. Im Folgenden werden die in den sechs untersuchten Gebieten (Siebenbürgen, Sathmar, Banat, Banater Bergland, Maramuresch und Bukowina) gesprochenen Dialekte kurz beschrieben. Für eine eingehende Darstellung, die auch die innergebietlichen Unterschiede berücksichtigt, muss auf die jeweilige Forschungsliteratur verwiesen werden. Zur Veranschaulichung zumindest der charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Dialekte wird im Anhang zu diesem Artikel ein Beispieltext mit der Übersetzung in die dialektale Sprachform der verschiedenen Regionen (außer der Bukowina) angeführt. 5.2.3.1 Die Siebenbürger Sachsen Das Siebenbürgisch-Sächsische hat im Wesentlichen westmitteldeutsche Züge, die sich vor allem in dem um Köln gesprochenen Ripuarischen und im Moselfränkischen, also im mittelfränkischen Dialektgebiet wiederfinden. Das um die Mitte des 20. Jahrhunderts noch in 248 Ortschaften gesprochene Siebenbürgisch-Sächsische weist im Bereich des Vokalismus eine besondere „Buntscheckigkeit“ auf. Allein beim Wort grün wurden 68 Lautvarianten gezählt, bei hinter 65, bei Gans 63. Selbst bei räumlich nahe gelegenen Ortschaften treten erhebliche Unterschiede auf (vgl. dazu Capesius 1993: 57). Trotz dieser Lautvielfalt hat die siebenbürgisch-sächsische Sprachlandschaft auch einheitliche Züge, die sich im Bereich der Morphologie, der Syntax und gerade auch in jenem der Phonetik feststellen lassen. Am auffälligsten ist wohl das unverschobene t: dat (das’, ‘dass’), wat (‘was’), # t (‘es’), Gad # t (‘Gutes’). Ebenso ist -pim An- und Inlaut unverschoben: App # l (‘Apfel’), Plach (‘Pflug’). Als einheitliches satzphonetisches Merkmal ist die Auslauterweichung zu nennen: Ein auslautender stimmloser Konsonant wird vor einem folgenden anlautenden Vokal stimmhaft (Capesius 1993: 67). So heißt es in Hermannstadt nicht Wat äß do g # wi # st? (‘Was ist da gewesen? ’) sondern Wadäß do g # wi # st? Manche Merkmale können in weiten Teilen, aber nicht im gesamten siebenbürgischsächsischen Sprachgebiet festgestellt werden. So gilt die „Eifler Regel“, die konsequent auch im Luxemburgischen auftritt, in ganz Süd-, nicht aber in Nordsiebenbürgen. Sie besagt, dass das auslautende -n, falls es nicht zum Wortstamm gehört, in fließender Rede vor Konsonanten wegfällt (außer vor h, d, t, z) (Capesius 1993: 66). Demnach heißt es nicht M # r woor # n ku # n (‘Wir waren gekommen’) sondern M # r woor # ku # n. Der Gedanke, aufgrund der Eigenheiten der Dialekte die Urheimat der Siebenbürger- Sachsen in einem klar abgegrenzten Raum, nämlich Luxemburg, bestimmen zu können und damit in dieser Frage den sich nur auf spärliche Quellen stützenden Historikern zu Hilfe zu kommen, ist von den Dialektforschern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben worden (vgl. Rein 1983: 194f.). Spätere Forschungen zeigten, dass es nicht möglich ist, heutige siebenbürgisch-sächsische Idiome mit jenen aus klar umgrenzten hypothetischen Auswanderungsgebieten direkt in Verbindung zu bringen. Außer den Sprachentwicklungen, die im Laufe von über acht Jahrhunderten überall stattgefunden haben, ist in Siebenbürgen eine deutsche Nachsiedlung, vor allem aber auch eine Binnensiedlung zu berücksichtigen, die zu Mundartmischung und -ausgleich geführt hat (Capesius 1993: 60, Rein 1983: 201). Untersuchungen des Wortschatzes haben im Siebenbürgisch-Sächsischen auch Sprachelemente herausgestellt, die nicht dem Westmitteldeutschen, sondern eindeutig anderen Gegenden des deutschen Sprachraumes zuzuordnen sind (Rein 1983: 201f.). Obwohl die „Urheimatthese“ von der Sprachforschung aufgegeben wurde, ist im Volksbewusstsein die „luxemburgische Herkunft“ der Siebenbürger-Sachsen bis heute erhalten geblieben und hat gerade in neuester Zeit durch die Beziehungen zwischen Hermannstadt, Sibiu und Luxemburg - für deren Zustandekommen die Sprachverwandtschaft übrigens nicht unwesentlich war - neuen Auftrieb erhalten. Johanna Bottesch 354 5.2.3.2 Die Sathmarer Schwaben Wegen der fast ausschließlich oberschwäbischen Herkunft der Sathmarschwaben ist die Sprachlandschaft im Sathmarer Gebiet recht einheitlich: Die deutschen Dialekte dieses Raumes gehören größtenteils dem Schwäbischen und damit dem Nordalemannischen an. 12 Als Merkmale, die das Sathmarer Schwäbische mit dem Gesamtschwäbischen gemeinsam hat, nennt Gehl (2001: 11 f.): 1. p erscheint in allen Wortstellungen zu pf verschoben: Pfund, Apf # l, Strumpf, Kopf 2. st wird auch im In- und Auslaut als scht gesprochen: luschteg, Wurscht, ischt 3. Diminutivsuffix -le: Mädle, Gätt # rle (‘Gassentürchen’) 4. Einheitsplural auf # t: m # r/ ihr/ sie schwätz # t (‘reden’/ ‘redet’), winsch # t, sing # t 5. Verkürzung des Artikels die zu d’: d’Baur # , d’Ohr # 6. Verkürzte Pronominalformen: i für ‘ich’, mi für ‘mich’, ui für ‘euch’ Vom Gesamtschwäbischen abweichende Struktur- oder Wortschatzelemente sind auf den Einfluss anderer deutscher Dialekte, der deutschen Hochsprache, anderer Kontaktsprachen oder auf eine eigenständige Entwicklung der sathmarschwäbischen Dialekte zurückzuführen. 5.2.3.3 Die Banater Schwaben Mit „Banater Schwaben“ sind die in den Verwaltungskreisen Temesch und Arad lebenden Deutschen gemeint, während jene aus dem Kreis Karasch-Severin - ihrer Eigenbenennung entsprechend - als Banater Berglanddeutsche bezeichnet werden. Bis zur Massenauswanderung von 1990/ 91 siedelten Banater Schwaben in etwa 130 Orten; in rund 100 davon wurden rheinfränki- 12 Abweichend davon ist das Alemannische, das in Kriegsdorf/ Hodod, einem mit Baden-Durlachern und Schweizern besiedelten Ort, der einzigen evangelischen Gemeinde des Sathmarer Landes, gesprochen wird, ebenso die bairisch-österreichischen Mundarten der hoch im Norden gelegenen Ortschaften Großtarna/ Tarna Mare und Batartsch/ B\tarci sowie das Pfälzische von Neupalota/ Palota und Kreischtarjan neben Großwardein (vgl. Berner 1996: 204, Gehl 2001: 11). sche Dialekte gesprochen. 13 Südlich des Mieresch/ Mure^ wird mehrheitlich rheinfränkisch gesprochen, während nördlich des Flusses die Dialekte eine oberfränkische Prägung aufweisen. Die Städte Temeswar, Arad, Lugosch, Busiasch und Detta heben sich durch ihre bairisch-österreichische Mundart bzw. Umgangssprache von ihrem ländlichen Umfeld mit dessen fast durchweg fränkischen Idiomen ab. Eingestreut in den westlichen Teil der rheinfränkischen Banater Dialektlandschaft, jedoch keineswegs gruppiert, sind vier Orte mit teilweise moselfränkischen Merkmalen (Billed/ Biled, Neubeschenowa/ Dude^tii Noi, Neupetsch/ Peciu Nou und Tschanad/ Cenad). In einer einzigen Ortschaft, Saderlach/ Zadareni, wird eine hochalemannische Dialektvariante gesprochen. Daraus geht hervor, dass die Banater Schwaben sogenannte „Nennschwaben“, jedoch keine „Sprachschwaben“ sind. Eine Übersicht zur Gliederung der Banater Dialekte unter Einbezug des Banater Berglandes bringt Wolf (1987: 45, hier vereinfacht): 14 I. Westmitteldeutsche Mundarten: App # l A. moselfränkische Mundarten: # t B. rheinfränkische Mundarten: # s 1. nordrheinfränkische Mundarten: fest 2. südrheinfränkische Mundarten: fescht II. Oberdeutsche Mundarten: Apf # l A. bairische Mundarten: enk (‘euch’) 1. nordbairische Mundarten: Föuß 2. andere bairische Mundarten: Fuß B. Oberfränkische Mundarten: euch 1. ostfränkische Mundarten: fest 2. südfränkisch-alemannische Mundarten: fescht C. Alemannische Mundarten: isch (‘ist’) Die heutigen banatdeutschen Dialekte sind durch Mischung, Ausgleich und Weiterent- 13 Wolf (1987: 73) nennt 100 Ortschaften von 154, wobei er aber auch 22 Ortschaften des Banater Berglandes erfasst, die fast ausschließlich bairisch geprägte Mundarten aufweisen. 14 Die nordbairischen Mundarten sind die einzigen, die nur im Banater Bergland vorkommen. Somit bewahrt das Schema seine Gültigkeit für die Kreise Temesch und Arad mit Ausnahme von Punkt II.A.1. 8. Rumänien 355 wicklung der ursprünglichen Siedlermundarten entstanden. „Die Siedler waren in den meisten Fällen aus verschiedenen, oft sogar weit auseinanderliegenden Orten gekommen. In den neu angelegten Dörfern gab es zu Beginn ein Gewirr von Mundarten mit unterschiedlichem Laut-, Form- und Wortbestand“ (Wolf 1987: 50). Die Untersuchung der Dialekte in Dörfern mit genau bekannter Herkunft der Siedler hat gezeigt, dass sich nicht immer die zahlreichste Sprechergruppe durchgesetzt hat. Erhalten blieben meist jene Sprachformen, die auch in benachbarten Idiomen vorhanden waren (Wolf 1987: 58f.). 5.2.3.4 Die Banater Berglanddeutschen In den deutschen Dialekten des Banater Berglands sind die bairischen Merkmale vorherrschend. Außer den Städten gibt es auch eine Reihe von Dörfern, in denen ein hauptsächlich bairischer Dialekt gesprochen wird (Wolf 1987: 114). Da auch in diesem Gebiet die Siedler einer Ortschaft im Allgemeinen nicht aus einem einzigen Gebiet kamen, sind die Idiome kaum einem bestimmten Dialektgebiet des deutschsprachigen Raumes zuzuordnen. Eine Ausnahme bilden die erst 1828/ 29 besiedelten Deutschböhmen-Dörfer Wolfsberg/ G\rân\, Weidental/ Brebu Nou, Lindenfeld/ Lindenfeld und Alt-Sadowa/ Sadova Veche, deren Dialekte eindeutig nordbairisch sind (Wolf 1987: 116 f.). In Reschitza, wo im 18. Jahrhundert außer Deutschen auch Slowaken, Tschechen, Polen, Italiener und Franzosen angesiedelt wurden, bildete sich im Laufe der Zeit eine eigene Sprachform heraus, die zwar auch bairisch geprägt ist, aber mit jener von Temeswar nicht übereinstimmt. Im Unterschied zu der Temeswarer Sprachform ist das „Reschitzarerische“ zur Verkehrssprache des Banater Berglands geworden (Wolf 1987: 131). 5.2.3.5 Die Landler Das in bloß drei Ortschaften des Kreises Hermannstadt (Großau/ Cristian, Großpold/ Apoldu de Sus und dem heute Hermannstadt eingemeindeten Neppendorf/ Turni^or) gesprochene Landlerisch kann als bairisch-österreichische Dialektinsel in der siebenbürgischsächsischen Sprachinsel bezeichnet werden. In jeder der drei Ortschaften haben die als „Landler“ bezeichneten Nachkommen der im 18. Jahrhundert dorthin deportierten evangelischen Österreicher zusammen mit Siebenbürger- Sachsen gelebt, mit denen sie in die gleiche Kirche und Schule gingen und deren Bräuche sie annahmen. Trotzdem und trotz der Rolle des Sächsischen als Verkehrsmundart, erhielt sich in allen drei Dörfern bis in die Gegenwart auch je eine österreichische Mundart. Die Landler-Dialekte von Großau und Neppendorf sind mittelbairisch, da die Landler dieser Dörfer zum Großteil aus dem oberösterreichischen Salzkammergut stammen. Die südbairisch geprägte Variante von Großpold ist hingegen ein Beispiel dafür, dass sich auch die zahlenmäßig kleinere Sprechergruppe sprachlich durchsetzen kann, denn bloß ein Drittel der in Großpold angesiedelten Österreicher stammen aus dem in sprachlicher Hinsicht südbairischen Kärnten, einige wenige aus der Steiermark, während zwei Drittel der Siedler aus Oberösterreich kamen (siehe dazu Bottesch/ Bottesch 1992: 5). Im Umgang mit Sachsen aus anderen Dörfern verwendeten die Landler in der Regel das Siebenbürgisch-Sächsische, jüngere Sprecher jedoch auch die Standardvarietät. 5.2.3.6 Die Zipser in der Maramuresch Durch die Ansiedlung in Oberwischau/ Vi^eul de Sus von Waldarbeitern vor allem aus Oberösterreich und aus der Zips (Slowakei) kam es hier zum Gebrauch von zwei deutschen Dialekten: einem österreichischen, der dem Mittelbairischen zuzuordnen ist und von seinen Sprechern als Daitsch, von der Sprachforschung als „Wischaudeutsch“ bezeichnet wird, und einem aus der Oberzips stammenden Dialekt rheinischer Prägung (Thudt/ Richter 1993: 103ff.). Auffällige Merkmale des Zipserischen von Oberwischau sind die durchgehende Vokalisierung des l zu u, z.B. in Uoft (‘Luft’), Meui (‘Milch’), buaip (‘bleib’); die Palatalisierung von k und g: Tchent (‘Kind’), Bretcha (‘Brücke’), Djansa (‘Gänse’), dja (‘geben’); stimmhaftes b, d, g im Anlaut: bass # r (‘besser’), Bu- Johanna Bottesch 356 at # r (‘Blätter’), daußn (‘draußen’) sowie der Ersatz von w durch b im Anlaut einiger Wörter: bå (‘weil’), bir (‘wir’), bos (‘was’). Da die österreichischen Siedler in Oberwischau bald eine bessere soziale Stellung erlangten, erhielt ihr Idiom Mehrgeltung, wurde auch von den Zipsern erlernt und im Verkehr der beiden Gruppen verwendet. Die Österreicher lernten ihrerseits das Zipserische nicht, das im Laufe der Zeit zu einer Haussprache herabsank (Thudt/ Richter 1993: 106) und am Ende des 20. Jahrhunderts völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden war. Beide deutschen Dialekte in Oberwischau haben auch Wörter aus fremden Sprachen aufgenommen, wobei eine Anzahl slawischer Wörter im Zipserischen bereits in der Slowakei in die Mundart eingegangen sein dürfte. 5.2.3.7 Die Bukowinadeutschen Trotz der verschiedenartigen Herkunft der deutschen Siedler in der Bukowina lassen sich deren Idiome hauptsächlich drei Gruppen zuordnen: zipserische, bairische und pfälzische Dialekte. 15 Zipserisch, eine Dialektvariante aus der Unterzips, sprachen die Siedler in den ehemaligen Bergwerkorten im Südwesten des Gebiets. Ähnlich wie bei den Zipsern in Oberwischau ist auch hier der Ersatz von w durch b zu verzeichnen (Berk # ‘Werke’, be ‘weh’, Schbest # ‘Schwester’); im Anlaut ist b hingegen zu stimmlosem p verhärtet: Prot (‘Brot’), Prick (‘Brücke’). r wird im In- und Auslaut vokalisiert (duit ‘dort’, Bo # t (‘Wort’), nu # (‘nur’), Bas # (‘Wasser’); ü und ö erscheinen entrundet: miit (‘müde’), zerick (‘zurück’), schiine (‘schöne’), während i vor l zu ü verdumpft wurde (fül ‘viel’, bül ‘will’). In den Glashütten- und Waldarbeiterdörfern des mittleren Hügellandes wurden, entsprechend der Herkunft der Siedler aus dem mittleren und oberen Böhmerwald, bairische Mischmundarten gesprochen. Vertreten waren die bairischen Kennwörter Irt # (‘Dienstag’), Pfintst # (‘Donnerstag’), Ros (‘Pferd’) sowie die alten Duale es (‘euch’) und enk (‘euer’). 15 Die Aufzählung von Merkmalen der bukowinadeutschen Dialekte beruht auf Petersen et al. 1933: 629ff. Die Diphthonge hatten teils mittelbairischen teils nordbairischen Charakter. Die „schwäbischen“ Bauerngemeinden in der Ebene sprachen rheinfränkische (pfälzische) Idiome. Hier galten die Entsprechungen: App # l (‘Apfel’), Pef # r (‘Pfeffer’), fescht (‘fest’). Obwohl die Mehrzahl der Siedler nicht aus der Pfalz kam (viele stammten aus schwäbisch-alemannischem Gebiet) hat sich das Pfälzische als Dialekt durchgesetzt. Vor der Angliederung der Bukowina an Rumänien (1918) war in dem vielsprachigen Gebiet Deutsch zwar Verkehrssprache, zugleich aber zahlreichen Einflüssen des Slawischen, Jiddischen und Rumänischen ausgesetzt. Heute gibt es nur noch wenige Dialektsprecher; gebraucht wird ein umgangssprachliches Deutsch, in dem mundartliche Elemente sowie aus dem Rumänischen übersetzte Wendungen unverkennbar sind. 5.2.4 Sprechergruppenspezifische Verteilung der Sprachformen In den einzelnen Untersuchungsgebieten kommen die Sprachformen des Deutschen in unterschiedlicher Kombination vor; auch die Verteilung auf die Sprechergenerationen ist keineswegs einheitlich. Wir unterscheiden vier Sprechergenerationen: - Generation I: vor 1930 Geborene - Generation II: zwischen 1930 und 1950 Geborene - Generation III: zwischen 1950 und 1980 Geborene - Generation IV: nach 1980 Geborene Eine Übersicht zum Varietätengebrauch in den Regionen bietet Tabelle 7. 16 In Siebenbürgen stehen sich Dialekt und regionale Standardsprache gegenüber. Die Hauptgruppe der Siebenbürger Deutschen wurde in der dialektalen Varietät sozialisiert (L1) und hat die Standardform als L1' in der Schule erworben. Für eine kleine Sprechergruppe ist die Standardsprache alleinige Erstsprache oder wurde - in einer zweisprachigen 16 Zeichenerklärung zu Tabelle 7: L1=Erstsprache; L1'=regionaler deutscher Standard, bei dialektalem Hintergrund, meist in der Schule erlernt; L2=Fremdsprache; KS=Kommunikationssituation. 8. Rumänien 357 Familie - gleichzeitig mit dem Rumänischen bzw. Ungarischen erlernt. In der ersten Generation überwiegen die Dialektsprecher bei weitem, in der zweiten und dritten Generation gibt es bereits mehrere Sprecher, die die Standardvarietät, jedoch keinen Dialekt beherrschen, was unter anderem auf eine höhere Anzahl sogenannter Mischehen zurückzuführen ist. Bei den jüngsten Sprechern, die allgemein einen sehr geringen Prozentsatz der Deutschsprachigen Rumäniens ausmachen, ist die Dialektkompetenz meistens nur passiv vorhanden. Im Banat und im Banater Bergland besteht im Prinzip auch heute noch ein Drei- Varietäten-System, das allerdings nur in den - heute sehr kleinen - Sprechergemeinschaften ländlicher Orte voll ausgeprägt ist. Die geringste Rolle spielt dabei die Standardsprache, da ihr nur wenige und mit geringer Frequenz auftretende Kommunikationssituationen zukommen. Stadtbewohner verfügen allgemein über eine umgangssprachliche Varietät (meist als L1) und die regionale Standardform. Die Anzahl der Sprecher, die die Standardvarietät als L1 haben, scheint, außer in der vierten Generation, gering zu sein, da die Umgangssprache einen hohen Stellenwert hat. Anders als in Siebenbürgen waren in den Städten des Banater Berglandes bereits in der heute ältesten Sprechergeneration und auch davor Ehen mit nichtdeutschen Partnern üblich, so dass es in diesem Gebiet eine vergleichsweise hohe Anzahl von zweisprachig aufgewachsenen Personen gibt. Die im Rahmen dieser Untersuchung befragten Sprecher verfügen jeweils über zwei Varietäten: Bei den Banater Schwaben steht die Standardvarietät dem Dialekt gegenüber, bei den Sprechern aus dem Banater Bergland der Umgangssprache. In der Sathmarer Gegend ist Dialektkompetenz nur noch bei Sprechern der ersten und Untersuchungsgebiet Deutscher Dialekt (als L1) Regionaler deutscher Standard (als L1, L1', L2) Deutsche Umgangssprache Siebenbürgen Siebenbürgisch-Sächsisch/ Landlerisch (rückläufig in der 4. Gen.) als L1 (in allen KS; wenige Sprecher) als L1' (in formellen KS) als L2 (ab der 3. Gen. für Sprecher mit nichtdt. L1) Banat Banater Schwäbisch (rückläufig in der 4. Gen.) als L1 (in allen KS gebr.; wenige Sprecher) als L1' (in formellen KS) als L2 (ab der 3. Gen. für Sprecher mit nichtdt. L1) z.B. Temeswarerisch (v.a. in Städten in informellen KS) Banater Bergland Bairische Dialekte (v.a. im ländlichen Raum gesprochen) als L1 (in allen KS; nur vereinzelte Sprecher) als L1' (in formellen KS) als L2 (ab der 3. Gen. für Sprecher mit nichtdt. L1) z.B. Reschitzaerisch (v.a. in Städten in informellen KS) Sathmarer Gebiet Sathmar-Schwäbisch (nur von der 1. und 2. Gen. gesprochen) als L1' (bei der 1. Gen., selten bei der 2. Gen; in nur wenigen formellen KS) als L2 (bei nichtdt. L1 und bei Sathmarer Schwaben der 3. und 4. Gen.) Oberwischau (Maramuresch) Zipserisch (aufgegeben); Wischaudeutsch (von allen Gen. gesprochen) als L1' (in formellen KS) als L2 (bei nichtdt. L1, verstärkt ab der 3. Gen.) Bukowina Zipserische, bairische, pfälzische Dialekte (nur bei einzelnen Sprechern der 1. und 2. Gen.) als L1 (bei 1. und 2. Gen, in allen KS; bei 3. und 4. Gen. evtl. passive Kenntnis) als L2 (bei nichtdt. L1 und bei Bukowinadeutschen der 3. u. 4. Gen.) Tabelle 7: Deutscher Sprachgebrauch in den Untersuchungsgebieten Johanna Bottesch 358 einigen wenigen der zweiten Generation vorhanden. Grundsätzlich verfügen diese Sprecher auch über eine standardnahe Varietät, die jedoch nur selten aktiv gebraucht wird, da die allgemeine Verkehrssprache das Ungarische ist. