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Wissenschaften im Kontakt

2007
978-3-8233-7328-5
Gunter Narr Verlag 
Sandra Reimann
Katja Kessel

Die Sprache ist ein omnipräsentes Ausdrucksmittel - im Alltag und in den Wissenschaften. Von daher ist es mehr als lohnend, einmal genauer zu betrachten, welche Bezüge zwischen der Wissenschaft, die sich zentral mit der Sprache beschäftigt, und anderen Disziplinen bestehen. Im vorliegenden Band werden also konkret die vielfältigen Beziehungen zwischen der Deutschen Sprachwissenschaft und den folgenden Wissenschaften aufgezeigt: Literaturwissenschaft, Didaktik, Inlands- und Auslandsgermanistik, Medienwissenschaft, Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Geographie, Politikwissenschaft, Medizin und Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft, Theologie und Hymnologie. Dieser Band stellt insofern eine Neuerung dar, als ein Wissenschaftsprogramm aufgestellt werden soll, welches die Vernetzung und Kooperation scheinbar entfernter Disziplinen zum Thema hat. Die Publikation ist so konzipiert, dass "Tandems" zwischen einem sprachwissenschaftlichen Beitrag und dem eines anderen Fachs zustande kamen. Der Bezug zwischen den Fächern ist auf ganz unterschiedliche, stets überraschende Art erkennbar.

Wissenschaften im Kontakt Kooperationsfelder der Deutschen Sprachwissenschaft Sandra Reimann / Katja Kessel (Hrsg.) Gunter Narr Verlag Tübingen Wissenschaft ff en im Kontakt Für Albrecht Greule Sandra Reimann / Katja Kessel (Hrsg.) Wi WW ssenschaft ff en im Kontakt Kooperationsfelder der Deutschen Sprachwissenschaft ff Gunter Narr Ve VV rlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / / / dnb.d-nb.de abrufbar. rr © 2007 Narr Francke Attempto Ve VV rlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das We WW rk einschließlich aller seiner Te TT ile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ve VV rwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ve VV rlages unzulässig und strafbar. rr Das gilt insbesondere für Ve VV rvielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ve VV rarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefr ff eiem und alterungsbeständigem We WW rkdruckpapier. rr Internet: http: / / / / www. ww narr. rr de E-Mail: info@narr. rr de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6328-6 Vorwort Die Beiträge in diesem Band wurden zu Ehren Albrecht Greules anlässlich seines 65. Geburtstags geschrieben. Sie knüpfen in mehrfacher Weise an das Wirken des Regensburger Sprachwissenschaftlers an. Der Jubilar promovierte 1971 bei Bruno Boesch zum Thema „Vor- und frühgermanische Flussnamen am Oberrhein“ und habilitierte sich 1979 mit einer Arbeit über „Valenz, Satz und Text. Syntaktische Untersuchungen zum Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg“. Nach langjähriger Tätigkeit in Mainz folgte er 1992 einem Ruf an den Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg als Nachfolger von Klaus Matzel. Albrecht Greule ist in Forscherkreisen bekannt als ein thematisch äußerst vielseitig arbeitender Wissenschaftler, der über die traditionellen Gegenstände der Sprachwissenschaft hinaus stets den Kontakt zu anderen Disziplinen sucht. Diese Offenheit für andere Fächer zeigt sich deutlich sowohl in seiner Forschung als auch in seiner Lehre, die ihm ein besonderes Anliegen ist. Exemplarisch seien folgende Lehrveranstaltungen aus der jüngeren Vergangenheit genannt, die er zusammen mit Kollegen aus anderen Fächern durchgeführt hat: „Berthold von Regensburg“ (mit dem Mediävisten Gerhard Hahn, Sommersemester 1997), Geographische Namen in Ostbayern“ (mit dem Geographen Dietrich J. Manske, Sommersemester 1998), „Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Carolina) - Recht und Sprache in der frühen Neuzeit“ (mit dem Strafrechtler Friedrich-Christian Schroeder, Wintersemester 1998/ 99), „Korpuslinguistische Analysen zum deutschen Wortschatz“ (mit dem Informationswissenschaftler Christian Wolff, Sommersemester 2005). Sprachwissenschaft ist für Albrecht Greule schon immer eine Disziplin, die auch einen Bezug zum „Rest der Welt“ hat. Dies vermittelte er den Studierenden in Hauptseminaren wie „Sprache im Fernsehen“ (Sommersemester 2000), „Sprache und Politik“ (Wintersemester 2000/ 01), „Sprache in Institutionen“ (Sommersemester 2002), „Sprache und Religion“ (Sommersemester 2004) oder „Hörfunkwerbung im Wandel“ (Wintersemester 2004/ 05). Dabei ist er darauf bedacht, Studierende und Nachwuchswissenschaftler durch die Veröffentlichung mancher aus den Seminaren hervorgegangenen Arbeiten zu fördern, z.B. in den Publikationen „Tarnung - Leistung - Werbung. Untersuchungen zur Sprache im Nationalsozialismus“ (mit Waltraud Sennebogen, Frankfurt am Main 2004) und „Studien zu Sprache und Religion. Aktuelle Probleme der religiösen Kommunikation aus Sicht Studierender“ (unter Mitarbeit von Sabine Hackl-Rößler und Gerhard Janner, Hamburg 2006). Der Jubilar ist Mitglied in interdisziplinär angelegten Forschungsprojekten und Organisationen, wie „Nomen et gens“, „F OROST - Forschungsver- Vorwort VI bund Ost- und Südosteuropa“, „I COS - International Council of Onomastics Sciences“ und war 1988-2000 in der Internationalen Studienkommission für die Messliturgie und das Messbuch (Arbeitsgruppe 3: Deutsche Gebetstexte) tätig. Sprachwissenschaftliche Vermittlungsarbeit hat er 1991-2001 als ständiges Mitglied der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ geleistet, die in der Öffentlichkeit große Beachtung findet. Albrecht Greules umfangreiches Schaffen in einer Festschrift zu würdigen und dabei noch seine zahlreichen geschätzten Kollegen, Schüler, Freunde und weiteren Weggefährten zu berücksichtigen, stellte sich als eine große Herausforderung dar. Weil es gar nicht möglich war, hier allen Aspekten gerecht zu werden, entstand die Idee eines thematisch ausgerichteten Sammelbandes. Dieser soll die deutsche Sprachwissenschaft in ihren Bezügen zu anderen Wissenschaften bzw. germanistischen Teilfächern darstellen und somit Albrecht Greules interdisziplinäres Wirken würdigen. Schnittmengen und gegenseitige Hilfestellungen der Sprachwissenschaft mit verschiedenen Disziplinen werden in der Forschung noch zu wenig thematisiert; die Festschrift soll deshalb bisherige Erfolge aufzeigen und Anstoß zu weiterer Zusammenarbeit geben. Die Publikation vereint - selbstverständlich nur als Auswahl an möglichen Kooperationspartnern - Beiträge aus den folgenden Gebieten: Literaturwissenschaft, Didaktik, Inlands- und Auslandsgermanistik, Medienwissenschaft, Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Geographie, Politikwissenschaft, Medizin und Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft, Theologie und Hymnologie. Die Reihenfolge der Beiträge richtet sich dabei nach der Nähe der Nachbarschaft der Disziplinen zur deutschen Sprachwissenschaft: Zunächst kommen also Teilfächer innerhalb der Germanistik, dann Fächer innerhalb der sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät; es folgen weitere philosophische Fakultäten sowie anschließend die darüber hinausgehenden Disziplinen. Die Konzeption der Publikation sah vor, dass jeweils ein sprachwissenschaftler Beitrag mit einer Themenstellung aus einem anderen Fach korrelierte. Folgende Fragen dienten der Orientierung: Welches Interesse hat die deutsche Sprachwissenschaft am anderen Fach und umgekehrt? Wo lassen sich Schnittstellen zwischen der Sprachwissenschaft und diesem anderen Fach finden? In welchen Bereichen braucht die deutsche Sprachwissenschaft die Unterstützung des anderen Fachs und umgekehrt? In welchen Bereichen gibt es bereits Zusammenarbeit? Welche Theorien (der Sprachwissenschaft/ des anderen Fachs) waren/ sind von Bedeutung? Desiderata: Wo kann eine Zusammenarbeit sinnvoll sein? Welche neuen Fragestellungen könnten sich aus einer Kooperation heraus ergeben? Vorwort VII Diese „Tandems“ waren unterschiedlicher Art. Im Idealfall konnten die Partner über ein gemeinsames Projekt berichten, entweder in zwei eigenständigen Aufsätzen oder in einem gemeinsamen Beitrag. Ansonsten konnten die Aufsätze auch unabhängig vom „Partner“ verfasst werden, jedoch sollte der Bezug zum jeweils anderen Fach erkennbar sein. Überblicksbeiträge waren genauso willkommen wie eine enge, exemplarische Themenwahl. Ein solch umfangreiches Unterfangen kann nicht ohne die Hilfe von außen bewältigt werden. Unser erster Dank gilt Frau Elisabeth Kappas, Director Global Marketing des Unternehmens EDS Deutschland GmbH, für die großzügige finanzielle Hilfe. Herzlich danken wir auch Prof. Dr. Dietrich J. Manske, der uns ermutigt hat, uns mit der Bitte um eine Spende an das Leitungsgremium des Arbeitskreises Landeskunde Ostbayern zu wenden. Dieser Bitte wurde großzügig stattgegeben. Alle, die sich in die Tabula gratulatoria eingetragen haben, haben ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung des Sammelbandes geleistet. Ein herzliches Dankeschön an alle Gratulanten! Für die Erarbeitung der Druckfassung danken wir Frau Katrin Simbeck, Frau Silke Schiekofer und Frau Christine Brau, die als studentische Hilfskräfte mit unermüdlichem Engagement sämtliche technische Hürden überwunden und das Layout vereinheitlicht haben. Für viele Gespräche und Tipps danken wir Frau Prof. Dr. Christiane Thim-Mabrey und Prof. Dr. Heinrich Tiefenbach, ebenfalls Deutsche Sprachwissenschaft in Regensburg. Wir danken auch Herrn Jürgen Freudl vom Gunter Narr Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Zudem geht unser Dank an die Beiträgerinnen und Beiträger, die sich auf unser Konzept eingelassen und uns mit Einblicken in die unterschiedlichen Fachkulturen und mit ihrer Sicht auf die deutsche Sprachwissenschaft überrascht haben. Mit den besten Wünschen zum Geburtstag und für den weiteren Lebensweg überreichen wir diesen Sammelband unserem geschätzten Lehrer Albrecht Greule. Katja Kessel und Sandra Reimann Inhalt Vorwort V 1 Literaturwissenschaft 1 Edith Feistner Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter Impulse zur Wiederentdeckung eines Gebiets sprach- und literaturwissenschaftlicher Kooperation 3 Ulla Fix/ Ursula Regener Stilindizien Zu einem literarischen „Criminalrechtsfall“ 19 Jörg Riecke Übersetzen aus dem älteren Neuhochdeutschen? Zum Problem der (Un-)Verständlichkeit auch der klassischen Literatur 45 2 Didaktik 53 Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 55 3 Inlands- und Auslandsgermanistik 79 Peter Bassola Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 81 Stojan Bra i Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? Zu einigen lexikographischen Fragestellungen aus der Perspektive eines Auslandsgermanisten 95 Jarmo Korhonen Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF- Wörterbüchern 109 Maria Thurmair „…ma Mozart non l’ho trovato! “ Was nicht in unseren Wörterbüchern steht 123 Zenon Weigt Textsorten in der universitären Didaktik 137 4 Medienwissenschaft 145 Werner Holly/ Ulrich Püschel Medienlinguistik Medialität von Sprache und Sprache in Medien 147 Inhalt X Rainer Winter Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit Zur Methodologie der Cultural Studies 163 Christian Wolff Zeitbezogene Korpusauswertung Medienanalyse oder Sprachwandelforschung? 173 5 Geschichte und Historische Hilfswissenschaften 189 Franz Fuchs/ Ulrich Schmid Item ein kreull Ein oberpfälzisches Pfarrhausinventar aus dem Jahre 1431 191 Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz Romanische Personennamen in Willmandingen? Sprach- und geschichtswissenschaftliche Anmerkungen zu zwei Mancipien-Listen in St. Galler Urkunden 207 6 Geographie 239 Dietrich Jürgen Manske Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 241 Michael Prinz Das Wort als Ort Linguistisch-geowissenschaftliche Schnittstellen 273 7 Politikwissenschaft 285 Horst Dieter Schlosser „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 287 Tanja Wagensohn Politik als Sprachkonstrukt 299 8 Medizin und Psychologie 315 Nina Janich Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation Eine interdisziplinäre Forschungsaufgabe 317 Stefan Kammhuber Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 331 Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin Sprachverwendungen - Sprachwirkungen 343 Jörg Meibauer Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 361 Inhalt XI Alf C. Zimmer Kognitionspsychologische Überlegungen zu „Türkis“ 375 9 Wirtschaftswissenschaften 385 Edgar Feichtner Nicht alles, was gefällt, wirkt! Zur Bewertung von Werbung aus betriebswirtschaftlicher Sicht 387 Sandra Reimann Ist Traubenlikör eROTisch? Zur Bewertung von Werbung aus sprachwissenschaftlicher Sicht 401 10 Rechtswissenschaft 417 Gabriele Klocke Überlegungen zur Benennung und Begründung einer Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 419 Friedrich-Christian Schroeder Sprache und Recht 431 11 Theologie und Hymnologie 437 Hermann Kurzke O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 439 Franz Simmler Liturgische Textsorten und Textallianzen 451 Heinrich Tiefenbach Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen im evangelischen Kirchenlied 469 Andreas Wagner Gottes Konturen in der Sprache Körper und Emotionen Gottes in Psalmen und Kirchenliedern 487 Peter Wiesinger Zur Problematik der Wiedergabe von Begriffen und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 509 Autorinnen und Autoren 547 Tabula Gratulatoria 557 1 Literaturwissenschaft Edith Feistner Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter Impulse zur Wiederentdeckung eines Gebiets sprach- und literaturwissenschaftlicher Kooperation Bereits 1989 hat Thomas Klein in der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ die Beschäftigung mit der Frage angeregt, „was sich Sprach- und Literaturgeschichte im Bereich der Mittelaltergermanistik noch oder wieder zu sagen hätten, das über ein flüchtiges ›Guten Tag‹ auf Institutskorridoren oder über die Publikationskoexistenz in Zeitschriften oder Sammelbänden hinausgeht“ (Klein 1989, 91). Nachdem sich, so der Bonner Sprachwissenschaftler, in den Frühzeiten des Faches, ja noch bis vor einem Menschenalter, diese beiden Teildisziplinen der Germanistik „so geschwisterlich nahe“ gestanden hätten wie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (ebd., 91), sei die „wissenschaftsgeschichtlich bedingte enge Verbindung von Sprach- und Literaturgeschichte“ inzwischen schwerlich wieder herstellbar. Doch gebe es Gründe genug - er selbst führt das Gebiet der Literatursprache im Kontext von Handschriftenverbreitung und Literaturgeographie an -, um „voneinander mehr als nur oberflächlich Notiz zu nehmen“ (ebd., 103). Dass Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft „zwei ungleiche Schwestern“ sind, wie es in der Einleitung zum 2003 erschienen Sammelband „Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft“ heißt (Hoffmann/ Keßler 2003), wird heute wohl von beiden Seiten so gesehen, auch von Sprach- und Literaturwissenschaftlern mit mediävistischem Schwerpunkt, die an diesem Band nicht beteiligt waren. Das kann aber durchaus ein Vorteil gegenüber allzu enger geschwisterlicher Symbiose sein: Ein Dialog zwischen ungleichen Verwandten wirkt gerade wegen der dadurch bedingten Distanz für beide Seiten anregender und fruchtbarer als unhinterfragtes Einvernehmen. Der Dialog muss allerdings gesucht werden. Das gilt, die Bemerkung sei erlaubt, in hohem Maß auch für die Sprachwissenschaft, die heute vielerorts schon in der Lehre der literaturwissenschaftlichen Mediävistik neben dem Bereich der Literatur auch den Bereich der „deutschen Sprache des Mittelalters“ mehr oder weniger überlässt. Das von mir vorgeschlagene Thema, mit dem sich das Gebiet des Übersetzens in diachronischer und synchronischer Perspektive zusammenspannen lässt, scheint mir eine Möglichkeit zu sein, einen Dialog zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft (nicht nur) im Kontext der Mittelaltergermanistik anzustoßen; ist doch dem Begriff des Übersetzens bereits die Edith Feistner 4 Metapher der Verbindung von Getrenntem inhärent. 1 Ich muss mich hier - in der Hoffnung auf ein Echo von Seiten der „ungleichen Schwester“ - freilich auf ein schlaglichtartiges Impulsreferat beschränken, das in der Folge, bezogen auf den sprach- und literaturwissenschaftlichen Erkenntniswert, drei Punkte in den Blick nimmt: 1. den mittelalterlichen Übersetzungsbetrieb, 2. die seit dem 19. Jahrhundert ungebrochene Tradition von Übersetzungen mittelalterlicher deutscher Dichtungen ins jeweilige Gegenwartsdeutsch (bzw. in ein je gegenwartssprachlich inspiriertes Deutsch) und schließlich 3. die aktuelle Übersetzungspraxis im Spannungsfeld von historischem Verstehen und gegenwartssprachlicher Reflexion. 1 Zeitreise ins Mittelalter: Vom gegenwärtigen und vom mittelalterlichen Übersetzungsbetrieb In einem Interview, das die S ÜDDEUTSCHE Z EITUNG vom 4. Juli 2006 abdruckt, 2 wird Burkhart Kroeber, der Übersetzer u.a. von Umberto Ecos Bestseller Il nome della rosa, nach der persönlichen Zusammenarbeit mit seinem „Parade-Autor“ gefragt, nach Erfahrungen während seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Übersetzerverbands, nach Urheberrechts- und Honorarfragen und schließlich auch nach seiner Definition dessen, was eine gute Übersetzung ausmache. Auf diese Frage antwortet der preisgekrönte Übersetzer wie folgt: „Leichter kann man sagen, was eine schlechte Übersetzung ist: wenn sie unbedingt eine bestimmte Schule demonstrieren will. Wenn ein Übersetzer zum Beispiel - im Sinne Schleiermachers - grundsätzlich eins zu eins übersetzt. Goethe schätzte dagegen auch den anderen Weg: dass man mit einem Text denselben Effekt erzielt wie das Original. Wenn also Shakespeare einen Witz macht, sollte das Publikum auch bei der Übersetzung lachen. Ich finde, dass die beiden Schulen sich nicht ausschließen. Das sind zwei Haltungen, zwei Register, so wie in der Musik Dur und Moll. Kein Mensch würde eines davon grundsätzlich ablehnen - das mischt sich, manchmal sogar innerhalb weniger Takte. Und so ist das beim Übersetzen eigentlich auch. Das Wichtigste ist: Man muss sich vom Text inspirieren lassen.“ 1 Vgl. Stern (1996) mit dem programmatischen Titel „Christophorus oder Vom Übersetzen zum Übersetzen. Gedanken zu einer Legende der Fremderfahrung“. Vgl. in diesem Sinn auch das Thema des von Frank (1993) herausgegebenen Sammelbandes „Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch“. 2 Es erschien unter der Überschrift „Nicht nur im Namen der Rose. Die deutsche Feder von Umberto Eco, Italo Calvino und vielen anderen Autoren: Burkhart Kroeber erhält heute den Münchner Übersetzerpreis“ (Interview: Antje Weber). In: SZ 4. Juli 2006, 55. Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 5 Was hat das - abgesehen davon, dass es sich bei Il nome della rosa um einen Roman über Facetten des Mittelalters handelt - mit dem Mittelalter zu tun? Zunächst einmal zeigt schon Kroebers Umweg bei der Definition einer (guten) Übersetzung über die Merkmale dessen, was eine gute Übersetzung nicht sei, dass sich der Begriff der Übersetzung, zumal im Fall von literarischen Texten, durchaus schwieriger fassen lässt, als man beim ersten Hinsehen vermuten könnte. Gerade deshalb ist auch in diesem Fall der Blick in eine weit entfernte Phase der eigenen Kulturgeschichte hilfreich, um durch den Vergleich mit ihr gegenwärtige Voraussetzungen bewusst zu machen, die sich aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit der Reflexion sonst entziehen, und um den diagnostischen Spielraum überhaupt zu erweitern. Im Mittelalter gibt es kein Urheberrecht, weder für den Ausgangstext noch für den Text der Übersetzung. Im Mittelalter gibt es zumindest nicht in der heute selbstverständlichen, textsortenübergreifend verallgemeinerbaren Form eine Autorität des Autors über den Text; eine weitaus größere Zahl von Texten als heute sind anonym tradiert. Im Mittelalter gibt es auch überhaupt kein Medium, das eine ‚justiziable’, d.h. identische Bewahrung der Gestalt von schriftlichen oder mündlichen Texten garantiert hätte, wie es durch Druck- und Tonträgertechniken heute längst geläufig ist. Im Blick auf die Übersetzungsanalyse muss hier die Frage, welches Werk übersetzt wird, streng genommen in die Frage umformuliert werden, welche Handschrift übersetzt ist, wobei dies freilich wiederum ein Verständnis von Texttreue unterstellt, das aus Zeiten des Buchdrucks und des Urheberrechts ins Mittelalter zurückprojiziert wird. (Damit mag zusammenhängen, dass wir die notorischen Beteuerungen mittelalterlicher Übersetzer, nichts hinzugefügt und nichts weggelassen zu haben, angesichts ihrer ‚Freiheit’ im Umgang mit dem Ausgangstext womöglich allzu rasch als unverbindlichen Topos auffassen.) Und schließlich gab es in der semi-oralen Kultur des Mittelalters auch über einen sich in Schriftlichkeit o d e r Mündlichkeit bewegenden Übersetzungsbetrieb hinaus schon innerhalb der Schriftlichkeit den mit Mündlichkeit interferierenden medialen Zwischenbereich einer schriftlichen Fixierung von Texten, die zum mündlichen Vortrag gedacht waren. Dies zeigt sich - bis zu der erst im Spätmittelalter allmählich einsetzenden Tradition volkssprachlicher Prosa - bei volkssprachlichen Übersetzungen lateinischer Quellen regelmäßig schon daran, dass sie die Prosaform des (in der mittelalterlichen Schriftsprache par excellence verfassten) Ausgangstextes in die Versform übersetzen, deren mnemonische und ästhetische Wirkung sich beim mündlichen Vortrag aktualisierte: Mittelhochdeutsch lesen umfasst in der Bedeutung „vorlesen“ ganz selbstverständlich das (Zu-)Hören des Publikums, wie schon die geradezu klassische Doppelformel lesen unde hoeren in mittelhochdeutschen Texten zeigt. Im Spannungsfeld von literater Klerikerkultur und illiterater Laienkultur schließt der mittelalterliche Übersetzungsbetrieb insbesondere auf dem Gebiet der lateinisch-volkssprachlichen Übersetzung, auf das ich mich hier zunächst konzentrieren möchte, über einen interkulturellen Vermittlungsas- Edith Feistner 6 pekt hinaus stets einen intrakulturellen mit ein. Für die Übersetzungskultur hatte dies die entscheidende Folge, dass sich zumindest im Hochmittelalter, d.h. vor der Etablierung einer volkssprachlichen Prosaschriftlichkeit ab dem Ende des 13. Jahrhunderts, die intrakulturelle, funktionsorientierte Transferleistung gegenüber dem von Burkhart Kroeber unter Berufung auf Goethe angeführten Äquivalenzprinzip im Bewusstsein der Übersetzer stark in den Vordergrund schieben musste. (Einen funktionalen Ansatz kennt in Form der sog. Skopostheorie auch die heutige Übersetzungswissenschaft; 3 dieser wird - als Gegenentwurf zum Äquivalenzprinzip - nicht zuletzt im Kontext des Bibelübersetzens oder auch des Übersetzens für Kinder und Jugendliche diskutiert, also dort, wo ebenfalls der interkulturelle Aspekt von einem intrakulturellen überlagert ist.) Dass man mit dem Text der Übersetzung, wie Kroeber in dem obigen Zitat formuliert, „denselben Effekt erzielt wie das Original“, ist, solange es in einer Kultur zwei grundsätzlich verschiedene Kultur- und Performanztraditionen gibt, von denen eine überdies den Anspruch sakraler Dignität beinhaltet, schlicht unmöglich. Welche Konsequenzen dies wiederum für die Einschätzung und die Wirkung eines Prinzips der verbum de verbo-Übersetzung haben konnte, sei wenigstens an zwei Beispielen aus dem Bereich der Franziskus-Hagiographie kurz illustriert: Lamprecht von Regensburg etwa schiebt in seine um 1238 entstandene mittelhochdeutsche Versversion der Vita Prima Sancti Francisci des Thomas von Celano (Weinhold 1880) 4 an einigen Stellen, insbesondere bei direkten Reden mit sakral-liturgischem Charakter wie der Papstpredigt zur Kanonisation des Heiligen, unvermittelt eine strikt wörtliche Prosaversion ein und kennzeichnet sie noch zusätzlich als solche, indem er ihr auch den lateinischen Ausgangstext beifügt. 5 Seine wörtliche Übersetzung beurteilt er aber ausdrücklich nicht nur - wie es Burkhart Kroeber mit seiner Kritik einer „Schule“ des Eins-zu-eins-Übersetzens tut - als schlechte (‚schlichte’) Übersetzung. Er lässt sie, in topischer Demutsgeste die Schuld der eigenen Unzulänglichkeit zuschreibend, überhaupt nicht als Überset- 3 Vgl. zusammenfassend Koller (1992, 212-214) sowie Stolze (1994, 155-167). Kritisch dazu Vermeer (1990, 59-64). Vgl. auch Feistner (1996, 171-174 und 183f.). 4 Vgl. Feistner (1995, 193-215) mit weiterer Literatur sowie Feistner (2005, 177-189) mit Abbildungen aus der Handschrift Mp.th.o.17a der Universitätsbibliothek Würzburg. 5 diz was der predige anegenge: Quasi stella matutina in medio nebule et quasi luna plena in diebus suis et quasi sol refulgens, sic refulsit iste in templo dei. waz in der rede begriffen sî, diu rede würde gar ze lenge, swer sie von grunde erkirnen solde, swie gern ich sie bediuten wolde, so sag ich iu daz ichs nicht enkan, dârumbe nim ich michs niht an. slehtes diute ich wol diu wort, diu ir latîn hie hât gehôrt: alsô der morgensterne mitten in dem nebele unde als der mân vol in sînen tagen, und als die schinende sunne, als erschein dirre in dem goteshûse. (nach v. 4933; vgl. auch nach v. 4978). Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 7 zung gelten, weil sie den (mehrfachen Schrift-)Sinn des lateinischen Ausgangstextes nicht auszuloten vermöchte. 6 Und, so könnte man hinzufügen, auch ein zumindest partiell analoger, kirchenoffizieller Sakraleffekt wie im lateinischen Ausgangstext lässt sich in der Tat hier weniger durch eine Übersetzung erzielen als durch eine explizite Nicht-Übersetzung. Dass ein wörtliches, ja sogar morphematisches Übersetzungsprinzip bei Wahrung der lateinischen Prosaform in der volkssprachlichen Version keine automatische Wirkungsäquivalenz herstellt, zeigt auf ihre Weise eine im 15. Jahrhundert entstandene Übersetzung von Bonaventuras Legenda Maior Sancti Francisci aus dem Freiburger Klarissenkloster (Brett-Evans 1980). 7 Wirkungsäquivalenz ist wohl auch nicht unbedingt das Ziel dieser Übersetzung gewesen, und schon gar nicht sollte hier die Anhängerschaft an eine Übersetzungs-„Schule“ demonstriert werden. Das morphematisch-wörtliche Übersetzungsprinzip, das hier zu zahlreichen Neubzw. Ad-hoc-Bildungen bis hin zur Hapax führt 8 und den in einem eigentümlich künstlichkonstruierten Übersetzungsdeutsch verfassten Text zu einer wortbzw. wortbildungsgeschichtlichen Fundgrube macht, ist überhaupt nicht übersetzungstheoretisch motiviert. Es ist das Resultat eines seit 1263 innerhalb des Mendikantenordens geltenden, ordenspolitisch motivierten Verbots, am Wortlaut der Legenda Maior Sancti Francisci irgendetwas ohne Zustimmung des Generalkapitels zu verändern: einmal mehr ein Beleg für den engen Zusammenhang von Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit, hier im Kontext der internen Zerreißproben und der Kritik von außen, die der vom Heiligen Franziskus gegründete Mendikantenorden im Verlauf seiner Geschichte zu gewärtigen hatte und die sich auch im Umgang mit der Vita des Ordensgründers niederschlugen. Das mag genügen, um für diesen Bereich die vielfältigen gemeinsamen Interessen von Sprach- und Literaturwissenschaft anzudeuten. Über das gemeinsame (allerdings mit unterschiedlicher Intensität wahrgenommene) Interesse an der kulturellen Voraussetzungshaftigkeit von Sprache und Literatur hinaus sei hier als Desiderat nur das Beispiel einer systematisierten Typologie von Sprachregistern in der Übersetzungsliteratur genannt, und zwar nicht nur in der lateinisch-deutschen, von der hier die Rede war, sondern natürlich auch in deutschen Übersetzungen aus einer anderen Volkssprache. Eine solche Registertypologie käme einerseits dem eher syntagma- 6 Vgl. den Übersetzerkommentar zur oben zitierten Stelle: disiu kurzen geseiten wort hânt sô sinnenrîchen hort, daz ich si niht ergründen kan: frâgt ir einen wîsern man! (vv. 4947-4950). 7 Die Übersetzung ist hier fälschlicherweise noch der Sibilla von Bondorf zugeschrieben. Vgl. Feistner (1995, 337-350) mit weiterer Literatur. 8 Etwa: underzuckung zu subtractio, gegenfröwung zu applausus, seraphlich zu seraphicus, honigflüssig zu mellifluus (vgl. Feistner 1996, 182). Vgl. Glossar der Edition von Brett- Evans (1980, 209-212) und dazu auch die Rezension von Kurt Ruh (1963). Edith Feistner 8 tischen Interesse der Literaturwissenschaft an einer werk- und gattungsspezifischen Funktionsgeschichte von Texten entgegen, andererseits aber auch dem eher paradigmatischen Interesse der Sprachwissenschaft an einer das Einzelwerk aufbrechenden Corpus-Analyse. 2 Zwischenstationen auf der Zeitreise vom Mittelalter in die Gegenwart: Von der Geschichte des Übersetzens aus dem Mittelalter Vor diesem Hintergrund erschließt sich der sprach- und literaturwissenschaftlichen Kooperation auch das Textfeld der Übersetzungen mittelhochdeutscher Werke (um nur davon zu reden) in ein Deutsch, das ein historisch unterschiedliches Wechselverhältnis zur jeweiligen Gegenwartssprache aufweist. Dieses Textfeld reicht mindestens bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Während es im mittelalterlichen Übersetzungsbetrieb eine wesentliche Aufgabe war, innerhalb ein und derselben Sprachgemeinschaft eine von Literarizität und eine von Oralität geprägte Kulturtradition zu synchronisieren, rückt hier der Aspekt eines diachronischen Kulturtransfers ins Zentrum. Das Problem, bei der Übersetzung eine Äquivalenzrelation zum Ausgangstext herzustellen, wird in ein Gegeneinander von historisch verschiedenen kulturellen Rahmenbedingungen gleichsam auseinandergezogen, aber mitnichten aufgelöst. Es stellt sich nur anders und eröffnet dabei den Blick auf ein anderes, auch nicht-mediävistisches Erkenntnispotenzial. Dabei geht es keineswegs nur um Fragen der Mittelalterrezeption, wie sie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nahe liegen, sondern es geht, hinter der sprachlichen Formung, die dem jeweiligen Mittelalterbild des Übersetzers, seines Zielpublikums und der Funktion der Übersetzung Rechnung trägt, auch um sprachwissenschaftlich relevante Fragen von der Lexik bis zur Syntax und von hier aus bis hin zu Fragen von transdisziplinärem Interesse wie der Frage nach je historischen Rationalitäts- und Rationalisierungsstrukturen im Spiegel sprachlicher Kohärenzbildung, der Frage des Traditionsverhältnisses oder der Frage des Toleranzspielraums gegenüber Normalisierungs- und Standardisierungsprozessen. Dass sich hier eine beträchtliche Dynamik beobachten ließe, wird schon deutlich, wenn man bedenkt, wie viele verschiedene deutsche Übersetzungen ein und desselben mittelhochdeutschen Werkes vom 19. bis zum 21. Jahrhundert mitunter auf den Markt gebracht worden sind. Ich nenne nur das berühmte und mit bislang fast siebzig Übersetzungen zweifellos gewichtigste, aber keineswegs einzige Beispiel des Nibelungenlieds. 9 Wenn im Lauf 9 Bis einschließlich 2005 zähle ich insgesamt 66 deutsche Vers- und Prosaübersetzungen des Nibelungenlieds. Die Zahl resultiert aus den Nummern 1411-1473 in der Bibliographie von Siegfried Grosse und Ursula Rautenberg (1989; die Bibliographie ist wiederabgedruckt in Grosses Nibelungenlied-Ausgabe (2002, 940-946), zu denen noch Grosses Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 9 der Zeit ältere Übersetzungen mittelhochdeutscher Werke, zumal in der mediävistischen Lehre, als unbrauchbar abgeschrieben werden und schließlich in Vergessenheit geraten, so kann gerade dies ein Indiz für ihr je zeitspezifisches diagnostisches Interesse sein. In der Tat wird man (nicht erst) heute wenig damit anfangen können, wenn Wilhelm Grimm 1815 den Satz aus Hartmanns ‚Armem Heinrich’ ›Nû lât den gedingen ‹/ sprach der meister aber dô (v. 194f.) mit ›Laßt das Gedingen ‹ , antwortete der Meister übersetzt. 10 Und bei Karl Joseph Simrocks vielfach aufgelegter Nibelungenlied- Übersetzung aus dem Jahr 1827 mutet heute schon die Formulierung der ersten beiden Verse Viel Wunderdinge melden die Mären alter Zeit/ Von preiswerten Helden von großer Kühnheit, die das Mittelhochdeutsche Uns ist in alten m æ ren wunders vil geseit/ von helden lobeb æ ren, von grôzer arebeit wiedergeben sollen, 11 geradezu ungewollt komisch an - in Zeiten, wo sich „preiswert“ mit dem Werbeslogan „Geiz ist geil“ assoziiert. Als Übersetzungs- oder gar Verständnishilfe für das mittelhochdeutsche Werk selbst sind die Beispiele aus den genannten Übersetzungen in der Tat längst ungeeignet. Umso mehr aber sind solche Übersetzungen, nicht nur diese beiden, ehemals ausgesprochen populären, ein Fundus für die historische Reichweite ihrer eigenen Sprache, ein Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts, und als solcher wären sie allererst zu entdecken. Dass für die Literaturwissenschaft die Frage, wie man historische Texte jeweils ‚zur Sprache bringt’, und zwar über das (hier zumindest im Rahmen der sog. ‚Volksbuch’-Literatur besser erforschte) 19. Jahrhundert hinaus, von fachgeschichtlichem Interesse ist, aber auch von methodologischem Interesse im Kontext geschichtsbezogener Hermeneutik und fachwissenschaftlicher Selbstreflexion, steht außer Zweifel. Die Literaturwissenschaft bedarf dazu der Kooperation mit der Sprachwissenschaft. Dieser wiederum könnte der Texttyp der historischen Übersetzung ein spezifisch profiliertes Corpus für eigene Fragestellungen bieten, das gerade wegen der längeren Halbwertszeit ‚klassischer’ literarischer Texte (nicht nur) des Mittelalters über beträchtliche Zeitspannen hin gut dokumentiert ist und neben historischen Längsschnitten auch je synchronische Querschnitte im Vergleich mit nicht-literarischen Texten ermöglicht. Welches Spektrum die Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen als Zeugnisse eines unabschließbaren hermeneutischen und funktionsgeschichtlichen Wandlungsprozesses im Medium der Sprache vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart entfalten, kann hier nicht einmal ansatzweise skizziert werden. Nur einige Eckpunkte seien in der Folge genannt. Nachdem die Äquivalenz beim Übersetzen von einer geschichtlich entfernten Sprachstufe eigene Übersetzung (1997; durchges. u. verb. Ausg. 2002) und die Übersetzung von Ursula Schulze (2005) hinzukommen. 10 Zitiergrundlage ist die Ausgabe von Ursula Rautenberg (1985a, 49). 11 Zu den Auflagen von Simrocks Nibelungenlied-Übersetzung, der erfolgreichsten überhaupt, vgl. Grosse/ Rautenberg (1989, 168-173). Edith Feistner 10 wie dem Mittelhochdeutschen in das Deutsch einer anderen Zeit schon aufgrund der zusätzlich veränderten Gewohnheiten bei der Rezeption von Texten (stille Einzellektüre vs. gemeinschaftliches Hörerlebnis) höchstens künstlich, etwa im Rahmen der Geselligkeits- und Salonkultur des frühen 19. Jahrhunderts, herstellbar ist (vgl. Heinzle 2006, 215), bleibt hier nur die Wahl zwischen zwei einander entgegengesetzten Übersetzungsstrategien: einer retrospektiven und einer prospektiven. Diese aus der Übersetzungswissenschaft stammende Unterscheidung scheint mir, wiewohl sie sich dort zunächst einmal nur auf die (von geschichtlichen Tiefendimensionen unabhängige) Frage bezieht, ob eine Übersetzung den Ausgangstext in seiner Eigenart widerspiegeln oder ob sie ihn auf spezifische Funktionskontexte hin neu ‚einstellen’ soll (vgl. Vermeer 1990, 59-64), gerade für den Bereich des historischen Übersetzens gut geeignet. Das gilt zumal für das zwischen Ein- und Zweisprachlichkeit stehende Übersetzen von einer Sprachstufe in eine andere Sprachstufe derselben Sprache. Die retrospektive Strategie zielt hier auf ein vom Standpunkt der Gegenwartssprache aus zwar (zumindest zielgruppenspezifisch) Verständnis sicherndes, aber archaisierendes Übersetzen ab, um durch den Verfremdungseffekt einer künstlich aufgelegten Patina die Entferntheit des Ausgangstextes nachzuahmen und auch dessen Literarizität gegebenenfalls vom Metrum bis in die Wortstellung oder Satzverknüpfung hinein zu konservieren. Dass dabei, je nachdem, welche ‚Zusatzstoffe’ bei der Konservierung zum Einsatz kommen, leicht eine Übersetzungssprache entsteht, die „schlechter ist als das Original, und doch nicht modern“, hat schon der junge Wilhelm Grimm erkannt. 12 Seine Kritik bezog sich auf Friedrich von der Hagens Nibelungenlied-Ausgabe (1807), die den mittelhochdeutschen Text überhaupt nur auf phonetischer Ebene ins Neuhochdeutsche ‚übersetzte’ 13 und damit, auch was den Publikumserfolg angeht, weit hinter der gemäßigteren Retrospektivität von Karl Simrocks Vers-(für-Vers-)Übersetzungen mittelhochdeutscher ‚Klassiker’ zurückbleiben sollte. 14 Dessen Übersetzungen und die der zahlreichen Nachfolger, die sich auf dem Gebiet der Versübersetzung an ihm inspirierten, lassen sich weniger als konservativ, denn als restaurativ charakterisieren. Aber auch sie verbindet bei allen geschichtlich bedingten Verschiebungen in der Art ihrer lexikalischen, morphologischen oder syntaktischen Abweichungen die Tendenz, einen ‚einsprachlichen’ Traditionsbezug zum Ausgangstext herzustellen bzw. zu suggerieren. Die prospektive Strategie hingegen zielt, obwohl sie sich in der Praxis oft genug wie „Dur und Moll“ mit der retrospektiven mischt, auf ein aktualisie- 12 Hinrichs, Gustav [Hrsg.] (1881): Kleinere Schriften von Wilhelm Grimm. Bd. 1. Berlin, 73. Zitiert nach Heinzle (2006, 215). 13 Vgl. auch die - ähnlich wie bei von der Hagen politisch motivierte - Extremform einer (kunst-)sprachlichen Retrospektivität, zu der sich über ein Jahrhundert später der Schriftsteller und Essayist Rudolf Borchardt in seiner Ausgabe von Hartmanns ‚Armem Heinrich’ mit programmatischer Vehemenz bekannte (vgl. Borchardt 1925, 59-87). 14 Vgl. die zusammenfassende Würdigung Simrocks von Elke Brüggen (2002). Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 11 rendes Übersetzen im Hinblick auf historisch veränderte, je gegenwärtige Rezeptions- und Funktionszusammenhänge ab, will also den Ausgangstext in einer ihrer eigenen Zeit gemäßen Sprache neu formulieren. Dieses Übersetzen im Horizont der ‚Zweisprachlichkeit’ kann auf durchaus verschiedene Weise geschehen. So kann das mittelhochdeutsche Werk - mit dem Ziel, seine Fremdheit kreativ aufzulösen - in eine aktuelle, ihrerseits aber wiederum mit literarischem Anspruch verbundene (Prosa-)Form gebracht oder aber - mit dem Ziel, es in seiner Fremdheit für die Gegenwart gleichsam übersetzend zu ‚erklären’ - gerade umgekehrt in eine philologische Distanz gerückt werden, die seine rhetorisch-poetische Konstitution analytisch ausklammert und es überhaupt weniger ersetzen als es vielmehr (in seiner eigenen, ‚fremden’ Sprache) lesbar machen will. Die Entscheidung für das Eine oder das Andere hängt ebenso wie die grundsätzliche Entscheidung, ob man überhaupt prospektiv und nicht retrospektiv übersetzt, natürlich davon ab, welchen Sitz im Leben der Blick ins Mittelalter für den Übersetzer bzw. seine Zielgruppe jeweils hat und welche Funktion die Übersetzung infolgedessen erfüllen soll. Ein frühes Beispiel für die erstgenannte, künstlerischkreative Form der sprachlichen Aktualisierung eines mittelhochdeutschen Werkes stellt Wilhelm Grimms Prosa-Übersetzung des ‚Armen Heinrich’ dar. Obwohl auch sie zumindest an einigen Stellen das Mittelhochdeutsche nahezu unverändert ‚translitteriert’ wie im oben zitierten Beispiel, kleidet sie insgesamt jedoch die Verserzählung Hartmanns von Aue in den heute noch berühmten, „charakteristischen Ton der Kinder- und Hausmärchen“ (Rautenberg 1985a, 103). 15 Dieses Stilprodukt bildet bekanntlich die Grimm’sche Auffassung von „Volkspoesie“ ab und steht im Rahmen der Diskussion um Natur- und Kunstpoesie, die für die Kunsttheorie der deutschen Romantik maßgeblich gewesen ist. Heute hingegen dominiert die zweitgenannte, analytisch-distanzierende Form der sprachlichen Aktualisierung mittelhochdeutscher Werke. Das gilt freilich nur für den akademischen Kontext, auch wenn sich dieser spätestens seit den 70er Jahren zunehmend zum gesellschaftlichen Residualbereich der Beschäftigung mit Literatur und mit (der eigenen Mutter-)Sprache spezialisiert hat. Hier besitzt eine philologische „Schule“ des Übersetzens in der Tat ihre volle Berechtigung. Doch ist darüber nicht zu vergessen, dass es auch andere, künstlerisch-kreative Formen der Übersetzung gab und gibt, denen man, so schmal im Einzelfall die Grenze zur Nachdichtung sein mag, keineswegs schon automatisch ihre Eigenschaft als Übersetzung absprechen sollte. Solches Los ereilte nicht nur Wilhelm Grimms Übersetzung des ‚Armen Heinrich’, wie deren Abdrängung und Entfernung aus der Reclam-Ausgabe von Hartmanns Text zeigt. 16 15 Vgl. dazu insgesamt auch Rautenberg (1985b). 16 In dem von Ursula Rautenberg herausgegebenen Band RUB 456 wurde früher (mir liegt die Ausgabe von 1985 vor) hinter Hartmanns mittelhochdeutschem Text zumindest anhangsartig noch die Übersetzung von Wilhelm Grimm abgedruckt. Seit der Ausgabe von 1993 erscheint stattdessen Siegfried Grosses Übersetzung neben dem mittelhochdeutschen Text. Edith Feistner 12 Ein lebendes Beispiel für die akademische Marginalisierung von Übersetzungen mit literarischem Anspruch sind - bei aller Medienaufmerksamkeit, ja Begeisterung, die im Kunst- und Kulturbetrieb dem „Quartett“ aus „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“, „Neidhart und das Reuental“, „Ich Wolkenstein“ und „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ zuteil geworden ist 17 - die Übersetzungen Dieter Kühns. Derartige Übersetzungen bleiben zwischen den germanistischen Teildisziplinen, und zwar schon innerhalb der (sog. Älteren und Neueren deutschen) Literaturwissenschaft, gleichsam in der Luft hängen. Zweifellos können Übersetzer, die nicht (nur) Philologen, sondern selbst Literaten sind, mitunter am ehesten dem Glücksfall einer Lösung der Quadratur des Kreises nahe kommen: dem auch von wissenschaftlicher Seite vertretenen Ideal nämlich, zeitgemäß, ja eingängig und doch so zu übersetzen, dass „dem heutigen Leser“ wenigstens im Ansatz ein „Eindruck von der sprachlichen Form des Originals“ vermittelt wird (vgl. Hoffmann 2004, 300). Dennoch haben nicht sie Schule gemacht, schon deshalb nicht, weil die Personalunion zwischen hauptberuflichem Literaten und ausgebildetem Philologen selten ist. So hat sich im Wissenschaftsbetrieb ein spezifischer, auf die Gebrauchsfunktion der akademischen Lehre zugeschnittener Übersetzungsbetrieb herausgebildet. Dieser deckt inzwischen zumindest auf dem Gebiet der ‚Klassiker’-Übersetzungen, teilweise aber auch schon über den ‚Klassiker’-Kanon hinausgehend, ein beträchtliches, massenfachspezifisches Marktsegment ab und differenziert sich in den letzten Jahrzehnten auch intern aus. Dabei können Wissenschafts- und Marktnähe (Einbezug des „interessierten Laien“) je nach Übersetzerintention und Verlagsprogramm in ein unterschiedliches Gewichtungsverhältnis treten. Im Fall des Nibelungenlieds liegen aus der Zeit zwischen 1970 und 2005 sechs verschiedene Übersetzungen vor. 18 Die zuletzt erschienene stützt sich auf einen handschriftenspezifischen, nicht editorisch ‚hergestellten’ Ausgangstext - ein Trend, der auch über das Nibelungenlied hinaus bei philologischen Übersetzungen zu beobachten und aus mediävistischer Sicht mehr als berechtigt ist. Außerhalb des akademischen Bereichs jedoch haben auch (wenn nicht sogar: gerade) die guten alten Versübersetzungen Simrock’schen Typs neue Konjunktur, offenbar deshalb, weil sie - nicht trotz, sondern wegen ihres heute unzeitgemäßen, ‚biedermeierlichen’, ja seit jeher biederen Charakters - zumindest in den Augen eines beachtlichen Leserkreises ‚mittelalterlich’ wirken. So erlebt das Nibelungenlied im Jahr 2005 gleichzeitig eine neue, 17 Vgl. Borchmeyer (2004), dessen Artikel in „D IE Z EIT “ anlässlich des Erscheinens von Dieter Kühns „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ (Frankfurt a.M. 2003) das „Mittelalter-Quartett“ insgesamt würdigt. 18 Es sind dies die im Literaturverzeichnis von Siegfried Grosses Nibelungenlied-Ausgabe (2002, 946) aufgelisteten Übersetzungen von Helmut Brackert (1970/ 71), Ulrich Pretzel (1973), Günther Kramer (1982) und Danielle Buschinger/ Wolfgang Spiewok (1991) sowie Grosses eigene Übersetzung (2002) und - nach dem Text der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek - die Übersetzung von Ursula Schulze (2005). Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 13 handschriftenspezifische philologische Übersetzung, aber auch die jüngste Ausgabe der Simrock-Übersetzung. Derzeit ist, begleitet von ‚übersetzungskritischen’ Diskussionen unter Internet-Usern und in Kundenrezensionen auf den Seiten der Internet-Buchhändler, sogar eine Netzversion nach der vierten Auflage von 1844 im Entstehen. 19 Und die 1959 erstmals erschienene Versübersetzung Helmut de Boors hat ihrerseits während der letzten Jahre in kurzen Zeitabständen (1998, 2000, 2003) Neuauflagen erlebt. Dass es neben Fassungen des Nibelungenlieds für Kinder und Jugendliche auch sozio- und dialektale Spielarten in der ‚Szene’-Sprache, auf Bairisch und op platt gibt, 20 sei nur noch am Rande erwähnt. Hier ist - freilich in einer ganz anderen Richtung als bei den viel berühmteren, teils schwergewichtigen, teils schwierigen Zeugnissen der Nibelungenlied-Rezeption in der deutschen Kulturgeschichte - die Grenze zur Bearbeitung überschritten. Das Untersuchungsfeld der Übersetzungen aber ist als solches schon groß genug. Und auch die Übersetzungen sind ein Seismograph der Geschichte, einschließlich der Sprachgeschichte, von der Romantik bis zur Postmoderne. 3 Ankunft in der Gegenwart - oder: Was man beim Übersetzen aus dem Mittelalter lernen kann Der Blick aufs Übersetzen, sei es das Übersetzen im Mittelalter (ins Mittelhochdeutsche) oder aus dem Mittelalter (aus dem Mittelhochdeutschen), ist zugleich ein Blick in die Entstehungszeit der jeweiligen Übersetzung. Das eigene Übersetzen hat dementsprechend einen gegenwartsdiagnostischen Erkenntniswert. Diesen noch über das Produkt des übersetzten Textes selbst hinaus zu reflektieren, wäre sicher lohnenswert. Der hermeneutische Befund, dass man Texte ‚übersetzen’ muss (für sich, für seine Zeit, für einen bestimmten Zweck), um sie zu verstehen und gegebenenfalls zu vermitteln, macht deswegen, weil er bei mittelhochdeutschen Texten im Unterschied zu Texten jüngeren Datums nicht übersehen werden kann, ja auch ein Grundproblem transparent, das für den Umgang mit Texten allgemein relevant ist, nicht nur für fremdsprachliche Texte bzw. für Texte aus einer fremden Sprachstufe. Die Rede, wonach jede Übersetzung eine Interpretation sei, gilt stets auch umgekehrt: Jede Interpretation ist ein Akt des Übersetzens oder setzt ihn doch zumindest voraus. Angesichts dieses Stellenwerts von Übersetzen kann es mehr als erstaunlich wirken, dass sich in der germanistischen Lehre das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen (der Bezug auch auf das Althochdeutsche ist hier ohnehin längst gekappt) aus dem Seminarbetrieb ins Schattendasein einer 19 Abrufbar unter http: / / www.nibelungenlied.de (Zugriff am 03.08.2006, im Entstehen). 20 Claus 1986 (1989) unter dem Titel „Total krasse Helden. Die bockstarke Story von den Nibelungen“; Fischach (1995) unter dem Titel „Da Sigi, sei Dracha und de von Burgund. Das Nibelungenlied, frei nacherzählt in bayerischer Sprache“; Kreye (1970) unter dem Titel „De Nibelungen. Fidele Weltgeschicht op platt“. Edith Feistner 14 „Übung“ abgedrängt sieht und bestenfalls noch den Status einer Wahlpflichtveranstaltung hat. Die zu Mitteln zur „Effizienzsteigerung“ ver(un)klärten Sparmaßnahmen in der Hochschulpolitik mit ihren Folgen für die Stellenausstattung sind dafür aber vielleicht weniger als Grund denn als Anlass verantwortlich. Die vermeintliche Einsparmöglichkeit beim Übersetzen hat ihren Grund auch nicht nur darin, dass es für das mittelhochdeutsche ‚Klassiker’-Spektrum inzwischen eine ganze Palette philologischer Übersetzungen ins Neuhochdeutsche gibt. (Das Ursache-Wirkungs-Prinzip mag hier genauso gut umzukehren sein.) Die vermeintliche Einsparmöglichkeit hängt m.E. nicht zuletzt damit zusammen, dass in der akademischen Lehre das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen tatsächlich bloß auf eine lektürebezogene Anwendung von Kenntnissen aus der historischen Grammatik, d.h. auf die Rolle einer mediävistischen Hilfswissenschaft reduziert bleibt, während das über die Befähigung zur Lektüre mittelhochdeutscher Texte hinausgehende Potenzial des Übersetzens kaum je systematisch aktualisiert wird. Dieses Potenzial bestünde - zumal für die Sprachwissenschaft - in der Diagnoserelevanz, die das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen für die Gegenwartssprache hat, und darüber hinaus in der durchaus auch außeruniversitären Praxisrelevanz, die dem Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen eignet: Es ist ein Sprachbewusstsein und sprachliche Kreativität förderndes Übungsfeld für Ausdrucksfähigkeit, Stilsicherheit, Wortschatzerweiterung, kurz: für Vermittlungskompetenz der Studierenden überhaupt; stellt doch das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen eine Nagelprobe nicht nur für das historische Verstehen dar, sondern ebenfalls für die gegenwartssprachliche Kompetenz der Studierenden, ja macht ihnen Defizite auf diesem Gebiet oft allererst bewusst. Diesen ‚Nebeneffekt’ gälte es freilich, auch zum Thema selbst zu erheben und entsprechend auszuschöpfen. Das ist gerade deswegen umso wichtiger, weil sich die Frage der „doppelten Fremdheit“, wie Michael S. Batts (1993, 647-654) sie als Nicht- Muttersprachler für das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen diagnostisch präzise aufwirft, innerhalb des Faches Germanistik als Muttersprachenphilologie ganz spezifisch stellt. Es geht hier nicht um eine Fremdsprache in ihrer zusätzlichen, mittelalterlichen Fremdheit, sondern um geschichtliche Varietäten der eigenen Sprache. Die Wahrnehmung dieser geschichtlichen Varietäten aber hat gerade für einen Muttersprachler die wichtige Funktion, ‚seine’ Sprache aus ihrer scheinbar selbstverständlichen ‚Gegebenheit’ heraustreten zu lassen und ein Sprachbewusstsein freizusetzen, ohne das ein kompetentes Verfügen über (diese) Sprache einschließlich ihres synchronischen Varietätenfächers schwer möglich ist. Deshalb käme eine (Status-)Reform der akademischen Übersetzungsübung sowohl der mediävistischen Lektürekompetenz als auch den Erwartungen entgegen, die der Berufsmarkt, im Schulwesen und darüber hinaus (vgl. Feistner/ Karg/ Thim-Mabrey 2005), von ausgebildeten Germanisten als Muttersprachenexperten hat. Dass für das Eine und für das Andere gleichermaßen eine Kooperation zwischen den „ungleichen Schwestern“ Sprach- und Lite- Übersetzen im Mittelalter - Übersetzen aus dem Mittelalter 15 raturwissenschaft unabdingbar ist, steht ebenso fest wie der Befund, dass diese Kooperation eher eine Ausnahme als die Regel bildet. Bereits 1989 hat Thomas Klein angemahnt, Sprach- und Literaturwissenschaft hätten sich (auch) auf dem Gebiet der Mediävistik mehr zu sagen als „Guten Tag“. Sein Beitrag, aus dem ich einleitend zitiert habe, dürfte nicht von ungefähr in der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ veröffentlicht sein. In ähnliche Richtung weisen Michael Hoffmann und Christine Keßler, wenn sie vierzehn Jahre später in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band „Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft“ anführen, dass es auch „praktische Gründe“ gebe, den Dialog zwischen beiden germanistischen Teildisziplinen - bzw., wie es bei ihnen bezeichnenderweise schon heißt, zwischen den beiden „Nachbardisziplinen“ - zu suchen: „Ist dem Wissenschaftler der Blick zur Nachbardisziplin noch freigestellt, so wird er für die Lehrer/ innen zur Pflicht, denn sie haben im Unterricht beide Disziplinen zu vertreten. Konzepte zu einem integrativen Deutschunterricht etwa versuchen zwar, dem Rechnung zu tragen, aber es genügt nicht, sprachliche und literarische Komponenten in einem Buch nebeneinander anzuordnen.“ (Hoffmann/ Keßler 2003, 11). Dem kann nur zugestimmt werden. Wie dringlich eine Selbstbesinnung hier wäre, zeigt Jörg Rieckes Beitrag in diesem Band. Sollte eine der vorzüglichen Aufgaben der Germanistik, die Lehrerausbildung, Geburtshilfe dabei leisten, dass sich die „ungleichen Schwestern“ nach Jahrzehnten der Emanzipation womöglich doch noch neu begegnen? Auch die Tür zwischen den künstlich institutionalisierten ‚Abteilungen’ der sog. alt- und neugermanistischen Literaturwissenschaft ließe sich im Haus der Germanistik übrigens von beiden Seiten weiter öffnen. 4 Bibliographie 4.1 Quellen Borchardt, Rudolf (1925): Hartman [sic] von Aue, Der Arme Heinrich. Besorgt und mit einem Nachwort versehen. München. Brett-Evans, David [Hrsg.] (1980): Bonaventuras Legenda Sancti Francisci in der Übersetzung der Sibilla von Bondorf. Berlin (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 12). Claus, Uta (1989): Total krasse Helden. Die bockstarke Story von den Nibelungen. 2. Aufl. München. Boor, Helmut de (1959): Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg. und übertragen. Bremen (bzw. Köln für Neuauflagen ab 1998). 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Stuttgart (RUB, 456); ab der Auflage dieses Bandes von 1993 (zuletzt 2005) modifiziert: Hartmann von Aue, Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Übersetzt von Siegfried Grosse. Schulze, Ursula (2005): Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Düsseldorf/ Zürich (Lizenzausgabe: Darmstadt). Simrock, Karl (1827; zuletzt 2005): Das Nibelungenlied. Aus dem Mittelhochdeutschen. Berlin (1827)/ Köln (2005). Simrock, Karl (2006): Das Nibelungenlied. Nach dem Text der 4. Auflage von 1844. Abrufbar unter http: / / www.nibelungenlied.de (Zugriff am 03.08.2006, im Entstehen). Weinhold, Karl [Hrsg.] (1880): Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben und Tochter Syon. Zum ersten Mal hrsg. nebst Glossar. Paderborn. 4.2 Literatur Batts, Michael S. (1993): Doppelte Fremdheit? Moderne Übersetzungen eines mittelalterlichen Textes. In: Frank, Armin P./ Maaß, Kurt-Jürgen/ Paul, Fritz/ Turk, Horst [Hrsg.]: Übersetzen, verstehen, Brücken Bauen. 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Ulla Fix/ Ursula Regener Stilindizien Zu einem literarischen „Criminalrechtsfall“ 1 Heinrich Clauren alias Carl Gottlieb Samuel Heun oder die Demontage eines Erfolgsautors „Wer wissen will, welches Ideal sich die kleinen Kaufleute des Biedermeier erträumten, braucht nur Clauren zu lesen und die Ritterromane der Zeit“, brachte Kurt Tucholsky 1924 eine Reihe von Herablassungen auf den Punkt, mit denen Carl Heun (alias Heinrich Clauren) schon zu Lebzeiten zu kämpfen hatte (Tucholsky 1975, 464). Seine Demontage als Schriftsteller begann 1825, als Jean Pauls „Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule“ erschien. Paragraph 5 ist den „Eleganten Schriftstellern“ gewidmet, also „Schriftsteller[n] wie Engel, Moses Mendelssohn, Weiße, Gellert“ und „Genies wie Hamann, Herder u.s.f.“, von denen die Mittelmäßigen abgesetzt werden: „In neuerer Zeit hat man den guten Mittelweg eingeschlagen, die Schriftsteller, die man nicht Genies zu taufen wagt, wenigstens genial zu nennen; so hat man den genialen Clauren, Müllner u.s.w., wie man die Findelkinder in Spanien adelige heißt, während man sie im Mittelalter Pfaffenkinder betitelte.“ (Jean Paul 1959-1963, 463f.). Just in diesem Jahr 1825 eroberte auch die „umstrittenste literarische Fälschung“ (Frenzel 1958, 448) in der Geschichte der deutschen Literatur den Büchermarkt. Der junge Wilhelm Hauff (geb. 1802) hatte, um sich gut zu verkaufen, seinen Roman „Der Mann im Mond oder der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“ als Werk des damaligen Bestseller-Autors Heinrich Clauren publiziert, damit sein Bogenhonorar verzwölffacht und seine Auflagenhöhe verzehnfacht (Fritzen-Wolf 1977, 40-44). Obwohl oder weil die Kritik das Werk als bislang größten Wurf des populären Schriftstellers pries, klagte Heinrich Clauren gegen den Verleger und brachte damit auch Wilhelm Hauff in eine zwielichtige Position. Dieser reagierte zur Verteidigung mit einem Angriff. Auf Einladung Julius Eduard Hitzigs hielt er am 11. Oktober 1826 vor der Berliner Mittwochsgesellschaft seine „Kontrovers-Predigt über H. Clauren und Den Mann im Monde“, in der er den untergeschobenen Text als Literatur-Satire ausgab und den Claurenschen Stil analysierend ad absurdum führte. Ausgeliefert wurde diese Schrift im November 1826 (Schöberl 1984, 175). Dieser „Criminalrechtsfall im Gebiet der schönen Literatur“ (Hitzig 1826), in dem es de jure um das Besitzrecht an einem Pseudonym bzw. Markenzeichen geht, endete mit einer Ordnungsstrafe für den Verleger (Schöberl 1984, 135; Niehaus 2002, 70-77). Hauffs ästhetische Invektiven hingegen Ulla Fix/ Ursula Regener 20 haben Claurens Ruf nachhaltig ruiniert. Vormals als Unterhaltungsschriftsteller geachtet, wurde er durch eine ganze Reihe weiterer satirischer Fälschungen (u.a. durch Karl Herloßsohn) und ähnlich kritischer Stellungnahmen in den Bereich des Trivialen abgedrängt. Hierzu beigetragen haben Platen und vor allem Heinrich Heine. In der heutigen Forschung wird Clauren namentlich allenfalls dann erwähnt, wenn es um Trivialisierungsprozesse geht (Wieczorek 1976; Fritzen-Wolf 1977; Schöberl 1984). 1825 war der 1771 als Sohn eines kursächsischen Justiz- und Domänenamtmanns in der Niederlausitz geborene promovierte Jurist Carl Gottlieb Samuel Heun (alias Heinrich Clauren) zwar auf der Höhe seines Ruhms, hatte aber viele Jahre unsicherer Anstellungen hinter sich. Im Anschluss an sein Studium in Berlin hatte er eine Stelle als Privatsekretär bei Minister von Heynitz angenommen und war 1792 Geheimsekretär in einer Abteilung des Generaldirektoriums des preußischen Staates geworden. Einige Zeit später war er als Assessor zum Bergwerk- und Hüttenamt versetzt worden, hatte 1799 in Leipzig Henriette Breitkopf geheiratet und 1800 den Titel eines Kommissionsrats erlangt. 1801 hatte er sich seiner Frau zuliebe als Verwalter auf das polnische Gut eines preußischen Adligen zurückgezogen, bis es 1803 aus finanziellen Gründen zum Zerwürfnis mit dem Besitzer Treskow kam. Die beiden anschließenden Jahre hatte er erfolglos versucht, seine Existenz als Mitarbeiter der Jenaer „Allgemeinen Literatur- Zeittung“ und als stiller Teilhaber eines Leipziger Buchhändlers zu sichern. 1805 war er von Treskow wieder als Verwalter eingesetzt worden, hatte aber, nachdem Treskow sich 1810 keinen Verwalter mehr leisten konnte, nach Berlin zurückkehren müssen. Zunächste hatte sich der mittlerweile 39- Jährige dort vergebens bemüht, im preußischen Staatsdienst unterzukommen, bis er Ende 1811 als Expedient in Hardenbergs Büro gelandet und Mitte des Jahres 1813 zum königlich preußischen Hofrat ernannt worden war. 1813/ 1814 war er Redakteur der Preußischen Feldzeitung, begleitete nach dem Pariser Frieden Hardenberg auf den Wiener Kongress, 1815 bis 1819 war er als preußischer Geschäftsträger in Sachsen tätig. 1820 wurde er zum Geheimen Hofrat ernannt und leitete als Ministerialdirektor bis 1823 die Redaktion der „Allgemeinen Preußischen Staatszeitung“. Nachdem 1822 seine Frau verstorben war, wechselte er 1824 ins Generalpostamt und übernahm damit die letzte Stellung seiner Beamtenkarriere (Beaton 1992, 124-125; Fritzen-Wolf 1997, 108-118; Schöberl 1984, 123). Trotz der beruflichen Anlaufschwierigkeiten: Clauren hatte es offensichtlich verstanden, durch sein schriftstellerisches Talent auf sich aufmerksam zu machen. Eine Studiumsanleitung für Abiturienten und vor allem sein in der Feldzeitung veröffentlichtes Befreiungskriegslied „Der König rief und alle kamen“ waren seine Eintrittsbilletts in den Staatsdienst und sicherten ihm dort vergleichsweise kreative Posten. Sein außergewöhnlicher Erfolg als Unterhaltungsschriftsteller gründete jedoch vor allem auf seinen beiden Erzählungen „Das Raubschloß“ (1812) und „Mimili“ (1815f.). Letztere er- Stilindizien 21 schien ab 1815 zunächst in der Zeitschrift „Der Freimüthige“ in Fortsetzungen, danach in verschiedenen Buchausgaben. Sein weiteres episches Werk veröffentlichte er ab 1818 zum großen Teil in den von ihm herausgegebenen Sammlungen „Erzählungen“ (6 Bde.), „Scherz und Ernst“ (40 Bde., Dresden 1818-1828) und seinem jährlich erscheinenden Taschenbuch „Vergißmeinnicht“ (Leipzig 1818-1834). Clauren, der sich seit 1817 auch als Lustspieldichter hervorgetan hatte, stellte nach dem letzten „Vergißmeinnicht“-Band seine Tätigkeit als Schriftsteller ein. 1831 hatte er in zweiter Ehe Friederike Sophie Hambrauer geheiratet, die ihm zwei Töchter gebar. 1854 starb Clauren in Berlin. Heinrich Heine, als 1797 Geborener fünf Jahre älter als Wilhelm Hauff, ging es wie diesem nicht zuletzt darum, sich auf dem rasch expandierenden literarischen Markt zu etablieren. Nach seinem beruflichen Fehlstart im Bankwesen hatte er wie Clauren Jura studiert und dieses Studium im Juli 1825 in Berlin mit einer Promotion abgeschlossen. Einen Monat zuvor war der gebürtige Jude, um seine beruflichen Chancen zu erhöhen, zum Protestantismus übergetreten und hatte sich dadurch einen anderen Namen erworben („Ich versichere Ihnen, es kommt auf dieser Welt viel darauf an, wie man heißt; der Name tut viel.“ (Heine 1830, 311). Dass seine Rechnung: „Der Taufzettel ist das Entréebillett zur europäischen Kultur.“ (Heine: Aphorismen, 375) nicht aufging, ist nicht zuletzt auf seine Kontroverse mit August Graf von Platen zurückzuführen. Platen hatte Heine die Veröffentlichung Immermannscher Epigramme als Anhang seiner „Reisebilder. Zweiter Teil“ (1827) verübelt, weil er den darin übermittelten Spott auf die Orientsucht in der Poesie auf sich bezog, und in „Der romantische Ödipus“ mit antisemitischen Beschimpfungen reagierte. Heinrich Heine hatte sich im Gegenzug in den „Bädern von Lucca“ im dritten Band der „Reisebilder“ (1830) unter dem Platen-Motto „Ich bin wie Weib dem Manne“ dessen Homosexualität thematisiert (Heine 1830, 273; vgl. auch 325-329). Anders als Hauff, dem die Clauren-Affäre nicht geschadet hatte, ist Heine aus der Platen-Kontroverse nicht als Sieger hervorgegangen. Für die Zeitgenossen war er zu weit gegangen, als er das Thema Homosexualität aufgegriffen hatte. U.a. bestätigte ihm die Auseinandersetzung, dass seine protestantische Taufe ihn weder vor Diskriminierungen zu schützen noch ihm zur erhofften juristischen Professur verhelfen konnte. Letztlich trugen die derart eingeschränkten Berufsaussichten in Deutschland 1831 zu seiner Auswanderung nach Paris bei. Platen seinerseits war bereits 1826 nach Italien ausgewandert. Da Belege für eine Begegnung oder persönliche Auseinandersetzung Heines und Claurens (etwa zwischen 1821 und 1824 in Berlin) fehlen - Heine bewegte sich als noch jüdischer Student in ganz anderen Zirkeln und Ulla Fix/ Ursula Regener 22 Salons als der arrivierte Clauren -, 1 kann August Graf von Platen als missing link und apropos für Heines Clauren-Kritik betrachtet werden. 1 Auch Heines Briefe aus dieser Zeit lassen nicht auf einen direkten Kontakt schließen. Die Grußadressen an Hauffs Proteger Julius Eduard Hitzig zeugen vor allem von Heines Bemühen, als Schriftsteller zu reüssieren: An Moses Moser am 11. Januar 1825: „Wenn Du mir das Wohlwollen Hitzig’s, den ich sehr schätze, erhalten kannst, so thu es. Grüße mir denselben, wenn Du ihn siehst.“ (Heine, Briefe Nr. 107). An Immermann am 24. Februar 1825: „Aergerlich war’s, daß ich die Hitzigsche Karte in meinen letzten Brief einzulegen vergaß, und - ich weiß nicht, wie es kommt - sie erst jetzt zu schicken. Wie ich höre, steht Hitzig an der Spitze vieler literarischer Umtriebe und hat einen Poetenverein in Berlin [Mittwochsgesellschaft] gestiftet. - Wenn ich gesund und frey werde, will ich gern theilnehmen an jedem literarischen Unternehmen, wozu Sie mich einladen. Indessen, es ist eine kritische Zeit für Zeitschriften.“ (Heine, Briefe Nr. 108). An Ludwig Robert am 4. März 1825: „Von Berlin höre ich gar nichts, außer dass Walter Scott dorthin kommen wird, um neue Naturschönheiten in sich aufzunehmen und Clauren persönlich kennen zu lernen.“ (Heine, Briefe Nr. 110). Karte an Julius Eduard Hitzig: „Ihren Rath, die Juristerey an den Nagel zu hängen, will ich in Ueberlegung ziehen. Doch werde ich vorher absolviren, um den Sommer ganz frey zu haben, für meine Lieblingsstudien und Gesundheit. In Berlin will ich zum Anfang des Winters eintreffen und dort viel poetisches und publizistisches zu Tage fördern. Grüßen Sie mir Fouqué, Chamisso und - - - -“ (Heine, Briefe Nr. 113). An Friederike Robert am 15. Mai 1825: „Mitte August werde ich wohl diese Stadt [Göttingen] verlassen, mich auf kurze Zeit nach Lüneburg und dann nach Berlin begeben. Dort bleibe ich lange und studiere Clauren.“ (Heine, Briefe Nr. 118). An Moses Moser am 22. Juli 1825: „Auch ein Exemplar [Promotionsthesen] schicke ich an den Criminalrath Hitzig, dessen lebhafte Teilnahme an meinen Schicksalen mich immer lebhaft erfreut. Grüße ihn auch.“ (Heine, Briefe Nr. 122). An Moses Moser am 8. September oder Oktober 1825: „Sey auch so gütig, den Criminal Rath Hitzig von mir zu grüßen. Sag ihm, daß ich mich in Norderney viel mit ihm beschäftigt, indem unter den wenigen Büchern, die ich dort fand ‚Hoffmann’s Biographie’ war, welche ich nochmals las. Ich lasse ihm danken für seinen fortwährenden Antheil, obschon er wenig von mir zu hören kriegt. Die Harz-Idylle könntest Du wohl Hitzig (aber andern Leuten nicht) mittheilen.“ (Heine, Briefe Nr. 132). Brief an Julius Eduard Hitzig am 22. Mai 1826: „Oft hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben, doch wartete ich eine günstige Gelegenheit ab, und jetzt, da sich diese darbot, fühle ich, daß Zeit und Neigung dazu fehlen. Ich danke Ihnen für die liebreichen Gefühle, die Sie für mich hegen, und obwohl ich mich dieser noch nicht verdient machte, hoffe ich doch, Ihnen zu beweisen, daß ich derer eines Tages würdig seyn werde. Ich sende Ihnen den ersten Band meiner Reisebilder, die ich jetzt nicht veröffentlicht hätte, wenn ich dazu durch pekuniäre Schwierigkeiten nicht gezwungen gewesen wäre, was häufig das Geschick von Poeten ist. Ich finde mich selbst gering geschätzt und in den Schatten gestellt und begegne nichts anderem als Schwierigkeiten, um mich auf dieser Erde zu ernähren. Ich kann diesen Brief nicht schließen, ohne Ihnen zu sagen, daß meine Gedanken bey Ihnen in den mißlichsten Augenblicken des Lebens weilten. Sicherlich hätte ich mich an Sie gewandt, hätte ich eine freundliche Intervention in Berlin gebraucht. Aber dem hauptsächlichsten Unglück meines Lebens kann nicht abgeholfen werden. Ich bin krank und empfindlich. Durch letzteres vertreibe ich meine Freunde oder jedenfalls verärgere ich sie.“ (Heine, Briefe Nr. 154). Stilindizien 23 Kurz vor und nach der Clauren-Affäre waren sich Platen und Heine noch relativ einig in ihrer Beurteilung des prominentesten Vertreters der Unterhaltungsliteratur. Sie schließen sich der von Jean Paul vertretenen Position an. So bemängelte Heine, der sich im August 1825 ausführlich mit Claurens Werken auseinandergesetzt (Heine, Briefe Nr. 118) und Claurens Karriere in einem unterdrückten Anhang des im Herbst 1825 entstandenen Gedichtes „Frieden“ als konfessionellen Opportunismus verhöhnt hatte, 2 in seinem ersten Erfolgsbuch, der „Harzreise“ (entst. 1824/ 25, gedr. 1825/ 1826), die Massenfabrikation, die Claurens Texten abzumerken ist: „Das Buch, das neben mir lag, war aber nicht der Koran. Unsinn enthielt es freilich genug. Es war das sogenannte Brockenbuch, worin alle Reisende, die den Berg erstiegen, ihre Namen schreiben und die meisten noch einige Gedanken und, in Ermangelung derselben, ihre Gefühle hinzunotieren. Viele drücken sich sogar in Versen aus. In diesem Buche sieht man, welche Greuel entstehen, wenn der große Philistertroß bei gebräuchlichen Gelegenheiten, wie hier auf dem Brocken, sich vorgenommen hat, poetisch zu werden. Der Palast des Prinzen von Pallagonia enthält keine so große Abgeschmacktheiten wie dieses Buch, wo besonders hervorglänzen die Herren Akziseeinnehmer mit ihren verschimmelten Hochgefühlen, die Kontorjünglinge mit ihren pathetischen Seelenergüssen, die altdeutschen Revolutionsdilettanten mit ihren Turngemeinplätzen, die Berliner Schullehrer mit ihren verunglückten Entzückungsphrasen usw. Herr Johannes Hagel will sich auch mal als Schriftsteller zeigen. Hier wird des Sonnenaufgangs majestätische Pracht beschrieben; dort wird geklagt über schlechtes Wetter, über getäuschte Erwartungen, über den Nebel, der alle Aussicht versperrt. ‚Benebelt heraufgekommen und benebelt hinuntergegangen! ’ ist ein stehender Witz, der hier von Hunderten nachgerissen wird. Das ganze Buch riecht nach Käse, Bier und Tabak; man glaubt, einen Roman von Clauren zu lesen.“ (Heine 1825, 73f.) 2 Dieser Anhang ist abgedruckt im Apparat zum „Buch der Lieder“ auf S. 1034 und wird in den Erläuterungen von Pierre Grappin auf Clauren bezogen: „Hättest du doch dies Traumbild ersonnen, Was gäbest du d'rum, Geliebtester! Der du in Kopf und Lenden so schwach, Und im Glauben so stark bist, Und die Dreyfaltigkeit ehrest in Einfalt, Und den Mops und das Kreuz und die Pfote Der hohen Gönnerin täglich küssest, Und dich hinaufgefrömmelt hast Zum Hofrath und dann zum Justizrath, Und endlich zum Rathe bey der Regierung, In der frommen Stadt, Wo der Sand und der Glauben blüht, Und der heiligen Spree geduldiges Wasser Die Seelen wäscht und den Thee verdünnt Hättest du doch dies Traumbild ersonnen, Geliebtester! Du trügest es, höheren Ortes, zu Markt, [...].“ Ulla Fix/ Ursula Regener 24 Ähnlich, aber bündiger mokierte Platen in der „Verhängnisvollen Gabel“ (1826): „Ja, in einer Stadt des Nordens,/ die so manches Uebels Quell,/ Gibt man Clauren’s Albernheiten und verbietet Schiller’s Tell! / Schreibe nur, o Freund, das beste, das gediegenste Gedicht,/ Biet’ es aber nie der Bühne, denn das Beste will sie nicht.“ (Platen 1826, 49) und fügte hinzu: „diese Nation saalbadert so gern [...] Drum nimmt sie allein Saalbader in Gunst, Saalbader in Schutz; drum liest sie nur dich, statt Goethe und statt Jean Paul, saalbadernder Clauren.“ (Platen 1826, 96). Doch wenig später geriet Clauren zwischen die Fronten, die Platen und Heine gegeneinander aufbauten. Platen hatte Anlass, Heines in die „Nordsee III“ integrierte Ausfälle gegen die Modeschriftsteller und auch Clauren auf sich zu beziehen. Lesen konnte er sie im Zweiten Teil der „Reisebilder“, der 1827 erschien: „Das Vermummen ist so recht ihr höchstes Ziel, das Nacktgöttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr hat immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht und darauf dringt, daß auch Apollo Hosen anziehe. Die Leute nennen ihn dann einen sittlichen Mann und wissen nicht, daß in dem Clauren-Lächeln eines vermummten Satyrs mehr Anstößiges liegt als in der ganzen Nacktheit eines Wolfgang Apollo und daß just in den Zeiten, wo die Menschheit jene Pluderhosen trug, wozu sechzig Ellen Zeug nötig waren, die Sitten nicht anständiger gewesen sind als jetzt. Aber werden es mir nicht die Damen übelnehmen, daß ich Hosen statt Beinkleider sage? Oh, über das Feingefühl der Damen! Am Ende werden nur Eunuchen für sie schreiben dürfen, und ihre Geistesdiener im Okzident werden so harmlos sein müssen wie ihre Leibdiener im Orient.“ (Heine 1827, 95f.) Die im gleichen Band publizierten „Ideen. Das Buch Le Grande“, ebenfalls 1826 entstanden, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Ganze Hekatomben von Narren werde ich einschlachten. Jener große Philoschnaps, der, wie einst Jupiter, in der Gestalt eines Ochsen um den Beifall Europas buhlt, liefert den Ochsenbraten; ein trauriger Trauerspieldichter, der auf den Brettern, die ein traurig persisches Reich bedeuteten, uns einen traurigen Alexander gezeigt hat, liefert meiner Tafel einen ganz vorzüglichen Schweinskopf, wie gewöhnlich sauersüß lächelnd, mit einer Zitronenscheibe im Maul und von der kunstverständigen Köchin mit Lorbeerblättern bedeckt; der Sänger der Korallenlippen, Schwanenhälse, hüpfenden Schneehügelchen, Dingelchen, Wädchen, Mimilichen, Küßchen und Assessorchen, nämlich H. Clauren oder, wie ihn auf der Friedrichstraße die frommen Bernhardinerinnen nennen, ‚Vater Clauren! unser Clauren! ’, dieser Echte liefert mir all jene Gerichte, die er in seinen jährlichen Taschenbordellchen mit der Phantasie einer näscherischen Küchenjungfer so jettlich zu beschreiben weiß, und er gibt uns noch ein ganz besonderes Extraschüsselchen mit einem Selleriegemüschen, ‚wonach einem das Herzchen vor Liebe puppert’; eine kluge, dürre Hofdame, wovon nur der Kopf genießbar ist, liefert uns ein analoges Gericht, nämlich Spargel; und es wird kein Mangel sein an Göttinger Wurst, Hamburger Rauchfleisch, pommerschen Gänsebrüsten, Ochsenzungen, gedämpftem Kalbshirn, Rindsmaul, Stockfisch und allerlei Sorten Gelee, Berliner Pfannkuchen, Wiener Torte, Konfitüren -“ (Heine 1827, 175f.) Stilindizien 25 Dass Platen sich 1828 in seinem „Romantischen Ödipus“ (just dem Buch, das die antisemitischen Angriffe auf Heine enthält) „über der Zeiten Bedingniß [...] und die jetzige Dichtkunst,/ Wo ein Clauren sogar Reichthum sich erschreibt, als wär’s ein gewaltiger Byron“ ausließ (Platen 1828, 115), kommentierte Heine dann ebenfalls mehr Platenals Clauren-kritisch in dem Buch, das mit Platens Homosexualität konfrontiert (s.o.), mit der Bemerkung, die „Fünfaktige Pasquille“ zeige Platen als einen, der „mit Ingrimm auf den Ruhm anderer [...] z.B. den Clauren“ blicke (Heine 1830, 338). Dass Clauren nolens volens zum „Opfer“ gleich zweier literarischer Affären, die die Mitte der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts prägten, geworden ist, besagt viel über den Zustand des literarischen Marktes, auf dem zur Selbstbehauptung aggressivere Strategien nötig werden. Als ästhetische Urteile sind die in diesem Zusammenhang geäußerten Bewertungen - das dürfte der diffamierende Kontext gezeigt haben - einer Überprüfung zu unterziehen (vgl. Kreuzer 1967, 185; Schöberl 1984, 172). Zuvor seien jedoch die in Hauffs „Kontroverspredigt“ gesammelten Trivialkriterien aufgeführt. Die Kennzeichen der mit der von Hauff so genannten „Mimili-Manier“ einhergehenden ästhetisch-moralischen Anspruchslosigkeit sind: das Arbeiten mit von in der Vergangenheit erfolgreichen literarischen Versatzstücken, ein weitgehender Verzicht auf Innovation, stattdessen das massenweise Reproduzieren absatzstarker „Storys“, - Dominanz emotionaler über intellektuelle Wirkmechanismen und schließlich eine gewisse Frivolität, die eine moralische Diskriminierung hervorruft. Spätestens seit Helmut Kreuzers Konstatierung der „Trivialliteratur als Forschungsproblem“ ist sich die Literaturwissenschaft der Unzulänglichkeit dieses Kataloges, der die jeweiligen historischen Bedingtheiten des Unterhaltungssektors völlig außer Acht lässt, bewusst (vgl. auch Schöberl 1984, 172). Dass sich zwischen hoher und trivialer Literatur in einem nicht unerheblichen Maße Gemeinsamkeiten feststellen lassen, ist die logische Konsequenz aus der Machart. Dabei repetiert nicht nur die triviale Schreibart gern gelesene Muster aus der hohen Literatur. Deren Satiren leben - wie „Der Mann im Mond“ - ebenso von der Adaption des so genannten Massengeschmacks. Die folgenden Stilvergleiche zwischen Texten von Clauren und Heine (mit Seitenblicken auf den Briefstil Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) und den Tagebuchstil des Universalgelehrten Gustav Theodor Fechner 3 (1801-1887) sollen zur epochenspezifischen Profilierung dieser Gemeinsamkeiten beitragen. 3 Leipziger Professor. Begründer der Psychophysik, Mathematiker, Satiriker, Lexikograph, Übersetzer. Ulla Fix/ Ursula Regener 26 2 Heine und Clauren unter stilvergleichendem Aspekt - das strittige Thema ‚Epochenstil’ 2.1 Epochenstil/ Zeitstil Das Wort ‚Epochenstil’ steht für eine problematische Kategorie. Ihr Gebrauch setzt voraus, dass es erstens abgrenzbare Perioden gibt, für die anerkannte Kriterien existieren, und dass sich zweitens typische Formmerkmale finden lassen, nach denen man z.B. einen Text, ein Bild oder ein Möbelstück einer Kunstrichtung (einer ‚Epoche’) zuordnen kann. Beginnt die Abgrenzung bei den Formmerkmalen, sprechen wir von ‚Epochenstil’ (Stil des Barock, der Gründerzeit etc.), orientiert sie sich, was auch der Fall sein kann, an zeitlichen Zäsuren, ist die Rede vom ‚Zeitstil’, z.B. dem des 17. Jahrhunderts. Folgt die Einteilung politischen Ereignissen (etwa einer politischen Periode wie der Restauration), nennt man die Etappe ebenfalls ‚Zeitstil’, obwohl die Kriterien über die eigentliche zeitliche Zäsur hinaus zeitgeschichtlicher Natur sind. 4 Beide Kategorien - Epochenwie Zeitstil - bergen Probleme. Zum ‚Epochenstil’: Die Tatsache, dass verschiedene Kunstrichtungen, also z.B. Klassik und Romantik, in einer Zeit nebeneinander existieren können, macht die Kategorie problematisch. Welcher der beiden Richtungen sind die Stilmerkmale zu entnehmen, die als bestimmend für den Stil der Zeit gelten sollen? Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts kämen einige Epochen in Frage - Klassik, Romantik, Vormärz/ Biedermeier/ Restauration -, deren Merkmale als Periodisierungshilfe angesehen werden könnten. Schwierig ist auch die Festlegung, wann eine Epoche einsetzt und wann genau sie endet. Wir kennen Frühphasen und Spätphasen, haben es also mit dem Phänomen der Übergänge zu tun. Um den Stil einer Epoche zutreffend erfassen zu können, müsste man genau genommen alle Texte der Epoche kennen und aus ihnen Schlüsse über ihren Stil gezogen haben. Man müsste die Individualstile und Werkstile sowie die Gattungsstile der Zeit erfasst haben und so z.B. die Frage beantworten können, wie der Individualstil Claurens beschaffen ist, was den Stil des Romans der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmacht und wie beschreibende Darstellungen in der Zeit des Biedermeier gewöhnlich aussehen. Daraus hätte man dann verallgemeinernde Schlüsse über den Stil der Zeit zu ziehen. Kann man solche Verallgemeinerungen mit gutem Gewissen treffen? Gibt es so etwas wie einen Zeitgeist (vgl. Lerchner 1995, 108)? Zur zweiten in Frage kommenden Kategorie: zum ‚Zeitstil’. Auch sie ist problematisch: Man sieht, dass zeitliche Zäsuren und politische Perioden nicht unbedingt zusammenfallen und dass sich diese - ohnehin schwierige - Periodisierung nicht mit Stilausprägungen decken muss. Als ein Beispiel mag die Auseinandersetzung darum stehen, wie man das 19. Jahrhundert 4 Ausführlich aus linguistischer Sicht zum Epochenstil Sowinski (1994, 1319ff.) und aus literaturwissenschaftlicher Sicht zum Epochenbegriff Titzmann (1997, 476ff.). Stilindizien 27 periodisch einteilt. Dazu sei Jakob (2000, 105) angeführt: „Sprachgebrauch der Historiker ist es, vom ‚langen 19. Jahrhundert’ zu sprechen, womit ausgesagt werden soll, dass sich die Grenzen jener Epoche sinnvollerweise weniger an den Jahreszahlen 1800 und 1900 orientieren sollten, als vielmehr eher an den epochalen Zäsuren 1789 und 1918.“ Nicht immer wird man über die Festlegung, welches denn die epochalen Zäsuren sind, Einigkeit erlangen. Und es liegt auf der Hand, dass das „lange 19. Jahrhundert“ durch verschiedene Stile geprägt ist. Der Streit darum, ob es Epochenstile gibt und wie man diese festlegen sollte, ist so wenig beendet wie der um die Frage, ob man mit der Kategorie Zeitstil besser zurecht käme. Diesen vielen Unsicherheiten steht aber offensichtlich auch eine Sicherheit gegenüber, nämlich unsere Erfahrung, dass es so etwas wie typische Stilmerkmale einer Zeit/ Epoche doch gibt. Anders könnten wir nicht erkennen, dass dieses Brillenetui, dieses Möbelstück, jenes Bild und schließlich auch ein vor uns liegender Text einer bestimmten Zeit/ Epoche, z.B. der Biedermeierzeit, entstammen. Man braucht die Kategorie des Zeit- oder Epochenstils oder jedenfalls das Denken in diesen Bahnen doch, weil dies zumindest den Versuch herausfordert, Formtypisches einer Zeit/ Epoche, das man unbewusst wohl wahrnimmt, auf die Ebene der Bewusstheit zu heben. Wie sonst hätte Friedrich Sengle (1971; 1972; 1980) in seiner dreibändigen Arbeit über die Biedermeierzeit fast 300 stichhaltige Seiten über DIE Sprache des Biedermeier schreiben können? 5 Wie sonst könnte man eine Ausstellung veranstalten zum Thema „Biedermeiers Glück und Ende“ (München 1987) (vgl. Ottomeyer 1987)? Und warum sonst gilt das Interesse von literarischen Übersetzern auch den Epochen- oder Zeitstilen? 6 Literarische Übersetzer meinen, Stilmerkmale bestimmter Epochen kennen zu müssen, damit sie eine adäquate Übersetzung des Ausgangstextes herstellen können. Eines Textes, der ja notwendigerweise immer in einer konkreten Zeit entstanden ist und daher deren Züge trägt bzw. der z.B. als historischer Roman das Kolorit einer bestimmten Zeit haben soll. Das heißt, Übersetzer müssen in der Lage sein, etwas für die Zeit/ Epoche ihres Ausgangstextes Typisches zu erkennen und es in der Zielsprache angemessen wiederzugeben. Ihr Ausgangspunkt ist also, dass es sprachliche Mittel gibt, die wir - wenn sie uns in einem Text begegnen - sofort als Signale für eine Zeit lesen. Das ist ja auch tatsächlich der Fall: sei es, dass sie nur ganz allgemein die Assoziation von ‚alt’‚ von ‚Vergangenheit’ hervorrufen, sei es, dass sie differenziertere Vorstellungen wecken, z.B. von Barock, Biedermeierzeit, Naturalismus. Natürlich ist klar, dass dies auch mit dem Wissenshorizont 5 Das Senglesche Unternehmen ist nicht unumstritten. Seine Feststellungen zum Stil der Biedermeierzeit lassen sich aber an Texten verschiedener Genres der Zeit sehr wohl verifizieren. 6 So auf der Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin am 23. Februar 2006 zum Thema Historische Stilistik und Epochenstile. Ulla Fix/ Ursula Regener 28 des Lesers zu tun hat. Von dem Umfang dieses Horizontes hängt ab, inwieweit sprachliche Merkmale einen Zeitbezug eröffnen können. Bleiben wir beim Begriff ‚Biedermeierzeit’. In ihm bündeln sich eine ganze Reihe von Richtungen der - unter politischem Aspekt so genannten - Restaurationsperiode: das konservative Biedermeier im engeren Sinne, das liberale Junge Deutschland, der Vormärz, die Junghegelianer, klassizistische Bemühungen und die Romantiktradition. Dennoch finden wir in dem Werk von Sengle das erwähnte große Kapitel über die Sprache des Biedermeier. Sein Grundgedanke ist, dass ein gemeinsamer Sprachstil der Biedermeierzeit durchaus angesetzt werden kann, weil gemeinsame Bedingungen die literarische Diktion mehr prägen, als es Richtungen und individuelle Intentionen tun. Es „geht nicht um die Autonomie des Sprachkünstlers, sondern um die Bedingungen, denen er, er mag so genial sein, wie er will, gerade auch nach den Vorstellungen des Biedermeier unterworfen ist.