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, haben Sprecherinnen und Sprecher der dritten und vierten Generation bereits Ungarisch als Erstsprache und erlernen Deutsch eventuell als L2. In diesem Gebiet handelt es sich demnach um eine Sprachgemeinschaft in Auflösung. In Oberwischau hingegen hat der Dialekt, das Wischaudeutsche, eine starke Stellung bewahrt. Selbst in zweisprachigen Familien wird die dialektale Varietät als Erstsprache erlernt und ist Verkehrssprache für Sprecherinnen und Sprecher aller Altersgruppen. Dem Dialekt steht die - für sehr offizielle Gesprächssituationen reservierte - Standardsprache (Hochdaitsch) gegenüber, die bei Sprechern der älteren Generation in Satzbau, Lexik und Flexionsformen dialektale Züge aufweist (dazu auch Thudt/ Richter 1993: 106). Ähnlich wie in Sathmar, befindet sich auch in der Bukowina die deutsche Sprechergemeinschaft in Auflösung. In einigen Dörfern leben noch vereinzelt Dialektsprecher der ältesten Generation; außer einem gelegentlichen deutschsprachigen Gottesdienst bieten sich ihnen jedoch kaum Situationen zum Gebrauch des Deutschen. Die in der Stadt Suceava lebenden Deutschsprachigen haben bei kirchlichen und kulturellen Veranstaltungen sowie in der Tourismus-Branche öfter Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Für die Sprecher der ersten und zweiten Generation ist eine standardnahe Varietät des Deutschen Erstsprache oder die Sprache, die sie gleichzeitig mit dem Rumänischen erlernt haben. Über Dialektkompetenz verfügen sie nicht. Sprecherinnen und Sprecher der jüngeren Generation haben Deutsch nicht mehr als Erstsprache, sondern erlernen es eventuell gezielt in Sprachkursen. Zusätzlich zu der Gruppierung der befragten Personen nach Altersgruppen erweist sich eine Zuordnung zu einem bestimmten Sprechertyp als notwendig. Nach den Kriterien ihrer sprachlichen Sozialisation lassen sich die Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien drei Sprechertypen zuordnen: Zu Sprechertyp I gehören Personen, die in einer dialektalen bzw. umgangssprachlichen Varietät oder in der regionalen Standardform sozialisiert wurden; Sprecherinnen und Sprecher von Typ II sind bilingual aufgewachsen, haben also außer einer deutschen Sprachform noch Rumänisch oder Ungarisch als Erstsprache; zu Sprechertyp III gehören Personen mit einer anderen Erstsprache, die Deutsch als L2 erlernt haben. Die Angaben, die die befragten Personen zum Gebrauch der Sprachen und Sprachformen machen, werden im Abschnitt 6.3. ausgewertet, wobei die Unterschiede nach Sprachregionen, Altersgruppen und kommunikativen Bereichen berücksichtigt werden. In Siebenbürgen, dem Banat und in Oberwischau ist der Anteil der Deutschsprachigen, die zu Typ I gehören, noch relativ hoch, wenn auch stärker in den Generationen 1, 2 und 3 vertreten. Im Banater Bergland sind viele Sprecherinnen und Sprecher entweder in einer zweisprachigen Familie aufgewachsen oder leben selbst in einer solchen (Typ II), so dass sie allgemein über eine höhere Zweisprachenkompetenz verfügen als Sprecher des Typs I. In Sathmar und in der Bukowina, den beiden Gebieten, in denen sich die deutsche Sprachgemeinschaft in Auflösung befindet, sind Sprecher des Typs I selbst in den älteren Generationen in geringer Zahl vertreten. Die derzeitige Situation in Rumänien erfordert, dass auch Sprecher von Typ III in die Untersuchung einbezogen werden. Dabei handelt es sich nicht um jene, die in zwei bis vier Wochenstunden Deutsch als Fremdsprache in Schulen, an Hochschulen und in Sprachkursen erlernen, sondern um jene Sprechergruppe, die trotz nichtdeutscher Erstsprache ihre Schulbildung (4, 8, meist 12 Klassen) in deutscher Sprache erhält. Die Sprachkompetenz dieser Sprechergruppe in der Standardvarietät ist jener der Sprecher von Typ I bzw. II vergleichbar, auch sind zahlreiche Personen durch ihre berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit bei deutschsprachigen Institutionen zumindest in einigen Kommunikationssituationen Gesprächspartner der L1-Sprecher. In Sathmar und in der Bukowina sind zu Typ III auch jene Sprecherinnen und Sprecher be- 8. Rumänien 359 sonders der dritten und vierten Generation zu zählen, die zwar der deutschsprachigen Minderheit angehören, jedoch in einer anderen Sprache sozialisiert wurden und Deutsch als L2 erlernen. 5.2.5 Sprachliche Charakteristika der regionalen Standardvarietät In ihrer gesprochenen Variante unterscheidet sich die in Rumänien gebrauchte Standardsprache stärker vom Standard Deutschlands als in ihrer geschriebenen Form. Abweichende Formen und Strukturen sind auf allen sprachlichen Ebenen auszumachen, am auffälligsten jedoch sind die Besonderheiten in der Aussprache und in der Lexik. Die sprachlichen Sonderformen sind auf Übernahmen aus dem österreichischen Deutsch, aus dem Rumänischen sowie aus den Dialekten zurückzuführen. Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass im phonetischen Bereich der Einfluss des österreichischen Deutsch vorherrscht, Normabweichungen in Morphologie und Syntax vorwiegend auf dialektale Formen und Strukturen zurückzuführen sind, und im Wortschatz dem Rumänischen eine größere Rolle zukommt. Einige abweichende Erscheinungen in der Lautung, die das Rumäniendeutsche mit dem österreichischen Deutsch gemeinsam hat, gehen einerseits auf die in mehreren Siedlungsgebieten gebrauchten süddeutschen Dialekte, andererseits aber auch auf den Einfluss der ehemaligen österreichischen Beamtensprache zurück. Im gesamten Sprachgebiet wird r als Zungenspitzen-r ausgesprochen und selbst im Wort- und Silbenauslaut deutlich artikuliert. Nur bei einigen Sprechern des Banater Berglandes und aus Oberwischau wird r im Auslaut zu # . Das e wird in offenen Vor- und Endsilben als e und nicht als Schwa-Laut ausgesprochen (hatte, Schule, gelernt, besucht). Auffällige Merkmale des im Banat und im Banater Bergland gesprochenen Deutsch sind stimmloses s im Anlaut besonders gebräuchlicher Wörter und sehr offenes langes e: so [ ] sehr [ ], mehr [ ], schwer [ ]. Bei Sprecherinnen und Sprechern der ältesten Generation in Siebenbürgen, in Oberwischau und in der Bukowina findet sich oft Entrundung von ü, ö und eu zu i, e, ai: missen (‘müssen’), gerickt (‘gerückt’), Geschäftsfiirrer (‘Geschäftsführer’), gewehnt (‘gewöhnt’), Derfer (‘Dörfer’), Deitschen (‘Deutschen’), befreindet (‘befreundet’). Bei denselben Sprechern ist häufig Assimilation anzutreffen: ham (‘haben’), fümf (‘fünf’), siem (‘sieben’). Im Bereich der Morphologie und Syntax ist zu unterscheiden zwischen Normabweichungen, die als allgemein rumäniendeutsch gelten können (A), solchen, die zwar in allen Untersuchungsgebieten, jedoch nicht bei allen Sprechern anzutreffen sind (B) und Eigenformen, die nur für einzelne Regionen oder bestimmte Sprechergruppen charakteristisch sind (C). (A) Zu den Besonderheiten, die bei den Sprechern aller Gebiete und aller Altersgruppen auftreten, gehören z.B. der Ausgleich im Präsens Singular der Verben: ich lies, ich sprich, ich gib sowie Voranstellung der Negation in Imperativsätzen: (5) Nicht lassen Sie Ihren Dialekt, sprechen Sie so, in der Schule lernen sie (die Kinder) schon Deutsch. (Rum 16, JB) Verstöße gegen die Regeln der Wortstellung sind in allen Gesprächsbeiträgen auszumachen und betreffen die unterschiedlichsten Satzglieder: (6) Ich hab gehört, dass das Krankenhaus keine mehr Praktikanten aufnehmen wird. (Rum 10, CP) (7) Die haben nicht alle ihre Sprache mehr beherrscht. (Rum 1, MB) (8) Ich kann mir sie aber auch finanziell so nicht leisten. (Rum 12, HS) (9) Mutti, hast du viel missen zahlen für die Reise? (Rum 16, KR) (10) Weil wir haben nicht viel Feld gehabt. (Rum 38, JE) Bei den unterschiedlichen Formen von Ausklammerung sind keine Muster zu finden, die eindeutig auf eine Übernahme aus dem Rumänischen schließen lassen. Es handelt sich anscheinend, wie im Falle von Satzabbruch und Neuansatz, um eine Erscheinung der ge- Johanna Bottesch 360 sprochenen Sprache, in der Sätze gedanklich nicht bis ins Detail vorstrukturiert und Informationen nach Schließung der Satzklammer nachgetragen werden: (11) Ich habe zum Beispiel, nachdem ich das Abitur gemacht hatte, festgestellt, dass ich mich nicht unterhalten kann in rumänischer Sprache. (Rum 2, SZ) (12) Damals hat man noch Deutsch gesprochen auch untereinander in den Pausen und mit den Lehrern sowieso. (Rum 1, MB) (13) Es denken viele, sie lernen dann besser, die Kinder, Deutsch sprechen. (Rum 16 ,JB) Vor- und Nachnamen werden größtenteils mit dem bestimmten Artikel gebraucht (Beispiele 14-16), artikellose Formen kommen vereinzelt bei jüngeren Sprechern vor (17): (14) Grade der Misch, der Misch, die waren vier Kinder und sind bei der Großmutter geblieben. (Rum 15, MM) (15) Ja, da ist nun der Rosenberg, aber ein rumänischsprechender Rosenberg. (Rum 12,HS) (16) Und die Christa, die Müller, sie ist Deutschlehrerin. (Rum 41, EZ) (17) Diana ist, glaube ich, Assistentin an der Uni, arbeitet auch beim Goethe-Institut und der Peter ist jetzt beim Bosch. (Rum 8, RW) (B) Sehr häufig, wenn auch nicht ausnahmslos, werden Vergleiche durch die Partikel „wie“ angeschlossen: (18) a. Schwäbisch hat dort mehr Ungarisch wie unser Sächsisch, also das Sächsisch, das ich konnte. (Rum 18, HJ) b. Die Mutter schreibt jetzt Briefe besser wie ich, sie ist 96, wird sie. (Rum 12, HS) Da Pronominaladverbien in den Dialekten fehlen, benutzen weniger geübte Sprecher sie auch in der Standardform nicht oder setzen dafür verschiedene Kombinationen von Präpositionen mit Artikel: (19) Und durch dem, dass ich mich beschäftige auch mit die deutschen Literaturtagen eben, da bin ich sehr viel in Verbindung mit der rumäniendeutschen Literatur. (Rum 31, ET) (20) Am besten sprich ich Sächsisch, mit dem bin ich am besten gewöhnt. (Rum 15, MM) Bei mehrgliedrigen Konjunktionen wird oft dieselbe Konjunktion wiederholt: (21) a. Und wir feiern auch den Geburtstag, auch den Namenstag. (Rum 16, KR) b. Also, das letzte Mal ham wir gehabt ein Totenfall, da hat der Pfarrer gesprochen auch rumänisch, auch deutsch. (Rum 45, AG) (22) Frau Rektor hieß das so ehrenhalber, alle Leute sagten ihr oder Frau Thilli, Mathilde, oder Frau Rektor. (Rum 12, HS) Auffällig ist bei mehreren Sprecherinnen und Sprechern aus allen Gebieten der Gebrauch des sein-Passivs in Strukturen, in denen standardsprachlich werden-Passiv steht: (23) a. Ich wollte auch Sprachen studieren, war aber aus sozialen Gründen daran gehindert. (Rum 2, SZ) b. und viele andere Minderheiten, die eigentlich ebenso wie die Schwaben dann allmählich assimiliert waren, von der ungarischen Bevölkerung assimiliert waren. (Rum 35, JF) c. Ist der Auftrag gegeben an Universitäten? (Rum 12, HS) Gelegentlich stehen nicht reflexive Verben mit Reflexivpronomen: (24) das ist mir interessant (Rum 2, SZ) (25) hab ich mich angestellt (Rum 7, MU) (26) sie findet sich die rumänischen Wörter schwer (Rum 03, BJ) (27) Landlerisch tu ich mir zusammenzählen (Rum 16, KR) Falsche Artikelzuordnung bzw. Genuszuweisung kommt nur vereinzelt vor, kaum bei Sprechern, die nur Deutsch als L1 haben, eher bei Personen, die zweisprachig aufgewachsen sind: (28) infolge dieser Verfolgung und des Angstes der Schwaben (Rum 35, JF) (29) a. auch über das Umgang beim Forum; b. langes, kurzes Vokal (Rum 8, RW) (30) durch den Unterbewusstsein (Rum 33, CL) 8. Rumänien 361 (31) aber der Radio geht von morgens bis abends (Rum 34, HL) (32) iber diesen RU-Nummer (Rum 45, AG) Vor Substantiven, die die Nationalität bezeichnen, steht oft der unbestimmte Artikel: (33) a. Ich bin eine Rumänin. (Rum 20, SL) b. Er, er hat meistn Ungarisch gesprochen, obwohl seine Mutter war auch eine Deutsche. (Rum 41, EZ) Ebenfalls nur vereinzelt kommen unübliche Pluralformen vor: (34) die Schwesters, die Mädels, die Töchtern, die Evangelen (Rum 33, CL) (35) die Evangeler (Rum 44, GA) Die einzige abweichende Pluralform, die von zahlreichen Sprechern benutzt wird, ist die Rumäner (statt: die Rumänen). (C) Andere Normabweichungen sind entweder auf einzelne Untersuchungsgebiete oder bestimmte Sprechergruppen beschränkt und nicht als allgemeine Besonderheiten der in Rumänien gesprochenen Standardvarietät zu werten. So gebrauchen etwa Dialektsprecher der ältesten Generation in Siebenbürgen häufig was als Relativpronomen für Personen: (36) a. Viele Frauen, es waren viele Frauen, was drei Kinder, vier Kinder gelassen (haben). (Rum 15, MM) b. Aber Kinder, was nun die Schule besuchen dort, die sprechen dann eben Deutsch in der Schule und dann auch zu Hause. (Rum 15, MB) c. Ich hab auch Arbeitskolleginnen, mit was ich rumänisch gesprochen hab. (Rum 16, KR) Temporalsätze werden oft durch das der Dialektform entsprechende wie statt durch als eingeleitet, gelegentlich durch wo: (37) a. Hier wurde der Namenstag gefeiert, wie wir jung waren. (Rum 16, JB) b. Nachher, wie unsere Kinder dann waren, sind schon mehr, was dann auf die Schule gegangen sind. (Rum 15, MM) (38) Also, in der Woche hatten sie eine Stunde, wo sie gingen zum Herrn Pfarrer. (Rum 16, KR) Dialektalen Hintergrund hat auch die von der Norm abweichende Verwendung einiger Präpositionen und Adverbien: (39) Wir haben bei den Rumänen gewohnt, und sie ham zu uns gewohnt, die Rumänen. (Rum 15, KM) (40) Wenn jemand kommt von Deutschland, dann sprechen wir Deutsch, aber, wenn ich auf Besuch bei den Karl komm oder wann wir sprechen Sächsisch. (Rum 15, MM) (41) Von dort sind wir nach Hause gekommen, und dann hat man uns gleich bei’s Militär immer auf Arbeit einberufen. (Rum 15, MM) (42) Also, vor dem Zweiten Weltkrieg lebten da in Alzen beiläufig neunhundert Sachsen. (Rum 15, MB) (43) Ich denk, es ist darum, weil nicht mehr so viele Deutsche hier sind, und dann mengen wir auch rumänische Wörter hinein. (Rum 16, KR) Bei Siebenbürgern der jüngeren Generationen jedoch, die allgemein eine längere Schulbildung haben und die Standardvarietät öfter gebrauchen, sind diese Abweichungen nicht anzutreffen. Bei den Sprecherinnen und Sprechern aller Altersgruppen aus dem Banater Bergland, aus Oberwischau und aus der Bukowina treten bei Substantiven und mitunter bei Pronomina sehr häufig Fälle von Kasussynkretismus zwischen Dativ und Akkusativ auf, eine Erscheinung, die in Siebenbürgen fehlt und in Sathmar nur vereinzelt vorkommt: (44) Und dann wenn ich nicht das Offizielle spreche, sondern mit meine Leuten spreche, dann sprech ich eben wie’s hier gesprochen wird. (Rum 31, ET) (45) Ich denke, meine Eltern wollten das nicht wegen die Großeltern. (Rum 43, LF) (46) Dann hab ich von hier, vom Forum, und die - mit diese sprich ich Zipserisch. (Rum 41, EZ) (47) Na, mit die Jungen machen wir hier Kurse. (Rum 44, GA) Johanna Bottesch 362 Die meisten Abweichungen von den Standardregeln auf allen sprachlichen Ebenen treten bei den Sprechern aus der Bukowina auf. Die auffälligste Besonderheit dieser Region, die nicht selten sogar das Verstehen der Aussage erschwert, liegt im Bereich der Wortstellung. Die von der Standardnorm abweichenden Strukturen lassen sich nicht allein als Eigenheiten der Sprechsprache, wie Ausrahmung, Abbruch und Neuansatz werten, vielmehr folgen ganze Sätze den Topikregeln des Rumänischen: (48) Wenn ich hier bin angebunden beim Forum von der Frii bis am Abend beinahe. (Rum 44, GA) (49) Und nachträglich mein Vater wurde verschittet in einer Kohlgrube, und wann ich hab gehabt neun Monate, hat man ihm auch nach Hause geschickt. (Rum 45, AG) (50) Jetzt muss ich Ihnen sagen weiter. (Rum 45, AG) Belege für lexikalische Übernahmen aus den Kontaktsprachen in die deutschen Dialekte Rumäniens sind in der Fachliteratur gesammelt dargestellt und auf ihre Herkunft und Bedeutung sowie die Art ihrer Integration hin analysiert worden. 17 In der gesprochenen Standardvarietät kommen Übernahmen weniger zahlreich vor, da die Wortwahl in der Sprachform mit dem höheren Prestige einer stärkeren Selbstkontrolle unterworfen wi Gr rd. Wörter, die als typisch österreichisch gelten und eigentlich eine Gemeinsamkeit des in allen Untersuchungsgebieten gesprochenen Deutsch darstellen, sind in den Texten selbst kaum anzutreffen, werden jedoch von einigen Sprechern als Besonderheit des Rumäniendeutschen genannt: gelbe Rüben, Rauchfangkehrer, Paradeis, Eiskasten, Polster, Kasten, üßgott; ein doppelter Monatsgehalt (Rum 9, GC). Die Beispiele für lexikalische Entlehnungen, die den Interviews entnommen wurden, h Ge (51) a de teren [‘Außendienst’]. (52) e, Un- ’, Profession ‘Beruf’, Modistin ‘H 17 Stellvertretend wird verwiesen auf das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch, auf Wolf (1987) und Gehl (2001). Die Dialekte einzelner Ortschaften wurden in Monographien, zahlreichen studentischen Abschlussarbeiten und einigen Dissertationen untersucht. sind meist Einzelbelege, die für eine Tendenz stehen und als konkrete Einzelformen nicht unbedingt von allen Sprechern gebraucht werden. Daher ist auch eine Differenzierung nac bieten und Altersgruppen wenig sinnvoll. Gemessen am Umfang der Gesamtaufnahmen ist die Anzahl der lexikalischen Entlehnungen aus dem Rumänischen gering. Sie kommen vor allem bei Sprechern vor, die im Gebrauch der Standardvarietät weniger geübt sind, da sie in der Alltagskommunikation entweder einen Dialekt oder in hohem Ausmaß das Rumänische verwenden (z.B. in der Bukowina). Bei den nicht in das deutsche Sprachsystem integrierten Formen handelt es sich größtenteils um Substantive als Berufsbezeichnungen oder an das Berufsleben gebundene Ausdrücke: tinichigiu auto ‘Autoklempner’, maistru mecanic ‘Mechaniker’, alimenta ie publica ‘Gaststättenwesen’, derogare ‘Derogation’, pe zon ‘regional’, delega ie permanent ‘ständiger Ausschuss’. Die Informanten empfinden durchaus den Fremdcharakter dieser Formen; Sprechpausen vor ihrem Gebrauch bzw. anschließende Übersetzungs- oder Erklärungsversuche oder auch entsprechende metasprachliche Kommentare deuten darauf hin: Macht sie jetzt, wie man auf schön Rumänisch sagt, munc (Rum 8, RW) Dann haben wir im Jahr zwei-dreimal immer -- wie sie sagen, die Rumänen, petrecer terhaltung gemacht. (Rum 15, MM) Andere an das Berufsleben gebundene Bezeichnungen sind integrierte Formen: Professionisten ‘Fachleute’, Brigade ‘Arbeitsgruppe’, Etchipen ‘Gruppen utmacherin’. Etwas zahlreicher sind Lehnübersetzungen, ihr Gebrauch ist jedoch auf Einzelsprecher beschränkt: Szene ‘Bühne’, sich blockieren ‘eine (Sprech)hemmung haben’, Experiment ‘Versuch’, Perioden ‘Zeitspannen’, spezifische Bibliotheken ‘Fachbibliotheken’, didaktisches Material ‘Lehrmittel’, eine halbe Norm ‘Teilzeitarbeit’, im Kollektiv arbeiten ‘im Team arbeiten’, auf Enkel sorgen ‘Enkel betreuen’, Fakturen ‘Rechnungen’, Medium ‘Umfeld’, Spezialschulen ‘Sonderschulen’, Dossiers ‘Ordner’, eine professionelle Be- 8. Rumänien 363 ziehung ‘eine Beziehung auf beruflicher Ebene’, deutsche Sektion ‘deutsche Abteilung in einer Schule’, parabole Antenne ‘Parabolantenne’. Integrierte Entlehnungen, die in den regionalen Standard aller Siedlungsgebiete eingegangen zu sein scheinen, sind Posten in der Bedeutung ‘Arbeitsplatz’ und ‘Radiobzw. Fernsehsender’, Kollegen oder Klassenkollegen für ‘M ken’, ‘beeinflussen’, apostrophieren ‘m ch von lernen in (53) gelernt [statt: stu- (54) g, fakultativ. [statt: lernen] (Rum (55) upt nicht Deutsch wusste. (Rum 46, ntsprechungen in den Dialekten (Be- (56) a. gemacht b. gemacht [statt: gelernt]. (Rum 2, SZ) itschüler’. Außer Substantiven werden, in relativ hoher Anzahl und mit großer Gebrauchsfrequenz, vor allem lateinbasierte Verben entlehnt. Entlehnung aus dem Rumänischen ist selbst dann anzunehmen, wenn entsprechende Formen auch im allgemeinen Standard gebräuchlich sind oder zumindest als veraltete Formen dazu gehören. Diese Verben werden nach dem Muster der Verben auf -ieren integriert (insistieren, kollabieren, (die Klasse) absolvieren, konversieren, motivieren, inspirieren), weisen mitunter jedoch Form- oder Bedeutungsabweichungen auf: perfektieren, korrektieren, dirigieren ‘len ahnen’. Gestützt durch das Rumänische, wohl aber auf die Dialekte zurückzuführen ist der semantisch undifferenzierte Gebrauch von lernen und studieren sowie der Gebrau der Bedeutung ‘unterrichten’: Ich hab Weltwirtschaft diert] (Rum 12, HS) Ich hätte dort Englisch studieren können, drei Jahre lan 35, JF) Da hab ich noch einen Burschen gelernt, der überha EC) Auffällig ist die häufige Verwendung des Verbs machen statt semantisch differenzierender Verben. Ausdrücke mit machen sind nur zum Teil als Lehnübersetzung aus dem Rumänischen zu werten (Beispiele 56), andere haben E leg 57): Ich hab ja die deutsche Schule [statt: besucht]. (Rum 7, MU) Ich habe Französisch c. Dann hat er einen Herzinfarkt gemacht [statt: gehabt]. (Rum 10, CP) d. Und dann noch drei Jahre Militär gemacht [statt: Militärdienst geleistet]. (Rum 15, MM) e. Die waren Evangeler dortn, und die Evangeler ham keine Mischehen gemacht. (Rum 44, GA) (57) a. Dann schau ich mal, dass die deutsche Sprache richtig gemacht wird [statt: gesprochen]. (Rum 8, RW) b. Ich hab einen Schüleraustausch in Schrammberg gemacht [statt: an … teilgenommen]. (Rum 10, CP) c. Wir machen auch ein Theaterstück [statt: studieren]. (Rum 10, CP) Auf dialektalen Einfluss zurückzuführen ist der Gebrauch des Verbs sein, auch als Ersatz für die Struktur es gibt: (58) Obwohl er zum letzten Mal gemeint hat, Deutsch sei ihm leichter [statt: falle]. (Rum 1, MB) (59) Was mit dem Konfirmandenunterricht ist, der ist dann nicht in der Schule [statt: Was den Konfirmandenunterricht betrifft, der findet dann nicht in der Schule statt.] (Rum 9, GC) (60) Es sind sehr viele Leute, mit denen man allen Deutsch sprechen kann [statt: es gibt]. (Rum 8, RW) Für die Angabe des Alters verwenden mehrere Sprecherinnen und Sprecher - wie im Rumänischen - das Verb haben: (61) a. Der große hat nur 18. (Rum 7, MU) b. Sie hat jetzt 95 Jahre. (Rum 33, CL) Beim Gebrauch der Adjektive lassen sich wenige Besonderheiten ausmachen; auffällig ist der Gebrauch des Adjektivs schwach in der Bedeutung ‘wenig’, ‘schlecht’, für die es sowohl im Rumänischen als auch in den Dialekten eine Entsprechung gibt: (62) a. Die Mutter konnte schwach Rumänisch. (Rum 21, UW) b. Ich könnte nicht sagen, dass ich eine der Sprachen, wie soll ich sagen, schwächer spreche wie die andere. (Rum 35, JF) Johanna Bottesch 364 c. Aber nicht auszuschließen natürlich auch Filme, wo ich die deutschen natürlich viel schwächer finde wie die amerikanischen. (Rum 12, HS) Der adverbiale Gebrauch von anständig hingegen geht auf den Dialekt zurück: (63) Man hat anständig Servus gesagt (Rum 9, GC) Bei Sprecherinnen und Sprechern, die bilingual aufgewachsen sind, scheint gelegentlich Unsicherheit im Gebrauch zusammengesetzter oder präfigierter Verben zu bestehen: unterschrieben (statt: unterstrichen, Rum 8, RW), das Monopol zersprengt (statt: gesprengt, Rum 8, RW), ein Theaterstück wird aufgetragen (statt: aufgeführt, Rum 10, CP). Relativ häufig werden idiomatische und allgemein festgeprägte Wendungen in wörtlicher Übersetzung aus dem Rumänischen oder aus einem Dialekt verwendet. Als allgemein gebräuchlich gilt die Wendung sich Rechenschaft geben, weitere Übersetzungen aus dem Rumänischen sind: (64) Man gibt eine Aufnahmeprüfung, bevor man in die 9. Klasse kommt. (Rum 10, CP) (65) Dann müssen wir uns Notizen nehmen. (Rum 10, CP) (66) Es sind dreizehn Jahre zwischen uns. (Rum 03, BJ) (67) Seit ich mich kenn. (Rum 29, DS) (68) Auf einen Schutt [auf einen Schlag](sind) nur noch dreihundert geblieben. (Rum 15, MB) Aus dem siebenbürgisch-sächsischen bzw. landlerischen Dialekt stammen: (69) Aber vorher is man nicht so viel durcheinander gegangen, man hat nicht so viel mit ihnen zu tun gehabt. (Rum 15, MM) (70) Es hat sich ihm gar nicht gegeben, Deutsch zum sprechen. (Rum 16, JB) Dialektal sind auch Wendungen für temporale Angaben: noch in der Zeit (statt: zu jener Zeit), er ist dann um eine Zeit nach Bukarest gegangen (statt: ‘irgendwann’), alle Tage (statt: ‘täglich’). Auffällig ist, dass die Rumäniendeutschen nur eine geringe Anzahl von Gesprächspartikeln verwenden. Üblich sind ja, jetzt, also und in Siebenbürgen zur Gesprächseinleitung das auch im Rumänischen vorkommende na. Mitunter kommen diese Partikeln gehäuft vor: (71) Ja, ihr Vater ist ja jetzt, wenn ich gut weiß, Gemeindevorsteher, oder ein naher Verwandter, denn so viele Deutschs gibt es ja nicht mehr in der Stadt. (Rum 03, BJ) (72) Na, die Muttersprache, die is Sächsisch. (Rum 15, MM) (73) Na dann ist es gut. (Rum 16, JB) Für die Angabe von Jahreszahlen werden außer der standardsprachlichen Form (neunzehnhundertneunundachtzig) mehrere Varianten verwendet, die sich entweder an die dialektale oder an die rumänische Entsprechung anlehnen: (74) a. Nein, Vater ist schon im siebzig [1970] gestorben, meine Mutter im achtundsiebzig. (Rum 35, JF) b. Denn ich durfte als Pfarrerstochter nicht studieren im Siebenundfünfziger [1957]. (Rum 2, SZ) c. Da hab ich von Jahre einundneunzig [1991], seit wann sie diesen Ort auch heute noch betreien, mich als Dolmetscherin genommen. (Rum 47, EP) Im Sprachgebrauch der Sprecherinnen und Sprecher, die Deutsch als L2 erlernt haben, sind dialektbedingte Normverstöße nicht anzutreffen. Art und Vorkommenshäufigkeit der Regelabweichungen sind von Sprecher zu Sprecher verschieden und abhängig von der erreichten Kompetenz. Bei Berufssprechern sind z.B. kaum Flexionsfehler anzutreffen; Schwierigkeiten scheinen eher der Gebrauch der Präpositionen und die Semantik der zusammengesetzten und präfigierten Verben zu bereiten. Allgemein stellen L2-Sprecher hohe Anforderungen an die Sprachkorrektheit, das starke Normbewusstsein dürfte eine Folge gezielten Spracherwerbs sein. Was die Wortwahl betrifft, gebrauchen L2-Sprecher keine anderen aus dem Rumänischen entlehnte Wörter als jene, die in den allgemeinen Sprachusus des Gebietes eingegangen sind. Auffällig ist, dass der Anteil österreichischer Wörter im Sprachgebrauch der Personen dieses Spre- 8. Rumänien 365 chertyps weit geringer ist als bei L1-Sprechern derselben Altersgruppe. 18 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Alle in Rumänien befragten Sprecherinnen und Sprecher empfanden die Interviews als einsprachig deutsch definierte Situation und haben ihre Sprachenwahl - trotz der Zweisprachigkeit auch der Interviewer - daran angepasst. Im gesamten Sprachmaterial ist der Anteil rumänischer Formen äußerst gering, und diese gehen nur dann über die Wortebene hinaus, wenn sie Zitatcharakter haben: (75) Ich denke aber nicht, dass es dahin kommt, dass dann (…) wenn Frau B. in meinem Alter ist, und wenn wir uns begegnen, dass ich sage, Bun ziua, doamna B., ce mai face i? [Guten Tag, Frau B., wie geht es Ihnen noch? ] (Rum 12, HS) Auf Rumänisch werden Namen von Zeitungen (Magazinul, Tribuna, Monitorul, Rondul, România Liber ) angeführt, Fernsehsender (Antena 1), Fernsehsendungen (Actualit i, Cine tie câ tig ‘Wer weiß, gewinnt’), Buchtitel (Ion, R scoala), Straßennamen (Strada Republicii, Strada Florilor). Bei Ortsamen wird die deutsche Variante benutzt, sofern eine solche gebräuchlich ist; Bezeichnungen von Institutionen (Schulen, Hochschulen, Unternehmen, Kirchen) hingegen werden aus dem Rumänischen übernommen: (76) Hab ich der Liceu [Lyzeum] in rumänischer Sprache fertig gemacht, und dann hab ich noch coala Tehnic Forestier pentru Exploatare i Transportul Lemnului [Technische Forstschule für Holzverarbeitung und -transport]. (Rum 39, AO) 18 Die Aussage stützt sich auf eine noch nicht abgeschlossene Untersuchung, die zum gesprochenen Deutsch in Siebenbürgen durchgeführt wird. Der dafür erstellte Fragebogen umfasst 326 offene Fragen zu lexikalischen und grammatischen Besonderheiten des siebenbürgischen Deutsch. Ausgewertet wurden bis derzeit die Angaben von etwa 200 L1- und L2- Sprechern der dritten und vierten Generation. Solche Kulturwörter werden völlig natürlich in die Rede integriert, sie werden weder durch Sprechpausen noch durch metasprachliche Kommentare oder Erklärungsversuche von der restlichen Aussage abgesetzt. Anders verhält es sich bei Berufsbezeichnungen, die einige Sprecher gebrauchen, weil sie die deutsche Entsprechung nicht kennen oder diese ihnen nicht sofort einfällt: (77) Na der zweite lernt, der lernt tichinigiu auto [Klempner; korrekte rum. Form: tinichigiu], das ist Mech/ - ich weiß nicht, nicht Schlosser, Anstreicher, sie streichen das Auto an, Lackierer, so etwas, wie man das auf Deutsch nennt jetzt. (Rum 7, UM) Die Sprecherin kennt die deutsche Berufsbezeichnung nicht, ist jedoch sehr darum bemüht, eine Entsprechung zu finden. Die rumänische Form gehört anscheinend auch nicht zu ihrem Alltagswortschatz, da sie sie falsch gebraucht, obwohl es der Beruf ist, den ihr Sohn an einer rumänischen Berufsschule erlernt. Code-Switching, das über ein Einzelwort oder Namensnennung hinausgeht, konnte bei einer einzigen Sprecherin der ersten Generation aus der Sathmarer Gegend beobachtet werden. In einer ungarischsprachig geprägten Umgebung hat die Sprecherin selten Gelegenheit, die deutsche Standardsprache zu sprechen. Für seltener gebrauchte Wörter wie Gelenk und Neffe benutzt sie das ungarische Pendant, ebenso für Gesprächsfloskeln und Sprichwörter: (78) JB: Aber Sie können mit den Leuten hier Ungarisch sprechen? JE: Mit allen, mit allen, ja, ja. Man kann schon sagen, wie die Ungarn, besser wie die Ungarn, aber öndicséret büdös, wie sagt man das Deutsch? JF: Eigenlob stinkt. (Rum 38, JE) Die meisten Sprecherinnen und Sprecher machen - zum Teil sehr detaillierte - Angaben zu ihrem Verhalten in einer bilingual definierten Gesprächssituation (vgl. Abschnitt 6.3.). Allgemein geben die Befragten an, gesprächspartner- oder themenbezogen entwe- Johanna Bottesch 366 der die eine oder die andere Sprache zu verwenden: (79) Da wird nicht Rumänisch gesprochen, damit die Mutter alles versteht, sondern da wird kategorisch mit dem Vater Sächsisch gesprochen und mit der Mutter Rumänisch. (Rum 2, SZ) Der Wechsel von der einen Sprache zur anderen fällt den meisten nicht schwer: (80) Das ist mir so ins Blut gekommen. (Rum 27) (81) Ich tu mich nicht schwer mit der Zweisprachigkeit, ich kann mich umstellen. (Rum 21, UW) Bei jüngeren Sprecherinnen und Sprechern scheint Code-Switching und Sprachenmischung eher vorzukommen. So gibt ED (Rum 11) an, dass sie im Freundeskreis „manchmal deutsch, manchmal rumänisch, manchmal gemischt“ sprechen würden, also entweder die beiden Sprachen abwechselnd gebrauchen oder aus der jeweils anderen Sprache nur einige Wörter übernehmen würden. Das geschehe teils bewusst, teils unbewusst, manchmal auch nur zum Spaß, wie etwa „Gib mir den ceaiul [Tee]“. Bei einer Sprecherin von Typ I erfolgt Code-Switching vom Rumänischen zum Deutschen hin: (82) Ich misch da auch immer wieder. Wenn ich den Eindruck hab, jetzt kann ich mich nicht gut im Rumänischen ausdrücken, dann spring ich einfach ins Deutsche über. Also/ aber nicht wortweise, sondern nur ganze Sätze. (Rum 3, MJ) Die Einstellung der Sprecher zu Code- Switching ist widersprüchlich. SL (Rum 20), eine L2-Sprecherin meint, das in der Schule in Pausengesprächen verwendete Gemisch von Rumänisch, Deutsch und mitunter auch Englisch „tut keiner Sprache gut“, die L2-Sprecherin CN (Rum 23) jedoch wechselt von der einen Sprache in die andere: (83) weil ich mich nach dem Kriterium richte, was eben besser in einer Sprache ausgedrückt werden kann, sollte in DER Sprache auch gesagt werden. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Nach den Veränderungen, die sich mit der Wende von 1989 in Rumänien anbahnten, haben die Angehörigen der deutschen Minderheit in hoher Anzahl die nun gegebene Freiheit zur Abwanderung genutzt. Von den schätzungsweise 270.000 Deutschsprachigen in Rumänien am Anfang des Jahres 1990 wanderten bis Ende 1991 rund 143.000 Personen vor allem nach Deutschland aus, weitere 44.000 in den folgenden zehn Jahren. 19 Die Abwanderung und der natürliche zahlenmäßige Rückgang dieser überalterten Bevölkerungsgruppe führten dazu, dass bei der Volkszählung aus dem Jahr 2002 noch knapp 60.000 Personen angaben, der deutschen Minderheit anzugehören; etwa 45.000 davon gaben Deutsch als ihre Muttersprache an. 20 Diese Personen siedeln verstreut in vielen Ortschaften beinahe aller Gebiete Rumäniens, so dass, vor allem in ländlichen Gegenden, die ehemalige relativ geschlossene Siedlungsgemeinschaft aufgebrochen ist: Die Deutschsprachigen machen nur mehr einen sehr geringen Anteil der jeweiligen Ortsbevölkerung aus; an den Dorfschulen mussten die Abteilungen mit deutscher Unterrichtssprache wegen Schüler- und Lehrermangels abgebaut werden; deutschsprachiger Gottesdienst wird nur noch in wenigen Dörfern regelmäßig abgehalten. Bezogen auf die Situation in den 1960er Jahren, als noch in einer Vielzahl von Ortschaften der deutschsprachige Bevölkerungsanteil beachtlich war, muss heute von einer Sprachgemeinschaft in Auflösung gesprochen werden; kleine Inseln dieser Sprachgemeinschaft haben sich vor allem in einigen Städten erhalten. Im sozial-kulturellen Bereich brachte und bringt diese Entwicklung Veränderun- 19 Hermannstädter Zeitung vom 23. August 2002, S. 5. 