“ (Sengle 1971, 368) Sengle bezieht sich dabei auf die Vorgaben, die die Gattungen mitbringen. Dem sprachstilistischen Muster der Gattungen zu folgen und es nicht etwa zu brechen galt damals noch als eine Selbstverständlichkeit. „Im Zeitalter eines neuen Rechts- und Staatsdenkens, gleichgültig ob es revolutionär oder restaurativ orientiert war, konnte der individuelle Stil nicht mit dem absoluten Anspruch und dem Selbstbewusstsein auftreten, wie dies in früheren und späteren Zeiträumen der Fall gewesen ist.“ (Sengle 1971, 369) Unter Gattungen werden von Sengle die geläufigen verstanden: z.B. Novelle, Roman, Märchen, aber auch die Ausprägungen, die man Darstellungsarten nennen könnte, nämlich z.B. der Stil der Beschreibung, der Schilderung und der Satire. 7 Der hier verfolgte Ansatz ist, dass sich in diesen Darstellungsarten zeittypische Stilmittel finden, die quer zu den Gattungen und unabhängig von der Individualität des Autors auftreten und so zum Epochenstil beitragen können. Im Roman von Clauren, in der Reisebeschreibung von Heine, in der Tagebuchnotiz von Fechner und im Brief vom Mendelssohn Bartholdy findet man übereinstimmende Mittel des Beschreibens und Schilderns, die die Texte deutlich als Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts, ja wahrscheinlich als solche der Biedermeierzeit, markieren. Zu diesem Zweck soll ein genauerer Vergleich zwischen zwei Texten 8 vorgenommen werden: H. Claurens Roman „Leidenschaft und Liebe“ und Heines „Harzreise“, fast zur gleichen Zeit veröffentlicht, beide sehr erfolgreich, von der Gattung her aber sehr unterschiedlich. Clauren schreibt einen für die Zeit typischen trivialen Liebesroman, Heine schreibt seine erste Reisebeschreibung. Gemeinsam ist beiden Texten, dass sie Naturschilderungen enthalten. Ergänzt werden sie durch ein Stück Naturschilderung aus einem zeitgenössischen Tagebuch, 7 Hier kann Gattung oder Darstellungsart gemeint sein, hier aber Letzteres. 8 Den Hinweis auf die beiden Texte gab Ruth Geier. Stilindizien 29 dem von Gustav Theodor Fechner, als auch durch eine Naturschilderung aus einem Familienbrief Felix Mendelssohn Bartholdys. 2.2 Biedermeier - eine problematische Benennung? Die Auseinandersetzung um den Namen für diese Epoche ist wichtig für die Deutung ihrer Merkmale, auch ihrer sprachlich-stilistischen Eigentümlichkeiten. Für den Zeitabschnitt zwischen dem Wiener Kongress 1814/ 15 und der Revolution von 1848 gibt es die Namen ‚Restauration’, ‚Vormärz’ und ‚Biedermeier’. Mit ‚Restauration’, auch ‚Ära Metternich’ genannt, ist die Epoche der Wiederherstellung der europäischen Monarchien und Fürstentümer nach der Französischen Revolution gemeint. Die Bezeichnung ‚Vormärz’ akzentuiert den politischen Kampf der Bürger um die Verwirklichung der demokratischen Rechte und um die nationale Einheit Deutschlands, die in der gescheiterten Revolution von 1830 und in der zunächst gelungenen von 1848 gipfelte. ‚Biedermeier’ bezeichnet für viele „aus der Sicht der beginnenden Gründerzeit um 1855 jene ‚vormärzsündflutlichen Zeiten, wo Teutschland noch im Schatten kühler Sauerkrauttöpfe gemütlich aß, trank, dichtete und verdaute, und das uebrige Gott und dem Bundestage anheim stellte.’ Dieses Bild war verbunden mit dem verlorenen Paradies einer bürgerlichen Beschaulichkeit, die sich nach innen kehrte und in gefühlvollem Dilettantismus und politischer Bonhomie erging.“ (Ottomeyer 1987, 269). 9 Die Kritik, die an allen drei Benennungen und deren inhaltlicher Bestimmung geübt werden kann, ist bekannt. Exemplarisch sei Glaser zitiert, wobei der Hinweis auf die „Nicht-Gemütlichkeit“ des Biedermeier wichtig ist: „Wir sprechen vom Vormärz, als ob die Zeit keinen eigenen Wert besitze und nur auf die kommenden umstürzenden Ereignisse bezogen sei. Wir sprechen vom Zeitalter der Restauration, als ob nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft in der Tat die alten Verhältnisse wieder hergestellt worden seien und als ob es in den folgenden 30 Jahren um nichts anderes gegangen sei, (sic! ) als um deren Befestigung. Wir sprechen von den Jahrzehnten des Biedermeier, als ob Häuslichkeit und stilles Glück nach 25 kriegsbewegten Jahren die dominanten sozialen Leitbilder gewesen seien. […] In Wirklichkeit ist auch in Deutschland im Gefolge der Französischen Revolution und durch das Eingreifen Napoleons ein politischer Umbruch erfolgt, der nicht rückgängig zu machen war.“ (Glaser 1987, 9) Stichworte zu diesem politischen Umbruch sind u.a.: Ende des Alten Reiches, Aufhebung der Reichskirche, Neuorganisation des Staatsapparates, Monarchie und Nationalbewegung, Privatkapitalismus und Industrialisie- 9 Die im Zitat zitierte Stelle wird von Ottomeyer nicht nachgewiesen. Das Zitat stammt von dem Arzt und Schriftsteller Adolf Kußmaul und Ludwig Eichrodt, die der Epoche durch die Erfindung der Figur Gottlieb Biedermaiers den Namen gaben. Die gemeinsamen Werke wurden zwischen 1855 und 1857 in der Zeitschrift „Fliegende Blätter“ veröffentlicht. Ulla Fix/ Ursula Regener 30 rung, Landflucht und Proletarisierung. In diesem Sinne versteht Sengle (1971, VII) seine drei umfangreichen Bände zum Thema Biedermeierzeit als einen Versuch, „das Zeitalter der Metternichschen Restauration (1815-48) in sich selbst, als eine relativ selbständige Größe, nicht nur als Übergangs- oder Epigonenzeit zu begreifen […]“. Er charakterisiert diese Zeit als: „vordemokratische, wirtschaftlich höchst bescheidene und im wesentlichen vortechnische Epoche […] eine äußerlich wenig glorreiche Nachkriegszeit“ (ebd., IX), die aber nicht so einsträngig und abwertend gesehen werden dürfe, wie es oft geschehe. Sengle wählt den möglicherweise irreführenden Namen ‚Biedermeier’, weil er glaubt, damit die Vielfalt der Richtungen besser als mit ‚Restauration’ oder ‚Vormärz’ fassen zu können. Den Namen Biedermeier begründet er folgendermaßen: „Der für meine Epochendarstellung gewählte schlichte Obertitel Biedermeierzeit meint alle Richtungen der Restaurationsperiode. Ich kenne außer dem konservativen Biedermeier und dem liberalistischen Jungen Deutschland noch eine ganze Reihe anderer Richtungen oder Traditionen (vgl. I. Band, 3. Kapitel). Ich entspreche konsequent der früher von mir begründeten Einsicht in die (höchstens formal zu begrenzende) Einsicht von der Verschiedenheit des Gleichzeitigen.“ 10 (Sengle 1971, X) Die Charakterisierung des Biedermeier, die Sengle 11 vorstellt und die darauf hinausläuft, dass es keine Programmatik, wohl aber doch einen Zusammenhang gegeben hat, ermutigt dazu, diesem Gemeinsamen nachzugehen. 2.3 „Harzreise“ und „Leidenschaft und Liebe“ - ironische Reisebeschreibung und Liebesroman Die beiden Texte sollen kurz charakterisiert und die Gattungen sollen eingeordnet werden. Die „Harzreise“ ist - stark entstellt durch die preußische Zensur - 1826 im ersten Band der „Reisebilder“ erschienen und erregte bei Erscheinen bereits große Aufmerksamkeit, die sich sowohl als Zustimmung als auch als Ablehnung äußerte. Der Text beschreibt eine Fußreise, die Heine im September und Oktober 1824 von Göttingen aus, wo er studiert hatte und wegen eines Duells relegiert worden war, durch den Harz führte. Stationen waren u.a. Osterode, Clausthal, Goslar, der Brocken und das Ilsetal. 10 Z.B. in Bd. I, 3. Kap.: Jungdeutsche, Vormärz, Junghegelianer, Romantiktradition, klassizistische Tradition. 11 „Die Schwierigkeit des Biedermeierbegriffs liegt also zunächst darin, daß das Biedermeier keine programmatische Bewegung mit bestimmten Kampfschriften und programmatischen Zeitschriften ist, aus denen man zitieren und nachweisen kann, was die Gruppe wollte. Das Biedermeier teilt diesen Mangel mit dem Barock und dem Rokoko. […] Seine (des Biedermeier U.F.) Autoren arbeiten naiver als programmatische Autoren; aber umso schwerer ist es auch zu sagen, was die Dichter jenseits ihrer Individualität - diese muß immer vorausgesetzt werden! - gemeinsam haben und was sie zu einer wie immer lockeren Richtung zusammenschließt.“ (Sengle 1971, 123f.). Stilindizien 31 Die Naturschilderungen in der „Harzreise“ werden von den Kritikern - so Leistner (1990) - unterschiedlich bewertet, teils als romantische Beseelung der Natur, teils als absichtsvoll trivialisierender Umgang mit ihr, aber auch als Ausmalen einer Kulisse, als gesellschaftlich manipuliertes und korrumpiertes Landschaftserlebnis mit Tröstungs- und Betäubungsfunktion. Leistner (1990, 65f.) selbst entwirft ein anderes Bild: Aus seiner Sicht bildet die Naturschilderung ein Kabinett von anregenden Bildern, die die Fantasie in Bewegung bringen. Leistner resümiert, die Natur habe für Heine jegliche Autorität verloren. Das assoziationsreiche Ich springe willkürlich mit ihr um und nehme sie als Anlass für Imaginationen und Kompensationen. „Der an der Gesellschaft ‚Erkrankte’ braucht sie [die Natur U.F.] als Material für seine Kompensationsträume. Dabei sollte deren emotionale Wahrhaftigkeit ganz außer aller Frage stehen. Weil sie freilich dem urteilenden Intellekt des Ichs als nachgerade rührend naiv erscheinen müssen, macht der dieser emotionalen Einfalt gegenüber unausgesetzt sein Wissen geltend; und er sorgt für ironische Brechung. Ein Ausdruck dessen findet sich in der stilistischen Tendenz zur Verniedlichung sowie zu einer puppigen Anthropomorphisierung, die das poetisch Naive des Projektionsverfahrens deutlich hervorkehrt. Im übrigen macht sich solche Ironie in den Stereotypen bemerkbar, zu denen die Schilderungssprache demonstrativ hinneigt: „ … silberne Wasser brausten, süße Waldvögel zwitscherten, die Heerdenglöckchen läuteten, die mannigfaltig grünen Bäume wurden von der lieben Sonne golden angestrahlt (HSA 5 21).“ (Leistner 1990, 68) So kann die Natur mit dem Dichter verglichen und das Flüsschen Ilse als Märchenprinzessin - und dies alles in ironischer Brechung - dargestellt werden. 12 Die „Harzreise“ lässt sich den poetischen Reisebeschreibungen zuordnen, d.h. unter den drei Arten von Reisebeschreibungen, die wir aus heutiger Sicht unterscheiden: Handbuch, wissenschaftliche Beschreibung und künstlerisch ausgeformte, deutende und wertende Darstellung kommt die letzte als Einordnungsinstanz infrage - ein bereits im Biedermeier als Darstellung von Erlebnisstoff und Ausgangspunkt für Reflexionen sowie für Politisierung genutztes Genre von offener Art, episodisch und stimmungshaft. Man kann in poetischen Reisebeschreibungen sowohl epische Elemente (Handlung, Figuren, Szenen) als auch lyrische Elemente (emotionale Auseinandersetzung mit der Landschaft, Gefühlsbetontheit) und publizistischerörternde Elemente (aktivierendes, erlebnisbetontes Informieren) finden. Sengle (1972, 239) hebt hervor, dass die „Reisebeschreibung als Mittel der 12 „Als Mangelerfahrung, die der Phantasie die Richtung weist, läßt sich somit die erlebte Lieblosigkeit (Ablehnung Heines durch seine Umwelt U.F.) erfassen; was an die Natur herangetragen wird, ist ein Wünschen, das seinen Grund in den Konflikten gesellschaftlicher Existenz hat; und der die Bäume und Blumen, Blätter und Kräutlein ‚benutzende’ und verwandelnde Wachtraum ist klar als poetischer Reflex des Verlangens nach schöner, im Zeichen des Eros stehender Gemeinschaftlichkeit identifizierbar. So wird dem Wanderer, der sein Elend auch in der Waldeinsamkeit nicht vergessen kann, die Natur in der Tat zur puren Prospektenkammer.“ (Leistner 1990, 67f.). Ulla Fix/ Ursula Regener 32 immer größer werdenden Welterfahrung des Menschen“ genutzt wird. Als ein Spezialfall gilt die humoristisch-satirische Reisebeschreibung, wie wir sie bei Heine finden, der die Naturbeschreibung in den Bereich der Ironie und der Gesellschaftssatire verschiebt (ebd., 259), so z.B. beim Vergleich des Brockens mit den Deutschen: „Der Brocken ist ein Deutscher“. Claurens Roman „Leidenschaft und Liebe“ ist 1821 in „Vergissmeinnicht. Ein Taschenbuch für 1821“ erschienen. Er ist eine der Kontrastgeschichten, die in die zeitgenössische Diskussion um Liebe, Ehe, Treue, Untreue, Besitz eingeordnet werden können. Es geht um Gefühlssituationen wie Liebe auf den ersten Blick und rasende Eifersucht, Situationen, die aber in ein für jeden der Beteiligten glückliches Ende münden. Romane werden in dieser Zeit in einer wahren Erzählwie Lesewut produziert und rezipiert. Für die Gattung Liebesroman, die wir hier vor uns haben, kann das Biedermeier als Pionierzeit gelten (Sengle 1972, 804). Er ist gekennzeichnet durch die Darstellung von Idyllen, durch Detailwiedergabe (Häußler 1997), empfindsame Naturschilderungen, religiöse Bezüge (Lerchner 1990), Genrebilder und, vor allem bei Clauren, durch erotische, im damaligen Verständnis sehr freizügige Darstellungen. Clauren als beliebter Autor der Biedermeier-Zeit befriedigte die verdrängte Sinnlichkeit, in dem er die Mittel der Rokoko-Erotik wieder aufgriff und in reichem Maße verwendete. Sprachlich ist Claurens Text charakterisiert durch seinen trivial anmutenden, in Übertreibungen schwelgenden Stil (vgl. 2.4). Die allgemein für Clauren geltenden Stilmerkmale lassen sich unter den Stichworten ‚das Sinnlich-Konkrete’ und ‚das Hyperbolische’ zusammenfassen, beides „unterhaltungsliteratursprachliche Elemente“ (Grohnert 1993, 336), die auf die Simulation von Vertraulichkeit zwischen Autor, Text und Leser ausgerichtet sind. „Der […] unterhaltungsliterarisch-triviale Charakter der Clauren-Erzählung wird vor allem von seiner sprachlichen Gestalt mitgeformt. Im Sinne Claurenscher, fast programmatisch zu nennender Stilkonsequenz funktionieren ihre Elemente dadurch, daß der Leserkontakt zum Text vorzugsweise im Bereich des Sinnlich- Konkreten, d. h. durch die Orientierung des Lesers auf das Äußere, die Erscheinungsoberfläche der Dinge aufgebaut wird. Lesen wird hierbei zur vom Text suggestiv provozierten Reproduktion von Bildvorstellungen.“ (Grohnert 1993, 335f.) „Gemeint ist der häufige Gebrauch von Hypertrophien und Hyperbolismen. Sie haben vor allem die Aufgabe, dem Text den Anschein von Literatursprachlichkeit zu geben, stehen aber durchaus auch im Kontext der Sprachgebung der Zeit und ebenfalls der zeitgenössischen, z.B. der romantischen deutschen Literatur oder auch einer Literatur, die sich, wie Goethes West-Östlicher Divan, auf die Produktivität eines sprachlichen ‚Orientalismus’ beruft. Einige Beispiele: Der Held spricht von der ‚Azurbläue dieses unvergesslichen Blickes’, vom ‚Füllhorn des Überflusses’, von der ‚Bleilast der höchsten Befangenheit’, von der ‚Götterrose der Zuneigung’, der ‚verschlossenen Knospe des Wohlwollens’. Er kennt in seinem Verhältnis zu Justine die ‚Höllenmarter der Eifersucht’, in ihrem Blick das ‚süße Stilindizien 33 Unterpfand ihres lautlosen Geständnisses, in dem, was sie sagt, den ‚Zauberlaut ihrer Silberstimme’.“ (ebd., 336) 2.4 Vergleichende Analyse Typisch für die Zeit des Biedermeier sind ausgedehnte Landschaftsschilderungen. Deshalb werden Textbeispiele herausgegriffen, die solche Schilderungen enthalten und zudem thematisch ähnlich angelegt sind. In beiden Fällen handelt es sich um Naturbeschreibungen, bei Clauren (vgl. Textanhang 4.1) um die eines herabfließenden Baches, bei Heine (vgl. Textanhang 4.2) um die des sich ins Tal hinunterstürzenden Flusses Ilse. Die beschreibenden Textstellen aus Fechners Tagebuch und Mendelssohn Bartholdys Brief stelle ich zum Vergleich kommentarlos daneben. Sengle (1972, 1008ff.) (vgl. Textanhang 4.3 und 4.4) widmet der beschreibenden Darstellung, wie sie für Texte der Biedermeierzeit üblich war, besondere Aufmerksamkeit: Der in jener Zeit herrschende Hunger nach konkreter Welterfahrung führe, so Sengle, zu beschreibender Poesie, zum Empirismus. Beschreibungen finden sich in viele Gattungen eingebettet. Sie folgen in der Regel dem Prinzip der Kleinteiligkeit (ebd., 1002ff.), das sich nach Sengle in folgenden Merkmalen äußert: Zersplitterung in viele einzelne Formelemente (Rokokotradition), umständliches Schildern und Ausmalen, Mannigfaltigkeit der Mittel, komische, groteske Tupfen, Episodenreichtum. Außerdem führt „die ungewöhnliche sprachliche Beweglichkeit der Biedermeierzeit […] in der Syntax, auch abgesehen von der Wortstellung, zu allerlei Unregelmäßigkeiten, zumal da die Antike Rhetorik diese Verstöße gegen die Logik bereits als Stilmittel erkannt und anerkannt hatte.“ (Sengle 1971, 583). Satzinversion, Anakoluth, Aposiopese, Ellipse und Partizipien sind geläufige Mittel. „Man mag darin die Tendenz sehen, den Periodenstil gedrängter zu machen.“ (ebd., 578). 2.4.1 H. Clauren, „Leidenschaft und Liebe“ Der Text zeigt als Intentionen, die sich aus der Gattung Liebesroman ergeben, die folgenden: 1. Wecken schöner Vorstellungen, 2. Hervorrufen von Anteilnahme, 3. Ausdruck erotischer Doppeldeutigkeit und Anzüglichkeit. Die Stilprinzipien, die verfolgt werden, sind: Mannigfaltigkeit - Kumulation, emotionsauslösende Mittel - Diminutiva, Anschaulichkeit herstellende Mittel, erotische Assoziationen auslösende Mittel - Periphrasen, Kontraste, Mittel der Komik, Zersplitterung der Syntax. 2.4.1.1 Mannigfaltigkeit und Kumulation Mannigfaltigkeit des Ausdrucks als Erbe des Rokoko wird angestrebt und durch Kumulation verdichtet. Sie wird erreicht durch das Anhäufen sinnverwandter Ausdrücke (variierende Wiederholung bei inhaltlicher Nähe): 3/ 4 13 13 Bezieht sich auf die Zeilenzählung im Textanhang. Ulla Fix/ Ursula Regener 34 seine Öde, seine Einsamkeit, seine Langeweile; 6 das kräftige frische Grün; 9 öde, einsam, langweilig; 7/ 8 überall war Leben und Treiben und Wirken und Schaffen; 11/ 12 Wie friedlich und wie traulich! - Wie still und wie heimlich! ; 15 schattig und kühl; 38/ 40 in dieser Freundlichkeit, in dieser traulichen Hingebung, in diesem zauberischen Lächeln. Mannigfaltigkeit und Kumulation werden auch erreicht durch Epitheta ornantia, die sehr zahlreich vertreten sind. Oft sind sie Stereotype, inhaltsleer und erwartbar, und dienen als Füllsel, Schmuck oder Intensivierung: 6/ 7 das kräftige frische Grün der Bäume und das duftende Strauchwerk; 16 hoher Mittag; 17 grün bemooste Steine; 18 geschwätziges Gemurmel; 19 köstliche Gruppe; 23 die kühnen Mädchen; 23/ 24 dem allmächtigen Elemente; 31/ 32 entsetzlicher Schreck; 34 süße Verwirrung; 35 liebliche Züge; 43 reizendes Mädchen usw. Weiter wird Kumulation erreicht durch inhaltliche Häufung (Zahlenhyperbeln, Auxesis = Vergrößerung/ Meiosis = Verkleinerung, Superlative): 4 tausend und abertausend Vögel; 5/ 6 Millionen Bienen umsummten Millionen Blumen; 13 Riesenbäume; 14/ 15 eines einundzwanzig Millionen Meilen langen Sonnenstrahls; 26 tausend schönfarbige Wasserblumen; 31/ 32 entsetzlicher Schreck; 64 fast die ärmste Waise; 64 Herrin meiner schönen Grafschaft; 69/ 70 Bleilast der höchsten Befangenheit. 2.4.1.2 Emotionsauslösende Mittel (Diminutiva: Kleines weckt immer Zuneigung und Mitleid) 10 Plätzchen; 30/ 31 Händchen; 49 holdes Kind; 60/ 61 kleine Gefangene; 62/ 63 das liebenswürdige Kind; 67 ihr kleiner Purpurmund; 68 Köpfchen. 2.4.1.3 Anschaulichkeit herstellende Mittel Umschreibungen/ Periphrasen (teils mit Metaphern): 13/ 14 das dunkele Schattendach dieser Riesenbäume hier (t.c.: bedecken: Wipfel); 26/ 27 dem von tausend schönfarbigen Wasserblumen umdufteten Ruhebette der schilfbekränzten Nymphen (Rasenstück); 37/ 38 selige Hieroglyphen der keuschen Unschuld (Körpersprache); 40 die noch verschlossene Knospe des Wohlwollens (t.c. sich öffnen - beginnende Zuneigung); 41 Götterrose der Zuneigung, der Liebe (Symbol); 50 Sonne meines Lebens; 53 die verstockte Glut meiner geheimsten Empfindungen; 58/ 59 dieses süße Unterpfand ihres lautlosen Geständnisses; 69/ 70 Bleilast der höchsten Befangenheit. 2.4.1.4 Erotische Assoziationen auslösende Mittel (spezifische Anschaulichkeit) 26/ 27 Ruhebett der schilfbekränzten Nymphen; 37/ 38 keusche Unschuld; 40 die noch verschlossene Knospe; 41 (Götter)Rose; 53 verstockte Glut meiner geheimsten Empfindungen; 70 Schwanenbrust. Stilindizien 35 2.4.1.5 Kontraste - Auf und Ab des Schicksals 3/ 4 sonst - heute; 49/ 50 Nebel der Zukunft - Sonne meines Lebens; 63/ 64 Jetzt noch fast die ärmste Waise - in wenigen Augenblicken die Herrin meiner schönen Grafschaft. 2.4.1.6 Komik Kommt in den untersuchten Ausschnitten nicht vor. Andere Beispiele aus dem Roman: „Wenige Minuten darauf kam meine Freundin Kunigunde heraufgeschrien und heulte, dass sie der Bock stieß.“ (Clauren 1982, 256) „Mein bunter, kleiner Kompagnon (Papagei U.F.) watschelte verdrießlich wie ich auf seiner Stange hin und her und schimpfte sein ganzes Register durch: Schurke, Coqin, Niemezyk …“ (Clauren 1982, 259f.) 2.4.1.7 Zersplitterung der Syntax Satz 1: Prolepse (Vorwegnahme): Der Park, darin …; Anakoluth (Satzabbruch): Der Park … aber es war Satz 2: Anakoluth, Ellipse, Parenthese Satz 3/ 4/ 5: Ellipsen, Ausrufe Satz 6: elliptisch, Parenthese - Konstruktion nicht völlig klar Satz 7/ 8: komplexe Satzkonstruktionen Fülle von Partizipien: 16 plätschernd; 17 bemoost; 22 entgegengestemmte Massen; 26 umduftet; 40 verschlossene Knospe; 53 verstockte Glut. 2.4.2 Heinrich Heine, „Harzreise“ Der Text hat als Ziele, die sich aus der Gattung ‚poetische Reisebeschreibung’ ergeben, die folgenden: 1. das Vorstellen von Handlungen, Figuren und Szenen - episches Element, 2. die direkte emotionale Auseinandersetzung mit der Landschaft - lyrisches Element und 3. das erlebnisbetonte Informieren - publizistisch erörterndes Element. Ich gehe nur auf den lyrischen, landschaftsbezogenen Teil ein. Die Stilprinzipien sind hier genauso wie im Text von Clauren Mannigfaltigkeit - Kumulation, emotionsauslösende Mittel - Diminutiva, Anschaulichkeit herstellende Mittel, erotische Assoziationen auslösende Mittel (hier Personifizierung), Kontraste, Komik, Syntax. Überfliegt man die unten aufgelisteten Mittel, so kann man keine Unterschiede zu Claurens Text feststellen. 2.4.2.1 Mannigfaltigkeit und Kumulation Die Anhäufung sinnverwandter Ausdrücke (variierende Wiederholung bei inhaltlicher Nähe) dient der Anschaulichkeit und zugleich durch die Häufung der ironischen Brechung (vgl. 4.3.): 30/ 31 Gestein und Gestrippe; 40/ 41 in un- Ulla Fix/ Ursula Regener 36 zähligen Wasserfällen und in wunderlichen Windungen; 42/ 43 Das ist nun die Ilse, die liebliche, süße Ilse; 51/ 52 mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut; 58 lachend und blühend; 59/ 60 Wie blinkt … wie flattern; 61 funkeln und blitzen. Epitheta ornantia: 23 ergötzlichste Tonarten; 24 lustige Antwort; 25 zwitschernde Waldvögel, rauschende Tannen; 26 plätschernde Quellen; 26/ 27 schallendes Echo, frohe Jugend, schöne Natur; 42 liebliche, süße Ilse; 58 munteres Mädchen; 59/ 60 weißes Schaumgewand; 60 silberne Busenbänder; 62 ernsten Väter; 63 lieblichen Kindes; 63 weiße Birken usw. Inhaltliche Häufung: 18 festlichste Strahlen; 23 ergötzlichsten Tonarten; 40 unzähligen Wasserfällen; 51 unbeschreibbar; 54 wild emporzischen, schäumend überläuft; 55 wie aus tollen Gießkannen. 2.4.2.2 Emotionsauslösende Mittel - Diminutiva 32 kleine Welle; 37 Quellen hüpften; 40 Bächlein; 42 liebliche, süße Ilse; 63 liebliches Kind; 67 Vögelein; 69 Schwesterchen. 2.4.2.3 Anschaulichkeit herstellende Mittel Periphrasen sind hier nicht vorhanden. Anders als bei Clauren wird Anschaulichkeit durch Personifikation hergestellt: 23-27: Waldvöglein, Tannen, Quellen, Echo - alle antworten den Burschen; 51-74: Personifikation der Ilse als Prinzessin: Fröhlichkeit, Naivität und Anmut (51, 52), hintrippelt wie ein munteres Mädchen (57), Prinzessin, lachend, weißes Schaumgewand, silbernes Busenband, Diamanten (58-61); 61-69: Wald als Familie = Gleichnis: Buchen - ernste Väter, liebliches Kind, tantenhafte Birken, verdrießlicher Oheim, Schwesterchen. 2.4.2.4 Erotische Assoziationen auslösende Mittel 70-79: Die inhaltliche Kumulation wirkt, als solle sie einen geistigen Orgasmus assoziieren: „und plötzlich ergreift sie den träumenden Dichter, und es strömt auf mich herab ein Blumenregen von klingenden Strahlen und strahlenden Klängen (Antimatabole - Kreuzstellung mit syntaktischer Veränderung), und die Sinne vergehen mir vor lauter Herrlichkeit, und ich höre nur noch die flötensüße Stimme: Ich bin die Prinzessin Ilse, und wohne im Ilsenstein; Komm mit nach meinem Schlosse, wir wollen selig sein …“ 2.4.2.5 Kontraste 35/ 36 Zagende - Mut; 54-57 schäumen, zischen, sich ergießen - trippeln Stilindizien 37 2.4.2.6 Komik Der gesamte Text bietet einen Blick auf die Natur sowohl als reale als auch als imaginierte Welt. In der realen Welt finden sich Sachinformationen und Komik. Die imaginierte Welt, der poetische Teil des Textes, lebt von gefühlvoller und durch die Häufung auch ironisierender Darstellung. 2.4.2.7 Syntax Kurze Sätze und komplexe Perioden: 9 Das ging Hals über Kopf; Hallesche Studenten marschieren schneller als die östreichische Landwehr; 18-27 Periode. 2.5 Resümee Wenn man so viele übereinstimmende Stilistika in beschreibenden Texten so verschiedener Autoren wie Clauren und Heine, Fechner und Mendelssohn Bartholdy und in so unterschiedlichen Gattungen wie Roman, Reisebeschreibung, Tagebuch und Familienbrief findet, 14 kann man diese Formmerkmale wohl für zeittypische Mittel des Beschreibens und Schilderns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts halten. Die Vorstellung von Formmerkmalen, die einer bestimmten Zeit/ Epoche eigen sind, ist damit bekräftigt. Der Witz und die Ironie bei Heine, die sich allerdings deutlicher noch in den epischen, hier nicht behandelten Passagen zeigen, widersprechen dem nicht. Alles, was bei der Analyse ermittelt werden konnte, bestätigt Senglesche Darstellung des Beschreibens im Biedermeier, von der Kleinteiligkeit über die Mannigfaltigkeit bis hin zum Komischen und Grotesken. 3 Bibliographie 3.1 Quellen Clauren, Heinrich (1817): Lustspiele. 2 Bde. Dresden. Clauren, Heinrich (1818-1820): Erzählungen. 6 Bde. Dresden. Clauren, Heinrich (1827-1829): Schriften. 80 Bde. Stuttgart. Clauren, Heinrich (1851): Gesammelte Schriften. 25 Bde. Leipzig. Clauren, Heinrich (d.i. Carl Gottlieb Samuel Heun) (1821): „Leidenschaft und Liebe“. In: Clauren, Heinrich [Hrsg.]: Vergissmeinnicht, ein Taschenbuch für 1821. Leipzig, bei Friedrich August Leo, 401-473. Verwendete Textvorlage: Plaul, Hainer [Hrsg.] (1982): „Leidenschaft und Liebe“. Trivialprosa des 18. und 19. Jahrhunderts. Rostock, 221-272. 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In: Germanica Wratislaviensia 27, 109-116. 4 Textanhang 4.1 Textanhang: Leidenschaft und Liebe 5 10 15 20 Der Park - tagtäglich war ich seit meinem Hiersein darin gewesen, aber es war, als hätte er heute ein ganz anderes Gesicht. Sonst hatten mich seine Öde, seine Einsamkeit, seine Langeweile erdrückt; heute tausend und aber tausend Vögel flogen und zwitscherten darin herum, Millionen Bienen umsummten Millionen Blumen; und das kräftige frische Grün der Bäume und das duftende Strauchwerk - überall war Leben und Treiben und Wirken und Schaffen - und ich hatte es hier - ich begriff mich nicht - ich hatte es hier öde, einsam, langweilig finden können? Und nun erst das Plätzchen hier am Wasserfall! - Wie friedlich und wie traulich! - Wie still und wie heimlich! - Die Sonne war schon hoch herauf, aber das dunkele Schattendach dieser Riesenbäume hier - wohl blitzte hie und da einmal das Endchen eines einundzwanzig Millionen Meilen langen Sonnenstrahls durch, aber schattig und kühl war es darum immer, selbst am hohen Mittag. Plätschernd ergoß sich der kristallklare Bach über grün bemooste Steine, von Stufe zu Stufe in geschwätzigem Gemurmel hinab; zwei Najaden am Ufer, eine köstliche Gruppe von Balthasar Permoser, türmten schäkernd mehrere kleine Felsstücke zusammen, um das Wasser zu dämmen, dieses aber ließ sich nicht stauen, sondern überstieg die entgegengestemmten Massen und fiel um so höher und drohte, die kühnen Mädchen zu netzen, die es wagten, dem allmächtigen Elemente Gesetzte vorschreiben zu wollen. Oben, Stilindizien 41 25 weiter hinauf, unfern der höchsten Stufe der Kaskade, auf dem von tausend schönfarbigen Wasserblumen umdufteten Ruhebette der schilfbekränzten Nymphen saß Justine und nähte und war in ihrer Arbeit so vertieft, daß sie mich nicht eher hörte, als bis ich dicht vor ihr stand. 30 Sie fuhr mit einem kleinen Schrei auf, legte das Händchen auf die Brust und klagte lächelnd über den entsetzlichen Schreck, den sie gehabt. 35 40 Ich zog sie mit den tiefen Gedanken auf, in die sie verloren gewesen sein müsse; und in der süßen Verwirrung, die jeder ihrer lieblichen Züge verriet, las ich mein Entzücken; denn in ihrem ganzen Wesen lag - ich bin wahrhaftig nicht eitel, aber wer in den seligen Hieroglyphen der keuschen Unschuld nur irgend zu buchstabieren vermochte - konnte in dieser Freundlichkeit, in dieser traulichen Hingebung, in diesem zauberischen Lächeln die noch verschlossene Knospe des Wohlwollens finden, aus welcher die Götterrose der Zuneigung, der Liebe, sich sichtlich entfalten müßte. 45 Ich saß neben dem reizenden Mädchen; ich schlang meinen Arm um ihre Hüfte und koste mit ihr, denn der geschwätzige Bach tat, als ob er laut zu reden allein hier das Recht habe. Ja, jetzt wußte ich, was mir gefehlt hatte. 50 In diesem Augenblick, auf diesem lauschigen Plätzchen, an der Seite dieses holden Kindes - alle Nebel der Zukunft fielen, und ich sah die Sonne meines Lebens in ihrem zärtlichen Liebesblick vor mir aufgehen. 55 60 65 Ich rückte ihr noch näher, ich sprach, Gott weiß, wovon; aber die verstockte Glut meiner geheimsten Empfindungen mußte aus manchem meiner Worte herausgeblitzt haben, denn sie schien immer verlegener zu werden. Ihre Nähterei, bei der ich sie beschäftigt fand, hatte sie schon lange im Schoße liegen, ohne daran zu arbeiten, ihre Hand ruhte in der meinen. Einige Male zuckte sie, um mir dieses süße Unterpfand ihres lautlosen Geständnisses, daß ich ihr nicht gleichgültig sei, unvermerkt zu entziehen; allein, ich hielt die kleine Gefangene fest, und das leise Zittern derselben bebte mir durch alle Nerven. Mit stillem Entzücken betrachtete ich das liebenswürdige Kind; jetzt noch fast die ärmste Waise im Lande und in wenigen Augenblicken die Herrin meiner schönen Grafschaft, die ich eben im Begriff war, ihr mit meinem Herzen zu Füßen zu legen. Unser, oder eigentlich mein Gespräch, denn ihren kleinen Purpurmund hatte die Schüchternheit fast gänzlich verschlossen; sie hatte das Köpfchen gesenkt, ihre Wangen glühten, der Blick war auf die Erde geheftet, und die Bleilast der höchsten Befangenheit preßte ihr die Schwanenbrust sichtbar zusammen […]. (Clauren 1982, 241f.) Ulla Fix/ Ursula Regener 42 4.2 Textanhang: Die Harzreise 5 10 Nun machten auch die Studenten Anstalt zum Abreisen, die Ranzen wurden geschnürt, die Rechnungen, die über alle Erwartung billig ausfielen, berichtigt; die empfänglichen Hausmädchen, auf deren Gesichtern die Spuren glücklicher Liebe, brachten, wie gebräuchlich ist, die Brockensträußchen, halfen solche auf die Mützen befestigen, wurden dafür mit einigen Küssen oder Groschen honoriert, und so stiegen wir alle den Berg hinab, indem die einen, wobei der Schweizer und Greifswalder, den Weg nach Schierke einschlugen und die andern, ungefähr zwanzig Mann, wobei auch meine Landsleute und ich, angeführt von einem Wegweiser, durch die sogenannten Schneelöcher hinabzogen nach Ilsenburg. 15 20 25 Das ging über Hals und Kopf. Hallesche Studenten marschieren schneller als die östreichische Landwehr. Ehe ich mich dessen versah, war die kahle Partie des Berges mit den darauf zerstreuten Steingruppen schon hinter uns, und wir kamen durch einen Tannenwald, wie ich ihn den Tag vorher gesehen. Die Sonne goß schon ihre festlichsten Strahlen herab und beleuchtete die humoristisch buntgekleideten Burschen, die so munter durch das Dickicht drangen, hier verschwanden, dort wieder zum Vorschein kamen, bei Sumpfstellen über die quergelegten Baumstämme liefen, bei abschüssigen Tiefen an den rankenden Wurzeln kletterten, in den ergötzlichsten Tonarten emporjohlten und ebenso lustige Antwort zurückerhielten von den zwitschernden Waldvögeln, von den rauschenden Tannen, von den unsichtbar plätschernden Quellen und von dem schallenden Echo. Wenn frohe Jugend und schöne Natur zusammenkommen, so freuen sie sich wechselseitig. 30 35 40 45 Je tiefer wir hinabstiegen, desto lieblicher rauschte das unterirdische Gewässer, nur hier und da, unter Gestein und Gestrippe, blinkte es hervor und schien heimlich zu lauschen, ob es ans Licht treten dürfe, und endlich kam eine kleine Welle entschlossen hervorgesprungen. Nun zeigt sich die gewöhnliche Erscheinung: ein Kühner macht den Anfang, und der große Troß der Zagenden wird plötzlich, zu seinem eigenen Erstaunen, von Mut ergriffen und eilt, sich mit jenem ersten zu vereinigen. Eine Menge anderer Quellen hüpften jetzt hastig aus ihrem Versteck, verbanden sich mit der zuerst hervorgesprungenen, und bald bildeten sie zusammen ein schon bedeutendes Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und in wunderlichen Windungen das Bergtal hinabrauscht. Das ist nun die Ilse, die liebliche, süße Ilse. Sie zieht sich durch das gesegnete Ilsetal, an dessen beiden Seiten sich die Berge allmählich höher erheben, und diese sind, bis zu ihrem Fuße, meistens mit Buchen, Eichen und gewöhnlichem Blattgesträuche bewachsen, nicht mehr mit Tannen und anderm Nadelholz. Denn jene Blätterholzart wird vorherrschend auf dem »Unterharze«, wie man die Ostseite des Brockens nennt, im Gegen- Stilindizien 43 50 satz zur Westseite desselben, die der »Oberharz« heißt und wirklich viel höher ist und also auch viel geeigneter zum Gedeihen der Nadelhölzer. 55 60 65 70 75 Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivetät und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild emporzischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. Ja, die Sage ist wahr, die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinabläuft. Wie blinkt im Sonnenschein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im Winde ihre silbernen Busenbänder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen stehen dabei gleich ernsten Vätern, die verstohlen lächelnd dem Mutwillen des lieblichen Kindes zusehen; die weißen Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt und doch zugleich ängstlich über die gewagten Sprünge; der stolze Eichbaum schaut drein wie ein verdrießlicher Oheim, der das schöne Wetter bezahlen soll; die Vögelein in den Lüften jubeln ihren Beifall, die Blumen am Ufer flüstern zärtlich: »Oh, nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schwesterchen! « - aber das lustige Mädchen springt unaufhaltsam weiter, und plötzlich ergreift sie den träumenden Dichter, und es strömt auf mich herab ein Blumenregen von klingenden Strahlen und strahlenden Klängen, und die Sinne vergehen mir vor lauter Herrlichkeit, und ich höre nur noch die flötensüße Stimme: »Ich bin die Prinzessin Ilse, Und wohne im Ilsenstein; Komm mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein. 80 […]« (Heine 1972, 76-77) Ulla Fix/ Ursula Regener 44 4.3 Textanhang: Fechner - Tagebuch I, 14. Oktober 1844 Ich stand heute bald nach 6 Uhr auf, um zu schreiben, fand es aber zu finster dazu und gieng daher in den Garten. Es war ein schöner Herbstmorgen, voll Heiterkeit, Stille und Frische. Der Morgenhimmel wölbte sich weit und blau über HÄRTELS Haus, und war ganz mit rothen Schäfchen bedeckt; auch schien das Morgenroth durch das noch kräftige Grün der großen canadischen Pappel am Hause herrlich hindurch; der Rauch der Dampfesse, als brauner Streifen vor den Morgenwolken vorbeiziehend und der Rauch des nachbarlichen Brauhauses, mehr gerade aufsteigend, hoben durch ihre dunkle Färbung und ihre Bewegung die Helle und Stille des Himmels nur noch mehr. Ein Kätzchen guckte über die Weinplanke des Gartens, eine Krähe schwang sich von einer Pappel ins Weite und zog mit schwerem Fluge dahin; eine Schar Staare aber flatterte eilig ins ferne Blau hinein. Der Garten aber sah schon halb verwüstet aus; die welken Blumen hatten schon die Oberhand über die blühenden, ich sah lieber in den Himmel hinein als auf die Erde. (Fechner 2004, 291) 4.4 Brief vom 22. November 1830 an Fanny Hensel und Rebecka Mendelssohn Bartholdy Neulich waren wir junges Volk in Albano; fuhren des Morgens früh bei heiterstem Wetter weg, unter der großen Wasserleitung, die sich scharf dunkelbraun vom klaren Himmel abschnitt, ging der Weg durch bis nach Frascati, von da nach einem Kloster grotta ferrata, wo es schöne Wände von Domenichino giebt, dann nach Marino, das ehr malerisch auf einem Hügel liegt, über den der Weg führt, unten ist ein Brunnen, wo die Mädchen klatschten und wuschen […] im Wäldchen von Albino tanzten Emil und ich immer fort, und so kamen wir nach Castell Gandolfo am See, alle die Gegenden sind, wie mein erster Eindruck in Italien, keineswegs schlagend oder so auffallend schön, wie man sie sich denkt, auch weiter nicht sehr out of the way, aber so wohlthuend, und befriedigend, alle Linien so sanft malerisch, und ein so vollkommenes Ganze, mit Staffage und Beleuchtung, und allem. Hier muß ich meinen Mönchen eine Lobrede halten; die machen immer gleich ein Bild fertig, und geben dem Ganzen Stimmung und Farbe mit ihren mannichfaltigen Kleidern und dem andächtigen stillen Gang und der dunklen Miene.“ (Mendelssohn Bartholdy 1830) Jörg Riecke Übersetzen aus dem älteren Neuhochdeutschen? Zum Problem der (Un-)Verständlichkeit auch der klassischen Literatur 1 Zur Einleitung Die deutsche Sprachwissenschaft steht im Dialog mit vielen anderen Disziplinen der wissenschaftlichen Welt. Dass ihre Stimme Gewicht hat, wird nicht zuletzt durch das Œvre Albrecht Greules nachdrücklich erwiesen. Wenn es um die Bezüge zwischen germanistischer Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft geht, so handelt es sich dabei eigentlich weniger um die Aufforderung zu einem Dialog, sondern vielmehr darum, bei aller Polyphonie der sprach- und literaturwissenschaftlichen Stimmen, letztlich doch mit einer Stimme zu sprechen: Beide Zweige der Germanistik stammen aus ein und derselben Wurzel und sind erst spät, durch die Anforderung an das „Massenfach“ Deutsch, zu organisatorisch und mehr und mehr auch zu inhaltlich und methodisch getrennten Bereichen geworden. Während man bei einem deutschen Indologen oder Keltologen noch heute meist stillschweigend voraussetzt, dass Sprache und Literatur gleichermaßen vertreten werden, ist dies in der Inlandsgermanistik nicht mehr vorstellbar. Allenfalls in der Auslandsgermanistik wird die Einheit des Faches „Germanistik“ hier und da noch erhalten geblieben sein. Es steht nun ganz außer Frage, dass die Trennung der germanistischen Zweige in allen Bereichen zu einem hohen Maß an Spezialisierung und damit zu einem Zuwachs an Wissen geführt hat. Das Fach hat damit zugleich aber auch seine geistige Mitte verloren. Diese Mitte sollte in etwa dort liegen, wo sich die sprachliche und ästhetische Erfassung und Erschließung der Welt vollzieht. Sie vollzieht sich, vereinfacht gesagt, in Texten. Damit ist ein Raum eröffnet, in dem sich die Zusammenarbeit von Sprach- und Literaturwissenschaftlern nicht nur anbietet, sondern geradezu aufdrängt, ohne dass sich der eine Zweig in der Rolle einer Hilfswissenschaft des anderen wiederfinden muss. Dies ist ganz besonders dann der Fall, wenn in einer historischen Disziplin, wie den Sprach- und Literaturwissenschaften, fortwährend sichergestellt werden muss, dass das Verständnis älterer Texte, und damit älterer Versuche der Erschließung der Welt, nicht verloren geht. Dies steht außer Frage, wenn es sich um das Zugänglich-Machen von Texten der mittelalterlichen Literatur handelt. Welche Impulse zur Wiederentdeckung sprach- und literaturwissenschaftlicher Kooperation hier gesetzt werden können, beschreibt Edith Feistner in diesem Band. Das Problem der Verständlichkeit älterer Texte ist jedoch inzwi- Jörg Riecke 46 schen längst nicht mehr auf den Bereich der mittelalterlichen Literatur beschränkt. Auch die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts - vom Barock und der frühen Neuzeit gar nicht zu reden - steht inzwischen in Verdacht, für weite Teile auch der interessierten Bevölkerung nicht mehr ohne weiteres verständlich zu sein. Der Buchmarkt reagiert darauf mit Übersetzungsangeboten der klassischen deutschen Literatur. Wie kann, wie soll die Germanistik reagieren? 2 Vom Umgang mit der Verständlichkeit Während der Bereich der innerdeutschen literarischen Übersetzung bisher auf die Ausgangssprachen Alt- und Mittelhochdeutsch beschränkt war, bietet der Cornelsen-Verlag seit einiger Zeit in der Reihe „einfach klassisch“ auch Übersetzungen von Werken der neueren deutschen Literatur an. 1 Dies ist heftig kritisiert worden, 2 reagiert aber offensichtlich auf ein Bedürfnis zahlreicher - vor allem in der Schule meist nicht ganz freiwilliger - Leserinnen und Leser solcher Textausgaben. Bisher liegen 15 Übersetzungen vor: „Die Judenbuche“, „Unterm Birnbaum“, „Götz von Berlichingen“, „Die schwarze Spinne“, „Das Fräulein von Scuderi“, „Kleider machen Leute“, „Michael Kohlhaas“, „Der zerbrochene Krug“, „Nathan der Weise“, „Kabale und Liebe“, „Die Räuber“, „Wilhelm Tell“, „Romeo und Julia“ („auf Grund der Ausgabe von 1599 übersetzt und für die Schule bearbeitet“), „Pole Poppenspäler“ und „Der Schimmelreiter“. Die Auswahl der Texte orientiert sich nicht in erster Linie an ihrem jeweiligen Schwierigkeitsgrad, sondern an den Lehrplänen der Schule. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Texte heute vor allem Schülern - und in der Folge möglicherweise auch Studenten - nicht mehr ohne weiteres verständlich sind. Die Sprachkompetenz für das ältere Neuhochdeutsch nimmt mehr und mehr ab, je weiter wir uns von diesem Sprachstadium entfernen. So wie zwischen dem Übergang vom Sprachstadium „Mittelhochdeutsch“ zum Sprachstadium „Frühneuhochdeutsch“ der Ausbruch der Pest und zwischen dem Frühneuhochdeutschen und dem älteren Neuhochdeutschen der Dreißigjährige Krieg liegt, so liegt zwischen den Texten des älteren Neuhochdeutschen und der Gegenwartssprache der Zweite Weltkrieg, der einen tiefen Einschnitt in die Kontinuität des sprachlichen Wandels markiert. Die hier genannten Ereignisse und ihre demographischen Folgen lösen Sprachwandel nicht unmittelbar aus, aber die jeweils möglichen Neuerungen setzen sich im Windschatten derart massiver gesellschaftlicher Umbrüche weitaus schneller und gründlicher durch als in friedlichen Zeiten. Für viele junge, etwa erst nach den späten 60er und 70er Jahren sprachlich sozialisierte Menschen ist die 1 Vgl. die Internetpräsentation der Reihe unter www.cornelsen.de/ teachweb (Zugriff am 03.11.2006). 2 Vgl. Mühlenhort (2003) sowie zahlreiche Besprechungen in den Feuilletons, z.B. in D IE Z EIT (2004, Nr. 31). Übersetzen aus dem älteren Neuhochdeutschen? 47 Sprache der Klassik heute in der Regel schon Lichtjahre vom eigenen Sprachgebrauch entfernt. Es stellt sich also die Aufgabe, wie dieser Zielgruppe der Zugang zur Literatur des älteren Neuhochdeutschen erleichtert, wenn nicht gar überhaupt erst ermöglicht werden kann. Deutlich hat als erster meines Wissens Fritz Tschirch auf die Probleme hingewiesen, die heute bei der Lektüre von (literarischen) Texten des 19. und 20. Jahrhunderts bestehen (Tschirch 1960). Dabei sind es nicht allein untergegangene oder veraltete Lexeme, die heutigen Lesern Schwierigkeiten machen, denn sie sind als mögliche Ursachen von Missverständnissen vergleichsweise leicht zu identifizieren. Größere Probleme machen Lexeme, deren Ausdrucksseite weitgehend unverändert geblieben ist, deren Inhaltsseite sich aber - unsichtbar - erheblich gewandelt hat. Am Beispiel von Goethes Novelle „Ferdinand“ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ zeigt Tschirch, wie leicht sich Fehlinterpretationen einschleichen, bevor überhaupt an eine literaturwissenschaftlich fundierte Textinterpretation gedacht werden kann. Besonders Adjektive wie gleichgültig, sonderbar oder umständlich werden bald 200 Jahre nach ihrer Niederschrift zu „Falschen Freunden“ des Übersetzers. Tschirch beschreibt den Bedeutungswandel in jedem einzelnen Fall, er kann darüber hinaus aber auch eine Tendenz des Wandels formulieren: „Verhältnismäßig selten haben die Beispielwörter eine einfache, rein sachliche Verschiebung in Umfang und Abgrenzung ihres Inhaltsfeldes erfahren (…). Bemerkenswert häufiger ist die anschaulich-sinnliche Vorstellung, die ein Wort noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts vermittelt, im Verlauf dieses einen Jahrhunderts rasch und ohne Spur ihrer ursprünglichen Farbigkeit verblasste; mit Eintritt des 20. Jahrhunderts wird es nur noch in methaphorischer Übertragung oder reiner Abstraktion gebraucht.“ (Tschirch 1960, 21). Das hat im einen oder anderen Fall auch Konsequenzen für die Beurteilung des Bedeutungswandels seit mittelhochdeutscher Zeit, denn viele entscheidende Übergänge in der Lexik vollziehen sich dann erst vergleichsweise spät, nicht irgendwo im Raum zwischen dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Die Sprachwissenschaft reagiert - im günstigsten Fall, denn bei nicht ganz unwichtigen Autoren wie Martin Luther oder Paracelsus hat sie es bisher nicht in angemessener Form getan - auf die Verständnisprobleme mit der Schaffung von Wörterbüchern. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm kann diese Aufgabe allein nicht mehr übernehmen. Die Beschreibungssprache ist mehrheitlich selbst Teil des älteren Neuhochdeutschen. Zudem ist es in der Erfassung und Verarbeitung der Belege in seiner mehr als hundertjährigen Entstehungsgeschichte nicht homogen genug und auch allein schon wegen seines Umfangs für die wenigsten Leser problemlos zu beschaffen und zu benutzen. Es entstehen daher dankenswerterweise ein Goethe-Wörterbuch und ein Schiller-Wörterbuch, die aber selbst schon wieder zu umfangreich bzw. zu kostspielig für die Lektüre am eigenen Schreibtisch sind. Abhilfe wird hier das von Ulrich Knoop herausgegebene „Klassiker-Wörterbuch“ bringen, das in einem Band den zentralen Wortschatz der Jörg Riecke 48 klassischen deutschen Literatur enthalten soll. 3 Die Sprachgermanistik macht damit erstmals ein Angebot an die - frei- und unfreiwilligen - Leserinnen und Leser dieser Texte, das auch abseits von Universitätsbibliotheken und -seminaren zu einem wirklichen sprachlichen Verständnis von literarischen Texten des älteren Neuhochdeutschen führen kann. Die Literaturwissenschaft reagiert seit jeher mit der Bereitstellung von kommentierten Textausgaben, die von der „historisch-kritischen Ausgabe“ bis zur kommentierten Leseausgabe den je unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden soll. Bezogen auf die hier anvisierten Leserkreise geraten vor allem die kommentierten Leseausgaben für den Schulgebrauch in den Blick. Für Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ kommentieren beispielsweise die gängigen Schulausgaben am Textbeginn die Ausdrücke Habitus für Kleidung und Dessert für Nachspeise. Ob der Text für ungeübte Leser damit insgesamt ausreichend verständlich ist, bleibt aber offen. Dies um so mehr, da man diesen Lesern offensichtlich schon nicht mehr zutraut, über das nötige Weltwissen zur Identifizierung eines Desserts zu verfügen. Eine kleine Befragung unter Schülern führt aber zu dem Ergebnis, dass die Kommentierung wohl vor allem darauf reagiert, dass ein nicht ganz geringer Teil der heutigen Schüler das Wort auf Anhieb nicht französisch, sondern wie engl. desert aussprechen möchte. Dann wird das Verständnis allerdings ohne Kommentar und Weltwissen ausbleiben. Wenn wir auf der Seite der Sprachgermanistik Wörterbücher wie das „Klassiker-Wörterbuch“ und auf der Seite der Literaturgermanistik die vielen kommentierten Textausgaben - mit all ihren Stärken und Schwächen im Einzelnen - in die Waagschale werfen können, dann ist in etwa eine Situation erreicht, die für das „klassische Mittelhochdeutsche“ seit dem Erscheinen von Matthias Lexers „Mittelhochdeutschem Handwörterbuch“ und den ersten Textausgaben schon selbstverständlich ist. Es wird sich aber vermutlich auch für das ältere Neuhochdeutsche zeigen, dass es nicht der Wortschatz und die Probleme des Bedeutungswandels alleine sind, die das Verständnis erschweren. Für einen vorklassischen Text des 17. Jahrhunderts konnte dies bereits sehr deutlich nachgewiesen werden. Besondere Probleme machen hier syntaktischen Strukturen, die von heutigen Lesern oft nur noch schwer nachvollzogen werden können. 4 Mit Arbeiten zur Syntax, Morphologie und Lexik des 18. und 19. Jahrhunderts kann die Sprachgermanistik Hilfsmittel zur Konservierung, ja zur Wiederbelebung der klassischen deutschen Literatur bereitstellen, ganz so, wie sie dies für die älteren Sprachstufen zumindest grosso modo bereits geleistet hat. Die Kenntnisse und die Erkenntnisziele der Sprach- und Literaturwissenschaft werden aber erst dann vollends ineinander greifen, wenn auch für diese Texte zweisprachige Studienausgaben entstehen, in denen der 3 Klassiker-Wörterbuch. Der literarische Wortschatz des 18. Jahrhunderts. Erscheint 2008. Vgl. auch Brückner/ Knoop (2003). 4 Vgl. bes. die Beiträge von Schuster und Hünecke in Riecke (2004). Übersetzen aus dem älteren Neuhochdeutschen? 49 Originaltext und die Übertragung in die Sprache der Gegenwart nebeneinander stehen. Hier ergibt sich, auch wenn dieser Gedanke für alle diejenigen, die mit der klassischen deutschen Literatursprache aufgewachsen sind, zunächst noch befremdlich erscheinen mag, ein wirkliches Arbeitsgebiet gleichermaßen für Sprach- und Literaturwissenschaftler, in dem Textkompetenz und Sprachkompetenz zusammenwirken können. Es ist gewiss besser, diese Aufgabe Experten zu überlassen, anstatt die Schulen mit halbfertigen Zufallsprodukten zu beliefern, wie es jetzt zunehmend der Fall ist. Einige Beispiele aus der bisher den Markt dominierenden Übersetzungsreihe „einfach klassisch“ möchte ich nun abschließend noch kurz vorstellen. 3 Verständlichkeit und „einfach klassisch“ Die Übersetzungen aus der Reihe „einfach klassisch“ sind vor allem eine Fundgrube für Sprachwissenschaftler, denn jede Veränderung des Originaltextes markiert ein Phänomen des Sprachwandels. Es scheint aber insgesamt doch so zu sein, dass der eigentlich gut gemeinte Versuch - der von der traurigen Realität an den meisten deutschen Schulen ausgeht - bisher nicht zu wirklich überzeugenden Ergebnissen geführt hat. Die Texte sind durch die Übersetzung in die Sprache der Gegenwart nun für heutige Leser verständlicher, aber der Anspruch, sich besser, genauer, schöner auszudrücken als in der Alltagssprache, geht völlig verloren. Die Ausgaben unterstützen das sprachliche Hauptübel, das zur Zeit in Deutschland um sich greift: Den fast völligen Verlust von sprachlich-stilistischer Variation. Dass die Übersetzungsversuche unbefriedigend ausfallen, liegt ein Stück weit an der Methode der Bearbeitung: Der Herausgeber, ein Deutschlehrer, lässt die klassischen Texte von zwei Schülern der 12. Gymnasialstufe laut vorlesen. Wo die Schüler stecken bleiben, wo sie folglich Verständnisprobleme haben, wird eingegriffen. Das kann in folgenden Bereichen geschehen: • Orthographie, denn die Bearbeitung geht vom jeweiligen Urtext aus und folgt der neuen Rechtschreibung. • Syntax, denn Hypotaxen werden soweit irgend möglich in parataktische Strukturen aufgelöst. • Morphologie, denn Genitivkonstruktionen werden konsequent durch Präpositionalphrasen ersetzt, z.B. „… falls er ihm zur Verhaftung von Mergel verhelfen wollte“ statt „… falls er ihm zur Verhaftung des Mergel verhelfen wollte“ (Judenbuche). Besonders deutlich wird im Textvergleich, wie sehr sich auch der Gebrauch der Präpositionen selbst seit dem älteren Neuhochdeutschen gewandelt hat. Als Beispiel genügt hier: „… die Reiter sind mir auf den Fersen“ statt „… die Reiter sind mir an den Fersen“ (Götz von Berlichingen). Weitere Beispiele aus diesem Text, etwa der Übergang von im zu am in einem vergleichsweise berühmten Zitat kann ich mir an dieser Stelle vielleicht Jörg Riecke 50 sparen. Konsequent eliminiert ist darüber hinaus das Dativ -e, auch wenn dies nicht eigentlich verständnishemmend sein dürfte. Viele Beispiele für die Veränderung der Strukturen des Ursprungstextes ließen sich besonders auch aus „Nathan der Weise“ gewinnen, doch ist dieser Text so stark umgearbeitet, dass sich kaum noch Sätze exakt miteinander vergleichen lassen. Die Umarbeitungen und insbesondere zahlreiche Kürzungen betreffen erstaunlicherweise nicht nur sprachliche Aspekte. Gekürzt werden auch „Textteile, die für das Verständnis des Dramas nicht wesentlich sind und auf die deshalb verzichtet werden kann“ (Wilhelm Tell). Wer auch immer das beurteilen kann, im „Götz von Berlichingen“, wo im Klappentext nur allgemein von „Kürzungen“ die Rede ist, werden konsequent gerade die Passagen gestrichen, in denen physische Gewalt zwischen den „Reutern“ dargestellt wird. Hier fließen offenbar bestimmte pädagogische Absichten in die Übersetzung ein. Die größten Eingriffe erfährt jedoch erwartungsgemäß die Lexik. Ersetzt werden das Kleinod durch das Kostbarste, nachgelassen durch vererbt (Schimmelreiter), des Bischofs rechte Hand durch der wichtigste Minister, kroch zu Kreuze durch unterwarf sich (Götz), den Wald hauen durch abholzen, junger Aufschlag durch nachwachsendes Gehölz (Judenbuche). Aus der Handel ward geschlossen wird hier ein eher geschäftsmäßiges das Geschäft wurde abgeschlossen. Aus Goller wird Halsausschitt, aus bindet ihn wird fesselt ihn (Wilhelm Tell). Im Schimmelreiter heißt es nicht mehr: Die tote Katze mußte ihm doch im Kopfe Wirrsal machen, sondern: Die tote Katze mußte ihn doch beunruhigen. Sprachliche Feinheiten gehen fast durchgängig verloren, im folgenden Beispiel der Zusammenhang von vertragen und Vertrag: Bei Goethe heißt es über Berlichingens Händel mit dem Bischof von Bamberg: Metzler: Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet. Sievers: Ja, vertrag du mit den Pfaffen. Dagegen in „einfach klassisch“: M: Es hieß ja, alles wäre geregelt und geschlichtet. S: Ja, vertrag dich mit den Pfaffen. Der Text ist nun verständlicher, aber auch von vorn herein wesentlich anspruchsloser. Die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Aber die eigentlich schwierigen Fälle des Bedeutungswandels, die Fritz Tschirch hervorgehoben hat, kommen bei dieser Methode gar nicht in den Blick. Die „einfach-klassisch“- Übersetzungen reagieren vor allem dort, wo - über eindeutig veralteten Wortschatz hinaus - Polysemie das Verständnis erschweren könnte. Deutlich wird dabei auch, dass morphologische und syntaktische Änderungen den Text in seinem Kern kaum je berühren. Das Wort ist hier ohne Zweifel das wichtigste Element der Sprache. 4 Fazit Der größte Wert der Übersetzungen aus der Reihe „einfach klassisch“ liegt zweifellos darin, dass sie öffentlich auf das Verständlichkeitsproblem aufmerksam machen. Die Übersetzungen markieren einen sprachlichen Wan- Übersetzen aus dem älteren Neuhochdeutschen? 51 del, der bei den etwa nach 1970 Geborenen zu massiven Verständnisproblemen älterer neuhochdeutscher Texte führt. Die Herausgabe von Übersetzungen aus dem älteren Neuhochdeutschen ist aber sicher der falsche Weg, denn auf lange Sicht wird das dazu führen, dass Übersetzungen kommentarlos an die Stelle der Originalausgaben treten. Die Teilnehmer meines Hauptseminars „Sprache der Klassiker“ äußerten sich durchwegs enttäuscht über die sprachliche Form der Übersetzungen, räumten aber zugleich auch ein, vielfach erst durch den Vergleich eine Idee von der Schönheit der klassischen Sprachgestalt gewonnen zu haben. Die Übersetzung sollte also nicht Ersatz, sondern Hilfsmittel sein und Teil einer zweisprachigen Textausgabe. Wie solche Ausgaben des Typs „Älteres Neuhochdeutsch/ Jüngeres Neuhochdeutsch“ dann im Detail aussehen könnten, scheint mir durchaus eine lohnende Aufgabe für die Sprach- und Literaturwissenschaft zu sein. 5 Bibliographie Brückner, Dominik/ Knoop, Ulrich (2003): Das Klassikerwörterbuch. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 31, 62-86. Cornelsen-Verlag: „einfach klassisch“. Übersetzungen von Werken der neueren deutschen Literatur. Reihe abrufbar unter www.cornelsen.de/ teachweb (Zugriff am 03.11.2006). Mühlenhort, Michael/ Areti, Alkimou/ Bobenhausen, Sabine/ Brückner, Dominik (2003): …einfach klassisch. Von der Zurichtung der klassischen deutschen Dichtung für den Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4, 594-607. Riecke, Jörg [Hrsg.] (2004): Einführung in die historische Textanalyse. Göttingen. Tschirch, Fritz (1960): Bedeutungswandel im Deutsch des 19. Jahrhunderts. Zugleich ein Beitrag zum sprachlichen Verständnis unserer „Klassiker“. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 16, 7-24. 2 Didaktik Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 1 Einleitung Sprachbewusstheit und Sprachwissen können als unverzichtbare Kompetenzen von Deutschlehrern 1 angesehen werden. Es erscheint trivial, dass diejenigen, die Schülern die Regeln und Strukturen der deutschen Sprache vermitteln sollen, selbst diese kennen sollten. Allerdings haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur die Vorstellungen darüber, was die Schüler im Deutschunterricht lernen sollten und wie dies didaktisch zu geschehen habe, erheblich verändert. Deutliche Veränderungen gab und gibt es auch darüber, wie die Aneignung der Schriftsprache erklärt werden kann und welche Konsequenzen sich daraus für den Unterricht ergeben. Im ersten Teil des Beitrags werden neuere Konzepte der Schriftspracherwerbsdidaktik (Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben) dargestellt und mögliche Auswirkungen auf die Lehrerausbildung. Dabei spielt die Entwicklung von Sprachbewusstheit bei den Kindern wie bei den (künftigen) Lehrern eine zentrale Rolle. Selbsterfahrungsübungen, bei denen die Studierenden die Rolle von Schülern einnehmen, können dabei nicht nur für die Perspektive von Kindern auf Schriftsprache sensibilisieren, sondern auch die eigene Sprachbewusstheit fördern. Im zweiten Teil des Artikels wird die Relevanz grammatischer Termini als wichtiger Bestandteil sprachlichen Wissens für Deutschlehrer hervorgehoben. Es wird gezeigt, wie in einem Seminar an der Universität Regensburg der Versuch unternommen wurde, durch Anwendung empirischer Verfahren Studierenden Zugang zu den Problemen wissenschaftlicher Terminologie sowie zu grundlegenden Problemen des schulischen Grammatikunterrichts zu eröffnen. Neben einer im Studium zu erwerbenden Methodenkompetenz im Bereich des Grammatikunterrichts, die etwa integrative, situative, funktionale und handlungsorientierte Aspekte des Grammatikunterrichts beinhaltet, müssen Deutschlehrer auch über grundlegendes sprachliches Wissen als terminologisches Wissen verfügen. 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text die Schreibweise „Lehrer“ und „Schüler“ auch für „Lehrerinnen“ und „Schülerinnen“ verwendet. Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 56 2 Sprachbewusstheit im Anfangsunterricht 2.1 Phonologische Bewusstheit im Schriftspracherwerb In neueren schriftsprachdidaktischen Konzepten des Anfangsunterrichts gilt die phonologische Bewusstheit als Teilaspekt von Sprachbewusstheit als eine zentrale Vorläuferfertigkeit zum Erwerb der Schriftsprache. Damit eng verknüpft ist die Vorstellung des Schriftspracherwerbs als Denkentwicklung, wobei sich das Kind die Struktur der Schriftsprache aktiv und konstruktiv aneignet und bei diesem Prozess qualitativ unterschiedliche Stufen identifiziert werden können. Als phonologische Bewusstheit wird die Fähigkeit verstanden, sich vom semantischen Aspekt der Sprache zu lösen „und sich der formalen Ebene zuzuwenden, d.h. Sprachstrukturen wahrzunehmen und z.B. Silben oder den Anlaut eines Wortes zu identifizieren“ (Martschinke/ Kirschhock/ Frank 2005b, 8). Dabei wird zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren Sinne (z.B. Erkennen von Reimen und Silben) und phonologischer Bewusstheit im engeren Sinne (Analyse und Erkennen von Lauten im Wort) unterschieden. Die besondere Bedeutung der phonologischen Bewusstheit als Schlüsselkompetenz für das Lesenlernen ist in vielen empirischen Quer- und Längsschnittstudien belegt worden. Ihre Förderung gilt als eine wesentliche Voraussetzung zur Vermeidung von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten bzw. zur Unterstützung von Kindern, wenn entsprechende Probleme erkannt worden sind (vgl. u.a. Schneider 2004; Weber 2004). Allerdings ist die eindeutige Analyse und Differenzierung der Phoneme in Wörtern nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass beim Sprechen nicht einzelne (Normal-)Laute formuliert werden, sondern ein Lautstrom produziert wird, der erst mit Blick auf die Schriftsprache identifizierbare Phoneme enthält. Dies hängt außerdem mit der individuellen Aussprache von Wörtern und der je unterschiedlichen Sprachverarbeitung des Gehörten zusammen, dass nicht alle Menschen (auch desselben Sprachraums) nicht immer das Gleiche hören, wenn dasselbe gesagt wird. Daneben sind auch sprachstrukturelle Faktoren, wie z.B. die Koartikulation (durch die der Klang von Lauten je nach Stellung im Wort verändert wird) und nicht zuletzt die Veränderung der Wahrnehmung von Sprache durch Schriftkompetenz für die unterschiedliche Sprachwahrnehmung und -verarbeitung verantwortlich. Wenn also Grundschullehrer zur angemessenen Förderung der Kinder die phonologische Bewusstheit unterstützen wollen, sollten sie relevante Hintergründe (auch) der (eigenen) Sprachwahrnehmung und -produktion kennen, weil sie ansonsten unangemessene oder irreführende „Hilfestellungen“ geben. Zur Bewusstmachung von Sprachwahrnehmung eignen sich besonders gut Selbsterfahrungsübungen, bei denen „Fehler“ gemacht werden, die denen von Kindern im Anfangsunterricht des Lesen- und Schreibenlernens ähneln. Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 57 Nachfolgend wird zunächst der Stellenwert der phonologischen Bewusstheit für den Schriftspracherwerb skizziert; anschließend wird anhand eines von der DFG geförderten Projekts aus dem Bereich der Grundschullehrerbildung 2 skizziert, wie bei künftigen Grundschullehrern Sprachbewusstheit mit Blick auf phonologische Bewusstheit durch Selbsterfahrungsübungen erfolgreich vermittelt werden kann. In der Schriftspracherwerbsforschung und der Schriftsprachdidaktik der vergangenen 20 Jahre haben sich zwei Konzepte als besonders bedeutsam erwiesen, deren Kenntnisse auch für den Aufbau förderdiagnostischer Kompetenzen bei den Lehrern als besonders relevant angesehen werden können: a) das Konzept der „phonologischen Bewusstheit“ als eine entscheidende (Vorläufer-)Fertigkeit zum Erwerb der Schriftsprache und b) der Schriftspracherwerb als entwicklungsbezogener Aufbau von Strategien, die jeweils unterschiedliche Qualitäten bzw. Niveaus an Einsichten in die Struktur der Schriftsprache erkennen lassen; Schriftspracherwerb ist aus dieser Sicht ein anspruchsvoller kognitiver Prozess und wird deshalb als Denkentwicklung beschrieben. Beide Aspekte sollen in ihrer Relevanz für den Schriftspracherwerb kurz beschrieben werden. a) Das Konzept der phonologischen Bewusstheit Von den verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für den Erwerb der Schriftsprache erforderlich sind, z.B. visuelle Differenzierung, hat sich in den vergangenen Jahren die „phonologische Informationsverarbeitung“ als ein besonders bedeutsames Kriterium herausgestellt. Dies wurde in verschiedenen Längsschnittuntersuchungen und in verschiedenen Ländern mit indogermanischem Sprachhintergrund bestätigt (vgl. Wagner/ Torgesen 1987; Lundberg/ Frost/ Peterson 1988; Goswami/ Bryant 1990; Wimmer/ Zwicker/ Gugg 1991; Landerl/ Linortner/ Wimmer 1992). Es gibt eine umfangreiche wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, ob die phonologische Bewusstheit eine Voraussetzung oder eine Folge des Schriftspracherwerbs ist; für beide Konzepte gibt es vielfältige empirische Belege (vgl. die Übersicht bei Mannhaupt 2001, 94ff.). Ein Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse dürfte die häufig nicht vorgenommene Unterscheidung zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren Sinne (u.a. Silben und Reimwörter erkennen), die vor allem als Voraussetzung für den Erwerb der Schriftsprache angesehen werden kann, und phonologischer Bewusstheit im engeren Sinne (u.a. Identifikationen von Phonemen in Wörtern), die sich mit Beginn 2 Das Projekt wurde von Maria Fölling-Albers, Eva-Maria Lankes und Dieter Marenbach unter dem Titel „Untersuchung zum Wissensaufbau bei Studierenden in der Schriftsprachdidaktik (Erstlesen und Erstschreiben)“ bei der DFG beantragt und genehmigt. Es wird auch auf ein Nachfolgeprojekt Bezug genommen, das von Maria Fölling-Albers und Andreas Hartinger unter dem Titel „Der Einfluss individueller Differenzen in der Ambiguitätstoleranz auf den Wissensaufbau bei Lehramtsstudierenden in situierten Lernbedingungen“ beantragt und durchgeführt worden ist. Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 58 des Schriftspracherwerbs vor allem durch die Verknüpfung von Lauten mit Buchstaben vollzieht, sein. Doch unabhängig von dieser wissenschaftlichen Kontroverse gilt die Fähigkeit zur phonologischen Informationsverarbeitung als eine Schlüsselqualifikation für den Erwerb der Schriftsprache. Durch den Bericht des amerikanischen „National Reading Panel: Teaching Children to Read“ aus dem Jahre 2000, der alle wichtigen Ergebnisse und Metaanalysen zur Entwicklung der Lesekompetenz zusammenfasst, wurde noch einmal bestätigt, dass die „phonologische Bewusstheit“ neben der Buchstabenkenntnis die entscheidende Prädiktorvariable für den Leselernerfolg in den ersten zwei Schuljahren darstellt: „The results of the meta-analysis were impressive: Overall the findings showed that teaching children to manipulate phonemes in words were highly effective under a variety of teaching conditions…“. (2000/ 2005, 7). In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Instrumente zur Diagnose (z.B. das „Bielefelder Screening - BISC“, Jansen/ Mannhaupt/ Marx/ Skowronek 2002; der Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Phonologische Bewusstheit bei Kindergarten- und Schulanfängern - PB-LRS von Barth/ Gomm 2004; „Der Rundgang durch Hörhausen“ von Martschinke et al. 2005a; vgl. im Überblick zur Entwicklung von Tests zur phonologischen Bewusstheit im Grundschulalter Marx/ Schneider 2000, 91ff.) sowie Trainingsprogramme zur Förderung der phonologischen Bewusstheit (z.B. „Hören, lauschen, lernen“ von Küspert/ Schneider 1999, 4. Aufl. 2003; „Leichter lesen und schreiben lernen mit der Hexe Susi“ 2003) entwickelt. Das Training phonologischer Fähigkeiten erwies sich sowohl bei Vorschulkindern (vgl. Gräsel et al. 2004) als auch bei Grundschulkindern (Kirschhock/ Martschinke/ Treinies/ Einsiedler 2002 - hier insbesondere die Leseleistungen und das Leseverständnis) und nicht zuletzt bei Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (Weber/ Marx/ Schneider 2001; Weber 2004) als sehr erfolgreich. b) Schriftspracherwerb als entwicklungsstufenbezogener Aufbau von Lese- und Schreibstrategien Nach der neueren, an konstruktivistischen Lernkonzepten ausgerichteten Schriftsprachdidaktik wird der Erwerb der Schriftsprache als ein aktiver Aneignungsprozess interpretiert, wobei sich das Kind die Logik der Schriftsprache eigenständig konstruiert (vgl. Scheerer-Neumann 1989; Valtin 1993). Im Verlauf dieses Prozesses nutzen die Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen unterschiedliche kognitive Zugriffsweisen, die auf verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stufen basieren und denen spezifische kognitive Strategien zugrunde liegen. Ein verbreitetes, das Lesen- und Schreibenlernen integrierendes, zunächst dreistufig und später sechsstufig angelegtes Phasenmodell wurde von Frith (1985) entwickelt. Beim Lesenlernen entspricht die logographemische Phase (nach Frith 1985) dem direkten Zugriff (nach dem Lesemodell von Scheerer-Neumann 1989), wobei die Kinder be- Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 59 kannte Wörter „wiedererkennen“ (z.B. den eigenen Namen), ohne allerdings bereits Graphem-Phonem-Korrespondenzen herstellen zu können; die alphabetische Phase entspricht dem indirekten Weg (Scheerer-Neumann 1989), wobei die Kinder jedem Graphem bzw. Graphempattern die zugehörigen Phoneme bzw. Phonemmuster zuordnen können und die einzelnen Phoneme miteinander verknüpft werden müssen. Das Er-Lesen geschieht allerdings noch sehr stockend. Die orthographische Strategie impliziert die Fähigkeit, beide Strategien integrativ zu nutzen und fremde Wörter sinnentnehmend zu lesen. Beim Schreibenlernen sind die Niveaus der Stufen durch Art und Umfang der Annäherung der Verschriftungen an die Lautfolge identifizierbar, wobei in der ersten Stufe (logographische Strategie) die Kinder die Buchstabenfolge bekannter Wörter meist korrekt schreiben können (meist den eigenen Namen), ohne den Buchstaben die zugehörigen Laute zuordnen zu können. Es folgt die alphabetische Strategie, bei der sie die Lautfolge der Wörter weitgehend korrekt verschriften können und damit die Einsicht in die Struktur der Buchstabenschrift erlangt haben. In der letzten (orthographischen) Phase können die Kinder darüber hinaus die orthographischen Konventionen nutzen. Für die Übergänge zwischen den verschiedenen Stufen wird postuliert: Für den Übergang in die alphabetische Phase wird die phonologische Bewusstheit als erforderlich angesehen, der Übergang in die orthographische Phase setzt einen kompetenten Umgang mit der alphabetischen Strategie voraus (vgl. Mannhaupt 2001, 68). Nach Frith beeinflussen und verstärken sich die Prozesse des Lesen- und Schreibenlernens gegenseitig, wobei in bestimmten Phasen die Lese- oder die Schreibentwicklung dominant ist - so in der logographemischen Phase das Lesen, in der alphabetischen das Schreiben und auf der orthographischen Ebene wiederum das Lesen. Neben dem Modell von Frith wurden in den vergangenen Jahren verschiedene weitere Modelle entwickelt, die die Abstände zwischen den einzelnen Stufen unterschiedlich weit beschreiben (zwischen vier und sieben Stufen) bzw. von unterschiedlichen Ausgangspunkten als Grundlagen des Schriftspracherwerbs ausgehen (von der Kritzelstufe oder vom Verschriften von Ganzwörtern) (vgl. die Stufenmodelle von Valtin 1993 und von Scherer- Neumann 1986). Allen Stufenmodellen ist gemeinsam, dass der Schriftspracherwerb ein kognitiv anspruchsvoller Prozess ist, der von den Kindern aktiv und eigenständig vollzogen werden muss. Die Entwicklungsmodelle wurden in Quer- und Längsschnittuntersuchungen (vgl. Brügelmann 1988; Frith 1985; Valtin/ Bemmerer/ Nehring 1986) und auf der Basis von Fallstudien (Blumenstock 1986; Brinkmann 1994) überprüft. Dabei sind diese Phasen allerdings nicht als sich nacheinander ablösende zu interpretieren; vielmehr nutzt ein Kind in Lernsituationen durchaus verschiedene Strategien - z.B. wenn es fremde Wörter er-liest, wendet es Aspekte der alphabetischen Strategie an; es nutzt das Wissen von Phonem-Graphem-Korrespondenzen, wobei es gleichzeitig eine Gewichtung besonders vertrauter Grapheme oder anderer Wortteile (Silben oder Morpheme) vornehmen kann (hier nutzt es Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 60 überwiegend den indirekten Weg). Bei bekannten, immer wiederkehrenden Wörtern (Sichtwörtern) hingegen geschieht das „konsolidiert alphabetische Lesen“, wenn größere Buchstabeneinheiten oder Wörter „als Ganze“ gelesen werden; die logographemische Strategie basiert hier auf der Grundlage differenzierter Kenntnisse des alphabetischen Lesens (vgl. Ehri 1991 und 1992). Kennzeichnend für diesen Entwicklungsprozess ist, dass beim Verschriften eigener Wörter bzw. beim Er-lesen von Wörtern oder Texten entwicklungstypische Probleme entstehen oder dass Kinder Fehler produzieren. Diese werden jedoch nach den neueren Schriftspracherwerbskonzepten in dieser Phase nicht mehr als zu vermeidende Fehlentwicklungen, sondern vielmehr als (notwendige) Entwicklungsschritte sowie als ‚diagnostische Fenster’ interpretiert, die den Lehrern Hinweise geben auf den Entwicklungsstand sowie auf mögliche individuelle Fördermaßnahmen (vgl. Brügelmann 1986; Brügelmann/ Balhorn 1995; Valtin 1993; Valtin 1998). Folgende Faktoren können dabei relevant werden: die noch unzureichende Fähigkeit der Phonemsequenzierung (Landerl/ Wimmer 1994); die Übergangsphasen zwischen verschiedenen Stufen des Schriftspracherwerbs, in denen es zu zwei Phänomen bzw. Fehlertypen kommen kann: erstens zur ‚Phase der Überlappung’, bei der bei schwierigeren Wörtern auf die alte, vertrautere Strategie zurückgegriffen wird, und zweitens zu sog. ‚Übergeneralisierungen’ bei der Nutzung rechtschriftlicher Regeln (<OPER> statt <OPA>, weil <MUTTER> statt <MUTA> - solche Fehler sind jedoch unter dem Entwicklungsaspekt als Weiterentwicklung zu werten) (Valtin 1998); die Erzeugung und Wahrnehmung von Sprachlauten (bestimmte Laute werden in verschiedenen Kombinationen unterschiedlich produziert und ‚klingen’ daher auch anders): Phänomen der Koartikulation (Herrmann/ Grabowski 1994; Lieberman/ Blumstein 1998; Pompino-Marschall 1983; Repp/ Liberman 1987); die phonemische und graphemische Mehrdeutigkeit - aus dem Lautklang lässt sich oft nicht erschließen, welches Phonem welchem Graphem entspricht (Valtin 1998). Es kommt darauf an, die Fehler der Kinder vor dem Hintergrund ihrer vermutlich eingesetzten Lesebzw. Schreibstrategien zu interpretieren (zu diagnostizieren) und auf der Basis dieser Kompetenzen weitergehende Lernangebote zu machen. Die Übernahme der Perspektive der Kinder und ihrer Zugriffsweisen ist auch deshalb erforderlich, weil sich bei dem Erwerb der Schriftsprachkompetenz ein widersprüchlicher Prozess vollzieht; durch den Erwerb der schriftsprachlichen Kompetenzen (Schreibschemata und Regeln) nehmen schriftkundige Erwachsene Laute in einem Wort, aber auch Wörter in einem Satz „gefiltert“ wahr - im Gegensatz zu schriftunkundigen Kindern. „Da geschriebene Sprache im Wortsinne ‚anschaulicher’ ist als gesprochene Sprache und Segmentierungen sichtbar macht, prägt sie die Vorstel- Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 61 lungen von Sprache entscheidend, mit dem Ergebnis, dass selbst solche schriftlichen Segmente, die keine lautlichen Korrelate haben, lautlich interpretiert werden.“ (Andresen 1985, 173). So glauben schriftkundige Erwachsene, aus einem gesprochenen Satz alle Wörter exakt zu hören, obwohl diese gar nicht genau artikuliert wurden und Wörter als Einheiten der gesprochenen Sprache gar nicht existieren. Kinder hingegen nehmen einen kontinuierlichen Lautstrom wahr und verfügen noch nicht über ein Wortbzw. Satzkonzept (Valtin et al. 1986; Valtin 1998). Zum anderen nehmen schriftkundige Erwachsene Laute gemäß ihrer rechtschriftlichen Verwendung, nicht aber in ihrer lautlichen Qualität wahr, z.B. glauben sie, / Hund/ statt / Hunt/ - Prinzip der Auslautverhärtung - zu hören (vgl. Krey/ Fölling- Albers 1999). Dagegen hören Schulanfänger die Laute ‚ungefiltert’ (vgl. Eichler/ Thomé 1995; Thomé 1999). Wenn Lehrer also den Kindern sagen „Hör’ genau hin, dann hörst du schon, wie man das Wort schreibt“, dann ist das oftmals eine Irreführung der kindlichen „korrekten“ Sprachwahrnehmung (s. Kap. 2.2). Ferner glauben Erwachsene, das Wort <Eichel> korrekt ausgesprochen zu haben, wenn sie / Eichl/ lesen. Kinder hingegen lesen auf der alphabetischen Stufe zunächst Ei-ch-e-l. Erst der Vergleich dieser Wortvorgestalt mit einem ähnlichen klingenden, bekannten Wort aus dem Wortspeicher führt zum Erkennen des „richtigen“ Wortes (vgl. Schründer-Lenzen 2004). Das oftmals als „Erraten“ beschriebene Falsch-Lesen der Kinder („Fehler“) ist somit als ein Versuch zu interpretieren, den „Wortruinen“ Sinn beizufügen. Scheerer-Neumann hält in ihrem Übersichtsbeitrag zum Lesenlernen und zu Leseschwierigkeiten fest, dass die psychologische Leseforschung seit dem Ende der 1960er Jahre und im Anschluss daran auch die Lesedidaktik erhebliche Fortschritte gemacht, diese die Unterrichtspraxis bisher aber kaum erreicht haben (vgl. Scheerer-Neumann 1997, 282). In Bayern sieht der Lehrplan 2000 vor, dass die Kinder nach dem Konzept des „phonetischen Schreibens“ das Schreiben erlernen sollen - wobei durch diesen Ansatz auch der Prozess des Lesenlernens unterstützt werden soll. Dieser Ansatz wurde auf der Grundlage der skizzierten Konzepte und Forschungsergebnisse entwickelt und sieht in didaktischer Sicht drei aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen vor (vgl. Lehrplan für die bayerische Grundschule 2000). Künftige Lehrer, die nach dem aktuellen Lehrplan unterrichten, müssen also entsprechende Kompetenzen bereits in ihrer Ausbildung erwerben. 2.2 Sprachbewusstheit bei den (künftigen) Lehrern fördern durch Selbsterfahrungen (hier: Finnisch schreiben) Nach dem „phonetischen Ansatz“ werden die Kinder aufgefordert, einzelne (zunächst kurze, möglichst „lautreine“ Wörter, wie OMA, SOFA etc.) langsam aufzulautieren, mit Hilfe einer Anlauttabelle die Buchstaben zu den betreffenden Lauten (Phonemen) zu ermitteln und diese dann aufzuschreiben. Auf diese Weise entschlüsseln sie die Lautstruktur der Sprache, und es Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 62 wird vermieden, dass sich Kinder die Wörter nur als „Ganzwörter“ merken, ohne ihren Aufbau, ihre Lautstruktur erfasst zu haben. Bei diesem Verfahren werden die Kinder in der Regel aufgefordert, sich die Wörter ganz langsam vorzusprechen und ganz genau hinzuhören; dann wüssten sie meist schon, wie die Wörter geschrieben werden. Dabei ist den Lehrern meist nicht bewusst, dass durch den Erwerb orthographischen Regelwissens sich auch die Wahrnehmung der Sprache verändert. Die Lehrer müssen also wissen, dass Kinder die Wörter anders wahrnehmen als sie selbst. Die häufig im Unterricht genutzte Aufforderung „Hör’ mal genau hin, dann weißt du, wie das Wort geschrieben wird! “ ist dann oftmals eine Aufforderung zum Falschhören. Die Lehrer müssen bei der Beurteilung von Verschriftungen der Kinder somit bewusst die Perspektive der Kinder einnehmen, um die Schreibungen aus deren Wahrnehmung zu interpretieren. Orthographische Regelverstöße würden dann nicht vorschnell als Fehler gedeutet werden, wenn das Kind sich in seiner Entwicklung erst auf der Stufe der „phonetischen Verschriftung“ befindet. Zur Sensibilisierung der (künftigen) Lehrer für die Sprachwahrnehmung von Kindern haben wir im Rahmen eines Projektes zwei Übungen entwickelt. Bei der einen sollten Studierende des Lehramtes Grundschule eine „Geheimschrift“ entschlüsseln; dabei wurden für alle 40 Phoneme neue Zeichen entwickelt. Die Studierenden sollten Sätze, die in der Geheimschrift geschrieben waren, erlesen. Dabei erfuhren sie, dass sie beim Erlesen dieser Schriftzeichen ähnliche Probleme hatten wie Kinder im Anfangsunterricht und ähnlich stockend lasen. Daneben sollten sie kurze Sätze in dieser Geheimschrift schreiben. Dabei wurde ihnen anschaulich bewusst, dass es im Deutschen für gleiche Phoneme verschiedene Zeichen gibt, z.B. für / f/ : <F> und <V>, aber auch, dass dasselbe Zeichen für verschiedene Phoneme stehen kann, z.B. das Graphem <s> in Bus: / s/ und in Hase: / z/ . Die hier erforderlichen Unterscheidungen führten bei den Studierenden zu erheblichen Verunsicherungen und zu zahlreichen Schreibfehlern. Im Rahmen der zweiten Übung sollten die Studierenden drei kurze Sätze in einer fremden Sprache (hier: finnisch) schreiben. Die finnische Sprache wurde ausgewählt, weil sie besonders lautorientiert ist und es deshalb besonders leicht möglich sein sollte, entsprechende Sätze „richtig“ zu schreiben. Die drei finnischen Sätze hießen: Mistä lastu lainehilla. Perhe on kotona. Naapuri on soittanut. Alle Sätze waren von einer Finnin auf Band gesprochen worden. Jeder Satz wurde zunächst vom Band diktiert; in der anschließenden Pause konnten die Studierenden den Satz aufschreiben. Danach wurde der Satz drei Mal wiederholt - jeweils mit einer anschließenden Pause für eine mögliche Korrektur des geschriebenen Satzes, so dass die Studierenden hinreichend Zeit hatten, sich die Wortfolgen genau zu merken. Nachdem die Studierenden Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 63 ihre Sätze verschriftet hatten, konnten sie in Partnerarbeit die Verschriftungen miteinander vergleichen. In einem zweiten Teil der Übung wurden den Studierenden einzelne Rechtschreibregeln des Finnischen mitgeteilt, z.B. dass diese Sprache besonders lautorientiert sei, dass lange Vokale durch eine Verdopplung gekennzeichnet werden und Doppelkonsonanten durch eine entsprechende Aussprache kenntlich gemacht würden und deshalb zu „hören“ seien. Des Weiteren wurde mitgeteilt, dass im Finnischen die Verschlusslaute eher „weich“ gesprochen werden (so klingt das [t] z.B. eher wie ein [d]). Nach diesen Informationen konnten die Studierenden nochmals ihre Verschriftungen korrigieren. Nach Beendigung der Übungen wurden die Verschriftungen jeweils in Partnerarbeit verglichen und die Erfahrungen ausgetauscht; die Studierenden konnten ihre Schwierigkeiten beim Verschriften der Sätze darlegen. Es nahmen 79 Studierende an dieser Übung teil. Nachfolgend werden einige Ergebnisse skizziert. Alle Sätze wurden auf höchst unterschiedliche Weise verschriftet; hier ein paar Beispiele zum ersten Satz: Misterlas to leile hila. Miss da las da laime himmla. Mista lasto laine hilla. Mista lastu lainehinla. Mis talas dolei lehilla. Mister laßt Du Leine hilla. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Sätze nicht nur unterschiedlich verschriftet wurden, sondern dass auch die Wortgrenzen nicht einheitlich wahrgenommen worden waren. Bei diesem Satz hatten 6 Studierende drei Wörter verschriftet, 26 hatten vier Wörter gehört, 27 Probanden fünf und 16 sogar sechs Wörter. Allein für das erste Wort „mistä“ gab es 38 verschiedene Verschriftungen, für das Wort lastu 51 und für das Wort lainehilla 58 Schreibvarianten. In der Diskussion mit ihren Kommilitonen vermerkten sie, dass sie große Schwierigkeiten bei der Verschriftung ähnlich klingender Laute hatten, denn sie waren sich nicht sicher, was sie „wirklich“ gehört hatten. Diese wurden demnach auch besonders häufig verwechselt. So hörten die meisten Studierenden am Wortanfang den Laut [m], doch manche glaubten auch ein [l] oder ein [n] gehört zu haben. Bei lastu wurden im Inlaut häufig [t] und [d] verwechselt; auch wurde statt der Endung [u] oft die Endung [o] geschrieben. Daneben gab es Schreibvarianten bei den Lauten [p], [d] und [b], [l] und [n], [g] und [p], [e] und [i] sowie Schreibvarianten bei [ai]. Die unterschiedlichen Schreibweisen könnten zum einen damit erklärt werden, dass wegen eng beieinander liegender Artikulationsstellen Laute leicht verwechselt werden; ein anderer Grund für unterschiedliche Schreibweisen könnte auch Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 64 sein, dass im Deutschen die Endung <er> klanglich meist als [ ] gesprochen wird. Dadurch könnten manche Verschriftungen als <er> zu erklären sein. In den Diskussionen über die Erfahrungen mit den Verschriftungen gaben die Studierenden zudem an, dass sie oftmals nicht entscheiden konnten, ob der Vokal lang oder kurz gesprochen worden war. Folglich wussten sie nicht, ob sie rechtschriftlich eine Verlängerung anzeigen sollten. Daneben konnte an verschiedenen Stellen festgestellt werden, dass die Studierenden Übergeneralisierungen vornahmen, z.B. eine gelernte Regel an einer unpassenden Stelle anwandten (bei einem Kurzvokal ein Doppelkonsonant - bei lasst du für lastu oder missta für mistä) oder aber auch versuchten, den ihnen unsinnig erscheinenden Wörtern einen Sinn beizufügen, wie beim letzten oben genannten Satz: Mister laßt Du Leine hilla. Nachdem die Studierenden einige rechtschriftliche Regeln des Finnischen erhalten hatten, hatten sie die Schwierigkeit, diese korrekt anzuwenden. Sollten sie statt lastu jetzt lasdu schreiben (was manche auch taten)? So wurden nachträglich in vielen Fällen die Fehler erst beim „Verbessern“ erzeugt („Übergeneralisierung“ als Mechanismus, eine „richtige Regel“ an einer falschen Stelle einzusetzen). Die Studierenden konnten somit während der Übungen gut nachvollziehen, dass die eigenen Schwierigkeiten und Fehler beim Verschriften der gesprochenen Sprache mit den Verschriftungen der Kinder im Anfangsunterricht vergleichbar sind: - Sie hatten Probleme, die Wortgrenzen eindeutig zu lokalisieren, da sie die Wortkonzepte des Finnischen nicht kannten. Sie versuchten ihr Schriftsprachwissen zu nutzen - z.B. dass Sätze Wörter enthalten und die Wörter durch eine Lücke voneinander getrennt werden - und deuteten deshalb Wortgrenzen durch Lücken zwischen den Wörtern an. Da sie aber nicht über das Wortkonzept des Finnischen verfügten, wurden die Wortgrenzen sehr häufig an falschen Stellen festgelegt. - Sie verwechselten besonders häufig ähnlich klingende Laute. - Sie konnten die Rechtschreibregeln, die wir ihnen nach dem ersten Schreibversuch über die finnische Sprache mitteilten, nicht so ohne weiteres umsetzen. Sie wandten die Regeln oftmals an unpassenden Stellen an. - Die Länge der Vokale konnten sie nicht mit Sicherheit identifizieren. Auch wenn hier beschriebene Selbsterfahrungen keine Gewähr für einen didaktisch angemesseneren Unterricht darstellen, so können sie doch zumindest für die Schwierigkeit, die der Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht darstellt, sensibilisieren. Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 65 3 Grammatische Termini als Teil grundlegenden sprachlichen Wissens in der Deutschlehrerausbildung „‚Die Grammatikkenntnisse vieler Germanistikstudenten entsprechen nicht mal mehr dem, was vor dreißig Jahren von einem Hauptschüler erwartet wurde’, erklärt Ulrich Schmitz, Linguistikprofessor an der Universität Essen. Er testet seit Jahren das Wissen der Studienanfänger, die auf Fragebögen Grundbegriffe des Sprachsystems erläutern sollen. Achtzig Prozent der Teilnehmer beantworten mindestens zwei Drittel der Fragen falsch, Gymnasiasten und Gesamtschüler liegen dabei gleichauf. Manche Antwort erinnert an Karl Valentin: Da wird die Konjunktion als ‚Blüte der Wirtschaft’ definiert, die deutschen Kasus werden durch ‚Nomitav’ und ‚Objektiv’ bereichert, der Genitiv wird mit dem Akkusativ, die Silbe mit dem Buchstaben und das Substantiv mit dem Subjekt verwechselt. Ein Physikstudent mit vergleichbaren Kenntnissen in Mathematik käme über das erste Semester kaum hinaus.“ (Krischke 2005, 81) Die hier geäußerte Klage stellt einen engen Zusammenhang zwischen den mangelnden Grammatikkenntnissen von Studienanfängern der Germanistik und ihrer Verfügbarkeit grammatischer Termini her. Ausgehend von diesem sicherlich nicht singulären Befund (vgl. Nutz 1995, 71) soll hier die Frage aufgeworfen werden, inwiefern grammatische Terminologie als Anknüpfungspunkt für die Vermittlung von Lehrkompetenz in Fragen der Muttersprachengrammatik gelten kann. Hier wird die Auffassung vertreten, dass die Vermittlung sprachlichen Wissens (vgl. Portmann-Tselikas 1999; Andresen/ Funke 2003) auch in Form von deklarativem Wissen wichtige Grundlage für die Ausbildung von angehenden Deutschlehrern ist. Neben der Erörterung unterschiedlicher methodischer Ansätze wie beispielsweise des situativen, des integrativen oder funktionalen Grammatikunterrichts (vgl. dazu Boettcher 1994; Ulrich 2001; Glinz 2003; Steets 2003; Peyer 2005) und der Vermittlung von Methodenkompetenz in diesem Bereich sollte die Diskussion und Erarbeitung grammatischer Grundbegriffe im Studium nicht zu kurz kommen. Dieser Standpunkt wird auch durch einen Blick in viele Lehrpläne des Faches Deutsch gestützt, da in diesen die sichere Beherrschung grammatischer Terminologie auch von Seiten der Lehrkraft als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Grammatische Termini wie Wort, Satz, Genitiv, Subjekt oder Substantiv dürfen nicht nur als Worthülsen bekannt sein, sondern müssen auch begrifflich gefüllt werden (vgl. Klotz 1992; Nutz 1995, 72). Dieser Ansatz ist der Hintergrund für ein Seminar an der Universität Regensburg, in dem der Versuch unternommen wurde, grammatische Terminologie als Ausgangspunkt für die Beschäftigung angehender Deutschlehrer mit dem „Problem Grammatikunterricht“ im Schulfach Deutsch anzusetzen. Begründet wird dies damit, dass grammatische Termini eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die für den Sprachunterricht unverzichtbar sind. Die Leistung grammatischer Termini soll im Folgenden kurz umrissen werden. Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 66 3.1 Grammatische Termini: Eingrenzung und Funktion Zunächst muss festgehalten werden, dass wissenschaftliche Termini Grundlage jeder Wissenschaft sind. Selbstverständlich kommt die Sprachwissenschaft ebenso wenig ohne Fachtermini aus und auch für den schulischen Grammatikunterricht wurde im Jahre 1982 von der Kultusministerkonferenz das in der Folge viel diskutierte „Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke“ veröffentlicht. Hier finden sich Termini aus dem Bereich der Wort- und Satzlehre (Bausch/ Grosse 1987, 221-228). Hans Glinz hat 1987 in seinem Aufsatz „Grundsätzliches über grammatische Begriffe und grammatische Termini“ eine für das Thema „grammatische Termini“ notwendige Klarstellung vorgenommen. Er verdeutlicht, dass ein grammatischer Terminus lediglich ein Name für einen grammatischen Begriff ist, für ihn kann es auch mehrere verschiedene Termini geben. Je sicherer man allerdings einen Begriff beherrscht, desto selbstverständlicher kann man mit den Termini umgehen und gegebenenfalls auch verschiedene Fachausdrücke für einen Begriff parallel verwenden. „Man wählt oder bildet einen solchen Namen, d.h. einen Terminus, um einen grammatischen Begriff, den man sich erarbeitet hat, festzuhalten - um mit dem Begriff arbeiten zu können (selber) und um den Begriff andern zugänglich machen zu können. Durch das Aussprechen oder das bloße Vorstellen des Namens kann man auch den Begriff jederzeit in Erinnerung rufen, für sich selbst wie für andere Menschen; man kann durch das Nennen (oder rein durch das innerliche Vorstellen) des Namens den Begriff für einen Augenblick in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken.“ (Glinz 1987, 21) Glinz hat wesentliche Leistungen grammatischer Termini genannt: 1. Termini fixieren den grammatischen Begriff. Sie dienen der Identifizierung grammatischer Formen. Mit Hilfe von Termini ist der schnelle Zugriff auf grammatische Formen möglich. Anstatt wie folgt umständlich umschreiben zu müssen „Ein sprachliches Element, das die Position zwischen Artikel und Nomen einnehmen kann und in dieser Position so flektiert wird, dass es in Genus, Kasus und Numerus mit dem Nomen übereinstimmt. Darüber hinaus kann das Wort unflektiert gebraucht werden und den Rang eines Satzgliedes einnehmen. Zudem kann es Steigerungsformen ausbilden, durch die unterschiedliche Grade der Intensität angezeigt werden.“ verwendet man Termini wie Wie-Wort, Eigenschaftswort oder Adjektiv (vgl. Müller 2003, 465). Probleme entstehen allerdings dann, wenn eine bestimmte Grammatik von anderen Voraussetzungen ausgeht und etwa nur die Komparierbarkeit als Kriterium für Adjektive ansetzt. Ein Terminus ist eben nicht gleichzusetzen mit einer Begriffsdefinition. Glinz zielt mit der Wendung „den man sich erarbeitet hat“ auf die Notwendigkeit ab, grammatische Termini und die ihnen zugrunde liegenden Begriffe durch eigene Operationen mit Hand- Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 67 lungswissen zu füllen. Die Umstellprobe kann etwa beim Herausfinden von Satzgliedern helfen. Hier zeigt sich die Dienerrolle von Termini. 2. Durch das Nennen oder Vorstellen des Terminus wird der Begriff Gegenstand der Aufmerksamkeit. Ein Terminus ist also der Schlüssel für die bewusste Verfügbarkeit grammatischen Wissens. Ein geeigneter Terminus kann dazu beitragen, den einmal gewonnenen Blick auf die Phänomene, die einmal erreichte gedankliche Ordnung besser festzuhalten. Die Kenntnis grammatischer Termini ist also Basiswissen, das man z.B. beim Nachschlagen im Lexikon oder in Grammatiken benötigt. 3. Das Sprechen über Sprache und Grammatik ist ohne Termini nur schwer möglich. Termini ermöglichen das Sprechen über sprachliche Phänomene und bilden eine Metasprache aus. Die bei Glinz genannten Leistungen grammatischer Fachausdrücke müssen noch ergänzt werden: 4. Termini sind eingebunden in ein System von Benennungen - sie knüpfen ein Wissensnetz. So steht beispielsweise Adjektiv in einer Beziehung zu Substantiv, Artikel, Adverb etc., Subjekt steht in Beziehung zu Objekt oder Prädikat. 5. Berücksichtigt man hinsichtlich der Bedeutung grammatischer Termini für den Deutschunterricht auch die lange Geschichte schulischen Grammatikunterrichts, so ist mit Christoph Müller festzuhalten: „Die Geschichte der Schulgrammatik ist auch eine ihrer Terminologien. Die Auseinandersetzung um die richtige Terminologie, die lateinische oder deutsche, wird seit Wackernagel im letzten Jahrhundert z.T. erbittert geführt. Kompliziert wird diese Situation bekanntlich weiter durch die immer neuen Terminologien, die linguistische Theorien hervorbringen.“ (Müller 2003, 467) Deutlich zeigt sich die Problematik neuerer linguistischer Ansätze etwa im Bereich der Dependenzgrammatik, die sich für Deutsch als Fremdsprache mittlerweile als fruchtbarer und weithin akzeptierter Ansatz erwiesen hat, im muttersprachlichen Deutschunterricht aber noch kaum Resonanz findet (vgl. Blattmann/ Kottke 2002, 12f.). Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Leistung grammatischer Termini festhalten, dass sie Voraussetzung für das Sprechen über sprachliche Phänomene sind. Ihre Kenntnis und Verfügbarkeit ist Grundlage für die Ausbildung einer Fachsprache. Deklaratives Sprachwissen in Form von terminologischem Wissen ist also eine der Voraussetzungen von Grammatikunterricht und darüber hinaus jeder Form von Sprachbetrachtung. In der Diskussion um den schulischen Grammatikunterricht wurde und wird allerdings schulische Sprachbetrachtung nach wie vor zu stark auf den Nützlichkeitsaspekt grammatischen Wissens für die Sprachproduktion reduziert, zudem bleibt der eigene Bildungswert des Sprechens über Grammatik und Sprache vernachlässigt. Von daher ist es wichtig, wissenschaftliche Fach- Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 68 sprache - die im oben zitierten Zeitungsartikel den Germanistikstudierenden ja in Abrede gestellt wird - Lehramtsstudierenden des Faches Deutsch zugänglich zu machen. 3.2 Empirische Studien zum Grammatikunterricht Während die Literaturdidaktik mittlerweile auf eine beachtliche Reihe von empirischen Untersuchungen - etwa zur Lesesozialisation oder zum Buchleseverhalten von Schülern - zurückgreifen kann und auch hinsichtlich der Medienrezeption einige Studien vorliegen, ist in der Sprachdidaktik ein bemerkenswerter Mangel an empirischen Grundlagenforschungen zum Grammatikunterricht insgesamt, aber auch hinsichtlich grammatischer Terminologie zu beklagen. Wenige Ausnahmen, wie etwa die empirische Arbeit von Peter Klotz, der grammatische Wege zur Textgestaltungskompetenz aufzeigt (Klotz 1996), zielen auf die Wirkung von Grammatikunterricht ab, geben aber über die Verfügbarkeit grammatischer Terminologie kaum Auskunft. Immerhin kann eine von den Verfassern zunächst als Skizze bezeichnete Studie von Hubert Ivo und Eva Neuland aus dem Jahr 1991 als wertvolle Vorarbeit für empirische Untersuchungen grammatischen Wissens im Bereich der Terminologie herangezogen werden (Ivo/ Neuland 1991). Obwohl die statistische Aussagekraft der Studie angesichts der sehr geringen Fallzahlen mit 96 Probanden aus fünf unterschiedlichen Gruppen als sehr eingeschränkt einzustufen ist, kann sie als Pilotstudie für weitere empirische Untersuchungen zum Grammatikunterricht gelten. Grammatische Termini werden in der genannten Untersuchung herangezogen, um analytische und klassifikatorische Kenntnisse von Schülern bei der Bestimmung von Wortarten und Satzgliedern und der grammatischen Systematisierung grammatischer Begriffe zu überprüfen. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bei den Befragten grammatisches Wissen kaum ausgeprägt ist und zwar umso mehr, je länger die Schulzeit zurückliegt. Das grammatische Wissen, verstanden als Fähigkeit zu Systematisierungs- und Explikationsleistungen auf theoretisch-begrifflicher Ebene, ist sozial sehr differenziert ausgebildet. Im Bereich der Einstellungen kann festgestellt werden, dass die Befragten den Grammatikunterricht zwar eindeutig negativ konnotieren, gleichzeitig aber dem grammatischen Wissen eine hohe berufliche wie private Alltagsrelevanz beimessen und dabei Nützlichkeits-, Prestige- und Verständigungsfunktionen normorientierten Wissens hervorheben. Ausgewählte Fragestellungen der genannten Studie wie etwa die klassifikatorischen Kenntnisse von Schülern oder die Verfügbarkeit grammatischer Termini in der Oberstufe des Gymnasiums waren auch Grundlage für ein Seminar für Studierende des Lehramts an Gymnasien, das im Sommersemester 2005 an der Universität Regensburg stattgefunden hat. Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 69 3.3 Projektseminar „Grammatische Terminologie“ Deutschlehrer sind als Muttersprachler im Besitz einer impliziten Grammatik, die sie zwar befähigt, korrekte sprachliche Äußerungen zu formulieren, sie müssen aber als Sprachlehrer auch über eine Metasprache verfügen, um etwa die grammatischen Probleme ihrer Schüler benennen zu können. Das bedeutet, dass Deutschlehrer Grammatikwissen benötigen und zu diesem zählt auch terminologisches Wissen. Nun stellt sich die Frage, wie man Studierenden grammatisches Wissen vermitteln kann, das sie befähigt, Muttersprachenunterricht zu halten und wie gleichzeitig Reflexionsfähigkeit für die Probleme von Grammatikunterricht (vgl. Diegritz 1996; Bremerich-Vos 1999; Peyer 2005) ausgebildet werden kann. Das hier vorgestellte Konzept wählt empirische Verfahren als Ansatzpunkt für die genannten Fragestellungen. Durch Einbindung empirischer Methoden in die Lehrerausbildung werden die Studierenden dazu gebracht, Probleme des Deutschunterrichts zu erkennen, wissenschaftliche Fragestellungen zu formulieren, Hypothesen aufzustellen und durch eigene Durchführung empirischer Verfahren zu Lösungsansätzen zu kommen. Dieser Ansatz kommt den Studierenden auch insofern zugute, als sie ‚gezwungen’ werden, zunächst die fachwissenschaftlichen Grundlagen für sich selbst zu klären, um überhaupt Fragen stellen zu können. Diese Aspekte der Lehrerbildung werden übrigens mit der Absicht verknüpft, eine größere empirische Untersuchung zur grammatischen Terminologie und zur Wirksamkeit von Grammatikunterricht vorzubereiten. Das Seminar gliederte sich in drei Teile. In den ersten Sitzungen wurden die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlagen des Grammatikunterrichts erarbeitet. Inhalte waren hier Ziele, Konzeptionen, Methoden und Probleme des Grammatikunterrichts sowie die grammatische Terminologie am Beispiel der Wortarten. Danach wurden Grundzüge empirischer Forschung wie das Verhältnis von Empirie und Theorie, empirische Methoden und Auswertungsverfahren behandelt. In einem zweiten Teil wurden fünf Arbeitsgruppen zu je fünf Studierenden gebildet, die nun unter Anleitung des Dozenten geeignete Testverfahren ausarbeiteten und anschließend in verschiedenen Partnergymnasien durchführten und auswerteten. Die letzten Sitzungen des Semesters waren der Präsentation der Ergebnisse im Plenum gewidmet. Vor allem die Diskussionen, die sich im Anschluss an die Präsentation der Arbeitsgruppen entfacht hatten, zeigten, dass durch die eigenständige empirische Forschungsarbeit ein durchwegs höheres Problem- und Reflexionsniveau bei den Studierenden erreicht werden konnte. Grundlegende Einstellungen zum Grammatikunterricht konnten revidiert werden, etwa die Vorstellung, dass Grammatik etwas Starres und Unveränderliches sei. Auch im Gebrauch fachwissenschaftlicher Termini im Bereich der Wortarten stellte sich eine weitaus größere Sicherheit bei allen Studierenden ein. Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 70 Von den Ergebnissen, die das genannte Forschungsseminar erbrachte, können hier nur zwei ausgewählte Aspekte angerissen werden. Diese sind aber insofern ergiebig, als sie Meinungen und Einstellungen zum Grammatikunterricht betreffen, die in der langen Diskussion um den Grammatikunterricht zwar immer wieder auftauchen, empirisch aber keineswegs ausreichend untersucht sind. 3.3.1 „Grammatik lernt man in Latein“. Der Einfluss des Fremdsprachenunterrichts auf das Grammatikwissen über Wortarten Der oben zitierte Artikel aus „Der Zeit“ liefert einen Lösungsvorschlag für das beschriebene Grammatikdilemma der Germanistikstudenten, der an der Universität Vechta seit einiger Zeit beschritten wird: „Hier müssen künftige Deutschlehrer seit neuestem zwei Semester lang ‚Elementarlatein’ büffeln. Die regelmäßige Teilnahme an der wöchentlichen Doppelstunde ist Pflicht, zwei Klausuren sind zu bestehen. Das Ziel ist nicht, die Studenten an die Lektüre von Caesar und Tacitus heranzuführen, sondern ihr Verständnis für die Formen und Regeln der Grammatik zu schärfen.“ (Krischke 2005, 81) Die Lektüre dieses Textes brachte uns im Seminar auf die Idee, empirisch zu überprüfen, ob der Fremdsprachenunterricht Einfluss auf das Grammatikwissen der Schüler hat. Eine Arbeitsgruppe entwickelte einen Fragebogen, in dem unter anderem das Wissen über Wortarten getestet wurde. Ziel war nicht die Überprüfung, ob grammatische Termini für die Sprachproduktion hilfreich sind, sondern inwieweit das Wissen von und über grammatische Fachausdrücke bei Schülern vom Lernen anderer Sprachen abhängig ist. Befragt wurden insgesamt 282 Schüler der fünften und achten Jahrgangsstufen an vier Gymnasien mit unterschiedlicher Fremdsprachenfolge (Latein, Englisch oder Französisch als erste oder zweite Fremdsprache). Bemerkenswert ist übrigens die hohe Zahl an Fragebögen, die für diese Fragestellung ausgewertet wurden. Zwar können daraus keine repräsentativen Schlussfolgerungen für den Deutschunterricht gezogen werden, angesichts fehlender empirischer Untersuchungen zum Grammatikunterricht stellen die hier festgestellten Tendenzen dennoch wertvolle Hinweise für die Durchführung weiterer Studien dar. Eine Aufgabe des Fragebogens bestand darin, die in einem Beispieltext markierten Wörter bestimmten Wortarten zuzuordnen. Die Fragebögen wurden von den Studierenden korrigiert, für richtige Zuordnungen wurden Punkte vergeben und die Ergebnisse wurden statistisch ausgewertet. Erwähnt sei hier ein Aspekt, der für die aufgeworfene Frage nach dem Einfluss des Fremdsprachenunterrichts ein interessantes Ergebnis brachte. Der Vergleich der fünften und achten Jahrgangsstufe mit immerhin 282 Probanden ergab hinsichtlich der Fähigkeit, Wortarten richtig zuordnen zu können, keinerlei Hinweise darauf, dass der Lateinunterricht mehr als anderer Fremdsprachenunterricht Einfluss auf das deklarative Grammatikwissen im Bereich der Wortarten hat. Bei bestimmten Einzelfragen, die wohl mehr dem Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 71 Unterricht im Fach Latein entsprechen (Bestimmung der Verbform), konnten die Lateiner allerdings durchweg höhere Werte für sich verbuchen. Ergebnisse wie diese, wenn sie empirisch genügend fundiert werden könnten, sollten zu einer sachlichen Diskussion über den Grammatikunterricht beitragen und helfen, immer noch weit verbreitete Klischees über Sprache und Sprachen sowie über sprachliche Bildung auszuräumen. Insgesamt bleibt die für anschließende empirische Untersuchungen wichtige Schlussfolgerung festzuhalten, dass die Überprüfung grammatischen Wissens von Schülern nicht auf einzelne Sprachen reduziert werden darf. Wir benötigen einen Ansatz, der, in der Fremdsprachendidaktik längst bekannt, die gesamtsprachliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt. Die sprachdidaktische Folgerung lautet: Die Schule muss mehr als bisher die gesamte Sprachlichkeit des Menschen in den Blick nehmen. Sprachliche Bildung darf nicht fächerisoliert ablaufen und zukünftige empirische Forschung muss in Zusammenarbeit mit der Fremdsprachendidaktik geschehen. 3.3.2 Zur Halbwertzeit von Terminologiewissen in der Schule Durch eigene empirische Untersuchungen und den daraus gewonnenen Erfahrungen wird den Studierenden klar, dass es im Grammatikunterricht „nicht um die einmalige Vermittlung eines terminologischen Benennungswissens ankommt, sondern darauf, das Sprachwissen selbst (sprach-)handelnd anzuwenden. Dass der Grammatikunterricht aus dem Stoffprogramm der höheren Klassen ausgeblendet wird, erscheint bedauerlich, da Schüler dieser Altersgruppen in der Lage wären, über Erkenntnismöglichkeiten und über die Relativität von Kategorisierungen nachzudenken.“ (Müller 2003, 473). Dieses Zitat spiegelt einen Hauptvorwurf an den schulischen Grammatikunterricht, nämlich die Beobachtung, dass Schüler in den unteren Jahrgangsstufen zwar Grammatikunterricht erhalten, das grammatische Handlungswissen aber in den oberen Klassen verloren geht. Dieser Vorwurf an den Grammatikunterricht wurde von einer weiteren Gruppe als Arbeitshypothese zugrunde gelegt. Ähnlich wie im obigen Beispiel testeten die Studierenden das Wissen über grammatische Terminologie mit Hilfe eines Fragebogens in drei Jahrgangsstufen zweier Gymnasien (6. und 9. Jahrgangsstufe sowie Kollegstufe K12). Belege aus einem Beispieltext sollten mit Termini für Wortarten bezeichnet werden. Auch diese Arbeitsgruppe konnte bei insgesamt 160 befragten Schülern auf durchaus aussagekräftige Fallzahlen zurückgreifen. Während im Wortartenwissen zwischen den 6. und 9. Klassen keine signifikanten Unterschiede bestanden - mit 62 Prozent bzw. 65 Prozent richtiger Zuordnungen lagen die beiden Klassenstufen nahezu gleichauf -, nahm die Zahl der richtigen Antworten signifikant ab: auf einen Wert von 49 Prozent. Die hier festgestellte Tendenz müsste nun in einer größer angelegten Untersuchung abgesichert werden und in Verbindung Maria Fölling-Albers/ Rupert Hochholzer 72 mit der Überprüfung der Methodenwahl im Grammatikunterricht Hinweise dafür liefern, wie grammatisches Wissen die gesamte Schulzeit hindurch intensiver gepflegt werden kann. 4 Schluss Die Schriftspracherwerbsforschung und die -didaktik haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erfahren. Insbesondere die Vorstellung, dass die Schriftsprachentwicklung sich als ein stufenbezogener Aufbau darstellen lässt, der durch spezifische Einsichten in die Struktur der Schriftsprache gekennzeichnet werden kann, hat in didaktischer Hinsicht erhebliche Auswirkungen auf den Unterricht gehabt - und dies dürfte dann auch nicht ohne Einfluss auf die Lehrerbildung bleiben. Der Schriftspracherwerb wird als ein Prozess der Aneignung von Strategien interpretiert, bei dem die Kinder die Strukturen der Schriftsprache immer genauer und differenzierter erfassen und dann auch nutzen können. Die Entwicklung der Sprachbewusstheit ist dabei ein entscheidender Ansatz, da die Kinder lernen, z.B. beim Verschriften noch unbekannter Wörter zunächst vom Sinn des Wortes abzusehen und auf den Sprachklang zu achten. Dabei müssen sie die einzelnen Phoneme im Lautstrom identifizieren und ihnen die entsprechenden Grapheme zuordnen. Diese Abstraktion vom bislang vertrauten Kommunikationsaspekt der Sprache erfordert von den Kindern ein erhebliches Maß an Sprachbewusstheit (und fördert sie gleichzeitig auch). Die Erfassung der Struktur der Schriftsprache soll dazu beitragen, Analphabetismus bzw. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten zu vermeiden - zumindest aber deutlich zu reduzieren. Empirische Untersuchungen scheinen diese Annahmen zu bestätigen. Die Wahrnehmung von Sprache ist jedoch keine abstrakte Fähigkeit, sondern konfundiert durch die Erfahrungen, die der Einzelne mit Sprache (mündlich und schriftlich) gemacht hat. Bei schriftsprachkompetenten Personen ist die Sprachwahrnehmung auch durch den „Filter der Schrift“ beeinflusst. Das führt dazu, dass schriftkundige Erwachsene die mündliche Sprache anders wahrnehmen als Kinder, die die Schriftsprache erst erlernen. Für Lehrer, die den Kindern die Schriftsprache vermitteln sollen, ist es also unverzichtbar, diese Unterschiede bei der Sprachwahrnehmung zu kennen und dies im Unterricht zu berücksichtigen. Ansonsten können fehlerhafte Anweisungen bei den Kindern zu Irritationen beim Aufbau der eigenen Sprachbewusstheit führen. Selbsterfahrungsübungen scheinen nach unseren Erfahrungen ein gutes Mittel zu sein, den (künftigen) Lehrern bewusst zu machen, dass Sprachwahrnehmung und Sprachverarbeitung in hohem Maße von individuellen Voraussetzungen, aber auch von der Kenntnis der Schriftsprache beeinflusst werden. Selbstreflexive Sprachbewusstheit sollte somit eine unverzichtbare Kompetenz von Grundschullehrern sein. Sprachbewusstheit und Sprachwissen in der Deutschlehrerausbildung 73 Im zweiten Teil des Beitrags wurde der Versuch vorgestellt, wie man Studierenden einen Zugang zu den Problemen des schulischen Grammatikunterrichts vermitteln kann. Als Ansatz wurde die grammatische Terminologie gewählt, da sich an ihr eine Reihe von Problemen der Grammatikvermittlung im Deutschunterricht aufzeigen lässt. Zunächst wurde den angehenden Deutschlehrern die Relevanz und Leistung sprachwissenschaftlicher Terminologie verdeutlicht. Sie hilft, Ordnungsstrukturen aufzubauen und ermöglicht erst metasprachliches Sprechen über grammatische Phänomene. Von daher ist sie unverzichtbare Basis für die Praxis des Grammatikunterrichts und der Sprachbetrachtung. Allerdings dürfen grammatische Termini nicht durch ergebnisorientierte deduktive Verfahren in Form von Listen vermittelt werden. Die Gefahr, dass die hinter den Termini stehenden Begriffe unverstanden bleiben, ist dann allzu groß. Deshalb sollten die Studierenden im Seminar durch eigene Anwendung empirischer Verfahren einen Zugang zu den Problemen des Grammatikunterrichts finden und lernen, die grammatischen Termini mit den dahinter stehenden Begriffen zu füllen. Zudem konnten zwei verbreitete Ansichten über den Grammatikunterricht zumindest in Frage gestellt werden. Es zeigte sich, dass Lateinkenntnisse offenbar nicht mehr als andere Fremdsprachen zum terminologischen Wissen beitragen. Angesichts des eklatanten Mangels an empirischen Untersuchungen zum Grammatikunterricht ist auch der zweite hier vorgestellte Befund hinsichtlich der Verfügbarkeit terminologischen Wissens im Laufe der Schulzeit von Interesse. Es konnte im Untersuchungssample nachgewiesen werden, dass Wissen von und über grammatische Termini in der Mittelstufe des Gymnasiums zwar vorhanden ist, aber schon in der Oberstufe deutlich zurückgeht. Klagen über die rudimentären Grammatikkenntnisse von Germanistikstudenten sind vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich. 5 Bibliographie Andresen, Helga (1985): Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewußtheit. Opladen. 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Manchen Bereichen - wie Infinitivformen - wurde jedoch wenig Aufmerksamkeit geschenkt; z.B. in welcher Häufigkeit oder unter welchen Bedingungen passivische (vgl. Bassola 1998) und/ oder perfektive Infinitivformen vorkommen können. Im vorliegenden Beitrag wird der erste ausführlich bearbeitete Teil eines typologischen Vergleichs von IGg zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen vorgeführt, dessen Skizze auf der X. IVG-Tagung in Paris am 26. August 2005 vorgetragen wurde. In der deutschen Fachliteratur werden für die IGg zwei Fachtermini verwendet. Die IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997) unterscheidet zwischen Infinitivkonstruktion (IK) und Infinitivsatz (IS) je nachdem, ob das übergeordnete Element zusammen mit dem Infinitiv und seinen Elementen klammerbildend ist (d.i. IK) oder nicht (d.i. IS). Im zweiten Fall können dann zwei Klammereinheiten vorliegen. Dementsprechend weisen IKk eine kohärente, ISs eine nicht kohärente Struktur auf (Zifonun et al. 1997, 1258, 2190ff.): IK: (1d) Sie wagt ihn nicht zu stören. 1 (1.1d) …, weil sie ihn nicht zu stören wagt. IS: (2d) Sie wagt nicht, ihn zu stören. (2.1d) …, weil sie nicht wagt, ihn zu stören. Das Ziel meiner Untersuchung ist es, die Eigenschaften beider Gruppen zu beschreiben, dabei bezeichne ich sie beide als Infinitivgruppen (IGg). Die Infinitivgruppen werden am häufigsten nach ihrer Dependenzstruktur gruppiert: Sie können im Deutschen und im Ungarischen von Verben, Adjektiven und Substantiven abhängen. Das Deutsche weist noch eine zusätzliche Struktur, nämlich die subjuktional eingeleiteten Adverbialsätze, 1 Zeichenerklärung: (1d) - Beispiel 1 deutsch, (3u) - Beispiel 3 ungarisch. Peter Bassola 82 auf, die aber im Ungarischen - wenn überhaupt - ohne Subjunktor vorkommen. übergeordnetes Element Dt - abhängiges Element Ung - abhängiges Element Verb IG IG Adjektiv IG IG Substantiv IG IG Subjunktor IG IG nicht möglich ohne Subjunktor Final-, Kausaladverbial etc.? ? ? Tab. 1: Abhängigkeitsstrukturen deutscher und ungarischer IGg. Im vorliegenden Beitrag beschränke ich mich vorerst auf die IGg, die von Verben abhängen. 2 Verben als Regentien von IGg Die Verben, von denen Infinitivgruppen abhängen können, werden meistens in zwei Gruppen geteilt. In die erste Gruppe gehören die Modalverben und die modalverbähnlichen Verben, in die andere die sonstigen Verben. 2.1 Modalverben als Regentien von IGg 2.1.1 Deutsche Modalverben im engeren Sinne Zu den deutschen Modalverben gehören im engeren Sinne die folgenden sechs Verben, die immer einen Infinitiv ohne „zu” fordern (vgl. Zifonun et al. 1997, 1252ff.): Dt Ung müssen kell sollen kell, Imperativ 2 (= Konjunktiv) dürfen szabad, lehet mögen/ möchte szeret(ne) wollen akar können tud, -hat 3 Tab. 2: Modalverben im Dt und im Ung. 2 Im Ungarischen wird gelegentlich für deutsches ’sollen’ der Modus ’Imperativ’ verwendet, der etwa im Sinne des deutschen Konjunktivs steht und ein vollständiges Paradigma in der Gegenwart hat. 3 Das Ungarische kann den Inhalt von ’können’ morphologisch (-hat) ausdrücken: játszhat [*spielt-können] = er kann spielen. Diese Konstruktion wird im vorliegenden Beitrag nicht behandelt. Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 83 Die deutschen Modalverben bilden mit ihren abhängigen infinitivischen Elementen immer eine kohärente Struktur, was mit dem Terminus von Zifonun et al. (1997, 1258) als IK zu bezeichnen ist. Im Hauptsatz (HS) bilden Regens und Satellit den Satzrahmen, im Nebensatz (NS) stehen beide rahmenschließend am Satzende. Im Ungarischen ist die Wortstellung des Nebensatzes die gleiche wie die des Hauptsatzes; übergeordnetes Element und Infinitiv stehen nebeneinander (3u) oder werden durch ein oder mehrere Elemente voneinander getrennt (4u, 4.1u, 4.2u). Das Modalverb trennt gelegentlich das Verbalpräfix und das Hauptverb im Infinitiv (5u): (3d) Du willst morgen nach Paris fahren. (3u) Holnap Párizsba akarsz utazni. [*Morgen Paris-in willst-du fahren.] (3.1d) weil du morgen nach Paris fahren willst. (3.1u) mert holnap Párizsba akarsz utazni. (4d) Ich konnte gestern den Brief nicht aufgeben. (4u) Nem tudtam tegnap feladni a levelet. [*Nicht konnte-ich gestern aufgeben den Brief.] (4.1u) mert nem tudtam tegnap feladni a levelet. (4.1d) weil ich gestern den Brief nicht aufgeben konnte. (4.2) mert nem tudtam tegnap a levelet feladni. (5d) Jetzt muss ich gehen. (5u) Most el kell mennem. [*Jetzt weg muss gehen-ich.] (5.1u) mert most el kell mennem. (5.2u) Nekem el kell menni. [*Mir weg muss gehen.] (5.2.1u) mert nekem el kell menni. (5.3u) Nekem el kell mennem. [*Mir weg muss gehen-ich.] (5.1d) weil ich jetzt gehen muss. (5.3.1u) mert nekem el kell mennem. (6d) Du darfst nicht nach Wien fahren. (6u) Nem szabad Bécsbe utaznod. [*Nicht frei Wien-nach fahrendu.] (6.1d) weil du nicht nach Wien fahren darfst. (6.1u) mert nem szabad Bécsbe utaznod. Die ungarischen Modalverben szeret(ne) [mögen/ möchte], akar [wollen], tud [können] werden konjugiert wie andere Verben, während kell [müssen, sollen], szabad, lehet [dürfen] sehr eingeschränkt konjugierbar sind. Sie können Tempus, Modalität, aber keine Person und keinen Numerus ausdrücken. Im unmarkierten Fall bekommt der Infinitiv die Personalendung (5u, 5.1u sowie 6u, 6.1u). Steht das logische Subjekt in der markierten Position (’nekem’ = Peter Bassola 84 mir), dann kann der Infinitiv mit (5.3u, 5.3.1u) oder ohne Personalendung (5.2u, 5.2.1u) stehen. 4 Einer einheitlichen deutschen Struktur stehen also die folgenden Variationen im Ungarischen gegenüber: deutsche Modalverben ungarische Entsprechungen 1. vollständiges Paradigma des Modalverbs 1. Entsprechungen unterschiedlicher Art: a) Modalverben mit vollständigem Paradigma: tud, akar, szeret b) Modalverben mit nur Sing. 3. Person (logisches Subjekt im Dativ): kell, lehet c) prädikatives Adjektiv (Sing. 3. Person, logisches Subjekt im Dativ): szabad 2. reiner Inf des abhängigen Elements 2.a) reiner Inf des abhängigen Elements (ohne logisches Subjekt - d.i. Dat) 2.b) und c) Inf mit Personalendung oder reiner Inf Tab. 3: Konjugation der Modalverben und die IGg im Deutschen und ihre Entsprechungen im Ungarischen. Die IDS-Grammatik gibt die Kriterien für die Modalverben in fünf Punkten an (Zifonun et al. 1997, 1253). Verben, die ebenfalls einen Inf regieren und nur im Hinblick auf ein-zwei Punkte der obigen Kriterien abweichen, werden zur abgestuften Peripherie der Modalverben (nicht brauchen, haben und sein zu + Inf etc.) und zu den Halbmodalen (pflegen, scheinen, drohen) gerechnet. Ein Teil dieser Verben hat im Ungarischen keine gesonderte lexikalische Entsprechung (7d), ein anderer Teil hat keinen Infinitiv als Rektion (8d). Nur bei einem geringen Teil steht ein Infinitiv als Satellit (9d): (7d) brauchen, haben zu + Inf (ung: kell [müssen]), sein zu + Inf (ung: kell [müssen], lehet [möglich]). (8.1d) scheinen (8.1u) t nik (8.2d) drohen (8.2u) fenyeget (9d) pflegen (9u) szokott 2.1.2 Weitere Verben In einem Beitrag über die passivischen Infinitivkonstruktionen habe ich die Verben, von denen IGg abhängen können, als Erweiterungsverben bezeich- 4 Der ungarische Infinitiv wird mit der Endung ’-ni’ gebildet. Die weiteren Varianten s. in Keszler/ Lengyel (2002, 107). Die ungarischen Personalendungen s. unten. Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 85 net (Bassola 1998). Eisenberg (2004, 349) unterscheidet elf Typen, wo die IG (unmittelbar oder mittelbar) von einem Verb abhängt. Der letzte davon gehört in meiner Zusammenstellung nicht zu den verbalen Infinitivstrukturen, sondern er wird als Adverbialsatz betrachtet. Die ausführliche Beschreibung dieses IG-Typs würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, deshalb muss ich darauf verzichten. 2.1.3 Semantische Gruppierung Die IDS-Grammatik teilt die IK-regierenden Verben nach ihrer semantischen Füllung in sechs Typen (Zifonun et al. 1997, 1388ff.) ein, wobei unter ihnen auch andere Gesichtspunkte als nur semantische erscheinen. 5 Aus Platzgründen gehe ich auf ihre Behandlung nicht ein. Ich verweise nur auf eine andere semantische Gruppierung, nämlich auf die Implikativität, die bei den sechs semantischen Gruppen mit herangezogen wird (ebd.). Nach der Implikation gibt es implikative, negativ-implikative und nicht implikative, ferner faktive Verben (Zifonun et al. 1997, 1387ff.). Bei Zusage von implikativen Verben (+ p) gilt die Wahrheit der Aussage der IK oder des Untersatzes (+ q); bei nicht-Zusage (p) gilt sie nicht (q). Im Falle der negativ-implikativen Verben besteht genau das Gegenteil: + (p) sagt - (q) voraus und umgekehrt. Die nicht implikativen Verben können über die Wahrheit der Aussage der IK nichts aussagen. „Bei den FAKTIVEN Verben hingegen, die nicht zur Familie der Implikativität gehören, präsupponiert p die Aussage q.” (Zifonun et al. 1997, 1388). implikativ negativ-implikativ nicht implikativ faktiv er brachte ihn dazu ... + (p) + (q) - (p) - (q) zwingen vergessen, abhalten + (p) - (q) - (p) + (q) scheinen, auffordern +(p) +/ - (q) keine Aussage, ob q zutrifft oder nicht bedauern, zugeben, gestehen [bei + oder - von bedauern (p) gilt der Inf (q)] Tab. 4: Semantische Gruppierung der verbalen Regentien. Obige Gruppierung gilt natürlich auch für die ungarischen Entsprechungen, selbst dann, wenn viele der Verben keine IK, sondern einen Nebensatz (NS) regieren. implikativ: jmdn zu etw bringen - rávesz vkit vmire (NS); zwingen - kényszerít (NS, ? IK? ) negativ-implikativ: vergessen - elfelejt (IK); jmdn von etw abhalten - visszatart vkit vmit l (NS) nicht implikativ: scheinen - t nik (NS); jmdn zu etw auffordern - felszólít vkit vmire (NS) faktiv: bedauern - sajnál (NS); zugeben - elismer (NS); gestehen - bevall (NS) 5 Vgl. den Typ (v): „Verben mit IK als K vrb ” (Zifonun et al. 1997, 1391). Peter Bassola 86 2.1.4 Abhängigkeitsstruktur Vergleiche ich die Abhängigkeitsstrukturen der IKk mit verbalen Regentien in den beiden Sprachen, fällt sofort auf, dass sie anders aussehen (vgl. zum Ungarischen Lengyel 2000, 231): (10d) ,Ich habe vergessen, dich anzurufen.’ (Neue Kronen-Zeitung, 01.06.1999, S. 26) (10u) Elfelejtettelek felhívni. [*Vergass-ich-dich anrufen.] habe vergessen elfelejtettelek [vergaß-ich-dich] ich anzurufen felhívni [anrufen] dich Im Deutschen regiert das übergeordnete Verb das Subjekt, das Verb im Infinitiv seinen Satelliten im Akkusativ. Im Ungarischen werden das Subjekt und das Akkusativobjekt des Inf durch das übergeordnete Verb morphologisch realisiert (elfelejtettelek = vergaß-ich-dich). Das Akkusativobjekt kann zusätzlich auch noch lexikalisch ausgedrückt werden. In diesem Fall habe ich eine doppelte Regierungsstruktur, die im übergeordneten Verb mikrostrukturell (d.i. morphologisch) und in der IK makrostrukturell (d.i. lexikalisch) erscheint (vgl. László 1988, 219ff.; Ágel 1993, 40ff.) (10.1u) Tegnap elfelejtettelek téged otthon felhívni. [*Gestern vergass-ich-dich dich zu-Hause anrufen.] elfelejtettelek [vergass-ich-dich] (tegnap) [(gestern)] (otthon) zu Hause téged [dich] felhívni [anrufen] Die gleiche Hierarchie liegt auch bei den ungarischen Modalverben mit vollständigem Paradigma vor (tud, akar, szeret). Das übergeordnete Verb bekommt die Flexion je nachdem, welches Akkusativobjekt der Inf hat: ist das eines mit bestimmtem Determinativ, dann die objektiven Konjugationsendungen, ist das eines mit unbestimmtem Determinativ oder ohne Determinativ, dann die subjektiven Konjugationsendungen: (11.1u) Holnap oda akarom adni neki a könyvet. [*Morgen hin will-ich-es geben ihm das Buch.] (11.2u) Holnap akarok adni neki egy könyvet. [*Morgen will-ich geben ihm ein Buch.] Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 87 3 Welche Kategorien des Verbs können Infinitive zum Ausdruck bringen? Kategorien des Verbs Dt - Inf Ung - Inf Person eindeut. Hinweis eindeut. Hinweis, Konjugationsmöglichkeit Numerus eindeut. Hinweis eindeut. Hinweis, Konjugationsmöglichkeit Aspekt/ Tempus relatives Tempus (Gleich- und Nachzeitlichkeit) nur Gleichzeitigkeit Genus Aktiv - Passiv nur Aktiv Modus nur durch Modalverb nur durch Modalverb Tab. 5: Kategorien des Verbs und ihre Ausdruckmöglichkeiten im Infinitiv. Tabelle 5 gibt einen allgemeinen Überblick darüber, wie die einzelnen Kategorien des Verbs im IS zum Ausdruck kommen. Im Weiteren gehe ich auf die Kategorien ein. 3.1 Person, Numerus → Orientierung Dt Ung Subjektorientierung Subjektorientierung Objektorientierung - Akkusativ- - Dativ- - Präpositional- - Dativobjektorientierung bei den Verben kell, lehet u.a., prädikativen Adjektiven und Substantiven számára [für jmdn], részér l [seitens jmds](bei Adj und Subst) - Konjugierter Inf mit Personalendung (vgl. Lengyel 2000, 231) bei präd. Adjektiv und Substantiv: allgemeines Subjekt bei präd. Adjektiv und Substantiv: allgemeines Subjekt Tab. 6: Orientierung bei Verben, Adjektiven und prädikativen Substantiven. Im Deutschen und im Ungarischen kommt am häufigsten die Subjektorientierung vor, wo das Subjekt des Obersatzes Subjekt der IK ist: (12d) Ich habe wieder vergessen, die Zeitung zu kaufen. (12u) Megint elfelejtettem megvenni az újságot. [*Wieder vergaß-ich kaufen die Zeitung.] Relativ häufig findet sich im Deutschen Objektorientierung, und zwar alle Variationen, d.h. nach Akkusativ- (13d), Dativ- (14d) und etwas seltener Präpositionalobjekt (15d): (13d) Ich habe ihn gebeten, das Auto in die Werkstatt zu bringen. Peter Bassola 88 (14d) Der Arzt hat mir nicht erlaubt, morgen zu arbeiten. (15d) Ich erwarte von dir, alle Fehler zu beheben. Im Ungarischen findet sich Dativobjektorientierung bei den Verben ’kell’, ’lehet’ und bei Adjektiven wie ’szabad’ (s. oben bei den Modalverben) u.a. Wie oben bereits gesehen ist aber im Ungarischen das Dativobjekt nicht unbedingt nötig, um das logische Subjekt anzuzeigen, weil der Inf mit seiner Personalendung das Subjekt ebenfalls festlegen kann. So gibt es drei Varianten: (16u) Nem szabad itt maradnod. (Du darfst nicht hier bleiben.) [*Nicht frei hier bleiben-du.] (16.1u) Neked nem szabad itt maradnod. (Du darfst nicht hier bleiben.) [*Dir nicht frei hier bleiben-du.] (16.2u) Neked nem szabad itt maradni. (Du darfst nicht hier bleiben.) [*Dir nicht frei hier bleiben.] Bei übergeordnetem Verb oder prädikativem Adjektiv kann der Inf im Ungarischen konjugiert und somit im Hinblick auf Person und Numerus unmittelbar bestimmt werden. Es gibt ein vollständiges Paradigma, allerdings nur im Indikativ der Gegenwart (17u). Weitere Tempora, z.B. Vergangenheit (18u), und Modi, z.B. Konditional (19u), werden durch das regierende Verb oder das Nominalverb des prädikativen Adjektivs ausgedrückt: (17u) dolgozni: → Dolgoznom kell. (Ich muss arbeiten.) [*Arbeiten-ich muss] (17.1u) Ma még nem szabad dolgoznod. (Heute darfst du noch nicht arbeiten.) [*Heute noch nicht frei arbeiten-du.] (18u) Tegnap is dolgoznom kellett. (Ich musste auch gestern arbeiten.) [*Gestern auch arbeiten-ich musste.] (18.1u) Tegnap még nem volt szabad dolgoznod? (Durftest du gestern noch nicht arbeiten? ) [*Gestern noch nicht war frei arbeiten-du? ] (19u) Dolgoznom kellene. (Ich müsste arbeiten.) [*Arbeiten-ich müsste.] (19.1u) Dolgoznom kellett volna. (Ich hätte arbeiten müssen.) [*Arbeiten-ich musste hätte.] (19.2u) Nem lenne szabad dolgoznod. (Du dürftest nicht arbeiten.) [*Nicht wäre frei arbeiten-du.] dolgoznom (arbeiten-ich) dolgoznod (arbeiten-du) dolgoznia (arbeiten-er-sie-es) dolgoznunk (arbeiten-wir) dolgoznotok (arbeiten-ihr) dolgozniuk (arbeiten-sie) Tab. 7: Konjugation des ungarischen Inf. Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 89 Die Personalendungen stimmen z.T. mit den Personalendungen der objektiven Konjugation und zugleich mit den Possessivendungen überein (vgl. Lengyel 2000, 246f.): objektive Konjugation im Ung csinál - machen Possessivendungen im Ung bor - Wein csinálom (mache-ich-es) borom (Wein-mein) csinálod (machst-du-es) borod (Wein-dein) csinálja (macht-er(-sie-es)-es) bora (Wein-sein) csináljuk (machen-wir-es) borunk (Wein-unser) csináljátok (macht-ihr-es) borotok (Wein-euer) csinálják (machen-sie-es) boruk (Wein-ihr) Tab. 8: Vergleich der objektiven Konjugation und der Possessivendungen im Ungarischen. Vgl. noch Kiefer (1998, 220) und Keszler/ Lengyel (2002, 111), wo die Personalendungen des Infinitivs mit den possessiven Personalendungen identisch sind. Auf weitere Fälle im Deutschen, wo Alternativorientierungen möglich sind (s.o. Tab. 6), oder im Ungarischen, wo IK von Adjektiven oder Substantiven abhängen, gehe ich aus Platzgründen nicht ein. 3.2 Aspekt/ Tempus Die deutschen Infinitive verfügen - im Gegensatz zum Ungarischen - über beide Aspektformen, wie Infinitiv Imperfekt und Infinitiv Perfekt: Dt - Inf Imperfekt Dt - Inf Perfekt Ung - Inf kommen machen gekommen sein gemacht haben jönni csinálni Tab. 9: Infinitiv im Deutschen und im Ungarischen. Das Deutsche drückt somit einen relativen Zeitbezug aus, d.h. mit dem Infinitiv Imperfekt die Gleichzeitigkeit und die Nachzeitigkeit und mit dem Infinitiv Perfekt die Vorzeitigkeit. Der Inf Perfekt macht sich im Hinblick auf das Tempus von der Zeit des konjugierten Verbs sozusagen selbständig (vgl. Zifonun et al. 1997, 1701f.). Vorzeitigkeit kann im Ungarischen nur durch den Nebensatz ausgedrückt werden. Gleichzeitigkeit Vorzeitigkeit (17d) Das Kind scheint die Aufgabe zu verstehen. (17.1d) Das Kind scheint die Aufgabe verstanden zu haben. (17u) A gyerek megérteni látszik a (17.1u) Úgy látszik, (hogy) a gyerek Peter Bassola 90 feladatot. [*Das Kind verstehen scheint die Aufgabe] megértette a feladatot. [*So scheint, (dass) das Kind verstand die Aufgabe.] 3.3 Genus Im Deutschen können beide Genera verbi auch im Infinitiv erscheinen, somit sind in den beiden Aspekten insgesamt sechs Infinitivformen aufzufinden. Im Ungarischen dagegen gibt es nur eine einzige Infinitivform, da hier auch kein Passiv vorkommt. Imperfekt Perfekt Aktiv: machen gemacht haben Vorgangspassiv: gemacht werden gemacht worden sein Zustandspassiv: gemacht sein gemacht gewesen sein Tab. 10: Mögliche Infinitivformen im Deutschen. Über die passivischen IKk, die von Verben abhängen, habe ich an anderen Stellen geschrieben. Ob die passivische IK möglich ist, wird von der Semantik und Valenzstruktur des übergeordneten Verbs bestimmt. Für das Gegenwartsdeutsch habe ich eine Typologie aufgestellt: a) Verben, von denen passivische IKk abhängen können; b) Verben, von denen solche wegen semantischer Blockierung nicht abhängen können; c) Verben, von denen solche wegen struktureller Blockierung nicht abhängen können; d) Zweifelsfälle (Bassola 1998). Es muss angemerkt werden, dass die Möglichkeit der Anwendung der passivischen IK über das regierende Verb hinaus auch sehr stark vom Kontext abhängt. Die Problematik habe ich auf Grund des historischen Korpus im COS- MAS des Instituts für Deutsche Sprache auch im Hinblick auf das 18. und 19. Jahrhundert untersucht und festgestellt, dass die semantische Skala der IK regierenden Verben breiter ist als heute und ihre Semantik von der passiven Kenntnisnahme bis hin zur aktiven Einwirkung reicht (Bassola 2002). 3.4 Modus Von den Modi verbi (im Deutschen Indikativ, Konjunktiv und Imperativ, im Ungarischen Indikativ, Konditional und Imperativ mit dem vollständigen Paradigma, oft auch in Funktion des deutschen Konjunktivs) erscheint im Inf in beiden Sprachen nur der sog. Grundmodus, der Indikativ. Modalverben können aber in beiden Sprachen neben dem Infinitiv eines Vollverbs erscheinen, zumindest mit einer gewissen Einschränkung. Während im Deutschen ’können’, ’dürfen’, ’müssen’, ’wollen’ sozusagen unbegrenzt aufzufinden sind, habe ich in den schriftlichen Corpora des COSMAS Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 91 insgesamt nur 34 Belege für ’sollen’ und einen einzigen Beleg für ’mögen’ gefunden. (18d) Die noch nicht unterschriftsbereite Stadt Offenbach verhandelt laut Lach noch über die ihr entstehenden Betriebskosten; im Rathaus mag man nicht einsehen, für eine dichtere Zugfolge zahlen zu sollen, obwohl die Stadt selbst daraus keine Vorteile für sich zu erkennen vermag. (R97/ FEB.09518 Frankfurter Rundschau, 06.02.1997, S. 1, Ressort: N; Wenn die Stadt Offenbach mitspielt, kann der Zusatzvertrag am 21. Februar unterzeichnet werden) (19d) Tatsächlich konzentriert sich alles immer mehr auf ihn. Für die Niederländer Ruud Lubbers [sic! ] scheint sich in den Gängen der Brüsseler NATO-Zentrale niemand so recht erwärmen zu mögen. (COSMAS: M95/ 510.24976: Mannheimer Morgen, 21.10.1995, Politik; Das politische Aus für Willy Claes) Im Ungarischen erscheinen nur tud (können) und akar (wollen) ziemlich selten in Infinitivform neben einem anderen Inf. (20u) A betegség lek zdéséhez fontos volt akarni meggyógyulni. [*Der Krankheit Bekämpfung-zu wichtig war wollen heilen] (Zur Bekämpfung der Krankheit war es wichtig, geheilt werden zu wollen.) Gelegentlich kann in beiden Sprachen von einem Inf ein weiterer Inf abhängen. Aber auch der mehrfache Infinitivanschluss kommt im Deutschen wesentlich häufiger vor als im Ungarischen: (21d) Klapproth fährt in die Großstadt zu seinem Neffen und bittet ihn, ihm dabei zu helfen, eine geeignete Einrichtung zu finden. (Mannheimer Morgen, 03.09.2004, Ressort: Mannheim; Geschichten mit Pfiff) (22d) Ich bitte dich, mir zu helfen, den Koffer zu packen. (22u) Gyere segíteni összecsomagolni. [*Komm helfen zusammenpacken.] 4 IS vs. NS - ein Vergleich: Deutsch - Ungarisch In den obigen Analysen habe ich bereits den Eindruck gewonnen, dass IKk im Deutschen häufiger verwendet werden als im Ungarischen. Ich will nun - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - deutsche und ungarische Verben, von denen IKk abhängen können, einander gegenüberstellen. Dazu ziehe ich VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben (2004) und das Rektionswörterbuch ungarischer und deutscher Verben von László/ Szanyi (1999) heran. Inf in beiden Sprachen: anfangen, beabsichtigen, sich beeilen, beginnen, es gelingt mir, hassen, es langweilt mich, lieben es, planen, scheinen, vergessen, versuchen, vorhaben, wagen, wünschen. ACI-Verben. Peter Bassola 92 Inf nur im Dt: aufhören, behaupten, sich beklagen/ klagen, beschließen, bitten, sich entschließen, erlauben, empfehlen, ermöglichen, sich freuen, genehmigen, gestatten, glauben, haben zu, hindern, hoffen, sein zu, sich verabreden, sich vereinbaren, verlangen von jmdm, verzichten darauf, warnen, (nicht) zweifeln daran. Inf nur im Ung: keine Die Listen könnten noch fortgesetzt werden. Allerdings steht fest, dass es im Ungarischen wesentlich weniger Verben gibt, von denen IKk abhängen können. Die zweite Gruppe, in der deutsche Verben mit IKk angeführt sind und deren ungarische Entsprechung keinen Inf als Rektion hat, ist am stärksten; hier steht der deutschen IK immer ein ungarischer NS gegenüber. Und es gibt kein ungarisches Verb mit IK, dem nicht ein deutsches Verb mit IK entsprechen würde. ACI-Verben gibt es in beiden Sprachen: (23d) Ich sehe dort den neuen Kollegen kommen. (23u) Az új kollégát látom ott jönni. [*Den neuen Kollegen sehe-ich dort kommen.] 5 Zusammenfassung und Ausblick 1. Ein auffallender Unterschied zeigt sich im Hinblick auf die Flektierbarkeit: Der ung Inf ist konjugierbar, wobei Person und Numerus bestimmt werden. Weitere Analysen sollen entscheiden, ob diese Endungen wirklich als Konjugationsendungen oder eben als Possessivendungen des Substantivs an den Inf angehängt werden. Im Dt muss auch überprüft werden, ob „zu” als grammatikalisierte Präposition vor dem Inf erscheint, was den Status des Inf als Substantiv stärken würde. 2. Weitere Kategorien wie Aspekt/ Tempus bzw. Genus-Varianten können im dt Inf zum Ausdruck gebracht werden, was im Ung nicht möglich ist, zum einen, weil im Ung nur ein Genus verbi, nämlich aktiv, existiert, zum anderen, weil nur eine synthetische Infinitivform, und zwar Infinitiv Imperfekt vorkommt. 3. Die Orientierung im Dt unterliegt gewissen Regeln, wobei auch Alternativorientierungen möglich sind. Im Ung dagegen herrscht weitgehend Subjektorientierung vor, Objektorientierung (Dativ-) findet sich nur bei zwei Verben (kell, lehet) und präbzw. postpositionale Orientierung bei prädikativen Adjektiven und Substantiven. 4. Ein auffallender Unterschied zwischen den beiden Sprachen besteht im Hinblick auf die Frequenz. Im Dt werden in allen Abhängigkeitsgruppen viel häufiger ISs verwendet als im Ung. Es kommen im Ung auch keine durch Konjunktion eingeleiteten ISs vor. Von Verben abhängige Infinitivgruppen im Deutschen und im Ungarischen 93 6 Abkürzungen und Symbole Adj - Adjektiv K vrb verbatives Komplement Dt - Deutsch NS - Nebensatz HS - Hauptsatz Subst - Substantiv IG - Infinitivgruppe Ung - Ungarisch IK - Infinitivkonstruktion (1d) - Beispiel 1 deutsch Inf - Infinitiv IS - Infinitivsatz (3u) - Beispiel 3 ungarisch 7 Bibliographie 7.1 Quellen COSMAS - Die zitierten Beispiele sind aus dem elektronischen Korpus des Instituts für deutsche Sprache (IDS). Mannheim. 7.2 Literatur Ágel, Vilmos (1993): Ist die Dependenzgrammatik wirklich am Ende? Valenzrealisierungsebenen, Kongruenz, Subjekt und die Grenzen des syntaktischen Valenzmodells. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik XXI, 20-70. Bassola, Peter (1998): Erweiterungsverben mit passivischen Infinitivkonstruktionen. In: Sprachwissenschaft 23/ 1, 33-84. Bassola, Peter (2002): Erweiterungsverben mit passivischen Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus. 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Stojan Bra i Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? Zu einigen lexikographischen Fragestellungen aus der Perspektive eines Auslandsgermanisten In diesem Beitrag möchte ich auf einige sprachliche Probleme eingehen, die ich besonders aus der Perspektive des nicht-muttersprachlichen Germanisten interessant finde. Hauptsächlich geht es um solche Fragen, die meines Wissens nach in einsprachigen deutschen Wörterbüchern z.T. erfasst und erklärt sind, jedoch nicht systematisch genug und unvollständig. Es handelt sich um sprachliche Phänomene, die einem Muttersprachler u.U. gar nicht auffallen, uns Nicht-Muttersprachlern allerdings Probleme bereiten können, ohne dass wir immer eine entsprechende Antwort in verschiedenen Handbüchern/ Lexika oder von Muttersprachlern (etwa nach dem Motto „Das ist so richtig, aber fragen Sie mich nicht, warum.“) erhalten. Hier eröffnet sich im Rahmen einer andragogischen Sprachförderung, zu welcher u.a. das Lehren und Lernen einer Fremdsprache gehören (Greule/ Ahlvers-Liebel 1986, 71), ein Gebiet, wo die inländische und die ausländische Germanistik Hand in Hand produktiv zusammenarbeiten können, wo die Inlandsgermanistik auch was von der Auslandsgermanistik übernehmen, ja darin eine Art Anwendungsbereich finden könnte (vgl. Petkov (2005, 72) zu spezifischen Forschungs- und Ausbildungsbereichen der nicht-muttersprachlichen Germanistik in einem nicht-deutschsprachigen Land). Dieser Beitrag besteht im Wesentlichen aus drei Teilen. Im 1. Teil (Problemstellung) liste ich einige dieser sprachlichen Schwierigkeiten auf, und zwar in folgender Reihenfolge: Lexik (Valenz und Rektion, Präpositionen, Wortfamilien, Synonyme mit semantischen Restriktionen im Gebrauch, Phraseologismen), Phonetik (Aussprache) und Grammatik (Morphologie). Die Belege sind nicht systematisch gesammelt worden, sondern zufällig, eben im alltäglichen Kontakt eines Nicht-Muttersprachlers mit der deutschen Sprache bzw. mit einsprachigen deutschen Lexika. 1 Im 2. Teil versuche ich, auf die im 1. Teil gestellten Fragen in einigen Standardwerken Ant- 1 Zwischendurch entdeckt man in Wörterbüchern auch Druckfehler oder andere Unzulänglichkeiten, von denen einige hier erwähnt werden sollen: Duden (2001): unter Stichwort abbrechen: die Verbimdung brach ab (statt: Verbindung) Duden (2001): Seite 43 - Partizip Perfekt von bitten geboten (statt gebeten) In Duden (2001) wird bei der orthographischen Dublette verknäueln/ verknäulen auf das Verb knäueln verwiesen, das übrigens im Wörterbuch nicht auffindbar ist. Wahrig (2000): Seite 1268 - Kaft (statt Kraft). Stojan Bra i 96 worten zu finden, vor allem in Duden (2001), Wahrig (2000) und Langenscheidt (2003). Im 3. Kapitel gehe ich der Frage nach, ob bzw. inwiefern die z.Z. bestehenden Wörterbücher für den fremdsprachlichen Gebrauch u.U. verbessert werden könnten. 1 Die Problemstellung Als Nicht-Muttersprachler kann man auf solcherart Fragen stoßen: A. Lexik I. Valenz und Rektion beim Verb, Nomen und Adjektiv 1. Kann man sagen: Die Vermutung einer Verschwörung? Oder ist hier eher eine Präposition (etwa / von, über/ 2 ) zu gebrauchen? 2. Gibt es Unterschiede in der Rektion bei Verben, Substantiven und Adjektiven aus derselben Wortfamilie - z.B. sich begeistern - Begeisterung begeistert? 3. Sich freuen wird manchmal mit auf, manchmal mit über verwendet. Womit hängt das zusammen? II. Wortfamilien 4. Die Ausrede ist laut Langenscheidt (2003) „ein (angeblicher) Grund, der als Entschuldigung vorgebracht wird“. Gibt es auch ein entsprechendes Verb / sich ausreden/ ? 5. Das Kompositum der Kostenvoranschlag (laut Langenscheidt (2003) „die (ungefähre) Angabe des Preises aufgrund von Berechnungen, den e-e Arbeit od. Leistung (voraussichtlich) kosten wird“) lässt vermuten, dass man auch die Kosten / voranschlagen/ sagen könnte? Ist dem wirklich so? 6. Das Adjektiv aufdringlich bedeutet laut Langenscheidt (2003) „immer wieder belästigend, störend“. Kann man daraus das Verb / jd. dringt sich auf/ ableiten? 7. Kann man sagen: eine neue Arbeitsmethode ertüfteln/ (in Analogie zu ersinnen)? III. Synoyme mit semantischen Restriktionen im Gebrauch 8. Die Synonyme verhören und vernehmen: Kann man sagen / einen Zeugen verhören/ , / einen Gefangenen vernehmen/ ? IV. Phraseologismen 9. Mit klappern soll es eine Wendung geben, die in etwa die Bedeutung / man muss ohne falsche Bescheidenheit auf seine Leistungen aufmerksam machen/ hat. Wo soll ich das nachschlagen? 10. Soll ich im Phrasologismus Gras wächst über et. - einen Akkusativ oder einen Dativ verwenden? V. Aussprache 2 Zwischen zwei schrägen Strichen stehen hypothetische Varianten. Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 97 11. Umfassend - im deutschen und österreichischen Rundfunk hört man konsequent die Betonung dieses Lexems auf der 1. Silbe (´umfassend). Ist auch die Betonung auf der 2. Silbe (um´fassend) richtig? B. Morphologie VI. Perfekt mit haben oder sein? 12. Eine Menge deutscher Verben sind für Nicht-Muttersprachler problematisch, weil man im Zweifel ist, ob man bei ihnen das Perfekt mit dem Hilfsverb haben oder dem Hilfsverb sein bildet. VII. Partizip des Perfekts 13. Einige deutsche Verben bilden das Partizip des Perfekts ohne Präfix ge-, z.B. Fremdwörter auf -ieren. Wie ist das Partizip des Perfekts beim Verb stibitzen? VIII. Imperative von starken und unregelmäßigen Verben 14. Wie ist die Imperativform des Verbs werden? 2 Was sagen dazu die Wörterbücher? Vorbemerkung zur Arbeitsweise: In der folgenden Recherche werden systematisch drei Wörterbücher benutzt: Duden (2001) - Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim: Brockhaus, Langenscheidt (2003) - Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, Berlin und München: Langenscheidt, Wahrig (2000) - Deutsches Wörterbuch, München: Bertelsmann; andere Wörterbücher (s. Bibliographie) jedoch nur stellenweise. A. Lexik I. Valenz und Rektion beim Verb, Nomen und Adjektiv 1. Kann man sagen: Die Vermutung einer Verschwörung? Oder ist hier anstatt des Genitivattributs eher eine Präposition (etwa / von, über/ ) zu gebrauchen? Ergebnis der Recherche: In keinem der obigen drei Wörterbücher finde ich eine Antwort darauf. Durch Zufall stoße ich in Duden (2001) unter Stichwort Verdacht auf folgende Erklärungsparaphrase: „Verdacht - argwöhnische Vermutung einer bei jmdm. liegenden Schuld, einer jmdn. Betreffenden schuldhaften Tat od. Absicht“. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Alle Substantive (und freilich Verben und Adjektive) sollten valenzmäßig vollständig präsentiert werden. 2. Gibt es Unterschiede in der Rektion bei Verben, Substantiven und Adjektiven aus derselben Wortfamilie? - Ich weiß, dass das Reflexivverb sich begeistern mit dem Präpositionalobjekt „für etwas“ Stojan Bra i 98 steht. Haben wir dieselbe Präposition auch beim Substantiv Begeisterung und beim Adjektiv begeistert? Ergebnis der Recherche: In Duden (2001) finde ich zunächst, dass sich begeistern auch mit „an“ stehen kann und sogar ohne Objekt. (Aus den angeführten Belegen („ich begeistere mich an der Landschaft, der Junge kann sich noch begeistern“) kann ich jedoch nicht eindeutig bzw. klar auf den möglichen semantischen Unterschied schließen.) Beim Substantiv Begeisterung finde ich in allen drei Wörterbüchern die Präposition „über“. Beim Adjektiv begeistert ist laut Duden (2001) und Langenscheidt (2003) die Präposition „von“ zu gebrauchen, in Wahrig (2000) gibt es keine diesbezügliche Information. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Ein Verweis bei den einzelnen Lemmata (z.B. bei sich begeistern: NB die Begeisterung „über“, begeistert „von“) wäre sehr nützlich. Zu semantischen Unterschieden bei verschiedenen Präpositionen sollten möglichst eindeutige Belege angeführt werden. 3. Sich freuen wird manchmal mit „auf“, manchmal mit „über“ verwendet. Womit hängt das zusammen? Ergebnis der Recherche: In den einschlägigen Wörterbüchern findet man u.a. folgende Eintragungen: Duden (2001): „wir freuen uns auf den Ausflug (erwarten ihn freudig), sich über seinen Erfolg freuen“ (ohne Erklärung) Wahrig (2000): „wir freuen uns schon auf die Ferien, ich habe mich über seinen Besuch gefreut“ (im Pf.) (ohne Erklärung) Langenscheidt (2003): „sich über einen Anruf freuen (wegen et. ein Gefühl der Freude empfinden)“. Man ist geneigt, daraus auf einen gewissen Einfluss des Tempusgebrauchs zu schließen. Aber: Kann man nicht auch sagen / ich habe mich auf seinen Besuch gefreut, ich werde mich über deinen Anruf freuen/ ? Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Es wäre exakter zu erklären, dass die Präposition „auf“ dann steht, wenn sie sich auf etwas zum Zeitpunkt des Freudegefühls (und nicht immer auch des Sprechzeitpunktes) Nachzeitiges bezieht (/ ich freue mich auf seinen (morgigen) Besuch/ ) sich freuen (auf) sein Besuch davon sprechen aber auch in der Vergangenheit / ich habe mich auf seinen Besuch gefreut/ sich freuen (auf) - Besuch bekommen - davon sprechen Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 99 (ich wusste, dass er kommen würde), während „über“ für etwas steht, was dem Gefühl des Freuens (und nicht immer dem Zeitpunkt des Sprechens) zeitlich vorausgeht: / ich freue mich über die bestandene Prüfung/ , die Prüfung bestehen sich freuen (über) davon sprechen jedoch auch für die Zukunft / ich werde mich über die bestandene Prüfung freuen/ davon sprechen - Prüfung bestehen - sich freuen (über) (wenn ich nicht gescheitert sein werde). II. Wortfamilien 4. Die Ausrede ist laut Langenscheidt (2003) „ein (angeblicher) Grund, der als Entschuldigung vorgebracht wird“. Gibt es auch ein entsprechendes Verb / sich ausreden/ ? Ergebnis der Recherche: Weder in Duden (2001) noch in Langenscheidt (2003) oder Wahrig (2000) gibt es ein Verb / sich ausreden/ mit der gesuchten Bedeutung. Es fehlen auch jegliche Verweise. Auf Umwegen ergibt sich, dass zu diesem Zweck das Verb sich herausreden verwendet wird. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Ein Verweis auf sich herausreden beim Stichwort Ausrede und/ oder ein Gegenverweis auf Ausrede beim Verb sich herausreden würde im Wörterbuch wenig Platz einnehmen, einem Nicht-Muttersprachler jedoch das Lernen erleichtern und seine Kompetenz erweitern. 5. Das Kompositum der Kostenvoranschlag (laut Langenscheidt 2003 „die (ungefähre) Angabe des Preises aufgrund von Berechnungen, den e-e Arbeit od. Leistung (voraussichtlich) kosten wird“) lässt vermuten, dass man auch die Kosten / voranschlagen/ sagen könnte? Ist dem wirklich so? Ergebnis der Recherche: In keinem der genannten Wörterbücher ist das Verb / voranschlagen/ zu finden. In Duden (2001) findet man bei Kostenvoranschlag u.a. die Erklärung „Veranschlagung von Kosten im Voraus“. Vielleicht gibt es ein Verb / die Kosten veranschlagen/ ? Die Vermutung wird bestätigt, man findet unter veranschlagen die entsprechende Worterklärung - sowohl in Duden (2001), Wahrig (2000) und Langenscheidt (2003). Aber unter veranschlagen gibt es keinen Verweis auf Voranschlag. Und bei Voranschlag keinen Verweis auf veranschlagen. Stojan Bra i 100 Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Ein Verweis auf die Kosten veranschlagen beim Stichwort Kostenvoranschlag und/ oder ein Gegenverweis auf Kostenvoranschlag beim Syntagma die Kosten veranschlagen würde im Wörterbuch wenig Platz einnehmen, einem Nicht- Muttersprachler jedoch viel bedeuten und seine Kompetenz erweitern, denn das Memorieren von Vokabeln scheint - in ein System eingebunden - erfolgreicher, als wenn nur einzelne isolierte Lexeme eingeprägt werden müssen. 6. Das Adjektiv aufdringlich bedeutet laut Langenscheidt (2003) „immer wieder belästigend, störend“. Kann man daraus hypothetisch auf die Existenz eines Verbs / jd. dringt sich auf/ schließen? Ergebnis der Recherche: In keinem der genannten Wörterbücher findet man das Verb / sich aufdringen/ , es gibt aber auch keinen Verweis auf ein adäquates Verb, wie man es etwa im Wörterbuch von Augst (1998) findet: sich aufdrängen. In Wahrig (2000) findet man als Paraphrase zu aufdringlich das Partizip sich aufdrängend. Aber auch beim Verb sich aufdrängen gibt es in keinem der genannten Wörterbücher einen expliziten Verweis auf das entsprechende Adjektiv aufdringlich, wenn man von „in aufdringlicher Weise“ in Duden (2001) und von „aufdringlich werden“ in Wahrig (2000) absieht. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Explizite Verweise wie in 4. und 5. wären wünschenswert. 7. Kann man sagen eine neue Arbeitsmethode / ertüfteln/ (in Analogie zu ersinnen)? Ergebnis der Recherche: / Ertüfteln/ ist in den verwendeten drei Wörterbüchern nicht zu finden. In diesen ist unter tüfteln ebenfalls kein diesbezüglicher Verweis vorhanden. Auch nicht in Langenscheidt (2003), in dem einige andere Belege der Wortfamilie zum Stichwort tüfteln angeführt sind, wie z.B. Tüftelarbeit, Tüftler, Tüftlerin. Erst in Augst (1998) finden man in dieser Wortfamilie auch die Präfigierung austüfteln mit der gesuchten Bedeutung. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Schon ein kurzer Hinweis auf et. austüfteln im Rahmen des Lemmas tüfteln wäre zu Lehrzwecken von Nicht-Muttersprachlern von großem Wert. (S. auch Verbesserungsvorschlag B weiter unten.) Wenn das noch mit dem Vermerk „umgangssprachlich“ versehen würde, umso besser. (Obwohl diese Markierung nicht einheitlich ist und etwa in Wahrig 2000 nicht vorkommt.) III. Synoyme mit semantischen Restriktionen im Gebrauch 8. Die Synonyme verhören und vernehmen: Kann man sagen / einen Zeugen verhören/ , / einen Gefangenen vernehmen/ ? Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 101 Ergebnis der Recherche: In Duden (2001) findet man u.a. die Belege „den Angeklagten verhören“, „einen Zeugen, den Angeklagten vernehmen“. Auch Wahrig (2000) führt beide Möglichkeiten an: „den Täter, den Zeugen vernehmen“; unter verhören steht nur: „er wurde verhört“. Langenscheidt (2003) macht den Unterschied: „verhören: einen Verdächtigen“ und verweist auf vernehmen - „NB: einen Zeugen vernehmen.“ Bei vernehmen gibt es jedoch keinen Verweis auf verhören. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Man kann offenbar einen Zeugen und einen Täter vernehmen, aber nur einen Täter verhören (den Zeugen jedoch nicht). Im Lernprozess ist ein solches Prozessieren in verschiedenen Wörterbüchern, das sogar logisches Denken und Vergleichen voraussetzt, etwas umständlich. Klare Anweisungen wären effektiver. 3 IV. Phraseologismen 9. Mit klappern soll es eine Wendung geben, die in etwa die Bedeutung / man muss ohne falsche Bescheidenheit auf seine Leistungen aufmerksam machen/ hat. Wo soll ich das nachschlagen? Ergebnis der Recherche: In Duden (2001) findet man unter klappern diese Wendung nicht. Auch in Langenscheidt (2003) nicht. In Wahrig (2000) steht „Klappern gehört zum Handwerk: man muss sein Können auch ein wenig anpreisen“. Im Nachhinein ist auch in Duden (2001) dieselbe Wendung zu finden, jedoch lediglich unter dem Stichwort Handwerk, in Langenscheidt (2003) jedoch auch unter Handwerk nicht. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Es wäre hilfreich, wenn bei den Eintragungen aller Phraseologismen auch Verweise auf andere Komponenten des jeweiligen Phraseologismus angeführt würden (wie das in vielen englischen Wörterbüchern der Fall ist, wie z.B. in Longman 1987 und Oxford 2000). In Duden (2001) könnte bei klappern auf Handwerk verwiesen werden. Es wäre außerdem nützlich, wenn in Wörterbüchern, besonders in denjenigen, die für die Verwendung durch Nicht-Muttersprachler gedacht sind, alle wesentlichen Lexeme und Phraseologismen erfasst würden, ohne im Einzelnen unbedingt auch semantisch ausgearbeitet oder belegt werden zu müssen. (S. weiter unten Verbesserungsvorschlag B.) 10. Soll ich im Phrasologismus Gras wächst über et. - einen Akkusativ oder einen Dativ verwenden? 3 Solche Unterschiede müssten konsequent und systematisch durchgearbeitet werden. Ein ähnliches Synonympaar ist z.B. auch gefangen nehmen und verhaften/ festnehmen. Stimmt es, dass das erste Verb nur im Krieg/ beim Militär gebräuchlich ist, das zweite jedoch mit Bezug auf die Polizei? Stojan Bra i 102 Ergebnis der Recherche: In Duden (2001) findet man den Beleg "darüber ist längst Gras gewachsen“, der diesbezüglich keine Information liefert. Wahrig (2000) ist hier aufschlussreicher mit dem Beleg: „über die Sache ist längst Gras gewachsen“. In Langenscheidt (2003) steht explizite Angabe „über etw. (Akk) wächst G.“ Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: In solchen Fällen wünscht sich ein Nicht-Muttersprachler nicht nur anschauliche Belege, sondern auch explizite Angaben, die der Bewusstmachung grammatischer Strukturen dienen. V. Aussprache 11. Umfassend - im deutschen und österreichischen Rundfunk hört man konsequent die Betonung dieses Lexems auf der 1. Silbe (´umfassend). Ist auch die Betonung auf der 2. Silbe (um´fassend) richtig? Ergebnis der Recherche: In Duden (2001), Wahrig (2000) und Langenscheidt (2003), aber auch im Aussprachewörterbuch von Duden (2005) ist nur die Betonung auf der 2. Silbe (um´fassend) vermerkt. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Kann es eine Tendenz sein, die in Wörterbüchern noch nicht registriert wurde? Eine Klärung dieser Frage wäre wünschenswert. B. Morphologie VI. Perfekt mit haben oder sein? 12. Eine Menge deutscher Verben sind für Nicht-Muttersprachler problematisch, weil man im Zweifel ist, ob man bei ihnen das Perfekt mit dem Hilfsverb haben oder dem Hilfsverb sein bildet, zumal einige davon transitiv sind. Zu solchen Verben gehören beispielsweise angehen, durchgehen, ablaufen, fehlschlagen. Ergebnis der Recherche: Das Verb angehen in der Bedeutung ein Problem, ein Thema angehen (zu lösen versuchen) kann nach Duden (2001) und Langenscheidt (2003) das Perfekt mit haben bilden, im österreichischen bzw. süddeutschen und schweizerischen Sprachgebrauch jedoch auch mit sein. Wahrig (2000) führt nur die Variante mit haben an. Das Verb durchgehen in der Bedeutung schwierige Aufgaben durchgehen (im Sinne von überprüfen) bildet nach Duden (2001) das Perfekt mit sein (seltener mit haben), nach Wahrig (2000) nur mit haben, nach Langenscheidt (2003) nur mit sein. Zum Verb ablaufen in der Bedeutung ein Gebiet ablaufen (daran suchend entlang gehen) bilden Duden (2001) und Langenscheidt (2003) das Perfekt mit haben oder sein, Wahrig (2000) nur mit haben. Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 103 Das Verb fehlschlagen (misslingen) steht laut Duden (2001) und Langenscheidt (2003) im Perfekt mit sein, laut Wahrig (2000) mit haben. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Es wäre interessant zu wissen, ob man da in Anbetracht vieler möglichen Antworten in verschiedenen Wörterbüchern überhaupt einen Fehler machen kann. Spielen dabei nur regionale oder stilistische Varianten eine Rolle oder sind die Unterschiede im Gebrauch wohl auch semantisch bedingt? VII. Partizip des Perfekts 13. Einige deutsche Verben bilden das Partizip des Perfekts ohne Präfix ge-, z.B. Fremdwörter auf -ieren. Wie ist das Partizip des Perfekts beim Verb stibitzen (wegnehmen, klauen, stehlen)? Ergebnis der Recherche: Duden (2001) und Wahrig (2000) führen das Partizip Perfekt von stibitzen nicht an. In Langenscheidt (2003) findet man die Formen stibitze, hat stibitzt. In der Rechtschreibung von Duden (2004) ist nur die Form du stibitzt zu finden. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Es sollte expliziter angeführt werden, dass es sich offenbar um eine Ausnahme handelt und es wäre nützlich, wenn auf weitere diesbezügliche Ausnahmen verwiesen würde. Oder geht es bei der Anführung der Partizipialform stibitzt in Langenscheidt (2003) um einen Druckfehler? VIII. Imperative von starken und unregelmäßigen Verben 14. Wie ist die Imperativform des Verbs werden? Ergebnis der Recherche: In den Verzeichnissen der starken und unregelmäßigen Verben von Duden (2001) und Langenscheidt (2003) findet man keine Imperativformen. Es ist anzunehmen, dass diese eben dem Indikativ der 2. Person Singular mit entsprechender Endung gleichkommen - z.B. werfen - du wirfst - wirf! . Also auch / werden - du wirst - wird! / Im Verzeichnis starker und unregelmäßiger Verben von Wahrig (2000) ist jedoch die Form werd(e)! zu finden. Auch eine Kontrolle in der Rechtschreibung von Duden (2004) bestätigt diese Ausnahme. Anliegen des Nicht-Muttersprachlers: Wenn jene Formen aus einem Paradigma, die - wie die Imperativformen - eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen, aus Platzgründen ausgelassen sind, sollte auf die Ausnahmen unbedingt hingewiesen werden. Stojan Bra i 104 3 Zusätzliche Verbesserungsvorschläge für den Aufbau des Wörterbuches Abschließend soll hier ein Versuch gewagt werden, zusätzlich zum oben Ausgeführten einige weitere Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden lexikographischen Methodik zu unterbreiten. Worauf sollte ein gutes DaF-Wörterbuch noch mehr achten? A. Übersichtlichkeit Die Benutzerfreundlichkeit eines Wörterbuchs beginnt damit, dass es übersichtlich ist, dass man es nicht mit einer Lupe lesen muss und dass Fettdruck und andere typographische Mittel nebst einfacher und klarer innerer Strukturierung schnelle Auffindbarkeit ermöglichen, so dass ein Wörterbuchbenutzer es auch in puncto Schnelligkeit mit dem Computer aufnehmen kann. B. Umfang des Wörterbuches Auch Wörterbücher, deren Umfang nicht dem Umfang eines Thesaurus nahekommt, sollten - besonders zu Zwecken der Nutzung durch Nicht- Muttersprachler - zuverlässigkeitshalber möglichst viele Stichwörter anführen, wenn auch in rudimentärer faktographischer Form (bei Verben z.B. nur Infinitive). Wenn man z.B. die Verben umreisen oder nachziehen in einem Wörterbuch nicht findet, kann man daraus fälschlicherweise schlussfolgern, sie existierten nicht. Wären dagegen alle wesentlichen Lexeme darin erfasst, könnte man weitere Angaben dazu (Bedeutung usw.) nach Bedarf in anderen Wörterbüchern nachschlagen. Und man wüsste auch, die Abwesenheit von / ertüfteln/ beispielsweise bedeutet, dass ein solches Verb tatsächlich nicht existiert (s.o. Fragestellung 7.). C. Angabe der Bedeutungen Die Angabe der Bedeutungen von Stichwörtern müsste einem strengen Prinzip der überschaubaren Systematik unterliegen. Am einfachsten wäre es, wenn auf konkrete Bedeutungen übertragene folgen würden, so wie dies in der Sprachentwicklung vor sich gegangen ist (vgl. Bra i 2005, 149ff.). Bedeutungsangaben sind stellenweise so kompliziert aufgebaut, dass sie für einen Nicht-Muttersprachler auch verwirrend sein können (vgl. Stichwort Stoff in Wahrig 2000), wenn sie auch theoretisch begründbar sein mögen. Das ist auch dem Memorieren nicht gerade zuträglich. D. Rechtschreibung Es wäre nicht überflüssig, wenn die Silbentrennung auch bei Partizipien und anderen Paradigmenelementen angeführt wäre. Man sieht, wie z.B. die Silben in sti-bit-zen getrennt werden, kann aber in der Duden- Rechtschreibung (2004) nicht erfahren, wie die Silbentrennung in (du) stibitzt ausfällt. Langenscheidt (2003) bringt ebenfalls die Silbentrennung Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 105 des Infinitivs (sti-bit-zen), lässt aber den Leser bezüglich der Präteritalform (stibitzte) und des Partizips ((hat) stibitzt) in Ungewissheit. E. Verweise Verweise scheinen das A und O eines guten DaF-Wörterbuches zu sein. Sie machen aus einem Wörterbuch ein Handbuch, ja ein Lehrbuch. Hier könnten sich deutsche Wörterbücher ein Beispiel an englischen Wörterbüchern nehmen (vgl. Longman 1987 oder Oxford 2000). Besonders wäre nützlich, systematisch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die auf mangelnde Sprachkompetenz bei Nicht-Muttersprachlern zurückzuführen sind. 4 Ausblick Folgende Überlegungen sollten in weitere Untersuchungen einbezogen werden. Gibt es ein ideales DaF-Wörterbuch? Was könnte ein DaF-Wörtebuch noch leisten? Wie kann man einige heikle Fragen der neuen Rechtschreibung benutzerfreundlich vorstellen? (Vor allem Zusammenschreibung und Getrenntschreibung.) Wie viel Wortbildung soll ein Wörterbuch enthalten? (Wortfamilien.) Wie viel Syntax soll ein Wörterbuch enthalten? (Auf die besonders für die Nicht-Muttersprachler problematische Verwendung von es etwa könnte/ sollte ein Wörterbuch in einer Tabelle mit einfachen Regeln und anschaulichen Belegen eingehen.) Könnte ein Wörterbuch neben der Tabelle zum Paradigma Artikel (Langenscheidt 2003, 74) nicht auch eine Tabelle zu dessen Gebrauch anbieten? (In Anbetracht der Tatsache, dass es sich für die Nicht-Muttersprachler - neben Präpositionen - um die Schwierigkeit Nr. 1 handelt.) Wie viel Stilistik (Bsp.: Schönheit gelegentlich auch als Metonymie), wie viel Textlinguistik (Artikelgebrauch) kann ein Wörterbuch verkraften? Wie viele Sachgruppen passen in ein Wörterbuch für Nicht-Muttersprachler? Kann man darin auch auf frames und scripts eingehen? Könnte man nicht auch entsprechende Wortfelder einbauen, z.B. alle fünf Sinne, die fünf Verben der einschlägigen Sinneswahrnehmung und die fünf Organe an einer Stelle anführen (z.B. Tastsinn - tasten - Haut als Tast(sinnes)organ). Derartige synoptische Überblicke sind in einigen französichen Wörterbüchern für den Fremdsprachengebrauch, die auch sonst nach dem Prinzip der Wortfamilien aufgebaut sind, schon lange Tradition. (Vgl. die Eintragungen für Monate im französischen Wörterbuch Dictionnaire du Français contemporain von Larousse 1966). Stojan Bra i 106 Sollte die Entwicklung von Wörterbüchern für Ausländer nicht in Richtung eines ABC-Nachschlagewerkes gehen, in dem ein Stichwort unter verschiedenen Gesichtspunkten systematisch bearbeitet wird? Meine Beobachtungen sollen nicht als Kritik der bestehenden Lexika verstanden werden. In diesen ist enormes Wissen gesammelt. Aber so wie sich die Sprache entwickelt, so sollten auch Werke ständig neu perfektioniert werden, die die Sprache beschreiben, und sich den Bedürfnissen der Benutzer anpassen. Sobald eine Sprache auch als Fremdsprache fungiert, können eben auch die Nicht-Muttersprachler ihren Beitrag dazu leisten. Wenn man mit Albrecht Greule (2004, 28) unter Sprachkultivierung/ Sprachpflege „alle Maßnahmen und Aktivitäten [versteht], die zur Sprachkultur hinführen oder sie festigen“, dann kann man nicht umhin, in diese Prozesse auch die Auslandsgermanistik einzuschließen. 5 Bibliographie 5.1 Lexika Augst, Gerhard (1998): Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Duden (2001): Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim. Duden (2004): Die deutsche Rechtschreibung. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden (2005): Das Aussprachewörterbuch. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Langenscheidt (2003): Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ München. Larousse (1966): Dictionnaire du Français contemporain. Paris. Longman (1987): Longman Dictionary of Contemporary English. Harlow. Oxford (2000): Advanced Learner´s Dicitonary of Current English. Oxford. Wahrig (2000): Deutsches Wörterbuch. München. 5.2 Literatur Bra i , Stojan (2004): Rezension zu Gerhard Augst (1998): Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen (1687 Seiten). In: Vestnik 38, 317- 318. Bra i , Stojan (2005): Zur textkohäsiven Rolle von Lexemen mit usueller und übertragener Bedeutung und von Historismen. In: Fix, Ulla/ Lerchner, Gotthard/ Schröder, Marianne/ Wellmann, Hans [Hrsg.]: Zwischen Lexikon und Text. Lexikalische, stilistische und textlinguistischen Aspekte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Irmhild Barz. Leipzig, 144-153. Greule, Albrecht (2004): Europäische Sprachkulturen. Aspekte einer vergleichenden Sprachkultur-Forschung. In: Bra i , Stojan/ uden, Darko/ Podgoršek, Saša/ Poga nik, Vladimir [Hrsg.]: Linguistische Studien im Europäischen Jahr der Sprachen. Akten des 36. Linguistischen Kolloquiums in Ljubljana 2001. Plenarvortrag. Frankufurt a.M./ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien, 27-36. Greule, Albrecht/ Ahlvers-Liebel, Elisabeth (1986): Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung. Darmstadt. Ist die Auslandsgermanistik eine angewandte Germanistik? 