20 Institutul Na ional de Statistic\. Recens\mântul Popula iei ^i al Locuin elor 2002. Rezultate Generale. Popula ie, gospod\rii, locuin e. CD, tab. 14 und tab. 15. o.J. 8. Rumänien 367 gen mit sich, die allgemein als ein „Zusammenrücken“ bezeichnet werden können. Das äußert sich in engeren Kontakten zu deutschsprachigen Bewohnern der Nachbarorte, die man beim Kirchgang, bei Gemeindefesten, bei kulturellen Veranstaltungen trifft, aber auch in engeren Beziehungen zu den anderssprachigen Mitbewohnern. Der Hang zur Abschottung Anderssprachigen gegenüber, der den Deutschsprachigen ländlicher Gegenden zuweilen eigen war, hat merklich nachgelassen; familiäre Beziehungen zu anderen Sprachgruppen nehmen zu und werden akzeptiert. Somit wird das Jahrhunderte lange Nebeneinander nun langsam zu einem Miteinander der Sprachgruppen. Auf Siebenbürgen bezogen, wo dieses entschiedene Nebeneinander besonders ausgeprägt war, meint dazu ein Sprecher der dritten Generation: (84) Ich würde sagen, in den letzten zehn Jahren hat ein Wandel stattgefunden. Vorher war’s nicht viel anders, als wie Sie es jetzt gesagt haben, dass man sächsischerseits, deutscherseits die Mehrheitsbevölkerung eher negativ eingeschätzt hat. (…) In den letzten zehn Jahren hat sicher ein Umdenken stattgefunden, weil bedingt dadurch, dass so wenige Deutsche dageblieben sind, und es klar wurde, dass man/ dass es überhaupt keinen Sinn hat, sich abzukapseln, sondern dass man nur MIT den Rumänen zusammen was anfangen kann, so auch zum Beispiel das Weiterführen des deutschsprachigen Unterrichts. Das ginge gar nicht mehr OHNE die Rumänen, wenn nicht die rumänischen Kinder in die deutschen Schulen kämen. (Rum 1, MB) Ein Sprecher aus dem Banater Bergland (ET) meint, dass es in diesem Gebiet viel früher als in Siebenbürgen und in höherer Anzahl Ehen mit Anderssprachigen gegeben habe, was zu einer stärkeren Annäherung der Kulturen geführt habe: (85) Ja, es war keine Ausklammerung, es war praktisch/ es war Mit/ sozusagen, wie man sagt jetzt heutzutage so schön, ein Miteinander, ja, ja, so war’s. (Rum 31, ET) Dass diese demographischen und sozialen Veränderungen sich bereits auf den Sprachgebrauch ausgewirkt haben und sich weitere Entwicklungen anbahnen, wird nicht nur aus der Außenperspektive wahrgenommen, sondern ist, wie unsere Interviews zeigen, auch in das Bewusstsein der Sprecher eingedrungen. Die Kommunikationssituationen für das Deutsche sind vor allem bei kleinen und sehr kleinen Sprechergruppen zahlenmäßig zurückgegangen: Die Nachbarn, ein bedeutender gesellschaftlicher Faktor in der Dorfgemeinschaft, sind nun meist anderssprachig; im Freundes- und Bekanntenkreis wird zusehends mehr auch in einer anderen Sprache verkehrt; in Familien, in denen der eine Ehepartner nicht deutschsprachig ist, verläuft die Kommunikation bilingual. In bilingualen deutsch-rumänischen bzw. deutsch-ungarischen Familien wird der Dialektgebrauch, insbesondere mit den Kindern, oft zugunsten der deutschen Standardvarietät aufgegeben. Auch in vielen einsprachigen Familien ist die Weitergabe des Dialekts an die Generation der Kinder und Enkelkinder, die größtenteils nach Deutschland ausgewandert sind, abgebrochen. Veränderungen im Sprachgebrauch bringen offensichtlich Auswirkungen auf die Sprachkompetenz mit sich (vgl. Abschnitt 6.4.). 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Die Auswertung der Sprecherbefragungen im Hinblick auf Sprachgebrauch und Sprachkompetenz hat ergeben, dass für Rumänien nicht allein das Kriterium Generation ausschlaggebend ist. Zu berücksichtigen sind zusätzlich die Art der sprachlichen Sozialisation, der Wohnort (ob Dorf oder Stadt) sowie der Beruf. Nach dem Kriterium der sprachlichen Erstsozialisation lassen sich die 54 befragten Personen 21 in drei Gruppen einteilen: Typ I (33 Personen) umfasst jene Sprecherinnen und Sprecher, die als Erstsprache die regionale deutsche Standardvarietät oder einen deutschen Dialekt erworben haben; zu Typ II (14 Informanten) gehören Personen, 21 Von diesen Befragten gehören 12 Personen der ersten, 15 Personen der zweiten, 19 Personen der dritten und 8 Personen der vierten Generation an. Johanna Bottesch 368 die bilingual aufgewachsen sind und außer Deutsch eine zweite Muttersprache angeben; Gruppe III bilden die L2-Sprecherinnen, die Deutsch in frühem Alter als Fremdsprache erlernt haben, deren schulische Sozialisation in dieser Sprache stattgefunden hat und die zum Teil Deutsch heute als Berufssprache haben. Etwas mehr als 90 Prozent der Befragten schätzen ihre Kenntnisse des Deutschen als gut bzw. sehr gut ein, lediglich vier Personen als mittelmäßig. Drei davon stammen aus der Sathmarer Gegend, haben zwar einen schwäbischen Dialekt als Muttersprache, verwenden jedoch in der Alltagskommunikation vor allem das Ungarische. JE, eine Sprecherin der ersten Generation, meint: (86) Es gibt noch sehr viele Wörter in Deutsch, das ich auch nicht kann. Gelernt hab ich nur mit sieben Klasse, keine Oberschule, und/ Also, was ich brauch, kann ich. (Rum 38, JE) Die vierte Informantin, die ihre Deutschkenntnisse als mittelmäßig bezeichnet, gehört zur Gruppe der L2-Sprecherinnen, hat in Suceava Deutsch als Fremdsprache erlernt und anschließend studiert, verfügt jedoch über eher bescheidene Sprachkenntnisse. Werden die einzelnen Fertigkeiten im Gebrauch des Deutschen berücksichtigt, ergeben sich in der Selbsteinschätzung der Befragten steigende Werte vom Verstehen über das Schreiben zum Sprechen hin. Den 45 Sprecherinnen und Sprechern, die angeben, Deutsch sehr gut zu verstehen, stehen neun gegenüber, die ihre Kompetenz im Verstehen lediglich als gut einschätzen. Da diese neun Personen entweder zu Typ I oder zu Typ II gehören, also (auch) Deutsch als Muttersprache haben, ist ihre Selbsteinschätzung wohl darauf zurückzuführen, dass sie ausnahmslos einen deutschen Dialekt als erste Sprache erlernt haben, diesen auch in den meisten Kommunikationssituationen verwenden und daher einige Schwierigkeiten beim Verstehen der binnendeutschen Standardvarietät haben. Acht der neun Sprecher gehören zur ersten bzw. zweiten Generation, deren Schulbildung im ländlichen Raum nur selten über sieben Grundschulklassen hinausging. Eine Ausnahme bildet die Sprecherin HJ (Rum 18), deren Einschätzung sowohl ihrer Verstehensals auch ihrer Sprechkompetenz lediglich als „gut“ durch eine besonders hohe Sprachaufmerksamkeit bedingt ist, da sie eine Deutschlehrerausbildung genossen hat und die regionale Standardvarietät sehr gut spricht. Alle befragten Personen geben an, über eine schriftsprachliche Kompetenz im Deutschen zu verfügen, die sie an deutschsprachigen Schulen oder im Unterricht Deutsch als Fremdsprache erworben haben. Ausnahme ist EZ (Rum 41), eine Sprecherin aus Oberwischau, die ungarische bzw. rumänische Schulen besucht und die deutsche Standardsprache im Selbststudium erlernt hat. Die bereits erwähnten vier Sprecherinnen und Sprecher aus Sathmar bzw. aus Suceava schätzen ihre Schreibkompetenz als mittelmäßig ein. Dabei ist bei den zwei Sprechern der ersten Generation davon auszugehen, dass sie in dem stark ungarischsprachig geprägten Umfeld und infolge der familiären Beziehungen nur wenig Deutsch schreiben, während die Sprecherinnen MN (Rum 36) und FP (Rum 48) bestrebt sind, ihre schriftsprachliche Kompetenz aus beruflichen Gründen auszubauen. Bei den restlichen 50 Befragten hält sich die Selbsteinschätzung der Schreibkompetenz zwischen gut und sehr gut ungefähr die Waage (24 zu 26), die Unterschiede zwischen „gut“ und „sehr gut“ sind weder eindeutig regional bedingt, noch ausschließlich den einzelnen Generationen zuzuordnen. Sprecherinnen und Sprecher der ersten und zweiten Generation, die auf dem Land leben, schätzen ihre Schreibkompetenz eher als gut (und nicht sehr gut) ein, was sie auf mangelnde Übung zurückführen, da sie nur gelegentlich Briefe an Verwandte und Freunde schreiben. Gleichaltrige Personen, die in Städten leben, haben meist eine höhere Berufsausbildung (z.B. Rum 4 IG, Rum 28 IF, Rum 46 EC, Rum 2 SZ, Rum 12 HS, Rum 35 JF) und schreiben Deutsch entweder im Beruf oder in der Verwaltungsarbeit der Kirche und des Deutschen Forums, wo sie als Rentner größtenteils ehrenamtlich tätig sind. Einige der befragten Personen haben Bücher oder 8. Rumänien 369 Abhandlungen zu geschichtlichen, literatur- und sprachwissenschaftlichen oder religiösen Themen verfasst (Rum 1 MB, Rum 9 GC, Rum 21 UW, Rum 22 RM, Rum 23 NC, Rum 28 IF, Rum 31 ET, Rum 33 CL), andere veröffentlichen regelmäßig Artikel in den deutschsprachigen Zeitungen in Rumänien (Rum 03 BJ, Rum 28 IF und Rum 8 RW). 22 der befragten Personen geben an, sehr gut Deutsch zu sprechen, 28 schätzen ihre Kompetenz als gut, vier lediglich als mittelmäßig ein. Allgemein neigen Personen mit höherer Schulbildung sowie die meisten L2- Lerner dazu, ihre schriftsprachliche Kompetenz höher einzuschätzen als die Sprechkompetenz, da sie sich der im mündlichen Sprachgebrauch üblichen Normabweichungen sowie einer mangelnden Spontaneität im Ausdruck bewusst sind. HS, ein Sprecher der dritten Generation, der zweisprachig ungarisch-deutsch aufgewachsen ist und jahrelang in Deutschland gelebt hat, schätzt seine mündliche Ausdrucksfähigkeit in der Standardsprache lediglich als gut ein: (87) Wenn ich Deutsch spreche, da gibt’s etwas in mir, eine Instanz, die da ständig aufpasst, was ich sag, wie ich das sag. Es kommt immer wieder vor, dass ich mitten im Satz stehen bleibe und nachdenken muss, wie das weitergeht. (Rum 5, HS) Die L2- und Berufssprecherin NC schreibt besser Deutsch, als sie es spricht, „weil ich noch Lücken habe“: (88) Im Schreiben bin ich eigentlich besser, weil ich mehr Zeit habe nachzudenken. Ich kann auch nachschlagen, was ich immer wieder tue. (…) Und ich bin auch sehr stolz, dass ich fast nie, vielleicht am Anfang, Schreibfehler gemacht habe. (Rum 23, NC) Die unterschiedliche Einschätzung der einzelnen Sprachfertigkeiten in der Standardvarietät weist darauf hin, dass die Befragten allgemein über ein hohes Normbewusstsein verfügen, ihrer Sprachkompetenz recht kritisch gegenüberstehen und Sprachkönnen in Zusammenhang sehen mit der Intensität und Frequenz des Sprachgebrauchs. Von den 47 Sprecherinnen und Sprechern der Gruppen I und II geben 32 Personen an, einen deutschen Dialekt zu beherrschen und aktiv zu gebrauchen, neun Personen haben lediglich passive Dialektkompetenz, während sechs Informanten aussagen, dass sie Dialekt weder sprechen noch verstehen. Bei vier Personen der letztgenannten Gruppe handelt es sich um Informanten aus Suceava, wo die Deutschsprachigen heute allgemein nur noch über eine einzige Varietät des Deutschen verfügen, und zwar über eine stark österreichisch geprägte standardnahe Varietät. Die neun Personen mit passiver Dialektkompetenz stammen aus Siebenbürgen, sechs davon sind bilingual deutsch-rumänisch bzw. deutschungarisch aufgewachsen, den siebenbürgischsächsischen Dialekt haben sie entweder in der Familie im Sprachgebrauch zwischen dem einen Elternteil und den Großeltern oder im Bekanntenkreis gehört. Dass die Sprecherin GC (Rum 9) und der Sprecher UW (Rum 21) keine aktive Dialektkompetenz haben, ist darauf zurückzuführen, dass sie aus Kronstadt (Bra^ov) bzw. aus Hermannstadt stammen, also Städten, in denen - den Aussagen mehrerer Informanten zufolge - in einem Teil der deutschsprachigen Familien bereits in früheren Generationen der Dialektgebrauch zugunsten des „Hochdeutschen“ aufgegeben wurde. Beide bedauern, keinen Dialekt zu sprechen. Die Angaben, die die befragten Personen zu ihrer Sprachkompetenz sowie zur Sprachsituation in ihrem Gebiet allgemein machen, lassen sich im Hinblick auf die in Rumänien gesprochenen Varietäten der deutschen Sprache für die untersuchten Regionen zusammenfassen und können den Ausführungen in Kapitel 5 gegenübergestellt werden: In Siebenbürgen beherrschen die meisten Sprecher sowohl einen deutschen Dialekt als auch die regionale Standardvarietät bzw. eine standardnahe Sprachform. Eine Umgangssprache im eigentlichen Sinne gibt es nicht. L2-Sprechern fehlt die Dialektkompetenz, ihr schulisch erworbenes Deutsch ist standardnah, meist akzentfrei, folgt jedoch in Aussprache und Satzmelodie den Mustern, die dem Rumäniendeutschen in Siebenbürgen eigen sind. Die Sprecherinnen geben an, dass Johanna Bottesch 370 ihr Wortschatz nur in den berufsbedingten Bereichen voll ausgebaut sei. Im Banat hat sich vor allem in den Städten eine Verkehrsmundart bzw. Umgangssprache herausgebildet, so dass Sprecher z.B. aus Temeswar über ein Drei-Varietäten-System verfügen: Dialekt, Umgangssprache, regionale Standardform. Die Informanten geben an, dass sie diese Varietäten sprecherabhängig und situationsbezogen verwenden (Rum 28, IF und Rum 29, DS). In den Städten des Banater Berglandes steht der Standardvarietät eine regional geprägte Verkehrsmundart gegenüber, Dialekte werden nur noch von ganz wenigen Sprechern in einigen Dörfern gebraucht. ET (Rum 31) gibt an, dass Deutschsprachige vom Land außer dem jeweiligen Dialekt noch die Reschitzaer Umgangssprache beherrschen, jedoch keine Standardvarietät: (89) Die sprechen nicht Deutsch - Hochdeutsch. Nur die, wos in der Schule, wos ausgebildet wurden, aber sonst wird nicht gesprochen Hochdeutsch. Im Sathmarer Gebiet beherrschen nur noch die Sprecher der ersten Generation und wenige der zweiten einen deutschen Dialekt. Der Gebrauch des Deutschen ist zugunsten des Ungarischen aufgegeben worden. Sprecher vor allem der vierten Generation bemühen sich um ein Erlernen des Deutschen als Fremdsprache. In Oberwischau hat der Ortsdialekt, das „Zipserische“, einen hohen Stellenwert: die selten gesprochene Standardvarietät weist vor allem bei älteren Sprechern relativ starke dialektale Einflüsse auf. In Suceava steht einer österreichisch geprägten Standardform kein Dialekt gegenüber. Die Informanten geben an, dass in den Dörfern des Buchenlandes, in denen auch Deutschsprachige lebten, früher Dialekt gesprochen wurde; es konnten jedoch keine Sprecher befragt werden. Für die Sprecher und Sprecherinnen, die allein Deutsch als erste Sprache haben und damit aufgewachsen sind, hat Rumänisch die Funktion einer Zweitsprache. Erlernt wurde und wird das Rumänische bei diesem Sprechertyp (I) nicht in der Familie, sondern in der Schule und im außerfamiliären Sprachgebrauch. Anders verhält es sich bei den Personen der Gruppe II, die bereits zweisprachig aufgewachsen sind, Rumänisch also im Rahmen der ersten sprachlichen Sozialisationsphase erlernt haben. 30 der 54 befragten Personen geben an, das Rumänische sehr gut zu sprechen, weitere 18 schätzen ihre Rumänischkenntnisse als gut ein, sechs Personen als mittelmäßig bis schlecht. Zwar handelt es sich bei den Personen mit eher bescheidenen Kenntnissen in der Landessprache um Sprecherinnen und Sprecher der ersten Generation (5) und der zweiten (1), doch kann wiederum nicht das Alter allein als bestimmendes Kriterium gelten. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, dass die sechs Personen auf dem Dorf leben und außer der Grundschulbildung keine weitere berufliche Ausbildung erfahren haben. Zudem stammen die Personen aus Siebenbürgen, wo besonders im ländlichen Raum die Kontakte zu Rumänischsprachigen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht eng waren, bzw. aus der Sathmarer Gegend, wo das Ungarische vorherrscht. Informanten derselben Altersgruppe, die in einer Stadt leben, verfügen allgemein über bessere Rumänischkenntnisse, da sie die Möglichkeiten zu höherer Schulbildung wahrnehmen konnten, und höhere Berufsausbildung oder Studium erfolgten eben in der Landessprache. Über seine Erfahrungen beim Erlernen der Landessprache berichtet HS, ebenfalls ein Sprecher der zweiten Generation aus Mediasch in Siebenbürgen: (90) CR: Haben Sie das schon als Kind auch gelernt, Rumänisch? HS: Nein, ich hab es SO wenig gekonnt, dass ich aus DEM Grund in die rumänische Schule ging. JB: Damit Sie Rumänisch lernen? HS: Ich hatte die siebte Klasse absolviert, und hatte zwar Zehn, das ist hier die größte Note, in Rumänisch, aber ich konnte nicht konversieren. Und hatte Angst, ins Berufsleben einzutreten, ohne die Sprache zu beherrschen. Zum Ver- 8. Rumänien 371 Altersgruppe Anzahl davon Sprechertypenzugehörigkeit 1. Generation 6 Typ I: 6 2. Generation 8 Typ I: 7; Typ II: 1 3. Generation 13 Typ I: 4; Typ II: 4; Typ III: 5 4. Generation 6 Typ I: 1; Typ II: 4; Typ III: 1 Tabelle 8: Befragte nach Altersgruppen und Sprechertypenzugehörigkeit druss meines Vaters, um nicht zu sagen, zur Empörung meines Vaters, hab ich dann selbstständig die rumänische Schule gewählt (…). (Rum 12, HS) Sprecherinnen und Sprecher der dritten und vierten Generation schätzen ihre Rumänischkenntnisse durchweg als gut bis sehr gut ein. Sie verfügen auch über konzeptionell schriftliche Register, die sie in der Schule und in der Berufsausbildung erworben haben, doch ihr Rumänisch ist keineswegs akzentfrei; von Rumänen wird ein Deutsch-Erstsprachler bereits nach wenigen Worten als solcher erkannt. RB, ein Sprecher der vierten Generation, dessen Rumänischkenntnisse als sehr gut eingestuft werden können, meint dazu: (91) Man sagt mir, dass ich die Sprache gut verwenden kann, aber soviel ich weiß, mangelt’s ein bisschen an der Aussprache und so. (…) Ja, man merkt es, man hat mir schon oft gesagt, - also Leute, die mich nicht gekannt haben, dass ich/ dass es nicht meine Muttersprache ist. (Rum 19, RB) Die Einschätzung ihrer Rumänischkenntnisse als gut und sehr gut bei nicht weniger als 41 Sprecherinnen und Sprechern (ausgenommen sind die sieben Sprecherinnen der Gruppe III) dürfte aus der Außenperspektive etwas zu relativieren sein. Bei dieser Einstufung ist weniger das Kriterium der Normorientierung ausschlaggebend, wie im Falle der deutschen Erstsprache, bewertet wird vielmehr die Fähigkeit zur Kommunikation in einer gesprochenen Variante der rumänischen Sprache. So geben nur zwölf der insgesamt 54 Befragten an, Rumänisch sei die Sprache, die sie am besten sprechen, sechs davon sind L2-Sprecherinnen, und sechs sind Personen, die zweisprachig aufgewachsen sind. Weitere sieben Informanten (ein Sprecher der ersten Generation, 5 Sprecher der zweiten Generation und ein Sprecher der dritten Generation) geben an, Rumänisch, das für sie Berufssprache war bzw. ist, genauso gut wie die regionale deutsche Standardvarietät zu sprechen. Die Dialektkompetenz wird - sofern vorhanden - als höher eingestuft. 6.3 Sprachgebrauch im Netzwerkmodell: Sprecherkonstellationen und -typen So wie ihre Sprachkompetenz ist auch der Sprachgebrauch der in Rumänien lebenden Deutschsprachigen nicht allein von der Altersgruppe abhängig, sondern wird von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sprechertyp, vom Wohnort, dem Beruf bzw. dem Arbeitsplatz der einzelnen Personen mitbestimmt. Um einen Einblick zu erhalten in die Kompetenz, die die Sprecherinnen und Sprecher in den einzelnen Varietäten des Deutschen, aber auch in den umgebenden Sprachen besitzen, wurden für jedes Untersuchungsgebiet vier bis fünf Informanten befragt, möglichst verteilt auf die vier Generationen. Um eine eingehende Darstellung der sprachlichen Kontakte sowohl unter qualitativem als auch unter quantitativem Aspekt zu gewährleisten, erwies es sich jedoch als notwendig, zumindest für eines der Gebiete eine größere Anzahl von Personen zu befragen, um die Unterschiede aufzeigen zu können, die sich im Sprachgebrauch in Abhängigkeit von Generation, Sprechertyp, familiär-sozialem Hintergrund, Wohnort und Beruf ergeben. Für den Sprachgebrauch im Netzwerkmodell wurden 33 Personen aus Siebenbürgen befragt; über die Verteilung nach Altersgruppen und Sprechertypen gibt Tabelle 8 Aus- Johanna Bottesch 372 kunft. Acht Personen stammen aus ländlichen Gebieten, und zwar aus den drei Ortschaften Alzen/ Al âna, Großpold/ Apoldu de Sus und Tartlau/ Prejmer. Die anderen Informanten leben in Hermannstadt/ Sibiu, Kronstadt/ Bra^ov und Mediasch/ Media^. Viele Personen kennen einander, sind miteinander befreundet oder treffen sich bei verschiedenen Veranstaltungen. 