107 Petkov, Pavel (2005): Zur Gegenstandbestimmung des Universitätsfaches Germanistik/ Deutsch als Fremdsprache in einem deutschsprachigen und einem nicht deutschsprachigen Land. In: Deutsch als Fremdsprache 42, 67-73. Jarmo Korhonen Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 1 Einleitende Bemerkungen Albrecht Greule gehört zu den Wegbereitern auf dem Gebiet der historischen Valenzforschung. Bereits in der ersten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts legte er seine ersten valenzspezifischen Arbeiten vor; hier wurde eine ausführliche Untersuchung der Valenz von Verben im Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg angekündigt (vgl. Greule 1973; 1975). Diese Untersuchung mit ihren wichtigen theoretischen Prämissen und Erkenntnissen führte Albrecht Greule dann für seine Habilitationsschrift (Greule 1982a) durch, ebenso gab er Anfang der 80er Jahre einen Sammelband heraus, der die Anwendung der Valenztheorie auf die Erforschung der Syntax historischer Texte des Deutschen als Thema hatte (vgl. Greule 1982b). Ende der 90er Jahre veröffentlichte Albrecht Greule ein syntaktisches Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts (vgl. Greule 1999), und seit einigen Jahren hat er ein mittelhochdeutsches Verbvalenzwörterbuch in Planung (vgl. Greule 2005; Greule/ Lénárd 2004). Außerdem hat er die althochdeutsche und die mittelhochdeutsche Verbvalenz kontrastiv untersucht und dabei auch den Valenzwandel im Allgemeinen betrachtet (vgl. Greule/ Lénárd 2005). Der vorliegende Beitrag knüpft an die valenzbezogenen Forschungsinteressen von Albrecht Greule an, indem er der Beschreibung der Valenz in vier neueren einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen nachgeht. Als Valenzträgerklasse wurden die Verbidiome gewählt, und die untersuchten Wörterbücher sind aus der Sicht der Auslandsgermanistik, für deren Belange sich Albrecht Greule stets interessiert hat, besonders relevant. Die Ausführungen sind generell dem in der einschlägigen Literatur der letzten Jahre mehrfach fokussierten Problembereich Phraseologie und neuere Lexikografie zuzuordnen. Es wurden u.a. folgende Subklassen von Phraseologismen unter lexikografischem Aspekt untersucht (die betreffenden Arbeiten beziehen sich sowohl auf die allgemeine einsprachige Lexikografie als auch auf die Lernerlexikografie): Kollokationen (z.B. Lehr 1998; Köster/ Neubauer 2002; Schafroth 2003; Markus/ Korhonen 2005), Funktionsverbgefüge (z.B. Heine 2005; 2006), Idiome (z.B. Korhonen 1995, 13-42; 49-66; Dobrovol’skij 2002; Kühn 2003; Hyvärinen 2005), Routineformeln (z.B. Wotjak 2005; Hahn 2006) und Sprichwörter (z.B. Kispál 1999; 2000; Mieder 2003; Korhonen 2004b). Darüber hinaus sind Arbeiten zu nennen, in denen die lexikografi- Jarmo Korhonen 110 sche Erfassung mehrerer phraseologischer Subklassen berücksichtigt wurde (z.B. Wotjak 2001; Wotjak/ Dobrovol’skij 1996; Korhonen 2002b; 2004a; 2005; Stantcheva 2003). Dabei wurde in mehreren Arbeiten im Zusammenhang mit der Untersuchung der Nennform von Phraseologismen auch, allerdings meistens relativ kurz, auf die Valenz eingegangen (z.B. Korhonen 1995, 26ff., 54ff.; 2002b, 369; 2004a, 374ff.; 2005, 117ff.; Wotjak 2001, 271; Kühn 2003, 104ff.; Stantcheva 2003, 151f., 167f.). Verbidiome sind voll- oder teilidiomatische Konstruktionen, die sich aus einer Verbkomponente und deren valenzbedingten Ergänzungen zusammensetzen. Die Verbkomponente umfasst ein konjugierbares Verb und weitere, verbale oder nichtverbale Komponenten. Das Verb kann entweder im Infinitiv oder in verschiedenen finiten Formen vorkommen (z.B. jmdm. Beine machen bzw. jmd. macht jmdm. Beine), oder an eine bestimmte nichtinfinitivische Form gebunden sein (z.B. jmdn. sticht der Hafer). Bei Verbidiomen sind lexikalische und/ oder syntaktische Variationen möglich, nämlich dass sich etwa eine Komponente unterschiedlich besetzen lässt oder die Reihenfolge der Komponenten geändert werden kann. Damit unterscheiden sie sich von Satzidiomen, bei denen an der lexikalischen und syntaktischen Struktur kaum bzw. nur wenige Änderungen durchführbar sind (vgl. z.B. [Ach] du kriegst die Motten! und Da/ Jetzt haben wir den Salat! ) (zur Charakterisierung von Verbidiomen und zur Abgrenzung von Verb- und Satzidiomen vgl. genauer Korhonen 1995, 19ff., 43ff.; 2002a, 403f.; Korhonen/ Wotjak 2001, 225f.). Die vier Wörterbücher, die unten als lexikografische Primärquellen dienen sollen, sind: Duden Standardwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (2002; = D), de Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (2000; = G), Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (2003 [1. Aufl. 1993]; = L) und PONS Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (2004; = P). Während G, L und P die Bezeichnung „Lernerwörterbuch“ verdienen, trifft dies auf D nicht zu, denn es handelt sich bei diesem Werk weitestgehend um eine umgetaufte Ausgabe des Duden Bedeutungswörterbuches, das auch im Jahre 2002 erschienen ist (vgl. dazu Hyvärinen 2005, 93f.). Die Repräsentation der Verbidiome ist in G, L und P relativ gut, wohingegen D im eigentlichen Wörterbuchteil arm an Idiomatik ist (die im Kapitel „Idiomatik der Körperteile“ des Nachspanns aufgelisteten Verbidiome wurden außer Acht gelassen, weil hier keine echte lexikografische Darstellung vorliegt; vgl. auch Hyvärinen 2005, 101ff.); dazu gibt es in D zahlreiche Ausdrücke, die irrtümlich als Idiome gekennzeichnet wurden (sich mit jmdm. anlegen, angerannt kommen u.v.a.m.). Weiterhin unterscheidet sich D von den anderen DaF-Wörterbüchern darin, dass dort im Vorspann nicht über die lexikografische Beschreibung von Idiomen berichtet wird und dass Idiome in den Wörterbuchartikeln jeweils im Anschluss an die betreffende Bedeutungsvariante des Zuordnungslemmas eingeordnet werden (in G, L und in den meisten Fällen auch in P werden Idiome außerhalb der Bedeutungsstruktur am Ende des Wörterbuchartikels abgehandelt). Demgegenüber Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 111 werden Idiome in allen Wörterbüchern durch bestimmte grafische Mittel hervorgehoben, und manchmal wird das syntaktische Verhalten eines Verbidioms auch durch ein Beispiel veranschaulicht. Die valenzbedingten Ergänzungen, deren Repräsentation unten näher untersucht werden soll, vertreten die Satzglieder Subjekt, Objekt und Adverbial. Da das Objekt und das Adverbial sowohl obligatorisch als auch fakultativ auftreten können, soll diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Falle des Präpositionalobjekts sind bestimmte kasusbezogene Informationen für DaF-Lerner wichtig, weshalb sie unten auch berücksichtigt werden sollen. Ein weiterer zentraler Aspekt ist die formale Polyvalenz beim Objekt, genauer gesagt eine morphosyntaktische Variation beim Anschluss des Objekts an den Valenzträger (an die Verbkomponente). Dagegen kann hier die inhaltliche Polyvalenz, d.h. die Variation der semantischen Klasse von Ergänzungen, nur am Rande (in Kap. 2) behandelt werden. 2 Subjekt Infinitivfähige Verbidiome können entweder ein Personen- oder ein Sachsubjekt oder beide als obligatorische Ergänzung zu sich nehmen. Besonders für ausländische Wörterbuchbenutzer wäre es ein großer Vorteil, wenn es für die Markierung des Subjekts eine einheitliche Praxis gäbe. Für die untersuchten Wörterbücher lässt sich eine derartige Praxis jedoch nicht nachweisen; die Art und Weise, eine bestimmte inhaltliche Subjektklasse zu markieren, kann sogar in ein und demselben Wörterbuch variieren. In D wird das Personensubjekt nicht markiert, und auch in L und P erscheint ein Verbidiom in den meisten Fällen ohne Personensubjekt, vgl.: (1) Abschied nehmen (D 61); j-n hinters Licht führen (L 650); an etwas Geschmack finden (P 535) Dass das Personensubjekt in der Nennform eines Verbidioms in L und P auftaucht, ist wohl auf Unachtsamkeit zurückzuführen, vgl.: (2) j-d ist in seinem Element (L 291); j-d fällt vom Fleisch (L 358); jemand läuft Gefahr, etwas zu tun (P 506) Zum Beispiel in folgenden Fällen schwankt die Markierung des Subjekts bei Verbidiomen innerhalb eines Wörterbuchartikels: (3) sein Geld arbeiten lassen; j-d sitzt auf dem/ seinem Geld (L 407); Feuer und Flamme für etwas sein; jemand spielt mit dem Feuer (P 445) Im Unterschied zu D, L und P wird das Subjekt in G immer angegeben. Dabei steht das Verbidiom im Infinitiv, und für das Personensubjekt erscheinen vor der Nennform Markierungen wie / jmd./ , / jmd., Gruppe/ , / jmd., Institution/ und / Frau, auch Mann/ , vgl.: Jarmo Korhonen 112 (4) / jmd./ Augen haben wie ein Luchs (G 73); / jmd., Gruppe/ jmdn. in Acht und Bann tun (G 18); / jmd., Institution/ Alarm schlagen (G 21) Auch hier ist die Markierungspraxis jedoch nicht immer ganz systematisch. Beim folgenden Idiom beispielsweise wurde das Subjekt in die Nennform integriert, so dass das Idiom eine satzförmige Repräsentation aufweist: (5) jmd. ist kein großes Licht (G 626) Wie das Personensubjekt, wird auch das Sachsubjekt in D nicht in der Nennform angegeben. Das Gleiche gilt oft auch für P, vgl.: (6) in Arbeit sein (D 112); ins Gewicht fallen (P 544); wie warme Semmeln weggehen (P 1230) In G und L dagegen ist im Falle eines Sachsubjekts eine entsprechende Information immer vorhanden. Auch hier macht G von spezifischen Charakterisierungen Gebrauch (/ etw., bes. Geschenk/ , / Ort/ usw.). Dass ein Sachsubjekt manchmal auch in P bei Verbidiomen vorkommt, ist ein Zeichen für mangelnde Konsequenz, vgl.: (7) / etw./ im Argen liegen (G 52); / etw., bes. Geschenk/ von Herzen kommen (G 474); / Ort/ ein teures Pflaster sein (G 748); etw. geht in die Annalen ein (L 55); etwas steht auf schwachen Beinen (P 155) Ab und zu wurde auch das Sachsubjekt in G in die Nennform aufgenommen, vgl.: (8) etw. liegt in der Luft (G 639) Wenn ein Verbidiom sowohl mit einem Personenals auch mit einem Sachsubjekt verbunden werden kann, wird in den Wörterbüchern wie folgt verfahren: D verzichtet auch hier auf eine Markierung, G und L führen das Subjekt in der Regel an, und P lässt eine schwankende Praxis erkennen, vgl.: (9) Anstoß erregen (D 106); / jmd., etw./ es jmdm. angetan haben (G 47); j-d/ etw. ist (nicht) j-s Fall (L 335); jemanden/ etwas Lügen strafen (P 869); jemand/ etwas bringt jemanden/ etwas in Misskredit (P 920) Für einen DaF-Lerner ist die Praxis der Markierung des Subjekts in G am günstigsten. Sie könnte jedoch folgendermaßen vereinfacht werden: Verbidiome mit Personensubjekt erhalten keine explizite Subjektmarkierung, während Verbidiome mit Sachsubjekt mit der Angabe „etw.“ und solche mit Personen- und Sachsubjekt mit der Angabe „jmd., etw.“ versehen werden, vgl.: ins Wasser fallen - etw. und ins Zwielicht geraten/ kommen - jmd., etw. (vgl. dazu auch Korhonen 2001, 49; 2004a, 375; 2005, 117f.). Es ist nicht immer leicht, zwischen Verb- und Satzidiomen eine deutliche Trennungslinie zu ziehen. Das bezieht sich erstens auf Fälle, in denen die Stelle des Sachsubjekts zwar grundsätzlich lexikalisch variabel, in der Praxis aber oft mit dem Pronomen das besetzt ist. Diese Problematik lässt sich anhand der folgenden Einträge illustrieren: Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 113 (10) etw. <bes. das> steht auf einem anderen Blatt (G 171); mst Das steht auf e-m anderen Blatt (L 180); etwas steht auf einem (ganz) anderen Blatt (P 206) (11) / in der kommunikativen Wendung/ umg. das spricht Bände (G 100); mst Das spricht Bände (L 123); etwas spricht Bände (P 131) In P wird die häufige Besetzung durch das nicht berücksichtigt, während G und L mit Hilfe eines Kommentars darauf aufmerksam machen. In solchen Fällen könnten die Nennformen wie folgt gestaltet werden: das/ etw. steht auf einem anderen Blatt bzw. das/ etw. spricht Bände, d.h., es würde sich um ein „Mittelding“ zwischen Verb- und Satzidiom handeln (vgl. auch Korhonen 2004a, 371f.). Zweitens gibt es satzförmige Idiome, die häufig im Imperativ oder mit der/ die bzw. er/ sie als Subjekt realisiert werden, vgl.: (12) / in der kommunikativen Wendung/ rutsch mir doch den Buckel runter/ der kann mir den Buckel runterrutschen (G 193); mst Rutsch mir doch den Buckel runter! (L 200); Er/ sie … kann mir den Buckel herunterrutschen! (P 239) (13) der, die kann mich mal gern haben (G 401); Du kannst/ Der/ Die kann mich (mal) gern haben! (L 418); der kann/ die kann/ du kannst mich gern haben (P 530) Da diese Ausdrücke nicht auf die Imperativform beschränkt sind, als Hilfsverb außer können auch sollen möglich ist, die Subjektstelle lexikalisch unterschiedlich besetzt werden kann und in der Position des Dativbzw. Akkusativobjekts neben mir bzw. mich häufig auch uns auftaucht, würden folgende Formulierungen als adäquate Nennformen erscheinen: jmd. kann/ soll mir/ uns den Buckel [he]runterrutschen und jmd. kann/ soll mich/ uns gern haben (vgl. auch Korhonen 2004a, 372). 3 Objekte und Adverbiale Aus den oben angeführten Beispielen geht bereits hervor, dass in den Nennformen von Verbidiomen zur Kennzeichnung von Ergänzungen pronominale Abkürzungen wie jmd., jmdm. und etw. verwendet werden. In P werden solche Stellvertreter der Ergänzungen jedoch ausgeschrieben, und auch in D wird etwas nicht abgekürzt. Dies ist insofern problematisch, als es Verbidiome gibt, in denen etwas eine feste Komponente darstellt, vgl. sich <Dat.> etwas antun (in G 47 steht anstelle von etwas die Abkürzung etw., was auch irreführend ist). Eindeutiger wäre es also, eine lexikalisch frei besetzbare Ergänzung mit etw. zu markieren und im Falle von Dativ und Genitiv mit einer metasprachlichen Angabe wie <Dat.> bzw. <Gen.> zu ergänzen (so wird in G und L verfahren). Wird in solchen Fällen anstelle von etw. die Form einer Sache verwendet, sollte sie entsprechend spezifiziert werden (in D und P gibt es jedoch viele Verbidiome, in denen dies nicht geschieht). Es ist in der Lexikografie schon lange üblich, Verbidiome in ihrer Ganzheit, d.h. mit Verbkomponente und deren valenzbedingten Ergänzungen, in den Wörterbuchartikeln aufzuführen. In den untersuchten Wörterbüchern Jarmo Korhonen 114 sind unvollständige Nennformen von Verbidiomen jedoch relativ oft anzutreffen. In (14) wurde das Akkusativ-, in (15) das Dativobjekt weggelassen: (14) in Anspruch nehmen (P 74); aus dem Gleis bringen/ werfen (P 552) (15) / etw./ ins Auge fallen (G 73); etw. fällt/ springt/ sticht ins Auge (L 94); ins Auge fallen (P 103) Im ersten Idiom in (14) fehlt jmdn., etw., im zweiten jmdn. (der Eintrag könnte auch als Lapsus betrachtet werden, weil die Bedeutungserläuterung ,aus dem gewohnten Lebensrhythmus geraten‘ lautet). In (15) gehört auch jmdm. zur Nennform des Idioms. Es kommt auch vor, dass in der Nennform zwei Objekte fehlen, vgl.: (16) in Aussicht stellen; in Aussicht nehmen (D 162) Die im ersten Idiom weggelassenen Ergänzungen sind jmdm. und etw., d.h. es fehlen ein Akkusativ- und ein Dativobjekt. Im zweiten Idiom vermisst man ein Akkusativ- und ein Präpositionalobjekt; die vollständige Nennform würde jmdn., etw. für etw. in Aussicht nehmen lauten. Zu beiden Idiomen wird in D zwar ein Beispielsatz angeführt, aber das gesamte Ergänzungspotenzial wird hier nicht ausgeschöpft. Für ein fehlendes Präpositionalobjekt lassen sich im untersuchten Material mehrere Belege nachweisen, vgl. u.a. (die unten zitierten Idiome sind in D nicht verzeichnet): (17) / jmd./ zu Kreuze kriechen (G 588); zu Kreuze kriechen (L 614, P 787) (18) / jmd./ jmdn. auf dem Laufenden halten (G 611); j-n auf dem Laufenden halten (L 636); jemanden auf dem Laufenden halten (P 827) In (17) sollte vor jmdm., in (18) über etw. <Akk.> in die Nennform aufgenommen werden. - Auf der anderen Seite ist die Fakultativität eines Präpositionalobjekts bei vielen Idiomen korrekt angegeben. Es gibt jedoch dabei Differenzen zwischen den einzelnen Wörterbüchern, vgl.: (19) (über j-n/ etw.) im Bilde sein (L 175); / jmd./ über etw., jmdn. im Bilde sein (G 164); über etwas im Bilde sein (P 196) Da das Präpositionalobjekt in G und P nicht eingeklammert ist, stellt es für diese Wörterbücher wohl eine obligatorische Ergänzung dar. Anders verhält es sich mit den Beschreibungen in (20) und (21): (20) (bei j-m) ins Fettnäpfchen treten (L 351); / jmd./ ins Fettnäpfchen treten (G 331); ins Fettnäpfchen treten (P 444) (21) bei j-m (mit etw.) auf Granit beißen (L 443); / jmd./ bei jmdm. auf Granit beißen (G 425); bei jemandem auf Granit beißen (P 560) Im ersten Fall wird das Präpositionalobjekt in G und P, indem es nicht in die Nennform aufgenommen wurde, nicht als Ergänzung eingestuft. Interessant ist aber, dass für (20) in G und für (21) in P jeweils ein Beispielsatz angeführt wird, in dem eine Präpositionalgruppe mit der betreffenden Präposition Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 115 vorkommt (in G ist im Beispielsatz für (20) die Präpositionalgruppe eingeklammert). Eine wiederum andere Konstellation liegt bei (22) vor: (22) keinen blassen Dunst (von etw.) haben (L 250); / jmd./ keinen (blassen) Dunst von etw. haben (G 238); keinen blassen Dunst haben (P 319) Hier treten alle Möglichkeiten der valenzbezogenen Klassifizierung eines Ausdrucks auf. Während L von etw. richtig als fakultatives Objekt beschreibt, ist es für G eine obligatorische und für P keine Ergänzung. Denkbar ist allerdings auch, dass das Objekt in P einfach vergessen wurde, denn bei einem synonymen Idiom kommt es in der Nennform vor: keinen blassen Schimmer von etwas haben (P 1185). Bei Sachbezeichnungen mit etw. wäre eine kasusbezogene Information im Zusammenhang mit Präpositionen, die den Akkusativ und Dativ regieren, für Nichtmuttersprachler von besonderem Nutzen. Oft ist eine solche Information in den DaF-Wörterbüchern auch vorhanden, vgl.: (23) sich (Dativ) den Kopf [über etwas (Akk.)] zerbrechen (D 550); / jmd., Institution/ an etw. <Dat.> zu knabbern haben (G 560); an etw. (Dat) Geschmack finden (L 422) In P ist eine Kasusangabe in solchen Fällen in der Regel nicht zu finden (vgl. z.B. an etwas Geschmack finden (P 535)), in G dagegen fehlt sie beim letzten Idiom deshalb, weil der Kasus aus der Abkürzung für das Personenobjekt hervorgeht (vgl. / jmd./ an etw., jmdm. Geschmack finden (G 405)). Dass die Wörterbücher auch hier nicht systematisch vorgehen, lässt sich folgendem Beispiel entnehmen: (24) an etwas Anstoß nehmen (D 106); / jmd./ sich <Dat.> über etw. im Klaren sein (G 552) Beim ersten Idiom wäre hinter etwas „(Dativ)“, beim zweiten hinter etw. „<Akk.>“ zu ergänzen. Umgekehrt kann eine Kasusangabe auch überflüssig sein, vgl. (aus regiert nur den Dativ): (25) / jmd./ aus etw. <Dat.> nicht klug werden (G 560) Auch in Fällen, in denen die Abkürzung jmds. hinter einer Präposition steht, die sowohl den Akkusativ als auch den Dativ regiert, sollte der Kasus für nichtmuttersprachliche Wörterbuchbenutzer angegeben werden. Zum Beispiel bei folgenden Idiomen ist ihnen nicht ohne weiteres klar, welcher der richtige Kasus ist: (26) sich an j-s Fersen heften (L 348); / jmd./ sich an jmds. Fersen heften (G 328); sich an jemandes Fersen heften (P 440) (27) in j-s Fußstapfen treten (L 386); in jemandes Fußstapfen treten (P 489) Beim Idiom in (27) ist der Kasus aus dem Beispielsatz zu erschließen, der sich in P an die Nennform anschließt. Eindeutig wären die Nennformen in (26) und (27) in folgender Formulierung: sich an jmds. Fersen <Akk.> heften bzw. in jmds. Fußstapfen <Akk.> treten. Jarmo Korhonen 116 Eine Objektklasse, der besonders in D (z.T. aber auch in P) nicht genügend Beachtung geschenkt wurde, ist das Infinitivobjekt, vgl.: (28) [keine] Anstalten machen (D 105); (keine) Anstalten machen (P 75); im Begriff sein/ stehen (D 186); Gefahr laufen (D 400) Allerdings wird hier an jedes Idiom jeweils ein Beispielsatz angeschlossen, in dem ein Infinitiv oder eine Infinitivkonstruktion vorkommt. Da es aber aus Raumgründen nicht immer möglich ist, den Gebrauch eines Verbidioms durch Beispiele zu veranschaulichen, wäre es einfacher (und im Sinne einer systematischen Darstellung auch adäquat), die Nennformen so zu gestalten, dass sich an ihnen das syntaktische Verhalten der Idiome direkt ablesen lässt. - Eine häufig verwendete Form des Infinitivobjekts ist etw. zu tun (so z.B. in G, in L dagegen findet sich die Markierung „+ zu + Infinitiv“). In G und L enthalten die Nennformen der in (28) zitierten Verbidiome ein Infinitivobjekt, außerdem trifft das in P auf das zweite und dritte Idiom zu, was von einer uneinheitlichen Praxis in diesem Wörterbuch zeugt. Aber auch in D schwankt die Notation, d.h., die Nennform eines Verbidioms kann auch ein Infinitivobjekt aufweisen, vgl. (die unten stehende Nennform begegnet auch in P 308): (29) drauf und dran sein, etwas zu tun (D 272) Dass es im Deutschen Verbidiome gibt, die ein Adverbial als valenzbedingte Ergänzung verlangen, wurde mit Ausnahme von D in den DaF-Wörterbüchern für die Nennformen registriert, wenn auch die einzelnen Idiombeschreibungen wieder mehr oder weniger stark voneinander abweichen können. Beispiele für Verbidiome mit Lokaladverbial sind die in (30) und (31) angeführten Ausdrücke: (30) (irgendwo) (festen) Fuß fassen (L 385); / jmd./ festen Fuß fassen (G 367); irgendwo Fuß fassen (P 488) (31) / jmd./ seine Zelte irgendwo aufschlagen (G 1254); die/ seine Zelte irgendwo aufschlagen (L 1206); seine Zelte (irgendwo) aufschlagen (P 1615) Das Lokaladverbial in (30) ist für L eine fakultative und für P eine obligatorische Ergänzung, während es in G gar nicht zu den Ergänzungen gezählt wird. In (31) wiederum wird irgendwo in G und L für eine obligatorische, in P aber für eine fakultative Ergänzung gehalten. Zum Beispiel in folgenden Fällen gehört ein Modaladverbial zur valenzbedingten Umgebung eines Verbidioms: (32) vonstatten gehen (D 1014); irgendwie vonstatten gehen (G 1162, P 1510); etw. geht irgendwie vonstatten (L 1142) (33) jmdm. ist/ wird (es) irgendwie zumute/ auch zu Mute (G 1271); j-m ist irgendwie zumute, zu Mute (L 1222); jemandem ist irgendwie zumute/ zu Mute (P 1640) In (32) führen G, P und L das Modaladverbial in der Nennform als obligatorische Ergänzung auf. In D wurde es nicht in die Nennform integriert, taucht aber in einem zugehörigen Beispielsatz auf. Demgegenüber sind in (33) die Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 117 Beschreibungen hinsichtlich des Status des Adverbials in den Wörterbüchern identisch (in D ist das Idiom nicht vorhanden). 4 Formale Polyvalenz Ähnlich wie bei Verben, lässt sich formale Polyvalenz auch bei Verbidiomen beobachten. Mit diesem Begriff ist hier die Tatsache gemeint, dass eine Ergänzung in morphosyntaktisch unterschiedlicher Art und Weise an den Valenzträger angeschlossen werden kann. Am häufigsten kommt formale Polyvalenz beim Präpositionalobjekt vor, wobei ein Wechsel von drei Präpositionen möglich ist. In solchen Fällen werden in den Wörterbüchern jedoch meistens nur zwei Präpositionen angegeben, vgl.: (34) / jmd./ sich <Dat.> über/ wegen etw., jmds. wegen keine grauen Haare wachsen lassen (G 438); sich (Dat) wegen e-r Person (Gen, gespr auch Dat)/ etw., über etw. (Akk) keine grauen Haare wachsen lassen (L 458); sich über etwas keine grauen Haare wachsen lassen (P 576) Während P für das Idiom in (34) keine formale Polyvalenz vorsieht, können hier nach G und L über und wegen miteinander wechseln. In einigen anderen Wörterbüchern wird aber auch um als weitere Anschlussmöglichkeit genannt (vgl. u.a. DUW 693; Korhonen 2001, 196). Verbidiome mit zwei Präpositionen beim Präpositionalobjekt sind z.B. die beiden in (35) und (36) zitierten phraseologischen Ausdrücke: (35) ernste Absichten (auf j-n/ mit j-m) haben (L 17); jmd. hat ernste Absichten [sic! ] (G 12); ernste Absichten (auf jemanden) haben (P 25) (36) / jmd./ den Grundstein für/ zu etw. legen (G 433); den Grundstein für/ zu etw. legen (L 452); den Grundstein zu etwas legen (P 570) In (35) notiert nur L die Möglichkeit des Präpositionswechsels (für G ist der präpositionale Ausdruck keine Ergänzung). In (36) dagegen können die Präpositionen nur nach G und L wechseln, P seinerseits vertritt auch hier eine engere Auffassung von den Anschlussmöglichkeiten des Präpositionalobjekts. Ein Wechsel von Dativ- und Präpositionalobjekt ist in der valenzbedingten Umgebung von Verbidiomen auch keine Seltenheit. Ihm wird in den DaF-Wörterbüchern jedoch nicht immer Rechnung getragen, vgl.: (37) / etw./ jmdm./ für jmdn. ein Buch mit sieben Siegeln sein (G 192); j-d/ etw. ist j-m ein Buch mit sieben Siegeln (L 199); etwas ist jemandem ein Buch mit sieben Siegeln (P 237) (38) etw. ist j-m/ für j-n zu hoch (L 513); etw. ist jmdm. zu hoch (G 487); jemandem zu hoch sein (P 632) Die formale Polyvalenz wird hier nur in G und L (wenn auch nicht für das gleiche Verbidiom) berücksichtigt, während sie in P wieder außer Acht gelassen wird. Jarmo Korhonen 118 Schließlich kann sich die formale Polyvalenz auch auf einen Kasuswechsel beziehen. Beispiele dafür sind die in (39) und (40) angeführten Verbidiome, die einen Wechsel von Akkusativ- und Dativobjekt zulassen: (39) j-m/ j-n in den Hintern treten (L 509); jemandem/ jemanden in den Hintern treten (P 629) (40) etw. kostet j-n/ j-m den Hals (L 463) Es konnten hier keine weiteren Belege angeführt werden, weil das erste Idiom nicht in D und G und Letzteres nicht in D, G und P begegnet. 5 Fazit In bisherigen Untersuchungen zur Darstellung der Phraseologie in allgemeinen einsprachigen und Lerner-Wörterbüchern des Deutschen wurden Unzulänglichkeiten, Mängel und Inkonsequenzen verschiedener Art (auch hinsichtlich der Valenz) festgestellt (zu entsprechenden Literaturangaben vgl. Kap. 1). Auch die oben durchgeführte vergleichende Analyse hat gezeigt, dass es noch mehrere Punkte gibt, die bei der Erfassung der Valenz von Verbidiomen in DaF-Wörterbüchern verbessert und systematisiert werden sollten. Was einen ausländischen Wörterbuchbenutzer schnell verunsichert, ist der Umstand, dass die Beschreibung der valenzbedingten Umgebung von Verbidiomen nicht nur innerhalb eines Wörterbuches uneinheitlich ist, sondern dass sie auch in verschiedenen Wörterbüchern differiert. Von den vier Wörterbüchern, die hier im Hinblick auf die Valenz in Augenschein genommen wurden, erweisen sich G und L eindeutig als am konsequentesten und zuverlässigsten. Verbesserungsbedürftig ist vor allem D, in mancher Hinsicht aber auch P. Lernerwörterbücher stellen besonders beim selbst gesteuerten Erlernen einer Fremdsprache praktisch unverzichtbare Hilfsmittel dar. Sie werden nicht nur zur Textrezeption, sondern auch zur Textproduktion herangezogen, und gerade für die Gestaltung grammatisch einwandfreier Sätze sind ausführliche und korrekte Valenzangaben erstrangig wichtig. Für die Bearbeitung weiterer Auflagen der bereits existierenden und auch für die Erstellung ganz neuer DaF-Wörterbücher wäre es von Vorteil, wenn im Verfasserteam außer Muttersprachlern auch Nichtmuttersprachler mitwirken würden. Die Letztgenannten sind nicht selten in der Lage, Muttersprachler besser für Aspekte zu sensibilisieren, die DaF-Lernern spezielle Probleme, beispielsweise im Zusammenhang mit der Valenz, bereiten. 6 Bibliografie 6.1 Lexika Duden (2002): Bedeutungswörterbuch. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich (Duden, 10). Zur Beschreibung der Valenz von Verbidiomen in neueren DaF-Wörterbüchern 119 Duden (2002): Standardwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden (2003): DUW = Duden Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarb. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. de Gruyter (2000): Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache. 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Jarmo Korhonen 122 Wotjak, Barbara/ Dobrovol’skij, Dmitrij (1996): Phraseologismen im Lernerwörterbuch. In: Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne [Hrsg.]: Das Lernerwörterbuch Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion. Heidelberg (Sprache - Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/ Germanistik, 12), 243-264. Maria Thurmair „… ma Mozart non l’ho trovato! ” Was nicht in unseren Wörterbüchern steht 1 Einleitung Idee des vorliegenden Sammelbandes ist es, einen linguistischen Dialog über fachliche und geographische Räume hinweg anzuregen - in diesem Fall zwischen einer ‚Auslandsgermanistik’ und einer ‚Inlandsgermanistik’. In der prototypischen Situation der Auslandsgermanistik (hier in der Spezifik der Sprachwissenschaft) steht ein Nicht-Muttersprachler, der sich im Nicht- Zielsprachenland mit der deutschen Sprache beschäftigt; im prototypischen Fall der Inlandsgermanistik steht ein muttersprachlicher Linguist, der sich im Zielsprachenland mit seiner Muttersprache beschäftigt. Daneben gibt es natürlich eine Reihe von Übergängen, insbesondere auch, was die Didaktik betrifft: Der Auslandsgermanist muss die kontrastive und die didaktische Perspektive im Blick haben, der Inlandsgermanist nicht (wohl aber der Vertreter/ die Vertreterin von Deutsch als Fremdsprache); aber es lassen sich natürlich auch andere Konstellationen finden, so dass die Begriffe Inlands- und Auslandsgermanistik notwendigerweise unscharf bleiben. Für das Folgende will ich mich auf die typischen Enden der oben skizzierten Skala berufen und die Frage stellen: Was unterscheidet die Sprachwissenschaft des Deutschen, die der Nicht-Muttersprachler im Nicht-Zielsprachenland betreibt, von der des Muttersprachlers im Zielsprachenland? Vermutlich gar nicht so viel. Unterschiede ergeben sich meines Erachtens vor allem in denjenigen Sprachbereichen, in denen sich Erscheinungen der Alltagskultur in der Sprache manifestieren, die auch über gängige Hilfsmittel nicht erschließbar sind, und in normsensiblen Bereichen. Aus vielen Begegnungen mit nicht-muttersprachlichen ‚Auslandsgermanisten’ weiß ich, dass die zwei am häufigsten gestellten Fragenkomplexe einmal Normfragen betreffen und zum anderen neuere sprachliche Entwicklungen und Veränderungen, oft auch in Kombination. In solchen fraglichen Fällen wird dabei aus der Außenperspektive auf die muttersprachliche Kompetenz vertraut. Nun weiß man, dass die meisten Muttersprachler in der Regel die Sprache können, aber nicht unbedingt viel über sie wissen; aber auch der muttersprachliche Linguist muss immer wieder passen. Oft liegt das daran, dass wir uns vieler Probleme (die z.B. in nicht vorhandenen Analogien oder Unsystematizitäten bestehen) gar nicht bewusst sind (vgl. dazu den Beitrag von Stojan Bra i in diesem Band) und deshalb dringend der Fokussierung aus der Außenper- Maria Thurmair 124 spektive bedürfen, 1 oft aber liegt das vielleicht daran, dass auch die muttersprachliche Kompetenz bei manchen Analysen beschränkt ist. 2 Kultur und Sprache: das Beispiel Eigennamen Kultur und Sprache sind immer verwoben und das Erlernen einer neuen Sprache ist untrennbar mit dem Eintauchen in eine neue Kultur verbunden. Bestimmte Erscheinungen der gegenwärtigen Kultur prägen - kurzfristig oder langfristig - die Sprache einer Gesellschaft und bereiten demjenigen, der nicht fest und dauerhaft in dieser Gesellschaft verwurzelt ist, bisweilen (sprachliche) Probleme. Dies soll im Folgenden am Bereich der Eigennamen gezeigt werden. Eigennamen sind spezifische Elemente eines Sprachsystems, sowohl formal, semantisch und pragmatisch als auch, was ihren Erwerb und ihre Speicherung betrifft. Die Kenntnis bestimmter Eigennamen ist in stärkerem Maße, als dies für die Lexik einer Sprache gilt, spezifisch für Einzelsprecher oder auch bestimmte Sprechergruppen. Dennoch sind Eigennamen dem System einer Einzelsprache und einer bestimmten Kultur zuzuordnen; einmal, weil Sprachen ihre eigenen Formen von Eigennamen ausgebildet haben, weil sich Eigennamen im Wesentlichen aus einzelsprachlichen Appellativen entwickelt haben oder auch einzelsprachlich markiertes lexikalisches Material erkennen lassen und weil Eigennamen umgekehrt in das Sprachsystem integriert werden können - etwa, wenn sie zum Appellativ werden. Zum anderen sind Eigennamen und die mit ihnen identifizierten Referenzobjekte sowie das damit verbundene Wissen ein wesentlicher Bestandteil einer Sprach- und Kulturgemeinschaft; man kann durchaus von einem kulturtypischen ‚Eigennamenschatz‘ sprechen, der vielleicht nicht primär zum sprachlichen, wohl aber zum kulturellen Wissen gehört: Das heißt, es gibt Referenzobjekte, genauer: Personen, Orte, Institutionen, Warennamen u.Ä., deren Kenntnis und deren Namen innerhalb einer Kultur vorausgesetzt werden kann; und dieser kulturspezifische Namenschatz muss beim Erwerb einer Sprache und einer Kultur mit erworben werden, wenn man am gesellschaftlich relevanten öffentlichen Diskurs teilnehmen will. Eigennamen können so den Status eines kulturspezifischen Symbols annehmen. Die Verwendung von Eigennamen ist mit bestimmten Risiken verbunden (vgl. Werner 1995, 483), die sich beim fremdkulturellen und fremdsprachlichen Benutzer noch verstärken. Während nämlich das Problem bei einem Benutzer aus der gleichen Kultur fast ausschließlich ein Wissensproblem ist (also die Frage im Vordergrund steht: kenne ich diesen Eigennamen oder nicht und was weiß ich über das damit identifizierte Referenzobjekt? ), kommen beim fremdsprachlichen Benutzer noch das Problem hinzu, einen Eigenna- 1 Es lassen sich einige Forschungsbereiche benennen, die ohne Anstoß ‚von außen’ nicht oder erst später in Gang gekommen wären, z.B. die (Modal-)Partikelforschung. „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 125 men überhaupt als solchen identifizieren zu können 2 und darüber hinaus häufig ‚konnotative’ Defizite (vgl. Thurmair 2002b; siehe auch Greule/ Franz 1999). Die angesprochenen Probleme werden dann besonders evident, wenn Eigennamen (verbunden mit einer Bedeutungverschiebung) zu Appellativa werden und dann nicht mehr - wie es ihre ursprüngliche Aufgabe ist - der reinen Identifikation eines Individuums etc. dienen. Eigennamen identifizieren und individuieren nämlich ein Referenzobjekt eindeutig, aktivieren aber gleichzeitig durch ihren Gebrauch das Wissen um Charakteristika oder Eigenschaften des Namenträgers. Letzteres ist bei den Verwendungen in appellativen Strukturen zentral. Ich möchte mich im Folgenden mit zwei besonders prominenten und charakteristischen Verwendungen von Eigennamen in appellativen Strukturen befassen. 3 Eigennamen in Metaphern Eigennamen werden häufig in Vergleichen und in Metaphern verwendet. Ein zentrales Kennzeichen für metaphorischen Gebrauch ist die Verwendung eines Wortes in einem konterdeterminierenden Kontext (nach Weinrich 1976, 320). Die Konterdetermination macht die Metaphern als solche deutlich und löst damit letztlich eine Vergleichsoperation aus. So besteht in einer Metapher wie Mark Knopfler, der Paganini der Rockmusik die Konterdetermination darin, dass das Attribut einen zu den als gewusst vorausgesetzten Eigenschaften des bildspendenden Namenträgers (hier: ‚Paganini’) nicht passenden Inhalt bezeichnet (‚klassische Musik’ vs. ‚Rockmusik’) und darin, dass ein Eigenname auf ein bereits durch einen anderen Eigennamen identifiziertes Individuum bezogen wird (‚Mark Knopfler’ ‚Paganini’). Aufgabe des Rezipienten ist es nun, ein tertium comparationis zu finden, hinsichtlich dessen der Vergleich vollzogen wird. Dieses sind charakteristische und typische Eigenschaften des Bildspenders (hier: ‚Paganini’), die auf den Bildempfänger (hier: ‚Mark Knopfler’) übertragen werden. Im Falle des Gebrauchs von Eigennamen in Vergleichen oder Metaphern dienen Eigennamen also dazu, hervorstechende, typische Eigenschaften der Namenträger zu transportieren (vgl. dazu etwa Kalverkämper 1995, 445; Lötscher 1995, 455 oder Weinrich 1976, 322f. und 2003, 425). Unklar bleibt dabei allerdings oft, was als Grundlage des Vergleichs dienen soll, worin also das Spezifische oder Typische des jeweiligen Namenträgers besteht: Der Vergleich und die Metapher basieren auf einem Wissen, das nirgendwo niedergelegt ist. 2 Dies ist genau das Problem der Sprecherin, deren Ausspruch hier als Motto gewählt wurde. Sie äußerte - wie mir eine Kollegin aus Italien dankenswerterweise berichtete - anläßlich einer Übersetzung: „Ho trovato ‚ruscello’ e ‚litigio’ per Bach e Händel, ma Mozart non l’ho trovato! “ (Ich habe ‚ruscello’ und ‚litigio’ für Bach und Händel gefunden, aber Mozart habe ich nicht gefunden! ) Ein zugegebenermaßen extremer Fall! Maria Thurmair 126 Im metaphorischen Gebrauch von Eigennamen lassen sich unterschiedliche Grade der Usualität und der lexikalischen Verfestigung und damit auch der Erschließbarkeit und des vorausgesetzten Wissens feststellen, was sich sprachintern in unterschiedlichem grammatischen Verhalten niederschlägt (dazu genauer Thurmair 2002a). Die erste Gruppe machen Eigennamen aus, die in ihrem metaphorischen Gebrauch usualisiert sind, d.h., der Eigenname steht stereotyp für bestimmte Eigenschaften und Merkmale und wird wie ein Appellativ verwendet; oft ist den Sprachbenutzern nicht einmal mehr bewusst, dass hier ursprünglich ein konkretes Referenzobjekt zugrunde lag; Beispiele sind etwa: Casanova, Don Juan, Mekka, Krösus. Einige dieser Eigennamen finden sich auch in Wörterbüchern mit Angabe der stereotyp damit verbundenen Bedeutung. Die zweite Gruppe umfasst Eigennamen, die metaphorisch okkasionell sind, also in unterschiedlichen Kontexten auftreten und der Metapher Eigenschaften zugrunde legen, über die gewisse Einigkeit herrscht, die insofern konventionell sind, die aber nicht in jedem Kontext fest mit dem Eigennamen verbunden sind; hier könnten Namen angeführt werden wie Mutter Teresa oder Paganini. Auch Ortsnamen wie Schweiz, Vietnam oder Afghanistan sind wohl hier dazuzurechnen, deren metaphorische Eigenschaften sich auch wieder ändern können; d.h., dass unterschiedliche Merkmale zur Grundlage eines Vergleichs gemacht werden können - allerdings dann spezifische Stützung durch den Kontext benötigen. Die dritte Gruppe sind oft ad hoc metaphorisch verwendete Eigennamen, bei denen die zugrunde liegenden Eigenschaften nicht konventionell sind - oft auch erst im Kontext interpretierbar werden. Diese scheinen natürlich für den fremdsprachlichen Benutzer besonders problematisch. Einige Beispiele: (1) ... inoffiziell wird er der „John Wayne der Kunst“ genannt. (Db mobil, 10/ 01) (2) Man könnte Carsten van Ryssen den Martin Luther der Straßenumfrage nennen. (SZ 08.01.2001) (3) „Jan-Ove Waldner ist der Mozart des Tischtennisspiels“, hörten wir vor dem Finale. (SZ 30.09./ 01.10.2000) Die angeführten Beispiele sind allerdings auch für befragte muttersprachliche Gewährspersonen nicht mehr genau zu interpretieren. Dem soll am Beispiel Mozart (vgl. (3)) nachgegangen werden. 4 Der Fall Mozart Metaphorische Verwendungen mit dem Eigennamen ‚Mozart’ haben lange Tradition: So hat Robert Schumann 1840 Felix Mendelssohn-Bartholdy als den „Mozart des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet und Erich Kästner nennt den „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 127 Monat Mai den „Mozart des Kalenders“. Eine Recherche von Mozart- Vergleichen allein in journalistischen Texten 3 ergab folgendes Spektrum: • Vergleiche im Umfeld der Musik: Mozart des 19. Jahrhunderts und Mozart der Romantik für Felix Mendelssohn-Bartholdy, Mozart des 20. Jahrhunderts für Andrew Lloyd Webber, für den Schönberg-Schüler Nikos Skalkottas, für Henry Mancini und ein Wiener Wunderkind Anfang des 20. Jhdts., Erich Wolfgang Korngold; Mozart der Jetztzeit für Falco, Mozart der Popmusik für Brian Wilson, für Steve Winwood und für Elton John; Mozart der Disko für Dieter Bohlen; Mozart der Gitarre für Fernando Sor, Mozart der Champs-Elysees für Jacques Offenbach; Mozart der Volksmusik für den 12-jährigen Robert Neumair; • Vergleiche im Umfeld der Künste allgemein: Mozart des Theaters für Luc Bondy, Mozart der Malerei für Flore, ein 10-jähriges Wunderkind, Mozart der deutschen Literatur für den 16-jährigen Benjamin Lebert; • Vergleiche im Umfeld des Sports: Mozart des Fußballs für Michel Platini, für Roberto Baggio und für Mathias Sindelar, Mozart des Tennis für Roger Federer, Mozart des Golfs für Tiger Woods, Mozart des Schach(spiel)s für Michail Tal und für den 14-jährigen Etienne Bacrot, Mozart des Tischtennis(sports) für Jan-Ove Waldner, Mozart des Basketballs für Dran, einen 15-jährigen Spieler; • andere Vergleiche: Mozart der Küche für Fredy Girardet, einen Schweizer Koch und für Jörg Wörther, einen österreichischen Koch; Mozart der Physik für Christian Doppler; Mozart der Rheinebene für den Fußballer Toni Polster. Was genau ist mit diesen Zuschreibungen nun gemeint? Die Interpretation dieser metaphorischen Vergleiche besteht darin, aus den Eigenschaften und Charakteristika des ursprünglichen Namensträgers, Mozart, solche zu finden, die als Grundlage des Vergleichs dienen können, insofern sie auf die jeweiligen mit dieser Metapher bezeichneten Individuen übertragen werden können. Dies ist nicht ganz einfach: enzyklopädische Informationen über Wolfgang Amadeus Mozart nennen vor allem seine biographischen Daten und die komponierten Werke; daraus ist zu schließen und es kann auch als allgemein bekanntes Wissen gelten, dass er ein herausragender Komponist und Musiker war; bekannt und z.T. in Lexika enthalten ist außerdem die Information, dass es sich bei Mozart um ein Wunderkind handelte. All dies hilft zur Interpretation der oben angeführten Metaphern oft nur bedingt: In den Fällen des Vergleichs im Umfeld der Musik kann die Übertragung in den meisten Fällen nicht spezifischer gefasst werden als ‚ein herausragender Musiker (des 20. Jhdts., der Popmusik etc.)’ und in den anderen Fällen (z.B. andere Künste) als ‚ein Herausragender seiner Zunft’. Damit ließe sich die 3 Alle angeführten Formen sind (z.T. mehrfach) belegt und über das IDS-Corpus zugänglich. Auf eine genaue Quellenangabe jeder einzelnen Metapher verzichte ich hier aus Platzgründen. Maria Thurmair 128 Bedeutung von ‚der Mozart des/ der …’ umschreiben mit ‚ein herausragender Vertreter seines Faches’. Eine spezifischere Interpretation versucht der Autor der folgenden Glosse: (4) Der Ehrentitel „Mozart“ ist wohl der schönste Lorbeer, den es in der Welt des Sports, des Geistes und der Künste zu erringen gilt. Den Regisseur Luc Bondy zum Beispiel hat man einmal preisgekrönt als „Mozart des Theaters“. Der schwedische Pingpongspieler Jan-Ove Waldner wiederum ist als „Tischtennis-Mozart“ bekannt. Ein Mozart seines Gewerbes zu sein, das heißt: die Gabe der Anmut und der Leichtigkeit errungen zu haben, lächelnd über das Schwergewicht der Welt und die bleierne Zeit zu triumphieren. (SZ 10.04.2002) Die in (4) versuchte spezifische Erklärung („…Gabe der Anmut und der Leichtigkeit...“) lässt sich auf viele Bereiche, in denen die Mozart-Metapher verwendet wird, nicht vernünftig anwenden (etwa Golf, Küche, Physik). Das spräche für die generelle Umschreibung mit ‚ein herausragender Vertreter seines Faches’. Andererseits scheinen in anderen der oben angeführten Beispiele andere Eigenschaften Mozarts eine Rolle zu spielen (zum Teil wird dies durch den Kontext gestützt, zum Teil nicht): So bildet häufig der Aspekt des ‚Wunderkinds’ die Grundlage des Vergleichs (oben in all den Fällen anzunehmen, in denen das Alter erwähnt wird); so auch bei Mozart der Popmusik in Bezug auf Steve Winwood (vgl. (5)). Im Bezug auf Elton John dagegen (vgl. (6)) liegt das tertium comparationis mutmaßlich in der Exzentrik der beiden Musiker; ganz anders wiederum in Beleg (7), in dem sich - gestützt durch den Kontext - der Vergleich des Fußballers Toni Polster mit Mozart nicht (oder nicht nur? ) auf dessen sportliche Fähigkeiten bezieht, sondern auf ein äußerliches Merkmal, den Zopf (vgl. Mozart-Zopf). Beim Vergleich des Physikers Christian Doppler mit Mozart ist das tertium comparationis in der Tatsache zu sehen, dass beide (berühmte) Söhne der Stadt Salzburg sind (vgl. (8)). (5) „Mozart der Popmusik“ wurde Steve Winwood genannt, als er als Minderjähriger Tophits wie „Keep On Running“ und „Gimme Some Loving“ sang. (KlZ 06.06.1997) (6) Der „Mozart der Popmusik“ trägt einen rosaroten Anzug und gleichfarbige Brille. Hinten auf dem Sakko ist der Schriftzug „Medusa“ zu lesen. (KlZ 18.06.2000) (7) Mit seinem 2: 0 rettete er seinen „Mozart-Haarzopf“. Denn Kölns Co-Trainer Wolfgang Jerat hatte ihm gedroht: „Ein Tor von dir oder ich schneid’ dir den Zopf ab! “ Auch mit der neuen Frisur machte Polster auf sich aufmerksam: „So trifft der Wolfgang Amadeus Mozart der Rheinebene“ kommentierte SAT 1- Reporter Jörg Wontorra. (NKrZ 19.02.1995) (8) Der Mozart der Physik Salzburg hat nicht nur einen großen Sohn. Nein, neben Mozart gibt es einen zweiten. Der geht aber hierorts meist unter, ausländische Gäste wissen oft mehr über seine segensreiche Erfindung. (NKrZ 25.10.1996) „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 129 Zusammenfassend lässt sich zur Mozart-Metapher und ihren Verwandten sagen, dass auch bei vorhandener muttersprachlicher Kompetenz und dem vorauszusetzenden durchschnittlichen kulturellen Alltagswissen sich in den meisten Fällen allenfalls ein ‚ungefähres’ Verständnis einstellt, das sich am Beispiel ‚Mozart des/ der …’ umschreiben lässt mit ‚eine herausragende Person ihrer Zunft’. 4 Und mehr ist vielleicht auch gar nicht intendiert. Tatsächlich tauchen die metaphorisch verwendeten Eigennamen meist nur als einmaliges Aufmerksamkeitssignal in den Texten auf (die Metaphern werden also nicht expandiert) und zwar bevorzugt an exponierten Textstellen: in Überschriften, Zwischenüberschriften oder auch Bildunterschriften. Gerade in der journalistischen Sprache (wo diese Metaphern blühen und gedeihen) haben Überschriften eine Reizfunktion: Sie sollen originell sein, möglicherweise rätselhaft und damit zur Lektüre des Textes anregen. Dazu eignen sich die Eigennamenmetaphern vielleicht besonders gut, weil sie oft besonders rätselhaft sind. Die geforderte Originalität in den Metaphern führt aber auch dazu, dass sie für den anvisierten Rezipienten und damit eben auch den Muttersprachler nicht immer wirklich sinnvoll zu verstehen sind (also leider auch nach der Lektüre des Textes rätselhaft bleiben) - Ziel des Schreibers ist es vor allem, Originalität und Kreativität zu beweisen, es liegt dann am Rezipienten, sich um eine sinnvolle Interpretation zu bemühen. Das Verständnis der Metapher bleibt vage oder fällt ganz aus. Muttersprachler (wenn sie nicht gerade als analysierende Linguisten auftreten) können aber mit diesem mittleren Verständnisgrad ganz offensichtlich sehr gut leben. 5 Eigennamen in Wortbildungen Eigennamen können auf unterschiedliche Weise in Wortbildungsprozesse eintreten; ein erster (rezeptiv relativ unproblematischer) Fall ist, wenn bestimmte Referenzobjekte auch nach ihrem Erfinder, Entdecker oder ‚Urheber’ benannt werden: Röntgenstrahlen, Kneippkur, Semperoper. Gehen Eigennamen in andere Wortbildungsprozesse ein (werden etwa durch Konversion und/ oder Präfigierung und Suffigierung zu Verben und Adjektiven), wird ihre Interpretation erschwert, da in diesen Fällen ebenfalls außersprachliches und damit kulturelles Wissen um bestimmte zentrale oder typische Eigenschaften des mit dem Eigennamen bezeichneten Referenzobjektes zur Interpretation herangezogen wird und zur Grundlage eines Vergleichs gemacht wird. Als ein dafür typisches Wortbildungsmuster soll auf die Konversion von Eigennamen zu Verben eingegangen werden. Hier lassen sich lexikalisierte 4 Wenn Spezifischeres gemeint ist (wie in (5)-(8)) muss dies aus dem Kontext erschlossen werden und setzt damit Texterschließungsstrategien voraus. Maria Thurmair 130 Bildungen nachweisen wie beckmessern, lynchen, morsen, röntgen oder auch mosern. In diesen Bildungen wird entweder auf bestimmte Entdeckungen/ Erfindungen des Namenträgers verwiesen (wie bei morsen und röntgen), häufig aber werden auch typische Eigenschaften, typische Handlungen o.Ä. zur Grundlage des Vergleichs gemacht; vgl. etwa mosern, fringsen, aber auch hegeln, barzeln, heideggern (Motsch 1999, 61) oder gaucken, genschern (Duden 2005, 715). Damit muss nicht nur die Person bekannt sein, sondern auch das Spezifische des Vergleichs. Nun wird dieses Wortbildungsmuster in bestimmten Textsorten - vor allem in journalistischen Texten - auch mit gerade aktuellen mehr oder weniger bekannten Personen verwendet; die richtige Interpretation setzt dann ein relativ aktuelles kulturspezifisches Wissen voraus, das ‚Verfallsdatum‘ dieser Bildungen ist oft kurz (und sie stellen - im Bedarfsfall - Übersetzer vor unlösbare Probleme). Einige Beispiele: (9) Die knapp 60.000 im nicht ganz ausverkauften Stadion waren gewonnen. Ists ein Wunder? Keineswegs, Sir Mick mickjaggerte über die Bühne wie eh und je, Keith Richard klampfte, wie nur er es sich auf solch großen Bühnen trauen darf… (SZ 10.06.2003) (10) „Viele Frauen wissen, dass man sich über die Boulevard-Schiene schnell hochnaddeln kann“, sagt Experte Paul Sahner, Vize-Chefredakteur der Bunte. (SZ 30.11.01) (11) [Franz] Beckenbauer redet gern und viel - er „franzelt“, sagen sie in Fußballerkreisen. Seine Stimme ist ruhig und kommt von irgendwo tief unten. Man könnte auch sagen, dass franzeln wie blubbern klingt, vielleicht trägt das zum Gefühl bei, man könne versinken in lauter Beckenbauer. (SZ-Magazin Nr. 2, 11.01.2002) (12) [Wir] diskutieren intern den Schönheitswert einiger Worte, die auch jenseits des bairischen Sprachraums wenn schon nicht von großer Bedeutung, so doch zumindest von gewisser Bekanntheit sein dürften. Da wäre zum Beispiel „södern“, was seit der Inthronisation des aktuellen CSU-Generalsekretärs als Steigerung von „saudumm daherreden“ gilt. Oder „stoibern“ als Synonym für die Verirrung im Gestrüpp der Relativsätze. Viele Punkte erhielt „hohlmeiern“ als Kürzel für „sich an den eigenen Haaren in den Sumpf ziehen“. … (SZ 29.07.2004) Die Beispiele zeigen Wortbildungen, bei denen die zugrunde gelegte Person als weitgehend bekannt gelten kann (Mick Jagger in (9), Franz Beckenbauer in (11)), bisweilen (z.B. in (11) und (12)) wird die Bedeutung dieser Wortneubildungen erklärt. Beides gilt nicht für (10), das zur genauen Interpretation dann spezifisches Wissen braucht. Nun könnte man argumentieren, bei den angeführten Bildungen handele es sich ohnehin ‚nur’ um Okkasionalismen, um ad-hoc-Bildungen, die genauso schnell verschwinden, wie sie entstanden sind, und die deshalb die Interpretationsmühe vielleicht gar nicht wert sind. Abgesehen davon, dass solche journalistischen Texte gerade in der Auslandsgermanistik aus verschiedenen Gründen eine große Rolle spielen und damit häufig einer genaueren Analyse unterzogen und oft auch übersetzt werden, abgesehen davon „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 131 also möchte ich mich im Folgenden mit einer Bildung beschäftigen, für die die angeführten Argumente aus einem anderen Grund nicht gelten. 6 „Hoyzern, bis der Papst kommt“: Der Fall hoyzern Es handelt sich bei dem Verb hoyzern um eine nach dem oben zitierten Muster geformte Wortbildung (Konversion eines Eigennamen), mit einer Semantik, die zunächst allgemein so beschrieben werden kann: ‚etwas in der Art von EIGENNAME tun’. Zugrunde liegt dem Verb hoyzern der Eigenname (Robert) Hoyzer, dessen Träger Berühmtheit dadurch erlangte, dass er als Fußballschiedsrichter Spiele „verpfiff“ und damit Wetten manipulierte. Nach Aufdeckung dieses Skandals erschien das Verb hoyzern in bestimmten journalistischen Texten und in der Alltagssprache (hier belegt durch Internetforen und chats). (13) Wetten auf das Pontifikat Hoyzern, bis der Papst kommt Je wahrscheinlicher der Ausgang eines Ereignisses ist, desto niedriger fallen die Wettquoten dafür aus. Klar. Ein britisches Wettbüro weist für unseren Kardinal Ratzinger eine Quote von 3: 1 bei der nächsten Papstwahl aus. […] Das riecht förmlich nach Manipulation. Könnte sein, dass da jemand einen „Hoyzer“ mit einer „Simonis“ kombinieren will: mit Insider-Informationen auf eine bevorstehende Wahl wetten. http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ artikel/ 325/ 51274/ (Seite vom 14.04. 2005; Zugriff am 08.07.2006). (14) Nie wieder „Blindgänger“ schreien Ein neues Schiri-Schimpfwort macht im deutschen Fußball die Runde und droht, die klassischen zu verdrängen: Hoyzer. […] Robert Hoyzer ist aktuellen Erkenntnissen zufolge nicht der einzige Schiedsrichter, der betrogen hat. Doch steht sein Name wie kein anderer symbolisch für einen der größten Skandale, die der deutsche Fußball je erlebt hat. […] Außerdem taucht hin und wieder ein Verb „hoyzern“ auf, das ausdrücken soll, dass etwas manipuliert worden ist. […] Vielleicht geht […] „hoyzern“ ja in den Wirtschaftswortschatz ein. „Ich habe mir die Bilanzen nur ein bisschen zurechtgehoyzert“, werden wir dann womöglich Manager in Mikrofone sprechen hören. Lingua et Opinione (= LEO). http: / / www.tu-chemnitz.de/ phil/ leorahmen. php? seite=r_sport/ kittler_hoyzer.php (Seite vom 22.02.2005; Zugriff am 08.07. 2006). (15) ChaosZebra001, 16.05.2006: Bei der Gelegenheit auch von mir ein Dank an all meine Auswerter ! ! ! Minuspunkte gibt’s nur für Loewenmut - der hätte ein wenig mehr hoyzern müssen. http: / / www.drin-isser.de/ board/ thread.php? goto=lastpost&threaddid=2267 0& (Seite vom 16.05.2006; Zugriff am 08.07.2006). (16) RIQUELME 2005-01-30 17: 57: 40 [verweist auf ein Bild mit einer Fußballszene] was meinen sie gelb oder rot? Maria Thurmair 132 Rrr 2005-01-30 18: 00: 10 Riq, das habe ich Ihnen bereits erklärt. Der Portugiese versucht mit den Händen noch die Sturzbewegung abzufedern, eine sehr faire Geste. Ich würde sagen: Fairplay-Preis für Figo! Sie hoyzern sich zur Meisterschaft, Herr Riquelme. So machts keine Freude, oder? http: / / fussballblog.espace.ch/ p799.html; (Seite vom 30.01.2005; Zugriff am 08.07.2006). (17) Das lief ja wie gehoyzert Der Fall Hoyzer wird heute vor Gericht verpfiffen, ehm, verhandelt. Ich finde, der Tragweite des Falls gebührt eine vernünftige Betonierung in unserem Sprachgebrauch. Ich werde nun also nur noch von „hoyzern“ sprechen. Beispiel: „Das werden wir schon hoyzern“ oder „Das lief wie gehoyzert! “ http: / / www.norfweb.de/ archives/ 2005_10.html (Seite vom 18.10.2005; Zugriff am 08.07.2006). Die Kontexte, in denen das Verb hoyzern auftritt, zeigen zwar, dass die Bedeutung ‚etwas in der Art von Hoyzer tun’ immer zutreffend ist, aber auch nicht spezifischer gefasst werden kann; so wird in (13) das Verb verwendet in der Bedeutung ‚Wetten manipulieren’, der Bedeutungsanteil ‚als Schiedsrichter’ fehlt; in (14) wird als explizite (laienlinguistische) Erklärung noch etwas genereller angegeben, ‚dass etwas manipuliert worden ist’; ebenfalls ‚manipulieren’ im Zusammenhang mit Wetten (aber nicht als Schiedsrichter) zeigt (15), genauso ‚betrügen’ und ‚manipulieren’ in (16), während in (17) die Bedeutung noch vager bleibt. Auffallend ist hier bereits, wie wichtig der Kontext für die Bedeutungsfestlegung ist, insbesondere auch die syntaktische Struktur (z.B. ‚sich zu etwas hoyzern’ in (16), ‚sich etwas zurechthoyzern’ in (14)). Im Dezember 2005 wählte nun die Jury der GfdS (Gesellschaft für deutsche Sprache) das Verb hoyzern als siebtes unter die Wörter des Jahres mit einer Bedeutungserklärung, wie sie in (18) nach <welt.de> wiedergegeben wird. In (19) wird diese Erklärung als ‚verpfeifen’ wesentlich spezifischer bestimmt. Die Wahl des Wortes hoyzern führte daraufhin in verschiedenen Internetforen zu Diskussionen über seine Bedeutung; die von der GfdS angegebene Bedeutung wurde entweder nicht wahrgenommen oder half nicht weiter. Beispiel (20) zeigt einmal, wie wichtig das kulturelle Wissen ist (zur Bedeutungserklärung des Verbs wird ja ausführlich auf außersprachliches, kulturelles Wissen zurückgegriffen, ähnlich übrigens in (21)), zeigt aber auch, dass dieses offensichtlich auch bei Muttersprachlern nicht reicht („Wie das Verb nun zu verwenden wäre, weiß ich auch nicht so recht“). Ähnlich stellt in dem Internetforum ‚Wordreferences’ gleich nach der Wahl der Wörter des Jahres eine Nicht-Muttersprachlerin die Frage nach der korrekten Bedeutung dieser Bildung (vgl. (21)); neben Sachinformationen zum Träger des Eigennamens und dem mit ihm verbundenen Skandal (Beitrag von MrMagoo) wird in dem Versuch einer Gebrauchsbestimmung von Whodunit zwar der Aspekt des ‚falsch Pfeifens’ als Bedeutungsbestandteil fokussiert, der Aspekt des ‚Manipulierens um einen eigenen Vorteil zu erzielen’ scheint „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 133 dagegen fakultativ zu sein. In eine ähnliche Richtung geht schließlich der Gebrauch von hoyzern in Beispiel (22): hier ist hoyzern in seiner Bedeutung ‚als Schiedsrichter durch Pfeifen Spiele manipulieren’ nur noch ironisch zu verstehen; im Lauf des Dialogs festigt sich meines Erachtens - gerade durch die Übernahme durch den jeweils nächsten Sprecher - allmählich eine Bedeutung von hoyzern, die sich eher mit ‚als Schiedsrichter tätig sein’ umschreiben lässt. Deutlich später, während der WM 2006 in Deutschland, wird in einem sprachkritischen Internetforum das Wort noch einmal aufgegriffen, ohne jedoch erklärt zu werden (vgl. (23)). (18) 7. hoyzern (für betrügen, nach dem Schiedsrichterskandal und dessen Hauptakteur, dem für Manipulationen im Profi-Fußball verurteilten Berliner Robert Hoyzer) http: / / www.welt.de/ data/ 2005/ 12/ 16/ 818746; (Seite vom 16.12.2005; Zugriff am 08.07.2006). (19) „Bundeskanzlerin“ vor „Wir sind Papst“ Angela Merkel hat sich gegen Papst Benedikt XVI durchgesetzt: Als „Wort des Jahres“ hat die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden […] Skandal-Schiedsrichter Robert Hoyzer schaffte es mit dem nach ihm benannten „hoyzern“ als Synonym für „verpfeifen“ auf Rang sieben. http: / / www.hr-online.de/ website/ rubriken/ nachrichten/ index.jsp? rubrik=5 710&key=standard_document_14819098 (Seite vom 16.12.2005; Zugriff am 08.07.2006). (20) DannyFox64, 18.12.2005 18.10 Die GfdS hat wieder ’mal gewählt: Nach Bundeskanzlerin (Platz 1) […] folgen u.a. auf Platz 7: hoyzern Nett. Wirklich! - Nur: was ist „hoyzern“? Kann man jemanden „anhoyzern“ oder muss man „hoyzern“, weil einem etwas unangenehm in die Nase gestiegen ist? Oder „hoyzert“ man auf der Straße, wenn man betrunken ist? […] Kreszenz, 18.12.2005 18.17 Die Erklärung: 7. hoyzern (für betrügen, nach dem Schiedsrichterskandal und dessen Hauptakteur, dem für Manipulationen im Profi-Fußball verurteilten Berliner Robert Hoyzer) DannyFox64, 18.12.2005 18.29 Ah, jetzt ja! Eine…: -) Danke! Hatte halt die ganze Sache um die SchiRi-Skandale nicht so verfolgt. Drambeldier, 18.12.2005 18.21 hoyzern bezieht sich auf den Fußballschiedsrichter Hoyzer, der gegen Bares Spiele nach Wunsch ausgehen ließ. Wie das Verb nun zu verwenden wäre, weiß ich nicht so recht. http: / / www.wer-weiss-was.de/ theme143/ article3285413.html (Seite vom 18.12.2005; Zugriff am 08.07.2006). (21) Jana337 16th December 2005, 11.55 PM [zitiert die Wörter des Jahres; M.T.] Alles ist eingermaßen klar, nur hoyzern nicht. Die Suche bei Google ergibt, dass es ein Schimpfwort ist und dass der Schiedsrichter Robert Hoyzer damit etwas zu tun hat. Meine Schlussfolgerung: Manipulieren? Maria Thurmair 134 Wie kann man das Wort benutzen? Und glaubt ihr, es wird überleben? Oder ist es nur so ein Modewort? MrMagoo 17th December 2005, 12.08 AM Ich wußte gar nicht, daß man daraus schon ein Verb gebildet hat ; ) Ja, Robert Hoyzer ist ein Schiedsrichter, der mehrere Fußballspiele manipuliert und/ oder in Manipulationen verwickelt war. Die ganze Sache kam irgendwann vor Karneval heraus, denn zum Karneval liefen viele im „Hoyzerkostüm“ (d.i. ein Schiedsrichtertrikot) herum mit der Aufschrift „Wettannahmestelle“. ; ) Seine (und es stellte sich später heraus, daß auch andere Schiedsrichter und Spieler involviert waren) Aktionen haben dem Ansehen des Fußballs in Deutschland geschadet und Hoyzer wurde der Inbegriff für manipulierte Spiele. Hoyzer bedauerte die Sache anschließend, was die Richter allerdings nicht davon abhielt, ihn zu zweieinhalb Jahren Gefängnis zu verurteilen. (Meiner Meinung nach allerdings eine übertriebene Strafe...) […] Die ganze Geschichte zog sich recht lange durch die Zeitungen, besonders hier in meiner Gegend, denn einer der Fußballvereine, bei denen Hoyzer bei einem oder zwei Spielen falsch pfiff, war der SC Paderborn. Whodunit 17th December 2005, 12: 58 AM Hm, du fragtest nach dem Gebrauch ... ich würde es nie gebrauchen, aber wenn schon, denn schon: „Ich musste neulich wieder ein Fußballspiel pfeifen, weil alle Schiris ausgefallen waren. Da hatte ich ja Schwein, dass es nicht so wichtig war, denn ich hab viel falsch gepfiffen ... man hätte ja fast behaupten können, ich hätte auf dem Platz ’ne Runde rumgehoyzert.“ Ach, du meine Güte! Das sagt keiner. http: / / forum.wordreference.com/ showthread.php? t=78423 (Seite vom 17.12. 2005, Zugriff am 08.07.2006). (22)benny21035 31.03.2006, 19.30 Bis jetzt noch keine Spielabsage fürs WE erhalten Kann ich morgen endlich mal nen Spiel (ver)pfeifen Amsterdam77 31.03.2006, 19.32 Hoyzer, hoyzer torbinho 31.03.2006, 20.05 naja für WoE gibt es keine direkte absage… auf hfv.de steht, dass die Platzwärte entscheiden… bin ich mal gespannt, ob ich morgen randarf. benny21035 31.03.2006, 20.27 Wo und was fürn Spiel sollst du denn Hoyzern? torbinho: 31.03.2006, 21.08 ne, morgen sollte ich nicht hoyzern sondern selber spielen…a jungend landesliga…hoyzern muss isch erst in paar wochen wieder. http: / / www.hsv-forum.de/ showthread.php? p=1758338 (Seite vom 31.03. 2006; Zugriff am 08.07.2006). (23) Grundmann: 12. Juni 2006: Fußballjargon Fußball regiert im Augenblick nicht nur die Welt, er regiert auch unsere Sprache und unser Denken! […] Bei der Recherche zum Unwort des Jahres stieß ich dann auf einen weiteren Beleg der Allmacht des Fußball: Auf Platz 7 der Wahl zum Wort des Jahres 2005 […] wählte die erlesene Jury doch tatsächlich den Begriff „hoyzern“. Was ist „hoyzern“? Wissen unsere Kinder in fünf Jahren noch, was „hoyzern“ ist? Wahrscheinlich doch… wenn der allgemeine Ausnahmezustand noch lange andauert… „… ma Mozart non l’ho trovato! ” 135 http: / / textgrund.de/ system-cgi/ blog (Seite vom 12.06.2006; Zugriff am 08.07. 2006) Was ergibt nun diese Analyse? Auch hier zeigt sich, dass die Bedeutung des neu gebildeten Verbs nur ungefähr wiedergegeben kann und dieses je nach Benutzer und je nach Kontext verschieden spezifische Bedeutungen annehmen kann. Experten und Laien haben offensichtlich recht unterschiedliche und nicht immer genaue Vorstellungen von der Semantik von hoyzern. Dieses ungefähre Verständnis hat wiederum nichts mit dem Status des Rezipienten zu tun - auch Muttersprachler, die mit dem speziellen alltagskulturellen Geschehen vertraut sind, können das Wort nicht genauer beschreiben -; das machen die angeführten Belege deutlich. 7 Zusammenfassung Am Beispiel der Verwendung von Eigennamen sollte im Vorangegangenen aufgezeigt werden, dass auch mit muttersprachlicher Kompetenz bestimmte lexikalische Einheiten oder bestimmte Konstruktionen nicht exakt interpretiert werden können, sondern dass ein ungefähres Verständnis, das in der Regel stark kontextgestützt entsteht, oft ausreicht. Nun könnte man einwenden, das habe etwas mit der Spezifik der Eigennamen zu tun. Dies ist aber nicht der Fall, sondern gilt für viele Bereiche des Lexikons gleichermaßen. Ein Beispiel sind Wortbildungen, insbesondere Komposita: Die Regeln der Kompositabildung im Deutschen (insbesondere für Nomen-Nomen-Komposita) erlauben oft gerade keine Analyse im Sinne einer exakten Paraphrase; als weiteres Beispiel könnte man auch Abkürzungen nennen, bei denen ebenfalls muttersprachliche Kompetenz zur genauen Analyse oft nicht ausreicht. Es gibt also vieles (nicht nur Eigennamen) in den gerade in der Auslandsgermanistik gerne gelesenen Texten, was nicht in unseren Wörterbüchern steht und was wir Muttersprachler und Inlandsgermanisten auch nicht so genau wissen. Aus diesem Grunde kann man den nicht-muttersprachlichen Auslandsgermanisten zu einer gewissen Gelassenheit raten (manche Dinge lassen sich nicht genau analysieren und im Grunde genommen auch nicht übersetzen) und sie gleichzeitig um Nachsicht für uns Muttersprachler mit unserer bisweilen defizitären Kompetenz bitten. 8 Bibliographie Duden. Bd. 4 (2005): Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. Aufl. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav [Hrsg.] (1995): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, 1. Teilband. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 11/ 1-1). Maria Thurmair 136 Greule, Albrecht/ Franz, Kurz [Hrsg.] (1999): Namenforschung und Namendidaktik. Gerhard Koß zum 65. Geburtstag. Baltmannsweiler. Kalverkämper, Hartwig (1995): Textgrammatik und Textsemantik der Eigennamen. In: Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav [Hrsg.] (1995): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, 1. Teilband. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 11/ 1-1), 440-447. Lötscher, Andreas (1995): Der Name als lexikalische Einheit: Denotation und Konnotation. In: Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav [Hrsg.] (1995): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, 1. Teilband. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 11/ 1-1), 448-457. Motsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Thurmair, Maria (2002a): Der Harald Juhnke der Sprachwissenschaft. Metaphorische Eigennamenverwendungen. In: Deutsche Sprache 30, 1-27. Thurmair, Maria (2002b): Eigennamen als kulturspezifische Symbole oder: Was Sie schon immer über Eigennamen wissen wollten. In: ANGLOGERMÀNICA ON- LINE 2002, Bd. 1. Abrufbar unter http: / / www.uv.es/ anglogermanica/ 2002-1/ thurmair.htm. Weinrich, Harald (1976): Allgemeine Semantik der Metapher. In: Weinrich, Harald [Hrsg.]: Sprache in Texten. Stuttgart, 317-327; zuerst 1967. Weinrich, Harald (2003): Textgrammatik der deutschen Sprache (unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl, Eva-Maria Willkop). 2. Aufl. Oldenburg. Werner, Otmar (1995): Pragmatik der Eigennamen. In: Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav [Hrsg.] (1995): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, 1. Teilband. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 11/ 1-1), 476- 484. Zenon Weigt Textsorten in der universitären Didaktik 1 Text - Textsorten Aus dem Reichtum aller Diskussionen über die Textdefinitionen, die an das Problem aus verschiedenen Standpunkten und unter unterschiedlichen Aspekten herangehen, lässt sich ganz allgemein zusammenfassen, dass der Text nach Brinker (1994) eine komplexe sprachliche Handlung ist, nach Heinemann/ Viehweger (1991) als Ergebnis sprachlichen Handelns angesehen wird und dadurch eine bestimmte Handlungsstruktur aufweist sowie unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllt. Aus der Vielfalt der Definitionen lassen sich auch solche herausgreifen, die ihrem Inhalt nach einen direkten Bezug auf das Subjekt im Kommunikationsprozess, d.h. auf den Textempfänger und den Textproduzenten aufweisen, was für die universitäre Didaktik im Rahmen eines Germanistikstudiums im Ausland von Bedeutung ist. Der Studierende ist in diesem Prozess sowohl der Textempfänger als auch der Textproduzent. In diesem Sinne ist die Definition des Textes von Duden (2005, 1070) für didaktische Zwecke treffend: „Ein Text ist ein komplexes sprachliches Zeichen, das von den Kommunizierenden zusammenhängend kodiert bzw. dekodiert wird. Schreiber und Leser folgen dabei syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln.“ Für den Gebrauch dieses Aufsatzes, wo bestimmte Textsorten exemplarisch im didaktischen Einsatz (zusammenhängend mit einigen Inhalten der betreffenden Lehrveranstaltung) präsentiert werden, ist es notwendig, Textsorte zu bestimmen. Bußmann (2002, 690) definiert sie als: „Gruppe von Texten mit gleichen situativen und meist auch sprachlichstrukturellen Merkmalen. Soweit der Terminus T. nicht undifferenziert für verschiedene Arten von Textklassen verwendet wird, bezieht man ihn, in Abgrenzung vom weiteren, systematisch definierten Begriff, auf die detaillierteren Handlungsmuster der Alltagssprache und der Fachsprachen, wie sie sich sprach- und kulturspezifisch für wiederkehrende kommunikative Zwecke herausgebildet haben; ... Die wichtigsten kommunikativen Merkmale von T. bzw. ihrer Benennung sind Textfunktion, Textthema und situative Aspekte der Textkonstellation. Manche T. verfügen über keine feste Form, andere haben eine prototypische Ausprägung, von der thematisch-inhaltlichen Superstruktur bis hin zu Formulierungsmustern und Stilmerkmalen. Auf Grund solcher typischen Merkmale können T. zur Erzielung stilistischer Effekte gemischt und manchmal sogar situationsbestimmend verwendet werden.“ Zenon Weigt 138 Unser Anliegen ist es, eine von vielen Varianten der Anwendung von Textsorten in der universitären Didaktik zu zeigen. Sie wird sich im Blick auf die Materie und im Auffassen des Problems von anderen Germanistiken im Ausland und auch von der innerdeutschen Germanistik unterscheiden. 2 Universitäre Textsorten-Didaktik in der Auslandsgermanistik In der Ausbildung der Neuphilologen ist die Entwicklung der Sprachkompetenz eines der Hauptziele in Lehrprogrammen. Der erste Kontakt mit einem Text als Lehrstoff erfolgt während der praktischen Übungen zur deutschen Sprache sowie im Seminar zur deutschen beschreibenden Grammatik. Im Falle der ersteren werden die Sprachfertigkeiten im schriftlichen (Aufsätze, Tests usw.) und mündlichen Ausdruck (u.a. Konversation, teilweise Hörverständnisübungen und Leseverstehen) erworben. Im Seminar zur deutschen beschreibenden Grammatik ist der Text das Objekt einer sprachwissenschaftlichen Analyse. Hierfür passt die Definition des Textes nach Engel u.a. (1999, 39): „Man kann Texte zerlegen in ihre Bestandteile - in Sätze, Wortgruppen, Wörter, Affixe, Flexionsendungen u.a. Auch wir sind gezwungen, im vorliegenden Buch solche Zerlegungen vorzunehmen, sprachliche Ausdrücke oder Teile von solchen Ausdrücken als Beschreibungsobjekt zu isolieren. Aber immer geht es uns auch dabei um die Erklärung von Texten. Nur im Text lebt die Sprache. Was ist aber ein Text? Einer verbreiteten Meinung zufolge handelt es sich bei Texten immer um längere Folgen sprachlicher Äußerungen - um Briefe etwa, Gebrauchsanweisungen, Nachrichten über aktuelle Ereignisse, auch um Romane. Diese Ansicht ist nicht ganz richtig. Auch die Aufschrift auf einem Schild an der Innenseite der Tür eines Eisenbahnwagens, auch der Hinweis an einer Theke im Foyer des Theaters, ... , sind Texte. Sie bedürfen zwar, um verstanden zu werden, einer speziellen Kon-Situation, aber sie benötigen keine Ergänzung, sind vielmehr im gegebenen Rahmen aus sich heraus verständlich. Texte brauchen auch nicht unbedingt im grammatischen Sinne korrekt zu sein.“ Die in der angegebenen Definition angesprochene fehlende Grammatikalität des Textes ist in der Philologenausbildung nicht zu akzeptieren, da zu deren Ausbildung die Korrektheit auf allen Ebenen der Sprache notwendig ist. Die Arbeit mit dem Text fängt in den ersten Semestern des Studiums eher auf der Ebene des Satzes und seiner Bestandteile, sogar des Morphems, an. 1 Sowohl für den schriftlichen als auch für den mündlichen Ausdruck werden Texte als Verständigungsmittel in bestimmten Sprechakten angewendet. Beim mündlichen Ausdruck schafft man eine konkrete Situation, in der die beabsichtigten Texte entstehen. Man beachtet dabei, dass die Studenten den entsprechenden Texttyp zuerst durch seine charakteristischen sprachlichen Merkmale kennen lernen und ihn dann selbst produzieren. 1 Zur Behandlung von einzelnen Satzphänomenen siehe auch Greule (2005, 165). Textsorten in der universitären Didaktik 139 3 Einsatz von Pressetexten Man arbeitet vor allem mit Texten, die einen informativen Charakter haben; im didaktischen Prozess eignen sich dazu besonders gut die Pressetexte. Die Presse ist u.a die Quelle für meinungsbildende Texte, wie z.B. Kommentare und Rezensionen, darunter auch politische Kommentare. Bei Pressetexten (da es dort eine Vielfalt von unterschiedlichen Textsorten gibt) geht es auch um Vermittlung von Weltwissen. Diese Texte erweitern das Allgemeinwissen der Studierenden, die dadurch die Möglichkeit haben, sich über die aktuellen Probleme in der Politik, Wirtschaft usw. der deutschsprachigen Länder informieren zu lassen. Bei der Übersetzung von Pressetexten wird das Weltwissen der Studenten auch vorausgesetzt, denn die Thematik, die dort dominiert, betrifft viele Lebensgebiete, Politik, populärwissenschaftliches aber auch quasifachliches Wissen, viele Neologismen, die ohne Kenntnis der Realien 2 des betreffenden Landes für den Ausländer unverständlich sind, sowie interlinguale Kommunikation, die viele Bezüge auf die Nachbarländer haben. Koniuszaniec (2000, 247) bekräftigt dies folgendermaßen: „W toku rozwoju poszczególnych pa stw kształtuj si nie tylko odmienne systemy norm społeczno-kulturowych, ale zmienia si równie słownictwo okre laj ce zaistniał rzeczywisto , jak i zbiór reguł, tworz cych norm j zykow . Zmiany j zykowe dokonuj si zarówno w obr bie ujednolicaj cej normy, jak i w zakresie j zykowej kompetencji poszczególnych członków danej wspólnoty komunikatywnej, posługuj cych si własnym idiolektem. Zmienia si wreszcie samo nastawienie do pewnych konwencji rzeczywisto ci j zykowej i pozaj zykowej.“ 4 Interviews für Studienarbeiten Die Textsorte Interview wird oft im Magister- und Spezialseminar (Vorbereitungsseminar zur Magisterarbeit) als Beispieltexte für eigene Forschung genutzt. Es geht dabei um solche Magisterarbeiten, bei denen sich die Annahmen aus dem theoretischen Teil der Arbeit durch Erarbeitung von Fragebögen im praktischen Teil bestätigen lassen. Die Studenten fertigen in Anlehnung an die Fachliteratur Fragebögen zur Erfragung von verschiedenen sprachlichen Phänomenen unter Probanden (Straßenpassanten, Kommilitonen usw.), um den analytischen Teil in der Magisterarbeit mit entsprechendem Belegmaterial zu füllen, z.B. betreffs des Gebrauchs von Fremdwörtern im Gegenwartsdeutschen. 5 Vorzüge von Gebrauchstexten Die nächste Textsorte, die im Germanistikstudium eine breite Anwendung findet, sind die Gebrauchstexte, die oft standardisiert sind. Die praktische 2 Realien-Begriffe für Spezialitäten und Getränke bei Sieradzka (2005, 317). Zenon Weigt 140 Seite dieser Texte ist ihr Kontakt mit dem Alltagsleben, z.B. Vertragstexte, Gebrauchsanweisungen oder Kochrezepte, wodurch ihre Rezeption bei den Studenten problemlos ist. Der Rezeptionsprozess wird auch dadurch beschleunigt, dass die Lexik aus der Gemeinsprache den Gesamtwortschatz dieser Texte determiniert. Auch die Schlüsselwörter als wichtige Begriffe in dieser Textsorte werden mehrmals im Textverlauf wiederaufgenommen. Das Textverständnis kann aber bei den Studierenden durch den hohen Anteil an Fremdwörtern und fachsprachlichen Ausdrücken, die für den Textinhalt dieser Textsorte charakteristisch sind, erschwert werden. 6 Funktion des Textes bei der Übersetzung Eine andere Funktion muss der Text im Übersetzungsunterricht erfüllen. Der Übersetzungsprozess besteht u.a. darin, dass der Übersetzer den Sinn des Textes aufgrund des Inhalts und der Form dekodiert, ihn interpretiert und einen mentalen Text in der zu übersetzenden Sprache aufbaut, den er dann als Repräsentation eines Textes an den Empfänger weiterleitet. Bei diesem Verstehensprozess reicht nicht die Sprachkompetenz selbst, die zur Rezeption und Produktion der Texte im Falle der praktischen Übungen der deutschen Sprache ausreichend ist, hier kommt noch die Übersetzungskompetenz hinzu, die ihrerseits zuerst als solche gesehen werden muss und durch die Sprach- und Sachkompetenz bedingt ist. Die Übersetzungsseminare bilden die Studierenden in zwei Richtungen aus, d.h. angeboten werden sowohl literarische als auch Fachtexte zum Übersetzen, um den Studenten einen möglichst breiten Einblick in die Übersetzungstechniken und -strategien solcher Texte zu geben. Bei den Ersteren geht es um kurze literarische Textsorten wie Erzählung, Novelle bzw. Auszüge aus längeren literarischen Formen wie z.B. Romanen oder Theaterstücken. Gewählt werden auch solche Texte, die von Berufsübersetzern bereits übersetzt worden sind, um bestimmte Parallelen zu ziehen und Textvergleiche 3 zu machen. Die Studenten können anhand von Übersetzungen feststellen, wie die betreffenden Texteinheiten bereits übersetzt worden sind und sie analysieren, welche Übersetzungstechniken und -strategien in der Übersetzung angewendet worden sind. Sie dienen auch als Vergleich der Übersetzungsleistung bei Studierenden selbst. Im theoretischen Teil der literarischen Übersetzung gibt es im Hintergrund Prinzipien einer guten literarischen Übersetzung, die von Savory (1968, 50) angegeben wurden. Unter anderem geht es dort um folgende Prinzipien: „give the ideas of the original, read like an original work, reflect the style of the original, read as a contemporary of the translator, sometimes add to or omit from the original, translate verse into verse.” Die Studenten sollen dabei die Unterscheidung zwischen der literarischen und nicht- 3 Zur Intertextualität in der literarischen Übersetzung siehe Sumera (2000, 465). Textsorten in der universitären Didaktik 141 literarischen Übersetzung lernen, die unterschiedliche Übersetzungsmechanismen und -prozeduren in Bezug auf textinterne und textexterne Faktoren nach sich zieht. Zu den textexternen Faktoren gehören u.a. kulturbedingte Aspekte, 4 die das interkulturelle Denken der Studenten fördern und ihr Wissen bereichern. Die andere Richtung im Übersetzungsunterricht ist die Übersetzung von Fachtexten, 5 die von den Studenten andere Übersetzungsfähigkeiten fordert. Die meisten Schwierigkeiten bereiten den Studierenden Rechtstexte. Es ist allgemein bekannt, dass die juristische Fachsprache wegen ihres hermetischen Charakters nicht allen Teilnehmern einer forensischen Kommunikationssituation zugänglich ist. Dies betrifft auch Texte der Verordnungen in der Kommunikation mit der Verwaltung bzw. den Ämtern. Während dieser Übungen lernen die Studenten ihre Aufgabe als Übersetzer, d.h. diese Texte für die Empfänger sprachlich, sachlich und situationsgemäß so umzugestalten, damit ein Kommunikationsprozess überhaupt zustande kommen kann. Auch das hängt im Endeffekt von der Interpretation 6 des Textes durch den Übersetzer ab. 7 Wir pflichten Pie kos (1999, 121) bei, wenn er über die Interpretation des zu übersetzenden Textes folgendes schreibt: „Powodzenie w przekładzie tekstu prawnego, ... , zale y od umiej tno ci rozró niania i analizowania przez tłumacza problemów, jakie rodzi tekst prawny. Bez znajomo ci prawa lub danej dziedziny prawa tłumacz nie b dzie w stanie oceni , a cz sto i zrozumie , znaczenia wyrazów, terminów słownictwa prawniczego w ogóle. Zanim przyst pi do spełnienia swojej misji przekazania komunikatu zawartego w tek cie ródłowym, tłumacz musi si upewni , czy zrozumiał ten komunikat. Wymaga to znajomo ci systemu prawnego, na którym dany komunikat jest oparty, mo na j uzyska dzi ki badaniu dokumentów ródłowych lub konsultacji ze specjalistami. ... Rozwa aj c, jak przekaza komunikat w j zyku docelowym, równie zwi zanym z okre lonym systemem prawnym, tłumacz musi posiada wiedz o systemie prawnym tego j zyka docelowego. Nast pnie musi porówna oba systemy, aby okre li poj cia i znale dla nich odpowiedniki.“ Die Gesetzessprache ist im Übersetzungsunterricht, wo mit juristischen Texten gearbeitet wird, als ein unentbehrlicher Bestandteil der Fachsprache Recht zu interpretieren. Die typische normative Struktur dieser Texte sollte mit anderen juristischen Texten verglichen werden. Da das Vorwissen der Studierenden auf den o.a. Fachgebieten nicht vorhanden ist, sind die Studierenden verpflichtet, um die Rechtssprache besser zu verstehen, an Gerichtsverhand- 4 Siehe in Bezug auf die Übersetzung der Märchen Kaszy ski/ Krysztofiak (2000). 5 An der Lodzer Germanistik bevorzugt werden Fachtexte aus solchen Bereichen wie Recht, Wirtschaft und Medizin. 6 Vgl. auch Weigt (2000, 396). 7 Zur forensischen Kommunikationssituation schreibt Wassermann (1979, 120) Folgendes: „Die juristische Terminologie wird ... dem Juristen so geläufig wie seine Muttersprache. Das hat zur Folge, daß dem Richter, Staatsanwalt, Rechtspfleger oder Anwalt eine Übersetzungsaufgabe zugemutet wird, wenn man z.B. von ihm verlangt, er möge sich in der Gerichtsverhandlung so ausdrücken, daß ihn die Beteiligten - Parteien, Angeklagten, Zeugen - verstehen.” Zenon Weigt 142 lungen teilzunehmen oder in einer Notarkanzlei die Ausfertigung von notariellen Urkunden zu beobachten. Im didaktischen Prozess werden die Schwerpunkte bei den nicht literarischen Übersetzungsarten auf die textbildenden Elemente des Originaltextes gelegt und dazu braucht der Studierende ein Minimum an juristischem Wissen. Diese Kompetenz ist im Kommunikationsprozess markiert, deswegen sind die Beziehungen und Intentionen wichtig, die zwischen den einzelnen Kommunikationspartnern bestehen. Wir pflichten Vernay (1991, 28) bei: „So gesehen haben wir die Relation zwischen Übersetzer und Sender des Originals, dessen Intentionen der Übersetzer kennen muß, zwischen Übersetzer und Sachen und Sachverhalten im Sinne einer adäquaten Sachkenntnis und schließlich zwischen Übersetzer und Empfänger der Übersetzung sowie zwischen jenem und dem Empfänger des Originals im Hinblick auf die jeweils vorhandene Vorinformation.“ An dieser Stelle wird auch das Problem der Arbeit mit Fachtexten deutlich. Die meisten Schwierigkeiten, die bei der Arbeit der Germanistikstudenten mit den Fachtexten auftreten, sind u.a. die große Zahl fachspezifischer Lexik, berufsspezifische Sachbereiche, mehrgliedrige Komposita und der Nominalstil. Die Arbeit mit dem Fachtext fordert sowohl vom Studenten als auch vom Dozenten ein größeres Quantum an fachspezifischem Wissen, über das man im philologischen Germanistikstudium normalerweise nicht verfügt. Ein anderes Problem ist das erforderliche Wissen über Beziehungen zwischen den Texten, d.h. das Problem der Intertextualität. Die Studierenden müssen im Fachtextunterricht über ein Textwissen verfügen, das sich vor allem als Wissen über allgemeine Formen und Funktionen von Texten in bestimmten Kon-Situationen manifestiert. Dieses Wissen wird in der Zuordnung von einzelnen Texten zu Textsorten, die spezifische Merkmale haben, angewendet. Diese Komplexität von Textmerkmalen kann eine wissenschaftliche Grundlage für die Textproduktion durch die Studierenden sein, was aber über die angelegten Ziele dieses Artikels hinausgeht. Dieser Text wird vor allem als Ansatzpunkt zu einer weiteren Diskussion über den Einsatz von verschiedenen Textsorten im didaktischen Prozess betrachtet, der an verschiedenen Lehreinrichtungen anders strukturiert ist und mit anderen Voraussetzungen verläuft. Ein weiterer Diskussionspunkt wäre die Frage nach authentischen bzw. adaptierten Texten. Die Anwendung von beispielhaft dargestellten Textsorten im universitären Bereich ist nur eine der Varianten, auf die wir mit diesem Artikel allgemein, ohne auf die Einzelheiten einzugehen, aufmerksam machen und zu einer Diskussion vor allem innerhalb der Auslandsgermanistik anregen möchten. 7 Bibliographie Brinker, Klaus (1992): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. Textsorten in der universitären Didaktik 143 Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart. Duden (2005): Die Grammatik. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Engel, Ulrich u.a. (1999): Deutsch-polnische kontrastive Grammatik. Bd. 1. Heidelberg. Gliwi ski, Tomasz/ Weigt, Zenon (1997): Fachdeutsch für Dolmetscher und Übersetzer. Warszawa. Göpferich, Susanne (1995): Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Tübingen. Greule, Albrecht (2005): Parfum, Parenthese und Textgrammatik. 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Cz stochowa, 195-205. 4 Medienwissenschaft Werner Holly/ Ulrich Püschel Medienlinguistik Medialität von Sprache und Sprache in Medien 1 Medienwissenschaften und andere Die Medienwissenschaft ist - im Gegensatz zu ihrem Gegenstand - noch relativ jung, sie ist wohl gerade in der Blüte ihrer Attraktivität. Entsprechend hat sie in den letzten Jahrzehnten Interessenten aus vielen anderen Disziplinen angezogen und diese Anziehung hält noch an: Die Etablierung eines eigenständigen universitären Fachs ‚Medienwissenschaft’ (manchmal noch unter anderen Namen) ist trotz eines ausgesprochenen Booms keineswegs abgeschlossen. So kann es nicht erstaunen, dass in ihrem Fall die übliche disziplinäre Vielfalt nicht nur das Ergebnis allmählicher Ausdifferenzierung ist, wie das in mancher „alten“ Wissenschaft zu verzeichnen ist; sie ist mehr noch geprägt von der heterogenen Herkunft ihrer Vertreter. Die stürmisch wilde Entwicklung des Fachs ist aber nur der Spiegel der vielleicht noch stürmischeren jüngsten Entwicklung ihres Gegenstands, der Kommunikation mit technischen Hilfsmitteln. Dass man seit einiger Zeit von „neuen Medien“ spricht, damit aber jeweils immer andere meinen kann, ist nur ein Indiz für das Tempo und die Beschleunigung dieses Prozesses. Der Gegenstand ist - wie schon gesagt - nicht neu. Seit Menschen angefangen haben, zum Kommunizieren (körperunabhängige) Hilfsmittel zu verwenden - und das dürfte etliche Jahrtausende her sein - hat die Mediengeschichte eingesetzt, anfänglich sehr langsam verlaufend. Dabei liegt diesem Verständnis ein nicht ganz weiter Begriff von Medium zugrunde, der sich auf mediale Artefakte beschränkt. Man kann aber gleich hinzufügen, dass das Merkmal der „Medialität“ weit über diesen Medienbegriff hinausreicht; es geht um die Tatsache, dass jede Kommunikation verschiedenster Mittler bedarf, auch biologisch, physikalisch und chemisch zu fassender, dass sie also auch eine (vortechnische) Materialität hat. Trotz der weit zurückreichenden und schon lange erforschten Geschichte der Medien und trotz der keineswegs neuen Einsicht in die medialen Bedingungen menschlichen Kommunizierens ist man sich doch wohl erst im dynamischen Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte der Bedeutung und des Zusammenhangs von Kommunikation, Medien und Medialität der Kommunikation so recht bewusst geworden, bis hin zur Begründung einer spezifischen akademischen Disziplin. Allerdings kann diese neue Disziplin nicht alles leisten. So alt und so fundamental der Gegenstand ist, so aspektheterogen muss seine aktuelle Erforschung sein, denn auch in traditionellen Disziplinen hat man mit guten Werner Holly/ Ulrich Püschel 148 Gründen entdeckt, dass man Medialität und Medien in den Blick nehmen muss, wenn man den originären eigenen Gegenstand angemessen behandeln will. So sind eine Medienpsychologie, eine Mediensoziologie, eine Medienphilosophie, eine Medieninformatik entstanden, um nur einige Beispiele zu nennen, - und auch eine Medienlinguistik; ihrer aller Vertreter forschen und lehren übrigens nicht nur im institutionellen Rahmen ihrer „alten“ Disziplinen, sie sind auch - in vielen Fällen als Wegbereiter und Pioniere - in das „neue“ Fach übergewechselt. Auch wenn sich eine neue spezielle Medienwissenschaft etabliert, können Medien und Medialität also nur von vielen Seiten her erforscht werden; das ist übrigens mit allen komplexen Gegenständen so, mit Natur, dem menschlichen Körper, Technik, Geschichte, Gesellschaft - oder auch Sprache: Auch die Sprachwissenschaft muss ihren Gegenstand mit vielen teilen. So verständlich Versuche von Einzelwissenschaften sind, im Rahmen von Verteilungskämpfen Claims abzustecken, so kurzsichtig sind sie. Auf Dauer lässt sich kein Alleinvertretungsanspruch durchsetzen, Erfolg (gepaart mit Mühen) liegt aber in einer interdisziplinären Kooperation. Ihre Grundlage ist Einsicht in die jeweiligen Interessenlagen und Forschungsfragen, weshalb nun - aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive - Gründe und Arbeitsfelder für die Beschäftigung mit Medialität und Medien dargestellt werden sollen (Abschnitt 2), dann Erwartungen an die Medienwissenschaft(en) (Abschnitt 3) und schließlich mögliche Beiträge einer Medienlinguistik (Abschnitt 4), die auch von den Medienwissenschaft(en) benutzt werden können - und sollen. Dabei kann es in diesem Rahmen natürlich nicht um umfassende Fach- und Theoriesystematiken oder gar ihre historischen Begründungen gehen, bestenfalls um kleine umrisshafte und exemplifizierende Skizzen (ohne ausführliche Literaturverweise), die im Sinn der geforderten Kooperation programmatisch legitimierend und anregend wirken sollen. 2 Medialität, Medien und Sprachwissenschaft Warum sollte die Sprachwissenschaft sich mit Medien beschäftigen? Was ist das originäre Interesse der Sprachwissenschaft an Medialität und Medien? - Dass man dazu kommt, diese Fragen überhaupt zu stellen, ist schon ein Zeichen für eine bemerkenswerte fachgeschichtliche Entwicklung, die Jäger (2000, 26ff.) zutreffend als „Medialitätsvergessenheit der Sprachtheorie“ charakterisiert hat, Folge und Tiefpunkt eines lange Zeit zunehmenden disziplinären Erosions- und Reduktionsprozesses, in dessen Verlauf das Bewusstsein von den materialen und leibgebundenen Eigenschaften von Sprache ebenso wie ihre sozialen und kulturellen Verwebungen allmählich in Vergessenheit geraten ist. Dabei wurde Sprache durch „Logosauszeichnung“ immer mehr rationalisiert und intellektualisiert, bis hin zu einem „Zwei-Welten-Bild“, nach dem sie eigentlich „hinter dem Sprechen“ anzu- Medienlinguistik 149 siedeln sei (Krämer 1999, 374), als bloß noch virtuelles Zeichensystem oder sogar als mentale, angeborene und universale Organstruktur. Ausgeblendet wird damit die gesamte Realität von Sprechereignissen, für die doch zunächst ihre Verkörperung in der Stimme konstitutiv ist mit allen ihren klanglichen Eigenschaften, dann aber auch ihre Einbettung in und Verknüpfung mit anderen körpergebundenen Zeichen wie Mimik, Gestik und Proxemik. Die Auslagerung dieser Aspekte z.B. in Sprechwissenschaft oder Psychologie bedeutet nicht nur eine Verarmung der Perspektive, sie riskiert auch eine perspektivische Verzerrung und verhindert den empirischen Zugang zum Gegenstand. Dass weitgehend sogar die Differenz zwischen Sprache und Schrift aus dem Blick geraten war und stillschweigend Schrift für Sprache genommen wurde, zeigt, wie weit der Reduktionsprozess führen konnte: Die jeweilige Spezifik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit musste neu entdeckt werden, so weit war die Identifizierung von Sprache mit dem Ergebnis ihrer ersten bedeutsamen medialen Transformation von einem auditiven zu einem visuelles Zeichensystem gediehen. Erst die intensivere Beschäftigung mit gesprochener Sprache und Gesprächen, die eigenständige Beschreibung von Oralität, hat den Sinn für die Schriftlichkeit als solche wieder geweckt; auch Schrift und Geschriebenes waren lange Zeit kaum noch auf ihre medialen Besonderheiten hin befragt worden. So wichtig die Wiederentdeckung dieser Differenz ist: Die Medialität von Sprache kann keineswegs auf die Opposition von ‚mündlich’ und ‚schriftlich’ beschränkt werden, wie dies oft in sprachwissenschaftlichen Zusammenhängen impliziert wird. Die mündliche Kommunikation face-to-face kann sich noch weitgehend auf die anthropologische Ausstattung und die physikalischen Gegebenheiten verlassen. Aber spätestens mit der Schrift kommen technische Medien ins Spiel, als Zeichenträger, Zeichenhersteller, Zeichenverstärker oder Zeichenübermittler, die mehr implizieren, als nur ein alternatives sprachliches Zeichensystem zu ermöglichen. Mit ihrer anderen Materialität und ihren spezifischen Potenzialen und Widerständen, wenn nicht Defiziten, wirken sie als Dispositive, die sprachliche Kommunikation verändern und überformen. Diese technischen Medien beginnen eigentlich schon mit den künstlichen Verstärkungs-Hilfsmitteln, wie sie der Redner oder Schauspieler verwendet, um sich besser sichtbar und hörbar zu machen: Pulte, Podien, Kanzeln, Bühnen, Lichtquellen, ansteigende Zuhörertribünen usw. Mit den immer neuen Schreibgeräten und Trägermaterialien für Geschriebenes wird die Technik konstitutiv und allmählich elaborierter. Ihre Beherrschung erfordert mühsam zu erlernende Kompetenzen, sie schafft Expertentum und differenziert bis heute Gesellschaften nach Graden der Bildung ihrer Mitglieder. Die Medientechnik entfaltet sich in immer neuen Kommunikationsformen (Papyri, Codices, Urkunden, Briefe, Bücher, Flugschriften, Zeitungen, Zeitschriften, Plakate), die auch die Formen ihrer institutionellen und sozialen Organisation einschließen: Kanzleien, Bibliotheken, Schreibmanufakturen, Werner Holly/ Ulrich Püschel 150 Universitäten, Druckereien, Verlage, Buchhändler, Redaktionen, Korrespondentennetze, Nachrichtenagenturen usw. Dabei vollziehen sich diese technischen und sozialen Entwicklungen als Formen kultureller (sprachlicher und kommunikativer) Praktiken, die in einem Wechselspiel sowohl als Verursacher als auch als Ergebnisse medialer Möglichkeiten zu sehen sind. So ist beispielsweise schwer zu bestimmen, ob es erst die Erfindung beweglicher Lettern war, welche die Buch-Revolution in Gang gesetzt hat, oder ob nicht vorher schon der gestiegene Buchbedarf einer frühbürgerlichen Gesellschaft eine Erfindung provoziert hat, die gewissermaßen „in der Luft lag“. Mit den elektronischen Medien kommt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch die mündliche Kommunikation in den Sog der Technik. Mit Telefon und Schallplatte, Mikrofon, Lautsprecher, Radio, Tonband, Tonfilm, Fernsehen und Tonvideo wird auch die sprachliche Mündlichkeit Gegenstand einer rasanten Entwicklung und wird von „primärer“ zu „sekundärer Oralität“ in immer neuen Ausprägungen, die mit der Spontansprache des Alltags oder der unverstärkten mündlichen Rede vor anwesendem Publikum nur scheinbar identisch sind. Zwar tendieren Medien dazu, sich selbst transparent zu machen und ihre Gemachtheiten zu naturalisieren, aber ihre Einflüsse sind auf allen linguistischen Ebenen (vom Laut zum Text) folgenreich, wie jede genauere Analyse zeigen kann. Der Triumphzug der audiovisuellen Medien Tonfilm und Fernsehen, die große Medienkonzerne haben entstehen lassen, zeigt, wie stark die Attraktion von Kommunikationsformen ist, die in der Lage sind, ähnlich wie primäre face-to-face-Begegnungen, jetzt aber unabhängig von Zeit- und Raumgrenzen, wieder Auge und Ohr in dynamischer Performanz einzubinden, und zwar scheinbar mühelos rezipierbar. Die neueste Entwicklung, die durch die Stichworte Digitalisierung und Vernetzung zu kennzeichnen ist, hat nicht nur weitere Kommunikationsformen hervorgebracht (Elektronische Texte, Datenübertragung, Website, E-Mail, Chat, Foren, SMS, MMS), sondern auch neue Möglichkeiten ihrer Integration durch die gemeinsamen digitalen Formate, die auch alte Kommunikationsformen überarbeiten und einschließen können. Sprache und Schrift sind in einer neuen Weise manipulierbar und kommunizierbar, die noch kaum begriffen werden kann. Dabei ist aber jeweils darauf zu achten, dass nicht jede Art der Variation auf die mediale Kommunikationsform zurückgeführt werden kann. Dass dabei soziale Stile ins Spiel kommen, die mehr mit den Interessen und Gewohnheiten ihrer Nutzer zu tun haben als mit strikten medialen Faktoren, hat etwa die linguistische Beschreibung von E-Mails oder SMS gezeigt, die vorschnelle populärwissenschaftliche Identifizierungen von jugendsprachlichen Merkmalen (wie Inflektiven oder Emotikons) und Medien korrigieren musste. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass sich die Sprachwissenschaft selbst methodisch und in ihrer Interessenausrichtung mit der Medienentwicklung verändert hat. So haben etwa die Dialektologie und später Soziolinguistik und Gesprächslinguistik erst mit den elektronischen Aufzeichnungsmög- Medienlinguistik 151 lichkeiten ihre Gegenstände angemessen dokumentieren und aufbereiten können. Ähnlich werden sich mit der Bearbeitung großer Korpora die Grammatikographie und die Lexikographie noch einmal von Grund auf verändern (vgl. den Beitrag von Wolff in diesem Band). Dabei wird vielleicht noch einmal - auf empirischer Grundlage - deutlicher werden, dass Sprache in allen ihren Erscheinungsformen nicht unabhängig von ihren jeweiligen medialen Verwendungen gesehen werden kann. Das zeigt am deutlichsten die Sprachgeschichtsschreibung: Wie sich der Sprachwandel nur im Kontext des sozialen und medialen Wandels angemessen erfassen lässt, hat die neuere Forschung hier (für die deutsche Sprache im Überblick s. von Polenz 1994ff.) eindrucksvoll und in vielen Details nachgewiesen. 3 Sprache und Medienwissenschaften Was sich für die Beschäftigung mit Sprache in allen ihren Erscheinungsformen als Möglichkeit abzeichnet, gilt schon heute für die Beschäftigung mit Mediensprache: Sie lässt sich sinnvoll nicht losgelöst von den Medien beschreiben, in denen sie vorkommt. Diese Einsicht sollte eigentlich eine Sache des gesunden Menschenverstands sein; in Wirklichkeit ist sie aber die Konsequenz eines Paradigmenwechsels in der Sprachwissenschaft. Mit der Entfaltung einer handlungstheoretisch, sprachpragmatisch orientierten Linguistik hat der oben angesprochene Reduktions- und Erosionsprozess seine Umkehrung erfahren - zuerst was die sozialen und kulturellen Verwebungen betrifft, mittlerweile auch was die materialen und leibgebundenen Eigenschaften von Sprache angeht. Für die Beschäftigung mit Mediensprache bedeutet das, dass in der Analyse nicht mehr am Wortschatz, den Wortbildungsmustern, der Syntax angesetzt wird, um so etwas wie ein mediensprachliches System zu konstruieren. Es wird vielmehr der Frage nachgegangen, wie im medialen Rahmen sprachlich gehandelt wird. Natürlich steht auch weiterhin die Analyse der sprachlichen Mittel im Zentrum, doch diese bildet keinen Selbstzweck mehr, sondern ist verknüpft mit der Frage, wie mit ihnen sprachlich gehandelt wird, was ihre Funktion in der medialen Kommunikation ist. Dabei schließen sich Fragen an wie: Was ist an ihrem Gebrauch medienspezifisch? Und weiter: Welches sind die Faktoren, die ihre medienspezifische Eigenart bestimmen? Auch das ist eine Weise, das Dictum Marshall McLuhans, das Medium sei die Botschaft, auszubuchstabieren. Um solche Fragen angemessen beantworten zu können, bedarf es selbstverständlich der fundierten Kenntnis der Massenmedien und massenmedialer Kommunikation. Und genau diese Kenntnisse erwartet sich die medialitäts- und medienbezogene Erforschung der Sprache von den Medienwissenschaften. Das Kunststück besteht dann darin, das sprachtheoretische Konzept mit medientheoretischen Elementen so anzureichern, dass die Beschäf- Werner Holly/ Ulrich Püschel 152 tigung mit medialen Sprachgebräuchen ertragreich ausfällt. Das bedeutet zuerst einmal, sich an allgemeinen Medientheorien zu orientieren, was insgesamt kein leichtes Geschäft ist, da Einverständnis schon in Grundbegriffen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Das lässt sich beispielhaft an der Diskussion des Medienbegriffs im Abschnitt 2 ablesen; und es gilt gleichermaßen für den Kommunikationsbegriff, der in den Medienwissenschaften weithin seine Herkunft aus der Kybernetik nicht verleugnen kann. Noch immer ist vom Austausch von Information oder vom Prozess der Verständigung die Rede, anstatt im Anschluss an Ludwig Wittgenstein den Begriff des Verstehens als Kriterium für (gelungene) Kommunikation stark zu machen. Eine frühe Kritik aus linguistischer Sicht an einem Kommunikationsbegriff, der menschlicher Kommunikation nicht gerecht wird, hat schon am Ende der Siebzigerjahre Hans-Jürgen Heringer geübt (Heringer 1979). Wenig spektakulär in der Formulierung, aber umso treffender in der Sache heißt es bei Rudi Keller (1995, 106): „Kommunizieren ist […] eine Handlung, die darin besteht, dem anderen Hinweise zu geben, um bei ihm einen Prozeß in Gang zu setzen (den des Interpretierens), der zum Ziel hat, das gewünschte Beeinflussungsziel herauszufinden, das heißt, die Handlung zu verstehen.“ Für die konkrete mediensprachliche Analyse bilden Theorien für einzelne Medien wie Zeitung, Fernsehen, Hörfunk oder World Wide Web und deren medienwissenschaftliche Analysen den Orientierungspunkt. Die Frage, die die Medienlinguistik beantwortet haben möchte, lautet in ihrer allgemeinsten Form: Was macht eigentlich das zur Debatte stehende Medium aus? Antworten auf diese Frage bieten Untersuchungen, in denen den Rahmenbedingungen eines Mediums nachgegangen wird. Nicht jeder einzelne Faktor, der zu den Rahmenbedingungen gehört, muss sich unmittelbar auf den Sprachgebrauch auswirken, dennoch braucht die Medienlinguistik Informationen mindestens zu den folgenden Punkten: die Verankerung eines Mediums in der Gesellschaft, die ökonomischen, rechtlichen und institutionellen Bedingungen, die technischen Voraussetzungen, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Die Einbeziehung solcher Faktoren und ihres Zusammenspiels stützt und ergänzt die sprachwissenschaftlichen Analyseergebnisse, ja sie erlaubt es im Einzelfall, erst ihre Relevanz zu erkennen. Aber nicht in jedem Fall erhält die Medienlinguistik von den Medienwissenschaften hinreichende Auskunft. Wer sich mit der Zeitung im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigt und nach den medienökonomischen Bedingungen fragt, der findet in den einschlägigen Publikationen nur punktuell Hinweise. Dies scheint nicht nur Ausfluss einer diffizilen Forschungslage zu sein, sondern ein Defizit der Medienwissenschaften. Denn Hans-Dieter Kübler (2000, 19) konstatiert als eine „langwährende ökonomische Indifferenz der einschlägigen Kommunikationswissenschaften, dass die wirtschaftliche Funktionalität der Medien kaum als essentiell angesehen wurde“. Dabei ist offensichtlich, dass die Medienlinguistik 153 Zeitung (wie andere Medien auch) von Anfang an ein Wirtschaftsunternehmen ist, das auf ökonomischen Erfolg zielt. Die Auswirkungen dieses Strebens auf mediales Handeln lassen sich besonders deutlich in Zeiten vermehrter Konkurrenz beobachten, sei es zwischen Vertretern eines Mediums wie in der Blütezeit des Generalanzeigers im ausgehenden 19. Jahrhundert, sei es zwischen verschiedenen Medien wie der Zeitung und dem Fernsehen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die schubartigen Auswirkungen auf Inhalt, Präsentationsformen und sprachliche Gestaltung wurden und werden aus kulturpessimistischer Perspektive als Zeichen von Niedergang und Verfall gegeißelt, im Falle des Generalanzeigers als „Amerikanismus“, im Falle der Zeitung-Fernseh-Konkurrenz, aber auch der Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlich verfasstem Fernsehen als Boulevardisierung. Die Aufarbeitung medienökonomischer Zusammenhänge, für die Marie-Luise Kiefer (1997) plädiert, ist nicht nur für die elektronischen Medien wünschenswert und auch nicht nur für die Gegenwart. Die medienlinguistische Analyse muss - wenn sie wirklich erhellende und weiterführende Ergebnisse erzielen will - als Mehrebenenanalyse angelegt sein. Das heißt, sie darf den Blick nicht auf das Produkt, den Text, beschränken, sondern hat auch Produktions- und Rezeptionsaspekte mit in die Betrachtung einzubeziehen. Eine Vorstellung davon, dass der massenmediale Text geprägt ist von einer Vielzahl von Faktoren der Produktion und von hoch komplexen Produktionsabläufen, ist mittlerweile auch außerhalb der Medienwissenschaften weit verbreitet. Solche Zwänge, wie sie beispielsweise der Faktor Zeit ausübt, scheinen jedem öffentlichen Medium zu eigen sein, und zwar unabhängig von seinem Alter. So hat schon Johann Carolus im Editorial der ersten Ausgabe der „Straßburger Relation“ von 1609 den Zeitdruck als Entschuldigung für Druckfehler angeführt, indem er darauf verweist, „das bey der Nacht eylend gefertigt werden muß“. Ein klassisches Beispiel für die Rolle des zur Verfügung stehenden Platzes bietet die journalistische Darstellungsform der Hard News, deren Bau nach dem Pyramidenprinzip es dem Redakteur bei Platzmangel erlaubt, den Text von hinten her zu kürzen, ohne dass die wesentlichen Informationen verloren gehen - eine Eigenschaft, die (gewiss neben anderen) zur Herausbildung und Durchsetzung dieses Textmusters beigetragen hat. Ganz besonders hervorzuheben sind aber die Auswirkungen auf den Text, die aus der für moderne Medien charakteristischen arbeitsteiligen Produktionsweise resultieren. Zwar lassen sich diese im Einzelfall nur unter großem Aufwand nachvollziehen, wie die Studie Erich Straßners (1982) zu den Fernsehnachrichten demonstriert, aber sie sind prinzipiell immer ins Analysekalkül einzubeziehen. Daneben existiert eine breite Palette von Faktoren, die aus der Außenperspektive nicht erkennbar sind, aber dennoch Einfluss auf die Textgestalt ausüben. Welcher Nichtprofi kommt schon auf die Idee, dass in einem Block der Kindersoap „Schloss Einstein“, der vier Folgen umfasst, mindestens zwölf „Erwachsenenszenen“ enthalten sein müssen, damit das Studio ausgelastet ist? Denn Kinder dürfen Werner Holly/ Ulrich Püschel 154 aufgrund des Jugendschutzgesetztes nur drei Stunden pro Tag drehen (Huber 2006, 7). Es liegt auf der Hand, dass die Beschäftigung mit dem Medientext auf die Kenntnis von Produktionsabläufen und -bedingungen angewiesen ist, da sie ansonsten bestimmte Eigenschaften des Medientextes nicht zu erklären vermag oder in ihren Erklärungsversuchen einfach naiv bleibt. Hier sind nicht nur medienwissenschaftliche Studien hilfreich, sondern auch Darstellungen von Insidern und Praktikern wie Redakteuren, Moderatoren, Autoren oder Regisseuren. Dem vergleichbar ist die Wechselwirkung zwischen Rezeptionsbedingungen und -weisen und dem Medientext-Angebot. So lassen sich die Veränderungen der Zeitung bis in einzelne Darstellungsformen hinein verstehen vor dem Hintergrund einer Wandlung des Rezipienten vom Durchleser zum auswählenden Leser - eine Entwicklung, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist und durch die Fernsehkonkurrenz im ausgehenden 20. Jahrhundert einen gewaltigen Schub erfuhr. Für die Medientextanalyse ist es von größtem Interesse, Konkretes über solche Rezeptionsweisen und -praktiken zu erfahren, da ein differenziertes Bild von Rezeptionsgewohnheiten mehr zum Verständnis von Eigenschaften des Medientextes beitragen kann als Abonnenten-/ Leserzahlen oder Einschaltquoten und Nutzungsdauer. Auf dieser Basis lässt sich dann auch genauer klären, wie die Entwicklung des Medientextes und der Rezeptionsweisen zusammenspielen. Denn nicht immer ist deutlich, ob zuerst Henne oder Ei da waren, ob Veränderungen im Angebot die Rezeptionsweisen beeinflusst haben oder veränderte Rezeptionsweisen das Angebot. Werbefinanzierte Medien orientieren sich in ihrem Angebot notwendigerweise am angezielten Publikum, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Schon Walter Hammer (1912, 10) hat in seiner Kritik des Generalanzeigers bemerkt, dass „der Vater die politischen Kannegießereien, die Mutter den Teil ‚Für unsere Frauen’, der Herr Sohn - und nicht nur er - die pikanten Gerichtsberichte, die Tochter den reizenden süßen Roman und das eigentliche Kindsvolk die Rätselecke nicht mehr entbehren“ können. Der Zusammenhang zwischen Rezipientenbindung und den Inhalten bis hin zu deren sprachlicher Präsentation (ein Stichwort heute „Infotainment“) ist unübersehbar. Die medienwissenschaftliche Nutzungsforschung hat sich wohl deshalb ziemlich einseitig in den Dienst der Werbewirtschaft gestellt, indem sie den Rezipienten vor allem unter ökonomischen Vorzeichen sieht. Würde sie diesen verengten Blick weiten, so könnte sich ihr das weite Forschungsfeld eröffnen, wie der aktive Rezipient mit dem Medientext tatsächlich umgeht. Unter Umständen kämen bisher kaum wahrgenommene Typen von Rezipienten und Rezeptionspraktiken in den Blick, die es der Medienlinguistik wiederum erlaubten, Eigenschaften des Medientextes besser zu erklären. Gegenstand der Medienlinguistik ist nicht nur das zeitgenössische Medienhandeln, sondern sie interessiert sich auch für die geschichtliche Aufarbeitung von mediensprachlichen Gebräuchen. Exemplarisch sei hier ihr Medienlinguistik 155 Interesse für die Zeitung mit ihrer mittlerweile vierhundertjährigen Geschichte genannt. Dies erschöpft sich jedoch nicht einfach „im Blick zurück“. Vielmehr wird ganz im Sinne der neueren Sprachgeschichtsforschung nach den Wurzeln des heutigen Deutsch gefragt, speziell nach den Wurzeln der heutigen Zeitungssprache. Es wird also die Entwicklung zeitungssprachlichen Handelns durch die Zeit hindurch bis in die Gegenwart verfolgt in der Hoffnung, über die Beschreibung hinaus ein tiefer gehendes Verständnis der Zeitungskommunikation in ihrem geschichtlichen Werden zu entwickeln und vielleicht zu einer gelasseneren Bewertung zeitgenössischer Verhältnisse zu gelangen. Das gilt natürlich nicht nur für die Zeitung, sondern auch für andere Medien, wiewohl die Zeitung bislang die größte Aufmerksamkeit erfahren hat. Doch unabhängig vom untersuchten Medium bedarf die Medienlinguistik der mediengeschichtlichen Hilfestellung. Sie setzt ihre Hoffnung auf eine Mediengeschichtsschreibung, die sozialgeschichtlich, systemgeschichtlich und technikgeschichtlich ausgerichtet ist. Die vielfältigen Faktoren, die mediensprachliche Verhältnisse und ihre Veränderung bedingen, lassen sich in ihren Auswirkungen isoliert, aber auch im Zusammenspiel miteinander betrachten. Um noch einmal das Beispiel ‚Generalanzeiger’ zu bemühen: Seine stoffliche Diversifizierung und die damit verbundene Vielfalt an Darstellungsformen lässt sich als Ausfluss der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beschreiben, ist also Resultat der Bemühung, im Konkurrenzkampf zu bestehen (vgl. Püschel 1996). Der Zeitungstypus ‚Generalanzeiger’ bis hin zu seinen mediensprachlichen Spezifika unterliegt einem ganzen Bündel von sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen, institutionellen, medialen und technischen Faktoren, die unter anderem mit folgenden Stichworten angedeutet sind: Industrialisierung, Bevölkerungskonzentration, Wirtschaftspresse, Reichspressegesetz, Pressepolitik, Professionalisierung der Zeitungsherstellung, Umfang der Zeitungsausgabe, Alphabetisierung, Lesepublikum, Rezeptionsgewohnheiten, Erfindung des Holzschliffs, Rotationsdruck, neue Wege der Nachrichtenbeschaffung. Was sich hier als eine Aufzählung von Faktoren präsentiert, lässt sich im Anschluss an Knut Hickethier als Dispositiv modellieren, als ein „Geflecht von Relationen, Bedingungen, Ansprüchen und Normen“ (Hickethier 1993, 25). Hickethier hat dieses Konzept speziell für das Fernsehen entwickelt, es lässt sich aber problemlos auf andere Medien übertragen. Die systematische Ausarbeitung solcher Dispositive wäre für die medienlinguistische Analyse anregend und hilfreich. Außerdem ist das Konzept des Dispositivs als solches für die Medienlinguistik von Interesse, steckt in ihm doch eine theoretische Grundposition, die es mit linguistischen Auffassungen von Sprache teilt. Im Zusammenhang der Fernseh-Programmgeschichte verweist Hickethier (ebd.) darauf, dass „Veränderungen weitgehend der Macht des einzelnen, auch innerhalb der programmproduzierenden und programmverbreitenden Anstalten entzogen sind“. Solche Dispositive, aber auch die von ihnen bedingten Prozesse wie die Fernseh-Programmentwicklung sind wie die Sprache Phänomene der dritten Art im Sinne Friedrich August von Werner Holly/ Ulrich Püschel 156 Hayeks; das heißt, sie sind weder reine Artefakte, noch sind sie Naturerscheinungen. An ihrem Zustandekommen und ihrer Weiterentwicklung sind handelnde Menschen - die Einzelnen, die Hickethier anspricht - beteiligt, doch die weitergehenden Folgen ihrer individuellen Handlungen können sie nicht kontrollieren - diese sind mit den Worten Hickethiers ihrer Macht entzogen. Soziale Institutionen wie das Dispositiv, das Fernsehprogramm oder die Sprache sind gleichermaßen ihrem Wesen nach evolutionär. Unter diesem Vorzeichen sind medienwissenschaftliche Modellierungen des Gegenstandes und medienlinguistische Analyse in besonderer Weise theoretisch kompatibel. Trotz eines mittlerweile unüberschaubaren Literaturbergs bilden die Medienwissenschaften keinen riesigen Supermarkt, in dem die Medienlinguisten alles Benötigte finden, sofern sie nur gründlich genug stöbern. Denn den Medienwissenschaften geht es wie anderen Sozialwissenschaften und nicht zuletzt der Sprachwissenschaft auch: Sie können und wollen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mit allen Aspekten ihres Gegenstandes gleichermaßen gründlich auseinandersetzen. Dennoch findet es Werner Faulstich (1994, 7) angesichts der Rolle, die die Medien in der heutigen Gesellschaft spielen, kurios, „wie wenig wir über Medien tatsächlich wissen“. Es scheint so, dass Wissenslücken sich selbst da auftun, wo es um die zentrale Frage nach der Funktionalität von Medienkommunikation geht. So beklagt Hans-Dieter Kübler (2000, 34), dass „die Forschung zur Unterhaltungsfunktion der Medien bis heute weitaus spärlicher und ertragsärmer als zu anderen Funktionen“ sei. Hier ist nicht der Ort, den Gründen für solche Defizite nachzuspüren. Doch hängt dies sicherlich auch mit der kulturpessimistisch ausgerichteten Medienkritik zusammen, die im Überborden von Unterhaltungsangeboten und in der Boulevardisierung der Medien generell nur Verfall und Abstieg zu sehen vermag, darüber aber übersieht, dass jedes Massenmedium per se unterhaltsamen Charakter hat, und zwar nicht nur das Fernsehen mit seinen bewegten Bildern, sondern auch die Zeitung von ihren Anfängen an (vgl. Püschel 1998). Im Übrigen zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass auch für andere Medienfunktionen, darunter nicht zuletzt für die zentrale Funktion des Informierens, Klärungsbedarf besteht. Blickt man beispielsweise in die Geschichte der Zeitung zurück, so wünschte man sich vermehrt Auskunft darüber, was Informieren in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung genau heißt, welches beispielsweise die Informationsbedürfnisse sind, die sie jeweils zu befriedigen hat oder auch erst weckt. 4 Medien und Sprachwissenschaften Was kann die Sprachwissenschaft zur Erforschung von Medialität und Medien beitragen? - Zunächst ist festzuhalten, dass die Sprachwissenschaft im Gesamttableau notwendig ist, weil die Kern-Medienwissenschaft hier Lü- Medienlinguistik 157 cken aufweist. Der oben angedeuteten „Medienvergessenheit“ der Sprachwissenschaft entspricht nämlich durchaus eine „Sprachvergessenheit“ der Medienwissenschaften (noch einmal Jäger 2000). Es scheint, als ob in ihrer Perspektive Sprache in Medien zwar vorkommt, man auf ihre Beschreibung mit linguistischen Kategorien aber einfach verzichten könnte. So entstehen merkwürdige Einseitigkeiten, die der Rolle der Sprache in den meisten Medien nicht im Geringsten gerecht werden. Dies gilt auch für die meisten der insgesamt nützlichen und erhellenden Einführungen mit literatur- oder sozialwissenschaftlichem Hintergrund. Zu Sprache enthalten sie in der Regel wenig oder nichts. In der Behandlung anderer Zeichensysteme, die man offensichtlich für wichtiger hält und für die man sich komplementär um so mehr zuständig fühlt, bei Bildern oder Filmbildern etwa, betont man zwar gerne deren „völlige andere“ Struktur und Wirkungsweise, dennoch wird dann häufig metaphorisch linguistische Terminologie verwendet, im Sinne von ‚Bildsprache’ oder ‚Filmsprache’: Man beschreibt ‚Syntax’ und ‚Semantik’, ‚Denotationen’ und ‚Konnotationen’ und vieles andere linguistisch Inspirierte mehr. Ganz scheint man auf die Linguistik als Modell doch nicht verzichten zu können, auf die Beschreibung der modellgebenden Phänomene allerdings schon. Daraus wäre kein Vorwurf abzuleiten, wenn man denn bereit wäre, die entsprechenden Ergebnisse der Linguistik und speziell der Medienlinguistik zur Kenntnis zu nehmen und zu integrieren. Dies geschieht allenfalls in Ausnahmen. Immerhin hat die Medienlinguistik in den letzten Jahrzehnten schon Einiges zur Erforschung von Medien beigetragen, was hier nur ausschnitthaft angedeutet werden kann. Verständlicherweise ist ihr originäres Feld da, wo in Medien ausschließlich Sprache verwendet wird und zwar überwiegend in nicht-fiktionalen Texten, d.h. zunächst vor allem die Erforschung der Printmedien. Hier haben sich sprachwissenschaftliche Arbeiten mit verschiedenen Aspekten, seit den 70er Jahren besonders mit den textlinguistisch zu beschreibenden Entwicklungen beschäftigt. (Ähnliches gilt für den Hörfunk oder die Telefonkommunikation, neuerdings für E-Mail und SMS.) Insofern ist es nicht überraschend, dass sich die Medienlinguistik ausführlicher, aber keineswegs ausschließlich mit dem Printmedium ‚Zeitung’ beschäftigt hat. Unter den Stichworten ‚Informieren’ und ‚Textgestaltung’ ist sie nicht zuletzt historisch dem Zusammenhang der Entfaltung berichtender Textsorten/ Darstellungsformen nachgegangen, aber auch den sprachlichen Ausprägungen einer kontinuierlichen Berichterstattung, wobei ein Schwerpunkt mit der schon erwähnten Frage nach den Wurzeln des heutigen Zeitungsdeutsch auf der Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart liegt einschließlich der jüngsten Entwicklungen. Zentral ist dabei die Frage, die für jedes öffentliche Medium relevant ist, nach der Herkunft oder Herausbildung journalistischer Darstellungsformen bei der Geburt eines Mediums, aber auch bei seiner Fortentwicklung. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt der medienspezifisch induzierten Werner Holly/ Ulrich Püschel 158 Anpassung und Entwicklung von Textsorten wie sie beispielsweise in der Diversifizierung berichtender Darstellungsformen zu beobachten ist oder unter dem Einfluss sich ändernder Rezeptionsgewohnheiten. Eine recht verstandene Medienlinguistik beschränkt sich dabei nicht auf das sprachliche Material, sondern bezieht das Zeitungsexemplar als organisiertes Textensemble bis hin zum Layout mit ein (Stichwort ‚Materialität’) (Püschel 1999). Über die Beschreibung und Erklärung medialer Sprachhandlungsmöglichkeiten hinaus kann die medienlinguistische Analyse mitunter auch die eine oder andere medienwissenschaftliche Lücke schließen oder zumindest die Richtung möglicher Lückenschlüsse andeuten. So hilft beispielsweise der medienlinguistische Blick in die Zeitungsgeschichte weiter, wenn es um die Frage der prinzipiellen Unterhaltsamkeit und der Entwicklung von expliziten Unterhaltungsangeboten im Medium geht. Die Beobachtung so genannter „Boulevardisierungschübe“, die in neuen Textsorten, Textsortenumgestaltungen und stilistischen Innovationen ihren Niederschlag finden, kann den Blick auf zeitgenössische Entwicklungen schärfen. Denn diese sind vergleichbar mit der Sezession in der bildenden Kunst, in der sich Innovation und Maßstab für die weitere Entwicklung manifestieren. Dies erklärt, warum solche „Boulevardisierungserscheinungen“ in ihrer virulenten Phase so heiß umstritten waren, mittlerweile aber kaum mehr ein Wort über sie verloren wird. In einer Hinsicht wirkt die Sprachvergessenheit der Medienwissenschaften ganz besonders merkwürdig, nämlich überall da, wo die mittlerweile nicht mehr bestrittene These zugrunde gelegt wird, dass Medien nicht Wirklichkeit abbilden, sondern konstruieren. Das primäre Mittel der Wirklichkeitskonstruktion ist aber Sprache. Erst in der Sprachanalyse erschließen sich die Konstruktions-Mechanismen im sprachstilistischen Detail (vgl. als frühes Beispiel Good 1985) wie im Globalen der Darstellungsform (vgl. zu Fernsehnachrichten Püschel 1992). Wer also die Redeweise von der Wirklichkeitskonstruktion der Medien substantiieren will, kommt um die Sprachanalyse nicht herum. Medienlinguisten sind im Übrigen durchaus gewillt, über den Horizont von Sprache hinauszusehen, wenn es um Sprache-Bild- Kommunikation geht, da sie am besten wissen, wie defizitär bis nichts sagend die Beschränkung auf das Sprachliche ausfallen kann. Entgegen vielen Theoretikern, die das Fernsehen für ein Bildmedium halten, haben sprachwissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass es durchaus eine Reihe von sprachlastigen TV-Genres gibt, deren Beschreibung linguistische Kompetenz unerlässlich macht. Das gilt für Nachrichten ebenso wie für Talkshows oder Diskussionen, übrigens auch für viele Unterhaltungsformate, die ohne Sprache nicht denkbar sind (Übersicht in Holly 2004). Der Film wird von den meisten Medienwissenschaftlern immer noch wie ein reines Bildmedium behandelt, als ob wir noch in den Zeiten des Stummfilms wären (der übrigens auch nicht ganz ohne Sprache auskam). Hier hat Medienlinguistik 159 die Sprachwissenschaft noch nicht recht erkannt, was sie in der Beschreibung leisten müsste, so wenig wie die Medienwissenschaften, dass sie die Sprachanteile des Films nicht einfach ausblenden kann. Die eigentliche Herausforderung für interdisziplinäre textbezogene Medienwissenschaften liegt nämlich auf dem Gebiet multikodaler und multimodaler Medienkommunikation. Es genügt schon für bebilderte Printmedien nicht, erst recht nicht für Tonfilm oder Fernsehen, ganz zu schweigen von den digitalisierten Multimediaformen, das jeweils andere Zeichensystem einfach wegzulassen. Auch eine bloße Addition der Bild- und Sprachkomponenten oder die Untersuchung des Zusammenspiels im Hinblick auf rein informative Passung sind unzureichend. Erst in allerjüngster Zeit ist auch in der Sprachwissenschaft eine breitere Bereitschaft zu verzeichnen, sich intensiver mit Sprach-Bild-Zusammenhängen zu beschäftigen, die lange Zeit marginalisiert waren. Deshalb soll hier abschließend am Beispiel von Medien-Audiovisualität skizziert werden, wie die Beschreibungen weitergeführt werden könnten. In den Medienwissenschaften hat sich das Interesse traditionell auf sehr grobe Typen von Sprach-Bild-Beziehungen beschränkt, die sich in einfachen Schemata wie ‚On-/ Off-Sprechen’ oder Passungs-Fragen nach Mustern wie ‚Potenzierung’ (gegenseitige Steigerung), ‚Modifikation’ (gegenseitige Einschränkung), ‚Parallelität’ (bloße Verdoppelung) und ‚Divergenz’ (nur metaphorische Zuordnung) (Rauh 1987, 2002) erschöpfen. Für die Nachrichtenberichterstattung des Fernsehens hat man zeitweilig Verständlichkeitshürden in allzu starkem Auseinanderklaffen von Bild und Sprachtext („Text- Bild-Schere“) gesehen (Wember 1976). Das Problem solcher Strukturierungen ist, dass sie entweder trivial oder zu allgemein oder jeweils nur schwach plausibel sind. Überzeugender erscheinen die Versuche, Bilder durch die Zuweisung von bestimmten Funktionen im Stil pragmatischer Kategorien zu typisieren, was zunächst von Huth (1985) unternommen wurde, später von Doelker (1997), Brosius (1998) und Meyer/ Ontrup/ Schicha (2000) (dazu Holly 2004a). Am Weitesten in der Beschreibung von „Text-Bild-Relationen“ kommt Burger (2005, 389-424), der nicht nur den Bildfunktionskatalog von Brosius aufnimmt und erweitert, sondern auch Funktionen des Sprachtextes für das Bild behandelt. Hier wird ein Modell favorisiert, das sich an Jägers Idee der ‚Transkriptivität’ anlehnt (Jäger 2002), nach der Bedeutungen dadurch generiert werden, dass - metaphorisch gesprochen - ein Präskript durch kommentierende, paraphrasierende, übersetzende oder ähnliche Bezüge ‚transkribiert’ wird: So wird es zum ‚Skript’ und „anders lesbar“. Von dieser Art kann man sich auch das Zusammenspiel zwischen Sprache und Bildern denken, das in verschiedenen Typen der transkriptiven Logik konventionalisiert ist. Ein Beispiel: In üblichen kleinen Nachrichtenfilmen weist der Sprechertext nicht selten mit expliziten Mitteln auf etwas hin, was man angeblich auf den Bildern „sieht“ - offensichtlich aber nicht deutlich genug, sonst müsste man nicht verbal darauf hingewiesen werden. Dieses Muster, das man „Mit Wor- Werner Holly/ Ulrich Püschel 160 ten sehen“ nennen kann (s. Holly 2006), erklärt sich aus spezifischen Eigenschaften von Bildzeichen, z.B. ihrer semantischen Fülle und Gedrängtheit, die dazu führen können, dass ein Bild - nach der Spruchweisheit, mehr zu sagen als tausend Worte - alles andere ist als selbsterklärend, so dass ein paar Worte nötig werden, die uns ‚sagen’, was genau wir dann auch auf dem Bild ‚sehen’. Diesem Muster der Überschreibung von Bildern durch Sprache entsprechen komplementäre Muster, in denen Bilder Referenzobjekte, Aussagen oder Ereignisse, deren Existenz der Sprechertext nur behaupten, aber nicht belegen oder veranschaulichen kann, durch ihren präsentativen Modus authentisieren bzw. konkreter und detaillierter vorstellbar machen. Andere Muster liegen vor, wenn man mit Bildern einen Sprachtext ‚autorisiert’, indem man ihn einem Sprecher (z.B. einem Nachrichtenverleser oder einem prominenten Werbepresenter) unterschiebt, der ihm dann ein persönliches Gesicht verleiht und ihn dadurch mit Seriosität, Sympathie und anderen persuasiv wichtigen Eigenschaften neu und anders lesbar macht. Ähnlich kann man auch die ‚adressierende’ Funktion von Bildern sehen, die auf bestimmte Zielgruppen (z.B. in der Webung) gerichtet sind; Bilder können den Sprachtext auch ‚grundieren’ mit zusätzlichen nur gezeigten Inhalten oder ‚übermalen’ mit Emotionen, wenn der Sprachtext argumentativ in der Klemme ist (zu diesen Mustern Holly 2007). Die genauere Analyse solcher Muster erfordert die Berücksichtigung der spezifischen Semantiken beider Zeichenarten, ihrer Potenziale und Defizite, die erst begreiflich machen, warum ihre Integration überhaupt nötig wird, aber auch, worin z.B. die qualitative Pointe der Audiovisualität „natürlicher“ face-to-face-Kommunikation und ihrer so erfolgreichen technischmedialen und damit situationsentbundenen Nach- und Neubildung besteht: Sie fügen nicht nur die zwei wichtigsten Zeichenarten im dynamischen Ablauf optimal zusammen, sondern auch die zwei wichtigsten menschlichen Sinneskapazitäten: Auge und Ohr. Ihre Beschreibung erfordert beides: die sprachwissenschaftliche Analyse der sprachtextuellen Strukturen und Funktionen und die Beschreibung der bild- und filmwissenschaftlichen Komponente mit ihren entsprechenden Kodierungen, beide eingebettet in den Kosmos kultureller und situationeller Bedeutungen, dessen Ausleuchtung immer ganzheitlicher hermeneutischer Anstrengungen bedarf. 5 Fazit Medienlinguistik und Medienwissenschaften teilen sich zweifellos einen Gegenstandsbereich, den sie aber unter eigener Theoriebildung nach je eigenen Erkenntnisinteressen bearbeiten. Diese sind teilweise so divergent, dass selbst bei gutem Willen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht möglich und wohl auch nicht sinnvoll ist. Daneben gibt es aber zahlreiche Berüh- Medienlinguistik 161 rungspunkte, die zumindest eine gegenseitige Kenntnisnahme geradezu herausfordern, wenn nicht gar zur Zusammenarbeit einladen. In aller Bescheidenheit darf die Medienlinguistik von sich sagen, dass sie sich zwar nicht jedem medienwissenschaftlichen Ansatz geöffnet hat, aber doch manchem, von dem sie sich Anregung und Bereicherung nicht nur versprochen, sondern auch erfahren hat. Ob und wie die Medienwissenschaften medienlinguistische Theoriekonzepte und Forschungsergebnisse für sich nutzen können und wollen, haben sie selbstverständlich selbst zu prüfen und zu entscheiden. Noch einmal in aller Bescheidenheit: So manches könnte für sie durchaus hilfreich sein. 6 Bibliographie Brosius, Hans-Bernd (1998): Visualisierung von Fernsehnachrichten. Text-Bild-Beziehungen und ihre Bedeutung für die Informationsleistung. In: Kamps, Klaus/ Meckel, Miriam [Hrsg.]: Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen/ Wiesbaden, 213-224. Burger, Harald (2005): Mediensprache. Berlin/ New York. Doelker, Christian (1997): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft. Stuttgart. 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Rainer Winter Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit Zur Methodologie der Cultural Studies Der Forschungsansatz der Cultural Studies ist in den 60er Jahren in Großbritannien entstanden und wird heute weltweit betrieben. Im Bereich der Medienforschung war ein wesentlicher Ausgangspunkt die Analyse der Sprache der Medien mit semiotischen und linguistischen Mitteln. Bis heute hat die Diskussion über die Rolle der Sprache und die diskursive Konstruktion von Wirklichkeiten in den Medien und im Alltag einen zentralen Stellenwert. Im Folgenden möchte ich die methodologische Perspektive der Cultural Studies vorstellen und in ihre aktuelle Methodendiskussion einführen. 1 Die methodologische Orientierung der Cultural Studies Zentrales Merkmal der qualitativen Medienforschung im Kontext von Cultural Studies ist die theoretische und empirische Untersuchung des Verhältnisses von Erfahrungen, medialen Texten und sozialen Kontexten. Anders formuliert, ihr transdisziplinär orientiertes Forschungsinteresse gilt dem komplexen und vielschichtigen Zusammenhang von alltäglich erlebter, diskursiver und gesellschaftlicher Wirklichkeit in der globalen Ära des 21. Jahrhunderts. Diese dreiseitige Ausrichtung bringt unterschiedliche methodologische Orientierungen mit sich, deren wechselseitige Verknüpfung Cultural Studies seit ihren Anfängen bestimmen. Die Singularität und Kreativität dieses Forschungsansatzes, der sich dem „whole way of life“ im Sinne von Raymond Williams (1958) verschrieben hat, beruhen auf der gegenseitigen Ergänzung und Bereicherung, aber auch auf den nicht vermeidbaren und produktiv genutzten Widersprüchen, die aus den differenten methodologischen Optionen resultieren. So hat z.B. die qualitativ-empirische Erforschung der Medienrezeption einen phänomenologischen und hermeneutischen Schwerpunkt, da es um das Verständnis von „lived realities“, von Erfahrungen und Praktiken, geht (Winter 1995). Die Analyse medialer Texte stützt sich auf strukturalistische bzw. poststrukturalistische Ansätze. Denn die Logik eines Spielfilms oder einer Fernsehserie kann sich erschließen durch das Aufzeigen der Werte, die sich in der binären Logik von medialen Texten verstecken, der diskursiven Rahmungen, die mediale Wirklichkeiten strukturieren, oder der intertextuellen Bezüge, die ein medialer Text unterhält und die den mediatisierten Cha- Rainer Winter 164 rakter unserer Wirklichkeitserfahrung und unseres Wissens hervorheben. Dagegen hat die Analyse der sozialen und politischen Kontexte, in der mediale Texte rezipiert und angeeignet werden, notwendigerweise einen „realistischen“ Charakter, so z.B. in der Deskription des situationalen Settings, in der sich eine Medienrezeption vollzog, oder der zunehmenden globalen Vernetzung. Cultural Studies zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie die auf diese Weise entstehenden Spannungen, Konflikte und durch die Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven manchmal überraschenden Einsichten ins Zentrum ihrer Analysen rücken. Die Bricolage des Forschungsprozesses (Göttlich et al. 2001), die Triangulation unterschiedlicher Methoden und Theorien je nach Forschungsfrage, veranschaulichen, dass diese transdisziplinär ausgerichtete Forschungstradition mit der positivistischen Agenda gebrochen hat, dass es das Ziel von Forschung sei, Hypothesen oder Theorien darüber aufzustellen, was in der Welt „wirklich“ vor sich geht, und dann durch die methodisch erzeugte und kontrollierte Analyse von (harten) Daten herauszufinden, ob dies „wirklich“ so ist. Dagegen zeigen Cultural Studies, dass Forschungsfragen, -methodologien und -interessen durch soziale, politische und historische Kontexte geprägt werden. In der Forschung wird nicht Realität „objektiv“ analysiert, vielmehr ist die Forschung Teil der Wirklichkeit, die sie erzeugt und sozial konstruiert. Da Methodologien und Schreibweisen der Forscher die Wirklichkeit nicht widerspiegeln, ist es angebracht, durch unterschiedliche Methoden auch verschiedene Wirklichkeiten zu erzeugen und zur Darstellung zu bringen. So wird die Partikularität von Perspektiven deutlich und deren differenten Wirklichkeitskonstruktionen wird Rechnung getragen. Das gewonnene Wissen ist immer sozial und politisch lokalisiert, so dass die Forscher auch dazu aufgefordert werden, die Diskurse und Positionen, die ihr Denken prägen, kritisch zu hinterfragen. Dabei haben die neueren Ansätze von Cultural Studies einen „performance turn“ vollzogen (Denzin 2003). Sie sind sich dessen bewusst, dass sie Kultur in ihren Widersprüchen und Konflikten „zur Aufführung“ bringen, wenn sie über sie forschen und schreiben. „Reflexive Performance“ und (Auto-)- Ethnographie rücken ins Zentrum der neueren qualitativen Forschung. 2 Widerspenstige Praktiken und kontextuelle Analysen Widerstand ist ein elementarer Begriff in den Cultural Studies (Hörning/ Winter 1999; Winter 2001), der durch Antonio Gramscis Hegemonieanalysen (Gramsci 1991ff.), seine Überlegungen zur Popularkultur und vor allem durch Michel Foucaults Analytik der modernen Macht (Foucault 1976; 1977) bestimmt wird. Trotz massiver Kritik nimmt er bis heute eine sehr wichtige Rolle in der Analyse gelebter Erfahrungen und Praktiken ein. Seine wichtige Bedeutung veranschaulicht, dass Cultural Studies kulturelle und mediale Prozesse im Kontext sozialer und kultureller Ungleichheit sowie als Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit 165 Teil der Dispositive der Macht betrachten. Ihre Perspektive ist immer auch die „von unten“, die das Leiden an der Gesellschaft, das Elend der Welt, registriert, analysiert, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten von Utopie und gesellschaftlicher Transformation aufzeigen möchte (Kellner 1995; Winter 2005). So wundert es nicht, dass Widerstand zur zentralen Kategorie dieser kritisch interventionistischen Theorie und Forschungspraxis wurde. Gerade im alltäglichen Gebrauch von Medien, in deren Rezeption und (produktiver) Aneignung, finden sich die Merkmale und Spuren widerspenstiger Praxis und kreativen Eigensinns, die mediale Texte gegen den Strich lesen und zur Artikulation eigener Perspektiven nutzen (Winter 2001). Zum Streitpunkt wurde dabei die Frage, wie weitreichend dieser Widerstand gegen Macht sein kann und welche Bedeutung ihm im Kontext gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen zukommt. Hat der Widerstand (nur) symbolischen Charakter oder auch „reale“ Auswirkungen? Als methodologisch schwierig erweist es sich nämlich, die kreativen und widerständigen Elemente alltäglicher Erfahrung zu erfassen, da diese immer bereits von Diskursen durchdrungen und strukturiert werden. In der frühen Widerstandsforschung, die allerdings keine von einem Programm ausgehende einheitliche Tradition darstellt, wird bereits ein zentraler Aspekt von Cultural Studies deutlich, ihr Kontextualismus. Widerspenstige Praktiken lassen sich nur dann verstehen, wenn der Kontext (re-)konstruiert wird, in dem sie sich ereignen und den sie (mit)konstituieren. Für Larry Grossberg (1999, 60) werden die Cultural Studies von einem radikalen Kontextualismus geprägt: „Um es für Cultural Studies auf den Punkt zu bringen: der Kontext ist alles, und alles ist kontextuell”. So kann Paul Willis in seiner in der Zwischenzeit zum Klassiker gewordenen ethnographischen Studie Spaß am Widerstand (1979) in einer dichten Beschreibung zeigen, wie die „lads“, Jungs aus der Arbeiterklasse, eine lebendige und aufmüpfige Gegenkultur schaffen, die die Mittelklassenormen ihrer Schule ablehnen und subversiv unterlaufen. Ihre kreativen Praktiken prangern Langeweile und Entfremdung schulischer Sozialisation an, führen jedoch nicht zu einer Transformation „realer“ Herrschaftsstrukturen, weil den schlecht ausgebildeten „lads“ nämlich nichts anderes übrig bleibt, als nach der Schule Arbeiterjobs anzunehmen. Damit ist ihr Protest, den sie subjektiv als Freiheit erfahren, in die Reproduktion sozialer Ungleichheit eingebunden. In ihrer ebenfalls berühmt gewordenen Studie Reading the Romance (1984), die multidimensional angelegt ist und historische Betrachtungen mit narrativen Analysen von Romanen und empirischer Erforschung der Perspektive der Leserinnen verbindet, kam Janice Radway zu dem Ergebnis, dass die Rezeption von Liebesromanen, zunächst unabhängig von ihrem Inhalt, eine grundsätzlich positive Bedeutung für Frauen haben kann. Die regelmäßige und enthusiastische Lektüre, das Sich-Verlieren im Lesen, helfe ihnen nämlich, sich von den sozialen Pflichten und Beziehungen des Alltags Rainer Winter 166 zu distanzieren und einen Freiraum für sich selber im häuslichen Ambiente zu schaffen, wo von ihnen ansonsten erwartet wird, ausschließlich für die Familie da zu sein und ihre Selbstfindung daran zu binden. Im Weiteren kann Radway dann zeigen, wie in den Liebesromanen auch weibliche Sinnangebote gegen die des Patriarchats ausgespielt und als höher eingestuft werden. Die scheinbar harmlose Praktik des Lesens von relativ standardisierten Liebesromanen erweist sich als widerspenstig und führt zur Bildung einer lebendigen, widerständigen Subkultur. Allerdings kommt Radway zu dem Schluss, dass die realen patriarchalen Strukturen, die familiäre und gesellschaftliche Beziehungen durchdringen, nicht transformiert werden. Der Widerstand kann sogar zu ihrer Stärkung beitragen. Die Analysen des Widerstandes innerhalb von Cultural Studies beschäftigen sich also mit auf den ersten Blick trivialen, unbedeutenden alltäglichen Erfahrungen und Praktiken untergeordneter Gruppen, die in ihrer Eigenart, insbesondere wie sie den realen Strukturen von Macht und Herrschaft widerstehen, untersucht werden. Auch wenn in der Lesart von Cultural Studies Ideologien und die hegemoniale Kultur das Verhältnis der Handelnden zur Welt vermitteln, kennen sie diese Strukturen jedoch mittels ihres praktischen Wissens, was die Voraussetzung für ihren Widerstand ist, der in der Regel jedoch im Imaginären verbleibt und vergeblich ist. Methodologisch werden die alltäglichen Erfahrungen und Praktiken, so z.B. die Medienrezeption, ernst genommen und damit auch deren Bedeutung. Allerdings kontextualisiert sie der Forscher und bestimmt damit ihre eigentliche Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird in der neueren Diskussion oft die Kritik geäußert, dass dieser „Durchblick“ des Forschers seiner Selbstreflexivität im Wege steht. So kann er z.B. nicht erkennen, wie die von ihm analysierten „realen“ Herrschaftsstrukturen durch seine eigenen theoretischen Vorannahmen oft erst begriffliche Kontur gewinnen. Sowohl Willis als auch Radway wurden dahingehend kritisiert, dass ihre theoretischen Vorannahmen zur Ausbildung blinder Flecke führen, was freilich für jede Forschung gilt. In der neueren ethnographischen Diskussion wird etwas übertrieben eingewendet, dass man oft mehr über die theoretische Perspektive des Forschers erfährt als über die untersuchten Personen. Diese Kritik wurde auch an John Fiske geübt, der als der wichtigste Vertreter des Widerstands-Paradigmas gilt und dessen Analysen in der Exploration von Möglichkeiten im Dickicht der Lebenswelt für viele einen zu optimistischen Charakter annehmen. In seinen Analysen des Populären in der Gegenwart (Fiske 1989) knüpft er eng an Foucaults (1976) Unterscheidung zwischen Macht und Widerstand an. „Widerstand“ kann in spezifischen historischen Situationen im Verhältnis von diskursiven Strukturen, kultureller Praxis und subjektiven Erfahrungen entstehen. Fiske begreift den Alltag als kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen den Strategien der „Starken” und den Guerillataktiken der „Schwachen”. Im Gebrauch der Ressourcen, die das System z.B. in Form von medialen Texten und anderen Konsumobjekten zur Verfügung stellt, Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit 167 versuchen die alltäglichen Akteure ihre Lebensbedingungen selbst zu definieren und ihre Interessen auszudrücken. Dabei interessiert er sich nicht für die Aneignungsprozesse, die zur sozialen Reproduktion beitragen, sondern für den heimlichen und verborgenen Konsum, der im Sinne von Michel de Certeau (1988) eine Fabrikation, eine Produktion von Bedeutungen und Vergnügen ist, in der den Konsumenten ihre eigenen Angelegenheiten deutlicher werden und die (vielleicht) zur allmählichen kulturellen und sozialen Transformation beitragen kann (Winter 2001). Fiske (Fiske 1999; Winter/ Mikos 2001) dekonstruiert in seinen Analysen die unterschiedlichsten populären Texte von Madonna über Stirb langsam bis zu Eine schrecklich nette Familie mit dem Ziel, ihr Potential an Bedeutungen aufzuzeigen, das je nach sozialer und historischer Situation der Zuschauer von diesen unterschiedlich realisiert wird. Er zeigt die Inkonsistenzen, die Unabgeschlossenheit, die widersprüchliche Struktur oder die Polyphonie medialer Texte auf, arbeitet heraus, wie eng populäre Texte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen sind und soziale Differenzen artikulieren. Die Rezeption und die Aneignung von Texten wird zu einer kontextuell verankerten gesellschaftlichen Praxis, in der die Texte als Objekte nicht vorgegeben sind, sondern erst auf der Basis sozialer Erfahrungen produziert werden. Damit gelingt es Fiske die situative Einzigartigkeit und Signifikanz kultureller Praktiken aufzuzeigen, die an einem besonderen Ort zu einer besonderen Zeit realisiert werden. Wie bei Radway und bei Willis stellt sich jedoch auch bei Fiske die Frage, welche über den unmittelbaren Kontext hinausgehende Bedeutung diese symbolischen Kämpfe haben können. Eine naheliegende Kritik lautet, dass widerständiger Medienkonsum, wie Fiske (2001) ihn in seiner berühmt gewordenen Madonna-Studie aufzeigt, ineffektiv bleibt, weil er die patriarchalen Herrschaftsstrukturen nicht ändert. So zu argumentieren, heißt jedoch nicht sehen zu wollen, dass Fiske dies zum einen nicht behauptet. Zum anderen geht es ihm gerade darum, die Bedeutung, ein Madonna-Fan zu sein, ernst zu nehmen und vor allem in seinen späteren Arbeiten die Singularität kultureller Erfahrungen und Praktiken in spezifischen Kontexten herauszuarbeiten, ohne überhaupt den Anspruch auf Generalisierung oder unmittelbare Transformation von Herrschaftsstrukturen zu stellen. Allerdings entgeht auch Fiske nicht der Kritik, dass er als Forscher vorgibt, die Bedeutung der Praktiken der Untersuchten besser zu verstehen als diese selbst. Diesem für die Forschungen zum Widerstand charakteristischen Dilemma versucht man in neueren Arbeiten dadurch zu entgehen, dass Phänomene aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und auf diese Weise das methodologische Instrumentarium sensibler für die Erfahrung des Anderen werden soll. So wird untersucht, welchen Einfluss Widerstandspraktiken in einem spezifischen Kontext auf Ereignisse und Prozesse in anderen Bereichen haben, wie sie mit diesen artikuliert sind. Zudem werden Erfahrungen, Praktiken und Diskurse in multiplen lokalen Kontexten analysiert, so dass sich verschiedene Formen von Subordination und Widerstand auf- Rainer Winter 168 zeigen lassen (Saukko 2003). Innerhalb von Cultural Studies spielt die Analyse subversiven Medienkonsums also weiterhin eine wichtige Rolle, auch wenn die damit verbundenen optimistischen Hoffnungen nicht mehr im Zentrum der Betrachtung stehen. 3 Ethnographische und reflexive Methoden Bei der Analyse von Rezeptions- und Aneignungsprozessen steht bei Cultural Studies die ethnographische Perspektive im Vordergrund. Damit ist in der Regel aber nicht eine ausgedehnte ethnographische Feldarbeit wie in der Ethnologie gemeint, sondern die teilnehmende Beobachtung kultureller Praktiken des modernen und postmodernen Lebens, die einen Zugang zur Zirkulation von Bedeutungen (Fiske 1999) und so einen Einstieg in kulturelle Kreisläufe (Johnson et al. 2004) ermöglichen soll. Dabei ist die ethnographische Perspektive oft mit autobiographischen Elementen verknüpft. So hat Ien Ang (1986) in ihrer Studie zu Dallas die Analyse der Reaktionen von Zuschauerinnen mit ihrer eigenen Einschätzung der Serie verbunden. Die persönliche Affinität zu einem Untersuchungsobjekt, bisweilen auch das eigene Fantum, und die Selbstreflexion sind wichtige Ressourcen im Forschungsprozess von Cultural Studies. „My existence as a fan, my experiences, along with whatever other resources are available for describing the field of popular practices and their articulations to social and political positions, are the raw material, the starting point of critical research” (Grossberg 1988, 68). In neueren ethnographischen Arbeiten entstand zudem die Forderung und die ethische Verpflichtung, den Welten der Anderen möglichst gerecht zu werden. Eine Möglichkeit hierfür ist der Dialog zwischen den Forschenden und den Untersuchten, indem Vorurteile abgebaut und die Grenzen des eigenen Verständnisses überwunden werden sollen. Der Textur gelebter Leben soll so aus der Sicht der Beteiligten (mehr) Gerechtigkeit widerfahren. In einem weiteren Schritt sollen auch im Alltag bestehende Machtbeziehungen in Frage gestellt werden. „Research that is more fully participatory will aim to use the research process itself to empower those who are being researched“ (Johnson et al. 2004, 215). Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser neuen Formen von Ethnographie ist die Selbstreflexivität. Der Forschende soll sich über seine eigene Situiertheit, seine sozialen und politischen Verpflichtungen sowie seine theoretischen Vorannahmen klar werden, damit er leichter Zugang zu den Welten der Untersuchten findet. Dabei impliziert Selbstreflexivität aber nicht, dass ein „wahreres“ Wissen der Welt möglich ist (Haraway 1997, 16). Eher zeigt sie die Begrenzungen unserer Weltsicht auf und, dass verschiedene Interpretationen unserer eigenen Welt und der der Anderen möglich sind. In den Formen kritischer Autoethnographie führt Selbstreflexivität dazu, dass der Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit 169 Forscher untersucht, welche Erlebnisse und sozialen Diskurse seine Erfahrung bestimmt haben (Bochner/ Ellis 2002). Zudem ist es wichtig, die Polyvokalität des Feldes in ethnographischen Untersuchungen einzufangen. So zeigt die Forschung z.B., dass mediale Texte ganz unterschiedlich gebraucht werden können. Gelebte Erfahrungen sollen von verschiedenen Stimmen wiedergegeben werden, um zu vermeiden, dass eine Stimme für die „Wahrheit“ einer Erfahrung steht und um die Besonderheit einzelner Erfahrungen angemessen zu erfassen (Saukko 2003, 64ff.). Auch in den Darstellungen der Forschungsergebnisse kommt es zu einer Interaktion zwischen den Stimmen der Anderen und der Stimme des Forschers. Die Berücksichtigung autobiographischer Erfahrungen führt auch zu Experimenten in der Darstellung der Forschungsergebnisse, die bis zur „performance“ von Erfahrungen und Praktiken reichen kann (Denzin 2003). In der qualitativen Medienforschung kommt dieser methodologischen Neuorientierung eine wichtige Bedeutung zu. Zum einen fordern dialogische Beziehungen den Forscher dazu auf, über seine eigenen medialen Erfahrungen und Praktiken, seine Vorlieben und Abneigungen nachzudenken und sie kritisch zu hinterfragen. Zum anderen werden die Informanten, die z.B. über Formen problematischen Medienkonsums berichten, als Subjekte ernst genommen, die eine eigene Sicht entwickelt haben. Zudem werden sie aufgefordert, diese zur Darstellung zu bringen. Der Forscher nimmt nicht die Rolle des unabhängigen Beobachters ein. Er ist eher ein unterstützender Mitspieler. Seine Subjektivität wird wie die der Untersuchten durch die medialen Praktiken der heutigen Gesellschaften, insbesondere durch die Populärkultur, geprägt, worüber er sich im Forschungsprozess klar werden sollte. „Popular culture matters...precisely because its meanings, effects, consequences, and ideologies can’t be nailed down. As consumers and as critics, we struggle with this profileration of meanings as we make sense of our own social lives and cultural identities”(Jenkins et al. 2002, 11). Im Kontext der interpretativen Ethnographie hat Norman Denzin (1997; 1999; 2003, 57-76) die Methode des „reflexiven Interviews“ entwickelt, die der Forderung nach Reflexivität gerecht zu werden versucht und die ich im Folgenden kurz darstellen möchte. Exkurs: Das reflexive Interview Denzin (2003, 57ff.) stellt zunächst fest, dass wir in einer Second-hand-Welt von Bedeutungen leben, die durch die Medien der postmodernen Gesellschaft vermittelt werden. Die Kultur ist eine visuell dominierte Medienkultur, eine „cinematic society“ (Denzin 1995), in der dramaturgische Inszenierungen die Oberhand gewonnen haben. Das reflexive Interview soll nun eine Möglichkeit sein, dem Zustand Rechnung zu tragen, dass Subjektivität immer mehr durch Geschichten vermittelt wird, die durch Interviews produziert worden sind. „The reflexive interview is simultaneously a site for Rainer Winter 170 conversation, a discursive method, and a communicative format that produces knowledge about the self and its place in the cinematic society - the society that knows itself through the reflective gaze of the cinematic apparatus” (Denzin 2003, 58). Das Interview ist eine Bekenntnispraktik, die zu einer öffentlichen Form der Unterhaltung geworden ist. Das Stellen von Fragen, die Aufforderung, eine Geschichte zu erzählen, bringt situierte Erzählungen des Selbst hervor. Im Anschluss an Holstein und Gubrium (2000) unterscheidet Denzin dann zwischen verschiedenen Formen des Interviews, die dem Interviewer unterschiedliche Positionen zuweisen. Im „objektiv neutralen“ Format benutzt er einen strukturierten oder semi-strukturierten Leitfaden, um zu Informationen zu gelangen. Die Geschichte, die erzählt wird, wird von ihm, so seine Auffassung, nicht beeinflusst. Im Entertainmentbzw. investigativen Format versucht der Interviewer, mit unterschiedlichen Methoden an eine Geschichte zu kommen, die er gewinnbringend verkaufen kann. Im auf Mitarbeit angelegten, aktiven Format treten die Identitäten von Interviewer und Interviewten in den Hintergrund. Eine Konversation entsteht, und eine Geschichte wird zusammen erzählt. Das von Denzin präferierte Format ist das reflexive Interview, das von einer dialogischen Beziehung getragen wird. „In this relationship, a tiny drama is played out. Each person becomes a party to the utterances of the other. Together, the two speakers create a small dialogic world of unique meaning and experience. In this interaction, each speaker struggles to understand the thought of the other, reading and paying attention to such matters as intonation, facial gestures, and word selection” (Denzin 2003, 67). Am Beispiel von Filmen veranschaulicht er dann die unterschiedlichen Interviewformate. Dabei kommt Trinhs Film Surname Viet Given Name Nam (1989) eine Schlüsselrolle zu, weil er den Gebrauch von „objektiv neutralen“ Interviews in Dokumentarfilmen, die nicht dialogisch angelegt sind, kritisch vorführt. In Dokumentarfilmen ist der Filmemacher/ Interviewer ein Beobachter, der über seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Menschen in einer realen Welt berichtet. Die ästhetischen Strategien des dokumentarischen Interviews, das auch wesentliches Element von Fernsehnachrichten und -reportagen ist, vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, dass er unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit hat (Trinh 1991, 40). Trinhs Film dagegen ist dialogisch angelegt, die Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion verwischen. Ebenso entpuppen sich Bedeutungen als politische Konstruktionen. Sie spielt mit der Rahmenstruktur von Filmen und ihren Konstruktionen von Wirklichkeiten, um vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen. Im Anschluss an Trinh fordert Denzin deshalb eine Intensivierung von Reflexivität: „I want to cultivate a method of patient listening, a reflexive method of looking, hearing, and asking that is dialogic and respectful. This method will take account of my place as a constructor of meaning in this dialogic relationship (…) I will use the reflexive interview as a tool for intervention (…) I will use it as a method for uncovering structures of oppression in the life worlds of the persons I am Sprache, Medien und die sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit 171 interviewing” (Denzin 2003, 75). Das Forschen in der „cinematic society” erfordert neue Methoden, um deren Ideologien und Mythen zu dekonstruieren, eine gemeinsame Konstruktion von Bedeutungen zu erlauben und eine Politik des Möglichen zu schaffen. Auch bei den neuen Formen von Ethnographie steht also die kritische Analyse sozialer Formen von Ungleichheit und Macht im Zentrum, die aufgedeckt, von verschiedenen Perspektiven her analysiert und auf Möglichkeiten zur Veränderung und zur Steigerung von Handlungsmächtigkeit der Untersuchten geprüft werden sollen. 4 Schluss Nachdem es lange Zeit in den Cultural Studies keine explizite Methodendiskussion gab, wird diese nun geführt. Dies mag damit zusammenhängen, dass diese transdisziplinäre Forschungsrichtung sich nun selbst als eine Art Disziplin formiert, die aber ihren Ursprüngen treu bleibt und eine Kritik der Macht mit Möglichkeiten der Intervention verbinden möchte. Cultural Studies sind immer an der Analyse von Kontexten orientiert. Deshalb entwerfen sie keine globale Theorie, und die verwendeten Methoden hängen von den jeweiligen Fragestellungen ab. Die Analyse eines einzelnen kulturellen Elements beinhaltet seine komplexen Beziehungen zu anderen kulturellen Objekten und gesellschaftlichen Kräften. 5 Bibliographie Ang, Ien (1986): Das Gefühl Dallas. Zur Produktion des Trivialen. Bielefeld. (Orig. 1985). Bochner, Arthur P./ Ellis, Carolyn [Hrsg.] (2002): Ethnographically Speaking. Autoethnography, Literature, and Aesthetics. Walnut Creek, CA. De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Berlin. Denzin, Norman K. (1995): The Cinematic Society. The Voyeur’s Gaze. London/ Thousand Oaks/ New Delhi. Denzin, Norman K. (1997): Interpretive Ethnography. Ethnographic Practices for the 21st Century. London/ Thousand Oaks/ New Delhi. Denzin, Norman K. (1999): Ein Schritt voran mit den Cultural Studies. In: Hörning, Karl H./ Winter, Rainer [Hrsg.]: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. 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Winter, Rainer/ Mikos, Lothar [Hrsg.] (2001): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske Reader. Bielefeld. Christian Wolff Zeitbezogene Korpusauswertung Medienanalyse oder Sprachwandelforschung? 1 Einleitung In den vergangenen Jahren sind im Zuge der Renaissance der Korpuslinguistik zahlreiche Korpora des Deutschen verfügbar geworden. 1 Zwar sind aufgrund der Vielzahl von Unterscheidungskriterien für elektronische Sprachkorpora (u.a. Sprache, Modalität, Textsorte, Annotation, Quellen) noch längst nicht alle wünschenswerten Korpora vorhanden, die bestehenden Daten eröffnen aber bereits jetzt neue Möglichkeiten für die Sprach- und Medienanalyse. Die wissenschaftshistorisch bedingte partielle Zurückdrängung empirischer Ansätze in der Sprachwissenschaft durch den vor allem in der theoretischen Linguistik vorherrschenden Rationalismus kann mittlerweile als überwunden gelten (vgl. dazu Pereira 2000 2 ). Der nachfolgende Aufsatz widmet sich der Frage, inwieweit mit Hilfe der mittlerweile umfangreichen Korpora des Deutschen Aussagen zu kurzfristigen Änderungen im Sprachgebrauch möglich sind und inwiefern sich solche korpuslinguistischen Auswertungsverfahren auch für die Medienanalyse fruchtbar machen lassen. Da sich die heute vorliegenden - großen - Textkorpora des Deutschen vornehmlich aus Pressetexten zusammensetzen, ist der Zusammenhang von Sprach- und Medienanalyse offensichtlich. Aufbauend auf einem kurzen Überblick zu den derzeit (online) verfügbaren Korpora des Deutschen (Kap. 2) werden anhand von Beispielen Möglichkeiten der zeitorientierten Korpusanalyse gegeben (Kap. 3). Ein kurzer Ausblick erörtert abschließend das Verhältnis von Sprach- und Medienanalyse (Kap. 4). 2 Elektronische Ressourcen und Textdatenbanken des Deutschen Für die hier betrachteten Methoden der zeitbezogenen Korpusanalyse kommen vor allem größere Korpora des Deutschen in Betracht, da bei Aufteilung des Materialbestands auf die einzelnen „Zeitscheiben“ in jedem Teil- 1 Vgl. die Übersicht bei Lemnitzer/ Zinsmeister (2006, 113ff.). 2 Pereira (2000, 1239) drückt es so aus: „In the last forty years, research on models of spoken and written language has been split between two seemingly irreconcilable traditions: formal linguistics in the Chomsky tradition, and information theory in the Shannon tradition”. Vgl. Lemnitzer/ Zinsmeister (2006, 15ff.). Christian Wolff 174 korpus noch hinreichend sprachliches Material verfügbar sein sollte, um es für korpuslinguistische Analysen nutzen zu können. Beim aktuellen Stand der Korpusentwicklung umfassen solche Korpora typischerweise wenigstens einige hundert Millionen laufende Wortformen (tokens) und dabei mehrere Millionen verschiedene Wörter (types, in der Regel Vollformen). Zu den Korpora, die auch den nachfolgenden Beispielen für zeitbezogene Analysen zugrunde liegen, gehören unter anderem: • Die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS), mit insgesamt etwa zwei Milliarden laufenden Wortformen. • Das deutsche Korpus des Leipziger Projekts Deutscher Wortschatz mit aktuell ca. 500 Millionen laufenden Wortformen (vgl. Quasthoff/ Wolff 2000). • Das Kernkorpus des Projektes Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vgl. Klein 2004, Geyken 2005). In den letzten Jahren ist dabei als Trend der Korpuslinguistik die Analyse von Korpora, die teilweise oder überwiegend aus online publizierten Texten bestehen, zu beobachten. Insbesondere die umfangreichen Daten des World Wide Web ermöglichen es mittlerweile, auch sog. gigaword corpora und demnächst auch teraword corpora mit jeweils Milliarden oder gar Billionen laufender Wortformen zu nutzen. 3 Von den oben genannten Korpora ist vor allem das Leipziger Korpus aus solchen ausgewählten Webquellen zusammengesetzt. Dagegen sind crossmediale Korpora, die Quellen nicht nur aus unterschiedlichen Printmedien zusammenstellen, sondern verschiedene Kommunikationsmodalitäten integrieren (gesprochene Sprache in Film, Funk und Fernsehen, Text aus unterschiedlichen Quellen), bisher aufgrund des hohen Aufbereitungsaufwands noch sehr selten. Sie stellen aber gerade für die Medienanalyse im Sinne einer ganzheitlichen Erfassung und Untersuchung der von einem Mitglied einer Sprachgemeinschaft wahrgenommenen medial vermittelten sprachlichen Daten ein wichtiges Desiderat dar. 3 Zeitbezogene Analysen von (Text-)Korpora Will man Korpora linguistisch oder medienanalytisch mit Bezug zum Publikationszeitraum von Texten auswerten, kommt zu den bereits einleitend genannten Kriterien des Korpusaufbaus die Frage nach Zeitgranularität, d.h. nach der kleinsten im Korpus unterschiedenen Zeiteinheit hinzu. Derzeit findet sich vor allem der Tag als kleinste Zeiteinheit, was durch den typischen Publikationsrhythmus von Online-Medien als Quellengrundlage bedingt ist. Angesichts der Vielzahl von Online-Medien, die eine kontinuierli- 3 Einführend zur Nutzung des World Wide Web als linguistisches Korpus vgl. Kilgarriff/ Grefenstette (2003). Zeitbezogene Korpusauswertung 175 che Publikationsmöglichkeit bieten (z.B. e-Mail, Online-Foren, Wikis und Weblogs (blogs), vgl. Schlobinski 2006), wäre grundsätzlich auch eine Analyse mit feinerer zeitlicher Auflösung möglich und wünschenswert. Am anderen Ende des Spektrums zeitlicher Auflösung stehen diachrone Korpora, deren Zeiteinteilung sich über Jahrhunderte erstrecken kann, die aber in der Regel keinen Bezug zur Medienanalyse aufweisen, sondern rein linguistisch motiviert sind. Das Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache weist eine Einteilung nach Dekaden von 1900 bis 2000 auf und sichert vor allem auch eine repräsentative Zusammenstellung nach Textsorten über die verschiedenen Dekaden hinweg (s.u. Abb. 1-4). Die nachfolgenden Beispiele für zeitbezogene Analysen von Medientexten sollen den aktuellen Stand zeitbezogener Korpusanalyse aufzeigen und gleichzeitig die enge Verschränkung von Medienanalyse und sprachwissenschaftlicher Betrachtung illustrieren. 3.1 Tübinger Wortwarte Vor allem der Entdeckung von Neologismen widmet sich die Tübinger Wortwarte, die als Online-Plattform seit 2000 betrieben wird und tagesgenau neue (deutsche) Wörter aus online publizierten Texten dokumentiert. Zu den wesentlichen Zielen der Wortwarte rechnen Lemnitzer/ Uhle (2006) vor allem die Beschreibung und Kommentierung von „Tendenzen der Entwicklung des Deutschen“. Die Auswahl geeigneter Wortkandidaten für Neologismen erfolgt auf der Basis einer in der Regel täglichen Auswertung der Online-Presse (Spiegel online, Süddeutsche online etc.) und basiert auf dem Vergleich mit dem gemeinsam vom Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, dem Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Tübingen und dem Institut für maschinelle Sprachverarbeitung der Universität Stuttgart erarbeiteten und betriebenen Deutschen Referenzkorpus (DEREKO) mit etwa 120 Millionen laufenden Wortformen (tokens) und ca. 2,3 Millionen verschiedenen Wörtern (types, vgl. Dipper et al. 2002). Um „zufällige“ Fehler (z.B. Tippfehler) oder Falschschreibungen auszufiltern, erfolgt die Auswahl von Neologismen aus der nach dem Abgleich mit DEREKO verbleibenden Kandidatenmenge von Hand. Als sprachliche Norm wird hier die neue deutsche Rechtschreibung herangezogen. Die folgenden zwei Beispiellisten zeigen die ausgewählten Wörter für den 11. und 12. Dezember 2006: Neologismen der Tübinger Wortwarte vom 11. Dezember 2006 Neologismen der Tübinger Wortwarte vom 12. Dezember 2006 Aktivgurtsystem, das; Blitzdating, das; Chefkickstarter, der; Deontologe, der; Freegan, der/ die; Gewinnabschöpfungsverfahren, das; Icescating, das; Klimakteriumsberater, der; Kom- Altersteilzeitler, der; Amokankündigung, die; Aquagrafie, die; Atomblues, der; Bayernbox, die; Bayernkonsole, die; Biosentimentalität, die; Biotechgenerikum, das; Comicbattle, die; Dispokinetiker, der; Dop- Christian Wolff 176 paktkonsole, die; Remixarbeit, die; Snowtube, der/ das? ; Studivzgruppe, die; Trivialzwerg, der; Vorkammerdiesel, der pelsteckung, die; Fertigglühwein, der; Flachdrahtspulentechnik, die; Fondsifikat, das; Futterpate, der; Gourmetvideo, das; Greenbag, die; Hesylierung, die; Klingeltonranking, das; Meinungsarchiv, das; pegyliert, Adjektiv; Pegylierung, die; submongoloid, Adjektiv; Subraumsatellitenfrequenz, die; telerealistisch, Adjektiv; Vielschwafeltest, der; Zwangsmonopol, das Tab. 1: Neologismen der Tübinger Wortwarte vom 11. und 12.12.2006. 4 Es ist offensichtlich, dass mit dem Auswahlkriterium „erstmaliges Erscheinen eines Wortes in einer Online-Pressequelle“ der Zeitpunkt der tatsächlichen Begriffsschöpfung nur näherungsweise bestimmt werden kann: Die Wortwarte bietet für jeden ihrer Neologismen auch eine Vergleichsrecherche mit der Suchmaschine Google an, über die weitere Quellen erschlossen werden können. Während etwa für das Wort Vielschwafeltest auch bei Google ausschließlich der Berliner Tagesspiegel als Quelle ersichtlich ist, sind für Zwangsmonopol bei Google immerhin 587 ältere Quellen, u.a. in Parlamentsprotokollen, ersichtlich und man wird hier eher eine lexikalische Lücke im Referenzkorpus DEREKO entdecken als einen tatsächlichen Neologismus des Dezember 2006 (wohl ähnlich bei Meinungsarchiv, Aktivgurtsystem oder Gewinnabschöpfungsverfahren). Unterschiedliche Muster des erstmaligen Auftretens in online publizierten Medien sind einer näheren Betrachtung würdig: Während bei einer Vielzahl von Begriffen deutlich ist, dass es sich um möglicherweise bereits länger verwendete Fachterminologie handelt, die eben nur erstmalig im Beobachtungszeitraum 2000-2006 in einem Publikumsmedium verwendet wird (Zwangsmonopol, Gewinnabschöpfungsverfahren), lassen sich andere Begriffe als Bezeichnungen technologischer Innovationen begreifen (Aktivgurtsystem, Biotechgenerikum). Journalistisch geprägte Sprachkreativität dürfte sich dagegen hinter Wörtern wie Vielschwafeltest oder Trivialzwerg verbergen, wobei auch Mischformen denkbar erscheinen (Blitzdating). 3.2 Zeitverläufe im Korpus des digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (DWDS) Neben einer mit umfassender Funktionalität ausgestatteten Benutzerschnittstelle („Wortinformationssystem des DWDS“), die unter anderem eine präzise zeitliche Einschränkung der Recherche und die Darstellung von Kollokationsmengen zu den Suchbegriffen auch nach unterschiedlichen 4 Universität Tübingen, Seminar für Sprachwisenschaft [Hrsg.] (2006): Die Wortwarte. Abrufbar unter http: / / www.sfs.uni-tuebingen.de/ ~lothar/ nw/ Archiv/ Datum/ d0612 12.html (Zugriff am 12.12.2006) und http: / / www.sfs.uni-tuebingen.de/ ~lothar/ nw/ Archiv/ Datum/ d061211.html (Zugriff am 12.12.2006). Zeitbezogene Korpusauswertung 177 Kollokationsmaßen erlaubt, bietet die DWDS-Schnittstelle eine Visualisierung des Gebrauchsverlaufs geordnet nach Dekaden und Textsorten. Es lässt sich damit nicht nur die absolute Auftretenshäufigkeit eines Wortes in der jeweiligen Dekade, sondern auch die Verteilung der Treffer auf verschiedene Textsorten im Korpus darstellen. Damit kann man - gewissermaßen „auf einen Blick“ - für beliebige Wörter einen schnellen Überblick über ihre Gebrauchspraxis gewinnen. Einige Beispielbilder aus der DWDS- Schnittstelle sollen dies verdeutlichen. Die folgenden drei Abbildungen zeigen die Verlaufscharakteristika für die drei Wörter Automobil, Auto und PKW von 1900 bis 2000. Alle drei Verläufe weisen einen Maximalwert in der Dekade der 1950er Jahre auf, und dabei vor allem in der Textsorte Gebrauchsliteratur. Dies dürfte sich durch die Bedeutung des Automobils als Symbol des (west-)deutschen Wirtschaftswunders in den fünfziger Jahren erklären lassen, wobei PKW als terminus technicus offensichtlich erst in den Dreißiger Jahren eingeführt wurde. Bemerkenswert ist auch, dass die Kurzform Auto gegenüber Automobil bereits ab der Dekade 1920-1930 deutlich häufiger im Korpus nachgewiesen wird. Abb. 1: Verlaufsstatistik für Automobil im DWDS-Kernkorpus. 