22 Eine Kurzdarstellung des Sprachgebrauchs in den anderen fünf Untersuchungsgebieten unter besonderer Hervorhebung der Unterschiede folgt in Abschnitt 6.3.3. 6.3.1 Konstellation 1: qualitativ bestimmte Kontakte 6.3.1.1 Nahestehende Personen In Siebenbürgen ist der Sprachgebrauch der ersten Generation noch sehr stark vom Dialekt geprägt. Alle Sprecherinnen und Sprecher, die auf dem Dorf leben, haben als Erstsprache Siebenbürgisch-Sächsisch bzw. Landlerisch. Diese Sprachform haben sie mit ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern gebraucht und sprechen sie, mit einer Ausnahme, weiterhin mit ihren Kindern, selbst wenn diese nach Deutschland ausgewandert sind. Mit den Enkelkindern wird der Dialektgebrauch dann beibehalten, wenn diese noch in Rumänien geboren wurden und mit dieser Sprachform aufgewachsen sind. Da in dieser Generation Eheschließungen mit anderssprachigen oder auch nur ortsfremden Partnern äußerst selten waren, bestand keine Notwendigkeit, als Familiensprache die regionale Standardvarietät oder Rumänisch zu gebrauchen. Allein die Sprecherin IG (Rum 4), die in Hermannstadt lebt, hat mit ihrem Mann, der nicht Dialektsprecher war, die regionale Standardvarietät 22 Der Sprecher Rum 1, MB aus Hermannstadt kommt zumindest gelegentlich mit allen Informanten zusammen: über den Beruf mit Lehrern und Schülern, über das Fortbildungszentrum mit den Informanten aus Mediasch, über seine Tätigkeit beim Deutschen Forum mit den Sprechern aus Alzen, über seinen Geburtsort, Großpold, mit den vier Personen aus diesem Ort; die Sprecher der vierten Generation gehören teilweise zum Freundeskreis seines Sohnes (Rum 19, RB), die L2-Sprecherinnen sind Arbeitskolleginnen seiner Frau. gesprochen und spricht sie heute noch mit ihrer Tochter und einigen Geschwistern. Das Sächsische gebraucht sie weiterhin mit einer der Schwestern, „weil ich sie am liebsten hab“ und weil Sächsisch für sie die Sprache der Kindheit sei. Bei den Sprechern der zweiten Generation ist ein leichter Rückgang des Dialektgebrauchs zu verzeichnen; die Familiensprache ist in der Stadt eher der regionale Standard (Rum 2, SZ und Rum 14, ET). Da die Enkelkinder der Sprecher dieser Generation zum Teil bereits in Deutschland geboren sind, kommt bei einigen Dialektsprechern (Rum 12, HS und Rum 16, KR) auch die Standardvarietät als Familiensprache im engsten Kreis dazu. Einige wenige Sprecherinnen und Sprecher dieser Generation sind zweisprachig aufgewachsen (Sprechertyp II) oder haben einen rumänischsprachigen Ehepartner (Rum 15, KB und Rum 21, UW). Da der deutschsprachige Partner meist die bessere Zweisprachenkompetenz hat, erfolgt die Kommunikation in der Muttersprache des nicht deutschsprachigen Ehepartners. Die Kinder wachsen zweisprachig auf; die Informanten geben an, mit den Kindern nur Deutsch zu sprechen und Sprachenwechsel selbst in Anwesenheit des anderen Elternteils zu vermeiden. In der dritten Generation ist ein zahlenmäßiger Anstieg der zweisprachigen Familien zu verzeichnen. In allen verwendet der deutschsprachige Elternteil mit den Kindern eine deutsche Varietät, Sprachenwechsel ist jedoch nicht mehr völlig ausgeschlossen: RW (Rum 8) z.B. spricht mit dem Vater grundsätzlich Siebenbürgisch-Sächsisch, in Anwesenheit der ungarischsprachigen Mutter allerdings auch Rumänisch. Sprecherin CB (Rum 6) gibt an, mit ihren Kindern zwar Deutsch zu sprechen, beim Spaziergang im Park gelegentlich aber Rumänisch, denn „die Leute schauen einen so komisch an“. In zweisprachigen Familien kommt das Aufgeben des Dialekts zugunsten der Standardvarietät mitunter vor (so bei Sprecher Rum 27, LS, dessen Vater mit seinen Eltern Sächsisch spricht, mit dem Sohn jedoch Hochdeutsch), es ist aber nicht die Regel (in den Familien der Sprecher Rum 5, HS und Rum 8, RW z.B. wird Ungarisch und 8. Rumänien 373 Sächsisch gesprochen). Die Einstellung der Sprecher auch der dritten Generation zum Dialekt ist durchaus positiv: (92) Sächsisch ist die Sprache, in der ich mich am besten fühle, ich spreche es am natürlichsten. (Rum 5, HS) (93) Wenn das Gespräch persönlich wird oder es hat was Intimeres, dann geht's sächsisch los. (Rum 8, RW) Die Weitergabe des Dialekts an die nächste Generation ist allerdings keine Selbstverständlichkeit mehr. Im Rahmen der dritten Generation ist erstmalig der Sprechertyp III gesondert zu betrachten, da L2-Sprecher besonders in den Städten, wo es deutschsprachige Schulen gibt, in zahlenmäßig relativ starken Gruppen auftreten. Alle Informantinnen dieser Gruppe verfügen über eine hohe sprachliche Kompetenz, gebrauchen Deutsch jedoch vor allem als Berufssprache. Ihre Erst- und Familiensprache ist Rumänisch bzw. Ungarisch, mit nahestehenden Personen wird nicht deutsch gesprochen, auch wenn diese ihrerseits Deutsch als L2 erlernt haben. NC (Rum 23) z.B. gebraucht mit ihrer Cousine Deutsch eher nur als „Geheimsprache“: (94) Es ist nur so, man kommt sich komisch vor, wenn man in der Familie, wenn man nicht Muttersprachler ist und deutsch spricht. Zwar möchten die Sprecherinnen, dass auch ihre Kinder Deutsch lernen, können sich jedoch nicht vorstellen, es ihnen selbst als Erstsprache beizubringen, NC findet, das wäre „gekünstelt“. 23 Zur Informantengruppe der vierten Generation gehören vor allem Sprecherinnen und Sprecher von Typ II und III, also Personen, die zweisprachig aufgewachsen sind oder Deutsch als L2 erlernt haben. Da die jüngeren und jungen deutschsprachigen Familien in großer Anzahl ausgewandert sind, ist auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Ru- 23 Die Sprecherin RM (Rum 22) muss als Ausnahme gelten: sie spricht in einer rumänischsprachigen Familie mit ihrem Sohn (Rum 22, AF) ausschließlich Deutsch, so dass er zweisprachig aufgewachsen ist. mänien, die nur Deutsch als Erstsprache haben, stark gesunken. Die zweisprachigen Informanten dieser Altersgruppe sprechen mit dem deutschsprachigen Elternteil, den Großeltern und nahen Verwandten Deutsch, mit den Geschwistern jedoch zumindest teilweise auch Rumänisch oder die unter Schülern übliche deutsch-rumänische Mischform. Drei Informanten, die zu Sprechertyp II gehören (Rum 10 CP, Rum 11 DE und Rum 27 LS) sowie der Sprecher RB (Rum 19, Typ I) geben an, einen deutschen Dialekt zwar zu verstehen, aber nicht zu sprechen. Sprecherinnen und Sprecher der ersten Generation zählen zu dem Kreis besonders nahestehender Personen nur ihre Familienangehörigen. Da diese Informanten vor allem zu Sprechertyp I gehören, ist der Sprachgebrauch in dieser Konstellation äußerst homogen. Beginnend jedoch mit der zweiten Generation zählen mehrere Informanten zum Kreis der nahestehenden Personen auch Freunde, mit denen sie Rumänisch, selten Ungarisch sprechen, denn „gute Beziehungen hängen nicht an der Sprache“ (Rum 4, IG). 6.3.1.2 Weitere nahestehende Personen Die meisten Sprecherinnen und Sprecher zählen die Geschwister, sofern sie welche haben, eher zur Gruppe der Personen, die ihnen sehr nahe stehen. In der zweiten Gruppe werden eigene und angeheiratete Verwandte aufgeführt und besonders enge Freunde. Während bei den Sprechern der ersten Generation auch in dieser Konstellation der Dialektgebrauch vorherrschend ist, ganz gleich, ob die Personen noch im Ort, in einer anderen Ortschaft oder in Deutschland leben, gestaltet sich bei den folgenden Altersgruppen der Sprachgebrauch differenzierter. So geben von den 16 Sprecherinnen und Sprechern der zweiten und dritten Generation, die zu Typ I oder zu Typ II gehören, nur fünf (Rum 13 IJ, Rum 14 ET, Rum 16 KR, Rum 1 MB, Rum 7 MU) an, keine anderssprachigen Verwandten zu haben, so dass die Kommunikation in allen Gesprächssituationen ausschließlich im Dialekt oder in der Standardvarietät erfolgt. Zwei Drittel dieser Informantengruppe haben auch Verwandte, mit denen sie entweder Rumä- Johanna Bottesch 374 nisch oder Ungarisch sprechen. Bei Zusammenkünften in größerem Rahmen ist der Sprachgebrauch daher vorrangig durch Mehrsprachigkeit und Sprachenwechsel geprägt. Mischformen werden bei den Sprechern dieser Altersgruppe bewusst vermieden. Als Beispiel kann der Sprachgebrauch eines Sprechers der dritten Generation (Rum 03, BJ) dienen: BJ spricht mit seiner Mutter Deutsch, mit dem Vater Ungarisch; wenn seine Frau (Rum 3, MJ) zugegen ist, wird meist auf Rumänisch umgeschaltet. Mit den Verwandten väterlicherseits spricht BJ Ungarisch, mit den Verwandten der Mutter vor allem Deutsch, mit zwei Tanten jedoch Ungarisch, und wenn MJ anwesend ist, Deutsch. Mit den im Banat lebenden Schwiegereltern spricht BJ die deutsche Standardvarietät, sie antworten im schwäbischen Dialekt; mit dem rumänischsprachigen Schwager von MJ sprechen beide Rumänisch, obwohl er das Schwäbische zumindest versteht. Bei der Wahl der Freunde, die zum Kreis der nahestehenden Personen gezählt werden, scheint deren Muttersprache keine Rolle zu spielen: Mit Freunden wird im Dialekt gesprochen, in der regionalen Standardvarietät, auf Rumänisch oder auf Ungarisch. Mehrere Sprecherinnen (z.B. Rum 13, IJ und Rum 3, MJ) geben an, dass sie mit rumänischen Freundinnen, auch wenn diese Deutsch sprechen, aus Rücksicht eher das Rumänische verwenden. In anderen Fällen wird die Wahl der Sprache durch die Kennenlern-Situation bestimmt und ist Gewohnheitssache. Sprecherinnen und Sprecher der vierten Generation ordnen in den Kreis nahestehender Personen eine größere Anzahl von Freunden ein, Verwandte hingegen meist nur dann, wenn danach gefragt wird. Bei Jugendlichen ist der Sprachgebrauch im Freundeskreis besonders stark durch Mehrsprachigkeit und Sprachenwechsel geprägt; auch verwenden sie gelegentlich Deutsch, Rumänisch und Englisch gemischt. Auch bei den L2-Sprecherinnen scheint in der zweiten Gruppe nahestehender Personen die Verwendung von mindestens zwei Sprachen an Bedeutung zu gewinnen. Mit den rumänischen bzw. ungarischen Verwandten wird offensichtlich in diesen Sprachen verkehrt, mit deutschsprachigen Freundinnen dagegen zumindest gelegentlich auf Deutsch. Mit Freundinnen, die zwar Deutsch sprechen, jedoch Rumänisch als Muttersprache haben, spricht RB (Rum 24) nur dann Deutsch, „wenn es nicht um wichtige Sachen geht“, bei Privatsachen wird auf Rumänisch umgeschaltet, denn: (95) was sehr wichtig ist, was ich als sehr wichtig empfinde, das muss ich auf Rumänisch sagen. 6.3.1.3 Weiterer Freundes- und Bekanntenkreis Der Sprachgebrauch im Umgang mit weniger engen Freunden, Nachbarn und Bekannten ist weniger von der Sprechergeneration oder von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sprechertyp abhängig als vielmehr vom Arbeitsplatz und der Beteiligung an gesellschaftlichen Ereignissen. Da die ehemalige Siedlungsgeschlossenheit infolge der Auswanderung auch im ländlichen Raum nicht mehr besteht, haben die meisten Sprecherinnen und Sprecher fast ausschließlich rumänische Nachbarn und sprechen mit diesen deren Sprache. Viele Informanten haben einen großen Bekanntenkreis, in dem sie sowohl die deutsche als auch die rumänische Sprache gebrauchen. Das berufliche Umfeld der meisten befragten Personen war vor 1990 ausschließlich oder vorrangig rumänischsprachig geprägt. In Betrieben und Schulen z.B. hatten die Befragten zwar auch deutschsprachige Kolleginnen und Kollegen, Deutsch wurde jedoch nur im privaten Umgang gebraucht und wenn alle Beteiligten die Sprache beherrschten. Die einzige Institution, in der Deutsch „Amtssprache“ war, war die evangelische Kirche. Seit 1990 gibt es jedoch vor allem in den Städten Beschäftigungsbereiche, in denen zwar nicht ausschließlich aber vorwiegend Deutsch gesprochen wird: das Deutsche Forum, deutschsprachige Schulen und Schulabteilungen, ein Fortbildungszentrum für Lehrerinnen und Lehrer, die in deutscher Sprache unterrichten, zwei Altenheime, Kulturinstitutionen, Stiftungen, kleinere Betriebe. Viele der Noch-Berufstätigen haben ihren ehemaligen Arbeitsplatz aufgegeben und sind nun in einem beruflichen 8. Rumänien 375 Umfeld tätig, in dem sie zweisprachig agieren können: Mit Kollegen und Vorgesetzten wird vor allem Deutsch gesprochen, mit Vertretern der staatlichen Behörden und Ämter Rumänisch. Die befragten Personen, die beim Deutschen Forum in Hermannstadt als Angestellte oder ehrenamtlich tätig sind, geben an, dass sie untereinander die regionale deutsche Standardvarietät oder das Siebenbürgisch- Sächsische gebrauchen, bei öffentlichen Veranstaltungen und Zusammenkünften nur die Standardvarietät. Aus den Befragungen geht hervor, dass Deutsch-Erstsprachler durchaus bereit sind, mit anderssprachigen Freunden in informellen Gesprächssituationen deren Muttersprache zu verwenden, auch wenn diese Deutsch beherrschen. Sie möchten dem Kommunikationspartner sprachlich entgegenkommen, ihm die Peinlichkeit unzutreffender Formulierungen ersparen: (96) Mir scheint es eine Form des Respektes der Person gegenüber. (Rum 3, MJ) In einem beruflichen Umfeld jedoch, das auch deutschsprachig bestimmt ist, wie Forum, Schule, Germanistiklehrstuhl erwarten sie, dass auch L2-Sprecher die deutsche Sprache benutzen (Rum 21 UW, Rum 2 SZ, Rum 13 IJ, Rum 18, HJ), was durchaus nicht immer positiv gewertet wird: (97) Ich bin immer wieder gehemmt, wenn ich mit Muttersprachlern spreche, und ich mach Fehler, die ich sonst nie machen würde. (Rum 23, NC) MB (Rum 1) spricht „grundsätzlich mit allen Deutsch, die Deutsch können“, außer wenn er merkt, dass es den Gesprächspartnern unangenehm ist: (98) CR: Warum machen Sie das, dass Sie mit denen allen Deutsch reden, aus Prinzip? Es ist schon eine gewisse Philosophie dahinter, oder? MB: Es ist irgendwie Gewohnheit. Die, die Deutsch gelernt haben in der deutschen Schule und die ja doch zu meiner Generation gehören, also die haben/ damals hat man noch Deutsch gesprochen auch untereinander in den Pausen und mit den Lehrern sowieso, und für die ist das irgendwie normal. Für die jüngeren, da ist es das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Und da sprechen normal die Lehrer mit den Schülern in der deutschen Schule Deutsch, und das geht dann auch nachher weiter. (Rum 1) 6.3.2 Konstellation 2: quantitativ bestimmte Kontakte 6.3.2.1 Personen mit häufigem Kontakt Dass Sprecherinnen und Sprecher der ersten und zweiten Generation zu dem Kreis der Personen, mit denen sie am häufigsten sprechen, Kinder, Enkelkinder, nahe oder entferntere Verwandte zählen können, muss heute als Ausnahme gelten (Rum 2, SZ). In Frage kommt in einigen Fällen noch der Ehepartner (Rum 17 TR, Rum 12 HS und Rum 18 HJ); die anderen Familienangehörigen sind meist ausgewandert. Die Lücken, die dadurch im sozialen Umfeld der Personen entstanden sind, werden durch engere Kontakte zu Freunden, Nachbarn und Bekannten gefüllt, mit denen man entweder Deutsch oder Rumänisch spricht. Die meisten Informanten geben an, heute mehr Rumänisch zu sprechen als früher, teilweise sogar mehr Rumänisch als Deutsch. Die Aussage von MM (Rum 15) ist wohl zutreffend für die Lage in Ortschaften, in denen es nur noch sehr kleine deutschsprachige Sprechergruppen gibt: (99) Na, Rumänisch sprechen wir jeden Tag, wir ham ja Nachbarn Rumänen, nur Rumänisch, jeden Tag sprechen wir. Wir sprechen mehr Rumänisch wie Deutsch. (Rum 15, MM) Dieselbe Entwicklung nimmt HS (Rum 12) wahr: (100) Wenn die Familie, die engere Familie ausgenommen wird, dann würd es sich bald fiftyfifty abspielen. Im kirchlichen und Forumsbereich Deutsch, und in allen anderen, vom Einkaufen, vom Diensttun, vom Gasrechnung oder Telefon (bezahlen), oder was immer da so Johanna Bottesch 376 ist, oder Kreisrat oder Rotarier-Club, ist ja dann die rumänische Sprache. (Rum 12, HS) Die Homogenität, die vor allem bei Sprechern der ersten und zweiten Generation den engsten Kreis qualitativ bestimmter Kontakte prägt, weicht somit beim ersten Kreis quantitativ bestimmter Kontakte dem Mehrsprachengebrauch. Die Informanten der dritten und vierten Generation leben meist noch mit den nächsten Familienangehörigen zusammen, Familiensprache ist - je nach Sprechertyp und Sprachenkonstellation - Deutsch oder Deutsch und Rumänisch bzw. Deutsch und Ungarisch. Im Hinblick auf die am häufigsten gebrauchte Sprache ist vor allem bei den Sprechern der dritten und teilweise der zweiten Generation der Arbeitsbereich ausschlaggebend. Kontakte zu Arbeitskollegen sind meist häufiger als zu Verwandten, so dass der Sprachgebrauch am Arbeitsplatz den Stellenwert einer Sprache in der Alltagskommunikation entscheidend mitbestimmt. Dazu ein Sprecher der zweiten Generation: (101) Inzwischen ist es ja so, dass ich mit den Mitarbeitern täglich, oder sag ich nun mal, wenn nicht täglich, dann wöchentlich, mehrmals zusammenkomme, während mit meinen Kindern einmal im Jahr. Und selbst mit der Mutter und Schwiegermutter. Und mit den Geschwistern, die hier wohnen, sagen wir nun, einmal im Monat. (Rum 12, HS) Bei den acht Sprechern der dritten Generation, die bei der evangelischen Kirche, an deutschsprachigen Schulen oder beim Deutschen Forum tätig sind, ergibt sich dadurch ein überwiegender Gebrauch des Deutschen, oder es steht zumindest gleichwertig neben dem Rumänischen. Bei Personen hingegen, die in einem rumänischsprachigen Umfeld arbeiten, steht das Deutsche von der Gebrauchsintensität her dem Rumänischen nach. 6.3.2.2 Personen mit gelegentlichem Kontakt Zu den Personen, die die Informanten gelegentlich treffen, zählen Freunde, Nachbarn, Bekannte. Die mit den Nachbarn verwendete Sprache ist fast ausnahmslos das Rumänische. Mit Freunden wird entweder die eine oder die andere Sprache gesprochen; in einem gemischtsprachigen Freundeskreis überwiegt das Rumänische. Den Aussagen ist zu entnehmen, dass viele Informanten vor allem der älteren Generationen in den letzten Jahren öfter an kirchlichen, geselligen oder kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, die sowohl auf dem Land als auch in der Stadt geboten werden. Die Konversation erfolgt dabei grundsätzlich im Dialekt oder in der regionalen Standardvarietät. Sind jedoch anderssprachige Ehepartner oder Gäste anwesend, wird auf Rumänisch umgeschaltet. Alle Informanten geben an, beim Einkauf, in politischen und Verwaltungsgremien, in allen staatlichen Institutionen ausschließlich Rumänisch zu sprechen. Allgemein gilt: Je öffentlicher der Gebrauchsbereich ist, desto mehr wird Rumänisch gesprochen: (102) Ich hatte manchmal schon das Gefühl, ich rede mehr Rumänisch. Ich war im Stadtrat, ich war in so vielen Dingen, wo man überall Rumänisch redete. Mit den Behörden, in der Schule hat man ja auch so viel mit den Behörden zu tun, und mit den Bauleuten. (Rum 13, IJ) Die Zunahme der Kontakte zu rumänischsprachigen Personen hat dazu geführt, dass sich auch bei älteren deutschsprachigen Informanten die Zweisprachenkompetenz verbessert hat. 6.3.2.3 Personen mit seltenem Kontakt Für die Informanten, die zu Sprechertyp I gehören, sind es vor allem die Familienangehörigen und Verwandten, zu denen sie selten Kontakte haben. Die gegenseitigen Besuche finden im besten Fall einmal pro Jahr statt, Telefongespräche werden zwar öfter geführt, jedoch kurz gehalten. Ältere Personen geben an, regelmäßig Briefe zu schreiben; bei Sprechern der dritten Generation sind sie aus Zeitmangel eher selten. Die jungen Leute ziehen E-Mails oder Chatten vor. Die Sprecherinnen und Sprecher aus bilingualen Familien (Sprechertyp II) führen in diesem Kreis meist 8. Rumänien 377 die nahen und entfernteren Verwandten des deutschsprachigen Elternteils an, aber auch nahe Freunde, die ausgewandert sind oder aber in einem anderen Ort leben. 