5 5 Quelle für die Abbildungen 1-4: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Hrsg.] (2006): Projekt „Digitales Wörterbuch“: online-Ressourcen. Zeitverläufe. Online-Abfragen. Abrufbar unter http: / / www.dwds.de/ (Zugriff am 12.12.2006). Christian Wolff 178 Abb. 2: Verlaufsstatistik für Auto im DWDS-Kernkorpus. Abb. 3: Verlaufsstatistik für PKW im DWDS-Kernkorpus. Zeitbezogene Korpusauswertung 179 Ein zweites interessantes Beispiel liefert das Wort Gau. Als wichtiger Begriff der Sprache des Nationalsozialismus ist das ursprünglich neutral konnotierte Wort 6 seit dem Ende des dritten Reiches kaum mehr im Gebrauch, mit der signifikanten Ausnahme der 80er Jahre, als es als Akronym für größter anzunehmender Unfall im Rahmen der Kernkraftdebatte zu neuer Prominenz - nach der Einteilung des DWDS vor allem in wissenschaftlichen Texten - gelangte. Abb. 4: Verlaufsstatistik für Gau im DWDS-Kernkorpus. An diesem Beispiel werden zwei methodische Probleme einer zunächst rein statistischen Auswertung von Textkorpora deutlich: Einerseits erfordert die Interpretation der Rohdaten der Korpusanalyse ein hohes Maß an linguistischem Wissen (und an Weltwissen), andererseits liefern die Daten in vielen Fällen lediglich eine Bestätigung dessen, was lexikographisch längst festgeschrieben ist. Im Falle Gau kann immerhin festgehalten werden, dass das 6 „Gau, der; -(e)s, -e hist. in sich geschlossene Landschaft: Bei der Dürftigkeit des Ackerbaues wurde der Platz der Ansiedlung innerhalb des Gaues ... öfter gewechselt Mehring Dt. Geschichte 5; ich sei nur von einem Gau des alten Alemanniens in den andern hinüber ... gegangen G. Keller 4,480 (Gr. Heinrich)“. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Hrsg.] (2006): Projekt „Digitales Wörterbuch“: online- Ressourcen. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Online-Abfrage zu „Gau“. Abrufbar unter http: / / www.dwds.de/ ? woerterbuch=1&corpus=1&kompakt=1&qu= Gau&last_corpus=DWDS&old_corpus=DWDS&kw=on&sort=1&res=-1&cp=1 (Zugriff am 12.12.2006). Christian Wolff 180 Referenzlexikon des DWDS, das Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache (WDG), die Bedeutung des Akronyms nicht enthält bzw. aus zeitlichen Gründen gar nicht enthalten kann, wie das auf der Plattform des DWDS verfügbare Lemma zu Gau im WDG zeigt. 3.3 Zeitanalysen mit den Daten des Projektes Deutscher Wortschatz Im Rahmen eines weiteren großen Korpusanalyseprojektes - des Leipziger „Projekt Deutscher Wortschatz“ - sind in den vergangenen Jahren ebenfalls eine Reihe von Anwendungen entstanden, die deutsche Textkorpora nach temporalen Kriterien auswerten. 3.3.1 Wörter des Tages Unter dem Motto „Wörter des Tages“ werden seit 2002 mit ähnlichen Methoden wie bei der Tübinger Wortwarte täglich Online-Pressetexte gesammelt und durch den Vergleich mit einem großen Referenzkorpus ausgewertet. Grundlage ist hier das deutsche Korpus des „Projekt[es] Deutscher Wortschatz“, das im Vergleich mit DEREKO oder DWDS zwar einen deutlich größeren Umfang (etwa 500 Millionen laufende Wortformen) aufweist, aber - wie Lemnitzer/ Zinsmeister (2006, 122f.) nicht ganz zu unrecht konstatieren - durch die weniger systematische Quellenauswahl eine schwerer nachvollziehbare Textgrundlage aufweist. Anders als bei der Wortwarte ist hier nicht die Entdeckung von Neologismen das Ziel, sondern die Herausfilterung der zu einem Zeitpunkt jeweils besonders häufig gebrauchten Wörter und deren aktueller Kontext (Kollokationsmengen zu ausgewählten Begriffen). Es geht also weniger um die Änderung von Sprache durch Einführung neuer Begriffe, sondern um die Erfassung und Untersuchung des aktuellen Sprachgebrauchs in den Medien. Damit ist der Ansatz - soweit er sich „nur“ auf die tagesgenaue Beobachtung beschränkt - wesentlich näher an der Methodik einer quantitativen Medienanalyse, da sich aktuelle Ereignisse unmittelbar in den entsprechenden Wortlisten niederschlagen, wie das nachfolgende (gekürzte) Beispiel für die Wörter des 12. September 2006 belegt: Kategorie Wörter des Tages Sportler, Trainer, Funktionäre Andy Roddick • Asamoah • Borowski • Briatore • Federer • Frings • Gerald Asamoah • Kimi Räikkönen • Magath • Michael Schumacher • Nationaltrainer • Roger Federer • Schumi Sport DFB-Pokal • FIFA • Formel 1 • Läufer • Marathon • US Open Politiker Biedenkopf • Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble • Bundeskanzlerin Angela Merkel • Bundeswirtschaftsminister Michael Glos • CSU-Chef Edmund Stoiber • Castro • Djuka- Zeitbezogene Korpusauswertung 181 novic • Ismail Hanija […] Organisation Aldi • Atombehörde • BaFin • CNN • Chiphersteller • Dell • El Kaida • FIA • Fatah • Financial Times Deutschland • Frankfurter Allgemeinen Zeitung • Greenpeace • Hamas • Hisbollah • KfW […] Ereignis Einsturz • Gottesdienst • Hurrikan • Jahrestag • Lohnausgleich • Regensburg • Schweigeminute • Schweigeminuten • Terroranschlag • Terroranschläge • Trauerfeiern Schlagwort Anti-Terror-Kampf • Archivbild • Atomprogramm • Atomstreit • Auslastung • Dossier • Eckpunkte • Gammelfleisch • Gebet • Geburtshaus • Gedenken • Gesundheitsfonds • Gesundheitsreform […] Ort Altötting • Atlantis • Basilika • Beirut • Brunsbüttel • Cape Canaveral • Chelsea • Deggendorf • Golfstaaten • Ground Zero • Helsinki • Inn • Iran • Jemen • Karibik • Katar • Kühlhaus • Libanon […] Personen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft Anna Nicole Smith • Madonna • Tom Tykwer • Tykwer sonstige Personen Attentäter • Bin Laden • Bloomberg • Florence • Gläubige • Heilige • Heilige Vater • Hofer • Jesus • Joseph Ratzinger • Karasek • Kirchenoberhaupt • Mittelständler • Muslime • Natascha • Oberhaupt • Osama bin Laden • Papst Benedikt XVI • Pilger • Pontifex • Regensburger • Ricke • Schlichter • Smith Tab. 2: Wörter des Tages (12.9.2006). 7 Ähnlich wie bei der Tübinger Wortwarte greifen auch hier automatische und intellektuelle Auswahlprozesse ineinander: Ausgehend von einer automatischen Vorauswahl von im Vergleich mit dem Referenzkorpus auffallend häufig an einem Tag gebrauchten Wörtern, findet eine intellektuelle Klassifikation statt, die diese Begriffsliste einem einfachen Raster zuordnet, das der Ressortaufteilung einer Zeitung nachempfunden ist. Dabei treten natürlich Inkonsistenzen auf (etwa die Zuordnung des geographischen Eigennamens Regensburg in die Kategorie Ereignis oder die Einordnung des Wortes Chiphersteller in die Kategorie Organisation statt in die Auffangkategorie Schlagwort), insgesamt ist aber bei fortlaufender Aufnahme immer weiterer Begriffe in die verschiedenen Klassen eine zunehmend bessere automatische Klassifikation gewährleistet. Daneben erfolgt auch eine semiautomatische Erkennung von Mehrwortgruppen im Bereich der Eigennamen: Auf der Basis von automatisch erzeugten - auch mehrstelligen - Kollokationsmen- 7 Universität Leipzig, Institut für Informatik, Abt. Automatische Sprachverarbeitung [Hrsg.] (2006): Projekt Deutscher Wortschatz. Online-Abfrage Wörter des Tages 12.09. 2006. Abrufbar unter http: / / wortschatz.uni-leipzig.de/ wort-des-tages/ 2006/ 09/ 12/ (Zugriff am 12.12.2006). Christian Wolff 182 gen zu allen Wörtern des Referenzkorpus werden Listen potentieller Mehrwortgruppen generiert, die nach intellektueller Durchsicht auch als Wörter in die Wortliste des Korpus aufgenommen werden (z.B. im obigen Beispiel Kimi Räikkönen, Cape Canaveral oder Papst Benedikt XVI). Neben der Kategorisierung erfolgt auch eine Visualisierung der jeweiligen Wörter des Tages im Zeitverlauf der vergangenen vier Wochen. Dabei wird jeweils in einem Diagramm die relative Häufigkeit eines Wortes des Tages zusammen mit seinen am Stichtag stärksten Kollokationen angezeigt (Abb. 5). Abb. 5: Zeitverlauf für Papst Benedikt XVI (12.09.2006). 8 Diese Visualisierungsform macht unmittelbar deutlich, wie sich Ereignisse in den Medien spiegeln. Beispielsweise erzeugen in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehrende Ereignisse in der Analyse vergleichbare Aktivitätsmuster (z.B. regelmäßig stattfindende Sportereignisse wie Formel 1- Rennen). Auch „mediale Erregungskurven“ der politischen und gesellschaftlichen Berichterstattung lassen sich so nachzeichnen 3.3.2 Zeitbezogene Änderung von Gebrauchskontexten Sind tagesgenaue Frequenzdaten zu Wörtern aus Online-Pressetexten verfügbar, so lassen sich auch über die reine Gebrauchsfrequenz hinausgehen- 8 Universität Leipzig, Institut für Informatik, Abt. Automatische Sprachverarbeitung [Hrsg.] (2006): Projekt Deutscher Wortschatz. Online-Abfrage Verlaufsvisualisierung zu Papst Benedikt XVI am 12.09.2006. Abrufbar unter http: / / wortschatz.uni-leipzig.de/ wort-des-tages/ 2006/ 09/ 12/ Papst+Benedikt+XVI.html (Zugriff am 12.12.2006). Zeitbezogene Korpusauswertung 183 de Fragestellungen untersuchen. Geht man mit Firth (1957) davon aus, dass ein Wort durch seinen Kontext charakterisiert wird („You shall know a word by the company it keeps! “, Firth 1957, 179), liegt es nahe, über die Betrachtung von Auftretenshäufigkeiten hinauszugehen und zu untersuchen, inwieweit sich die Gebrauchskontexte von Wörtern im Zeitverlauf ändern. Auf der Basis der Daten des Projektes Deutscher Wortschatz - insbesondere der mittlerweile seit mehreren Jahren verfügbaren Tageskorpora 9 - wurde kürzlich in einer Regensburger Abschlussarbeit in Informationswissenschaft (Mendel 2006) untersucht, mit welchen Metriken sich Änderungen im Gebrauchskontext darstellen lassen. Neben der schon angesprochenen Frage nach der geeigneten Zeitgranularität stellt sich vor allem die Bestimmung eines geeigneten Vergleichsverfahrens für Kollokationsmengen als methodisches Problem heraus. Die Auswahl der Zeitgranularität wird dabei einerseits theoretisch durch die untersuchte Fragestellung (langfristiger Sprachwandel oder kurzfristige Phänomene der Darstellung von Konzepten in den Medien? ) als auch von der praktischen Verfügbarkeit hinreichend vieler Daten für kleine Zeiteinheiten beeinflusst. Nach Analyse der vorliegenden Tages- und Jahreskorpora werden Tageskorpora zu Monatskorpora aggregiert, da der Monat als kleinste sinnvoll nutzbare Zeiteinheit erscheint. Abb. 6: Unterschiede der Kollokationen eines Jahres zu Papst im Vergleich mit allen Vorjahren. 10 Für den Vergleich von Kollokationsmengen eines Begriffes aus unterschiedlichen Zeitscheiben werden sowohl Daten verwendet, die unmittelbare 9 Im Rahmen des Teilprojektes „Wörter des Tages“ liegen dabei für jeden Tag der letzten Jahre strukturidentische Datenbanken mit Informationen über die Häufigkeit einzelner Wörter in den täglich gesammelten Corpora sowie die automatisch ausgewerteten Kollokationen zu diesen Wörtern vor. Zur Berechnung der Wörter des Tages vgl. Quasthoff/ Richter/ Wolff (2002 und 2003). 10 Mendel, Ulrike (2006): Vergleich der Kollokationsmengen von Wörtern über mehrere Zeitabschnitte. Online-Abfrageschnittstelle, Universität Regensburg, Institut für Medien-, Informations- und Kulturwissenschaft. Abrufbar unter http: / / www-alab.unir.de/ ~mendel/ zeit-vergleiche.php (Zugriff am 12.12.2006). Christian Wolff 184 Nachbarschaft zweier Wörter im Text erfordern, als auch Kollokationen, die sich innerhalb eines Textfensters (Satzebene) ermitteln lassen. Eine Kollokationsmenge eines Wortes zum Zeitpunkt X kann sowohl mit der unmittelbar vorangegangenen Zeitperiode als auch mit der Aggregation aller vorangegangener Zeitperioden verglichen werden, wobei mengentheoretische Operationen zur Vergleichsberechnung herangezogen werden (Mendel 2006, 50ff.). Mit Blick auf die Medienanalyse können damit unterschiedliche Fragestellungen beantwortet werden: Bei lediglich lokalem Vergleich zweier Zeitperioden ergibt sich ein Indikator für das Ausmaß kurzfristiger Gebrauchsänderung in der medialen Verwendung eines Wortes; bei Vergleich mit aggregierten Vorperioden sieht man in der Regel eine fallende Kurve, die zeigt, dass mit der Zeit immer weniger neue Kollokate im Kontext eines Wortes zu beobachten sind. Um diese Daten besser interpretieren zu können, steht eine webbasierte Datenvisualisierung bereit, die die Änderungsraten zwischen Kollokationsmengen als Balkendiagramm darstellt (Abb. 6.). Das Bild zeigt - erwartungsgemäß - für die Jahre 1996-2004 fallende Änderungsraten in den Kollokationsmengen und einen anschließenden deutlichen Ausschlag für das Jahr 2005, als sich durch die Wahl eines neuen Papstes auch der Kontext des Wortes Papst in den (online-)Medien deutlich änderte. 4 Fazit: Medienanalyse und Sprachwandel Den voranstehenden Beispielen zeitbezogener Korpusvergleiche sind einige Merkmale gemeinsam: • Sie arbeiten mit vergleichsweise großen Textbeständen, • sind online als Datenmaterial für die Forschung verfügbar und • bieten nur vergleichsweise einfache Phänomene als zeitbezogenes Vergleichskriterium - insbesondere die Häufigkeit von Wörtern und Wortkontexten. Sowohl für eine weitergehende sprachwissenschaftliche Betrachtung (Morphologie, Syntax, Textgrammatik etc.) als auch für die medienanalytische Textanalyse z.B. des typischen Aufbaus oder Argumentationsgangs in Online-Texten wäre eine zusätzliche Aufbreitung und Annotation der Korpora erforderlich, die aber mit den heutigen Mitteln der Korpuslinguistik noch nicht oder nicht für sehr große Textkorpora zu leisten ist. Für die kommenden Jahre ist hier wenigstens für die linguistische Analyse Besserung in Sicht: Nicht nur werden automatische Verfahren der Textanalyse (part of speech tagging, morphologische Zerlegung, Syntaxanalyse) immer leistungsfähiger, auch die Standardisierung linguistischer Annotation beginnt sich mittlerweile abzuzeichnen (vgl. Declerck 2006). Gleichzeitig ist es angesichts der vorhandenen Massendaten sinnvoll, die Betrachtung ausgewählter Einzelphänomene - wie auch in diesem Beitrag Zeitbezogene Korpusauswertung 185 geschehen - durch die (automatische) Analyse des Gesamtdatenbestands zu ergänzen. Mit Hilfe geeigneter mathematischer Verfahren aus dem Bereich der Zeitreihenanalyse lassen sich typische Verlaufsmuster identifizieren und Wortgruppen bilden, die diesen Mustern entsprechen. Beispielsweise könnten damit Wörter ermittelt werden, deren Verwendung besonders stark zu- oder abnimmt oder deren Gebrauchskontext gleichen Veränderungen unterworfen ist. Im Bereich der Medienwissenschaft steht man, was die Anwendbarkeit korpuslinguistischer Analysen angeht, einem doppelten Problem gegenüber: Zum einen ist die Medienwissenschaft eine junge Querschnittdisziplin (in diesem Sinne allenfalls vergleichbar der traditionellen Vorstellung einer methodenintegrierenden Philologie (vgl. Rusch 2002, 7), deren Methodenrepertoire noch in Entwicklung begriffen ist (vgl. dazu den Beitrag von Holly/ Püschel in diesem Band). Zum anderen finden sich quantitative Ansätze der Medienwissenschaft bisher vor allem im Bereich der Mediennutzungsforschung (vgl. etwa van Eimeren/ Frees 2005) und des Medienmarketing bzw. der Werbeforschung (vgl. Unger 2005), weniger aber in dem hier angesprochenen Bereich der Medienanalyse. 11 Letztlich ist aber Medienanalyse - soweit es sich um die Betrachtung sprachlichen Materials handelt - von linguistischer Analyse nicht zu trennen. Man kann festhalten, dass im Spannungsfeld von Wirklichkeit, sprachlicher Repräsentation und medialer Vermittlung in der zeitbezogenen Auswertung von Sprachkorpora noch ein großes Potential liegt. 5 Bibliographie 5.1 Quellen Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Hrsg.] (2006): Projekt „Digitales Wörterbuch“: online-Ressourcen. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Abrufbar unter http: / / www.dwds.de/ (Zugriff am 12.12.2006). Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Hrsg.] (2006): Projekt „Digitales Wörterbuch“: online-Ressourcen. Zeitverläufe. Online-Abfragen. Abrufbar unter http: / / www.dwds.de/ (Zugriff am 12.12.2006). Mendel, Ulrike (2006): Vergleich der Kollokationsmengen von Wörtern über mehrere Zeitabschnitte. Online-Abfrageschnittstelle, Universität Regensburg, Institut für Medien-, Informations- und Kulturwissenschaft. Abrufbar unter http: / / wwwalab.uni-r.de/ ~mendel/ zeit-vergleiche.php (Zugriff am 12.12.2006). Universität Leipzig, Institut für Informatik, Abt. Automatische Sprachverarbeitung [Hrsg.] (2006): Projekt Deutscher Wortschatz. Online-Abfrage Wörter des Tages. Abrufbar unter http: / / wortschatz.uni-leipzig.de/ wort-des-tages/ (Zugriff am 12.12.2006). Universität Leipzig, Institut für Informatik, Abt. Automatische Sprachverarbeitung [Hrsg.] (2006): Projekt Deutscher Wortschatz. Online-Abfrage Verlaufsvisualisie- 11 Dies wird auch in der einführenden Literatur in die Medienanalyse deutlich, vgl. Marcinkowski/ Marr (2005) und Mikos/ Wegener (2005). Christian Wolff 186 rung zu Papst Benedikt XVI am 12.09.2006. Abrufbar unter http: / / wortschatz. uni-leipzig.de/ wort-des-tages/ 2006/ 09/ 12/ Papst+Benedikt+XVI.html (Zugriff am 12.12.2006). Universität Tübingen, Seminar für Sprachwisenschaft [Hrsg.] (2006): Die Wortwarte. Abrufbar unter http: / / www.sfs.uni-tuebingen.de/ ~lothar/ nw/ Archiv/ Datum/ d061212.html (Zugriff am 12.12.2006) und http: / / www.sfs.uni-tuebingen.de/ ~lothar/ nw/ Archiv/ Datum/ d061211.html (Zugriff am 12.12.2006). 5.2 Gedruckte Literatur Declerck, Thierry (2006): SynAF: Towards a Standard for Syntactic Annotation. In: Proc. LREC 2006, Fifth International Conference on Language Resources and Evaluation. Genua, Mai 2006. Eimeren, Birgit van/ Frees, Beate (2005): ARD/ ZDF-Online-Studie 2005. Nach dem Boom: Größter Zuwachs in internetfernen Gruppen. In: Media Perspektiven 8, 362-379. Firth, John R. (1957): A synopsis of linguistic theory 1930-1955. In: Studies in Linguistic Analysis (Special volume of the Philological Society). Oxford, 1-31. Wiederabdruck in: Palmer, Frank R. [Hrsg.] (1968): Selected Papers of J.R. Firth 1952- 1959. London, 168-205. Geyken, Alexander (2005): Das Wortinformationssystem des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS). In: BBAW Circular 32, 40. Kilgarriff, Adam/ Grefenstette, Gregory (2003): Introduction to the Special Issue on the Web as Corpus. In: Computational Linguistics 29(3), 333-347. Klein, Wolfgang (2004): Vom Wörterbuch zum Digitalen Lexikalischen System. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 136, 10-55. Lemnitzer, Lothar/ Zinsmeister, Heike (2006): Korpuslinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Marcinkowski, Frank/ Marr, Mirko (2005): Medieninhalte und Medieninhaltsforschung. In: Bonfadelli, Heinz/ Jarren, Otfried/ Siegert, Gabriele [Hrsg.]: Einführung in die Publizistikwissenschaft. 2. Aufl. Bern/ Stuttgart/ Wien (UTB, 2170), 425-467. Mikos, Lothar/ Wegner, Claudia [Hrsg.] (2005): Qualitative Medienforschung - ein Handbuch. Konstanz (UTB, 8314). Pereira, Fernando (2000): Formal grammar and information theory: Together again? In: Philosophical Transactions of the Royal Society, Vol. 358 (Nr. 1769), 1239-1253. Abrufbar unter http: / / citeseer.ist.psu.edu/ pereira00formal.html (Zugriff am 12.12.2006). Quasthoff, Uwe/ Richter, Matthias/ Wolff, Christian. (2002): Wörter des Tages - tagesaktuelle wissensbasierte Analyse und Visualisierung von Zeitungen und Newsdiensten. In: Hammwöhner, Rainer/ Wolff, Christian/ Womser-Hacker, Christa [Hrsg.]: Information und Mobilität. Proc. 8. Internationales Symposium für Informationswissenschaft, Universität Regensburg, Oktober 2002. Konstanz (Schriften zur Informationswissenschaft, 40), 369-372. 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Berlin/ Heidelberg, 735-760. 5.3 Elektronische Literatur Dipper, Stefanie et al. (2002): DEREKO (DEutsches REferenzKOrpus). German Reference Corpus. Final Report (Part I). Stuttgart: Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung; Tübingen: Seminar für Sprachwissenschaft, Universität Tübingen. Abrufbar unter http: / / www.sfs.nphil.uni-tuebingen.de/ dereko/ DEREKOReport. pdf (Zugriff am 12.12.2006). Lemnitzer, Lothar/ Uhle, Tylmann (2006): Die Wortwarte - auf der Suche nach den Neuwörtern von morgen. Universität Tübingen, Seminar für Sprachwissenschaft, 2006. Abrufbar unter http: / / www.sfs.uni-tuebingen.de/ ~lothar/ nw/ Projekt/ index.html (Zugriff am 12.12.2006). Mendel, Ulrike (2006): Untersuchung von Bedeutungswandel mit Hilfe corpuslinguistischer Verfahren. Magisterarbeit, Informationswissenschaft, Universität Regensburg (für 2007 zur Veröffentlichung auf dem Dokumentenserver der Universität Regensburg vorgesehen unter http: / / www.opus-bayern.de/ uni-regens burg). 5 Geschichte und Historische Hilfswissenschaften Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid Item ein kreull Ein oberpfälzisches Pfarrhausinventar aus dem Jahre 1431 1 Allgemeines Die „ländliche Gemeinde im Spätmittelalter“ war vor kurzem Gegenstand eines Kolloquiums, das sich mit den Kommunikationsformen und der Schriftkultur der Kommunen im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit befasste (Greule/ Meier 2005). 1 Im Eingangsreferat dieser Deidesheimer Tagung stellte Jörg Meier (2005, 25) zu Recht fest, dass es zu den „wichtigsten Desiderata und Aufgaben“ künftiger sprachgeschichtlicher Forschung gehöre, „geeignete Textcorpora“ für den ländlichen Raum zu erschließen. 2 Es soll deshalb im Folgenden ein für die dörfliche Sachkultur des frühen 15. Jahrhunderts 3 ergiebiges Inventar vorgestellt und unter lexikographischen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Albrecht Greule (1998) selbst hat hier bereits vorgearbeitet und in der Festschrift für Hans-Werner Eroms eine Studie mit dem Thema „Frühneuhochdeutsch in der Oberpfalz. Die Sprache des Gebenbacher Pfarrbuchs von 1418-1437“ verfasst. Diese Untersuchung zielt jedoch in erster Linie auf den Schreibsprachstand dieses einmaligen Denkmals aus der ländlichen Oberpfalz des späten Mittelalters und sollte „lediglich im Rahmen des ... zur Verfügung stehenden Raums auf den fünf Ebenen Schreibung-Lautung, Flexion, Wortbildung, Lexik und Textbildung einen Eindruck von der Sprachgestalt der Quelle vermitteln und ihre Bedeutung für die Frühneuhochdeutsch-Forschung herausstreichen“ (Greule 1998, 382). Im Folgenden sollen lexikalische Aspekte im Vordergrund stehen, und zwar auf der Grundlage eines edierten Textausschnitts. 4 Auch hier handelt es sich nur um eine vorläufige Studie. Eine Gesamtedition des Textes wäre ebenso wünschenswert wie eine vollständige Untersuchung der Grammatik der Schreibsprache als auch des Wortinventars. Vorausgehen müsste freilich eine Gesamtedition. Dass eine auf einer vollständigen Edition basierende Analyse für die historische Grammatik von großem Interesse wäre, haben bereits die 1 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht für den deutschen Sprachraum grundlegend zu dieser Problematik Enno Bünz (2000, 77-167) mit weiterführender Literatur. 2 Bezeichnenderweise stammen fast alle in diesem Beitrag angeführten Textbeispiele aus der Frühen Neuzeit. 3 Kürzlich wurde ein mehr als hundert Jahre jüngeres Pfarrhausinventar aus Niederösterreich vorgestellt (Mierau 2006, 369-381). 4 Greule (1998, 385f.) hat nur einige Beobachtungen zur Benennung von Feiertagen mitgeteilt. Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 192 Ausführungen von Albrecht Greule deutlich gemacht: In dem Gebenbacher Pfarrbuch (nachfolgend GPf.) sind auf bemerkenswerte Weise bairische und mitteldeutsche Charakteristika miteinander verbunden, und es stellt sich „die Frage nach der Herkunft des mitteldeutschen Einschlags in einem vor der Reformation geschriebenen Text“ (Greule 1998, 387). Eine Klärung dieser Frage könnte nur auf der Grundlage des Gesamttextes versucht werden. Zunächst einige Anmerkungen zur Person Paul Gössels und zum Ort Gebenbach, aus dem dieses in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Archivale erhalten geblieben ist. 5 Das Dorf liegt ca. 10 km nördlich von Amberg und gehörte im 15. Jahrhundert zum kurpfälzischen Territorium (vgl. Leingärtner 1971, 50-61). Das Pfarrbuch wurde vom Oberpfälzer Geistlichen Paul Gössel in den Jahren 1419 bis 1437 angelegt und gelangte über den Archivbestand des Klosters Prüfening, dem die Pfarrei inkorporiert war, in das Münchner Hauptstaatsarchiv, wo es heute unter der Signatur „KL Prüfening Nr. 32“ aufbewahrt wird. 6 Es umfasst 97 zum Teil eng beschriebene Papierblätter in Schmalfolioformat (31 x 10 cm) und ist in einen zeitgleichen Pergamentumschlag eingebunden, im Text wechselt deutsche und lateinische Sprache, wobei das Lateinische überwiegt. Fol. 58 v ist in Abb. 1 abgebildet. Der größte Teil der Einträge betrifft wirtschaftliche Belange der Pfarrei und der dazugehörigen Ökonomie. Den Anfang bilden genaue Einnahmeverzeichnisse; auf Listen aller Hofbesitzer im Dorf, die Brotabgaben und Kerzengeld abzuliefern haben, folgen Zins-, Grund- und Zehntregister. Die Erträge der Opferstockleerungen und die Einkünfte durch Stolgebühren wurden ebenso sorgfältig notiert wie die Gelderträge aus frommen Stiftungen. Weitere Teile des Pfarrbuchs erläutern die Pflichten und Funktionen des Pfarrgesellen und des Mesners sowie die liturgischen Pflichten des Pfarrers, Gottesdienste und Prozessionen, Totenbegängnisse, Wettersegen, Speiseweihen und anderes mehr, wobei diese Aufzeichnungen gelegentlich von persönlichen Bemerkungen des Pfarrherren unterbrochen werden, die mitunter geradezu tagebuchartige Züge aufweisen. 5 Zur Einordnung dieses Pfarrbuchs vgl. Machilek (1998, 251f.). 6 Vgl. dazu ausführlich Fuchs (1997, 37-55). Item ein kreull 193 Abb 1: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, KL Prüfening Nr. 32, fol. 58 v . Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 194 Die Biographie des Pfarrers Paul Gössel lässt sich aus einer Fülle von urkundlichen Belegen, die außerhalb des Pfarrbuches überliefert sind, nachzeichnen. 7 Hier seien nur die wichtigsten Stationen genannt: Der vor 1374 in Hahnbach in der Oberpfalz geborene Geistliche erhielt um 1403 in Regensburg die Priesterweihe und war dann mehrere Jahre als Pfarrgeselle in Cham tätig; von 1408 bis 1411 lässt er sich in derselben Funktion in Amberg nachweisen. Er erhielt in den folgenden Jahren nacheinander die oberpfälzischen Pfarreien Großschönbrunn, Theuern und Hemau, welche er 1418 mit der Pfarrei Gebenbach tauschte. Diese Parochie behielt er bis zu seinem Lebensende, ließ sie aber seit 1424 stets von Vikaren verwalten. Bereits 1418 war er als Kaplan in die Dienste des Pfalzgrafen Johann getreten, des Sohnes König Ruprechts, dem in der Pfälzer Erbteilung von 1410 das Gebiet um Neumarkt in der Oberpfalz zugesprochen worden war. 1425/ 26 begleitete er dessen älteren Bruder, Kurfürst Ludwig von der Pfalz, auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem und erhielt nach der Rückkehr von diesem im linksrheinischen Neustadt an der Weinstraße eine einträgliche Kanonikerpfründe. Seine letzten Jahre verbrachte Paul Gössel in Cham, wo er 1437 eine Messpfründe und ein neugestiftetes Predigeramt übernahm. Im August 1448 ist er zum letzten Mal urkundlich bezeugt, im Januar 1452 wird er als verstorben erwähnt. Seine Büchersammlung von über 80 Bänden hatte Gössel bereits 1437 der Stadt Cham versprochen, die dafür eine eigene librei errichten sollte, doch hat sich von dieser Bibliothek nichts erhalten. Zu den interessantesten Einträgen des Gebenbacher Pfarrbuches gehören die Inventare, die Paul Gössel anlegte, wenn er Pfarrei und Pfarrökonomie einem Vikar übertrug. Das älteste allerdings sehr kurze Inventar stammt aus dem Jahre 1424, als Gössel erstmals einen Vikar bestallte. 8 Im Folgenden soll das ausführlichste Verzeichnis aller Sachen, welche der Pfarrherr im Jahre 1432 seinem Vikar Hans Stadler aus Amberg überließ, mitgeteilt und wortgeschichtlich ausgewertet werden. Voraus geht eine Edition. 2 Text Der Text soll möglichst handschriftengetreu wiedergegeben werden, wobei „handschriftengetreu“ nicht heißt, dass Buchstabenformen möglichst imitiert werden. 7 Ergänzend zu den bei Fuchs (1997, 43-45) zusammengestellten Belegen sei nachgetragen, dass Gössel sich schon 1399 als Diakon in Regensburg nachweisen lässt (vgl. Lommer 1998, 143); nach dem für das Diakonat vorgeschriebenen Weihealter von 25 Jahren muss sein Geburtsdatum also schon vor 1374 liegen; bei Lommer (1998, 143-153) findet sich auch eine eingehende Würdigung von Gössels Sulzbacher Tätigkeit. Ein von Paul Gössel am 26. April 1406 als öffentlicher Notar in Cham ausgestelltes Notariatsinstrument ist im Cod. 676 der Národní Knihovna eské Republiky in Prag überliefert (vgl. Truhalá 1904, 674). 8 KL Prüfening 32, fol. 50 v -51 r . Item ein kreull 195 Eine Unterscheidung zwischen übergeschriebenem e und Trema (z.B. ü und u e ) ist nicht möglich. Es gibt Übergangsformen, weshalb generell das übergeschriebene e verwendet wird. Die grundsätzlich ebenso gut mögliche Verwendung des Tremas hätte den Nachteil, dass Umlaut suggeriert würde. Abbreviaturen werden aufgelöst und durch Kursivierung gekennzeichnet. „Zeilengetreue“ Wiedergabe erschien uns unangebracht, da es sich um einen Schmalfolioband handelt (s.o.), was zu zahlreichen letztlich zufälligen Zeilenumbrüchen führte, denen weder für das Verständnis der Quelle noch für die sprachliche Analyse Relevanz zukommt. Jeder mit Item beginnende Eintrag erscheint in einer neuen Zeile und erhält eine eigene Ziffer, auf die im Anschluss Bezug genommen wird. In Groß- und Kleinschreibung wurde ebenso wenig eingegriffen wie in den Graphembestand, da die Quelle bemerkenswerte Ansätze zur Substantivgroßschreibung zeigt. Von systematischer Durchführung kann allerdings noch keine Rede sein. Die Verwendung von < > und <s> ist in der zeittypischen Weise positionsabhängig (<s> nur im Wortauslaut). Eine Differenzierung dieser Allographen erschien uns als überflüssig. Dem eigentlichen Verzeichnis hat Gössel einen lateinischen Passus vorausgeschickt, in dem er den Sinn seiner Aufzeichnungen begründet: Et cum sit labilis hominum memoria, bonum est hiis scripturarum subvenire aminicule. Pateat ergo cunctis hoc legentibus scriptum, quod ego, Paulus dictus Gössel, rector ecclesie in Gebenpach de anno domini etc. XXXprimo dictam meam ecclesiam ex certis me causis moventibus locavi ad commissionem discreto viro domino Johanni Stedler de Amberga sub certis punctis et articulis in literis et privilegiis super hoc editum et confectum sicut in ibi claretur plenius continetur. Item hic annotavi omnia, que reliqui in domo mea et dote in Gebenpach, que etiam dominus Jo(hannes) Stedler relinquet post suum recessum michi vel meis heredibus absque omni dampno meo, ipse etiam exponet se periculis et dampnis in illis sibi, sicut prescribitur, relictum et, si aliquid destruet vel perdet, soluat iuxta conductum. Dem folgt dieses Verzeichnis: [58 v ] Item primo in Camera mea inferiori Reliqui ein gu e ts spondpet cum stropodio [i.e. ' Strohsack ' ] Item einen Sessel vnd iii Stu e chlein vnt flachs und haniff beslossen direxi in Amberg Item ein gaißhaut vor dem pett. Item ein pedt mit aller zugehorung aber das decklachen, hau e btpolster das ku e sse und ii leylachen sind in der tru e hen in der Sagra e r. Item 5 Item Ich hab auch in der truhen iii panckpo e lster. Item vii groß secke po e s und gu e t unus est receptus. Item zwen gut viltzschu e he. Item i korrock. Item ein fu e chserer Pellitz. hab ich alles gein Amberg geschickt gein her Hannsen Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 196 Gebhard 9 der hat vor ii korrock. 10 Item ii Ma e drein hantschu e he. [59 r ] Item einen panckpolster hab ich her Hanns Stedler heraußen gelassen, das sein diener der pawmann darawffen lige, und den des tags auch fu e re wenn er gest hab vnd ii kuß zumal gu e t panckkuß 4 or ku e ssen Item in mein kamer sind auch iii kleine Stu e chel sol er auch nu e tzen. Item Ein grosse lange speißtru e hen. Item ein newes va e s als ein stu e chel mit einem v˝berlide. 15 Item ein grosser hafen mit haniffko e rner. Item zwenn gút peu e tel ze semel vnd roken. Item zwen dilen oben auff der pro e trein. Item ein Morser vnd ein Strempfel. Item ii Stupp Büchsen yn dem venster. 20 Item Ein gießvas zynein mit einem plech vnd v ˝berglaßten stanten 10 der seind zwa e als mich du e ncket. Item zwo kanndel ein Moßkandel vnd ein Seydelkandel. Item Ein zynein stu e tzen bey iii Mossen. Item ein zynein lengla e ter pecher. Item zwo krau e ßen vnd ein kleiner trackter. 25 Item ein kleine latern mit einem harnn 11 . Item ein gu e ter essig kru e g vol essigs. Item die latner hab ich her peter 12 geben. Nu han ich ein andre vnd ze Amberg zum Rosenczwey sol man die lo e sen vnd behallten. Item ein hultzein pfannholtz. 30 [59 v ] Item in der ku e chen ein grosse almarn zumal gmachsam. Item einen kessel ob dem feu e r des sol man scho e nen wann der ser vernu e tict ist und verfu e rt. Item viiii 13 schussel grosz vnd klein der warn xxiiii haben die pru e ken mir entzogen 14 Item iii Su e ßel telir. Item iii pfannen, i grosse ii klein. 35 Item zwen du e rchsleg vnd ein eyßner schaw e mloffel. Item xxiiii hultzerer telir vnd ein telir karp. Item aber einer. Item ein guter ro e ßt vnd zwenn drifu e ß vnd einn Spis. Item Syeb. Item ein gu e te ha e chel vnd 1 Mellter 9 Hans Gebhard aus Amberg war mehrfach in Gebenbach als Gössels Vikar tätig. Gössel rechnete erstmals im September 1425 mit ihm ab (KL Prüfening 32, fol. 51 v ). 10 Davor einem durchgestrichen. 11 Lesung unsicher. 12 Der Pfarrgeselle (Kooperator) Peter ist auch sonst im Pfarrbuch bezeugt, vgl. Fuchs (1997, 47f.) 13 Darunter vii durchgestrichen. 14 In kleinerer Schrift offenbar nachgetragen. Item ein kreull 197 40 Item ein kessel ketten. Item ein heu e gabel. Item zwo mistgabel. Item zway hackmesser. Item ii hacken. 45 Item ein Schau e fel. Item ein reuthawn. Item Ein haidhawn vnd i kra e utheul. Item zwenn eyßnein keil. Item ein pflug mit aller seiner zugehorung wagensen sech vnd ander dinck. 50 Item ein kreull. [60 r ] Item ein protkarb vnd ein ru e ruas vnd ii keßna e pf 15 Item ein smaltzku e bel Item iii pranntrechen. Item ein hacktrog. 55 Item ein versloßne hackpanck. Item ein ku e ppferein ro e ren. Item iii zynein Schüssell. Item zway zynein telir. Item zway zynein kessel. 60 Item i newger. Item ein pfannholtcz. Item ein loffel futer vnd v loffel dor Jnnen. Item iii flaschen bey xi mos weins Ist eine zu Ambergk Item eine zu hannbach zu e m pfarrer 65 Item die dritte ist hiy zu Gebenpach. Item ein zynein scheybligs saltzvas. Item ein eyszneren leuchter i lichtscher Item ein Messerer leuchter vnd ein kleiner scheibling gro e ner scherm. Item Syben schaff grosz vnd klein. 70 Item zwen Emer und ii gellten. [60 v ] Item ein spanpet in der kelnerin kamer. Item ein Spanpet in der kelnerin kamer Item ein Spanpet in her Peter 16 des Gesellen kamer vnd ein petschamel. Item zwen himel oben uff. 75 Item Ein schreibtisch vol menicherley briefe vnd anderm gera e te. Item Ein gesindtisch oben in der newen stuben. Item ein anrichttisch der alt ist in der kuchen. Item zwo prechen und i swinkstul. Item ein newe gute ho e nersteig. 80 Item zwen scheibling stu e l. Item vier penck po e s und gu e t. 15 vnd ii keßnaepf auf der Folgezeile nachgetragen. 16 S. Anm. 12. Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 198 Item 17 i Stul heimlicher sachen. Item aber 18 ein stu e l zu heimlicher notdu e rft Item aber ein vberglaßts peck oder stannden vnter ein gießvas. 85 Item in dem Roszstal ein gu e te eysznein leuchten. Item Ein 19 peutelvas, ein pachkübel. Item ein padwannen. Item i emerisch weinfessel. Item ein Emerisch piruessel minner xi mos geeichet. 90 Item ein aychenn Tunnen Item zwo poting, i lere vnd eine mit kraut stet hernach geschriben. [61 r ] Item zwo Ryszl in dem stadel. Item ein drischel. Item vier allt pos heuleiter. 95 Item zwo gu e t newe heulaiter hat der Pruckner 20 vnd vier eyßnein tullen Sol her Hanns zu e ym pringen wann ich des von im gewarte. Item ein eyßnerer furslag an ein wage. Item Ein kaßko e rw oben in der kamer vnd ein dile der warn zwenn Item ein Guten emer by dem prunnen. Item Ein Eysnern Nagel zu der newen stuben zu e dem durchßu e ge. 100 Item ein scheibliger kleiner fußschamel Item zwo mos zu karn vnd rauher mos. 3 Zum Wortschatz Dieses vergleichsweise kurze Textstück bietet einen erstaunlich reichhaltigen lexikographischen Ertrag. Es kann hier nicht darum gehen, den ganzen Lexembestand lexikographisch zu erfassen. Wir begnügen uns mit einer Auswahl von Lexemen, die in den gängigen historischen Wörterbüchern und im Schmeller (1872-1877), im Bayerischen Wörterbuch (1995ff.) (= BWB), dem Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (1970ff.) (= WBÖ), dem Sudetendeutschen Wörterbuch (1988ff.) (= Suddt.Wb.), im Schwäbischen Wörterbuch (1904-1936) (= Schw.Wb.), im Schweizerdeutschen Idiotikon (1881) (= Schw.Id.), im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1965ff.) (1. und - soweit erschienen - 2. Ausgabe = DWb. bzw. ²DWb.), im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (1989ff.) (FWB) und in Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch (1872-1878) (Lexer HWb.) nicht, wenig, erst aus späterer Zeit oder mit anderen Bedeutungen belegt sind. Ergänzend und vergleichend herangezogen wurde auch der „Spätmittelalterliche deutsche Wortschatz aus Regensburger und mittelbairischen 17 Danach aber durchgestrichen. 18 aber über der Zeile nachgetragen. 19 Davor ein gestrichen. 20 Jakob Pruckner aus Tachov, der sich als Pächter in Gebenbach niedergelassen hatte und dem Pfarrherren das Leben schwer machte, vgl. Fuchs (1997, 54). Item ein kreull 199 Quellen“ von Matzel, Riecke und Zipp (1989) (= MRZ). Die Wörter werden in alphabetischer Reihenfolge, also nach dem Anfangsbuchstaben sortiert, besprochen. Die Lemma-Ansätze erfolgen möglichst in Anlehnung an die neuhochdeutsche Schriftsprache. Eine virtuelle Rückproduktion frühneuhochdeutscher Wörter auf ungenannte Lexer-Lemmata wie in der soeben genannten Wörtersammlung, die im Übrigen durchaus verdienstvoll ist, halten wir für unpraktisch. Aus der Reihe tanzt - aus naheliegenden Gründen! - der bereits im Titel des Beitrags genannte kreull, der als Kreuel (nicht Greule) zu lemmatisieren ist. Kreuel stm., Gabel mit hakenförmigen Spitzen, GPf 50: ain kreull. Vgl. Lexer I,1752, Schmeller I,1357, Schw.Wb. IV,701 mit Belegen ab 1475, DWb. VI,1124 mit späteren Belegen. Anrichttisch stm., Tisch, auf dem Speisen angerichtet werden, GPf. 77: ein anrichttisch. Das Lemma fehlt Lexer HWb. und Schmeller. Das Frnhd.Wb. bietet zwei Belege des späten 16. Jahrhunderts aus Danzig bzw. Straßburg. ²DWb. II,1246 sind Belege ab dem 18. Jahrhundert verzeichnet. Backkübel stm., Gefäß, in dem der Brotlaib zum Backofen gebracht wird, GPf.86: ein pachkübel. Von den oben genannten verzeichnet nur das Sudetendeutsche Wörterbuch das Stichwort. Hier liegt der bislang einzige bezeugte historische Beleg vor. Vgl. jedoch Schmeller I,194 mit gleichbedeutendem Bachsumper. Bankkissen stn., Kissen für die Bank, GPf. 10: ii kuß zumal gu e t panckkuß 4 or ku e ssen. Das Lemma verzeichnet Lexer HWb. nur im Nachtrag, III,41. Das Schw.Wb. I,614, bietet einen Beleg von 1577. Vgl. ferner Frnhd.Wb. II,1887, MRZ 26. Bankpolster stn., Polster für die Bank, GPf. 5: in der truhen iii panckpo e lster, 10: einen panckpolster hab ich her Hanns Stedler heraußen gelassen. Auch hierfür nur ein Beleg im Nachtrag von Lexer HWb. III,41, ferner Frnhd.Wb. II,1889, MRZ 27. WBÖ II,575 ist ein Beleg von 1490 aufgeführt. Betschemel stm., Knieschemel zum Beten, GPf. 73.: ein petschamel. Vgl. Schw.Id. VIII,770 mit frühestem Beleg 1380. Das Lemma ist ohne Belege aufgeführt in Frnhd.Wb. III,2055 und 2147. Beutelfass stn., Mehlkasten zur Aufbewahrung von gebeuteltem Mehl, GPf. 86: ein peutelvas. Das Kompositum ist im Frnhd.Wb. III,2194 mit v.a. späteren oder nichtbairischen Belegen verzeichnet. Ausnahmen sind ein Beleg von 1358 aus dem Thurgau und ein weiterer aus Tirol von 1479. Vgl. ferner Schw.Wb. I,983 und Schw.Id. I,1052. Lexer HWb. I,290 und DWb. I,1751 verzeichnen das Stichwort mit der Bedeutung 'lederner Sack, der oben zugezogen werden kann'. Diese Bedeutung kommt hier nicht in Betracht. Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 200 Brandrechen swm., wohl ein Art Schürhaken, GPf. 53: iii prantrechen. Das Stichwort ist in keinem der genannten Wörterbücher verfasst. Die Bedeutungsangabe ist daher unsicher. Durchzug stm., Quer- oder Tragbalken, GPf. 99: Ein Eysnern Nagel zu der newen stuben zu e dem durchßu e ge. Lexer HWb. I,493 bietet Belege aus einer späteren Nürnberger Quelle. Im entsprechenden Artikel ²DWb. VI,1894-1796 wird ein Beleg von 1464/ 75 angegeben. Vgl. noch Suddt.Wb. III,495 und Schw.Wb. II,492 mit dem Lemma Durchzugsbalken, jeweils mit rezentem Material. eimerisch Adj., das Volumen eines Eimers fassend, GPf. 88: i emerisch weinfessel. ein Emerisch piruessel minner xi mos geeichet. Das Adjektivderivat auf -isch ist bislang nirgends erfasst. Vgl. jedoch eimerig Schw.Wb. II,578 und ²DWb. VII,460. fuchser Adj., vom Fuchs, GPf. 9: ein fu e chserer Pellitz. Eine genaue Entsprechung dieser Adjektivbildung ist bisher nicht verzeichnet. Vgl. jedoch Lexer HWb. III,559 das Lemma vühs n sowie die rezente Entsprechung fuchsen (Schmeller I,687, Schw.Wb. II,1809, Schw.Id. I,660). DWb. IV,345 ist das Lemma füchsern verzeichnet. gemachsam Adj., geräumig, GPf. 30: ein grosse almarn zumal gmachsam. Das Adjektiv ist in mehreren historischen und dialektologischen Wörterbüchern verzeichnet, jedoch stets in Bedeutungen wie 'langsam, gemächlich, bequem' u.Ä. (Lexer HWb. I,833, Schw.Id. IV,20, Frnhd.Wb. VI,8000f., DWb. IV,1,3143. Lediglich das Schw.Wb. III,312 hat die hier anzusetzende Bedeutung dokumentiert. Gesindtisch stm., Tisch für das Gesinde, GPf. 76: Ein gesindtisch oben in der newen stuben. Das Kompositum ist nur DWb. IV,2,99 registriert, hier allerdings mit späteren Belegen. Die übrigen Wörterbücher verzeichnen das Stichwort nicht. Hackbank stf., Bank auf der (Fleisch? ) gehackt wird, GPf. 55: ein versloßne hackpanck. Im BWB ist das Kompositum nicht verzeichnet, auch nicht im WBÖ. Belege finden sich im Schw.Wb. III,1010f., im Schw.Id. IV,1385 sowie DWb. IV,2,99. Hacktrog stm., trogartige Vorrichtung zum Zerhacken von Viehfutter, GPf. 54: ein hacktrog. Von den oben genannten Wörterbüchern verzeichnet nur WBÖ V,558 das Stichwort, bietet jedoch keinen historischen Beleg. Hanfkorn stn., Hanfkorn, GPf. 15: ein grosser hafen mit haniffko e rner. Lexer HWb I,1167 führt einen vereinzelten Vokabular-Beleg an. DWb. IV,2,434 findet sich zwar das Lemma, allerdings ohne historischen Beleg. In den übrigen Wörterbüchern fehlt das Stichwort. Bemerkenswert im vorliegenden Beleg aus dem GPf. ist hier auch der -n-lose Dativ Plural, der zu rezenten morphologischen Gegebenheiten stimmt. Item ein kreull 201 Hauptpolster stm., Kopfkissen, GPf. 4: aber das decklachen, hau e btpolster das ku e sse und ii leylachen sind in der tru e hen in der Sagra e r. Lexer HWb. I,1352 führt einen vereinzelten Beleg aus einem Vokabular an, ebenso DWb. IV,2,623. Das WBÖ kennt zwar das Lemma, enthält aber keinen historischen Beleg. Vgl. MRZ 137. Heidhaue swf., Axt mit langem, schmalem Blatt? , GPf. 47: Ein haidhawn vnd i kra e utheul. Das Kompositum ist bisher nicht lexikographisch erfasst. Der (deshalb fragliche) Bedeutungsansatz ergibt sich aus den Bedeutungen der beiden Konstituenten. Zu Heidvgl. MRZ 126 s.v. haidn sowie Schw.Wb. III,1336 s.v. Heide n mit Belegen ab 1496. Hühnersteige stf., Hühnerkäfig, GPf. 79: ein newe gute ho e nersteig. Bei Schmeller II,743 ist das Lemma ohne historischen Beleg verzeichnet. DWb. IV,2,1882 bietet jüngere Belege. Vgl. auch Schw.Id. X,1556f. Käsnapf stm., Gefäß zur Aufbewahrung von Käse, GPf. 51: ein ru e ruas vnd ii keßna e pf. Lexer HWb. I,1527 und DWb. V,255 bieten Belege aus Vokabularien. Das Frnhd.Wb. VIII,667 zitiert zwei jüngere ostmitteldeutsche Beispiele. Darüber hinaus ist das Kompositum bislang nicht erfasst. Käskorb stm., Korb, in dem Käse aufbewahrt wird, GPf, 97: Ein kaßko e rw oben in der kamer. Lexer HWb. I,1526 enthält zwei Belege aus Vokabularien und einen späteren Textbeleg. Jüngere Bezeugungen finden sich auch DWb. V,253. Vgl. auch Schw.Wb. IV,248. Kesselkette swf., Kette, an der ein Kessel über das Feuer gehängt wird, GPf. 40: ein kessel ketten. Frnhd.Wb. VIII,831 ist ein entsprechendes Lemma ohne Belege aufgeführt. DWb. V,625 zitiert einen Beleg aus Leipzig vom Jahre 1716. In den übrigen Handbüchern fehlt das Stichwort. Krauthäuel stn., kleine Harke zum Lockern der Erde zwischen Krautköpfen, GPf. 47: Ein haidhawn vnd i kra e utheul. Das Kompositum ist bisher nicht lexikographisch erfasst. Vgl. jedoch Schw.Wb. IV,712 s.v. Kraut-hau e . Der Bedeutungsansatz ergibt sich aus den Konstituenten (und der primären Kenntnis des bezeichneten Gegenstandes seitens der Verfasser). Löffelfutter stn., Behältnis für Löffel, GPf. 62: ein loffel futer vnd v loffel dor Jnnen. Lexer HWb. I,1856 bietet einen vereinzelten Beleg aus einem Vokabular. Das Frnhd.Wb. führt zwar das Stichwort an, gibt aber keinen Beleg. DWb. VI,1124 finden sich etliche spätere Textbeispiele. Masskandel stf., Kanne, die das Volumen von einer Mass fassen kann, GPf. 21: zwo kanndel ein Moßkandel vnd ein Seydelkandel. Lediglich DWb. VI,1747 bietet einen weiteren alten Beleg (von ca. 1445). Vgl. auch Schw.Wb. IV,1520 s.v. Mass-kant e . Pfannholz stn., hölzerne Unterlage für eine Pfanne, GPf. 29: ein hultzein pfannholtz, 60: ein pfannholtcz. Das Kompositum ist im Schw.Id. II,1257 (mit Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 202 Beleg von 1747) verzeichnet. Im Schw.Wb. I,1012 werden nur Redensarten mit Pfannholz zitiert. Reuthaue swf., Harke, die zum Ausreuten benützt wird, Spitzhacke, GPf. 46: ein reuthawn. Das Stichwort ist im Schw.Wb. V,323 und Schw.Id. II,1813 verzeichnet. Historische Belege jüngeren Datums zitiert DWb. VIII,850. Rührfass stn., Fass, in dem etwas gerührt wird, Butterfass? , GPf. 51: ein ru e ruas vnd ii keßna e pf. Schmeller II,135 verzeichnet ein Lemma Rüer-Kübel mit der Bedeutung 'Butterfass'. Vgl. ferner Schw.Wb. V,493 und Schw.Id. I,1052. Zwei jüngere Belege bietet DWb. VIII,1470. Sagrär stf., Sakristei, GPf. 4: aber das decklachen, hau e btpolster das ku e sse und ii leylachen sind in der tru e hen in der Sagra e r. Es liegt Entlehnung aus mlat. scrarius vor, weshalb das Wort in den einschlägigen Wörterbüchern (Lexer HWb. II,572f., Schw.Wb. V,539, BWB VIII,1662) nur als Maskulinum belegt ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch eindeutig um ein Femininum, das vermutlich durch Genusübertragung von Sakristei bzw. mhd. skrist e zu erklären ist. Schäumlöffel stm., durchlöcherter Löffel zum Abschäumen kochender Speisen, GPf. 35: ein eyßner schaw e mloffel. Vgl. MRZ 269 mit Angaben zur weiteren (spärlichen) historischen Beleglage. Schmalzkübel stm., Gefäß zur Aufbewahrung von Schmalz, GPf. 52: ein smaltzku e bel. Lexer HWb. II,1002 bietet einen schweizerdeutschen Einzelbeleg. Vgl. ferner Schw.Wb. V,980, Schw.Id. III,116 (Beleg von 1469) sowie DWb. IX,933. Schüsselteller stm. (stn.? ), tiefer (schüsselartiger) Teller, GPf. 33: iii Su e ßel telir. Das Kompositum ist nur im WBÖ IV,511 verzeichnet, dort jedoch ohne historische Belege. Schwingstuhl stm., Gerät zum Schwingen von Flachs und Hanf, GPf. 78: zwo prechen und i swinkstul. Zur Sache vgl. MRZ 301, wo ein Beleg schon aus dem 14. Jahrhundert zitiert wird. Das Kompositum ist mit völlig anderer Bedeutung im Schw.Id. XI,321 und DWb. IX,2710 verzeichnet. In den dort vorliegenden Kontexten handelt es sich um ein Folterinstrument. Seidelkandel stf., Kanne, die das Volumen von einem Seidel fassen kann, GPf. 21: zwo kanndel ein Moßkandel vnd ein Seydelkandel. Schmeller II,1254 zitiert einen Beleg von 1534. Ansonsten ist das Kompositum nirgends verzeichnet. Spannbett stn., Bett mit gespannten Gurten oder Brettern zwischen den Bettrahmen, GPf. 1: ein gu e ts spondpet, 70: ein spanpet in der kelnerin kamer, vgl. auch 71, 72. Das Kompositum ist BWB II,391 mit drei historischen Belegen vergleichsweise gut vertreten. Dort werden auch Hinweise auf weitere Wörterbuchbelege gegeben. Bemerkenswert im GPf. ist die Schreibung spondpet, Item ein kreull 203 die sowohl auf dialektale Veränderung a > o hindeutet als auch auf den Gleitlaut d zwischen Nasal und Labial. Stuhl stm. Das Simplex Stuhl bedürfte keines Eintrags, doch sind die GPf. 82f. vorliegenden Fügungen i Stul heimlicher sachen und ein stu e l zu heimlicher notdu e rft mit der Bedeutung 'Leibstuhl' bisher nirgends lexikographisch erfasst. Zu vergleichen ist allerdings DWb. X,4,336 der heimliche Stuhl, mit einem Beleg von 1653. Stuppbüchse stswf., Streubüchse für Gewürz oder Puder, GPf. 19: ii Stupp Büchsen yn dem venster. Das Kompositum verzeichnet Schmeller II,720. DWb. X,4,570 verweist lediglich darauf. Ansonsten liegen keine Wörterbucheinträge vor. Vgl. jedoch MRZ 298. Tellerkorb stm., Korb in dem Teller aufbewahrt werden, GPf. 36: ein telir karp. Lexikographisch erfasst ist das Kompositum nur in DWb. XI,1,1 mit jüngeren Belegen. Vgl. ferner MRZ 304. überglast Adj. (Part.Prät.), mit Glas überzogen, glasiert, GPf. 20: mit einem plech vnd v˝berglaßten stanten, 83 aber ein vberglaßts peck. Nur DWb. XI,2,274 bietet mit dem Verb überglasen ein entsprechendes Lemma. Die dort angeführten Belege sind jedoch jüngeren Datums. Überlid stn., Deckel, GPf. 14: ein stu e chel mit einem v˝berlide. Das Wort ist Lexer HWb. II,1641 mit der Bedeutung 'Deckel' nachgewiesen. Möglicherweise handelt es sich bei dem hier registrierten Gegenstand um einen Stuhl mit einem kastenförmigen Behältnis unter der aufklappbaren Sitzfläche. Vgl. Schw.Wb. VI,44 (mit Belegen ab 1604), DWb. XI,2,396 sowie MRZ 315. Vorschlag stm., Beschlag, GPf. 96: ein eyßnerer furslag an ein wage. Das Lexem als solches ist mit abstrakten Bedeutungen wie 'Ratschlag' u.Ä. in den Wörterbüchern gut belegt. Nur DWb. XII,2,1476 bietet einen entsprechenden Beleg von 1702. Zurück zum Anfang: Wie diese Zusammenstellung von lexikographisch bemerkenswerten Lemmata zeigt, ist der Forderung Jörg Meiers nach editorischer Erschließung und sprachhistorischer Auswertung ländlicher Sprachquellen ohne Einschränkung zuzustimmen. Was das Gebenbacher Pfarrbuch betrifft, hat Albrecht Greule bereits erste Schritte unternommen. Hier sollte nur eine ansatzweise Ergänzung mit veränderter Blickrichtung geboten werden. Franz Fuchs/ Hans Ulrich Schmid 204 4 Bibliographie 4.1 Lexika Bayerisches Wörterbuch (1995ff): Hrsg. von der Kommission für Mundartforschung. München. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1989ff.): Hrsg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Berlin/ New York. Grimm, Jacob und Wilhelm (1854-1954): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. Leipzig. Grimm, Jacob und Wilhelm (1965ff.): Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Leipzig. Matthias Lexer (1872-1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig. Schmeller, Johann Andreas (1872-1877): Bayerisches Wörterbuch. Bearb. von G. Karl Frommann, 2 Bde. 2. Aufl. München. Schwäbisches Wörterbuch (1904-1936): Bearb. von Hermann Fischer (Bd. 6 von Wilhelm Pfleiderer). 6 Bde. Tübingen. Schweizerdeutsches Idiotikon (1881ff.): Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Frauenfeld. Sudetendeutsches Wörterbuch (1988ff): Hrsg. von Heinz Engels. München. Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (1970ff): Hrsg. im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien/ Graz/ Köln. 4.2 Literatur Bünz, Enno (2000): „Die Kirche im Dorf lassen…“. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen. In: Rösener, Werner [Hrsg.]: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Göttingen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 156), 77-167. Fuchs, Franz (1997): Dörflicher Alltag in der Hussitenzeit. Aus den Aufzeichnungen eines Oberpfälzer Landpfarrers. In: Becker, Hans-Jürgen [Hrsg.]: Der Pfälzer Löwe in Bayern. Regensburg (Schriftenreihe der Universität Regensburg, 24), 37-55. Greule, Albrecht (1998): Frühneuhochdeutsch in der Oberpfalz. Die Sprache des Gebenbacher Pfarrbuchs von 1418-1437. In: Donhauser, Karin/ Eichinger Ludwig M. [Hrsg.]: Deutsche Grammatik - Thema in Variationen. Festschrift für Hans- Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 381-388. Greule, Albrecht/ Meier, Jörg [Hrsg.] (2005): Die ländliche Gemeinde im Spätmittelalter. Berlin (Deidesheimer Gespräche zur Sprach- und Kulturgeschichte, 1; Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte, 4). Leingärtner, Georg (1971): Amberg I. Landgerichtamt Amberg. München (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, 24). Lommer, Markus (1998): Kirche und Geisteskultur in Sulzbach bis zur Einführung der Reformation. Regensburg (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, 32). Machilek, Franz (1998): Fränkische „Gotteshausbücher“ des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Borchardt, Karl/ Bünz, Enno [Hrsg.]: Forschungen zur bayerischen und fränkischen Geschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht. Würzburg (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums Würzburg, 52), 249-255. Matzel, Klaus/ Riecke, Jörg/ Zipp, Gerhard (1989): Spätmittelalterlicher deutscher Wortschatz aus Regensburger und mittelbairischen Quellen. Heidelberg. Item ein kreull 205 Meier, Jörg (2005): Orte des Alltags in der Sprachgeschichte. Die ländliche Gemeinde und ihre Kommunikationsformen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Greule, Albrecht/ Meier, Jörg [Hrsg.] (2005): Die ländliche Gemeinde im Spätmittelalter. Berlin (Deidesheimer Gespräche zur Sprach- und Kulturgeschichte, 1; Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte, 4), 9-35. Mierau, Heike Johanna (2006): Das Inventar der Pfarrei Haitzendorf bei Krems aus dem Jahre 1541. In: Arend, Sabine u.a. [Hrsg.]: Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag. Bielefeld, 369-381. Truhalá , Josephus (1904): Catalogus codicum manu scriptorum latinorum qui in C. R. Bibliotheca Publica atque Universitatis Pragensis asservantur. Bd. 1. Prag. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz Romanische Personennamen in Willmandingen? Sprach- und geschichtswissenschaftliche Anmerkungen zu zwei Mancipien-Listen in St. Galler Urkunden 1 Der Befund Im St. Galler Urkundenbuch haben sich zwei eng miteinander verzahnte, kurz hintereinander ausgestellte Urkunden mit Mancipien-Listen erhalten (Wartmann 1863, Bd. 1, Nr. 66 u. 70, S. 65, 68f.), 1 die interessante Merkmale und Besonderheiten aufweisen und deren sprach- und geschichtswissenschaftliche Behandlung vielleicht einen kleinen Beitrag zu dem großen Komplex frühmittelalterlicher Personennamen versprechen, bei deren Aufnahme, Kommentierung und Analyse der Jubilar und die beiden Beiträger in dem interdisziplinären DFG-Forschungsprojekt ‚Nomen et gens/ Name und Gesellschaft‘ seit Jahren fruchtbar zusammenarbeiten. 2 Bei den Urkunden handelt sich um den seltenen, wenngleich nicht einmaligen Fall, dass derselbe Vorgang in zwei Überlieferungen erhalten ist (bzw. eine Schenkung nochmals bestätigt wurde), deren deutliche Unterschiede, auch in den Namenlisten, dennoch beweisen, dass es sich um zwei verschiedene Versionen desselben Vorgangs handelt. Nur die zweite Urkunde (im Folgenden: B) ist, wie häufig in St. Gallen, als Originalurkunde erhalten, 3 die erste (im Folgenden: A) aus dem St. Galler Codex Traditionum lediglich in einer frühneuzeitlichen Edition (Goldast 1606, Bd. 2, Nr. 87, 75; Codex monasterii s. Galli 39, 1645, Nr. 66), deren Wortlaut und eventuelle Lesefehler leider nicht mehr zu überprüfen sind. Die Originalurkunde B ist eindeutig auf den 1.8.773 datiert, A wurde am 10.7. ohne Jahresangabe ausgestellt. Unter Berücksichtigung der übrigen Datierungsmerkmale passt das Datum nach den Korrekturen Michael Borgoltes auf die Jahre 771, 772, 774 oder 775 (Borgolte 1986, 343; Borgolte 1978, zu A 160 m. Anm. 453, zu B 157f. m. Anm. 441). Die Urkunden sind demnach in einem Abstand von höchstens zwei Jahren und zudem von demselben Schreiber, einem - anderweitig nicht mehr bezeugten 1 Im Folgenden sind die Urkunden als A (W. I 66) und B (W. I 70) zitiert. 2 Die Abschnitte 1, 2 (jeweils d), 3 b und c wurden im Entwurf von H.-W. Goetz, die Abschnitte 2 (jeweils a, b, c und e) und 3 a von W. Haubrichs, die Abschnitte 3 f und 4 gemeinsam bearbeitet. Sämtliche Teile wurden jedoch untereinander besprochen. 3 Stiftsarchiv St. Gallen Nr. I.56. Vgl. Bruckner/ Marichal (1954, Nr. 81, 96f. mit Abbildung). Die lange, schmale Urkunde (36,4 x 15,5 cm) umfasst neun Zeilen in brauner Tinte und ist ganz von einem Schreiber (Hupert) geschrieben. Von B existiert außerdem eine in gleicher Schrift wie die Reinschrift abgefasste Vorurkunde. Vgl. Bruckner (1931, Nr. 5, 4). Hier ist lediglich die Signumzeile wiedergegeben. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 208 - Priester Hupertus (vgl. Bruckner 1937, 19), in einer für St. Galler Urkunden ganz ungewöhnlichen Form und Schrift ausgefertigt worden. Es handelt sich daher wohl um einen der Ortspriester (vielleicht der Kirche in Willmandingen), wie sie auch andernorts als Urkundenschreiber nachgewiesen und als Indiz einer verbreiteten Schriftlichkeit bewertet worden sind. 4 In beiden Urkunden bestätigt ein (sonst nicht bekannter) Schenker Roadhoh 5 - in einer typischen Seelenheilschenkung 6 - die Stiftung einer dem hl. Gallus geweihten Kirche in Willmandingen und deren Ausstattung mit 8 casatae und 12 (A) bzw. 11 (B) Hufen (hobae) sowie 32 (A) bzw. 43 (B) namentlich verzeichneten mancipia, 7 von denen 28 in beiden Urkunden übereinstimmen. Insgesamt handelt es sich um 48 Personen. Der Bezug zum Kloster St. Gallen ist hier einerseits durch den Kirchenpatronat, andererseits dadurch gewährleistet, dass die Urkunden im St. Galler Kloster aufbewahrt wurden. Es dürfte sich daher um eine jener - nicht seltenen - sogenannten Eigenkirchen 8 handeln, die an das Kloster übertragen (und somit Eigenkirchen des Klosters) wurden. (Insgesamt sind in den St. Galler Urkunden 51 solcher Eigenkirchen bezeugt.) Der (möglicherweise adlige) Schenker Roadhoh 9 verfügte offensichtlich bereits über eine sogenannte zweigeteilte, ‚private‘ Grundherrschaft, die Hufen und Sallandbetrieb gleichermaßen einschloss 10 und in diesem Raum somit schon relativ früh und vor der St. Galler Übernahme bezeugt wäre. 11 4 Vgl. zu den St. Galler Schreibern, die nicht dem Kloster angehörten und sich jeweils auf bestimmte Regionen konzentrierten („local scribes“), McKitterick (1989, 115-126), die darin ein Indiz für Laienschriftlichkeit erblickt. Auch wenn Richter (1994, 393-404) McKittericks Deutung, zumindest teilweise berechtigt, in diesem Punkt widersprochen hat, ist an der Existenz ‚lokaler Schreiber‘ (allerdings nicht zwangsläufig Laien) selbst doch kaum zu zweifeln. 5 Der Name begegnet in den beiden Urkunden in verschiedenen Schreibweisen: Ruothaus, Ruotha, Rodtahu[s], Rodtaus (Ego Rodtaus ist in B über der Invokation nachgetragen); Roadhoh(i) nur in der nachgetragenen Überschrift. Die Urkunde selbst enthält keine Merkmale der Identifizierung. In den angeführten Schreibweisen kommt Roadhoh (dies die althochdeutsch-oberdeutsche ‚Normalform’) sonst nicht mehr, in der Lemmatisierung *hr þ-hauh aber ausgesprochen häufig vor, nämlich in 52 Urkunden, ohne dass sich eindeutige Beziehungen zu „unserem“ Roadhoh erkennen lassen. Vgl. zu den Namen Borgolte/ Geuenich (1986, 590). 6 A offensichtlich verkürzt und ohne Bezugswort des Genetivs: pro animae meae; B deutlicher: pro animae meae remedium seu pro eterna retribucione, ut veniam de peccatis meis adipisci merear. 7 A spricht von 31 mancipia, zählt aber 32 Namen auf. Wenn es sich nicht um einen Rechenfehler handelt - die wahrscheinlichste Erklärung -, könnte allenfalls der als Sohn bezeichnete Ruodolfus bewusst entfallen sein, doch widerspräche das der Aufzählung in B, die 43 Namen unter Einschluss von Kindern aufführt. 8 Auf die Problematik des Begriffs und seiner Forschungsgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu zuletzt Patzold (im Druck). 9 Graf war Roadhoh nicht; jedenfalls ist er nicht in den St. Galler Datierungen nach den Grafen bezeugt, und auch Borgoltes Grafenprosopographie weist keinen Roadhoh auf. 10 Die Pertinenzformel in B gibt einen Einblick in die wirtschaftliche und personell-soziale Komplexität des Besitzes (Hufen, Felder, Wiesen, Weiden, Wege, Häuser, Gebäude, Romanische Personennamen in Willmandingen? 209 Der Ort, Willmandingen (Gem. Sonnenbühl, Ldkr. Reutlingen) im Gau Burichyncas, zwischen Bertholdsbaar und Ahalolfsbaar (Borgolte 1984, 68), 12 ist in den St. Galler Urkunden nur an dieser Stelle genannt. Es ist demnach kein weiterer Klosterbesitz im Ort bezeugt, wohl aber später - 806 oder 884, je nachdem ob unter ‚Karl‘ Karl der Große oder Karl III. zu verstehen ist - in den nahegelegenen Ortschaften Undingen und Genkingen (W. Anh. 2, Nr. 189), so dass das Kloster hier in einer eher abgelegenen Besitzlandschaft ganz am Rande seiner relativ dichten Güterkonzentration in der Bertholdsbaar (zwischen oberer Donau und oberem Neckar) noch über einen dichteren Güterkomplex verfügte. 13 In Willmandingen selbst ist zur gleichen Zeit auch Besitz des Klosters Lorsch bezeugt (Glöckner 1936, Nr. 3275, 118, vom 17.09.772). 14 Die Gegend selbst gilt seit dem 3. Jahrhundert als alemannisch besiedelt. Willmandingen (Willimundingas) zählt zu den ältesten namentlich bezeugten Orten (vgl. Landesarchivdirektion Baden-Württemberg 1978, 10f. u. 75). 15 Der - wie häufig - von einem Personennamen (Willimund) abgeleite- (h)acolae, mancipia). Solche Pertinenzformeln sind, wie Schwineköper (1977, 22-56) aufgezeigt hat, keineswegs formelhafte Aufzählungen, sondern haben einen konkreten Bezug zur jeweiligen Schenkung. Zur Unterscheidung der accolae von mancipia, servi und ancillae in St. Galler Urkunden vgl. Goetz (2006, 129, Anm. 130); zur Unterscheidung von casata und hoba vgl. Goetz (ebd., Anm. 131). Accolae werden in der Regel als Halter kleinerer Höfe (unterhalb der Hufe oder außerhalb der Hufenordnung) gedeutet; vgl. ausführlich bereits Dopsch (1921, 273ff.). Die - mehrfach nach Joch bemessene - casata war anscheinend ebenfalls kleiner als die Hufe, teilweise auch dieser oder dem Herrenhof zugeordnet. 11 Solche Grundherrschaften sind vielfach nachweisbar und gegen ältere Ansichten schon in dieser Form an das Kloster übertragen worden, also nicht erst eine Schöpfung der klösterlichen Organisation (vgl. Goetz 2006). 12 Beiden Urkunden fehlt die - in dieser Zeit aber auch sonst noch nicht allgemein verbreitete - Datierung nach den Grafen. In der Bertholdsbaar ist in diesen Jahren der Thur- und Linzgaugraf Warin bezeugt (vgl. Borgolte 1984, 236 und die Karte 153). Grundlegend zur Struktur des Baarengebietes in dieser Zeit: Jänichen (1955, 83-151). 13 Vgl. die Karten bei Borgolte (1986, Beilage) und Goetz (1989, Karte 2, 243). 14 Zur Schenkung eines Bleo(n) und seines Sohnes Otto in fünf Orten östlich Hechingen, darunter Willmandingen, an das Kloster Lorsch und seinen Abt Gundeland. Da ein Bleon in unseren beiden Urkunden hinter dem Schenker Roadhoh an erster Stelle der Zeugenliste fungiert, ist angesichts des seltenen Namens eine Personenidentität denkbar, so dass die beiden Komplexe miteinander verbunden erscheinen (vgl. Anm. 63). Weitere Vergleiche aufgrund des Regests bei Glöckner sind nicht möglich, da dort keine Hörigennamen angegeben werden. 15 Danach weisen auch archäologische Grabfunde auf alemannisches Kulturgut (Landesarchivdirektion Baden-Württemberg 1978, 10). Es ist, leider ohne Literaturangabe, bereits auf eine romanische Besiedlung der Gegend (und pauschal auch auf die hier untersuchten Urkunden) hingewiesen worden: „Auf nichtalemannische Bevölkerungsgruppen deuten Ortsnamen wie Ödenwaldstetten (um 1100 Walichstetin) und die Namen der 772 und 773 in Willmandingen genannten Siedler hin; dabei ist eher an Zuwanderung als an die voralemannische Bevölkerung zu denken.“ Das betrifft tatsächlich, wie unsere Überlegungen zeigen, aber nur die bäuerliche Bevölkerung und trifft auf die Zeugennamen in unseren Urkunden in keiner Weise zu. Merowingerzeitliche Funde in Willmandingen wurden gemacht, sind aber weder schriftlich dokumentiert Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 210 te Ortsname (Reichardt 1983, 141f.; Haubrichs 2004, 95) spricht für eine herrschaftliche Gründung. Interessant sind nun vor allem die durchweg im Dativ bzw. im romanischen Casus obliquus stehenden Namen der mancipia, 16 die sich graphisch und sprachlich deutlich von den Zeugennamen beider Urkunden - und damit hauptsächlich wohl von den Namen der rechts- und gerichtswürdigen Freien dieser Region 17 - unterscheiden. Die Namenlisten beider Urkunden sind nicht völlig identisch, doch spricht die - trotz unterschiedlicher Schreibweise und Reihenfolge 18 - überwiegende Gleichheit der Namen in beiden Urkunden - wohl in 27 Fällen 19 - für eine Identität der meisten Personen. Trotz unterschiedlicher Reihenfolge in beiden Urkunden bleiben Namen- und somit wohl auch zusammengehörige, teilweise sicherlich auch verwandte Personengruppen (I-VII) erhalten (die folgende Namenkonkordanz mit numerischer Angabe der Position in der jeweiligen Urkunde berücksichtigt zugleich diese Gruppen): 20 noch derzeit auffindbar, so dass eine zeitliche Einordnung leider nicht möglich ist. Keramikfunde wurden immerhin als „nicht repräsentativ“ gewertet. Das könnte ein Hinweis auf nicht-alemannische Bevölkerungsteile sein, welche die hier dokumentierten sprachlichen Befunde zumindest flankieren, auch wenn sich eine genauere Einordnung verbietet. Zum archäologischen Befund vgl. zuletzt Quast (2006, besonders 65f., 137 und 332). Den Hinweis auf diese Arbeit verdanken die Autoren Frauke Stein (Vor- und Frühgeschichte), Saarbrücken. 16 Diese mancipia können sich auf casatae (A) und hobae beziehen (oder zumindest deren ‚Besatzung‘ einschließen); sie können aber auch als eine davon abgehobene Gruppe aufgefasst werden und wären dann (in der zweigeteilten Grundherrschaft) als Hofhörige zu deuten. Letztere Deutung verstärkt sich, wenn sie (in B) gleichsam in die Pertinenzformel eingebunden werden (mancipiis his nominibus). 17 Die Zeugenlisten sind in diesem Zusammenhang nicht weiter berücksichtigt. Zu den Namen vgl. unten Abschnitt 3.2. Ob die Tatsache, dass sechs der neun Namen in B auf -bert, enden, auf Verwandtschaftsverhältnisse unter den Zeugen deutet, muss wegen der weiten Verbreitung dieses Namengliedes allerdings offen bleiben. Namensähnlichkeiten mit dem Schenker existieren nicht. Eine systematische Analyse der Zeugenlisten in Urkunden bleibt nach wie vor ein Forschungsdesiderat. 18 Die Anordnung der Namen ist ganz unterschiedlich: B beginnt mit den letzten Namen in A (ab Nr. 25) und fügt die ersten Namen relativ spät (ab Nr. 28) ein. Die neu hinzugefügten Namen stehen hingegen relativ geschlossen am Schluss. Nur einige Kinder sind den Eltern zugeordnet und somit vorher eingefügt. 19 Leichte Unsicherheiten einer Personenidentität bleiben allenfalls in zwei Fällen, nämlich bei Trudulfo/ Tradulfo (wahrscheinlich Schreibfehler) und bei Leubo/ Leubino (verschiedenes Suffix). Fünf Namen in A treten in B nicht mehr auf (Teutcario, Autmanno, Hinolobe, Agde, Ahalagde), wo sich umgekehrt 15 neue Namen finden (eingefügt: Uisculfo, Benzone, Tancrado, Ualdulfo, Leutpaldo, Berfredane, Arnaldo, Frahusintdane; angefügt: Listillone, Hariman, [Alberto], Rigtrude, Bettone, Ualdulfo, Varlinde). 20 Gruppe I: A Nr. 1-9 = B Nr. 28-36 (bzw. zwei Gruppen: A Nr. 1-5 = B Nr. 28-32 und A Nr. 6-9 = B Nr. 33-36); Gruppe II: A Nr. 10-22 = B Nr. 10-24 (bzw. zwei Gruppen: A Nr. 10-16 = B Nr. 17-24 und A Nr. 17-22 = B Nr. 10-16), allerdings mit Ergänzungen und anderer interner Reihenfolge; Gruppe III: A Nr. 22-23 = B Nr. 7-9; Gruppe IV: A Nr. 23-24 = B Nr. 25-27; Gruppe V: A Nr. 25-29 = B Nr. 1-6; Gruppe VI: A 30-32; Gruppe VII: B 37- 43. Romanische Personennamen in Willmandingen? 211 2 Die Personennamen der mancipia und ihre familiären Beziehungen Nr. 66 (A) Nr. 70 (B) I 1 Arichiso et uxore sua 31 Harichyso et 2 Adtane 32 Adtane 3 Teuttulfo et uxore sua 28 Teuttulfu 4 Ratbergane et filio suo 29 Radbergane et [in]fanti suos 21 5 Ruodulfo 30 Rodulfo 22 6 Aricarne et 33 Haricarno 7 Ruodnig 34 Rodnig et 8 Leutnig 35 Leutnig 9 Blitilde 36 Plitilde II 10 Trudulfo et 17 Tradulfo 11 Moterane 18 Motra 12 Amulfrede 19 Hamulfrid et infantis ea 13 Ricario 20 Ricario 23 14 Teutrude 21 Tehutrude 22 Berfredane et 15 Wolmaro 23 Uolcamaro 24 Arnaldo 16 Teutcario 24 17 Uttono et 14 Huttone 18 Ahicono 10 Haghico 19 Trudlinde 11 Trudlinde et infantis eis 12 Tancrado et 13 Ualdulfo 20 Volflinde 25 15 Uolflinde et filis eis 26 21 Auch fanti wäre eine durchaus erwägenswerte romanische Form. Vgl. altit. venez. fante 'Kind', it. fante 'Bursche' und die Ableitungen it. fanciullo 'Kind', engad. fanti 'Diener'. Erstbelege mit den Beinamen Bon-fante (1031 Camaldoli) und Bon-fantinus (1073 Florenz) nach freundlicher Mitteilung von Max Pfister, Saarbrücken. 22 Rodulfo: u von erster Hand über der Zeile nachgetragen. 23 Ricario: von erster Hand über der Zeile nachgetragen. 24 So Wartmann (1863) nach Goldast. Nach Borgolte/ Geuenich (1986) Teucario (Traditiones monasterii S. Galli, St. Gallen 1646: Teuteario), vermutlich Druckfehler für Teutcario. 25 Uolflinde: Name vom zweiten Buchstaben an auf Rasur, mit schwarzer Tinte nachgetragen. 26 Da der Dativ filis eis („mit ihren Kindern”) einen Plural ausdrückt, können auch B 17 Tradulfo und B 18 Motra (in A mit et verbunden) eventuell zu den Kindern der Volflinde gerechnet werden. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 212 16 Leutpaldo 27 III 21 Autmanno 22 Leupagde 7 Lobehagde et infantis eis 8 Uisculfo et 9 Benzone IV 24 Lollane 28 25 Lollane et 23 Uraldo 26 Huraldo et 27 Frahusintdane V 25 Altmanno 1 Altmanno 27 Wolfagde 2 Uolfagde et infantis eis 26 Volcamanno 3 Uolmanno et 28 Routmanno 4 Rotmanno et 5 [Teut]agde 29 29 Leubo 6 Leubino VI 30 Hinolobe 31 Agde 32 Ahalagde VII 37 Listillone 38 Hariman 39 [Alberto? ] 30 40 Rigtrude 41 Bettone et 42 Ualdulfo 43 Uarlinde 3 Analyse der Personenlisten 3.1 Die Personennamen der mancipia in den Urkunden A und B Folgend sind onomastisch-sprachwissenschaftliche Analyse (Haubrichs) 31 und Untersuchung von Häufigkeit und Funktion der Personennamen (Goetz) zusammengeführt. 27 Leutpaldo: Name auf Rasur, mit schwarzer Tinte nachgetragen. 28 Da hier B die Gruppenbeziehungen durch zweimaliges et klarer formuliert, wurde in der Übersicht der Ordnung von B der Vorzug gegeben. 29 Nach Borgolte/ Geuenich (1986) Teuagde, nach Bruckner/ Marichal (1954) Teutagde. 30 Name radiert, nach Bruckner/ Marichal (1954) und Borgolte/ Geuenich (1986) mit großer Wahrscheinlichkeit Alberto zu lesen. 31 Für die folgenden Namenanalysen sind stets zu vergleichen: Förstemann (1900); Kaufmann (1968); für die Sankt Galler Namen aus Urkunden vgl. ferner Henning (1874). Für onomastisches Vergleichsmaterial wurden u.a. herangezogen: Glöckner (1936); Wart- Romanische Personennamen in Willmandingen? 213 Die Kommentare enthalten in einer Spalte jeweils a) die Belegform (mit Angabe des Casus), b) die sprachwissenschaftliche Lemmatisierung, c) das Geschlecht, d) die Beziehung zu den anderen mancipia, e) den sprachwissenschaftlichen Kommentar und f) Bemerkungen zur Häufigkeit des Namens (und seiner Graphien) in den St. Galler Urkunden. Darüber hinaus sind, soweit erfassbar, weitere Belege im alemannischen Raum und in Nachbarräumen angegeben. 32 Die Aufstellung lässt Art, Form und Verbreitung romanischer Elemente bzw. Romanisierungen germanischer Namen und deren Verhältnis zur Verbreitung der Namen erkennen, die anschließend zusammenfassend ausgewertet werden. 33 (1) a) Arichiso D. (A 1), Harichyso D. (B 31) b) < *Harja-g s- (zu *harja- 'Heer' + *g s- 'Stab, Pfeilschaft') c) mask. d) Ehemann von (2) e) mit rom. h-Aphaerese; beide mit vorwiegend langobardischer, die Verschlusslautqualität sichernder Graphie <ch> für rom. spirantisches [g] vor [i]; ahd. Umlaut fehlt f) In den St. Galler Urkunden nur hier bezeugt; Belege des 8./ 9. Jh.s aber bei Fö 771: z.B. aus Lorsch Heregis (CL Nr. 1149); Fulda Hergis (Dronke Nr. 296 a. 813), beide mit Umlaut; dazu zwei gallische Münzmeister 6./ 7. Jahrhundert Ari-gis und Chari-gis; ferner häufig im langobardischen Bereich, etwa Schwiegersohn des Königs Desiderius, in Ann. Laurissenses (MGH SS I 168) Harichis; vgl. CDL Nr. 53 a. 735 Or. Arichisso, Arighisso (Campione bei Como); Nr. 129 a. 758 Or. Arichis (Lucca); ad Arichis Beneventanorum ducem (PD IV 39 u. ö.). mann (1863); Doll (1979), Schiaparelli/ Brühl/ Zielinski (Bd. 1-5, 1929-1986). Zu den verwendeten Siglen für diese Werke vgl. Anm. 33. 32 Um mögliche Fehldeutungen zu vermeiden, sind die Namen in der Belegform der Urkunden zitiert und nicht in den Nominativ umgewandelt. Bei der Häufigkeit des Vorkommens ist zu unterscheiden zwischen dem Namen einerseits (nach der lemmatisierten Form) und der graphisch-lautlichen Form andererseits. Beides ist - in verschiedener Weise - aussagekräftig. 33 Erläuterung der Zeichen: * = rekonstruierte Form; o = ausschließlich hier, (o) = sehr selten bezeugt; = in der graphischen Form nur hier bzw. sehr selten ( ) bezeugt; + bzw. (+) = ausschließlich bzw. nahezu ausschließlich als mancipium bezeugt. Außerdem werden folgende Abkürzungen verwandt: A = Urkunde Nr. 66; ahd. = althochdeutsch; as. = altsächsisch; Au = Aussteller; B = Urkunde Nr. 70; CDL = Codice Diplomatico Longobardo (Schiaparelli u.a.); CL = Codex Laureshamensis (Glöckner); D. = Dativ; E = Empfänger; fem. = feminin; Fö = Förstemann, Namenbuch; G. = Genetiv; germ. = germanisch; got. = gotisch, Ka = Kaufmann, Ergänzungsband zu Förstemann (vgl. Anm. 31); M = mancipium; mask. = maskulin; me. = mittelenglisch; mon. = Mönch; N. = Nominativ; O. = Obliquus; obd. = oberdeutsch; Or. = Original; PD = Paulus Diaconus; rom. = romanisch; S = Sonstige; UB St. Gallen = Urkundenbuch St. Gallen (Wartmann); TW = Traditiones Wizenburgenses (Glöckner/ Doll); Z = Zeuge. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 214 (2) a) Adtane D./ O. (A 2/ B 32) b) < *Aþþa n-Stamm (mit expressiver Gemination zum Kurzstamm *aþa- < *aþala- 'Adel') c) fem. d) uxor von (1) e) bemerkenswert die seltene <dt>-Graphie; dazu morphologisch im Obliquus gehalten f) mehrfach bezeugt, darunter einmal als mancipium 34 (3) a) Teuttulfo D. (A 3), -ulfu D. (B 28) b) < *þeuda-wulfa- (zu *þeuda- 'Volk' + *wulfa- 'Wolf') c) mask. d) Ehemann von (4) e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ]; bemerkenswert die <tt>-Schreibung und wie in Nr. 14, 16, 33 die Bewahrung von archaischem germ. [eu] f) mehrfach, 35 davon zweimal als servus; Schreibung <Teuttulf> nur hier 36 (4) a) Ratbergane D./ O. (A 4), Radbergane D./ O. (B 29) b) < *Ræd-berga (zu *ræda-, as. r d, ahd. r t 'Rat, Hilfe' + *-berga 'Schutz, Berge') c) fem. d) uxor von (3) e) in A mit obd. Medienverschiebung [d] > [t] bzw. Auslautverhärtung; morphologisch in hyperkorrekter Obliquus-Deklination gehalten (vgl. Nr. 11) f) mehrfach; 37 davon zweimal als mancipium (5) a) Ruodolfo D. (A 5), Rodulfo D. (B 30) b) < *Hr þa-wulfa- (zu *hr þ- 'Ruhm' + *wulfa- 'Wolf') c) mask. d) Sohn von (3) und (4) e) in B mit Bewahrung des archaischen germ. [ ] statt ahd. [uo]. f) + häufig (in den Schreibweisen Hrodulf, Rodulf, Ruodolf, Ruadolf, Roadolf usw.: Fö 918f.), aber nur hier als mancipium bezeugt (6) a) Aricarne (A 6), Haricarno (B 33) b) < *Harja-gerna- (zu *harja- 'Heer' + *gerna- 'eifrig, begierig') c) mask. d) in A durch et mit (7) verbunden 34 UB St. Gallen Nr. 7 vom 29.11.741/ 45: Hata(na) (S); Nr. 10 vom 9.11.743/ 46: Atani (S); Nr. 18 vom 6.8.754: Atane (M); Nr. 78 vom 26.6.774/ 78: Atta(ni) (Au); Nr. 150 vom 17.11.797: Ata(ne) (Au); Nr. 176 vom 11.12.803: Ata (S); Nr. 205 vom 11.8.810/ 11: Adtane (S); Nr. 634 vom 2.3.883: Atha (E). Weitere Belege in Urkunden aus Weißenburg (6.1.774: Attane, Ada; 31.12.773: Attane; und in Verbrüderungslisten (hier auch <dth>- Schreibungen). Zweimal ist der Name auch im Codex Laureshamensis für eine Hörige bezeugt (CL Nr. 211 vom 13.3.799 und Nr. 648 von 797/ 98, neben vielen weiteren Belegen, darunter auch mehrfach für die Schenkerin oder Ehefrau des Schenkers. Weiteres bei Fö 152f. 35 UB St. Gallen Nr. 106 vom 29.3.785/ 89: Diotolfo (M); Nr. 331 vom 5.5.830 (Z); Nr. 560 vom 4.6.866: Thiodolfo (S); Nr. 726 vom 24.6.903: Theotolf (Bischof); Weißenburg Nr. 466 vom 1.12.741: Teudulfus (Z); Nr. 374 vom 17.11.830: Thiodolf (M). Weiteres bei Fö 1453. 36 Schreibungen mit <td>, nicht aber mit <tt> mehrfach im Codex Laureshamensis, z.B. CL Nr. 357. 37 UB St. Gallen Nr. 7 vom 29.11.741/ 45: Radbega (M? ); Nr. 373 vom 20.5.838: Ratpric (M); Nr. 464 vom 28.7.868: Ratpirigae/ Ratprich (E). Weitere Belege aus den Verbrüderungsbüchern, Lorsch und der Langobardia bei Fö 1209. Romanische Personennamen in Willmandingen? 215 e) A mit rom. h-Aphaerese; beide ohne Umlaut des Erstelements und mit rom. Vokalsenkung vor gedecktem -r-; vgl. auch Ful-garn, Teut-garn im Polyptychon von St. Germain-des-Prés (Ka 144). Die Medienverschiebung [g] > [k], geschrieben <c>, ist oberdeutsch f) o Vgl. mit Umlaut Weißenburg Nr. 91 (a. 769): Herigern. Sonst in dieser Form einzigartig (7) a) Ruodnig (A 7), Rodnig (B 34) b) < *Hr þa-neuja (zu *hr þ- 'Ruhm' + *-neuja-, ahd. niuwi 'neu, jung, schön') c) fem. d) in A durch et mit (6), in B durch et mit (8) verbunden e) in B mit archaischer Bewahrung des germ. [ ] statt ahd. [uo] (vgl. Nr. 28). Das Zweitelement -nig versucht, mit <g> den germ. Halbvokal [j] nach romanischen Aussprachegewohnheiten wiederzugeben f) in den ahd. Namenformen Hrodni, Rodni, Rothniu, Ruodni, Ruotniu mehrfach in Salzburg, Freising, Fulda, Lorsch und St. Gallen bezeugt (vgl. Fö 912); in der Schreibung <R(u)odnig> nur hier bezeugt (8) a) Leutnig N. (A 8, B 35) b) < *Leuda-neuja (zu *leuda- 'Volk, Leute' + *-neuja-, ahd. niuwi 'neu, jung, schön') c) fem. d) in B durch et mit (7) verbunden e) mit Bewahrung des archaischen germ. Diphthongs [eu] und obd. Medienverschiebung [d] > [t] bzw. Auslautverhärtung. Zur Verschriftung des Zweitelements vgl. Nr. 7 f) (o) einzige Parallele a. 957/ 72 das mancipium Liutni Freising (Bitterauf Nr. 1177). Vgl. Fö 1046 (9) a) Blitilde D. (A 9), Plitilde D. (B 36) b) < *Bl d-hilda (zu ahd. *bl di, as. bl þi < *bl þja- 'fröhlich, mild' + *hildj 'Streit') c) fem. d) - e) mit rom. h-Aphaerese beim Zweitelement und obd. Medienverschiebung [d] > [t] bzw. Auslautverhärtung im Erstelement f) Name mehrfach auch im 8./ 9. Jh. in Verbrüderungsbüchern, in Lorsch, Weißenburg, Regensburg (Fö 315); Blidilt a. 846 in Weißenburg (TW Nr. 270) (10) a) Trudolfo [verschrieben < *Trad-] (A 10), Tradulfo (B 17) 38 b) < *þr da-wulfa- (zu westgerm. *þræd-, ahd. dr ti 'schnell' + *wulfa- 'Wolf') c) mask. d) in A durch et mit (11) verbunden; in B möglicherweise zu den filis von (20) und (17) gehörig e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ]. Der Stamm *þraed-, ahd. *þr dfindet sich anscheinend nur langobardisch, bairisch, alemannisch (Fö 1461); auch in den Ortsnamen 10. Jh. Dratinpach, 11. Jh. Dretenwilare, 10. Jh. Dradolfesdorf (Förstemann 1913/ 16, 1052). Die Lesung Tradin der Originalurkunde B ist eindeutig die ‚lectio difficilior’ 38 Eine Personenidentität wird durch die Zusammenbindung mit Moterane und Amulfrede gewährleistet. Bei Personenidentität kann aber nur eines der beiden Erstelemente ursprünglich sein. Dabei ist der Schreibung der Originalurkunde B der Vorzug zu geben, die auch das seltenere Erstelement und damit die lectio difficilior enthält. Die Verschreibung erklärt sich leicht aus der häufig belegten Verwechslung eines <cc-a> mit dem <u> der karolingischen Minuskel. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 216 f) Der Name Dratolf auch im Reichenauer Verbrüderungsbuch (II, 401); in der Schreibung <Tradulf> nur hier bezeugt, <Trudulf> etc. öfter 39 (11) a) Moterane D./ O. (A 11), Motra N. (B 18) b) < Hybridname *M þ-ara (zu *m þa- 'Gesinnung, Mut' + rom. Suffix -ara) c) fem. d) in A durch et mit (10) verbunden e) in B mit Synkope des nebentonigen (? ) Vokals; beide mit Bewahrung von germ. [ ]; morphologisch in Obliquus-Deklination gehalten (vgl. Nr. 24) f) o nur hier bezeugt (12) a) Amulfrede D. (A 12), Hamulfrid N. (B 19) b) < *Amul-frida (zu *amul- 'eifrig, tapfer' + *friþu- 'Friede, Vertrag') c) fem.? d) Mutter von (13) e) in A mit rom. Senkung von [i] > [e]; in B mit rom. h-Prothese, jedoch ohne Flexionszeichen f) in St. Gallen noch jeweils einmal Amalfrid und Amulfrid 40 (13) a) Ricario D. (A 13, B 14) b) < *R kja-harja- (zu *r kja- 'mächtig' + *harja- 'Krieger') c) mask. d) Sohn von (12) e) ohne Lautverschiebung [k] > [ch] und mit rom. h-Aphaerese im Zweitelement f) im 8./ 9. Jh. häufig, z.B. in Salzburg, den Verbrüderungsbüchern, St. Gallen, Freising, Fulda, aber Ricarius nur hier und in Einträgen des Pfäferser Liber Vitae (III, 65, 90) (14) a) Teutrude D. (A 14), Tehutrude D. (B 21) b) < *þeuda-þr da (zu *þeuda- 'Volk' + *þr di 'Kraft, Stärke') c) fem. d) - e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ]; in B <h> als Hiatustrenner beim germ. Diphthong [e/ u] eingesetzt f) o ohne Parallele 41 (15) a) Wolmaro D. (A 15), Uolcamaro D. (B 23) b) < *Fulka-mærja- (zu *fulka-, ahd. folk 'Kriegsschar, -volk' + *mærja- 'glänzend, berühmt') c) mask. d) in B durch et mit (39) verbunden e) in A mit Erleichterung der Dreikonsonanz (vgl. Nr. 26). Die Interpretation des mehrdeutigen <u> als <w> in A ist wohl dem Kopisten des Kartulars zu verdanken f) Der Name findet sich im 8./ 9. Jh. in den Verbrüderungsbüchern, in Salzburg, Corvey u.a.; in der Form mit erhaltenem Fugenvokal (B) anscheinend nur hier bezeugt (16) a) Teutcario D. (A 16) b) < *þeuda-gaira- (zu *þeuda- 'Volk' + westgerm. *gaira- 'Ger, Speer') c) mask. 39 UB St. Gallen Nr. 9 vom 30.8.745 (Z); vgl. Fö 427. 40 UB St. Gallen Nr. 55 vom 21.10.769: Amulfrido (Z); Nr. 521 von 859/ 66 : Amalfriht (S). 