6.3.3 Der Sprachgebrauch in den anderen Untersuchungsgebieten Die Angaben, die die Sprecherinnen und Sprecher aus dem Banat zu ihrem Sprachgebrauch machen, lassen auf sehr ähnliche Verhältnisse mit jenen in Siebenbürgen schließen: Bei den älteren Generationen herrscht eine deutsche Varietät als Familiensprache vor; für einige Sprecher ist Deutsch auch die am Arbeitsplatz vorrangig gebrauchte Sprache. Der Sprachgebrauch jüngerer Informanten hingegen ist durch Mehrsprachigkeit auch in der Familie und im Freundeskreis geprägt. Im Unterschied zu Siebenbürgen verfügen die Deutschsprachigen im Banat meist über drei Existenzformen des Deutschen, da sich in den Städten eine zwischen den Dialekten und der Standardform stehende Verkehrsmundart herausgebildet hat. Bei den Deutschsprachigen des Banater Berglandes stehen sich bei Sprechern vom Dorf ein deutscher Dialekt und eine Umgangssprache gegenüber, bei Sprechern aus den Städten eine Umgangssprache und die regionale Standardform. Das engere Zusammenleben mit Anderssprachigen hat hier bereits bei früheren Generationen zu einer Annäherung der Kulturen und damit zu einer stärker ausgeprägten Mehrsprachigkeit selbst in informellen Gebrauchssituationen geführt. Die geschichtliche Entwicklung in der Sathmarer Gegend hat zu einer beinahe völligen Auflösung der deutschsprachigen Sprechergemeinschaft geführt. Sprecher der ältesten Generation beherrschen zwar noch den schwäbischen Dialekt. Die Gebrauchssituationen dafür sind jedoch sehr eingeschränkt; in allen Kommunikationssituationen herrscht das Ungarische vor. Jüngere Sprecher bemühen sich darum, aus beruflichen Gründen Deutsch als Fremdsprache zu erlernen. Bei der deutschsprachigen Sprechergruppe aus Oberwischau hat sich der Dialekt, das „Zipserische“ oder „Wischaudeutsche“, eine Vorrangsstellung bewahrt: Er wird in allen informellen und halboffiziellen Gebrauchssituationen gesprochen und - nach den Aussagen mehrerer Informanten - selbst von anderssprachigen Ehepartnern erlernt. Sprecher der älteren Generation gebrauchen die Standardvarietät kaum, was wohl die starke dialektale Prägung dieser Sprachform bedingt hat. Selbst jüngere und junge Sprecher verwenden in der Familie, mit Verwandten und Freunden fast ausschließlich den Dialekt. Die deutsche Standardvarietät und das Rumänische sind den an den Arbeitsplatz gebundenen Kommunikationssituationen vorbehalten. Wie in der Sathmarer Gegend bieten sich auch für die Deutschsprachigen aus der Bukowina nur noch wenige Kommunikationssituationen für das Deutsche. Da Ehen mit Anderssprachigen und damit Mehrsprachigkeit in diesem Gebiet seit mehreren Generationen Tradition haben, ist die dort gebräuchliche regionale Standardvarietät nur noch in wenigen Familien eine der Gebrauchssprachen. In den evangelischen Gottesdiensten und in den katholischen Messen wird Deutsch zwar noch gebraucht; auch bemühen sich die Vertreter des Deutschen Forums, durch verschiedene Veranstaltungen und Deutschkurse den Rahmen für das Erlernen und den Gebrauch der deutschen Sprache zu schaffen. In der Alltagskommunikation der meisten Informanten herrscht jedoch das Rumänische vor. Die Sprecher der ersten und zweiten Generation sprechen mit ihren Kindern zwar auch Deutsch, diese ziehen jedoch das ihnen geläufigere Rumänisch vor. 6.3.4 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch In monologischen Sprechsituationen hat das Deutsche bei den meisten Sprecherinnen und Sprechen aus allen untersuchten Gebieten einen hohen Stellenwert. Die Mehrsprachigkeit jedoch und das Nebeneinander sowohl eines Dialekts als auch der regionalen Standardvarietät bestimmen den Sprachgebrauch in diesen Verwendungssituationen mit. Informanten der ersten und zweiten Generation, für die der Dialekt die meistgebrauchte Sprachform ist, geben an, nur im Dialekt zu denken. Viele Sprecher, darunter Johanna Bottesch 378 auch all jene, die zweisprachig aufgewachsen sind, sehen Denken allerdings in Abhängigkeit von der Sprache oder Sprachform, die sie benutzen: (103) Ja, ich sag’s noch einmal, ich hab’s schon einmal gesagt, ich denk in drei Sprachen. Wenn ich Rumänisch spreche, denk ich Rumänisch, wenn ich Sächsisch spreche, denk ich Sächsisch, wenn ich Deutsch spreche, denk ich Deutsch. (Rum 12, HS) Bei anderen Personen ist die Sprache, in der sie denken, abhängig von den Themen, um die es geht: (104) Wenn ich über häusliche Dinge nachdenke, denke ich Sächsisch, und wenn es über das Häusliche hinausgeht, denke ich Deutsch. (Rum 13, IJ) Die monologische Sprechsituation, in der der Sprachgebrauch am stärksten von der Erstsprache bestimmt zu sein scheint, ist das Sprechen mit Haustieren. Selbst Sprecher, die als Familiensprache die Standardvarietät verwenden und den als Erstsprache gelernten Dialekt nur noch gelegentlich benutzen (z.B. Rum 1 MB, Rum 35 JF, Rum 5 HS), sprechen mit Hunden, Katzen und Hühnern den Dialekt. Einige Sprecher der ersten Generation, die auf dem Dorf leben, geben an, die Zurufe an Pferde seien Hochdeutsch, jene an Kühe und Büffel jedoch Rumänisch. Eine zweisprachig aufgewachsene Informantin der vierten Generation macht ihren Sprachgebrauch abhängig von ihrer Einstellung zu dem Tier: ED spricht mit der Katze Deutsch, mit dem Hund jedoch Rumänisch: (105) Ich weiß nicht, für mich hat Deutsch einen sehr hohen emotionalen Gehalt. Und weil ich den Hund eben nicht ausstehen kann, kann ich nicht emotional, so positiv emotional mit ihm sprechen. (Rum 11, ED) Die meisten Sprecherinnen und Sprecher geben an, in der Sprache zu zählen und zu rechnen, in der sie die Schule, vor allem die Grundschule besucht haben. HS (Rum 34), die auf Wunsch der Mutter die rumänische Schule besucht hat, rechnet auf Rumänisch, obwohl sie in allen sonstigen monologischen Sprechsituationen die in Reschitza gesprochene Umgangssprache verwendet. CB (Rum 6) und LS (Rum 27), beide bilingual aufgewachsen, rechnen situationsbezogen in beiden Sprachen. Zum Fluchen verwenden mehrere Sprecher (Rum 03 BJ, Rum 5 HS, Rum 15 MM) das Rumänische, denn „das geht einfach besser“ (BJ) oder „auf Rumänisch geht es viel leichter“ (MM). Aus denselben Gründen streitet HJ (Rum 18) mit ihrem Mann auf Rumänisch, obwohl die Familiensprache ansonsten Sächsisch ist. Außer einem Sprecher aus der Sathmarer Gegend geben alle Informanten an, auf Deutsch zu lesen. Am meisten werden das in Rumänien erscheinende Tagesblatt Allgemeine Deutsche Zeitung und die wöchentlich erscheinende Hermannstädter Zeitung genannt. Einige Sprecher lesen - zumindest gelegentlich - Zeitungen und Zeitschriften aus Deutschland wie Spiegel, Stern, Geo und Frauenzeitschriften, die vor 1990 alle ein beliebter und schwer erhältlicher Lesestoff waren. Sprecherinnen und Sprecher der ersten und zweiten Generation, die auf dem Land leben, lesen außer den rumäniendeutschen Zeitungen die Bibel sowie Trivialliteratur. Die Informanten aus Hermannstadt, Mediasch, Temeswar und Reschitza machen zahlreiche Angaben zu Autoren und Buchtiteln: ET (Rum 31) z.B. liest gerne rumäniendeutsche Literatur, vor allem die Schriftsteller des Banater Berglandes, HS (Rum 12) deutschsprachige Autoren aus Siebenbürgen, BJ (Rum 03) und MJ (Rum 3) lesen moderne deutsche Literatur, MB (Rum 1) eher Geschichtsbücher. Berufssprecher, und dazu gehören vor allem die L2- Sprecherinnen, lesen insbesondere Fachbücher und -zeitschriften. Die meisten Befragten lesen auch rumänische Zeitungen, DS (Rum 29) findet sie „informativer“. SZ, eine Sprecherin der zweiten Generation gibt an: (106) Ich lese in rumänischer Sprache, das ist zugleich eine Übung der Sprache, aber ich lese es nicht deswegen, sondern weil es mich interessiert. (…) Ja, es ist nur vieles vereinfacht dadurch bei unsern (rumäniendeutschen) Zeitungen. Also, es ist nicht so komplex dargestellt, 8. Rumänien 379 und vielleicht deswegen nicht so interessant. Sie sind interessanter, die rumänischen Artikel. Nur nicht immer hundertprozentig glaubwürdig. (Rum 2, SZ) Nur wenige Informanten (Rum 3 BJ, Rum 3 MJ, Rum 5, HS) sehen nicht fern, weil sie Fernsehen aus Prinzip ablehnen. Die meisten sehen sowohl in deutscher als auch in rumänischer Sprache fern; bei den jüngeren Sprechern kommt Englisch hinzu. Bei den Informanten aus der Sathmarer Gegend ist Ungarisch als Mediensprache vorherrschend, bei den Sprechern aus der Bukowina das Rumänische. Allgemein ist die Rezeption von Fernseh- und Radiosendungen weniger von der Sprache, eher von den Interessen gesteuert. Genannt werden die großen rumänischen Sender, von den deutschen ARD, ZDF, Hessischer Rundfunk; weniger beliebt sind Privatsender. Beliebte Sendungen sind Reportagen, Natur- und Tierfilme, Talkshows, Musiksendungen, Filme. Bei den Sprechern der vierten Generation ist das beliebteste Medium das Internet; was da gelesen wird, wird von den Interessenbereichen bestimmt, nicht von der Sprache. Kein Sprecher dieser Altersgruppe gibt an, Radio zu hören, selbst das Fernsehen erfreut sich keiner großen Beliebtheit mehr. Zeitungen werden - unabhängig von der Sprache - meist abgelehnt, von den Zeitschriften kommen vor allem Fachzeitschriften in Frage. Bücher werden in deutscher oder rumänischer Sprache gelesen, aber meist nur, was in der Schule als Pflichtlektüre gilt. Die Angaben der Informanten zum schriftlichen Sprachgebrauch sind oben in Kapitel 6.2. ausgewertet worden. Mit Ausnahme der Sprecher der ersten Generation aus der Sathmarer Gegend geben alle Befragten an, zumindest gelegentlich Briefe an Verwandte und Freunde auf Deutsch zu schreiben. Für viele der befragten Personen haben sich jedoch in den letzten Jahren neue, formellere Bereiche für den Schriftgebrauch ergeben. Zwischen 1918 und 1990 erfolgte der Schriftverkehr aller Ämter und Institutionen des Landes ausschließlich in rumänischer Sprache. Seit 1990 ist es den Angehörigen der Minderheiten in Rumänien erlaubt, eigene Institutionen und Verbände zu gründen, in denen die Kommunikation auch in der jeweiligen Sprache stattfinden kann. So wurden in Ortschaften mit deutschsprachigem Bevölkerungsanteil Zweigstellen des Deutschen Forums, Begegnungszentren oder Kulturvereine gegründet, in denen der Schriftverkehr zu staatlichen Behörden und Gremien zwar auf Rumänisch verläuft, die „Betriebssprache“ und die Sprache den Institutionen aus dem deutschsprachigen Ausland gegenüber jedoch Deutsch ist. Selbst im Schulbereich haben sich durch die Kontakte zu Partnerschulen und Partnerinstitutionen (z.B. des Zentrums für Lehrerfortbildung in deutscher Sprache in Mediasch) Situationen ergeben, in denen die schriftlichen Kommunikation auf Deutsch stattfindet. In diesen Bereichen tätige Personen - und mehrere Informanten gehören dazu - mussten somit lernen, die im Verwaltungsbereich üblichen Textsorten wie formelle Briefe, Anträge, Verträge, Bescheinigungen, Bekanntmachungen, Satzungen usw. auf Deutsch zu schreiben. Auch haben einige der Informanten die seit 1990 garantierte Meinungsfreiheit und die Aufhebung der Zensur bei Druckerzeugnissen genutzt, um Studien, Abhandlungen und Bücher zur Geschichte, Sprache und Kultur der in Rumänien lebenden deutschen Minderheit zu schreiben. 6.4 Kommunikationssituationen des Deutschen Für die Deutschsprachigen aus Siebenbürgen, aus dem Banater Bergland und aus dem Banat sowie aus Oberwischau bieten sich noch relativ viele Kommunikationssituationen, in denen sie die deutsche Sprache verwenden. Eingeschränkter sind - infolge der geringen Sprecherzahlen und der weit gestreuten Wohnorte - die Möglichkeiten in der Sathmarer Gegend und in der Bukowina. Dass die Schul- und Kulturpolitik eine wichtige Rolle spielt, wenn es um den Erhalt der Sprache einer Minderheit geht, ist von den Deutschen in Rumänien früh erkannt worden. Auch in der Zeit des Kommunismus haben ihre Vertreter sich darum bemüht, dass Johanna Bottesch 380 in den Ortschaften, in denen Angehörige der Minderheit in größerer Anzahl siedelten, deutschsprachige Kindergärten und Schulabteilungen bestehen können. Trotz der massiven Auswanderung nach 1989 konnten in mehreren Städten deutschsprachige Schulen erhalten bleiben, da anderssprachige, vor allem rumänische Kinder die Möglichkeit nutzen, Deutsch als Zweitsprache zu erlernen. An diesen Schulen ist Deutsch in den meisten Fächern Unterrichtssprache und wird sowohl von den Lehrenden als auch von den Lernenden gebraucht. Dasselbe gilt für den Fachbereich Germanistik an verschiedenen Hochschulen des Landes. Aus didaktischen Gründen sprechen die Lehrenden mit ihren Schülern und Studenten in den meisten Fällen auch außerhalb des Unterrichts Deutsch, selbst dann, wenn sowohl Lehrer als auch Schüler eine andere Erstsprache haben. Sofern die Kontakte nach Beendigung der Schulbzw. Ausbildung weiter bestehen, verläuft die Kommunikation aus Gewohnheit in derselben Sprache (vgl. Rum 13 IJ, Rum 1 MB, Rum 18 HJ, Rum 21 UW). Durch Schulpartnerschaften, Austauschprogramme und Stipendien erhalten zahlreiche Schüler, Studenten und Lehrer immer wieder die Möglichkeit, sich für längere Zeit im deutschsprachigen Ausland aufzuhalten (z.B. Rum 24 RB, Rum 9 GC, Rum 21 UW, Rum 20 SL, Rum 10 CP). Und nicht nur L2-Sprecher geben an, dass diese Aufenthalte in Deutschland zur Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse beigetragen haben (Rum 10 CP, Rum 20 SL, Rum 43 LF). In der evangelischen Kirche ist Deutsch Verkündigungssprache, die Sprache kirchlicher Handlungen und „Amtssprache“ (Rum 12, HS). In den siebenbürgischen Städten mit deutschsprachiger Bevölkerung sind die Gemeinden zahlenmäßig noch stark genug, so dass jeden Sonntag Gottesdienste abgehalten werden können. In ländlichen Gebieten betreut ein Geistlicher mehrere Gemeinden, Gottesdienste werden entweder abwechselnd in den einzelnen Dörfern abgehalten oder jeden Sonntag in demselben Dorf für die Gläubigen auch aus der Umgebung. Dieselbe Regelung gilt auch für die sehr kleine evangelische Gemeinde in der Bukowina, zu der auch zwei der befragten Personen gehören (Rum 44, GA und Rum 46, EC). Alle Informanten aus dem Banater Bergland, dem Banat, aus der Sathmarer Gegend und aus Oberwischau sind römisch-katholisch und besuchen (außer drei Sprecherinnen aus der Sathmarer Gegend) die auf Deutsch abgehaltenen Messen. Beim Deutschen Forum wird grundsätzlich Deutsch gesprochen, vor allem bei Besprechungen und Zusammenkünften, an denen Vertreter aus mehreren Landesteilen teilnehmen. Die Mitarbeiter sprechen untereinander entweder die Standardvarietät oder einen Dialekt; Rumänisch bzw. Ungarisch (in Sathmar) wird mit Anderssprachigen verwendet, die sich in verschiedenen Angelegenheiten an die Vertreter des Forums wenden. Besonders die älteren Sprecherinnen und Sprecher nehmen an geselligen Zusammenkünften teil, die entweder von Seiten der Kirche oder des Deutschen Forums veranstaltet werden, wie Dorffeste, Fasching, Marien- und Katharinenball, Waldfest u.a., bei denen vor allem Deutsch gesprochen wird. Einige Informanten singen in Chören mit (Rum 12, HS und Rum 16, KR) oder sind z.B. beim Verein der Russlanddeportierten tätig (Rum 28, IF). Jugendliche haben die Möglichkeit im Rahmen des Jugendforums in Tanz- oder Theatergruppen mitzumachen (vgl. Rum 5, HS). Kommunikationssituationen, in denen die Informanten ausschließlich Deutsch sprechen, ergeben sich während ihrer Aufenthalte in Deutschland. Von allen befragten Personen geben nur zwei an, nie in Deutschland gewesen zu sein; die meisten fahren jährlich oder zumindest jedes zweite oder dritte Jahr. Dabei werden Familienangehörige, Verwandte oder Freunde besucht; für Schüler und Lehrer ergeben sich allerdings auch Kontakte zu deutschen Schülern oder Kollegen. In den letzten Jahren haben jedoch auch im eigenen Land die Kontakte zu Personen, die aus dem deutschsprachigen Ausland stammen, zugenommen. Das sind vor allem Lehrer, Pfarrer, Mitarbeiter in kulturellen und gemeinnützigen Institutionen, die über einen Zeitraum von einigen Monaten oder Jahren in Rumä- 8. Rumänien 381 nien tätig sind. Auch deutschsprachige Touristen und Besucher, für die z.B. Stadt- und Kirchenführungen oder Gesprächsrunden veranstaltet werden (Rum 45, AG und Rum 12, HS), bieten Gelegenheit, „Hochdeutsch“ zu sprechen. Dialekt-Erstsprecher meinen, dass sich solche Kontakte auf ihre Sprechkompetenz in der Standardvarietät fördernd auswirken (Rum 1, MB und Rum 12, HS): (107) Also Zilli-Tante spricht heute ein besseres Deutsch. Wahrscheinlich schreibt sie ein schlechtes, es ist schon lange seit ihrem Schulabgang, aber sie spricht fließender Deutsch, dadurch dass sie dazumal, als ja die Sachsen im Ort waren, sprach sie ja NUR Sächsisch. Jetzt spricht sie viel Rumänisch, ganz wenig Sächsisch, aber bedeutend mehr Deutsch. Und das, auch wenn die Enkel kommen, die sprechen jetzt auch kein Sächsisch mehr und sprechen mit ihrer Oma Deutsch, also dass da auf alle Fälle mehr Flüssigkeit in die Umgangssprache gekommen ist. (Rum 12, HS) 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Für 33 der 54 befragten Personen ist Deutsch - als regionale Standardvarietät oder als Dialekt - Muttersprache, und da die meisten Sprecher der ersten und zweiten Generation über nur mittelmäßige bis bestenfalls gute Kenntnisse der rumänischen Landessprache verfügen und Fremdsprachen für sie eine geringe Rolle spielen, ist ihre positive Einstellung zum Deutschen eine Selbstverständlichkeit. Die Frage nach der Lieblingssprache erfordert von den meisten L1-Sprechern lediglich eine Entscheidung zwischen der Standardform und dem Dialekt. Dazu HS, ein Sprecher der zweiten Generation, der über ausnehmend gute Sprachkenntnisse im Rumänischen verfügt: (108) CR: Ja, also jetzt frag ich Sie mal, was ist Ihre Lieblingssprache? HS: Ich würde mich nicht festlegen. Ich denk, wenn ich jetzt so sagen würde, Sächsisch, würd ich wahrscheinlich nicht das Richtige sagen. Auf alle Fälle würde ich sagen: Sächsisch - Deutsch, und nicht Rumänisch. Rumänisch ist mir eine liebe, aber Gebrauchssprache, und die innerliche Beziehung ist nicht die gleiche wie zum Deutschen beziehungsweis zum Sächsischen her. Vom Sentimentalen her. (Rum 12, HS) Eine durchweg positive Einstellung dem Deutschen gegenüber ist auch bei jenen Sprechern festzustellen, deren familiärer Hintergrund bilingual ist. 5 der 14 Sprecher dieser Gruppe (Rum 03, BJ; Rum 10, CP; Rum 11, ED; Rum 18, HJ; Rum 42, GZ) geben ausschließlich Deutsch als ihre Muttersprache an, obwohl sie mit dem einen Elternteil von Anfang an entweder Rumänisch oder Ungarisch gesprochen haben. Dass die von der Mutter erlernte Sprache nicht selbstverständlich auch die Sprache ist, die jemand am besten spricht, zeigt die Sprachsituation der beiden Sprecher HS (Rum 5) und RW (Rum 8), die mit der Mutter Ungarisch sprechen, Deutsch jedoch als die Sprache bezeichnen, in der sie die höchste Kompetenz haben. CB (Rum 6) hingegen hat von der Mutter Deutsch gelernt, fühlt sich jedoch im Rumänischen sicherer. Das Kriterium, welche Sprache zuerst erlernt wurde, scheint in bilingualer Sprachsituation nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Allein eine Sprecherin der vierten Generation, CP, antwortet auf die Frage, welches ihre Muttersprache sei: (109) Ich glaube Deutsch, schon Deutsch. Also ich habe zuerst Deutsch gelernt und nachher Rumänisch. (Rum 10, CP) Ein interessanter Fall ist eine Sprecherin aus Oberwischau (Rum 41, EZ), die in einer rein ungarischsprachigen Familie aufgewachsen ist, als Muttersprache neben dem Ungarischen jedoch auch den im Ort erlernten Oberwischauer deutschen Dialekt angibt, den sie als Erstsprache an ihre Kinder weitergegeben hat und den sie heute besser spricht als das Ungarische. Bei den L2-Sprechern, für die Deutsch Bildungsbzw. Berufssprache ist, lässt sich eine grundsätzlich positive Einstellung zu dieser Johanna Bottesch 382 Sprache erkennen; die Befragten weisen jedoch immer wieder auf den hohen Schwierigkeitsgrad des Deutschen hin. So fühlt sich eine L2-Sprecherin der dritten Generation trotz hoher Sprachkompetenz immer noch gehemmt, wenn sie mit Deutsch-Erstsprachlern spricht: (110) Ich liebe die deutsche Sprache, ich bewundere sie sehr, manchmal nervt es mich richtig, dass das Rumänische nicht so ausdrucksstark ist. Ich find sie kompliziert, schwierig, und man muss ein Leben lang immer weiter dazu lernen. (Rum 23, NC) Die L2-Sprecherin RB (Rum 24) sieht gerne Nachrichten und Filme auf Deutsch, denn „ich freu mich an der Sprache“, gibt aber andererseits an: (111) was sehr wichtig ist, was ich als sehr wichtig empfinde, das muss ich auf Rumänisch sagen. Allgemein gilt, dass L2-Sprecher mit Deutsch zwar eine starke emotionale Komponente verbinden; diese führt jedoch nicht dazu, dass sie Deutsch als eine ihrer Muttersprachen bezeichnen würden. Eine einzige L2- Sprecherin der vierten Generation, SL (Rum 20), meint, als sie über ihre sehr gute Lesekompetenz spricht, „es ist einigermaßen auch zu meiner Muttersprache geworden, das Deutsche“. Eine Aussage zur Qualität der deutschen Sprache macht ein Sprecher der vierten Generation, der bilingual rumänisch-deutsch aufgewachsen ist: (112) Deutsch ist, scheint mir eckig und exakt und so, und Rumänisch scheint mir ein wenig mehr zum Herzen gehend, so wärmer als Deutsch. Deutsch ist so eine Ingenieur-Sprache, scheint sie mir, obwohl, na, nicht unbedingt, aber schon. Deshalb bevorzuge ich Rumänisch, sie ist ein wenig runder, diese Sprache. (Rum 27, LS) Aussagen zu den Besonderheiten des in Rumänien gesprochenen regionalen Standards werden vor allem von Berufssprechern gemacht. So meint UW (Rum 21), L1-Sprecher der dritten Generation, „unser Hochdeutsch ist arid, steril“, doch er schäme sich dieses besonderen Deutsch nicht und versuche während seiner Aufenthalte in Deutschland keineswegs, sich anzupassen: (113) (…) weder in der Satzmelodie, noch im Phonetischen, noch wie auch immer, denn ich sag, diese Versuche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. SZ empfindet das in Siebenbürgen gesprochene Hochdeutsch als nicht sehr verschieden von jenem, das in Deutschland gebraucht wird: (114) Es gibt dann wohl kleine Abweichungen und vor allen Dingen in der Ausdrucksweise. Unser Deutsch ist dem österreichischen Deutsch ähnlich, weil wir ja auch zweihundert Jahre unter habsburgischer Herrschaft da gelebt haben und uns angepasst haben, und das heißt aber nicht, dass wir das andere nicht verstehn. Es sind bloß Wörter, die wir im Gebrauch nach der österreichischen Ausdrucksweise verwenden und nicht nach der deutschen. (Rum 2, SZ) Der seit 1990 uneingeschränkte Zugang zu deutschsprachigen Medien und die vermehrten Kontakte zu Personen aus dem deutschsprachigen Raum haben dazu geführt, dass viele L1-Sprecher, die in der Alltagskommunikation vor allem einen Dialekt gebrauchen, ihre Sprech- und Schreibkompetenz in der Standardvarietät verbessert haben. Während L1-Sprecher eher sich zufällig bietende Chancen nutzen, um ihre Sprachkompetenz zu verbessern, so arbeiten L2-Sprecher und einige bilingual aufgewachsene Sprecher ganz bewusst daran. EZ (Rum 41), die bis 1990 nur Ungarisch und den Oberwischauer Dialekt sprach, hat im Selbststudium Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache durchgearbeitet, um die Standardvarietät zu erlernen. Eine positive Einstellung zur deutschen Sprache zeigt sich auch in der intensiven Spracharbeit, die in der Sathmarer Gegend geleistet wird. Allgemein beherrschen bloß die Sprecher der ersten Generation noch den schwäbischen Dialekt, während für die anderen Generationen zutrifft, was MN (Rum 36) auf sich bezieht: 8. Rumänien 383 (115) Weil ich besser kann Ungarisch wie Deutsch und Schwäbisch, ich habe mich erklärt Schwäbin, aber die Muttersprache habe ich Ungarisch gesagt. Viele dieser Sprecher besuchen nun Sprachkurse und erlernen Deutsch als Fremdsprache. 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Die Frage nach Kosten und vor allem des Nutzens der deutschen Sprache stellt sich vor allem für die L2-Sprecher, kaum für die L1- Sprecher. Seit 1990 nehmen - vor allem in den Städten - immer mehr Kinder und Jugendliche nicht-deutscher Muttersprache die Gelegenheit wahr, die deutsche Sprache an den sogenannten Muttersprachenschulen oder in bilingualen bzw. Intensivklassen auf hohem Niveau zu erlernen und sich dadurch bessere berufliche Chancen zu sichern. Wenn Deutsch als Fremdsprache landesweit auch heute noch hinter Englisch und Französisch rangiert, so ist doch - vor allem in den Gebieten, in denen Deutsch Tradition hat - ein steigendes Interesse am Erlernen dieser Sprache zu verzeichnen. Das zeigen nicht nur die Schülerzahlen, sondern auch die große Anzahl von Deutsch-Sprachkursen, die vor allem in den Städten angeboten werden, sowie die immer noch beachtliche Anzahl von Jugendlichen, die Germanistik studieren oder andere Studienfächer auf Deutsch belegen. Die L2- Sprecherin NC (Rum 23) meint, dass das nicht unbedingt „aus Leidenschaft oder Liebe zur deutschen Sprache geschieht“, sondern eher auf wirtschaftliche Interessen zurückzuführen ist. Weil die Beherrschung der deutschen Sprache Nutzen bringen kann, ist zum Beispiel Sprecherin IG (Rum 4) dazu übergegangen, mit ihrem Enkelsohn nun nicht mehr Rumänisch, sondern Deutsch zu sprechen; auch wurde er dazu angehalten, einen Sprachkurs zu besuchen, und „der lernt jetzt so, so auf Kraft“. Sprecherin MU (Rum 7), in deren Familie Siebenbürgisch Sächsisch gesprochen wird, sähe es gerne, wenn sie im Interesse ihrer drei Söhne zur Standardvarietät übergingen, denn Deutsch sei wichtig für die Zukunft der Kinder, „weil sie ja nur mit einer Sprache nichts mehr machen heutzutage“. Dass Deutsch an Kinder und Enkelkinder selbst in gemischtsprachigen Familien weitergegeben werden soll, ist für L1-Sprecher eine Selbstverständlichkeit. Dahinter steht nicht nur individuelles Nutzdenken sondern auch die Überlegung, dass dadurch die deutsche Sprache in Rumänien erhalten bleibt. Zwar meinen einige Sprecher vor allem der vierten Generation, „das Gefühl, deutsch zu sein, bleibt erhalten“, auch wenn Rumänisch gesprochen wird (Rum 10, CP); allgemein wird jedoch die Meinung vertreten, dass der Fortbestand der deutschen Sprache unerlässlich sei für das Fortbestehen einer deutschen Kultur in Rumänien: (116) CR: Wieso ist es nicht möglich, dass man die deutsche Kultur hier behält, ohne die Sprache zu behalten? Also Traditionen, Bräuche, das Deutschsein mit den bestimmten Eigenschaften, auch das Denken irgendwo so beizubehalten, aber Rumänisch zu sprechen? MB: Ich glaube nicht, dass das möglich wäre. Schon deshalb nicht, weil so wenige Deutsche dageblieben sind. Wenn diese assimiliert werden, was ja nicht auszuschließen ist, ganz im Gegenteil, ich nehme an, dass es zur Assimilation kommt, - dann bleibt nicht genügend übrig, um eine deutsche Identität aufrechtzuerhalten, nachdem die Sprache verschwunden ist. (Rum 1, MB) Zur selben Frage meint die oben erwähnte Sprecherin MU: (117) Na jetzt, wenn sie nicht mehr Deutsch (sprechen), meiner Meinung nach, das ist meine Meinung, dann kann man sie nicht mehr als deutsche Minderheit eintragen. (Rum 7, MU) Als wichtigster Faktor, der die Zukunft der deutschen Sprache in Rumänien sichern soll, werden die deutschsprachigen Schulen angesehen und die Lernenden, die mittlerweile bis zu 90 Prozent nicht Deutsch als Erstsprache haben. Für viele dieser Jugendlichen bleibt Deutsch Schulbzw. Bildungssprache, für einige wird es zur Berufssprache. Es steht je- Johanna Bottesch 384 doch nicht zu erwarten, dass es für sie zur Gebrauchssprache im Alltag oder zur Familiensprache wird, auch wenn jugendliche und erwachsene L2-Sprecher durchaus auch ihren Kindern das Erlernen der deutschen Sprache ermöglichen wollen. In mehreren Fällen (z.B. Rum 22, RM und Rum 11, ED) wird von Personen berichtet, die an deutschsprachigen Schulen gelernt hatten, ihr Deutsch jedoch in einem rumänischen sprachlichen Umfeld wieder fast völlig verlernt haben. Trotzdem mag die Aussage von RB, L2-Sprecherin der dritten Generation, für die Deutsch Berufssprache ist, zutreffen: (118) Deshalb spricht man noch so viel Deutsch in Hermannstadt und in Siebenbürgen, weil es so viele Rumänen lernen. (Rum 24, RB) Vor allem L1-Sprecher weisen gerne darauf hin, dass Eltern rumänischer bzw. ungarischer Erstsprache ihre Kinder nicht nur deshalb an deutschsprachigen Schulen unterrichten lassen, damit sie die Sprache mehr oder weniger mühelos und auf hohem Kompetenzniveau erlernen können, sondern auch, damit sie etwas über die Kultur, Tradition und Seinsweise der deutschen Minderheit lernen und mitbekommen, „was neben der Sprache herläuft“ (Rum 21, UW) oder wie es Sprecher HS (Rum 12) - vielleicht etwas überspitzt - ausdrückt: (119) Sie wollen eine GUTE deutsche Sprache, nicht Deutsch, sondern ein GUTES Deutsch, und sie wollen mit der Sprache noch viel mehr. Und das waren Disziplin, Ordnung, Gewissenhaftigkeit, Umgang mit den Leuten, Umgang mit Verantwortung. Hätte ich nie so aussagen können, das stinkt ja so gewaltig nach Selbstlob, dass man das in einer öffentlichen Sitzung gar nicht sagen darf. Aber das waren keine Deutschen, das waren Rumänen, die (das) sagten. (Rum 12, HS) Ein im Kulturbereich tätiger Sprecher der dritten Generation meint, die deutsche Kultur habe in Rumänien Zukunft, denn: (120) es gibt Interesse dafür, und ich glaube, schon zuzeit ist die Zielgruppe/ besteht sie aus Andersnationalen als Deutschstämmigen. (Rum 5, HS) Die Einschätzung, dass sich Deutsch als Muttersprache in den Städten noch etwas länger erhalten wird, die Dialekte aber bereits in absehbarer Zukunft verschwinden werden, ist aufgrund der seit 1990 eingetretenen Umstände durchaus als realistisch zu betrachten. Die folgende Aussage eines 20-jährigen Sprechers aus Hermannstadt/ Sibiu ist auf Deutsch als Fremdsprache bezogen: (121) Ich meine, Deutsch wird erst jetzt kommen. Die deutschen Firmen, weiß ich, kommen her (…). Ich glaube, nach 2007 wird mehr Deutsch gesprochen werden. (Rum 27, LS) Etwas anders wird die Lage in Oberwischau eingeschätzt. In der Stadt gibt es eine noch starke deutschsprachige Gruppe, die zudem durch die nicht-deutschsprachigen Partner aus Mischehen Zuwachs erhält. AO (Rum 39), ein Sprecher der ersten Generation, berichtet, dass das Interesse der rumänischen Mitbürger an der deutschen Sprache so groß sei, dass neue deutschsprachige Klassen, sogar am Lyzeum eingerichtet wurden. Viele Rumänen würden auch am deutschen Kulturleben teilnehmen, und - was als Besonderheit zu erachten ist - nicht selten würden die rumänischsprachigen Kinder durch Privatunterricht und Aufenthalte in deutschen Familien auch den Oberwischauer Dialekt erlernen. Dazu LF, Sprecherin der vierten Generation: (122) Und das Komische ist, in der Pause sprechen sie (die rumänischen Kinder) miteinander Deutsch, die meisten, (…) auch eben darum, sie sind irgendwie stolz, dass sie Deutsch können, und dann wollen sie den rumänischen Kollegen zeigen, wir können auch etwas anderes, und sprechen mehr so absichtlich Deutsch, damit die anderen es nicht verstehen, oder so. (Rum 43, LF) Sprecher der ersten und zweiten Generation sehen die Zukunft des Deutschen in Rumänien keinesfalls in Zusammenhang mit dem Status des Englischen als erster Weltsprache, sondern ausschließlich in Abhängigkeit von der Präsenz der deutschen Minderheit. Die 8. Rumänien 385 Sprecher der vierten Generation beherrschen Englisch meist gut, für sie ist es die Sprache des Internets, des Chattens und der E-Mails: (123) weil Englisch eben viel kürzer ist. Ich meine, Deutsch schreiben, es dauert einfach zu lang. (Rum 19, RB) Jugendliche sprechen es aber auch untereinander, um es zu üben oder weil es zu bestimmten Themen besser passt: (124) Das Deutsche musste ein bisschen Platz machen für das Englische. (Rum 20, SL) Besorgnis über die starke Position, die das Englische auch unter den in Rumänien gelernten Fremdsprachen hat, äußert sich indirekt in der Aussage einer Lehrerin. YD (Rum 32) findet es gut, dass rumänische Kinder Deutsch lernen: (125) es ist ein Pluspunkt für die deutsche Sprache, weil sie attraktiv geworden ist, wahrscheinlich nicht so attraktiv wie das Englische, aber schon. 