41 Zweigliedrige Namen mit gleichem Anlaut (Stabreim) im Erst- und Zweitelement sind ohnehin äußerst selten. Romanische Personennamen in Willmandingen? 217 d) - e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ], Lautersatz [a] für germ. [ai]; ferner Medienverschiebung [d] > [t] im Erstelement bzw. Auslautverhärtung, [g] > [k] im Zweitelement f) häufig, in der Schreibweise -cario jedoch nur hier (gegenüber -ker, -ger, -gaer). Doch sind für -car, -kar u.a. zu vergleichen Theodcar (MGH Libr. confr. II 477), Thietcar, Dietcar (ebd. III 44, 76, 119), Deokar a. 832 (Baiern). Vgl. Fö 1429. Noch 1x als mancipium in der Form Thiotker; 42 vgl. oben Nr. 13 (17) a) Uttono D./ O. (A 17), Huttone D. (B 14) b) < *Uddo n. (intensivierte Form zum Stamm * d-) c) mask. d) in A durch et mit (18) verbunden, in B hingegen zusammen mit (20) als der Mutter der filis (38) und (39) e) mit obd. Medienverschiebung [d] > [t]; in B mit rom. h-Prothese f) sehr häufig (Fö 1472; Ka 363) (18) a) Ahicono D./ O. (A 18), Haghico N. (B 10) b) < *Ag-iko oder *Hag-iko n. (zu *agi- 'Schrecken' bzw. *hag- 'geschickt, aptus' + Suffix -iko) c) mask. d) in A durch et mit (17) verbunden; in B sind (19) und offenbar auch Haghico (18) die infantes (36) und (37) zugeordnet e) in A mit rom. intervokalischem g-Schwund, aber Hiatustrenner <h> beim neuentstehenden Diphthong [a/ i] wie vielfach in volkssprachigen Wörtern und Namen aus dem langobardischen Raum. 43 In B wird mittels der Graphie <gh> der Lautwert von ahd. [g], gegen die rom. Aussprache von [g] vor [i] gesichert. In A evtl. rom. h-Aphaerese; dazu morphologisch im Obliquus gehalten. A enthält also eine rom., B eine stärker ahd. Namenform; Umlaut fehlt f) o in dieser Form und Schreibweise nur hier bezeugt (19) a) Trudlinde D. (A 19, B 11) b) < *þr di-linda (zu *þr di 'Kraft, Stärke' + *lenþja- 'sanft, weich') c) fem. d) in B sind Trudlinde und vielleicht auch Haghico (18) die infantes (36) und (37) zugeordnet e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ] f) mehrfach belegt in St. Gallen, Lorsch, im Moselland und in den Verbrüderungsbüchern: Fö 426 (20) a) Volflinde D. (A 20, B 15) b) < *Wulfa-linda (zu *wulfa- 'Wolf' + *lenþja- 'sanft, weich') c) fem. d) in B, offenbar zusammen mit (17), Mutter mit den filis (38) und evtl. (10), der in A wiederum durch et mit (11) verbunden ist 44 e) - f) mehrfach belegt 45 42 UB St. Gallen Nr. 408 von 842/ 850. 43 Vgl. Anm. 65. 44 Vgl. Anm. 26. 45 St. Gallen Nr. 362 vom 9.8.837: Wolflind (M); auch im Polyptychon von St. Germain-des- Prés, in Weißenburg, Lorsch und in den Verbrüderungsbüchern. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 218 (21) a) Autmanno D. (A 21) b) < *Auda-man (zu *auda- 'Besitz, Reichtum' + man 'Mann') c) mask. d) - e) mit obd. Medienverschiebung [d] > [t] bzw. Auslautverhärtung; bemerkenswert ist die archaische Graphie <au>, während dem ahd. Lautstand nach <o> zu erwarten wäre f) in dieser Form nur hier bezeugt; die normalahd. Form Otman auch in Lorsch und in den Verbrüderungsbüchern (22) a) Leupagde D. (A 22), Lobehagde D. (B 7) b) < *Leuba-haida (zu *leuba- 'lieb, geliebt' + *haidu- 'Gestalt, Person, Art') c) fem. d) nach B, wohl zusammen mit dem hier vorangehenden (29), Mutter von (34) und (35), da von infantis eis die Rede ist e) in A mit obd. Medienverschiebung bzw. Auslautverhärtung; der germ. Diphthong [eu] in B mit rom. Lautersatz [u] und nachfolgender Senkung [o] < [u] (Ka 229f.); der Diphthong [ai] des Zweitelements in rom. Graphie <ag> wie in Nr. 31 u. ö. f) o nur hier bezeugt (und zwar nicht nur in dieser graphischen Form) (23) a) Uraldo D. (A 23), Huraldo (B 26) b) < *Ur-walda- (zum Stamm * ra- 'Auerochse' + *walda- 'Herrscher'; vgl. Ka 370) c) fem. d) in B durch et mit (24) und (41) verbunden e) in B mit rom. h-Prothese (vgl. Nr. 40) f) in dieser Form nur hier bezeugt, jedoch mit normalahd. Entwicklung des Zweitelements zu -old auch in Salzburg, Fulda, Echternach, im Rheinland und in Corvey (Fö 1483) (24) a) Lollane D./ O. (A 24, B 25) b) < Lulla N. (zum Lallstamm *lull-; vgl. nhd. lullen) c) fem. d) in B durch et mit (23) und (41) verbunden e) mit rom. Senkung [u] > [o]; morphologisch in Obliquus-Deklination gehalten (vgl. Nr. 41) f) o fem. nur hier bezeugt; mask. jedoch häufiger, z.B. Erzbischof Lull von Mainz (753-786) angelsächsischen Ursprungs, Lullicho im Reichenauer Verbrüderungsbuch; ferner in den Ortsnamen 8. Jh. Lull-ingas, 10. Jh. Lollun-burg, 10. Jh. Lullan-brunnan (Fö 1064; Ka 239) (Förstemann 1913/ 16, 145f.) (25) a) Altmanno D. (A 25, B 1) b) < *Ald-man (zu *alda- 'alt, ehrwürdig' + man 'Mann') c) mask. d) in B, wohl mit (26), der Mutter von (26) und (28), verbunden e) mit obd. Medienverschiebung [d] > [t] bzw. Auslautverhärtung f) Name mehrfach in verschiedenen Funktionen bezeugt 46 (26) a) Volcamanno D. (A 26), Volmanno D. (B 3) b) < *Fulka-man (zu *fulka-, ahd. folk 'Kriegsschar, -volk' + man 'Mann') c) mask. 46 Beispielsweise UB St. Gallen Nr. 80 vom 30.4.775/ 79: Altman (Z/ mon.); Nr. 87 vom 29.3.778/ 81: Altmanno (Z/ mon.); Nr. 91 vom 14.11.779: Altmanno (Z/ mon.); Nr. 109 von 784/ 811 (Z/ mon.); Nr. 112 vom 15.6.787: Altman (Z) und öfter. Romanische Personennamen in Willmandingen? 219 d) in B, zusammen mit (28) und vielleicht mit (33), infans von (27) und wohl von (25) e) in A Erhaltung des Fugenvokals, in B mit Erleichterung der Dreikonsonanz [-lkm-] oder rom. Verstummen von Konsonant vor Konsonant (Wolf/ Hupka 1981, §102); vgl. Nr. 15 f) in St. Gallen nur hier bezeugt, aber sonst auch in Lorsch, Fulda und im Reichenauer Verbrüderungsbuch (Fö 553) (27) a) Wolfagde D. (A 27), Uolfagde D. (B 2) b) < *Wulfa-haida (zu *wulfa- 'Wolf' + *haidu- 'Gestalt, Person, Art') c) fem. d) in B, wohl zusammen mit (25), die Mutter von (26) und (28) e) mit rom. h-Aphaerese und rom. Graphie <ag> für den germ. Diphthong [ai] wie Nr. 22, 31, 32, 33 f) ( ) Name belegt in Reims, Lorsch, Fulda und den Verbrüderungsbüchern; direkt vergleichbar der romanisierten Schreibung nach ist Vulfagdis aus dem Polyptychon von St. Rémi, Reims (Fö 1651) (28) a) Routmanno D. (A 28), Rotmanno D. (B 4) b) < *Hr þa-man (zu *hr þ- 'Ruhm' + man 'Mann') c) mask. d) in B, zusammen mit (26), infans von Nr. (27) und wohl von (25) e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ]; in B mit Bewahrung des archaischen germ. [ ] statt ahd. [uo]. Die Schreibung <ou> in A könnte kopialer Fehler sein; doch hat sie auch anderswo am Bodensee Parallelen. A und B kennen bereits den Schwund von anlautendem [h] vor Konsonant f) noch siebenmal in St. Gallen bezeugt 47 (29) a) Leubo D. (A 29), Leubino D. (B 6) b) < a) *Leubobzw. b) *Leub- no- (zu *leuba- 'lieb, geliebt', bei B 6 mit Suffix - na-) c) mask. d) in B wohl mit (22) durch (gemeinsame) infantes (34) und (35) verbunden; vgl. Nr. (22) e) mit archaischer Bewahrung von germ. [eu] f) für St. Gallen in der Schreibung Leubo (A) und Leubino (B) nur hier bezeugt, mehrfach aber seit dem 6. Jh. anderswo in weiter Streuung (Spanien, Westfrankenreich) belegt (Fö 1022); mehrfach auch (fünfmal) in St. Gallen, allerdings in den ahd. weiterentwickelten Formen Liupo, Liupin 48 (30) a) Hinolobe D. (A 30) b) < *In-leuba (zu *leuba- 'lieb, geliebt' + intensivierendes Praefix in-) c) fem. d) - e) mit rom. h-Prothese, euphonischem Fugenvokal und vereinfachendem rom. Lautersatz [o] < [u] zum germ. Diphthong [eu] (vgl. ital., raetorom. þeudisk- > tedesco, tudesg, todesg, todesco). Vgl. Nr. 22 47 UB St. Gallen Nr. 147 vom 30.7.797: Ruatmanni (Z); Nr. 269 vom 24.4.821: Roadmanni (Z); Nr. 390 vom 5.4.844: Ruadman (Z); Nr. 680 vom 30.8.891: Ruadman (Z); Nr. 696 vom 11.9.894: Ruadman (Z, centurio); Nr. 744 vom 10.5.905: Ruadman (Z); Nr. 760 vom 15.10.909: Ruman (Z). Zu weiteren Zeugnissen aus Reims, Corvey, Lorsch, Fulda, Salzburg etc. vgl. Fö 911. 48 UB St. Gallen Nr. 127 vom 17.11.790: Lupponis (Z); Nr. 201 vom 21.4.809: Liuppo (Z); Nr. 227 vom 12.11.904: Liupo (Z); Nr. 673 von 889: Liuppo (Z); Nr. 753 von 907/ 08: Liupin (Z). Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 220 f) o nur hier bezeugt 49 (31) a) Agde D. (A 31) b) < *Haida (zu *haidu- 'Gestalt, Person, Art') c) fem. d) - e) der Diphthong [ai] in rom. Graphie <ag> (vgl. Nr. 22, 28 etc.) f) in dieser graphischen Form nur hier bezeugt (verbreitet ist das männliche Gegenstück: Haido, Heido, Haito, Heito, Haeddo) (32) a) Ahalagde (A 32) b) < *Agal-haida (zum l-erweiterten Stamm *agal- < *agi- 'Schrecken' + *haidu 'Gestalt, Person, Art') 50 c) fem. d) - e) rom. intervokalischer g-Schwund samt Hiatustrenner <h> wie in Nr. 18; der Diphthong [ai] in rom. Graphie <ag> (vgl. Nr. 22, 28, 31 etc.) f) o nur hier bezeugt (33) a) [Teut]agde D. (B 5) b) < *þeuda-haida (zu *þeuda 'Volk' + *haidu 'Gestalt, Person, Art') c) fem. d) in B durch et mit (28) verbunden; vielleicht zusammen mit (26) und (28) infantes von (27) und von (25) e) mit rom. h-Aphaerese; der Diphthong [ai] in rom. Graphie [ag] (vgl. Nr. 31 und 32 etc.) f) der Name ist auch bezeugt in Reims, Weißenburg, Fulda, Freising, Salzburg und im St. Galler Verbrüderungsbuch. Eine unmittelbare graphische Parallele bietet mit Teut-hagdis mehrfach das Polyptychon von St. Rémi, Reims (Fö 1432) (34) a) Uisculfo D. (B 8) b) < *Wiska-wulfa- (zu *wiska 'Wisch, Fackel, Rute' + *wulfa- 'Wolf') c) mask. d) zusammen mit (35) infantes von (22) und wohl von (29) e) - f) o nur hier bezeugt; für das Erstelement bieten sich mit Visc und Wiscolo (11. Jh.) spärliche Parallelen im Reichenauer Verbrüderungsbuch und im belgischen Afflighem an (Fö 1625; Ka 410) (35) a) Benzone D. (B 9) b) < *Benzo- < *Bern-izo (zum Stamm *ber[i]n 'Bär' + hypokoristisches z-Suffix; vgl. später im ‚Chronicon S. Michaelis Luneburgensis’ Benno qui et Bernhardus, ferner a. 1045 Benno = Berngerus B. v. Passau etc. bei Fö 257) c) mask. d) zusammen mit (34) infantes von (22) und wohl von (29) e) - f) (o) noch einmal in St. Gallen bezeugt 51 49 Morphologisch zu vergleichen ist mehrfach in Fulda zwischen 806 und 812 belegtes Hina-danc (Fö 844) zu ahd. dank 'Dank'. 50 Fö 170 stellt mit Vorbehalt zu aþal-. Doch würde dies einen so früh noch nicht möglichen rom. Schwund des intervokalischen Dentals voraussetzen. 51 UB St. Gallen: Wartmann Bd. 3, Anh. 5 (um 850): Penzo (Z). Erst später wird der Name insgesamt häufiger (vgl. Fö 246). Romanische Personennamen in Willmandingen? 221 (36) a) Tancrado D. (B 12) b) < þank-ræda- (zu *þanka- 'Dank' + *ræda- 'Rat, Hilfe') c) mask. d) zusammen mit (37) infantes von (19) und wohl von (18) e) mit rom. Lautersatz [t] für germ. [þ] f) noch neunmal in St. Gallen in verschiedener Schreibweise bezeugt 52 (37) a) Ualdulfo D. (B 13) b) < *Walda-wulfa- (zu *walda- 'walten, herrschen' + *wulfa 'Wolf'); vgl. unten Nr. 47 c) mask. d) wohl zusammen mit (36) infantes von (19) und wohl von (18) e) - f) noch dreimal in St. Gallen bezeugt, davon zweimal als mancipium 53 (38) a) Leutpaldo D. (B 16) b) < *Leuda-balda- (zu *leuda- 'Volk, Leute' + *balda- 'kühn') c) mask. d) nach B, wohl zusammen mit (10), filii von (20) und evtl. (17) e) mit obd. Medienverschiebung [d] > [t], [b] > [p]; bemerkenswert die Bewahrung des archaischen germ. Diphthongs [eu] f) in dieser (archaischen) Graphie mit [eu] nur noch einmal in St. Gallen bezeugt; 54 mehrfach aber in der Schreibung [iu] statt [eu]; sonst häufig seit dem 6. Jh. (Fö 1034f.) (39) a) Berfredane D./ O. (B 22) b) < *Ber-frida (zum Stamm *bera- 'Bär' + *friþu- 'Friede, Vertrag') c) fem. d) in B durch et mit (15) verbunden e) mit rom. Senkung von [i] > [e]; morphologisch in hier hyperkorrekter Obliquus-Deklination gehalten (vgl. Nr. 2) f) o einziger Beleg für den fem. Personennamen überhaupt; mehrfach jedoch das mask. Gegenstück, und zwar nicht nur in St. Gallen (Fö 261) (40) a) Arnaldo D. (B 24) b) < *Arn-wald- (zu *arn- 'Adler' + *walda- 'Walter, Herrscher') c) mask. d) Vgl. für das eher westliche -ald < -waldstatt ahd. -old Nr. 23 e) - f) häufig seit dem 6. Jh. (Fö 140f.) (41) a) Frahusintdane O. (B 27) b) < *Frawa-swinþa- (zu *frawa- ' froh ' + *swinþa- 'Kraft') c) fem. d) in B durch et mit (23) und (24) verbunden 52 UB St. Gallen Nr. 76 vom 3.1.775: Dankrati (Z); Nr. 77 vom 3.1.775: Dancrat (Z); Nr. 86 vom 16.3.779: Dancrat (Z); Nr. 155 vom 13.3.799: Dhanchradi (Z); Nr. 359 vom 17.5.837: Thancharat (M); Nr. 430 vom 25.6.854: Thanchrat(i) (Au); Nr. 431 vom 25.6.854: Thanchrat (Au); Nr. 463 vom 14.5.858: Thanchrat (Z); Nr. 636 vom 23.5.884: Thancharat (Z). Weitere Belege für diesen verbreiteten Namen bei Fö 1404f. 53 UB St. Gallen Nr. 3 vom 16.1.716/ 21 (M); Nr. 188 vom 23.3.806: Ualtolfo (M); Nr. 372 vom 20.5.838: Uualdolf (Z). Weitere Belege für diesen seit dem 8. Jahrhundert häufigen Namen vgl. bei Fö 1512. 54 UB St. Gallen Nr. 114 vom 28.6.787: Leutbaldo (Z). Vgl. für die weitere Verbreitung Fö 1034f. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 222 e) mit Hiatusmarker <h> im aus [aw-] entstandenen Diphthong [a/ u]; bemerkenswert die Graphie <td> (vgl. Nr. 2); morphologisch in hyperkorrekter Obliquus-Deklination gehalten (vgl. Nr. 39) f) in dieser Form nur hier bezeugt; doch vgl. a. 695 in Weißenburg (TW Nr. 46) Frawin-sinda, a. 926 im Moselland Frowisind, mit Umlaut Frewisind 2x im Reichenauer Verbrüderungsbuch (Fö 521) (42) a) Listillone O. (B 37) b) < Hybridname *List-ello (zu *listif. 'Geschicklichkeit, List' + rom. Suffix -ellus, -o), mit Assimilation des Suffixvokals an den Stammvokal c) mask. d) - e) morphologisch in Obliquus-Deklination gehalten f) o nur hier bezeugt 55 (43) a) Hariman N. (B 38) b) < *Harja-man (zu *harja- 'Heer' + man 'Mann') c) mask. d) - e) - f) mehrfach in St. Gallen belegt, davon noch zweimal in Urkunden des 8. Jh.s; 56 in jüngeren Urkunden zumeist mit Umlaut (Heri-); ansonsten häufig seit dem 7. Jh. (44) [Alberto]: wird hier nicht weiter behandelt, da zu unsicher belegt (45) a) Rigtrude D. (B 40) b) < *R kja-þr da (zu *r kja- 'mächtig' + þr di 'Kraft, Stärke') c) fem. d) - e) mit rom. Sonorisierung [k] > [g] im Erstelement; rom. Lautersatz [t] für germ. [þ] f) in St. Gallen nur noch ein Beleg, ebenfalls für ein mancipium, aber mit ahd. Lautverschiebung [k] > [ch]; 57 ansonsten weit verbreitet (46) a) Bettone O. (B 41) b) < *Beddo n. (zum Lallstamm *bedd-, eventuell zu *berhta- 'glänzend, berühmt') c) mask. d) in B durch et mit (47) verbunden e) - f) viele weitere Belege (allein 27 in St. Galler Urkunden; vgl. Fö 225f.; Ka 49) (47) a) Ualdulfo D. (B 42); zur weiteren Analyse vgl. Nr. 37 d) in B durch et mit (46) verbunden (48) a) Uarlinde D. (B 43) b) < *W ra-linda (zu germ. *wæra-, ahd. as. w r 'wahr' + *lenþja- 'sanft, weich') c) fem. d) - e) - 55 Mit dem Erstelement des Namens lassen sich nur vergleichen a. 774 in Weißenburg (TW Nr. 67) List-harius 'geschickter Krieger' und der angelsächsisch anmutende Name des a. 890 bezeugten Bischofs Lista von Coutances (Fö 1061). 56 UB St. Gallen Nr. 35 vom 17.6.762 (Z); 98 vom 8.11.782 (Z). Vgl. weiter Fö 774. 57 UB St. Gallen Nr. 148 vom 31.8.796/ 800: Rihdrud (M). Vgl. weiter Fö 1260f. Besonders nahe steht als Parallele Rig-trudis aus dem Polyptychon von St. Rémi, Reims. Romanische Personennamen in Willmandingen? 223 f) ein weiterer Beleg; 58 hinzu kommen Warelinde N. aus einer moselländischen Urkunde a. 698, ferner Warlind a. 773 aus Lorsch (CL 2080) und Varlindis aus dem Polyptychon von St. Germain-des-Prés 3.2 Die Namen der sonstigen Personen in den Urkunden A und B samt Vorakt 59 A (Nr. 66) B (Nr. 70) VA etc. 3.2.1 Schenker und Zeugen 33 Ruothaus 44 Rodtaus tradicio roadhohi de uuillimuntingas 60 34 † Ruotahi 45 † S. Rodtahu † Rodtahus 35 † Bleon 46 † S. Bleon † Bleon ego Bleon et filius meus Otto (CL 3275 a. 773) - 47 † S. Leutberto † Leutbto 48 † S. Ermenberto † [Er]menbto Irminbertus clericus (CL 3274 a. 775)? 49 † S. Uuaninco † Uuaninco 36 † Issinberti 50 † S. Hisinberto † Isispto 61 51 † S. Hamulberto † Amulpto 52 † S. Crinperto † Crimpto 53 † S. Teutberto † Teutpto 37 † Welandi 38 † Warilandi 54 † S. Uarilando † Uarilando 3.2.2 Schreiber 39 Hubertus presbyter 55 Hupertus presbiter 58 UB St. Gallen Nr. W. I 158 von 784/ 812: Uuaralind (Au). Vgl. weiter Fö 1535. 59 Zu den Namenzeugnissen der beiden Haupturkunden A und B kommen hier noch die Zeugennotizen des Voraktes von B und weitere externe Bezeugungen (z.B. aus Lorsch) hinzu (vgl. Bruckner 1931, 1, Nr. 4; Bruckner/ Marichal 1954). 60 Eine der beiden Dorsualnotizen von B, 9. Jh. und etwas später als eine erste Notiz: tradicio roadhohi de uuillimunti[ngas] (vgl. Bruckner/ Marichal 1954). 61 Da ein germ. Stamm *isisunbekannt ist, dürfte es sich um eine Verschreibung aus Isinhandeln. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 224 3.3 Onomastische Analyse (49) a) Ruothaus N. (A 33), Ruotahi G. (A 34), Rodtaus N. (B 44), Rodtahu O. (B 45), Rodtahus N. (VA), roadhohi G. (9. Jh.) b) < *Hr þ-hauh- (zu *hr þ- 'Ruhm' + *hauha- 'hoch') c) mask. d) - e) B hält im Erstelement den archaischen Lautstand von germ. [ ] fest, A zeigt bereits die ahd. Weiterentwicklung zum Diphthongen [uo], die Rubrik der Urkunde aus dem 9. Jh. 2x die überwiegend bairische, aber auch sonst oberdeutsche Verschriftung <oa>; bemerkenswert auch die Graphie <dt> in B (vgl. Nr. 2, 41). Das Zweitelement ist nach der fast gleichzeitigen Rubrik in ahd. Form als *hauha-, ahd. h h zu bestimmen, unterliegt jedoch in A und B (auch in VA) erheblichen Romanisierungstendenzen (vgl. CL 281): 62 Das anlautende [h] ist überall (Ausnahme A 33) geschwunden, das inlautende nur in A. Bei der Analyse des Diphthongs gilt es die latinisierten bzw. romanisierten Endungen -us, -i, -u zu berücksichtigen. Dann zeigt sich, dass wie in mehreren anderen Namen (z.B. Nr. 23, 24) der germanische Diphthong vereinfacht wurde, hier also [au] > [a]. f) siehe oben Anm. 5 (50) a) Bleon N. (A 35, B 46, VA) b) < *Bleuw-an (zu *bleuwana- < germ. *blewwanan 'schlagen', ahd. as. bliuwan, me. bléwe) c) mask. d) - e) der Diphthong [eo] zeigt frühahd. bzw. westfrk. Lautstand 63 f) so in St. Gallen nur hier; a. 766 in der Schreibung Pleoni; anderswo weitere Belege, z.T. mit weiterentwickelter Lautform als Blion, Plien (Fö 311; Ka 63); vgl. auch oben Anm. 14 zum Codex Laureshamensis (51) a) Leutberto O. (B 47), Leutbto O. (VA) b) < *Leuda-berhta- (zu *leuda- 'Volk, Leute' + *berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) bemerkenswert die archaische Bewahrung des germ. Diphthongs [eu] f) seit dem 6. Jh. häufig bezeugt, auch mit <eu>, allerdings in St. Gallen mit einer Ausnahme ausschließlich mit [iu]-Diphthong (Fö 1036f.) (52) a) Ermenberto O. (B 48), [Er]menbto O. (VA) b) < *Ermana-berhta (zu *ermana- 'groß, erhaben' + *berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) - f) noch einige Male in St. Gallen bezeugt; seit dem 7. Jh. überhaupt weiter verbreitet (Fö 475) (53) a) Uuaninco O. (B 49, VA) 62 In der in Ladenburg ausgestellten Urkunde CL 281 (a. 765) findet sich ein ebenfalls romanisierter Ruothtau unter den Zeugen, den der Herausgeber Karl Glöckner sprachlich wohl richtig als Ruthoch bestimmt. 63 Vgl. zu Personen der merowingisch-karolingischen ‚Reichsaristokratie’ namens Bleon: Kaufmann (1965, 303f.); Jänichen (1957, 219-230); Bruckner (1949, Bd. I, Nr. 145 a. 748 mit Hugo, Sohn des Bleonus für Honau). Romanische Personennamen in Willmandingen? 225 b) < *W n-inga- (zu *waena-, ahd. as. w n 'Hoffnung, Glaube' + Suffix -inga-) c) mask. d) - e) der fehlende Umlaut vor [i] ist normal, da dieser für langes [ ] erst seit dem 9./ 10. Jh., und zwar in fränkischen Dialekten auftritt f) seit dem 7. Jh. vielfach bezeugt (Fö 1523) (54) a) Issinberti G. (A 36), Hisinberto O. (B 50), Isispto [verschrieben aus *Isin-] (VA) b) < *Isina-berhta- (zu ahd. san, -in < * sarna- 'Eisen' + *berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) in B rom. h-Prothese des Schreibers; in A hyperkorrekte Geminierung <ss> infolge der rom. Degeminierung von Konsonanten f) seit dem 8. Jh. häufig bezeugt, nicht nur in St. Gallen, doch dort und in Lorsch mehrfach mit <h-> im Anlaut; Schreibweise <ss> nur hier (Fö 974f.; Ka 217f.) (55) a) Hamulberto O. (B 51), Amulpto O. (VA) b) < *Amul-berhta (zu *amul- 'eifrig, tapfer' + *berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) in A mit h-Prothese des Schreibers; wie VA erweist (vgl. Nr. 54) mit ahd. Medienverschiebung b > p f) häufig bezeugt, nicht nur in St. Gallen (Fö 91); in der Schreibung Amul- (gegenüber häufigerem Amal-) jedoch nur noch zweimal, sonst häufiger - (und das nicht nur in der Zusammensetzung mit *-berhta), z.B. Cambrai, Lobbes, Stablo, Werden, Corvey, Merseburg, Weißenburg, Lorsch und in den Verbrüderungsbüchern (56) a) Crinperto O. (B 52), Crimpto O. (VA) b) < *Gr ma-berhta- (zu *gr ma 'Maske, Helm' + *berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) mit oberdt. Medienverschiebung [g] > [k] und [b] > [p] f) noch mehrfach seit dem 7. Jh. bezeugt (Fö 670f.); in St. Gallen durchweg mit [p] (57) a) Teutberto O. (B 53), Teutpto O. (VA) b) < *þeuda-berhta- (zu *þeuda- 'Volk' + berhta- 'leuchtend, berühmt') c) mask. d) - e) mit Bewahrung des archaischen germ. Diphthongs [eu] und rom. Lautersatz [t] für [þ]; VA zeigt, dass die obd. Medienverschiebung, hier [b] > [p], ortsüblich war (vgl. Nr. 54, 55 etc.) f) seit dem 6. Jh. außerordentlich häufig bezeugt (Fö 1422ff.), zumeist mit <th> bzw. ahd. weiterentwickeltem <d>, seltener mit <t> (außer in romanischen Quellen); früh häufig mit den Graphien <eu>, <eo>, später entsprechend ahd. Lautentwicklung mit <io>, <ie> (58) a) Welandi G. (A 37) b) < *W landa- ' faber ' 64 c) mask. d) - 64 Vgl. zum Namen Wagner (1999, 264); ferner Reichert (1987, 770 u. 778); Nedoma (1988). Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 226 e) bemerkenswert die fehlende Diphthongierung (frühes 8. Jh.) von germ [ 2 ] > ahd. [eo, ie] f) Name des mythischen Schmieds der Sage; noch mehrfach mit breiter Streuung seit dem 6. Jh. bezeugt, mit oder ohne Diphthongierung (Fö 1553; Ka 393) (59) a) Warilandi G. (A 38), Uarilando O. (B 54, VA) b) < *Warja-landa- (zu *warja- 'wehren, schützen' + *landa- 'Land') c) mask. d) - e) bemerkenswert der fehlende Umlaut f) in dieser Form nur hier bezeugt (evtl. hierher auch noch a. 767 Warlan[d]i in Lorsch (CL 677), aber mit Umlaut Weri-land auch in Weißenburg, Freising und den Verbrüderungsbüchern (Fö 1535; Ka 225f.) (60) a) Hubertus (A 39), Hupertus (B 55) b) < *Hugu-berhta- (zu *hugu ' Verstand ' + *-berhta ' leuchtend, berühmt ' ) c) mask. d) - e) mit rom. Verstummen von Konsonant vor Konsonant (vgl. o. Nr. 26) oder - weniger wahrscheinlich für das 8. Jh. - ahd. Assimilation von [gb], [gp] > [bb], [pp]. In B -pertmit obd. Medienverschiebung [b] > [p] (vgl. oben Nr. 54, 55, 56, 57) f) vielfach seit dem 6. Jh. bezeugt, jedoch dürften AB zusammen mit CL 1206 (a. 774) Hubrecht (dies freilich in Kopie des 12. Jh.s) zu den ältesten Belegen des g- Schwundes vor Konsonant im Namen zählen. Die fehlende Dokumentation lässt jedoch keine präzisen Aussagen zu (vgl. Fö 924f.; Ka 205f.) 3.4 Register der Namenelemente *agal-: Nr. 32; *amul-: Nr. 12, 55; *arn-: Nr. 40; *aþ(þ)a-: Nr. 2; *auda-: Nr. 21; *balda-: Nr: 38; *bed(d)-: Nr. 46; *bera-: Nr. 39; *berga-: Nr. 4; *berhta-: Nr. 51, 52, 54, 55, 56, 57, 60; *ber(i)n-: Nr. 35; *blewana-: Nr. 50; *bl dja-: Nr. 9; *ermana-: Nr. 52; *folka-: Nr. 15, 26; *frawa: Nr. 41; *fridu-: Nr. 12, 39; *gaira-: Nr. 16; *gerna-: Nr. 6; *g s- : Nr. 1; *gr ma- : Nr. 56; *haga-: Nr. 18; *haidu-: Nr: 22, 27, 31, 32, 33; *harja-: Nr. 1, 6, 13, 43; *hauha-: Nr. 49; *hildj - : Nr. 9; *hr þ-: Nr. 5, 7, 28, 49; *hugu-: Nr. 60; *isana-: Nr. 54; *landa- Nr. 59; *leuba-: Nr. 22, 29, 30; *leuda-: Nr. 8, 38, 51; *linda-: Nr. 19, 20, 48; *listi-: Nr. 42; *lull-: Nr. 24; *maerja-: Nr. 15, *man-: Nr. 21, 25, 26, 28, 43; *m þa-: Nr. 11; *niuwja-: Nr. 7, 8; *r æ da-: Nr. 4, 36; *r kja- : Nr. 13, 45; *swinþa: Nr. 41; *þank-: Nr. 36; *þeuda-: Nr. 3, 14, 16, 33, 57; *þr æ da-: Nr. 10; *þr di -: Nr. 14, 19, 45; * d- : Nr. 17; * r- : Nr. 23; *w æ na-: Nr. 53; *w æ ra-: Nr. 59; *walda-: Nr. 23, 37, 40, 47; *warja-: Nr. 48; *w land- : Nr. 58; *wiska-: Nr: 34; *wulfa-: Nr. 3, 5, 10, 20, 27, 34, 37, 47. 4 Kommentare und Auswertung 4.1 Die Sprache der Personennamen und der Urkunden Die Spuren der im 7. Jahrhundert erfolgten oberdeutschen Medienverschiebung von [b, g, d], für Alemannen und Baiern charakteristisch, prägen un- Romanische Personennamen in Willmandingen? 227 verkennbar auch die Namenwelt von AB (vgl. Nr. 3, 4, 6, 8, 9, 16, 17, 21, 25, 38, 54, 55, 56, 57, 60). Auch die Schreibung Callo (B) < Gallo und die Endung -incas (A) < -ingas gehören hierher. Die Notierung der Medienverschiebung kann nicht allein der Sprache des Schreibers zugeschrieben werden, denn er hat in der Urkunde B, die original überliefert ist, gegenüber VA die alemannischen Formen graphisch zurückübersetzt (vgl. Nr. 47, 53, 55). Dagegen finden sich bei den mancipia-Namen keine Spuren der früheren Tenuesverschiebung: Germ. [k] (Nr. 13, 18, 45) ist erhalten. Das unterstreicht den archaischen Charakter der Namen. Der Schreiber war zweifellos Romane. Das zeigen auf das Deutlichste seine Verschriftungsgewohnheiten, z.B. der Umgang mit dem in den umgebenden romanischen Sprachen funktionslos gewordenen <h>. In zahlreichen Fällen der h-Aphärese schwindet es auch in den Namen germanischer Provenienz wie z.B. in Nr. 17 Arichiso (A) gegenüber Hari- (B) (vgl. Nr. 1, 6, 9, 13, 18, 22, 27, 31, 32, 33, 49). Gelegentlich wird auch hyperkorrekt <h> prothetisch hinzugefügt (Nr. 12, 17, 23, 30). Das Verhältnis zwischen B und VA zeigt, dass erst der Urkundenschreiber das <h> hinzufügte: Isispto > Hisinberto (Nr. 54), Amulpto > Hamulberto (Nr. 55). Auch im Latein der Originalurkunde B finden wir h-Prothese: hedificis < aedificiis (Z. 3), hacolabus < accolabus (Z. 4), hacsi < acsi (Z. 13). Ein vor allem im italisch-langobardischen Raum geübter Brauch ist die Markierung von Hiaten zwischen den Bestandteilen zweigipflig gesprochener germ. Diphthonge oder zwischen zwei durch Konsonantenausfall (rom. intervokalischer g-Schwund) nebeneinanderstehenden Vokalen durch <h> (vgl. langobardisch-rom. Ahistulf- < (H)aistulf, sculdahis < *sculd-haizetc.): 65 Nr. 18 Ahico- (A) < *(H)agiko, Nr. 32 Ahal- (A) < *Agal-, Nr. 41 Frahu- (B) < *Fra(w)u-, Nr. 14 Tehut- (B) < *þeud-. Die Schreibungen halten auch die bereits vulgärlateinischen Senkungen [i] > [e], [u > o] fest, welche Romanisierung graphisch oder lautlich bezeugen: Nr. 12 -frede (A) < -frid, Nr. 39 -fredane (B) < *-frida-, Nr. 24 Loll- (AB) < Lull-, Nr. 3 hyperkorrekt Dativ -ulfu statt -ulfo, mehrfach beim Obliquus -o statt -u in der Zeugenreihe von B (außer Nr. 49 Rodtahu). Auch das Latein von B hat mehrfach (Z. 4, 5, 6) hyperkorrekt infantis statt -es, agentis (Z. 9), peccatur < -or (Z. 13). Auch die romanische Degeminierung von Doppelkonsonanten hat ihren Niederschlag gefunden: hacolabus (Z. 4) < accolabus, in den Namen hyperkorrekt Nr. 3 Teuttulfo (AB) < *Teut-, Nr. 54 Issin (A) < Isin (B). Auch die auffällige, aber auch sonst gelegentlich begegnende Doppel-Graphie <dt> (2, 41, 49) gehört wohl hierher. 66 Die romanische Sonorisierung intervokalischer Tenues zeigt sich in Nr. 45 Rig- < R k -, im Urkundenlatein von B in stibulacione (Z. 9) < stipulatio- und 65 Vgl. Bruckner (1895, § 27 Anm. 1, 81 Anm. 4, 82 Anm. 1); van der Rhee (1970, 117f.) mit fragwürdiger Interpretation; Francovich Onesti (1999, 199f.). 66 Braune/ Reiffenstein (2004, § 167 Anm. 10). Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 228 hyperkorrekt (Umkehrschreibung) in paco (Z. 3) statt pago, puplici (Z. 10) statt publice. Auch das cripsi (Z. 13) in der Schreiberzeile statt scripsi dürfte auf einer hyperkorrekten falschen Abtrennung aus einem romanischen escripsi mit Vokalvorschlag vor [sc] beruhen. Typisch romanische Graphien, die der Sicherung des okklusiven Lautwertes des in romanischer Lautentwicklung vor Palatal spirantisierten [g] dienen, finden wir mit der westfränkisch und langobardisch häufigen Graphie <gh> (Nr. 18) und der nahezu auf die Langobardia beschränkten, aber gelegentlich auch im wohl lothringischen 'Ahd. Isidor ' und in St. Galler Urkunden auftauchenden Graphie <ch> für [g] (Nr. 1). 67 Im morphologischen Bereich zeichnen sich die Urkunden durch die Verwendung von Obliquus-Deklinationen auf -n aus: mask. auf -one, -ono, z.B. Nr. 18 Ahicono (vgl. Nr. 17, 35, 42, 46), dazu 2x sancti Galloni in A (Z. 2, 11), fem. auf -ane, z.B. Nr. 6 Adtane (vgl. Nr. 4, 11, 24, 39, 41). 68 Andere der zahlreichen Romanismen sind nicht graphischer, sondern eher lautlicher Natur und damit sehr wahrscheinlich der sprachlichen Realitätsebene der Personen zuzuweisen. Doppelt interpretierbar ist dabei die so charakteristische Bewahrung archaischen Lautstandes, etwa der germanischen Diphthonge [ai], [au], [eu] (Nr. 3, 8, 14, 16, 21, 22, 27, 29, 31, 32, 33, 38, 41, 51, 57), des germ. [ 2 ] (Nr. 58), des germ. in B (Nr. 5, 7, 11, 28, 49), dazu die umlautlosen Formen (Nr. 1, 6, 43, 13, 18, 59). Wahrscheinlich gehören diese Schreibungen weitgehend der Ebene graphischer Konventionen an, sicher in den Zeugenreihen. Doch versagen diese Erklärungen dort - und dies ist vor allem bei den Personennamen der Mancipien der Fall -, wo der Einsatz des diakritischen [h] in Diphthongen zur Markierung des Hiatus die Existenz der Diphthonge verbürgt (Nr. 14, 18, 41) oder wo diese bei [ai] durch die Graphie <ag> markiert werden (Nr. 22, 27, 31, 32, 33). Diese Schreibung spiegelt die Spirantisierung des rom. [g] in der Lautgruppe [ag] vor Konsonant und ist charakteristisch für die westliche Romania: 69 Für AB kommt hinzu, dass *haidu immer nur in der Verschriftung agde auftaucht. Der rom. Lautersatz germ. zweigipfliger Diphthonge durch Monophthonge, so [u, o] für [eu, eo] (Nr. 22, 30), [a] für [ai] (Nr. 16), [a] für [au] 67 Vgl. z.B. CDL I Nr. 19 (a. 715 Audechis); 20 (a. 722 Fridichis); 34 (a. 721 Arochis); 30 (a. 722 Fridichis); 34 (a. 724 Sichimundus) etc.; ferner Braune/ Reiffenstein (2004, § 148 u. § 177); Bruckner (1895, § 81,3); Matzel (1970, 281ff.); Haubrichs (1990, 152 Anm. 145) mit Beispielen aus Metzer Überlieferung. 68 Vgl. Pitz (1997, 703ff. [Lit.]). 69 Vgl. z.B. aus dem Verdunois für Etain a. 706 villa que vocatur Stain < germ. *staina 'Stein, steinernes Bauwerk', a. 916/ 17 Stagnum: dazu Haubrichs (1992, 659). In einer in Mandeure (Franche-Comté) ausgestellten Urkunde a. 739 (TW Nr. 14) begegnen die Schreibungen Lupfinstagni < *-staina, Batsinagmi, Hischaigitisagmi < *haima-, im Polyptychon von St. Rémi in Reims u.a. -hagdis, -agdis für -*haidu. Vgl. ferner Braune/ Reiffenstein (2004, § 44); Haubrichs (1990, 152 Anm. 145); Dannenbauer (1975, 107) mit Rekurs auf -agde-Schreibungen in St. Germain-des-Prés und St. Rémi (Reims); Pitz (1997, 790f.) mit Hinweis auf die im Fulrad-Testament von a. 777 original überlieferte Schreibung Hagnoaldo < *Hainoald. Romanische Personennamen in Willmandingen? 229 (Nr. 49), setzt phonetische Realität zumindest als Varietät (neben möglicher anderer, mehr dem ahd. Standard entsprechender Aussprache) in bilingualer Situation voraus. Ebenso kann der verschriftete Lautersatz [t] für germ. [þ], auch wenn er einmal in der Zeugenreihe (Nr. 57) vorkommt, nicht nur auf der Ebene des Schreibers interpretiert werden (vgl. Nr. 3, 10, 11, 14, 16, 19, 36, 45): Es gibt keine abweichenden Schreibungen und in obd. Entwicklung müsste germ. [þ] schon als <d> erscheinen. Lautersatz mit phonetischer Realität liegt auch vor in der erneut die Spirantisierung von [g], diesmal in der Lautgruppe [ig], voraussetzenden Verschriftung von *niwja < germ. *neujaz (vgl. got. niujis, ahd. as. niuwi) in Ruodnig (Nr. 7) und Leut-nig (Nr. 8). 70 Auch die in A und B registrierte Entwicklung von -gern > -carn, wie sie auch in St. Germain-des-Prés und sonst in der Romania begegnet, 71 spiegelt sprachliche Wirklichkeit. Ähnlich ist der durch <h> markierte rom. g-Schwund in Ahal- < *Agal- (Nr. 2) und Ahico- < *Agiko neben Haghico (Nr. 2) nicht nur Verschriftung, sondern repräsentiert eine romanische Variante in einem wohl bilingualen Milieu. Solche romanischen Varianten fassen wir vermutlich weiterhin in Formen mit euphonischen Fugenvokalen wie Volca-maro (Nr. 15), Lobe-hagde (Nr. 22), Volca-manno (Nr. 26), Hino-lobe (Nr. 30). Ganz deutlich romanische Namenprägung liegt aber dann vor, wenn sich rom. Suffixe mit germ. Namenstämmen verbinden wie in Listillone < *List-ello (Nr. 42) und Moterane < * M þ-ara (Nr. 11). 4.2 Familiäre Zusammenhänge Auffällig sind Hinweise, die - aus drei verschiedenen Indizien - auf familiäre Zusammenhänge der in beiden Urkunden genannten Personen schließen lassen. 72 (1) Zum einen deutet die häufige (und zum Teil gleich mehrfache) Gleichheit der Namenglieder, wenn auch nicht zwangsläufig in jedem Einzelfall, so doch insgesamt auf Verwandtschaft hin. Dieses Phänomen findet sich teils innerhalb der festgestellten Personengruppen, teils überschreitet es sie. 70 Ein ähnlicher rom. Verschriftungsversuch mit <di>, das im Romanischen den Lautwert [dz] besaß (wie in dt. Genie) findet sich mit den Namen Sancto-nidia und Baudo-nidia < -nivia im Testamentum Aredii abbatis et Pelagiae matris ejus a. 573. Vgl. Pardessus (1843, Bd. 1, Nr. 180, 139); Grimm (1852). Eine Verschreibung -nig < *-ing, wie sie Fö 958 annimmt, ist angesichts der jeweils doppelten und gleichförmigen Überlieferung in A und B abwegig. 71 Fö 630, 771 möchte - zu Unrecht - westfränkisches Ful-garn und Teut-garn (beide St. Germain-des-Prés) und unser Hari-carn vom Stamm *-gerna trennen. Vgl. jedoch bereits Ka 144. 72 Die sich in den Namen spiegelnde Verwandtschaft ist vielfach nachgewiesen und darf, trotz gelegentlicher Widersprüche, daher vorausgesetzt werden. Für die alemannische Grundbesitzerschicht vgl. Goetz (1985, 1-41); zu den Hörigen vgl. Goetz (1987, 852-877). Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 230 Anfangsglied: - *hr þa- > Rod-, Ruod-, Rout-: Ruodolfo, Ruodnig, Routmanno - *þeuda- > Teut-: Teuttulfo, Teutrude/ Tehutrude, Teutcario Anfangs- oder Endglied: - *haidu > Agde-/ -agde: Leupagde, Wolfagde, Agde, Ahalagde, Lobehagde -*harja > Hari-, Ari-: Arichiso, Aricarne, Hariman; Ricario - *leuba > Leup-/ Lobe-/ -lobe: Leupagde/ Lobehagde, Leubo/ Leubino, Hinolobe - *þr di > Trut-/ -trud: Trutlinde, Teutrude/ Tehutrude, Rigtrude - *wulfa > Volf-/ -olf: Volflinde, Wolfagde, Teuttulfo, Ruodolfo; Tradulfo, Uisculfo, Ualdulfo (2x) Endglied: - *gaira > -carius Teutcario - *linda > -linde Trutlinde, Volflinde, Uarlinde - *man > -mannus Autmanno, Altmanno, Vol(ca)manno, Routmanno, Hariman - *neuja > -nig Rodnig et Leutnig Von den Namen her scheinen die hier genannten Personen daher (vielfältig) familiär miteinander verflochten gewesen zu sein. Der Hörigenverband insgesamt (und nicht nur die Bauern auf den Hufen) erweist sich demnach durchaus durch familiäre Strukturen gekennzeichnet. (2) Darüber hinaus findet die familiäre Verwandtschaft ihren Niederschlag zumindest in einigen Fällen auch in gleichen Namengliedern von Eltern und Kindern: • Vater Teuttulfo, Mutter Ratbergane • Sohn Ruodolfo • Mutter Volflinde • Sohn Tradulfo • Vater Altmanno, Mutter Volfagde • Kinder Vol(ca)manno, Ro(u)tmanno et [Teut]agde. (3) Schließlich beweist die Nennung von Ehepaaren und Paaren mit Kindern familiäre Strukturen innerhalb des Hörigenverbandes. In zwei Fällen (in A, vielleicht nicht zufällig gerade am Anfang der Liste) ist das explizit durch die Bezeichnung uxor, einmal zusätzlich durch die Nennung eines Sohnes belegt: Romanische Personennamen in Willmandingen? 231 - Arichiso et uxore sua Adtane - Teuttulfo et uxore sua Ratbergane et filio suo Ruodolfo. Da B in diesen beiden Fällen die Namen von Mann und Frau stattdessen durch et verbindet, verweisen weitere et in beiden Urkunden, wenngleich kaum in allen Fällen, vielleicht ebenfalls auf (Ehe-)Paare, in jedem Fall aber auf eine Zusammengehörigkeit. Eine solche Deutung wird dadurch gestützt, dass diese Gruppen erstens, soweit sie in beiden Urkunden genannt sind, jeweils trotz unterschiedlicher Reihenfolge der Namen stets zusammen stehen und dass zweitens gerade in diesen Fällen oft Kinder genannt sind. (Letzteres kommt aber auch nach Namen vor, die mit einem Komma abgegrenzt sind. 73 ) Es handelt sich - nach B - um folgende Fälle: Mit Kindern: Huttono Volflinde, 74 filis eis: Leutpaldo, Tradulfo Hamulfrid 75 et infanti ea Ricario Haghico Trudlinde et infantis eis Tancrado et Valdulfo Lobehagde Leubino et infantis eis Visculfo et Benzone Altmanno Volfagde et infantis eis Volmanno, Rotmanno et [Teut]agde In weiteren Fällen sind Namen durch et verbunden, ohne dass ihnen Kinder folgen. Sofern es sich um heterosexuelle Namenpaare handelt, könnten auch hier Paare vorliegen oder aber anderweitig, vermutlich verwandtschaftlich verbundene Gruppen, beispielsweise Geschwister: 73 Schwierigkeiten bereiten bei dieser Deutung freilich verschiedene Namenpaare: a) die Zusammenstellung Rodnig et Leutnig, da es sich um zwei Frauennamen handelt (möglicherweise Geschwister? ); in der Folge Aricarno, Rodnig, Leutnig verbindet A die beiden ersten, B hingegen die beiden letzten Namen durch et. Nimmt man beide Urkunden zusammen, ergäbe sich eine ‚Dreiergruppe‘ (familiärer? ) Zusammengehörigkeit. b) Das ‚Paar‘ Motra - Hamulfrid (B) bereitet ähnliche Probleme, wenn beide Namen weiblich sind. Zwar kann Hamulfrid männlich oder weiblich sein, ist aber nach der Form Amulfrede in A und dem vulgärlateinischen Ea nach Hamulfrid in B eindeutig feminin. In A sind denn auch gar nicht diese beiden Namen, sondern die zuvor genannten Trudulfo et Moterane zu einem ‚Paar‘ vereint, dem dann Amulfrede unmittelbar folgt. Da der Sohn Ricario - dieser Name folgt auch in A unmittelbar auf Amulfrede - in B tatsächlich nur Hamulfrid zugeschrieben (infanti ea) ist, wird man wohl Trudulfo und Moterane als ein Paar, Amulfrede hingegen als eine „alleinstehende Mutter mit Sohn“ ansehen müssen. c) Ein letztes Problem begegnet für das in B durch die nachfolgenden Kindernamen (infantis eis Uisculfo et Benzone) verbundene Paar: Leubinus - Lobehagde. Hier scheint klar eine Familie bezeichnet, zu der in A noch (als mögliche Verwandte) Hinolobe hinzutritt, während die korrespondierenden Namen Leupagde und Leubo in A allerdings nicht zusammenstehen. 74 In A durch et verbunden! 75 Vgl. aber Anm. 73. Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 232 Berfredane et Volcamaro Lollane et Huraldo et Frahusintdane Bettone et Ualdulfo Sonstige Gruppen: Tradulfo et Moterane (A) Aricarne et Ruodnig (A) Rodnig et Leutnig (B) 76 Vttono et Ahicono (A) Unabhängig von der nicht in jedem Einzelfall abgesicherten Deutung beweisen diese Zusammenstellungen, dass unter den mancipia Ehepaare (und überhaupt Paare), zum Teil als Kernfamilie mit Kindern, zu finden sind. (Das widerlegt die frühere Forschungsmeinung, nach der mancipia unverheiratet waren. 77 ) Bei diesen Paaren ist auffälligerweise keineswegs immer der Mann zuerst genannt, wird also die „Patrilokalität“ (Kuchenbuch) durchbrochen. 78 4.3 Namenhäufigkeit Aufschlussreich ist schließlich noch die Namenhäufigkeit der mancipia innerhalb der St. Galler Urkunden. Dabei fällt auf, dass a) ein beträchtlicher Teil der Namen und Namenformen zumindest in den St. Galler Urkunden, mehrfach aber auch darüber hinaus, höchst selten und in einigen Fällen sogar ausschließlich in diesen beiden Urkunden bezeugt ist, b) zahlreiche Namen zumindest in dieser Schreibweise nur oder nahezu ausschließlich in diesen Urkunden begegnen, wenngleich die zugehörigen Lemmata häufiger vorkommen. c) Die Befunde werfen darüber hinaus die Frage auf, ob einige Namen spezifische Hörigennamen sind, doch reicht das Vergleichsmaterial für eine Klärung dieses Problems noch nicht aus. Die Namenlisten sind folglich in weiten Teilen singulär und fügen sich nur zum Teil in die alemannische Namenlandschaft ein. 76 Vgl. Anm. 73. 77 Zum Problem und zu Parallelbefunden vgl. Goetz (1995, 262-270). 78 Vgl. Kuchenbuch (1978); zur Patrilokalität Kuchenbuch (1978, 87). Zu ähnlichen Beobachtungen an Hufenbäuerinnen als 'Besitzerinnen' vgl. Goetz (1995, 251ff.) mit weiteren Beobachtungen zu Frauen in St. Galler Urkunden und anderen Quellen aus der Grundherrschaft. Romanische Personennamen in Willmandingen? 233 5 Ergebnis Insgesamt zeigt sich demnach, dass die Mancipien-Listen - und zwar weithin im Gegensatz zu den Zeugenlisten und sonstigen Namen - von zwei Phänomenen geprägt sind: zum einen durch die sowohl lautliche als auch graphische Konservierung archaischer Formen in germanischen Personennamen; zum andern, wie oben dargelegt, durch verschiedene graphische wie lautliche Romanisierungen, von denen die Letzteren nur zum geringen Teil auf den romanischen Schreiber zurückgehen können: 79 Diese Besonderheiten treten nun auffälligerweise im St. Galler Umkreis und wohl im gesamten alemannischen Raum nur bei den in den behandelten Urkunden bezeugten Namen auf. Wir haben demnach hier anscheinend einen für diesen Raum exzeptionellen Namen- und Formenbestand von altertümlichem und romanischem Charakter vor uns. Archaische Schreibungen weisen auch einige der sonstigen (vor allem der Zeugen-) Namen auf, für die wohl der Schreiber verantwortlich zu machen ist, während eine Romanisierung hier nur noch in einem Fall vorkommt. Damit findet sich in überraschender Weise mitten im alemannischen Kerngebiet eine Personengruppe lebendiger oder doch noch nicht allzu weit zurückliegender sprachlicher Romanität und romanischer Namentradition, die deutlich überwiegend der Hörigenschicht zuzurechnen ist, der interessanterweise aber auch der priesterliche Schreiber angehört. Ob sich das auf Willmandingen beschränkt, ist nicht auszumachen, da die Urkunde über die einzig nahe gelegenen Orte mit St. Galler Besitz in Undingen und Genkingen wie auch die Lorscher Urkunden dieses Raumes keine Mancipien-Listen aufweisen. Der recht deutliche sprachwissenschaftliche Befund ist geschichtswissenschaftlich allerdings kaum eindeutig zu interpretieren. Er weist in jedem Fall aber auf eine alemannisch-romanische Mischbevölkerung in einem offensichtlich bilingualen Umfeld in einem ansonsten durchweg als „alemannisch“ einzustufenden Raum hin. Ob sich die beiden Bevölkerungsgruppen im späteren 8. Jahrhundert noch anderweitig als sprachlich unterschieden, lässt sich kaum sagen. Doch hat hier eine offenbar romanische Bevölkerung - zumindest teilweise - ihre sprachlichen Traditionen im (etymologisch weitgehend germanischen) Namengut bewahrt. Dass es sich dabei um eine ausschließlich bäuerliche und unterbäuerliche Hörigenschicht handelt, ist zweifellos bemerkenswert. Da aus dem Ortsbereich Willmandingen eine provinzialrömische Siedlung bekannt ist, 80 ließe sich zunächst an Reste der provinzialrömischen Bevölkerung denken, die hier, inzwischen als Hörige eines wohl alemannischen Adligen, romanische Traditionen bewahrt hätten. Angesichts des 79 Während Dannenbauer (1975, 107) die mancipia dieser Urkunden für „Leute, die ihr Herr aus dem Westen, aus Gallien hierher verpflanzt hat“, hielt, meinte Löffler (1977, 475f.) - freilich ohne systematische Analyse - „die seltsame Lautgestalt der Namen“ eher auf „den Schreibgebrauch des Urkundenschreibers“ zurückführen zu müssen. 80 Vgl. Quast (2006, 332) (im Südosten des Ortes in der Flur „Bettburg“). Wolfgang Haubrichs/ Hans-Werner Goetz 234 völligen Ausfalls von erhaltenen romanischen Ortsnamen - wie es für die ganz anders strukturierten romanischen Kontinuitätsinseln um Trier, Metz, Basel, Salzburg und in Tirol charakteristisch ist - erscheint eine solche Deutung jedoch recht unwahrscheinlich. Die an den Namen der Willmandinger mancipia erhobenen sprachlichen Befunde gehören zudem einer jüngeren Schicht an und haben ihre Parallelen (auch in der Romanisierung germanischer Namen) überwiegend in anderen romanischen Landschaften des Westens und des Südens. Es gilt also dem Gedanken nahezutreten, dass es sich hier um Gruppen handelt, die erst spät aus romanischen Landschaften - woher auch immer - transferiert wurden. Toponymische Anzeichen solcher späten Romanensiedlungen dürften mit ahd. *Walaha- 'Romanen' und dem späten Grundwort -stetten komponierte Siedlungsnamen - z.B. Ödenwaldstetten, Gde. Hohenstein, Kr. Reutlingen (a. 1137/ 38 Walhstetin) und evtl. † Wallenstetten, Gde. Gundelfingen, ebd. (a. 1560 Wallstetten, Flurname Walenstetten) - darstellen (Reichardt 1983, 99f. u. 135f.). Einschlägige Forschungen informieren inzwischen recht gut über die alemannisch-italienischen personalen Beziehungen und Zuwanderungen in der Karolingerzeit: 81 in Bezug auf die fränkische Amtsträgerschicht in Italien (vgl. bereits Hlawitschka 1960), die Gebetsverbrüderungen (vgl. Ludwig 1999) und neuerdings, doch mit dem Schwerpunkt auf der Ottonenzeit, die Notare und sonstigen Personen am Königshof (vgl. zur Diplomatik Huschner 2003). Die bäuerlichen Unterschichten sind auf diese Aspekte bislang noch kaum untersucht worden. Möglicherweise eröffnet sich hier ein neues Arbeitsfeld. 82 Der vorliegende Beitrag sollte in diesem Sinne zeigen, dass interdisziplinäre Namenforschung, in der die Verfasser seit langem mit dem Jubilar zusammenwirken durften, neue Fragen und neue Perspektiven aufwirft. 5 Bibliographie Borgolte, Michael (1978): Chronologische Studien an den alemannischen Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen. In: Archiv für Diplomatik 24, 54-202. Borgolte, Michael (1984): Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit. Sigmaringen (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 31). Borgolte, Michael (1986): Kommentar zu Ausstellungsdaten, Actum- und Güterorten der älteren St. Galler Urkunden (Wartmann I und II mit Nachträgen in III und IV). In: Borgolte, Michael/ Geuenich, Dieter/ Schmid, Karl [Hrsg.]: Subsidia Sangallensia I. 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Sie ist noch heute mit ihrer Einmündung ins Naabtal unmittelbar südlich der Ortskirche St. Martin als Hohlweg mit einem tief und breit in den anstehenden Eisensandstein (Dogger Beta) hohlgefahrenen „Tor“ zu erkennen. Sie erreichte von Westen, vorbei an der Einöde Richthof, durch das breite Trockental des Premberger Grundes das Naabtal. Doch ist Prembergs mittelalterliche Fernverkehrsbedeutung nicht nur durch den oben genannten Fernweg gekennzeichnet, der jenseits der Naabfurt, vorbei an Teublitz über Bruck/ Opf. und durch die Cham-Furth-Neumarker Senke nach Böhmen zog, sondern auch durch eine Nord-Süd-Altstraße, welche die genannte West-Ost-Route hier kreuzte, ebenfalls die Naabfurt nutzte und über die Hochflächen des südlichen Oberpfälzer Bruchschollenlandes zur Donau bei Regensburg weiterführte. Neben dieser Nord-Süd-Landroute diente die Naab parallel dazu als Wasserweg. 1 Für klärende und hilfreiche Gespräche danke ich sehr herzlich Herrn Kollegen Peter Schmid (Prof. f. bayer. Landesgeschichte, Universität Regensburg), Herrn Oberarchivrat Dr. Artur Dirmeier (Spitalarchiv Regensburg), Herrn Dipl.-Bibl. Robert Münster (Universitätsbibliothek Regensburg) und Herrn Dr. Heinrich Wanderwitz (Leiter d. Stadtarchivs Regensburg). Dietrich Jürgen Manske 242 Der nördliche Abschnitt der angesprochenen Nord-Süd-Route zwischen Premberg und Pittersberg westlich Schwandorf wurde bereits 1987, die Altstraßenkreuzung an der Premberger Naabfurt 2005 kartiert und beschrieben. Der exakte Verlauf des Abschnitts südlich Premberg sowie die Einordnung seiner zeitlichen Nutzung soll im Folgenden dargelegt werden. 2 Das Nord-Süd-Trassen-System zwischen Premberg und Regensburg Unmittelbar nach der Furt biegt die Trasse nach Süden ab und führt im Bogen nach Saltendorf (s. Abb. 1). Hier steigt sie steil in einem breiten und tiefen Hohlweg auf die Hochfläche des südlichen Oberpfälzer Bruchschollenlandes hinauf, wobei die beiderseits anstehenden Malmkalke oberhalb des Ortes in ausgedehnten Brüchen abgebaut worden sind. Der Abtransport der gebrochenen Kalke hat sicherlich die breite und tiefe Hohlwegkerbe mit verursacht, kann aber infolge von Werksstraßenbau in der Kerbe nicht für die ganze Eintiefung derselben verantwortlich gemacht werden. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 243 Abb. 1(a-b): „Castra Regina“ und Regensburg im frühen Nord-Süd-Fernwegenetz von der Römerzeit bis zum Bau der Steinernen Brücke (1135). Kartengrundlage: Topogr. Karte 1 : 25.000, Blätter: 6738 Burglengenfeld, 6837 Kallmünz, 6838 Regenstauf, 6968 Regensburg (Entwurf: D.J. Manske/ Kartographie. H. Kneidl). Nach Erreichen der Hochfläche zieht die Trasse als offensichtlich auch heute noch genutzter Schotter- und Flurweg durch angrenzende Felder und einen Waldstreifen nach Süden. Unmittelbar vor einer Aufforstung (Bruchgebiet des ehemaligen Braunkohle- und Tonabbaus westlich Maxhütte-Haidhof/ Ponholz) gabelt sie sich. Ein Ast führt deutlich erkennbar in das Bruchgebiet hinein, verliert sich aber rasch in den Aufschüttungen, lief aber vermutlich infolge zunehmend feuchteren Untergrundes in weitem Bogen auf den Weiler Roding südöstlich Burglengenfeld zu, wobei er in den heute asphaltierten Ortsverbindungsweg von Maxhütte-Haidhof nach Roding mündete. Der andere Ast bog vor dem Aufforstungsgebiet nach Südwesten in Richtung Haugsdorf ab, querte dort die lokale Straße Maxhütte-Haidhof - Burglen- Dietrich Jürgen Manske 244 genfeld und zog in leichtem Bogen nach Roding. Während der Abschnitt bis Haugsdorf heute nur noch als Trampelpfad von Spaziergängern frequentiert wird, dient die Strecke bis Roding als Schotterweg aktuell dem örtlichen Verkehr. Am südlichen Ortsende zweigt die Trasse von einem nach Holzheim leitenden Waldweg ab und führt über eine leichte Anhöhe von Feldern begleitet in ein Feuchtgebiet mit mehreren Teichen. Sie quert dieses über einen breiten Damm, kreuzt unmittelbar danach die Bundesstraße 15 und zieht durch den östlichen Forstbezirk Raffa, an mehreren Stellen durch zwei bis vier bzw. vier bis fünf Hohlwegspuren bei geringem Gefälle bzw. Anstieg dokumentiert, an der Einöde Engelsbrunn vorbei nach Pirkensee. Durch Pirkensee (Herrschaftsort) schlängelt sie sich, heute als Ortsweg ausgebaut, und verlässt als „Irlbrünner Weg“ den Ort in südlicher Richtung, parallel zur Bahnlinie Schwandorf - Regensburg. Vermutlich durch den Bahnbau in ihrer ursprünglichen Führung beeinträchtigt, führt sie zu einem Zufluss des Diesenbaches, den sie mittels einer Betonbrücke (früher vermutlich in einer Furt) überquert. Unmittelbar nach dem Bach gabelt sich die Trasse. Während der östliche Zweig über einen leichten Anstieg die Generalrichtung beibehält, sich aber in einem frisch gepflügten Acker verliert, zieht der andere in südwestlicher Richtung den Hang hinauf und führt östlich der Einöde Irlbrünnel über die Ortsverbindungsstraße Kürnberg - Oberhub hinweg ins Degelholz. Durch Oberhub, einen großen Einödhof mit intensiver Geflügelhaltung, ist der Trassenast von Norden her in den angrenzenden Feldern zu erkennen, dient aber heute nur noch als Zufahrt zum Ackerland. Doch ist er neben der asphaltierten Zufahrt zur Staatsstraße Regenstauf - Buchlohe als aufgelassener Feldweg mit Baumreihe und Büschen sowie Flurkreuz gut zu erkennen. Die Trasse kreuzt, durch die neue Zufahrt nach Oberhub und Flurbereinigungsmaßnahmen leicht nach Westen versetzt, die genannte Staatsstraße und zieht geradewegs durch den Weiler Ferneichelberg auf die Hochfläche hinauf. Durch einen schmalen Waldsaum hindurch quert sie die weite Talmulde zwischen Wieden und Lintach, wobei sie in dem Abschnitt nur noch als Feldzufahrt von Wieden aus dient. Südöstlich Wieden ist sie als Höhenweg auf dem schmalen Hochflächenfirst zwischen der breiten Talmulde nördlich Eitlbrunn und dem tief eingeschnittenen Regental erhalten und offensichtlich auch noch genutzt (streckenweise sogar geteert). Auf dem Höhenriedel durchläuft sie den Kleinweiler „Hochstraß“ und quert beim Weiler Kühthal die Straße Regenstauf - Eitlbrunn. In südöstlicher Richtung ist sie als Höhenweg unter Wald gut bis zum tiefen Geländeeinschnitt für die Trasse der Autobahn A 93 zu erkennen. Zwar ist sie durch den Autobahnbau zerstört, doch ist sie jenseits der Autobahn in einem etwas überwachsenen, aber durch Baum- und Buschreihe gut markierten Feldweg, vorbei an dem Wohnausbaugebiet „Riesen“ noch erhalten. Sie zieht weiter zur westlichen Regentalkante, nach Regendorf hinunter, unmittelbar am steilen Talhang auf der alten Dorfstraße entlang, quert das kleine Trockental Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 245 südlich Regendorf und steigt, in mehreren Spuren sichtbar, den Otterberg hinauf. Offensichtlich zog sie auf der Hochfläche zum Benberg. Doch ist dieses Stück durch den Autobahnbau zerstört. Jedoch ziehen vom Benberg, parallel zur Autobahn, mehrere Fahrrinnen auf den Benhof (Einzelhof) zu und münden in die heutige Straße von Regendorf nach Lorenzen. Auch wenn der Abschnitt zwischen Otterberg und Benhof nur noch in Resten vorhanden ist, dürfte er die alte Trasse repräsentieren, da die heutige Talstraße nach Regendorf wohl im Mittelalter wegen einer Engstelle zwischen dem Steilhang und einem an der Stelle dicht heranführenden Regenmäander für Fuhrwerke problematisch gewesen sein dürfte. Man wich bei derartigen Engstellen lieber auf höheres Gebiet aus. Südlich des Benhofes erreichte die Trasse Lorenzen, zog über die alte Dorfstraße über Pielmühle, Lappersdorf und erreichte auf der Regen- Niederterrasse Steinweg. 2.1 Charakterisierung der Trasse als Höhenweg Vor allem der direkte Steilanstieg durch den sehr tiefen und breiten Hohlweg bei Saltendorf auf die Hochfläche des südlichen Oberpfälzer Bruchschollenlandes, ebenso der nahezu geradlinige Aufstieg bei Ferneichelberg auf den schmalen Höhenrücken zwischen dem breiten Muldental bei Eitlbrunn und dem beachtlich einerodierten Regental sowie der konsequente Verlauf auf diesem, ursprünglich bis Riesen-Regendorf sind klare Eigenschaften von mehr oder weniger geradlinig verlaufenden alten Fernwegen bzw. Altstraßen. Hinzu kommt, dass derartige Wege nur selten zwischen den Ausgangs- und Zielorten größere Ortschaften berührten. Umwege wurden möglichst vermieden, es sei denn, man war auf eine bestimmte Furt oder Fähre zur Überquerung eines größeren Flusses angewiesen, wie hier bei der Donau in Regensburg oder der Naabfurt bei Premberg. Erst als seit Ende des 13./ Anfang des 14. Jahrhunderts Städte und Märkte entstanden und die Stadt- und Grundherren aus dem Fernverkehr und dem Handel Einnahmen erzielten, wurde der Verkehr von den alten, direkten Höhenrouten in die Siedlungen umgelenkt. Aus dieser Zeit dürfte der Umweg unserer Trasse über den Herrschaftsmarkt Teublitz resultieren. 2.2 Verzweigungen, Alternativrouten Wie bei allen bedeutenden Altstraßensystemen gibt es auch bei der Nord- Süd-Straße Parallelspuren, welche streckenweise von der Haupttrasse abzweigen. So führte eine derartige Abzweigung von der Premberger Furt zusammen mit der für 805 belegten Altstraße von Franken nach Böhmen über Teublitz. Von hier zog die Trasse in einen breiten und sehr tiefen Hohlweg, der über die Hochfläche noch heute nach Wölland (Burglengenfeld) weitergeht (Ackerlandzufahrt). Kurz vor Erreichen der Hochfläche Dietrich Jürgen Manske 246 zweigt von dem Feldweg ein von Büschen und Bäumen überwachsener, nicht mehr genutzter Hohlweg (zwei tiefe Fahrrinnen) in südwestlicher Richtung ab und zieht als Flur- und Waldweg zur Haupttrasse, in die er am Südende eines kleinen west-ost-verlaufenden Waldstreifens einmündet. Diese Abzweigroute dürfte - wie bereits erwähnt - eine jüngere Trasse sein und im Zusammenhang mit einem Bedeutungszuwachs des Herrschafts- und Hofmarkortes Teublitz im 13. bzw. 14. Jahrhundert zu sehen sein, wenn sie nicht Teil einer Trasse auf der Ostseite des Naabtales ist. Eine zweite, offensichtlich alternative Route stellt der „Irlbrünnlweg“ nach der oben genannten Betonbrücke über den Zufluss zum Diesenbach dar. Sie führt auf schwerem Lehmboden östlich am Einzelhof Irlbrünnl vorbei ins Degelholz, wo sie am leichten Anstieg am Südende durch drei bis vier Fahrspuren und jüngeren Aufschüttungen gegen das Einsinken der Fuhrwerke erkennbar ist. Vom Degelholz zieht sie durch die Ackerflur hinauf nach Eichlberg und mündet bei Reingrub (Flurkreuz) in die heutige Straße von Richterskeller nach Eitlbrunn, die ein alter Verbindungsweg von Burglengenfeld durch den Raffa-Forst über den Forstwegknoten Eichbuch, Richterskeller und Eitlbrunn ist. Von Eitlbrunn aus zog die Altstraße - nun zusammen mit dem Weg von Burglengenfeld - nicht wie die heutige Straße nach Osten, sondern geradewegs durch die Siedlung Loch, den leicht geneigten Hang hinauf, am Gutsbetrieb südlich Loch vorbei, zum Weiler Holz, den sie durchquerte. Bei zwei großen Laubbäumen mündete sie in die gegenwärtige Ortsverbindungsstraße Eitlbrunn - Lorenzen. Südlich Holz zieht sie mit der heutigen Straße durch das breite Waldgebiet zwischen den Kleinweilern Aschach und Ziegelhütte, an mehreren Geländean- und -abstiegen durch zahlreiche, z.T. sehr tiefe sowie breite Fahrspurrinnen dokumentiert (s. Abb. 1) hindurch nach Lorenzen. Den Ort durchläuft sie auf der alten Zufahrtsstraße zum Kirchplatz, heute durch Wohnhäuser flankiert. Doch ist die ursprüngliche Breite der Wegtrasse noch gut an der kleinen, straßenparallelen Grünanlage zu erkennen. Beide, die Grünanlage und die asphaltierte Straße, möglicherweise einschließlich der angrenzenden Haus- und Gartengrundstücke, sind die ehemalige Altstraßentrasse. Am Kirchplatz von Lorenzen mündet die Alternativroute gemeinsam mit der von Burglengenfeld in die Haupttrasse in Richtung Regensburg ein. Natürlich ist darauf zu verweisen, dass die Spurendokumente im Forstbezirk zwischen Aschach und Ziegelhütte wohl zum größeren Teil der bei Reingrub nördlich Eitelbrunn einmündenden Route aus Burglengenfeld über Richterskeller zuzurechnen sind, vor allem seit der Zeit, als Burglengenfeld wittelsbachisches Vitztumamt geworden war. Dennoch lässt sich die Alternativroute über Irlbrünnl - Eichelberg im Gelände deutlich nachweisen. Sie dürfte vor allem nach längeren Trockenperioden bzw. bei Frost im Winter benutzt worden sein. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 247 2.3 Typische Altstraßenbegleiter Entlang der beschriebenen Trassen findet man die für mittelalterliche Fernwege typischen Wegbegleiter. So steht unmittelbar neben dem Steilaufstieg bei Saltendorf eine Marienkirche, die zwar frisch renoviert ist, aber vermutlich auf eine ältere Kirche oder Kapelle mit gleichem Patrozinium zurückzuführen ist. An der Zusammenmündung der Hauptmit der Alternativtrasse in Lorenzen steht, etwas erhöht, die dem Ort namengebende St. Laurentiuskirche, neben dem Marienpatrozinium ein an Fernwegen häufig zu findendes Patrozinium, beispielsweise die St. Lorenzkirche in Nürnberg am Ausgang der mittelalterlichen Lorenzerstadt. In Altbayern bringt G. Diepolder (n. Auer 1999, 39) die Laurentiusverehrung mit der spätrömischen Periode in Verbindung. Auer weist für seinen Untersuchungsraum auf das bemerkenswerte Nebeneinander von Laurentiuskirchen an oder in nächster Nähe von Altstraßen hin und bringt dafür eine Reihe von Beispielen. Die räumliche Nähe von Lorenzen zum römischen Castrum könnte somit durchaus in diesen Kontext passen und im Zusammenhang mit der Nord-Süd-Altstraße auf ein hohes Alter hinweisen. Weiter begleiten Haupt- und Alternativroute eine Reihe von Feld- und Flurkreuzen, z.B. bei Oberhub, entlang des Höhenriedels zwischen Wieden und dem Einschnitt für die A 93 (s. Abb. 1), oberhalb des Weilers Holz etc. Gemauerte „Marterln“ weisen unmittelbar nördlich und südlich Roding auf den richtigen Weiterweg hin. Schließlich ist der Name des Weilers „Hochstraß“, durch den die Haupttrasse zieht, ein eindeutiger Hinweis auf einen alten Höhenfernweg. Auch die beiden alten, hohen Laubbäume südlich Holz an der Einmündung der Alternativroute in die Ortsverbindungsstraße Eitelbrunn - Lorenzen könnten Orientierungsfunktion besessen haben (vgl. Manske 2000). 2.4 Ein archäologischer Beleg für eine frühe Siedlung an der Nord-Süd- Haupttrasse Thomas Fischer berichtet 1981 in den Mitteilungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, Band 121, von einem Siedlungsfund aus der zweiten Hälfte des zweiten bis ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts n. Chr. beim Benhof nordnordöstlich Lorenzen. Beim Bau der Autobahn A 93 und der Ortsverbindungsstraße nach Regendorf hatte man diese Siedlungsreste entdeckt. Dazu fanden sich bei den Notgrabungen weitere Gegenstände, welche ins frühe bis hohe Mittelalter (karolingisch-ottonische Zeit) eingeordnet wurden. Bemerkenswert ist diese Entdeckung einerseits deshalb, weil vom Benberg nördlich des Benhofes die Haupttrasse der Nord-Süd-Altstraße genau auf den Bauernhof zuläuft, andererseits, weil die Funde an der Stelle eine Siedlung exakt um die Zeit der Errichtung des römischen Kastells (179 n. Dietrich Jürgen Manske 248 Chr.) belegen und offensichtlich sogar eine Siedlungskontinuität in die karolingisch-ottonische Zeit besteht. Der Nord-Süd-Fernweg führte somit wohl an diesem alten Siedlungsplatz vorbei in Richtung Lorenzen. Ohne den archäologischen Beleg zu sehr „strapazieren“ zu wollen, ist die Nähe oder Lage dieses alten Siedelplatzes an der Altstraßentrasse für deren frühe Existenz sicherlich von Bedeutung. Dies wird durch die Kombination mit den bereits oben dargelegten Indizien (Patrozinien, „Hochstraß“ u.a.) bestärkt. 2.5 Warum weichen früh- und hochmittelalterliche Fernwege vom gegenwärtigen Straßennetz signifikant ab? Diese Frage ergibt sich, vergleicht man das mittelalterliche Fernwegemit dem heutigen Fernstraßennetz. Hier bietet sich ein Vergleich des bisher behandelten Altstraßenverlaufs mit dem der modernen Bundesstraße 15 an. Die alte Nord-Süd-Straße zieht zwischen Regensburg und Premberg mehr oder weniger geradlinig als Hochstraße über die Hochfläche, wobei alle größeren Siedlungen gemieden werden. Die bestimmenden topographischen Faktoren für ihre Verlaufsrichtung sind einzig und allein die Flussübergangsmöglichkeiten bei Regensburg über die Donau und bei Premberg über die Naab. Dies gilt auch für ihre Fortsetzung nördlich Premberg bis nach Haselbach-Pittersberg westlich von Schwandorf. Da Reisen über Land bis ins 13. Jahrhundert zu Fuß, per Pferd oder für den Lastverkehr per Karawane durchgeführt wurden, spielten Steilanstiege keine hindernde Rolle. Entscheidend war ein möglichst rasches Fortkommen ohne Zeitverlust durch Umwege. Erst mit der Verbreitung des Karren- und Wagentransports seit Beginn des 13. Jahrhunderts werden derartige Steilauf- und -abstiegstrassen problematisch. Doch sind bis dahin die Haupttrassen der Fernrouten längst festgelegt, so dass ein Ausweichen wie beim Anstieg bei Saltendorf oder beim Schelmengraben in Regensburg nicht möglich ist. Hier spielt dann die Tagesleistung eines Gespanns eine wesentliche Rolle. Denn bei maximal 15 bis 25 Kilometern pro Tag bedeutete ein Umweg von vier bis fünf Kilometern die Verminderung der Tagesleistung um 20 bis 25%. Andererseits werden Ende des 13., vor allem während des 14. bis ins beginnende 15. Jahrhundert viele Kleinstädte und Märkte in Ostbayern gegründet. Händler und Kaufleute können hier ihre Waren anbieten, Stadt- und Grundherren sind an Maut- und Zinseinnahmen interessiert und bemüht, den Verkehr von den Höhenwegen in die Städte und Märkte umzuleiten. Daraus ergibt sich ein völlig neues Straßennetz, welches Städte und Märkte miteinander verbindet. Der Kurs der Bundesstraße 15 ist dafür im Vergleich mit der alten Höhenfernstraße ein gutes Beispiel. Die neue Straße verbindet von Regensburg aus Regenstauf mit Burglengenfeld, Teublitz, über Klardorf mit Schwandorf, Schwarzenfeld, Nabburg, Pfreimd, Luhe und Weiden usw. Flussüberquerungen, Straßenführung durch feuchtes Gelände etc. werden nun in Kauf genommen, was man früher möglichst vermied. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 249 Folgerichtig werden die alten Höhenstraßen mehr und mehr verlassen, wenn auch nicht ganz aufgegeben. Sie dienen nun als Transportwege für besondere Zwecke, z.B. als Viehtrift großer Herden, etwa zwischen Pilsen und Nürnberg über Bischofteinitz/ Horšovsky Tyn, Eslarn/ Schönsee (vgl. List 2006) oder als Poststraßen im 17. und 18. Jahrhundert (ohne Behinderung durch den allgemeinen Verkehr, s. Manske 1999), aber auch am Rande der Gesellschaft stehenden Gruppen (Zigeuner, Bettler etc.), die auf solchen Wegen Maut- und Abgabenzahlungen vermieden. So geraten die Höhenfernwege allmählich in Vergessenheit, zumal im 19. Jahrhundert mit dem Eisenbahnbau ein völlig neues Verkehrsnetz entsteht. Wesentlicher Faktor bei der Trassenfindung sind nun geringe Steigungen. Täler und Niederungen bestimmen die Linienführungen, auch wenn Umwege in Kauf genommen werden müssen, die aber durch die höhere Geschwindigkeit des Verkehrsmittels Eisenbahn wettgemacht werden können. 3 Das Nord-Süd-Altstraßensystem in der einschlägigen Literatur Sieht man die einschlägige Literatur nach Hinweisen auf das Nord-Süd- Altstraßensystem durch, so findet man vor allem in den geschichtlichen Darstellungen über den Raum Regensburg außer allgemeinen Bemerkungen zur von Natur aus günstigen Situation des Raumes durch den Zusammenfluss von Donau, Naab, Regen und Schwarzer Laaber so gut wie nichts. Auch die etwas älteren archäologischen Darstellungen (vgl. dazu Torbrügge 1958) bleiben sehr allgemein oder lehnen frühe Verbindungen vom Raum Regensburg nach Norden sogar ab. Erst in den jüngeren archäologischen Publikationen ändert sich dies. 3.1 Archäologische Beweise für einen nach Norden und Nordosten gerichteten Handel aus dem Raum Kelheim Bereits 1978 weist Manfred Moser aufgrund des spätneolithischen Plattensilexhandels aus dem Raum Kelheim (Baiersdorf, Arnhofen etc.) auf Handelswege entlang von Donau, Naab und Regen nach Böhmen, nach Norden über Thüringen bis nach Sachsen hin (Moser 1978, 53, s. dort Abb. 6), was Torbrügge (1979) als „... zu weit gegriffen ...“ bezeichnet. Doch haben die Untersuchungen von Alexander Binsteiner (2002) diesen Silexhandel über Donau, Regen-Chamb, Naab-Schwarzach/ Pfreimd bis ins Böhmische Becken nachgewiesen. Auch die Naab aufwärts in die nördliche Oberpfalz vermutet Binsteiner Handel mit der fraglichen Silexware. Diese frühen Handelswege sind ohne Zweifel, wie die Rastplatzfunde belegen, an Wasserwege gebunden, beweisen aber eindeutig das Ausgreifen des Silexhandels nach Norden, ins Böhmische Becken wie donauabwärts bis nach Ungarn. Dietrich Jürgen Manske 250 3.2 Historische und archäologische Belege für die römisch-kaiserzeitliche Phase um 179 n. Chr. Zwar sprechen Dietz, Osterhaus u.a. in ihrem, den damaligen Stand der archäologischen und historischen Erkenntnisse zum römischen Regensburg zusammenfassenden, lesenswerten Werk „Regensburg zur Römerzeit“, (Regensburg 1979), von einer Reihe sich in dem Raum kreuzenden Fernwegen auch schon in vorrömischer Zeit. Sie zählen dann aber neben dem West- Ost-Weg, der von den Römern im 3. Jahrhundert im Abschnitt östlich Passau „... via juxta amnem Danuvium ...“ genannt wird, eine Reihe weiterer Verbindungswege auf, wie den über die Niederterrasse westlich Regensburg, welcher die Donau oberhalb der Naabmündung querte und über die Albhochfläche nach Nordwesten führte. Weiter nehmen sie eine Fortsetzung eines Fernweges aus dem Raum Bad Abbach über den Ziegetsberg, vorbei an Kumpfmühl zum Weißgerbergraben und über die Donau nach Nordwesten durch den Schelmengraben in Richtung Kallmünz an. Selbst ein Weg über die Donau bei Donaustauf durch den Vorwald in Richtung Cham wird in Erwägung gezogen. Jedoch kann man dann auf Seite 69 mit Erstaunen lesen: Es „... führte von Regensburg aus kein bedeutender römischer Fernhandelsweg nach Norden ...“. Und „... Die Bedeutung Regensburgs als Handelsstützpunkt, die besonders für das zweite und dritte Jahrhundert aus dem Merkurheiligtum auf dem Ziegetsberg, aus zahlreichen Merkurinschriften ... erhellt, beruhte zweifelsfrei auf dem West-Ost-Handel ... an die Donau ...“. Es ist interessant zu sehen, dass das „Verdikt“ Torbrügges (s. unten) hinsichtlich einer frühen Bernsteinstraße durch die Oberpfalz und Regensburg nach Oberitalien 1979 noch so wirksam war, dass man jeglichen Gedanken an eine - sei sie nun bedeutend oder weniger bedeutend - aber in jedem Fall vorhandene Nord-Süd-Fernstraße beiseite schob. 3.3 Regensburg im Fernstraßennetz während der karolingischottonischen Zeit In Peter Schmids „Regensburg, Stadt der Könige und Herzöge im Mittelalter“ (1977) findet man keinen direkten Hinweis auf eine Königsstraße, die von Norden nach bzw. aus Regensburg nach Norden führt. Dafür weist er zahlreiche „Königs- und Reichsstraßen“ nach, die aus südwestlicher, südlicher, südöstlicher, nordwestlicher Richtung, ja sogar aus nordöstlicher Richtung (Böhmen) nach Regensburg führen. Grundlage für Schmid sind die königlichen Itinerare, Urkunden mit Angabe des Ausstellungsortes und andere geschichtliche Belege. Andererseits weist er einleitend daraufhin, dass Naab und Regen im Mittelalter schiffbare Flüsse waren und „... die Donau und ihre Nebenflüsse ... bei Regensburg natürliche Verkehrswege nach allen Seiten (öffneten) ...“ (ebd., 3, Fußnote 6). Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 251 Im Anhang seines Werkes von 1977 bringt Schmid eine Zusammenstellung der Reisewege der Könige von und nach Regensburg. Überraschenderweise werden hier eine Reihe von Ortschaften auf der möglichen Reiseroute von und nach Regensburg aufgeführt, für die das vorgestellte Nord-Süd- Fernstraßensystem durchaus als Trasse denkbar ist. Im Folgenden seien einige Beispiele angeführt. Vom 4. April bis 28. Juli 844 hält sich Ludwig der Deutsche in Regensburg auf. Im gleichen Jahr ist er am 15. September in Roding westlich Cham. Da Ludwig im Oktober des gleichen Jahres in Diedenhofen (Nordfrankreich) nachweisbar und am 28. Oktober bereits wieder in Regensburg zurück ist, muss der König ein beachtliches Tempo auf einer möglichst direkten Strecke vorgelegt haben. Da ich annehme, dass er von Roding nicht den Umweg über Regensburg eingeschlagen hat, bietet sich die östliche Fortsetzung der 805 im Diedenhofener Capitulare Karls d. Großen genannten bzw. von A. Dollacker 1919 erschlossenen Route bis Premberg und weiter über Teublitz, Fischbach, Bruck/ Opf. über Roding nach Böhmen an. Von Premberg führte die Trasse weiter über den Raum Schmidmühlen, Lauterhofen, über die Alb nach Hersbruck und über das Albvorland nach Forchheim. Ab Forchheim gab es zwei Möglichkeiten: Entweder zog Ludwig durch das Rednitztal nach Bamberg und von dort per Schiff mainabwärts oder über den Steigerwald zum Main, wo er vermutlich ab Kitzingen oder Würzburg per Schiff mainabwärts, rheinabwärts und moselaufwärts sein Ziel erreichte. Für den Rückweg nach Regensburg hätten ihm den Main aufwärts bis Marktbreit/ Kitzingen eine etwas südlicher verlaufende Altstraße über Neustadt a.d. Aisch, Fürth, den Raum Neumarkt/ Opf., Velburg entweder über Dinau, Kallmünz und das südliche Oberpfälzer Bruchschollenland bzw. per Schiff die Naab abwärts oder zusätzlich eine weiter südlich verlaufende Trasse zur Verfügung gestanden. Ein zweites Beispiel: 929 zieht Heinrich I. von Prag vermutlich auf der direkten Strecke über Pilsen, Bischofteinitz (Horšovsky Tyn), Eslarn nach Nabburg, wo er sich am 30. Juni aufhält. Von dort reist er weiter nach Quedlinburg, wo er am 16. September 929 nachweisbar ist. Zwar erlaubt die große Zeitspanne zwischen dem 30. Juni und dem 16. September durchaus den offensichtlich von Schmid favorisierten Umweg über Forchheim, doch könnte auch der viel kürzere Weg auf dem Nord-Süd-Altweg über den Raum Marktredwitz/ Eger zur fränkischen Saale, flussabwärts bis Bernburg und von dort über Land nach Quedlinburg in Frage gekommen sein. Es ließen sich weitere Beispiele für die Nutzung der vorgestellten Nord- Süd-Trasse anführen, beispielsweise die Reise Otto I. von Regensburg nach Magdeburg im Jahre 960 oder Heinrichs III. Reise von Flarchheim (27. Januar 1080) bei Mühlhausen (Sachsen) nach Regensburg, wo er sich im Februar 1080 aufhielt. Fehlen mir für diese Überlegungen auch die erforderlichen historischen Belege, ganz von der Hand zu weisen sind sie ob der vorhandenen Trassen im Gelände nicht. Dietrich Jürgen Manske 252 3.4 Heimatkundliche Literatur zur Nord-Süd-Altstraße 3.4.1 Der Beitrag von Franz Stark Stark (Oberpfälzer Heimat 22, 1978) berichtet auf Seite 8 von einem angeblichen Heereszug des Domitius Ahenobarbus im 7. oder 2. Jahrhundert v. Chr. an die Elbe, der seiner Meinung nach durch das Naabtal geführt haben muss. 2 Er bezieht sich dabei u.a. auf Westermanns Großen Atlas zur Weltgeschichte (1969, 24, Fußnote 1). Weiter sieht er auf der Grundlage von Theodor Steche (1937) für die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. eine Handelsstraße, welche von Regensburg aus durch das Naabtal über den Raum Eger nach Mitteldeutschland und in die Wismarer Bucht geführt haben soll. Stark vermutet sogar im Verlaufe des Naabtales saisonal besetzte Stützpunkte römischer Kaufleute, so genannte „emporia“, deren griechische Namen er aber nicht lokalisieren kann. Als Grundlage für die ptolemäischen Ortsangaben dienten wohl Itinerare römischer Kaufleute, welche nördlich des Limes Handelsreisen unternommen haben. Walter Torbrügge (1979, 218, Fußnote 895) äußert sich dazu knapp ablehnend. Sollte Steches Interpretation möglicherweise doch zutreffen, wäre nach Stark „... Mit diesem Weg im Naabtal ... zum ersten Mal die große Nord-Süd-Verkehrsachse der Oberpfalz urkundlich belegt ...“. Allerdings gibt Stark für seine Hypothesen keinerlei Geländebefunde oder Trassenspuren an, sondern seine topographische Verortung bleibt bei der vagen Nennung „... im Naabtal ...“. 3.4.2 Michael Hardts Trassen der Magdeburger und Bernsteinstraße Am ausführlichsten und zumindest teilweise auf archivalischen Belegen wie auf Trassenspuren im Gelände basierend beschreibt Michael Hardt 1957 in der Oberpfälzer Heimat dieses Nord-Süd-Altstraßensystem (s. Abb. 2). 2 Nach Brockhaus, 20., überarb. Ausg., Stichwort „Domitius“, führte der römische Feldherr Lucius Domitius Ahenobarbus während der Regierungszeit Kaiser Augustus‘ in der Zeit um Christi Geburt von der Provinz Illyricum einen Feldzug durch Germanien, wobei er als einziger römischer Feldherr über die Elbe nach Norden vordrang. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 253 Abb. 2: „Magdeburger und Bernsteinstraße“ (Hardt 1957, 83). Hardt stützt sich für seine Untersuchungen über die Magdeburger Straße und die Bernsteinstraße, vor allem hinsichtlich Letzterer (s. Abb. 3), auf das Buch von Karl Schuchardt „Vorgeschichte von Deutschland“, welches in der 3. Auflage im Oldenburgverlag 1935 erschienen ist. Dieser wiederum beruft sich auf den schwedischen Archäologen und Kulturhistoriker Oscar Montelius, der bereits für die Zeit etwa um 2000 v. Chr. einen alten Handelsweg von Nord- und Ostsee zum Mittelmeer rekonstruieren zu können glaubt. Sein Bernsteinweg führte elbeauf- und elsteraufwärts in den Raum Adorf- Asch im Egerland über das Gebiet von Arzberg-Marktredwitz ins obere Naabtal und dieses abwärts nach Regensburg. Von dort beschreibt er ihn donauabwärts bis Passau, dann innaufwärts und zum Brenner sowie etschabwärts zur Adria. 3 3 S. dazu „Bärnstenvägar“. In: Fornordisk Lexikon, Södertälje 1995. Dietrich Jürgen Manske 254 Abb. 3: „Bernsteinstraßen nach C. Schuchardt und R. Hennig“ 1935 (Hardt 1957, 91). Schuchardt ergänzte diese, wie er feststellt, älteste Route durch eine Alternativstrecke ins Böhmische Becken und moldauaufwärts über den Bayerischen Wald nach Passau, wo sie wieder in die über Naab und Donau führende Trasse einmündet. Weiter fügt er eine westliche Route von der Elbe zum Rhein bis Koblenz, moselaufwärts zur Saone und das Rhonetal abwärts zum Mittelmeer hinzu. Die dritte Route, seiner Meinung nach die jüngste, führte von der Ostsee weichselaufwärts über die Mährische Pforte, Carnuntum, das Becken von Ljubljana, über den Pass von Postojna nach Triest. Torbrügge lehnt 1979 eine frühbronzezeitliche Handelsstraße, die Route I, ab mit der Begründung, dass die bayerische Streckenführung in den Raum Kelheim (? ) nicht belegt werden kann und die Bernsteinfunde im fraglichen Bereich erst „... aus der mittleren Bronze- und Hallstattzeit sichtbar ...“ würden (ebd., 218, Fußnoten 894 u. 896). Bereits 1958 und 1959 hatte sich Torbrügge gegen die Existenz des von Richard Hennig und Carl Schuchardt beschriebenen frühbronzezeitlichen Handelswegs mit der Begründung ausgesprochen, dass mittel- und norddeutsche Funde in der Oberpfalz fehlten und die „... Dürftigkeit der Bernsteinvorkommen entlang der angeblichen oberpfälzischen Strecke gegen seine Existenz ...“ sprächen (1958, 35), schränkte aber gleichzeitig ein, dass Kontakte über die Pässe im Norden und Nordosten durchaus möglich wären, man aber über die tatsächliche Begehung nichts wisse. Damit wird Hardts Bernsteinstraße vom Fachmann abgelehnt, die Magdeburger Straße beiläufig ins späte Mittelalter gerückt. Dies führte dazu, dass sich niemand mehr ernsthaft mit einer eventuellen Bernsteinstraße durch die Oberpfalz beschäftigt hat, sieht man von Adolf Gütter in seinem Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 255 Beitrag für den Historischen Verein für Oberfranken 2000 ab, der sich aber ebenfalls auf Montelius bezieht und keine neueren Belege etc. vorlegt. Doch ganz so einfach kann man Hardts Beitrag zu einer Nord-Süd- Altstraße durch die Oberpfalz nicht beiseitelegen. Denn einmal bringt er als Novum eine zweite Nord-Süd-Route ins Spiel, die er, relativ gut nachvollziehbar, auf topographische Punkte/ Orte fixiert und sie z.T. durch archivalische Belege, vor allem aber durch eine Reihe von Spuren im Gelände festzulegen versucht. Er ist damit neben Dollacker 1938 der erste Bearbeiter, der nicht nur vage das Naabtal als Route angibt, sondern von Regensburg aus nach Norden zwei deutlich verortbare Trassen beschreibt. Seine Magdeburger wie die Bernstein-Straße zieht von Regensburg durch den Schelmengraben auf die Hochfläche des Oberpfälzer Bruchschollenlandes bei Kareth. Beide laufen auf derselben Trasse nach Nordwesten in Richtung Kallmünz. Vor dem Naabübergang trennt er beide Trassen. Während die Magdeburger Straße durch das Naabtal östlich des Flusses über Burglengenfeld, Teublitz nach Schwandorf zieht, läuft die Bernsteinstraße nach Überwindung der Naab ins Vilstal hinein und linksseitig talaufwärts in den Raum Amberg. Von dort biegt sie etwas auf die Höhen östlich der Vils ab und zieht über Höhengau, Gebenbach, wohl parallel oder auf der Trasse der heutigen Bundesstraße 299 nach Freihung, Grafenwöhr, östlich am Rauhen Kulm vorbei, nach Kemnath. Hier kreuzten sich offensichtlich eine ganze Reihe alter Fernweg, zumindest im Mittelalter, wie Reinhard Seitz (1971, 103) aufgrund alter Geleitrechte festgestellt hat. Weiter zog die Trasse zwischen Steinwald und Fichtelgebirge hindurch in Richtung Wunsiedel, wo sie nach Abb. 2 mit einem westlichen Seitenast der Magdeburger Straße zusammentraf und in Richtung Hof weiterführte. Letztere querte nach seiner Skizze (s. Abb. 2) bei Schwandorf und bei Nabburg jeweils die Naab und zog dann linksseitig den Fluss entlang bzw. am Talrand über Pfreimd, Luhe nach Neustadt a.d. Waldnaab. Für den Abschnitt zwischen Luhe und Neustadt a.d. Waldnaab gibt er ohne Nennung der Quelle oder eines Beleges die Bezeichnung „Magdeburger Straße“ an. Sie zieht dann im Naabtal (? ) nach Falkenberg und von dort mit einem scharfen Knick in Richtung des östlich gelegenen Tirschenreuth. Hier ändert sich nach Hardt wiederum die Richtung um mehr als 90° gegen Mitterteich, von wo ein Ast über Marktredwitz zur Bernsteinstraße bei Wunsiedel, der andere durch die Naab-Wondreb-Senke und Waldsassen in den Raum Eger zielte. Für Hardt verließ sein doppelter Nord-Süd-Fernweg Regensburg über den Schelmengraben in nordwestlicher Richtung, wobei er sich beim älteren Bernsteinweg, wie bereits gezeigt, auf Schuchardt (1935) bezog. Warum er aber dann seinen Bernsteinweg entgegen der Beschreibung bei Schuchardt wie seiner eigenen Skizze (s. Abb. 2) durch das Vilstal über Amberg, Grafenwöhr nach Kemnath laufen lässt und nicht wie nach seiner Literaturgrundlage auf ganzer Länge durch das Naabtal, muss offen bleiben. Dietrich Jürgen Manske 256 Auch beim Verlauf seiner Magdeburger Straße gibt es für einen Fernweg eine Reihe von Ungereimtheiten. Dies betrifft einmal den Verlauf der Altstraße zwischen Kallmünz und Tirschenreuth permanent im Naabtal, wenn man bedenkt, dass der ganze Lastverkehr bis weit ins 13. Jahrhundert hinein mit Saumtieren abgewickelt worden ist (s. Schönfeld 1973), mit denen man problemlos über Pässe und Höhenrücken reisen konnte, weniger gut durch versumpfte und mit Aue- und Bruchwald bestandene Täler. Sodann fällt auf, dass Hardt den Fernweg bei Schwandorf und bei Nabburg den Fluss queren lässt, was für Altstraßen auf so kurzer Strecke ungewöhnlich ist. Bei Nabburg könnte eine Rolle spielen, dass hier eine alte Fernstraße aus Mittelfranken die Nord-Süd-Straße kreuzte und zugleich die unmittelbar an der Naab liegende Magazinkirche St. Nikolaus (vgl. Sturm 1971) die Möglichkeit des Umschlages auf bzw. vom Schiff andeutet. Denn St. Nikolaus ist bis ins 13. Jahrhundert der Schutzpatron der Schiffsleute, Händler und Reisenden. Sein Patrozinium deutet in der Regel auf alte Fernhandelswege hin. 4 Gänzlich unverständlich aber ist der von Hardt angegebene Verlauf zwischen Neustadt a.d. Waldnaab und Tirschenreuth. Das tief eingeschnittene, windungsreiche Waldnaabtal kam als Fernhandelsstrasse, der Fluss als Schiffsweg nicht in Frage. Eine Routenführung nach Tirschenreuth über die wellige Hochfläche des Niederen Oberpfälzer Waldes, z.B. über Schönficht- Lengfeld, dürfte sich angeboten haben, wenn nicht generell eine andere Trasse zwischen Neustadt und Mitterteich wahrscheinlicher gewesen wäre. So bleiben bei aller Wertschätzung der Arbeit von Hardt eine Reihe von Ungereimtheiten, die bei seinen Routen nicht in das typische Bild alter Fernwege aus der Zeit vor dem 13. Jahrhundert passen. 