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal Da Rumänien auch während des Kommunismus die „mitwohnenden Nationalitäten“ anerkannt hat, wurde und wird auch heute im öffentlichen Sprachgebrauch unterschieden zwischen Staatsbürgerschaft (rum. cet\ enie) und ethnischer Zugehörigkeit (rum. apartenen \ etnic\ oder na ionalitate). Die in Rumänien lebenden Deutschsprachigen sind demnach rumänische Staatsbürger „deutscher Nationalität“ (rum. de etnie german\ oder na- ionalitate german\). Sie selbst bezeichnen sich allgemein als Deutsche bzw. als Rumäniendeutsche. (126) CR: Als was fühlen Sie sich? Oder, was sind Sie? Als was würden Sie sich bezeichnen? GC: Na, als Deutsche, da muss ich nicht lange nachdenken. (…) Wenn man sagt, rumäniendeutsch, dann bin ich auch damit einverstanden, das ist dann nur eine genauere Definition, also Deutsche, die in Rumänien leben. (Rum 9, GC) Und MB, L1-Sprecher der dritten Generation meint dazu: (127) Ich bin was anderes als die, die in Deutschland sind, von meiner Herkunft und von meiner Mentalität her, von der Art, wie ich das Deutsche ausspreche. Sicher, ich habe meine eigene Identität, aber das Deutsche ist nun einmal vielfältig. Es gibt doch nicht ein Einheitsdeutsch. (lacht) Die Deutschen sind nun einmal von vielen Arten, und dies ist auch eine Art von Deutsch-Sein. (Rum 1, MB) Außer Herkunft, Geschichte, Sitten und Bräuchen ist es vor allem das Kriterium Sprache, das identitätsbestimmend wirkt. Die in allen ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in geschriebener und gesprochener Form gebrauchte Standardvarietät in ihrer regionalen Prägung gewährleistet einerseits den Bezug zum binnendeutschen Sprach- und Kulturraum und andererseits die Abgrenzung zu der rumänischsprachigen Mehrheitsbevölkerung und zu den anderen in Rumänien lebenden ethnischen Gruppen. Hinzu kommt aber, dass die Deutschsprachigen in den einzelnen Gebieten ihre Identität nicht ausschließlich über die Sprache Deutsch definieren, sondern zusätzlich über den von der betreffenden Sprachgruppe gebrauchten deutschen Dialekt. Von den 47 Befragten, die Deutsch als Muttersprache oder - in bilingualen Sprachsituationen - als eine der Muttersprachen haben, geben bloß sechs Personen an, keinen deutschen Dialekt zu sprechen oder zumindest zu verstehen. Auf die Frage nach der Muttersprache wurde daher von den meisten Dialektsprechern vor allem aus dem Banat, aus Siebenbürgen und Sathmar mit der Bitte um Präzisierung reagiert. (128) CR: Welche Sprache, würden Sie sagen, ist Ihre Muttersprache? BJ: Deutsch. CR: Und bei Ihnen? MJ: Auch. Kommt auch der Dialekt in Frage? CR: Ja. Johanna Bottesch 386 MJ: Also dann Schwäbisch als Muttersprache. (Rum 03, BJ und Rum 3, MJ) MU (Rum 7), eine Sprecherin aus Siebenbürgen, gibt als Muttersprache Sächsisch an, „weil wir ja nicht Deutsch zu Hause sprechen“, und HS besteht auf präziser Eintragung im Fragebogen: (129) JB: Und beide (Eltern) hatten Muttersprache Deutsch? HS: Beide hatten Muttersprache Sächsisch, ja. (Rum 12, HS) SZ hingegen, eine Sprecherin der dritten Generation, deren Muttersprache Deutsch ist, die jedoch von den Leuten aus dem Dorf und von Freundinnen auch Sächsisch gelernt hat, meint: (130) Ich spreche Sächsisch, kann mich aber nicht so gut ausdrücken, wie Deutsch, (…) und erstens nehme ich an, weil es nicht meine Muttersprache ist. (Rum 2, SZ). Der aus der Sathmarer Gegend stammende JF antwortet auf die Frage nach der Muttersprache: (131) Deutsch. Aber Schwäbisch kann ich auch sprechen. Wie soll ich sagen, Schwäbisch, eigentlich war Schwäbisch meine Muttersprache. (Rum 35, JF) Das Germanistikstudium fand JF „ungeheuer schwer, denn es gibt ja einen großen Unterschied zwischen Mundart und zwischen Hochsprache“. In Oberwischau wird allgemein Zipserdeutsch als Muttersprache angegeben, eine nicht ganz zutreffende Bezeichnung für den heute im Ort gesprochenen österreichischen Dialekt, der das alte Zipserische verdrängt hat: (132) JB: Welches ist Ihre Lieblingssprache? LF: (lacht) Deutsch. Weil ich die am besten kann, würd ich sagen, Deutsch. JB: Und wenn Sie sagen „Deutsch“, meinen Sie Zipserisch oder Hochdeutsch? LF: Nicht unbedingt, also ich würde da keinen Unterschied machen. Weil für mich ist auch Zipserisch Deutsch und Zipserisch ist ja eigentlich eine Mischung aus der alten Sprache und Hochdeutsch, und es ist nicht so unterschiedlich. (Rum 43, LF) Bezeichnend ist, dass in Siebenbürgen, in der Sathmarer Gegend und in Oberwischau der jeweilige Dialekt nur von der deutschen Standardvarietät überdacht wird; eine Umgangssprache hat sich dort nicht herausgebildet. Für das Banat wird zumindest im Falle der Stadt Temeswar eine zwischen den recht unterschiedlichen Dialekten und der Hochsprache anzusiedelnde Ausgleichsvarietät angenommen, während die Berglanddeutschen ihr Idiom eindeutig als Umgangssprache und nicht als Mundart bezeichnen. 24 . In allen untersuchten Gebieten beherrschen die Dialektsprecher auf unterschiedlichem Niveau auch die regionale Standardsprache, die sie mehr oder weniger intensiv und geübt benutzen. Somit verfügen die meisten Sprecher über mindestens zwei Varietäten des Deutschen. Auch darauf ist wohl zurückzuführen, dass die Angehörigen der deutschen Minderheit sich nach außen hin als Deutsche in Rumänien oder als Rumäniendeutsche bezeichnen, innerhalb der Gruppe jedoch - gebietsabhängig und dialektbezogen - auf klarer Abgrenzung bestehen. So definieren sich die Deutschen in Rumänien als Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Berglanddeutsche, Sathmarer Schwaben, Zipser, Buchenlanddeutsche, Landler usw. Bei den meisten Sprechern, die Deutsch als Muttersprache haben, ist nicht nur das Bewusstsein gegenwärtig, dass sie selbst oder andere über mehrere Varietäten des Deutschen verfügen, sondern sie machen auch Aussagen zu Besonderheiten der in dem Gebiet gesprochenen Standardvarietät, zum eigenen Dialekt oder zu anderen deutschen Dialekten. Da die in den einzelnen Gebieten gesprochenen Dialekte sehr verschieden sind, muss auch in mündlicher Kommunikation zwischen Sprechern mit unterschiedlichem dialektalem Hintergrund auf die Standardvarietät zurückgegriffen werden. 24 Johann Wolf hingegen bezeichnet das „Reschitzarerische“ als Mundart (vgl. Wolf 1987: 131). 8. Rumänien 387 8 Faktorenspezifik 8.1 Geographische Faktoren Mit Ausnahme der Dobrudschadeutschen haben sich alle anderen deutschsprachigen Gruppen Rumäniens in Gebieten angesiedelt, die der österreichisch-ungarischen Monarchie angehörten. Diese Gebiete lagen jedoch so weit auseinander, dass es selbst über große Zeiträume hinweg kaum Kontakte zwischen den deutschen Siedlern Siebenbürgens, des Banats, des Sathmarlandes, der Maramuresch und der Bukowina gab. Zwar haben in den einzelnen Gebieten sprachliche Ausgleichsprozesse zwischen den Siedlern verschiedener Herkunftsorte bzw. -gebiete stattgefunden, die dialektale Buntscheckigkeit der rumäniendeutschen Sprachlandschaft blieb jedoch erhalten. Innerhalb Siebenbürgens haben sich die später, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, hinzugekommenen deutschen Siedler größtenteils an die Siebenbürger Sachsen assimiliert, so dass außer den „Sachsen“ bloß die österreichstämmigen Landler bis in die Gegenwart eine eigene Gruppenidentität bewahrt haben. 8.2 Historische und demographische Faktoren Die Siebenbürger Sachsen bilden die älteste deutsche Siedlergruppe Rumäniens (Ansiedlung 12. bis 13. Jahrhundert). Im Unterschied zu den anderen Siedlern erfreuten sie sich Jahrhunderte hindurch einer administrativen und kirchlichen Selbständigkeit. Die Selbstverwaltung und der ständige Kontakt zum binnendeutschen Raum, der über wandernde Handwerker und siebenbürgische Studenten an deutschen Universitäten aufrechterhalten blieb, sind wohl die wichtigsten Faktoren, die das Fortbestehen der Siebenbürger Sachsen als Gruppe mit eigener Identität über einen so langen Zeitraum hinweg ermöglicht haben. Aus Siedlern unterschiedlicher Herkunft - mehrheitlich wohl aus der Rhein-Mosel- Gegend kommend - war erst in Siebenbürgen das „Volk“ der Siebenbürger Sachsen entstanden. Über die demographischen Verhältnisse der ersten Jahrhunderte nach der Ansiedlung ist wenig bekannt sind, klar ist aber, dass die Siebenbürger Sachsen das von ihnen bis ins 19. Jahrhundert verwaltete Gebiet von Anfang an gemeinsam mit Rumänen und Ungarn bewohnten. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert bildeten die Rumänen in diesem Gebiet die Bevölkerungsmehrheit. Die Kontakte der Siebenbürger Sachsen zu Rumänen und Ungarn haben Spuren im Wortschatz des siebenbürgisch-sächsischen Dialekts hinterlassen, auch wenn es bis ins 20. Jahrhundert kaum gemischtsprachige Familien gab. Die Ansiedlung der Deutschen im Westen und Norden des heutigen Rumänien im 18. Jahrhundert hatte den Zweck, in den dünn besiedelten Gebieten, aus denen Österreich die Türken verdrängt hatte, eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Die meisten Ansiedlungen waren von der österreichischen Verwaltung oder von ungarischen Adligen (die vor allem Bauern benötigten) veranlasst worden. Einen bedeutenden Bevölkerungsanteil bildeten die Deutschen im Banat, wo sie im Jahr 1940 ein Fünftel der Einwohner stellten, während sie in den anderen zu jener Zeit besiedelten Gebieten unter zehn Prozent blieben. Die im 19. Jahrhundert vom ungarischen Staat eingeleitete und von der katholischen Kirche unterstützte Politik der Madjarisierung aller nichtmadjarischen Bevölkerungsgruppen hatte besondere Auswirkung auf die Sathmarar Schwaben, die größtenteils das Ungarische als Muttersprache annahmen; bei den Banater Schwaben waren es vor allem Intellektuelle, die zum Madjarentum übergingen. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wurden zunächst die Deutschen aus der Bukowina und aus der Dobrudscha nach Deutschland umgesiedelt, gegen Ende des Krieges dann auch Teile der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben. Während des Kommunismus kam eine Aussiedlungsbewegung nach Deutschland in Gang, die nach 1990 stark zunahm. Im Jahr 2002 betrug die Zahl der in Rumänien lebenden Deutschen weniger als ein Zehntel der deutschsprachigen Bewohner Rumäniens aus dem Jahr 1940. Johanna Bottesch 388 8.3 Kulturelle Faktoren Die unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und demographischen Bedingungen, unter denen die deutschen Siedlergruppen auf dem Gebiet des heutigen Rumänien lebten, hatten eine Verschiedenartigkeit der kulturellen Verhältnisse in den einzelnen Gebieten zur Folge. Die sich selbst verwaltenden Siebenbürger Sachsen konnten ein eigenes, konfessionelles Schulwesen mit deutscher Unterrichtssprache aufbauen und sich die Möglichkeit des Studiums an deutschen Universitäten fast ohne Unterbrechung sichern. Auch konnten ein literarisches und wissenschaftliches Schrifttum, ein deutschsprachiges Presse- und Theaterwesen entstehen. Ähnlich waren die Verhältnisse im Banat, während in Sathmar die Madjarisierung der Intellektuellenschicht die Herausbildung eines deutschsprachigen Schulwesens unterband. Nach dem Ersten Weltkrieg war die nun rumänische Verwaltung bestrebt, die Ausbreitung des Ungarischen aufzuhalten und - wenn möglich - sogar rückgängig zu machen. Daher wurde in den von Deutschen bewohnten Gebieten das deutschsprachige Schulwesen gefördert. In der Bukowina hingegen waren die nationalen Minderheiten einem Rumänisierungsprozess unterworfen. Als einziges Land des ehemaligen „Ostblocks“ verbot Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg den Unterricht in deutscher Sprache nicht, sondern sicherte sein Fortbestehen durch die Ausbildung von Lehrern und durch den Druck deutschsprachiger Schulbücher für die nunmehr verstaatlichten Schulen. Dies ermöglichte es den Rumäniendeutschen, ihre kulturelle Identität sowie eine hohe Sprachkompetenz zu bewahren, die ihre Aussiedlung nach Deutschland und ihre soziale Eingliederung dort erleichterten. Beginnend mit den 1970er Jahren führte dies zu einer beschleunigten zahlenmäßigen Abnahme jener, die Deutsch als Muttersprache hatten. Selbst nach 1990 blieb der deutschsprachige Unterricht in mehreren städtischen Schulen (nicht jedoch auf dem Lande) erhalten, wobei er zu über 90 Prozent von Schülern rumänischer Erstsprache getragen wird. Zwar gibt es weiterhin eine deutschsprachige Presse - eine nationale Tageszeitung und drei regionale Wochenzeitungen - und zwei Bühnen in deutscher Sprache; die Verwendung des Deutschen im täglichen Umgang ist jedoch stark zurückgegangen. 8.4 Soziolinguistische Situation Während die ältere Generation auf dem Lande auch heute noch fast ausschließlich Dialekt spricht, ist für die Abgänger der städtischen deutschsprachigen Schulen Deutsch meist nicht mehr Erstsprache. Zum Dialekt haben sie, vor allem in Siebenbürgen, wo es zwischen Dialekt und Standardvarietät große Unterschiede gibt, kein Verhältnis mehr und verstehen ihn in der Regel auch nicht. Deutsch bleibt für sie Bildungs- und eventuell Berufssprache. Die Öffnung der Grenzen hat jedoch nicht nur die Aussiedlung erleichtert, sondern auch das Studieren im Ausland wieder möglich gemacht, was zu einer wesentlichen Verbesserung der Deutschkenntnisse bei Jugendlichen führt. Ein Studium an Universitäten im deutschsprachigen Ausland sowie gute Arbeitsplätze bei deutschen Firmen im eigenen Land haben den praktischen Wert des Deutschen und damit seinen Stellenwert unter den in Rumänien gelernten Fremdsprachen erhöht. 9 Literatur CNS = România. Comisia Na ional\ pentru Statistic\: Recens\mântul popula iei ^i locuin elor din ianuarie 1992. Structura etnic\ ^i confesional\ a popula iei, o.O. 1995. INS = Institutul Na ional de Statistic\: Recens\mântul popula iei ^i al locuin elor 2002. Rezultate generale: popula ie, gospod\rii, locuin e. Als CD, o.O. (erschienen 2003). Armbruster, Adolf (1991): Auf den Spuren der eigenen Identität. Ausgewählte Beiträge zur Geschichte und Kultur Rumäniens. Bukarest: Editura Enciclopedica. 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Es waren viele Jungen und Mädchen gekommen. Am schönsten war es, als wir in den Garten spielen gingen. In diesem Jahr wird mein Geburtstag an einem Dienstag sein. Ich werde zwölf Jahre alt. Meine Paten und Patinnen kommen zu Besuch. Sie haben sich vorgestern angemeldet. Gestern Abend haben meine Großmutter und mein Großvater noch einmal mit ihnen gesprochen. Diesmal möchte ich eine Erdbeertorte mit zwölf Kerzen darauf.“ Zur mundartlichen Wiedergabe werden zwei Sonderzeichen verwendet: å = ein dumpfes a; # = Schwa-Laut. Vokallänge wird durch Verdoppelung gekennzeichnet; für stimmloses s im Anlaut wird ss geschrieben. Ansonsten gelten die üblichen Regeln der deutschen Rechtschreibung. Der Beispieltext im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt von Bistritz (Nordsiebenbürgen): „Aich heeßn Mich # l. Z # johr hun ich z # m G # burtsdåch än Låpda b # kun ånd mai kli Säst # r, d # t Marichi, än Buba. Mai Mått # r hu # t Kachn g # båckn. Et worn vill Jång # n ånd Meedch # r kun. Äm heschtn wor # t, åls m # r än d # n Gu # rtn spiln gång # n sai. Det Johr wird mai G # burtsdåch u en # m Dänstoch sai. Ich wiärn zwel # f Johr ålt. Mei Pati ånd Goodn kun åf B # saik. S # hun sich igaast # r g # målt. Naicht # n hun mai Grußmått # r ånd mai Grußvåt # r noch # mol mät # n g # ret. Dätmol mecht ich än Iärp # rtort mät zwel # f Kiärzn dråf.“ Der Beispieltext im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt von Tartlau/ Prejmer (Südsiebenbürgen): „Ech heeß # Misch. Z # Gau # r hu # n ech z # m G # burtsdåch # n Pillå b # kunn # nd menj kleen Sast # r, Marii, # n Bubå. Menj Mett # r hat Kech # g # båck # n. Et waur # vill Gaa # n och Maidsch # r kunn. U # m hescht # woas # t, ås m # r an d # Gu # rt # spill # genj # n. Dat Gau # r word menj G # burtsdåch u # n # m Daistich senj. Ech ward # n zpölf Gau # r oald. Menj Patt # n och Good # n kunn af B # seck. S # hu # sech iigääst # rn u # g # mald # n. Naajcht # nd hu # n menj Gruuß # n och menj Gruußvu # t # r nååch eest mat # n g # ri # t. Dat mau # l weel ech # n Iirp # rntort mat zpölf Kiirz # n d # råf.“ Der Beispieltext im Sathmarschwäbischen von Schandern/ andra, Kreis Sathmar: „I huoiss Mich # l. Fiänt håne zu mein Geburtstag # Pauball ib # rkumm # und meine gleine Schwescht # r, t’Måre, # Båbå. Mei Mu #t # r håt Ki # chl # kmacht. Sent vii Bu # b # und Mädl # kumm # . Am schemscht # isch # s ksei, wä m # r send in Gart # gi spiel # kang # . Hui # r wed mei Geburtstag am # n Zeistig sei. I wer zwölf Jåhr sei. Mei Gette und mei Gott # kumm # t gi Hoschtub # . Vuårgirscht hånts # ksait, dass s # kumm # t. Nächt hånt mei Naan # und mei Nääne noumål mit # ne kschwätzt. Deesmål dät e Apeerki # chl # mit zwölf Ki # rzl # doub # ha.“ Der Beispieltext in der banatschwäbischen Mundart von Großjetscha/ Iecea Mare, Kreis Temesch: „Ich heeß Michl. Vormjåhr han ich zum G # purtståch # Pall # kriet un mei kleeni Schwest # r, # s Måri, # Pupp. Mei Mott # r hat Kuch # g # back. Es wår # vill Buw # und Meedch # r kumm. Am schenscht # wår’s, wi # m # r in d # Gårt # spill # gang ssin. Hei # r werd mei G # purtståch am # Dienschtag ssin. Ich gen zwölf Johr alt. Mei Pat # un mei Good # kumm # måj # . Ssie han ssich vorgischt # r ångmeld. Gischt # r ow # d hat mei Grossmutt # r unt mei Grossvat # r noch mol mid n # gret. Desmolrum will ich # Ertbertort mit zwölf Kerz # druf.“ Der Beispieltext in der banatschwäbischen Mundart von Pankota/ Pâncota, Kreis Arad: „Ich haaß Mischk # . Es vorichi Jåhr hab ich zu mei Geburtstag # Pall # kriekt un mei klaani Schwest # r, ti Mari, # Bobb # . Mei Mott # r hat Kulatscht # g # packt. Es ssein viel Pub # un Johanna Bottesch 392 Madl # kumm # . Am scheenscht # wår’s, wie m # im Gart # spiel # ssein kang # . Hei # wert mei Geburtstag an # Dienschtag ssein. Ich wer zwölf Jåhr alt. Mei Ket un Kodi kumm # unz ufsuch # . Ssie hen ssich vorkischt # ankmeld # . Kescht # ob # ts had mei Krossmott # un mei Krossvat # noch # mol mit ihn # krett. Tess mol mecht ich # Ertpeertort # unt mid zwölf Kirz # druf.“ Der Beispieltext in der deutschböhmischen Mundart von Alt-Sadowa/ Sadova Veche, Kreis Karasch-Severin: „I hoiß Michl. Vi # dn hon i zum Geburtstog # n Poln kr # igt und mei klo # ne Schwest # , t’Mare, # Tok # . Mei Mu # d # hot M # lschpeis k’mocht. Es ssand v # l P # um # und Ti # ndl # kem # . Am sch # istn wu # s, w # i m # in Go # rtn kong # ssand und kschp # lt hom # . Hei # wi # d mei Geburtstog in # n Ird # ssa. I wi # zw # lf Jo # r old. Meine Teedn und Toodn kem # nd a. Sse hom # ndse vu # kest # n okm # ld. Kest # n af Nocht hom # nd mei Kr # ossmu # d # und mei Kr # ussvod # no o # ml mit e # kred. Tesmol w # l i # I # b # tortn mit zw # lf Kirzn # traf.“ Der Beispieltext im Landlerdialekt von Neppendorf/ Turni or: „I huaß Micho. Fäärn ho i zum G # purtstog # n Pila kri # kt und mei kluani Schwest # r, d’Mi # dlo, # Puppe. Mei Mu # d # hot # n Zöltn poch # . S’ seint vül Pu # m # unt Di # ndl keem # . Am schenstn is gwen, wi # m # in Gårtn spüln gång # ssein. Hiu # wird mei G # purtstog an # m Eritog ssai. I wi # zwelif Joh olt. Meini Geedn und Goodn # keem # n af Psu # . See håm si vogest # n ogmölt. Nachtn håm mei Adl un mei Edl no # mol mit ia kret. Dosmol wül i # Erpentorte mit zwelif Li # cht # ln trauf.” Der Beispieltext im österreichischen Dialekt von Oberwischau/ Viseul de Sus, Kreis Maramuresch: „Ich heiß Michl. Vorig # s Jåhr håb ich zum Geburtståg a Haputsch krigt und meini klani Schwest # r, ti Mari, a Tockn. Meini Mama håt Påch # rei påchn. Vieli Pubm und Mar # ln ssind kumm # n. Am schenstn wår, wie ssei m # r ssich kång # n in Gårtn spieln. Hei # r wet mein Geburtståg af a Dienståg fålln. Ich wer zwelw Jåhr t # rfiln. Meini Keetn und Kor # ln kumm # nt uns p # suchn. Ssie håmt ssich vorgest # rn ånkmoldn. Kest # rn af t # r Nåcht håmt meini Oma und mein Ota noch amol mit ihn # n kret. Ties # smol mecht ich a Erdpierntortn mit zwelw Kerzn trauf.“