4 Gibt es für Hardts Bernsteinstraße Geländespuren? Auch wenn Torbrügge den frühbronzezeitlichen Bernsteinweg nach Hardt aus wissenschaftlichen Gründen, wohl ohne Geländekenntnisse, ablehnt, auf der Strecke zwischen Schelmengraben und Kallmünz findet man ausreichend Spuren und Indizien, welche zumindest eine mittelalterliche Altstraße dokumentieren. Abb. 1 zeigt, vom Schelmengraben selbst gar nicht zu reden, zwischen Kareth und Kallmünz parallel zur heutigen Staatsstraße einen Höhenweg, der an verschiedenen Geländeanstiegen durch zahlreiche, die heutige Straße begleitende, z.T. tiefe und breite Spurrinnen sichtbar ist. Nördlich Schwaighausen sind es insgesamt bis zu 20 alte Fahrrinnen, südöstlich Dornau/ Irnhüll bis zu 14. Da die gegenwärtige, breite Straße in beiden Fällen zwischen den alten Fahrrinnen verläuft, muss man sie in voller Breite zum Altstraßenband rechnen, was bei ca. 7,50 Meter Breite in jedem Fall nochmals bis zu fünf Fahrspuren ergibt. Der tief und breit eingerissene 4 Erst ab dem 13. Jahrhundert übernimmt St. Jakob der Ältere diese Funktion. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 257 Schelmengraben als Aufstiegs- und Abfahrtsspur ins bzw. aus dem Donautal wie das breite, heute durch mehrere Sportplätze genutzte Zufahrtsband ins Naabtal südöstlich Kallmünz belegen beachtliche mittelalterliche Verkehrsfrequenz. Auch diese Altstraße wird von einer Reihe von Flurkreuzen und Kapellen begleitet. Ein besonderes Indiz für einen stark frequentierten Fernweg ist der südlich Kallmünz quer zur Fahrtrichtung sich erstreckende Kalkriegel, der ehemals den Galgen trug und um den die Trasse auf beiden Seiten ins Naabtal zieht. Somit lässt sich die bei Hardt zwischen Regensburg und Kallmünz eingetragene Altstraßentrasse im Gelände durch Spuren und begleitende Indizien belegen. Schwieriger ist es, sowohl die Fortsetzung der Magdeburger Straße im Naabtal nach Burglengenfeld und Teublitz wie seine Bernsteinstraße entlang der östlichen Talflanke des Vilstales nachzuvollziehen. In beiden Fällen hat der moderne Straßenbau eventuell vorhandene Spuren verwischt. Im Falle der Magdeburger Straße ließ sich Hardt vermutlich von den Ausgrabungen von Armin Stroh im Raum Fischbach-Schirndorf leiten; bei seiner Führung der Bernsteinstraße auf der östlichen Vilstalseite muss man ob der gerade zwischen Kallmünz und Dietldorf sehr schmalen und engen Talflanke Zweifel an einer derartigen Trassenführung haben. Hier sollte, hat es eine derartige Trasse gegeben, wohl besser auf den das Vilstal begleitenden Hochflächen gesucht werden. 4.1 Die Fortsetzung der Trasse westlich Kallmünz über die Hochfläche und eine Abzweigung nach Westen Der Markt Kallmünz (334 m üb. NN) umschließt den steil aufragenden Burgbergsporn, der den Ort um 110 Meter überragt. Bereits im auslaufenden Vilstal gabelt sich die Marktstraße. Während ein Ast im Tal in die heutige Talsstraße in Richtung Schmidmühlen-Amberg einmündet, überquert der andere die Vils sowie die moderne Umgehungsstraße und zieht, zunächst von typischen Straßenhäusler-Anwesen begleitet, die am oberen Ende in eine kleine junge Siedlung übergehen, mit ziemlicher Steigung den Westhang des Vilstales in einer Trockentalkerbe zu einem schmalen Absatz hinauf. Der Name der schmalen Straße lautet: „Alte Dinauer Straße“. Demnach handelt es sich um den alten Ortsverbindungsweg von Kallmünz zum westlich auf der Albhochfläche gelegenen Dorf Dinau, der auch in der entsprechenden Topographischen Karte 1 : 25.000 mit mehreren Serpentinen eingetragen ist. Neben den Serpentinen finden sich im vom Fuchsberg im Norden und vom Weitzenberg im Süden begrenzten „Hühnerloch“ neun bis zehn sehr tiefe und breite Fahrrinnen, die eine direkte alte Zufahrt auf die Hochfläche belegen und entlang eines Wald- und Feldweges, mehrmals durch alte Fahrspuren etwa im schmalen Waldstück nördlich Dallackenried (sechs bis sieben) zu erkennen, nach Dinau führen. Vorbei an Oberwahrberg, Haus- Dietrich Jürgen Manske 258 raitenbuch, Graswang, Rackendorf, Holzheim führte die Trasse über den Raum Altenvelburg/ Velburg nach Nordwesten in Richtung Altdorf bei Nürnberg (s. Manske 2000). Von dieser Trasse zweigt im oben erwähnten Gelände-Absatz unterhalb des „Hühnerloches“, aber auch oberhalb desselben je eine Route nach Norden ab, die parallel zum Vilstal verläuft. Die untere zieht in einem beachtlichen Steilanstieg durch vier bis fünf Spuren belegt auf die Hochfläche hinauf und führt als Waldweg durch zwei, an einzelnen Stellen durch drei Fahrspuren zu erkennen nach Norden. Die durchs „Hühnerloch“ und oberhalb desselben nach Norden abbiegende Trasse mündet nach etwa einem Kilometer in die vorher beschriebene Trasse ein. Am Erzberg vorbei führen beide nach Rohrbach hinunter, wo sie den Forellenbach kurz vor seiner Einmündung in die Vils queren. Von hier gibt es Fahrspuren über den Haunberg zur Wüstung Haundorf bzw. durch den Kesselgraben (Trockental), welche durch den Truppenübungsplatz Hohenfels-Nainhof nach Schmidmühlen führen. Den Markt erreichen sie von Südwesten her. Eine genaue Kartierung der Trassen innerhalb des Truppenübungsplatzes war nicht möglich. Den weiteren Verlauf der Nord-Süd-Trasse habe ich 1985 im Band 11 der Schriftenreihe der Universität Regensburg weiter über Amberg, den „Süßer Berg“, Adlholz in Richtung Vilseck, Grafenwöhr beschrieben. Somit existierte neben dem Vils-Wasserweg sehr wohl ein mittlalterlicher Landfernweg von Kallmünz aus nach Norden, der zwar nicht - wie Hardt angenommen hat - im Vilstal, sondern parallel zu ihm über die westlich angrenzende Albhochfläche bis Amberg, sodann über den Riedel zwischen Vils und Gebenbach zur mittelalterlichen „Verkehrsdrehscheibe“ „Süßer Berg“ und weiter über Adlholz nach Norden führte. Bleibt die Frage, ob es sich bei dieser Nordtrasse tatsächlich um die von Hardt angenommene bronzezeitliche Bernsteinstraße gehandelt haben kann. 4.2 Trasse Schelmengraben - Kallmünz, Verkehrsbündelung von zwei Altstraßen Das mittelalterliche bis frühneuzeitliche Fernverkehrsaufkommen resultierte neben dem lokalen Verkehrsaufkommen aus zwei verschiedenen Quell- und Zielrichtungen: dem aus dem Mittelfränkischen Becken und dem aus Mittel- und Norddeutschland, vermutlich über Magdeburg. Erst westlich Kallmünz trennten sich beide Routen. Eine Gewichtung bzw. Abschätzung, welche Route den größeren oder kleineren Anteil am Verkehrsaufkommen auf der gemeinsamen Trasse zwischen Kallmünz und Regensburg hatte, ist nur aufgrund der vorhandenen Indizien und Fahrspuren im Gelände nicht möglich. Entscheidend ist, dass beide Richtungen nachzuweisen sind. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 259 5 Die Fortsetzung beider Nord-Süd-Teilsysteme nach Norden bis zur Mittelgebirgsschwelle Für die Weiterführung der beiden Teilsysteme nach Norden ist man derzeit auf die vorhandene Literatur angewiesen. Die folgende Beschreibung kann daher nur in groben Zügen erfolgen und muss zudem als vorläufig und sicherlich verbesserungsbedürftig bezeichnet werden. Reinhard Seitz nennt in seinem Beitrag über Kemnath (1971, 103) auf der Basis einer Geleitrechtsbeschreibung aus dem Jahre 1497 eine Route, welche von Amberg über Gebenbach, Freihung, Grafenwöhr, Pressath die Stadt Kemnath erreicht. An der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert waren die alten Höhenwege längst durch Ortsverbindungswege ersetzt worden, vor allem wenn Städte und Märkte ins Verkehrsnetz einbezogen werden sollten. Die in dem Geleitrecht beschriebene Trasse dürfte daher zwischen Amberg und Kemnath nur noch teilweise mit dem von mir 1985 aufgezeigten Höhenweg identisch gewesen sein. Andererseits gab es von Kemnath über Brand und Nagel ein Geleitrecht nach Wunsiedel, welches auf einen ehemaligen Fernweg nach Norden hinweisen könnte, wie er von Hardt in Anlehnung an Schuchardt angenommen worden ist. Er dürfte über den Raum Hof zur fränkischen Saale, mit dem Saaletal zur Elbe und über den Raum Magdeburg zur Nord- und Ostsee geführt haben. Ebenso hypothetisch ist die Ergänzung des östlichen Teilsystems nach Norden. Hardt lässt seine Magdeburger Straße nach Überquerung der Naab bei Nabburg auf der östlichen Talseite nach Norden verlaufen. Durch das enge Durchbruchstal im Naabgebirge erreicht sie Luhe. An Weiden vorbei zieht sie über Pischeldorf, Pirk, Schirmitz, vorbei an Almesbach durch Edelsdorf, offensichtlich wieder im Naabtal irgendwie nach Neustadt a.d. Waldnaab. Für diesen Abschnitt nennt er ohne Angabe eines Beleges die Bezeichnung „Magdeburger Straße“; auch ihre zeitliche Einordnung lässt er offen (ebd., 86). Inwieweit diese Trasse wirklich im östlichen System der Nord- Süd-Straße der älteste Zweig ist, muss offen bleiben. Denn einmal ist das Naabtal zwischen Pfreimd und Luhe sehr eng, was gegen einen Verlauf des Fernweges im Tal spricht und eher einen Verlauf über die wellig-kuppige Hochfläche des Niederen Oberpfälzer Waldes erwarten ließe. Sodann weist Ernst Gagel 1966 auf eine Nord-Süd verlaufende Altstraße hin, welche westlich der Altstadt Weidens, angeblich von Rothenstadt kommend, nach Norden in Richtung Altenstadt vorbeizieht, wobei an der Kreuzung einer aus dem Raum Pressath kommenden Altstraße bis 1575 eine Nikolauskirche gestanden haben soll. Dieses Schutzheiligenpatrozinium weist für beide Fernwege auf ein hohes Alter vor dem 13. Jahrhundert hin. Außerdem sollte die Nord-Süd-Altstraße, vorausgesetzt meine Kartierungen bis Pittersberg - wiederum mit einer Nikolauskirche - stimmen, mehr oder minder geradewegs von Nabburg aus über das Naabgebirge nach Norden weiterziehen. Eine Einmündung in die von Gagel erwähnte Altstraße bei Rothenstadt wäre dabei durchaus denkbar. Für Gagels Altstraße sprä- Dietrich Jürgen Manske 260 che sogar, theoretisch aufgrund der Topographischen Karte 1 : 100.000, Blatt C 6338, Weiden, eine Fortsetzung, überwiegend als Höhenweg über Windisch-Eschenbach, Bernstein, Friedenfels, vorbei an Ruine Weißenstein über den Plößbergpass in Richtung Marktredwitz oder Wunsiedel. Schuchardt und Hardt schlagen zudem eine Route über den Raum Eger, Asch, Adorf und weiter in nördliche Richtung vor. Schließlich bringt der begeisterte Altstraßenforscher und Rechtsanwalt, Franz Flammersberger, eine Fortsetzung der östlichen Nord-Süd-Trasse von Pittersberg über den Buchberg und Schnaittenbach als Diskussionsbeitrag ein, wobei er Burgstall und so genannte Keltenschanze am Buchberg als Indizien einbezieht und seine Route mutig als „Bernsteinstraße“ bezeichnet. Vorläufige Zusammenfassung Beide Teilsysteme, das westliche über den Raum Amberg wie das östliche über den Raum Nabburg, führten nach Norden weiter, wie und auf welchen Trassen müssen eingehende Geländeuntersuchungen klären. Andererseits zeigt das Zusammenlaufen beider Teilsysteme sowohl im Norden in Richtung fränkische Saale wie im Süden bei Regensburg, dass es sich um ein einziges großes Nord-Süd-System handelt, welches auf den verschiedenen Teilrouten offensichtlich abwechselnd zu unterschiedlichen Zeiten benutzt wurde, wie dies bei allen mehrtrassigen mittelalterlichen Altstraßensystemen der Fall war (s. Manske 1978, 42). Damit entfällt aber der Disput darüber, welches der Teilsysteme eventuell Bernstein-, welches die Magdeburger Straße sein könnte. Beide gehören zum gleichen Nord- Süd-System, das möglicherweise bereits als Weg für den Bernsteinhandel, sicher aber für den mittelalterlichen Nord-Süd-Handel über Magdeburg genutzt worden ist. Erhebt sich nur noch die Frage, ob beide Teilsysteme gleichzeitig, nacheinander oder wiederholt in Nutzung waren. Aufgrund des derzeitigen Standes der archäologischen wie historischen Forschung neige ich dazu, das östliche als das ältere anzusehen (s. Manske 2005). Dafür spricht, dass die Flüsse selbst als älteste Verkehrswege genutzt wurden, wie gezeigt werden konnte. Außerdem war die Naab gegenüber der Vils in jedem Fall der wasserreichere Fluss und konnte möglicherweise schon ab Altenstadt, später eventuell ab Weiden, in jedem Falle aber ab Nabburg als Transportweg genutzt werden. Zudem tritt Nabburg (929) früher ins Licht der Geschichte als Amberg (1040), wobei in den ältesten Belegen zwar von einem West-Ost- Weg berichtet wird, nicht aber von einem Nord-Süd-Weg (s. Sturm 1959). Andererseits weist die Magazinkirche St. Nikolaus in Nabburg-Venedig, unmittelbar am Fluss gelegen, auf einen Wasser-Land-Umschlag und umgekehrt hin und damit indirekt auf einen Nord-Süd-Fernweg, zumindest von Nabburg aus flussabwärts. All dies spricht zumindest derzeit dafür, dass das östliche Land-Wasser-Fernwegsystem wohl als das ältere anzusprechen Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 261 ist. Doch kann damit keinesfalls ausgesagt werden, dass der westliche Fernweg vor 1040 unbekannt und ungenutzt gewesen sei. Warum sich dann in späterer Zeit offensichtlich der Nord-Süd-Verkehr auf das westliche Teilsystem über Amberg verlagert hat, kann nicht beantwortet werden. Vermutungen zu dieser Frage wurden 2005 ausgesprochen, können aber nur als Hypothese gewertet werden . 6 Stadtamhof und Regensburg im Nord-Süd-Fernweg-System 6.1 Der Zugang der Trasse zum Donaunordufer Auf dem aktuellen Stadtplan von Regensburg, auf dem Stadtamhof durch den Bau des Main-Donau-Kanals über das ehemalige Gelände des Protzenweihers heute auf einer Insel liegt, muss man sehr genau das Straßennetz betrachten, um Reste bzw. Anzeichen der ehemaligen Nord-Süd-Trasse zum nördlichen Donauufer zu erkennen. Sieht man sich den fraglichen Bereich zwischen Steinweg und Stadtamhof genau an, so entdeckt man offensichtliche, durch Baumaßnahmen (Main-Donau-Kanal, Frankenstraße) unterbrochene Straßenabschnitte, welche früher möglicherweise miteinander verbunden waren (s. Abb. 4). Beispielsweise setzt die Bäckergasse an der Schwandorfer Straße und der Reinhausener Brücke an und führt geradewegs, durch die Frankenstraße unterbrochen, auf den Main-Donau-Kanal zu, vor dem sie heute im rechten Winkel nach Westen abbiegt. Genau gegenüber ergibt sich das gleiche Bild. Die Seifensiedergasse führt unmittelbar am St. Mang-Komplex vorbei zum Kanal und biegt heute exakt gegenüber der Bäckergasse ebenfalls nach Westen ab. Vor den oben genannten Baumaßnahmen dürften daher Bäcker- und Seifensiedergasse miteinander verbunden gewesen sein und die Trasse der Nord-Süd-Straße zum nördlichen Donauufer gebildet haben, wobei man sich durch die derzeitige Schmalheit beider Straßen nicht täuschen lassen darf. Dietrich Jürgen Manske 262 Abb. 4: Stadtplan Regensburg (Ausschnitt aus: Stadt Regensburg, Amtl. Stadtplan 1995, 9. Aufl.). Diese Situation zeigt der Ausschnitt aus einer Federzeichnung von Hans Georg Bahre aus dem Jahre 1614 (s. Abb. 5). Dort zieht, parallel zur Zufahrt zum nördlichen Marktplatztor von Stadtamhof ein relativ breiter Fahrweg zu einem Platz zwischen dem Kloster St. Mang und einem großen Gebäude, möglicherweise dem ehemaligen Urfahrhof (s. Dirmeier 2002). Von dort bestand wohl entweder über die Wassergasse (s. Abb. 5) oder östlich des großen Gebäudes Zugang zur Donau über die heutige Salzgasse. Mit Hilfe einer Fähre erreichte man von hier aus das südliche Donauufer unterhalb der Porta Praetoria des Römerlagers. Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 263 Abb. 5: Einmündung des N-S-Fernweges in Stadtamhof östlich des St. Mang- Komplexes (Ausschnitt Federzeichnung v. Hans Georg Bahre 1614, Stadtarchiv Regensburg). Ganz ähnliche Überlegungen über eine Zufahrt nach Stadtamhof von Norden her bringt Diethard Schmid (1981, 409ff.) zum Ausdruck (s. Abb. 6). In seiner Karte 1 „Stadtamhof um 1100“ zieht eine Wegtrasse von Norden aus dem Regental mit einem doppelten Straßenbogen im Bereich des Steinweg- Reinhausener Brückenkopfes in südliche Richtung über das Gebiet des östlichen Protzenweihers an der östlichen Flanke des St. Mang-Komplexes vor- Dietrich Jürgen Manske 264 bei zur Wassergasse. Auch vom Schelmengraben vermutet er eine Zufahrt über den westlichen Bereich des Protzenweihers auf St. Mang zu. Ich halte einen solchen Verbindungsweg für durchaus realistisch, da wohl kaum angenommen werden kann, dass es innerhalb einer Strecke von knapp 600 Metern zwei größere, leistungsfähige Fähren zu dieser Zeit über die Donau zwischen Stadtamhof und Regensburg gegeben hat. Zudem wäre ein Fährübergang für Lastverkehr in Höhe des Weißgerbergrabens über den Oberen Wöhrd nur mit zwei Fahrzeugen über den nördlichen und den südlichen Donauarm zu bewältigen gewesen. Abb. 6: Vermuteter Verlauf je einer Trasse aus dem Regental und vom Schelmengraben zum Donau-Nordufer (Schmid 1981, 180, Karte 1). Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 265 Der bei Schmid (1981) zwischen der Einmündung der Bäckergasse über die östliche Schwandorfer zur Lappersdorfer Straße führende doppelte Wegbogen dürfte dem heutigen Straßenverlauf nachempfunden sein, zumal Schmid offensichtlich mehr die Richtung nach Böhmen über die Reinhausener Brücke im Blick hatte. Ursprünglich dürfte der Nord-Süd-Fernweg über die Bäckergasse hinaus nach Norden über den südlichen der beiden Sportplätze zur Lappersdorfer Straße verlaufen sein (kommunale Flächen gehen oft auf Altstraßentrassen zurück, s. Manske 2000). Diese Situation zeigt sehr schön der „Fahrweg nach Regendorf“ auf dem „Plan von Regensburg mit seinen Umgebungen im Jahre 1829“, bearbeitet im Topographischen Bureau des Königlich bayerischen Generalquartiermeister Stabs (s. Abb. 7). Dieser Fahrweg rechts des Regens läuft von Norden geradewegs auf den Brückenkopf der Reinhausener Brücke zu, überquert die Zufahrt und mündet, die östliche Flutmulde (Protzenweiher) querend, entlang der Ostflanke von St. Mang in den Straßenknoten aus Seifensiedergasse, Andreasstraße und Wassergasse. Die ehemalige Donauüberquerung vor der Existenz der Steinernen Brücke ist auf dem Plan nicht mehr zu erkennen. Dietrich Jürgen Manske 266 Abb. 7 (a-b): „Plan von Regensburg mit seiner Umgebung im Jahre 1829“ (Auschnitt aus Dietz u.a. 1979, Planbeilage). 6.2 Die Straßensituation im Umfeld des Römerkastells Nach archäologischer wie historischer Darstellung diente das Kumpfmühler einschließlich eines eventuellen zweiten Kastells gleicher Größe im Bereich der späteren, westlichen „Canabae“ der Beobachtung und Sicherung des Nahraumes im engeren Donaubogen (s. Waldherr 2005). Größe und Lage beider Befestigungen lassen im Gegensatz zur Absicherung des Donauübergangs bei Straubing gegen die Stallwanger bzw. Kinsach-Senke darauf schließen, dass die Römer zunächst die Gefährlichkeit der Zugangsmöglichkeiten in die Regensburger Bucht von Norden her unterschätzt haben. Mög- Regensburgs Lage im Nord-Süd-Altstraßensystem der Oberpfalz 267 licherweise hielten sie die von Süden im Bereich des heutigen Weißgerbergrabens die Donau erreichende Straße für die bedeutendere. Für die Beobachtung und Kontrolle des Handelsverkehrs über den Schelmengraben nach Nordwesten hielten sie zumindest zunächst die beiden Kastelle für ausreichend. Dass dies ein Irrtum war, darauf weisen die wohl mindestens seit 166/ 167 laufenden Planungen und Vorarbeiten für ein großes Militärlager hin. Doch mussten sie den Irrtum zunächst 170 n. Chr. beim Markomanneneinfall mit dem Verlust der beiden Kastelle in Kumpfmühl wie dem vermuteten im Bereich der späteren „Canabae“ sowie des Handwerker- und Händlerdorfes entlang der Straße zur Donau bezahlen (s. Dietz et al. 1979). Die rasche Antwort auf dieses Dilemma war der Bau des „castrum“ über dem Donausüdufer genau gegenüber der Einmündung der Nord-Süd- Straße auf dem Donaunordufer. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass das Nordtor des massiven Militärlagers genau auf die Nord-Süd-Straße auf dem gegenüberliegenden Ufer blickte. Mit diesem Bollwerk sollte ein für allemal dieser gefährliche Zugang an der Nordgrenze des Imperiums kontrolliert und gegebenenfalls blockiert werden. Das eindrucksvolle Castrum verfehlte seine psychologische Wirkung auf die nördlich der Donau lebenden Germanenstämme nicht. Denn wie die Historiker belegen (s. Dietz et al. 1979), kehrte nach 179 n. Chr. wohl für über 60 Jahre im Raum Regensburg Ruhe ein, während es an anderen Stellen der Staatsgrenze immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. Erst die Alamanneneinfälle 233 und 242 bis 245 beendeten diese Ruhephase, wobei auch das Kastell in Mitleidenschaft gezogen worden ist (s. ebd.). Ursprünglich, nach Fertigstellung des Militärlagers, mündete die Verbindung über die Donau genau unterhalb der „Porta Praetoria“. Schließlich war die Kontrolle und eventuelle Sperrung des Übergangs die Aufgabe der neuen römischen Festung. Doch ist schwer vorstellbar, dass der gesamte Verkehr auf Dauer durch das Militär-Camp floss, auch während der folgenden ruhigen Zeitphase, in der sich die Handelsbeziehungen normalisierten und wohl auch zunahmen. So darf man wohl annehmen, dass nach einiger Zeit der Handelsverkehr vor der Nordmauer des Kastells entweder nach Westen durch die „Canabae“ oder nach Osten zwischen der Ostmauer mit Graben und der östlichen „Canabae“, welche nicht direkt an die Ostmauer anschloss, hindurch nach Süden umgelenkt worden ist. Hierauf lässt die breite Zwischenzone zwischen Ostmauer und östlicher „Canabae“ mit einer Reihe von Plätzen und aufeinanderfolgenden öffentlichen Gebäuden, aber auch Klöstern (Minoriten-, Clarakloster), Neues Rathaus, IHK-Gebäude, Claraschule etc. entlang der D-Martin-Luther-Straße schließen, deren Grundflächen, wie häufig bei öffentlichen Gebäuden und Anlagen, auf ehemaligen, breiten Altstraßentrassen errichtet worden sein könnten. Vermutlich führte auch die Fähre bald zur Nordostecke des castrums im Bereich der Eisernen Brücke und des St. Georgenplatzes. Möglicherweise Dietrich Jürgen Manske 268 könnte man hier auch den „portus saluber“ erwarten, zumal vor der Existenz der Steinernen Brücke im Bereich des heutigen Weißgerbergrabens der Donauwasserstand um bis zu 40 cm niedriger gewesen ist als heute. Die „Umleitungen“ entlang der Nordmauer nach Westen wie nach Osten mündeten schließlich in die von Johann Auer (1999) aufgezeigten römischen Straßen (s. Abb. 1), die sich auf dem genannten Plan von Regensburg und Umgebung aus dem Jahre 1829 (s. Abb. 7) nahezu vollständig, wenn auch mit verkürzter Zielrichtung wiederfinden. Hier erweist sich nördlich wie südlich der Donau eine oft verblüffende Kontinuität von Wegtrassenführungen, wenn auch heute nur noch als schmale Gassen, Feld- oder Waldwegrouten bzw. als breite Fluchten aufeinanderfolgender Plätze und öffentlicher Gebäude. 7 Ergebnis Fahrrinnenspuren im Gelände belegen sowohl für das östliche wie das westliche Nord-Süd-Teilsystem die Existenz mittelalterlicher Fernwege von bzw. nach Norden in die bzw. aus der Regensburger Bucht. Archäologische Beweise ergaben bereits für das jüngere Neolithikum Fernhandelsverbindungen entlang der Donau und ihrer Zuflüsse nach Südosten, ins Böhmische Becken, aber auch nach Thüringen und Sachsen. Da es sich bei den durch Spuren im Gelände fassbaren Altwegen generell um Höhenwege handelt, deren Trassen zusätzlich durch Kirchenpatrozinien belegt werden können, deren Verwendung in der Regel vor das 13. Jahrhundert hinweist (St. Nikolaus, St. Laurentius, z.T. auch St. Maria), dürfen die behandelten Altstraßen durch die Oberpfalz mindestens ins frühe Mittelalter, wenn nicht - wie die Siedlungsfunde beim Benhof vermuten lassen - mit aller Vorsicht in die römisch-kaiserzeitliche Phase des 2. bzw. 3. nachchristlichen Jahrhunderts datiert werden. Der Nahraum von Regensburg hat somit seit vor- und frühgeschichtlicher Zeit mit Donau und ihren Zuflüssen Naab und Regen sowie der Inselbildung in der Donau als günstige Überquerungsmöglichkeit die Fernwege aus allen Himmelsrichtungen, auch aus der nördlichen, auf sich gezogen. Vor allem aber dürfte der gefährlichen Nord-Süd-Altstraße, bezeichne man sie nun als Bernstein-, im Mittelalter als Magdeburger Straße oder einfach nur als Nord-Süd-Straße, das in der Regierungszeit Kaiser Marc Aurels errichtete „castra regina“ seine Entstehung verdanken. 8 Bibliographie Angerer, Martin/ Wanderwitz, Heinrich [Hrsg.] (1998): Regensburg im Mittelalter. 2. 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Michael Prinz Das Wort als Ort Linguistisch-geowissenschaftliche Schnittstellen 1 Einleitung „Wie unsre Erdkugel große Umwälzungen durchgangen ist, ehe sie die jetzige Gestaltung der Meere, Gebirge und Flüsse angenommen, sich aber seitdem wenig verändert hat; so gibt es auch in den Sprachen einen Punkt der vollendeten Organisation, von dem an der organische Bau, die feste Gestalt sich nicht mehr abändert.“ (Humboldt 1820/ 1994, 11) So zweifelhaft die Auffassung, die Wilhelm von Humboldt am 29. Juni des Jahres 1820 bei seiner ersten Rede vor dem Plenum der Preußischen Akademie vertrat, heute auch erscheinen mag, ihre rhetorische Einkleidung liefert einen anschaulichen Beleg dafür, dass das wissenschaftliche Räsonnement über Sprache von Beginn an anfällig für geographische Metaphern war. Die geomorphisierende Denkfigur, bei der gewissermaßen der logos als topos genommen wird, findet sich später in Hugo Schuchardts und Johannes Schmidts Anschauung der Sprache als eines bewegten Wasserspiegels und durchzieht bis zum heutigen Tag die germanistische Fachsprache - wie eine Silberader, um im Sprachspiel zu bleiben. So bezeichnet der auf einer raumdynamischen Metapher beruhende Terminus Ausbreitung gleichermaßen Konzepte der frühen Sprachgeographie 1 wie auch der rund 100 Jahre jüngeren phonologischen Merkmalsgeometrie (engl. spread). Die syntaktische Topologie (! ) und die onomasiologische Semantik gliedern Sätze bzw. lexikalische Kontinua in Felder, die Morphologie inspiziert Fugen und in der Onomastik wird die zeitliche Abfolge phasenweise produktiver Namenbildungstypen nach einem aus der geologischen Fachsprache übernommenen Konzept als Stratigraphie bezeichnet. Eine metonymische Übertragung liegt bekanntlich der Bildung hochdeutsch für die Hoch- und Mittelgebirgsidiome bzw. niederdeutsch für die Mundarten der norddeutschen Tiefebene zugrunde. Dies alles ist nicht verwunderlich, stellen Hypostasierungen doch generell ein übliches wissenschaftssprachliches Verfahren dar. 2 Zudem erscheinen die disziplinären Berührungspunkte zwischen den Geowissenschaften und einer varietätenlinguistisch verankerten Sprachwissenschaft - aus hinreichender Entfernung betrachtet - als durchaus großflächig. Beide beschäftigen sich mit der Variation ihrer physisch-materiellen bzw. immateriell- 1 Vgl. dazu Polenz (2000, Abschn. 2.1.B). 2 Vgl. etwa Keller (1994, 23f.). Michael Prinz 274 sprachlichen Gegenstände entlang der Raumdimension. Die Linguistik nennt diese raumvariable Existenzform von Sprache diatopisch, die zugeordneten Teildisziplinen Areallinguistik oder Sprachgeographie. Eine konkrete Kooperationsnotwendigkeit ergibt sich aus dem Gesagten freilich nicht (oder allenfalls im technisch-kartographischen Bereich). Sie entsteht erst dort, wo sich die Gegenstandsbereiche substanziell überschneiden: bei der Benennung geographischer Objekte und Erscheinungen, in besonderem Maß im Bereich der Toponymie. 2 Von Käfern und Bienen Allerdings findet auch auf dem Gebiet der Namen ein intensiver Dialog zwischen der Sprachwissenschaft und den Geowissenschaften kaum statt, da beide Disziplinen die jeweils andere zur Hilfswissenschaft herabzustufen pflegen. 3 In den Philologien werden geographische Informationen insbesondere für die Durchführung der so genannten Realprobe genutzt, einer im Ansatz onomasiologischen Überprüfung der Deutungshypothesen anhand der realen Gegebenheiten einer namentragenden Stelle. 4 Geowissenschaftliches Expertenwissen erleichtert dabei den Abgleich mit der außersprachlichen Wirklichkeit oder ermöglicht ihn überhaupt erst in komplexen Fällen, deren Beurteilung fachliches Spezialistentum erfordert, etwa bei der Analyse von Flurformen, Wüstungsspuren oder Altstraßentrassen (vgl. den Beitrag von Dietrich J. Manske in diesem Band). Häufig lässt sich erst über die Realien der Analyseschritt von einer durch die Namenkonstituenten bzw. deren Konstruktionsbedeutung vorgezeichneten ursprünglichen „Namenbedeutung“ hin zur spezifischen „Namendeutung“ des onymischen Einzelfalles vollziehen. 5 In der (namenlexikographischen) Praxis wird die Realprobe allerdings meist nicht systematisch, sondern sporadisch zur Affirmation etymologischer Vorannahmen genutzt. 6 Die Geowissenschaften bedienen sich der Toponymie in der Regel als eines Materialfundus, der eine vermeintlich schriftquellenunabhängige historische Abteufung des eigenen Forschungsfelds erlaubt. Namen als „Reste einer älteren und oft längst vergangenen Zeit“ (Krahe 1949, 9) kommen dabei in ganz unterschiedlichen, etwa siedlungsgeographischen 7 oder vegeta- 3 Vgl. Bauer (1995, 11). Die von Anreiter (2005, 13) postulierte Aufwertung zu „Tangentialdisziplinen“ ist bislang tatsächlich noch „Wunschgedanke“. 4 Streng genommen stellt die Realprobe einen Sonderfall der Sachuntersuchung dar, einem zentralen Baustein im Methodenfundament der allgemeinen Etymologie (Seebold 1981, § 335f.). 5 Vgl. Witkowski (1974, 322-324). 6 Gegen die von Anreiter (2005, 21) eingeforderte Präzedenz einer „präinterpretativen“ Realprobe spricht, dass sich realienkundliche Fragen häufig erst im Zuge der Beseitigung etymologischer Konkurrenzen und somit am Ende des namenanalytischen Prozesses stellen. Vgl. zudem Witkowski (1974, 330f.). 7 Z.B. Häusler (2004, 33) für die Analyse slavischer Siedlung in der Oberpfalz. Das Wort als Ort 275 tionsgeschichtlichen 8 Zusammenhängen zum Einsatz. Für das onomastische Argument wird meist ein semasiologischer Zugang gewählt, der das jeweilige Toponym als fossilisiertes Indiz für ältere natur- und kulturräumliche Zustände nutzt. Die ungefähre Reichweite einer solchen onomastischen Paläontologie hat bereits Adolf Bach ausgelotet: „Die geschichtliche Flora und Fauna einer Landschaft, ihre alten Bewohner und deren Namen, ehedem an Ort und Stelle verehrte Götter und Heilige, kommen uns aus dem Namenschatz entgegen. Die Feld-, Wald- und Viehwirtschaft der alten Zeit, ihre Techniken, ihre Schutz-, Verteidigungs- und Grenzanlagen, Einrichtungen der Verwaltung, der Rechtspflege, des Kultes und Handels, ihrer Siedlungen, Straßen, Brücken und Furten, ihr Brauchtum [...] lassen sich teilweise aus ihnen erfassen.“ (Bach 1953-1954, II § 766.2) Dass geographische Namen ältere Zustände zumindest punktuell widerspiegeln, wird man nicht ernsthaft bestreiten können. 9 Gleichwohl bleibt zu fragen, wie hoch die Präzision dieses Zugriffs sein kann. Eine zeitliche Restriktion ergibt sich bereits aus den Unwägbarkeiten der historischen Namenüberlieferung. Der Erstbeleg eines Ortsnamens bietet zwar einen Terminus ante quem für den Akt der Namengebung, der jeweilige Benennungszeitpunkt bleibt aber in der Regel vage. Angesichts der jahrhundertelangen Produktivität vieler Wortbzw. Namenbildungsmodelle endet die toponymische Rekonstruktion von Realien häufig im chronologisch Ungefähren. Hinzu kommt eine räumliche Restriktion, da längst nicht für alle geowissenschaftlich relevanten Erscheinungen eines historischen Natur- oder Kulturraums eine Benennungsnotwendigkeit bestand und überdies nicht alle Namen überliefert sind. Das aus der Toponymie rekonstruierbare Tableau bleibt somit lückenhaft und erlaubt keine repräsentative Modellierung historischer Zustände. Daneben resultiert aus der Ambiguität der Sprachzeichen auch eine sprachliche Restriktion, denn Polysemie und Homonymie können einer präzisen Ermittlung der toponymischen Konstruktionsbedeutung entgegenstehen. Eine Rekonstruktion historischer Faunen aus entsprechenden Namenkonstituenten kollidiert zum Beispiel mit der Existenz theriophorer Personennamen in vielen Sprachen. Ob demnach die Ableitungsbasis von ae. Wifelinge oder mhd. Cheferingen auf das Insekt oder eine danach benannte Person zu beziehen ist, 10 wird man von der Geläufigkeit des Käfer- Motivs im jeweiligen Personennamensystem 11 und der landschaftlich schwankenden Basispräferenz (Anthroponym oder Appellativum) des Suffixes abhängig machen und in Form einer Wahrscheinlichkeitsbewertung vortragen. Eine prinzipielle Entscheidung verbietet sich. Schließlich ergibt sich noch eine sachliche Restriktion aus der bereits angedeuteten Tatsache, dass durch den Namen oft lediglich ein relativ weiter 8 Z.B. Rüther (2003, 531-534 u. 572-581) für die Rekonstruktion früherer Waldbestände. 9 Vgl. zuletzt Greule (2005/ 2007) zu „Gewässernamen als Spiegel der Kulturlandschaft“. 10 Dazu zuletzt Gelling (1999), Fellows-Jensen (2004) und Prinz (im Druck, s.v. Köfering). 11 Für die germ. Sprachen Müller (1970, § 98). Michael Prinz 276 Bedeutungsrahmen gesetzt wird, der erst realienkundlich zu konkretisieren wäre. So wird beispielsweise aus früh bezeugten Toponymen, denen die Berufsbezeichnung Zeidler zugrunde liegt, zu Recht auf mittelalterliche Bienenhaltung am betreffenden Siedlungsplatz geschlossen. 12 Das Wort selbst reicht sicher bis in die Frühphase der hochdeutschen Überlieferung zurück, Namenbelege wie a. 880 (Orig.-Dipl.) in Zidelara oder ca. 1060 (Kop. um 1100) de Zidlarin sichern es für das Alt- und Frühmittelhochdeutsche. 13 Auch als Appellativum ist es entgegen der Darstellung der Wörterbücher 14 bereits in der ältesten Überlieferungsschicht des Althochdeutschen bezeugt. So wird a. 768 (Kop. Ende 9. Jh.) anlässlich der Schenkung eines Hildiroh an das Kloster Mondsee de cidlaron im Künziggau berichtet. 15 Entsprechende Belege zeigen noch nicht die innerparadigmatische Verallgemeinerung des anaptyktischen Vokals (nach langem Stammvokal) und deuten auf eine Basis *t þlahin. Diese ist im Deutschen sonst jedoch nur als Kompositionsglied fortgesetzt, etwa in ahd. (latinisiert) c dal-uueida ‘Zeidelweide’ 16 oder spät-mhd. zîdel-huobe, -lehen, -werc 17 . Formal sind bei z dalwie bei ahd. stadal < *staþla- oder sedal < *seþladie Formen mit silbenanlautendem / þ/ verallgemeinert (westgerm. *t .þ Nom. Akk. Sg.), sonst wäre wie in *maþla- > mahal mit / þ/ → [ ] / __ ] [l …] zu rechnen. 18 Mehrdeutig ist tîl(e)in mnd. tîl(e)b re 19 und dem erst spät bezeugten nnd. T llock ‘Flugloch des Bienen- 12 Vgl. etwa Bach (1953-1954, §§ 220d; 364). 13 MGH DD LdJ 15 und Trad. Oberalteich Nr. 1a. Weitere Belege bei Förstemann (1913- 1916, II, Sp. 1457f.). 14 BMZ III (1861, 874a) und Lexer III (1878, Sp. 1101) nennen spätmittelalterliche Belege, den ältesten aus dem bayer. Herzogsurbar von 1231/ 34: Zidelære die svlen gebin zwene eimber honigis (Heeg-Engelhart 1990, Nr. 381). Von den Wörterbüchern für die ahd. Epoche verweist Graff (V, Sp. 639) auf mlat. Urkundenbelege des 10. Jhs. („cidalariis“), zu diesen v.a. Wagner (1895, 4f.) und Mlat. WB II (1999, Sp. 573). Schade (1872-1882, II, 1255) hält das Wort für „nicht vor dem 10 Jhdt nachweisbar“. 15 Trad. Mondsee Nr. 38. 16 Zu den frühen Belegen Wagner (1895, 5-7) und Mlat. WB II (1999, Sp. 573), z.B. MGH DD H II. 3: a. 1002 Orig.-Dipl. apumque pascuis, que vulgô dicuntur cidaluueidis. Spätermittelalterlich und neuzeitlich wird darunter meist ein Waldstück mit Beuten zur Waldbienenzucht verstanden (vgl. etwa Schier 1939, 27). 17 Fernzuhalten ist dagegen das offenbar durch „volkstümliche Umdeutung“ entstandene mhd. zîdelbast ‘Seidelbast’ (übereinstimmend DWB XV [1956], Sp. 497 und Marzell II [1972], Sp. 34). 18 Zur Lautentwicklung von / þl/ zuletzt Ahd. Etym. WB II (1998, s.v. bîhal), Schaffner (2001, 244f.) und Nedoma (2004, 372-374). 19 Mnd. WB IV (1878, 542). Der vermutlich älteste Beleg findet sich im 15. Jh. in einer nd. Prosatischzucht (Wolfenbüttel, Cod. Henst. 255): Du es scalt dat margh nicht utsugen als ein tilber den vot (Schirokauer/ Thornton 1957, 21), ein weiterer in dem 1517 gedruckten „Vocabulorum rerum promptarium“, einem lat.-dt. Sachgruppenlexikon des sächsischen Geistlichen Balthasar Trochus (zu Autor und Werk zuletzt Müller 2001, 392-394). Im Kap. über die Wildtiere (scrin. I, nid. 22) wird ein zwischen lupus und lupus rabiosus gesetztes Lemma pumilio mit ein tyleber glossiert. Zwar ist die Masse der Belege aus nid. 21/ 22 hd. (getzemet wolff, tzogochze, tzege usw.), Formen wie stockrodde ‘molossus’ zeigen aber, dass mit nd. Einsprengseln zu rechnen ist (so auch Borchling/ Claussen 1931-1936, Das Wort als Ort 277 korbs’ 20 , das aber wohl die obliquen Kasus fortsetzt und damit eine Opposition westgerm. *t .þ : t .l° sichert. 21 Somit waren Kontinuanten von germ. *t þlaursprünglich weiträumig über das hoch- und niederdeutsche Gebiet verbreitet. 22 Das westlichste Zeugnis stellt wohl frz. tiè(b)le ‘Bienenstand’ in Lothringen und der Champagne dar, das auf einem aus dem Fränk. entlehnten galloroman. *tídalu beruht. 23 Einen indirekten Beleg für das Ostgerm. liefert möglicherweise frz. tilo (Westschweiz) ‘Bienenstand’, das aufgrund seiner charakteristischen Verbreitung aus dem Burgundischen stammen dürfte. 24 Strittig ist die Bedeutung von *t þla-, für das u.a. ‘Biene’ 25 , ‘Bienenschwarm’ 26 , ‘Bienenkorb’ 27 , ‘Wabe’ 28 oder ‘Honig’ 29 erwogen wurde. Heute wird ahd. z dalmeist als -tlo-Abstraktum zu idg. *de h 2 - ‘hell glänzen, scheinen’ aufgefasst, mit einer angenommenen Bedeutungsentwicklung ‘Klarheit, Glanz’ > ‘klarer Honig’. 30 Das ahd. Material weist jedoch in eine andere Nr. 604). Bei -ein der Fuge wird ein postliquider Sekundärvokal vorliegen (dazu Lasch 1914, § 220). Für den freundlichen Hinweis auf einen Familiennamenbeleg von 1420 im Stader Copiar - Item II mansi in Sustede vnum colit Henneke Swarte et aliam Johannes Tilebaer (Hodenberg 1856, 39) - habe ich Kay W. Sörensen (Universität Hamburg) zu danken; zu späteren Namenbelegen vgl. Zoder (1968, II, 723). Später ist das Wort für das Nd. weiträumig nachgewiesen: vgl. etwa Richey (1755, 307) aus Hamburg: Tyle=Baar („Was dieses f er eine Art B ren sey, ist mir unbewust“), Brem. WB V (1771, 67): Tiel- Baar, Schambach (1858, 230) aus Göttingen: tîlebër ‘Grobian, Tölpel’, Frederking (1929, 204) aus Hahlen b. Minden: Tilebeere ‘Bär, Tanzbär’ und Hamb. WB, 27. Lfg. (2004, Sp. 62): Tilebaar ‘Zeidelbär’. 20 Lüneb. WB III (1967, Sp. 410f.) und Mecklenb. WB VII (1992, Sp. 158f.). Vgl. auch Schumann (1894-1895). 21 Dagegen geht das Lüneb. WB III (1967, Sp. 410f.) von tîl- < as. *tî al aus. Zwar konnte im Mnd. intervokalisches / d/ früh schwinden (Lasch 1914, § 326). Da aber keinerlei d- Formen belegt sind (vgl. dagegen mnd. s del N. ‘Sitzen, Sitz’, sp del M. ‘Speichel’), ist wohl von tîl- < as. *tîhal (wie mnd. mâl- < as. mahal) auszugehen (so auch Holthausen 1915, 132). Allenfalls wäre noch an Entstehung aus heterosyllabischem / ° .l°/ der stimmhaften Verner-Variante zu denken wie bei frk.-lat. mallus, mallum etc. < *ma l°. 22 Die in älteren Darstellungen behauptete Beschränkung auf die östlichen Dialekte (so noch Schier 1939, 18-24) ist nicht haltbar (dazu Steinhausen 1950-1951, 245-257). 23 Zur Lautentwicklung vgl. Zipfel (1939, mit Kartierung, 309) und FEW XVII (1966, 339f.). 24 Dazu Meringer (1904, 160f.), Meyer-Lübke (1905, 412 u. 1935, Nr. 8734) und FEW XVII (1966, 340). 25 Vgl. DWB XV (1956, s.v. 2 Zeidel), zuletzt wieder bei Reitzenstein (2005, 166). 26 BMZ III, 874a. 27 DWB XV (1956, Sp. 497). 28 Müller-Fraureuth (1911-1914, II, 697). 29 Heyne (1901, 215). 30 Zuerst wohl bei Holthausen (1915, 132), inzwischen in die meisten etymologischen und enzyklopädischen Nachschlagewerke übernommen (z.B. Pokorny 1959, 184; Wanzeck 2000, 109). Das im ANBÖ II (2004, 1167) zitierte „ahd. zîdal stm. ‘Honig’“ ist allerdings frei erfunden. Eine alternative ‘Honig’-Etymologie bei Schlerath (1993, 190-192; vorsichtig zustimmend: Kluge/ Seebold 2002, s.v. Zeidler) geht irrtümlich von † t þalazu rein spekulativem *deito- ‘Nektar’ aus. Zu älteren Deutungen s. Schade (1872-1882, II, 1255f.) und Müllenhoff (1900, 25). Michael Prinz 278 Richtung: So vergleicht sich z dal-weida mit fogal-, tiorweida, mhd. rinder-, stuot- und vischweide, und ein a. 772 (Kop. 9. Jh.) bezeugter Zidalpach 31 dürfte eher ein ‘Bienen-Bach’ als ein ‘Honig-Bach’ gewesen sein. Dass dabei nicht vom einzelnen Insekt auszugehen ist, sondern von einer kollektiven Bedeutung ‘Bienenschwarm’ oder ‘Bienenvolk’, legen frz. tiè(b)le, tilo ‘Bienenstand’ und nd. T llock nahe. 32 Damit bietet sich aber eine zwanglose Anknüpfung an die Wurzel idg. *de h 1 - ‘herumwirbeln, dahinjagen’ (ved. d yati ‘fliegt, schwebt’, äol. ‘drehe [mich] im Kreis’ etc.). 33 Germ. *t þladürfte mithin am ehesten als Abstraktum *de h 1 -tlo- ‘das Herumwirbeln’ > ‘Schwarm’ aufzufassen sein. 34 Entsprechend der allgemeinen Wortbildungsbedeutung desubstantivischer - -Bildungen ergibt sich somit für ahd. z d l ri ein weiter Bedeutungsrahmen ‘der mit einem Bienenschwarm/ einem Bienenstand zu tun hat’. Über die zum Zeitpunkt der Wortbildung gebräuchliche Betriebsform der Honiggewinnung (Wald- oder Hausbienenzucht) gibt die Etymologie keine Auskunft, erst recht nicht über die konkrete Methode (mittels Baumbeute, Strohkorb, Klotzstülper etc.). In späterer Zeit erscheinen die Zeidler zwar als ein zur Waldbienenzucht berechtigter Personenkreis, 35 noch für das Frühmittelalter aber sind die Möglichkeiten einer Bedeutungsermittlung aufgrund der schlechten Beleglage stark eingeschränkt. 36 3 Namen und Orte Da Fragen nach dem genauen Wie der Honiggewinnung Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit betreffen, fallen sie eigentlich nicht mehr in die Zuständigkeit des Philologen, dem es vorrangig um die Rekonstruktion lexikalischen Wissens zu tun ist; dieses lässt sich - zumindest nach traditioneller Einschätzung - weitgehend unabhängig von den jeweils aktuellen kulturellen Konzepten ermitteln und beschreiben. 37 Nachbardisziplinen wie die Geowissenschaften sind dagegen gerade an der Hebung enzyklopädischer Wissensbestände interessiert, die kulturelle Prozesse unmittelbarer 31 Ortsname Zeitlbach im NLK Dachau (Belege bei Reitzenstein 2005, 166). 32 Die metonymische Entwicklung zu ‘Bienenstock’ dürfte früh anzusetzen sein, da für Teile der Westgermania mit ahd. imbi, ae. imb bereits eine konkurrierende Schwarmbezeichnung bezeugt ist (zu diesem: Törnqvist 1944-1945, 183-200 und Beck 1976, 514; unbrauchbar: Vennemann 1998, 474-483). 33 Zur Wurzel vgl. Pokorny (1959, 187) und LIV (2001, 107). 34 Ähnlich bereits Wood (1899, 533) und Uhlenbeck (1901, 311). 35 Vgl. Schier (1976), zu den Verhältnissen in Bayern Armbruster (1928, Kap. 7) und Schier (1939, 75f.). 36 Die häufige Gleichsetzung frühmittelalterlicher cidelarii mit Waldbienenzucht ist jedenfalls problematisch (vgl. Schier 1939, 24 u. 1976, 520). 37 Vgl. etwa Große (1977, 9), zum Verhältnis von Sprach- und Sachlexikographie Hupka (1989, 991f.), Schmidt-Wiegand (1990, 160f.) und Große (1998, 14f.). Das Wort als Ort 279 und detailgenauer widerspiegeln als die häufig stabileren, jedenfalls in ihrer Abstraktheit weniger aussagekräftigen Wortbedeutungen. Gewiss sind Eigennamen „ein Schlüssel zur Frühgeschichte“, allerdings „kein bequemer und leichtfertig zu handhabender“, wie Hans Walther (1966/ 1993, 114) zutreffend bemerkte. Zwar vermag die onomastische Paläontologie einem Natur- oder Kulturraum punktuell ein historisches Profil zu verleihen, eine areale Verallgemeinerung oder Einbettung erfordert aber ebenso wie jede konzeptuelle Präzisierung eine realienkundliche Absicherung und damit den Schritt vom Sprachzum Sachwissen. Forschungsgeschichtlich war es ein Verdienst des onomasiologischen Ansatzes, insbesondere der Forschungsrichtung „Wörter und Sachen“ 38 , die Realien stärker in das philologische Kalkül einbezogen zu haben. Im Hinblick auf die Toponymie ist ein entsprechendes Forschungsfeld „Namen und Orte“, das kaum anders als interdisziplinär organisiert werden könnte, noch ein Desiderat. Ziel einer solchen „bisher noch nicht existierenden Namenlandschaftskunde“ müsste es sein, den „Zusammenhang von Landschaft, ihrer Erkundung und Nutzung sowie sie erkundenden und nutzenden Menschen darzustellen“ (Bauer 1998, 195). Der sprachwissenschaftliche Beitrag dazu dürfte sich indes nicht in der bloßen Namenetymologie erschöpfen, sondern sollte den umfassenderen Deutungsanspruch einer funktional angelegten Namenanalyse einlösen. 39 Ihre Grenzen sind dabei ziemlich genau dort abzustecken, wo gesichertes Wissen über sprachliche Referenzmittel in Spekulationen über außersprachliche Referenzobjekte umschlägt. In der sprachlichen Domäne sollte die philologische Namenforschung allerdings offensiv die Meinungsführerschaft beanspruchen. 4 Bibliographie Ahd. etym. WB = Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. I: a-bezzisto. Hrsg. v. Lloyd, Albert L./ Springer, Otto. Göttingen 1988. II: bî-ezzo. Hrsg. v. Lloyd, Albert L./ Lühr, Rosemarie/ Springer, Otto. Göttingen/ Zürich 1998. ANBÖ = Hausner, Isolde/ Schuster, Elisabeth: Altdeutsches Namenbuch. Die Überlieferung der Ortsnamen in Österreich und Südtirol von den Anfängen bis 1200. I- II. Wien 1999-2004. 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Die Arbeit der Unwort-Jury war und ist nach wie vor auf solche disziplinübergreifende Gesichtspunkte angewiesen. Denn die Idee der Unwort- Aktion zielte von Anfang an auf eine Sprachkritik, die nicht nur mit linguistisch-fachwissenschaftlichen Argumenten operiert, sondern auch und nicht zuletzt im jährlichen Aufruf an die gesamte Sprachgemeinschaft, die in ihrer großen Mehrheit aus linguistischen Laien besteht, ein breites Spektrum sprachkritischer Einstellungen anspricht. Das bedeutet, dass in der Fülle von Unwort-Vorschlägen, die jährlich aus allen Schichten der Bevölkerung eingesandt werden, 1 höchst unterschiedliche Motive zutage treten, die aber in ihrer Gesamtheit jeweils eine Momentaufnahme von aktuell belastenden lexikalischen oder phraseologischen Kreationen, sog. Unwörtern, des öffentlichen Sprachgebrauchs bieten. Albrecht Greule hat noch 2000 - ungeachtet dieser in systematischer Hinsicht nicht unproblematischen Situation - die Unwort-Aktion in einem Aufsatz als „neue Form der Sprachkritik“ ausdrücklich verteidigt (vgl. Greule 2000). 2 Verwechslungen von Wort und Sache - auch ein politisches Phänomen Im Rahmen einer methodologischen Überlegung müssen zwei (im Übrigen immer wieder stark vertretene) Kategorien von Unwort-Vorschlägen außer 1 Seit 1991 sind über 24.000 Einsendungen mit rd. 13.700 verschiedenen Vorschlägen eingegangen (Stichtag 01.08.2006). Allgemeine und aktuelle Informationen findet man auf der Homepage http: / / www.unwortdesjahres.org (Zugriff am 13.11.2006); vgl. auch Schlosser (2003). Horst Dieter Schlosser 288 Betracht bleiben, obwohl sie aufs Ganze gesehen interessante Gegenstände einer sprachtheoretischen Betrachtung wären: zum einen individuelle, sehr persönlich motivierte und damit nicht generalisierbare Bekundungen von Unmut über bestimmte sprachliche Elemente; als Extremfall sei die Einsendung einer älteren Dame erwähnt, wonach für sie Schlaflosigkeit das „Unwort des Jahres“ sei, weil sie unter dieser gesundheitlichen Belastung leide. Solche Verwechslungen von Sache und Wort, die immer noch ein gleichsam vornominalistisches Sprachverständnis bezeugen, machen tatsächlich auch jene zweite Gruppe von „unbrauchbaren“ Unwort-Vorschlägen aus, die in ihrem Gehalt schon eher an die Idee heranreichen, sprachlich missglückte Reflexe öffentlicher Missstände in den Blick zu nehmen. Sogar der seinerzeit noch als hessischer Ministerpräsident amtierende Hans Eichel lieferte dafür einen schlagenden Beweis, als er einmal in einer Hörfunkdiskussion Ausländerfeindlichkeit als sein Unwort schlechthin bezeichnete. Hierbei wie bei vielen anderen Einsendungen, etwa bei Wörtern wie Krieg, Tsunami-Katastrophe oder Vogelgrippe, handelt es sich jeweils eher um ein „Un-Ding“ als um ein „Un-Wort“, da die sprachlichen Zeichen doch völlig in Ordnung sind. Aber auch solche Vorschläge müssten letztlich als weit verbreitete „sprachkritische“ Einstellungen gewertet werden. 2 Sie sind natürlich auch politologisch nicht ganz uninteressant, weil ein nicht geringer Teil des „Wortkampfs“ in der Politik oft ohne besondere Rücksicht auf die substantielle Differenz zwischen Wort und Sache ausgefochten wird (vgl. u.a. Opp de Hipt 1987; Scarcinelli 1998). Auch ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die PR-Texter von Parteien und Verbänden sogar gezielt auf die „vornominalistische“ Einstellung breiter Bevölkerungskreise setzen, wenn sie mit einem Schlagwort Realitäten zu evozieren versuchen oder gar ganz ersetzen wollen. Hier wäre die in der politischen Linguistik entwickelte und inzwischen etablierte Differenzierung von „Schlüsselwörtern“ in Fahnen-, Hochwert-, Stigma-, Unwert- und Kampfwörter auch politologisch nutzbar zu machen (vgl. Klein 1989; Hermanns 1994). Umgekehrt kann eine Sprachwissenschaft, die sich auch auf die Inhalte einlässt (was ja inzwischen keineswegs mehr dem Mainstream der Linguistik entspricht), von den Erfahrungen mit politologischer Textanalyse lernen, etwa hinsichtlich der Bewertung politischer Reden, Statements, Programme, Wahlanzeigen usw. 3 Das Zusammenspiel mit den Medien Unter dem Zwang, den sich die Unwort-Jury selbst auferlegt hat, jeweils nur ein „Unwort des Jahres“ exemplarisch auszudeuten, geht natürlich manches leicht unter, was einer ähnlichen Kritik durchaus auch unterworfen werden müsste (die von der Jury ebenfalls öffentlich mitkritisierten „weiteren Un- 2 Ein Braunschweiger Projekt hat inzwischen ohne definitorische Vorgaben mehrfach bundesweit Unwort-Vorschläge gesammelt und untersucht, was alles unter dem Begriff „Unwort“ verstanden wird (Griesbach 2004). „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 289 wörter“, i.d.R. zwei oder drei, werden von vielen Medien - schon aus Raum- oder Zeitmangel - oft gar nicht mehr beachtet 3 ). Trotzdem ist die Bandbreite der seit 1991 tatsächlich gerügten Jahres-Unwörter noch reichlich groß. Nur im Nachhinein, darum aber nicht weniger deutlich, lassen sich einige Themenbereiche ausmachen, denen die Jury im Laufe der Jahre besondere Aufmerksamkeit schenken musste. Das allererste Unwort des Jahres, ausländerfrei, das 1991 den Schlachtruf von Ausländerfeinden in Hoyerswerda aufgriff, hat zweifellos den Blick der Jury wie vieler späterer Unwort-Einsender für eine bestimmte politischgesellschaftliche Entwicklung geschärft, so dass in den weiteren Entscheidungen der Jury das Thema „Ausländerfeindschaft“ immer wieder einmal zum Zuge kam, etwa die Abschiebemaßnahmen verschleiernde Wendung des damals neuen Grundgesetzartikels 16a aufenthaltsbeendende Maßnahmen (1992) oder die Unwörter Überfremdung (1993), national befreite Zonen (2000), Ausreisezentrum für Abschiebehaftanstalten (2002) und Begrüßungszentren für geplante Flüchtlingssammellager in Nordafrika (2004). Mit solchen Rügen überschreitet die Jury zugegebenermaßen das linguistisch vertretbare Kriterium, dass derartige Nominationen in keinem sachlich angemessenen Verhältnis zur bezeichneten Sache mehr stehen und insbesondere dann zu kritisieren sind, wenn sachlich angemessene(re) Alternativen zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt am Beispiel der zitierten Unwort- Rügen hat man der Unwort-Jury vorgeworfen, dass sie sich in politische Debatten, hier der Ausländerpolitik, einmische, für die sie nicht kompetent sei und keine Legitimation habe. Was sich die Jury nach in dieser Hinsicht relativ naiven Anfängen auf Grund solcher Reaktionen tatsächlich erst einmal bewusst machen musste, war, dass sie wohl selbst ein Politikum sei, ja dass offenbar jede öffentliche Kritik öffentlichen Sprachgebrauchs stets in die Nähe politischer Einmischung gerät, deren Legitimation von interessierter (kritisierter! ) Seite wohlfeil bestritten werden kann. Auch der zweite, in letzter Zeit immer stärker der Unwort-Kritik unterworfene Themenbereich, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, insbesondere aber die Arbeitsmarktpolitik, konnte den Eindruck einer unangemessenen Einmischung in linguistikfremde Debatten verstärken. Eingeläutet wurde die Reihe entsprechender Unwort-Rügen auch schon 1991, als das zynische Wort Personalentsorgung für Entlassungen unter den „weiteren Unwörtern“ kritisch aufgespießt wurde. Diese Reihe setzte sich fort in der Kritik an Kollokationen wie schlanke Produktion (1993), sozialverträglicher Stellenabbau (1995) oder überkapazitäre Mitarbeiter (2000), an Unwörtern wie Freisetzung, Flexibilisierung von Arbeitskräften, Belegschaftsaltlasten und Outsourcing als Umschreibung für die Auslagerung von Unternehmen und Unternehmensteilen in Billiglohnländer (implizit für Stellenabbau in Deutschland, was 3 Eine bezeichnende Ausnahme war die breite und lang anhaltende Diskussion des zweitplazierten Unworts kollektiver Freizeitpark; s. dazu die Bemerkungen am Ende des Beitrags. Horst Dieter Schlosser 290 2005 durch den Zynismus Smartsourcing für den Abbau von 6.000 Stellen seitens des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann noch einmal gesteigert wurde). Als völlig unangemessene Einmischung sogar in eine offenbar für sakrosankt gehaltene Fachsprache, nämlich die von Wirtschaftswissenschaftlern und Bildungsökonomen, wurde die Unwort-Kritik von 2004 am Terminus Humankapital als Umschreibung für das Leistungsvermögen von Arbeitnehmern und deren Anteil an Unternehmensentwicklungen empfunden. Ein Aufschrei ging Anfang 2005 durch die Ökonomenzunft, der in dem „Ehrentitel“ gipfelte, mit dem die Jury belegt wurde: Sie sei mit dieser Unwort- Wahl der „Totengräber unserer Volkswirtschaft“ (FAZ, 19.01.2005). - Noch tiefer stieg die Jury in die betriebswirtschaftliche Fachterminologie ein, als sie für 2005 den weithin noch unbekannten Terminus Entlassungsproduktivität zum Jahres-Unwort kürte. Von der äußerlich unlogisch erscheinenden Wortbildung einmal abgesehen hat dieser Terminus sehr wohl eine aktuell sehr brisante, aber verschleierte Bedeutung, zumal in den Auseinandersetzungen um die Bewertung von Gewinnsteigerungen eines Unternehmens, die gerade nach Entlassungen möglich werden und die - so 2005 v.a. die Metallarbeitgeber - in Berechnungen für die Produktivität, die für Tarifabschlüsse eine Rolle spielen, tunlichst unberücksichtigt bleiben sollten. Dies sind nur zwei Beispiele für Themenbereiche, auf die die Unwort- Jury bisher, aber lange Zeit keineswegs mutwillig, ihr besonderes Augenmerk richten musste, da die Fülle einschlägiger Einsendungen nicht zu übersehen war. Zusammen mit Themenfeldern aus anderen Sachgebieten, etwa den Debatten um die Ethik in der sog. Biomedizin und der darin waltenden und keineswegs zufälligen Gegensätzlichkeit von Begriffen wie Zellhaufen vs. menschliche Embryonen, bezeugt die Unwort-Kritik immer wieder ihre Nähe zu aktuellen politischen Diskursen, so zufällig das jeweilige „Angebot“ von Unwort-Vorschlägen aus der Bevölkerung und entsprechend die jeweils getroffene Auswahl durch die Jury auch sein mögen. Auch wenn weder zu Beginn der Unwort-Aktion noch in den späteren und jüngsten Entscheidungen eine erklärte Absicht bestand, diesen oder jenen Sektor der öffentlichen Kommunikation gezielt zu treffen, verlangen die nicht seltenen kritischen Reaktionen auf konkrete Entscheiungen nach Überlegungen, die über den wohlmeinenden Grundsatz hinausgehen müssen, dass die Unwort-Rügen - wie in einer Satzung, die sich die Jury 1994 gab, formuliert - nicht Zensur üben, sondern nur „Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion“ geben sollen. Das soll und muss auch zukünftig Richtschnur bleiben, doch ist nach den bisherigen Erfahrungen kaum noch ein sprachlicher Fehlgriff denkbar, der von seinen Urhebern nicht mit Klauen und Zähnen gegen den vermeintlichen Zensurversuch verteidigt würde, wenn er als Unwort, gar als „Unwort des Jahres“ öffentlicher Schelte ausgesetzt wird. Es ist ja auch schon der Verdacht geäußert worden, die Jury wolle sogar „Denkverbote“ erlassen. „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 291 Das Politische der Aktion ist dabei nicht die Arbeit der Jury selbst, sondern die große (anfangs nicht erwartete! ) Medienresonanz, die fast jeder Juryentscheidung eine Wirkung verleiht, die auch nicht der gescheiteste sprachkritische Kommentar in einer auflagenstarken Zeitung oder in einem weit verbreiteten Hörfunkprogramm je erreichen kann, von den Leserbriefnischen ganz abgesehen, in denen sich ja immer wieder auch sehr bemerkenswerte Sprachkritiken finden lassen. Die Unwort-Aktion muss gerade mit ihrer starken Medienpräsenz als Bestandteil der politischen Kommunikation gesehen werden, an der nach demokratischem Prinzip jede Bürgerin, jeder Bürger aktiv teilhaben kann. Nun ist es aber auch eine Binsenwahrheit, dass erst ab einem bestimmten „Gewicht“ der Urheber, das sich nach Mitgliederzahlen oder anderen Größen gesellschaftlicher Macht bemessen lässt, einzelne Meinungen (mehr hat auch die Unwort-Jury letztlich nicht zu bieten! ) überhaupt öffentlich wahrgenommen werden. Die Hauptakteure der politischen Kommunikation sind neben den obersten Mandatsträgern bekanntlich die Parteien und Verbände bzw. deren (möglichst prominente) Vertreter. Welche Rolle aber spielt in diesem Konzert eine kleine Jury, die sich 1991 spontan gebildet hat und bis heute keinerlei öffentliches Mandat hat? 4 - Ein Politologe könnte diese Aktion auf der Ebene von Bürgerinitiativen ansiedeln, doch was sind sechs Juroren im Vergleich mit Tausenden, die sich etwa gegen den Ausbau eines Flughafens wenden, oder auch nur mit Hunderten von Befürwortern einer Ortsumgehungsstraße! Quantitativ rein gar nichts. Kommt hinzu, dass die Unwort-Aktion 1991, als sie sich noch im allerersten Planungsstadium befand, durch eine mit den Beteiligten nicht abgesprochene Agenturmeldung bundesweit publik wurde, sich also in ihrer öffentlichen Wirkung keiner eigenen PR-Strategie verdankt. 5 Der bisherige öffentliche Erfolg muss tiefere Gründe haben, wofür wohl am ehesten diese in Betracht kommen: Zum einen ist Sprachkritik auch und nicht zuletzt in den Medien Mangelware, wie es Medienvertreter immer wieder selbst beklagt haben und beklagen. 6 Zwar betreiben - wie schon gesagt - auch Journalistinnen und Journalisten (wenn sie denn im Tagesgeschäft dazu Gelegenheit haben) sehr wohl auch fundierte Sprachkritik, die aber meist ohne Breitenwirkung bleibt. - Zum anderen sehen die Medien bei 4 Die gelegentlich geäußerte Kritik, die Unwort-Juroren träten als selbsternannte Richter auf, verrät ein gerüttelt Maß an Obrigkeitsdenken, das nach wie vor nicht zulassen will, dass sich in einer Demokratie jedermann/ jedefrau auch ohne „Mandat“ frei äußern können dürfe. 5 Auf diese Situation passen also kaum die politologischen Überlegungen, wie sie etwa Sigrid Baringhorst in ihrem Beitrag „Zur Mediatisierung des politischen Protests“ (in: Scarcinelli 1998, 326-344) anstellt, obwohl er sich noch am ehesten mit den Möglichkeiten von nichtstaatlichen Gruppierungen befasst, sich über die Medien Gehör zu verschaffen. 6 Prominente Äußerungen der Selbstkritik stammen u.a. von dem leider zu früh verstorbenen Hanns-Joachim Friedrichs 1992 oder von dem Rundfunkintendanten Ernst Elitz 1999. Horst Dieter Schlosser 292 denen, die sich von Berufs wegen als Wissenschaftler mit Sprache befassen, eine gewisse „Bringschuld“ im Hinblick auf Themen, die nicht nur einen mehr oder weniger kleinen Expertenkreis interessieren. Sehr wohl finden, leider kaum systematisch, einzelne fachwissenschaftliche Themen, sei es die Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra oder des ältesten Fragments des altsächsischen Heliand-Epos, durchaus auch ein allgemeines Publikumsinteresse. Verkündet nun aber ein Expertenkreis, er wähle das „Unwort des Jahres“, obendrein auf der Basis von Einsendungen aus der Bevölkerung, dann weckt schon die Ankündigung (zumal sie auf Fortsetzung in den darauf folgenden Jahren hoffen lässt) die journalistische Neugier und bietet mit der Bekanntgabe der Juryentscheidung auch einen willkommenen Anlass, je nach eigenem Standpunkt das Ergebnis selbst noch einmal zu bekräftigen oder die Unwort-Kritik zurückzuweisen. Insofern kann sich die sprachkritische Aktion durchaus als legitimer Bestandteil einer politischen Kommunikation sehen, die im Zusammenspiel mit der „vierten Gewalt“, den Medien, zu öffentlichen Reflexionen beiträgt, die gemäß der Meinungsvielfalt in den Medien nur in wenigen Fällen in ein Unisono münden können. 7 Damit wäre eigentlich die Frage geklärt, woher die Unwort-Jury ihr „Recht“ nimmt, öffentlich Stellung zu beziehen, eine Frage, die im Übrigen an die Medien kaum je gerichtet wird. Wovon die Jury aber im Einzelnen ihre Kompetenz ableitet, zu sprachlichen Äußerungen auf sehr verschiedenen Sachfeldern Stellung zu nehmen, muss im Folgenden diskutiert werden. 4 Linguistische Legitimation und Sachkompetenz Die wissenschaftliche Kompetenz, die die Unwort-Jury für sich in Anspruch nimmt und die sie auch für die Medien interessant macht, muss in zweierlei Richtung gesehen werden: Die Urteile müssen zum einen linguistisch legitimiert sein und müssen zum anderen mit einem Minimum an Sachkompetenz gefällt werden. Eine theoretische Grundlage systemlinguistischer Art hat die Arbeit der Unwort-Jury zweifellos nicht. Zu disparat erscheinen aufs Ganze gesehen die Ergebnisse der tatsächlichen Unwort-Wahlen. Systemlinguistische Zweifel an der Unwort-Aktion, die immer wieder einmal vorgetragen werden, können leider nicht mit dem Hinweis entkräftet werden, dass der größere Teil der gewählten Unwörter des Jahres Komposita sind: ausländerfrei (1991), Überfremdung (1993), Diätenanpassung (1995), Rentnerschwemme (1996), Wohlstandsmüll (1997), Kollateralschaden (1999) oder Gotteskrieger (2001). Das Kriterium der Wortbildung lässt tatsächlich kein System erkennen, gibt es daneben doch auch die sog. Kollokationen, also feste Wortgruppen, wie bei 7 Man könnte hier noch weiter reflektieren, inwieweit die Unwort-Aktion nicht zum Phänomen einer Mediengesellschaft geworden sei; kritische Beiträge zu diesem Schlagwort u.a. in Scarcinelli (1998). „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 293 ethnische Säuberung (1992), sozialverträgliches Frühableben (1998) und national befreite Zone (2000). Komposita wie Kollokationen sind nun einmal die auch sonst am häufigsten vertretenen Muster der aktuellen Wort(neu)bildung und ihr Vorkommen in der Unwort-Aktion ist darum zunächst nichts Besonderes. Allerdings kann man bei der Betrachtung gerade der in Vorschlägen wie Juryentscheidungen stärker vertretenen Themenfelder gewisse Linien semantischer Kontinuität und dann eben doch auch - gerade in Verbindung mit bestimmten gesellschaftlichen Dispositionen - Traditionen der Wortbildung entdecken, die in vielen Fällen unbewusst verfolgt, manchmal aber durchaus auch bewusst genutzt werden. Als Beispiel diene die Wortbildung Menschenmaterial, die 1999 zum „Unwort des Jahrhunderts“ gewählt wurde, obwohl sie bereits dem 19. Jahrhundert entstammt und bereits längere Zeit vor der Degradierung von Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg von Autoren sehr verschiedener, sogar gegensätzlicher ideologischer und politischer Couleur aufgegriffen worden war, von Fontane über Karl Marx und Paul de Lagarde bis hin zu Theodor Herzl. Diese Wortbildung hatte geradezu reihenbildende Wirkung, die sich noch heute in Komposita wie Lehrer-/ Schüler-/ Spieler-/ Tänzermaterial u.Ä. niederschlägt. Versucht man die solchen Wortbildungen zugrunde liegende semantische Kontinuität zu bestimmen, stößt man auf eine schier unausrottbare Haltung, die man als Tendenz zur „Verdinglichung des Humanen“ umschreiben kann. Von da ist es nur ein relativ kurzer Weg zur Anwendung von Abfallmetaphern, mit denen negativ eingeschätzte Personengruppen diskriminiert werden. Tiefpunkt dieser Entwicklung war im zeitlichen Rahmen der Unwort-Aktion zweifellos die Umschreibung von „unproduktiven“ Zeitgenossen als Wohlstandsmüll durch den Nestlé- Konzernchef Helmut Maucher 1997. Dem aber waren entsprechende Diskriminierungen „unproduktiver“ Menschen schon in der argumentativen Vorbereitung der NS-Euthanasiemorde seit Ende des 19. Jahrhunderts vorausgegangen (vgl. Klaucke 1998) sowie die zynische Umschreibung der tödlichen Ausbeutung von KZ-Insassen durch die SS als Verschrottung von Arbeitskräften. Wie bei Menschenmaterial lässt sich auch an anderen Beispielen nachweisen, dass bestimmte soziale und politische Sichtweisen oder „Denkbilder“ (vgl. dazu Opp de Hipt 1987) oft mit bestimmten morphologischen Mustern Hand in Hand gehen, ja dass sie vielfach eine Stütze in formalen Strukturen haben, wenn sie nicht sogar aus ihnen einen wesentlichen Impuls zur variierenden Weiterverwendung erhalten. Zwei weitere Beispielfelder, die auch in der Unwort-Aktion berücksichtigt werden mussten, seien angeführt. Zum einen die adjektivische Komposition in einer Benennung von mutmaßlichen oder tatsächlichen Schadensquellen mit dem Grundwort -frei. Das 1991 als erstes gewählte Unwort ausländerfrei folgt einem Wortbildungsmuster, das bereits im 19. Jh. sein später todbringendes Vorbild hatte: judenfrei. Die Inhumanität dieser Wortbildungen wird deutlich, wenn man bedenkt, dass nicht wie in anderen Fällen sächliche Schadensursachen bzw. Scha- Horst Dieter Schlosser 294 densfolgen mit -frei kombiniert wurden und werden wie in atomwaffenfrei, staubfrei, schadensfrei u.Ä., sondern Menschen. - Zum anderen die Bemühung von Naturmetaphern für soziale Sachverhalte. Das Unwort des Jahres 1996, Rentnerschwemme, steht in einer Tradition der Umschreibungen von als unangenehm empfundenen Entwicklungen, die in einem Kompositum mit einem Grundwort gefasst werden, das ein nicht oder kaum beherrschbares Naturphänomen evoziert. Als Schwemme wurde zwischenzeitlich auch das starke Anwachsen der Zahlen von Medizin- und Juraabsolventen umschrieben. Älteren bzw. jüngeren Datums sind etwa die bauwie aspektgleichen Nominationen Ausländerflut und Asylantenflut. Im weiteren Umfeld dieser metaphorischen Umschreibungen mit dem Aspekt naturwüchsiger Bedrohung könnte man auch Bildungen wie Schülerberg u.Ä. sehen. Gerade die Verwechslung von sozialen Sachverhalten und Entwicklungen mit Naturzuständen ist zu Recht schon oft ein Gegenstand politischer Kritik gewesen. Neben den Komposita gehört aber auch eine bestimmte Form der Kollokation zu den formal orientierten Motiven einer Unwort-Bildung: das attribuierte Substantiv, in dem zwei Lexeme aus einander fremden Kognitionssphären kombiniert werden, etwa ethnische Säuberungen, intelligente Waffensysteme oder sozialverträgliches Frühableben. Natürlich werden in solchen Kombinationen durchaus vorgegebene grammatische Möglichkeiten genutzt, die komplexere inhaltliche Beziehung zwischen Adjektiv und Substantiv ökonomisch abkürzend auszudrücken; der schlagwortartige „Zusammenprall“ der Komponenten, der nicht selten bewusst herbeigeführt wird, weckt jedoch zumindest irreführende Assoziationen. Das Aufspüren derartiger Zusammenhänge von inhaltlichen und formalen Aspekten, die in den Juryberatungen sehr wohl eine Rolle spielen und darüber hinaus das einzelne Unwort jeweils in seinem diskursiven Zusammenhang sehen, wird meist nur in den ausführlicheren Begründungen einer Unwort-Wahl deutlich; die oft nur kurzen Medienmeldungen sparen solche Hintergründe i.d.R. aus, so dass das einzelne Jahres-Unwort in der Öffentlichkeit leicht wie ein beliebiger Zufallstreffer erscheint. Aber sowohl die Einbettung eines Unworts in einen diskursiven Zusammenhang als auch der kontextfreie Umgang der Medien mit einer Unwort-Wahl, also die Reduzierung auf Schlagwörter, können unter politologisch-methodischen Aspekten betrachtet werden. Zum einen hat die kritische Betrachtung einer Begriffsgeschichte schon lange auch einen Platz in der politisch-historischen Forschung, in der man nicht zuletzt nach der Bedeutung, aber auch nach dem Wandel von jeweils zeitgeistigen „Schlüsselwörtern“ fahndet, um dadurch Einsichten in allgemeinere Werthaltungen und Handlungsorientierungen zu gewinnen. 8 Dass politische Schlüsselwörter auch „gemacht“ werden, indem Parteien und Interessenverbände versuchen, Begriffe zu „besetzen“ (vgl. Böke u.a. 1991; 8 Gleichsam der Klassiker unter den historischen Analysen: Brunner u.a. (1972-1992); vgl. auch Strauß (1989); Stötzel (1995). „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 295 Wengeler 2005), gehört längst auch zum politologischen Allgemeingut. Zum anderen lassen sich auch aus der Konzentration der Öffentlichkeit, insbesondere der Medien, auf scheinbar isolierte, kontextfreie Schlagwörter Rückschlüsse auf jeweils herrschende Erkenntnisinteressen und Handlungsziele ziehen, auch wenn die öffentliche Diskussion kontrovers verläuft. Um der Kurzatmigkeit einer Redaktion auf bloße Schlagwörter zu entgehen, versucht die Unwort-Jury im Einzelfall sehr wohl die Vorgeschichte und/ oder die aktuelle Gebrauchsbedeutung zu klären und sich auf diese Weise auch sachkompetent zu machen. Weder die Wahl von Humankapital noch von Entlassungsproduktivität zu Unwörtern erfolgte ohne Klärung der fachspezifischen Bedeutung und im Falle von Humankapital ohne Berücksichtigung der Begriffstradition seit Adam Smith. Zuletzt wurden zu Ehrenmord, einem „weiteren“ Unwort von 2005, Islamwissenschaftler und Turkologen befragt. Die Wahl von therapeutisches Klonen und Zellhaufen, ebenfalls als „weitere“ Unwörter (2001 bzw. 2002), setzte eine Minimalkenntnis der molekularbiologischen Perspektiven und der damit verbundenen Ethikdebatte um die Stammzellforschung voraus (vgl. Schlosser 2004). Ohne solche Bemühungen könnte man der Unwort-Aktion tatsächlich oberflächlichen Feuilletonismus vorwerfen. In diesem Punkt sind die Medien nicht nur wohlfeile Verbreiter der Ergebnisse, die Kooperation mit den Medien stellt auch eine heilsame Kontrolle dar: Schon bei der öffentlichen Präsentation einer Unwort-Wahl, spätestens in nachfolgenden Interviews, fragen Journalistinnen und Journalisten immer wieder einmal nach den sachlichen Gründen der Kritik und testen damit gleichsam die Sachkompetenz der Jury. 5 Fazit Was haben Sprachkritik i.S. der Unwort-Aktion und politische Wissenschaft gemeinsam bzw. worin können sie sich gegenseitig fördern? Nicht nur die Tatsache, dass ein bevorzugter Bereich der Unwort-Kritik i.w.S. polititische Themen umfasst, sondern auch schon das Phänomen, dass Sprache und ihr Gebrauch in der Unwort-Aktion zum öffentlichen Thema gemacht werden, ist ein Politikum und angesichts der vornehmen Zurückhaltung einer nur deskriptiven Linguistik gegenüber Sprachinhaltsfragen möglicherweise sogar eher ein politologisches als ein sprachwissenschaftliches Sujet. Doch sollte man die einzelnen Akte der „Einmischung“ in aktuelle Debatten durch Unwort-Rügen auch nicht überbewerten; sie folgen zum einen keiner langfristigen Strategie, da es stets die letztlich unkalkulierbaren Einsendungen von Vorschlägen aus der Bevölkerung sind, von denen sich die Juryberatungen leiten lassen; zum anderen entsteht Einmischung i.d.R. auch erst durch die Reaktion der Medien, die gelegentlich Juryentscheidungen sogar verschärfen können. Ein deutliches Beispiel war - wie schon angedeutet - die Herausstellung des nur zweitplazierten Kohl-Worts vom kollektiven Freizeitpark durch die Horst Dieter Schlosser 296 Medien; es hätte sogar das letztplazierte sein können: Im Wahljahr 1994 war für die Medien ein Kanzlerzitat allemal interessanter als das tatsächliche „Unwort des Jahres“ Überfremdung! Nicht nur die „Mediengeburt“ der Aktion 1991, auch die alljährliche aktive Beteiligung der Medien an der Vorbereitung der jeweiligen Suche und nicht zuletzt die Verkündung und Kommentierung der Juryentscheidungen haben die sprachkritische Aktion zu einem Bestandteil der politischen Kommunikation in der Bundesrepublik gemacht. Dennoch sei noch einmal der sprachwissenschaftliche Anspruch der Aktion betont, ohne den die Seriosität des Unterfangens und die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse, zumindest ihrer Argumente, extrem gefährdet und auf Dauer auch für die Medien uninteressant wären. Insofern sind der politologische und der linguistische Aspekt nur zwei Seiten einer Medaille. Der sprachwissenschaftliche Anspruch aber beruht auf einer kritischen Analyse des Gebrauchs der einzelnen Vorschläge, im Einzelfall auch der Vorgeschichte von Wörtern und Wendungen und nicht zuletzt ihrer diskursiven Dimension, für deren Einbezug in die Bewertung schon von Anbeginn an der Juror Albrecht Greule eingetreten war. 6 Bibliographie 6.1 Gedruckte Literatur Böke, Karin/ Jung, Matthias/ Wengeler, Martin [Hrsg.] (1991): Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. Opladen. Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart [Hrsg.] (1972-1992): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache. 7 Bde. Stuttgart. Greule, Albrecht (2000): Das Unwort des Jahres. Eine neue Form der Sprachkritik in Deutschland. In: Sbornik Prací Filosofícké Fakulty Brnienské, R 5. Brunensis, 7-17. Greule, Albrecht/ Ahlvers-Liebel, Elisabeth (1982): Theorie und Praxis der germanistischen Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung. Darmstadt. Griesbach, Thorsten (2004): Unwort als Brücke zum Sprachvolk. Zum sprachwissenschaftlichen Erkenntniswert laienlinguistischer Wortkritik. In: Muttersprache 114, 97-114. Hermanns, Fritz (1994): Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen „politischen Semantik“. Heidelberg/ Mannheim. Klaucke, Ralph (1998): Eugenik und Rassenhygiene als medizinische Wissenschaften. In: Schlosser, Horst Dieter [Hrsg.]: Mit Hippokrates zur Organgewinnung? Medizinische Ethik und Sprache. Frankfurt a.M., 97-106. Klein, Josef [Hrsg.] (1984): Polititische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen. Opp de Hipt, Manfred (1987): Denkbilder in der Politik. Der Staat in der Sprache von CDU und SPD. Opladen. Scarcinelli, Ulrich [Hrsg.] (1998): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur. Bonn. „Unwörter des Jahres“ - Sprachkritik zwischen Linguistik und Politik 297 Schlosser, Horst Dieter (2003): Sprachkritik per Volksabstimmung? Erfahrungen mit zwölf Jahren „Unwort des Jahres“. In: Bär, Jochen A. [Hrsg.]: Von „aufmüpfig“ bis „Teuro“. Die Wörter der Jahre 1971-2002. Mannheim/ Leipzig/ Zürich, 69-24. Schlosser, Horst Dieter (2004): Ethik ist eine Frage der Sprache. In: Leonhardt, Annette [Hrsg.]: Wie perfekt muss der Mensch sein? Behinderung, molekulare Medizin und Ethik. München/ Basel, 159-176. Stötzel, Georg/ Wengeler, Martin (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/ New York. Strauß, Gerhard (1989): Brisante Wörter. Von Agitation bis Zeitgeist. Berlin/ New York. Wengeler, Martin (2005): „Streit um Worte“ und „Begriffe besetzen“ als Indizien demokratischer Streitkultur. In: Kilian, Jörg [Hrsg.]: Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. Mannheim, 177-194. 6.2 Elektronische Literatur Unwort des Jahres. Abrufbar unter http: / / www.unwortdesjahres.org (Zugriff am 13.11.2006). Tanja Wagensohn Politik als Sprachkonstrukt 1 Versuch einer sprachlich-politischen Standortbestimmung „Nach der Schlacht am Amselfeld flohen die Serben Richtung Norden, alles rutschte ein wenig weg, die Amseln, das Feld, das Weiße, die Burg. Die Bedeutung der Wörter veränderte sich, zum Beispiel bedeutet kalács Kuchen, Pogatsche lepény, das Huhn wird kuvik genannt und der Hahn Huhn. Was eine Frage der Sichtweise ist, nämlich, ob nun die Serben den Hahn Huhn nennen oder die Ungarn das Huhn Hahn. Auch die Wörter Jugo und Ugor weisen auf eine gemeinsame Herkunft hin. Wir sind Sprachverwandte, der Brunnen der Vergangenheit ist tiefer als tief, es ist für jedermann sichtbar, dass auf alten Landkarten die südliche Grenze Ungarns mehrere hundert Kilometer weiter südlich verlief. Von da aus ist es nur noch ein Sprung, und wir können die südlichen Ugrier an unsere Brust zerren. Hoffentlich haben die Finnen nichts dagegen. Eine geschwisterliche Föderation wäre ganz gut, nicht nur so auf blauen Dunst wie bei den Südslawen, sondern in einem tieferen semantischen Sinn, damit nicht immer das central european Blut vergossen wird, sondern lieber das Meer an unseren vereinigten Hintern leckt. (...)Wir können auch noch die Kurden mit einbeziehen. Auch dort das türkische Joch, also bitte! Und die Vietnamesen. Der Zukunft zugewandt...“ (Zilahy 2004, 99) 2 Sprache und Politik. Politik und Sprache Die Politikwissenschaft analysiert die Dimensionen und Wechselwirkungen der Strukturen, Prozesse und Inhalte der Politik. Wer hat die Macht, bestimmte Ziele zu verwirklichen? Welche Weltanschauungen oder Wissensbestände liegen politischen Zielsetzungen, Handlungen, der Sicht auf Probleme zugrunde? Nach welchen Regeln wird in der Politik gearbeitet, welche wirken in ihr? Wer kommuniziert mit wem auf welchen Kanälen, worüber, aus welchem Grund, mit welchem Zweck, mit welcher Wirkung? Wie werden politische Inhalte vermittelt, dargestellt, bekannt gemacht? Wie wird innerhalb bestimmter politischer Strukturen kommuniziert? Und wie verläuft Kommunikation zwischen staatlichen Institutionen und Gesellschaft? Häufig reichlich unbefriedigend, wie die von Horst Schlosser in diesem Band am Beispiel der Unwörter des Jahres skizzierte Schnittstelle zwischen Sprache und Politik aufzeigt. Sprache und Sprachverwendung in der Politik sind ein weites Feld, auf dem mancher politische Akteur zwischen Anspruch und Wirklichkeit über rhetorische Begabung oder Dummheit stolpert. Dem Politikwissenschaftler erlaubt sie den Rückschluss, dass Sprache Aufschluss gibt über soziale und kulturelle Realitäten, in denen ihre Sprecher leben, Tanja Wagensohn 300 darüber, wie die Gesellschaft mit veränderten Umständen bzw. Wandel umgeht oder zurechtzukommen versucht, welche Werte und Einstellungen zu bestimmten Zeitpunkten in ihr herrschen. Neben der Möglichkeit, Realitäten zu reflektieren, werden politische Ideen und Interessen über Sprache, im Diskurs, auch konstruiert. Die Soziologie war in den 60er Jahren die erste Disziplin der Sozialwissenschaften, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit grundsätzlich als Ergebnis eines intersubjektiven gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses betrachtete (Berger/ Luckmann 2001). Das Teilfach Internationale Beziehungen in der Politikwissenschaft folgte diesem Ansatz insbesondere seit den 80er Jahren, u.a. in der Nationenforschung. Die Konstruktivisten gehen davon aus, dass die Welt ihren Akteuren nur durch Wahrnehmung und Deutung zugänglich ist und sie diese Welt auf der Grundlage von Ideen und Interpretationen gestalten. Diese Ideen ermöglichen und rechtfertigen Handlungen, Handlungsspielräume, die Interessen werden mit Bezug auf die Ideen definiert. Damit konstituieren sich die Akteure selbst und ihre Interessen mit und durch Ideen. Nicht die harten Fakten, etwa Strukturen von Systemen, sind damit entscheidend, sondern die Vorstellungen und Interpretationen davon. 2.1 Den Pudding an die Wand nageln Welche Rolle spielt Politische Kultur in diesem Konstruktionsprozess? Einstellungen, Meinungen, Werte, beliefs, attitudes und values, die in einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt anzutreffen sind, schaffen - ebenso wie ihr Grad an Verankerung - Prädispositionen politischen Handelns und für konkretes politisches Verhalten (Almond/ Verba 1963). Wie weit das Engagement des Einzelnen geht, hängt maßgeblich mit seiner individuellen Sozialisation in Familie und Schule zusammen und damit, welche Werte ihm in schulischer und religiöser Erziehung mitgegeben werden. Hinzu kommen kollektive historische Erfahrungen, etwa Kriege oder schwere politische Krisen, die den Einzelnen durchs Leben begleiten und oft ganze Generationen prägen. Sie sind maßgeblich für die Vielfalt an Identitäten, die den Menschen durchs Leben begleiten. „Sinn oder Unsinn des Konzepts ‚Politische Kultur’ für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln“ war der Titel eines Aufsatzes des Mannheimer Politikwissenschaftlers Max Kaase im Jahr 1983. Seine Kritik an Politischer Kultur als Instrument politikwissenschaftlicher Analyse konzentrierte sich vorrangig auf die theoretische und empirische Beliebigkeit des Konzepts. 1 Es konnte aus sei- 1 „Solange - im angesprochenen Sinne eines catch all terms - sämtliche für interessant gehaltenen Sachverhalte, sofern sie nur etwas mit der politischen Ordnung und dem Verhalten der Bürger im Rahmen dieser Ordnung zu tun haben, als politische Kultur auf den Begriff gebracht werden können, ist ihr wissenschaftlicher Ertrag nahe Null.“ (Kaase 1983, 167). Politik als Sprachkonstrukt 301 ner Sicht die wissenschaftliche Hauptaufgabe, durch Kumulation und Verfeinerung von Ergebnissen den Bestand an Wissen zu erhöhen und damit einer Kodifizierung näher zu bringen, nicht erfüllen. Dennoch erlebte die Politische Kulturforschung im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert ihr vielleicht größtes Revival: mit den Revolutionen im östlichen Europa, beim Blick auf ihren Verlauf und ihre Ergebnisse, bei der Suche nach den Gründen für die Kriege in Ex-Jugoslawien, in der Fassungslosigkeit des 11. September 2001. Noch immer ist das Phänomen Politische Kultur umstritten, wenngleich seine Akzeptanz in der Forschung gewachsen ist. In diesem Bereich kann die Sprachwissenschaft für die Politikwissenschaft viel mehr leisten, als man ihr bislang erlaubt. Zur Erinnerung - Politik vollzieht sich in Sprache(n), gerinnt in Sprache(n). Geht man davon aus, dass Sprache Kultur reflektiert, lässt sich über Sprache auch auf die Politische Kultur rückschließen. Nicht zuletzt, weil Sprache sich auch mit und in politischem Wandel verändert. 2.2 Sprachwandel und kulturelle Konzepte Bis zu welchem Grad lässt sich politische Wirklichkeit über Ideen konstruieren? Wer Sprachen lernt und spricht, kommt unweigerlich an den Punkt, an dem ihm klar wird, dass er zwar grundsätzlich alles verstehen und übersetzen kann. Doch Anspruch darauf, das Gesagte in seiner Gesamtheit und Komplexität adäquat wiederzugeben bzw. semantische Äquivalente in anderen Sprachen zu finden, existiert nicht (Wierzbicka 1992, 7). Was ist universal in Sprache und Denken? Lexikalisch fixierte Konzepte und funktional-grammatische Strukturen sind nicht eins zu eins übertragbar (Goddard 2006). Die Sprachwissenschaftlerin Anna Wierzbicka weist überzeugend nach, dass die Analyse von Sprechakten Rückschlüsse auf kulturelle Unterschiede zulässt. Beweise findet sie in grammatischen Konstruktionen ebenso wie in der Lexik. Als erstes Beispiel mag das Englische dienen, das angelsächsische kulturelle Tradition reflektiert, die größten Wert auf die Rechte und Autonomie des Individuums legt. Man lehnt die Einmischung in die Angelegenheiten anderer strikt ab 2 und respektiert persönliche Eigenarten und die privacy 3 des Einzelnen vorbehaltlos. Es billigt Kompromisse und toleriert keinen Dogmatismus. 4 Sprachlich verzichtet das Englische im Gegensatz etwa zu slavischen Sprachen weitgehend auf Imperative. Letztere ersetzen 2 Vgl. etwa die Wendung It’s none of your business. 3 Das englische privacy hat in so gut wie keiner anderen Sprache in Europa ein Pendant - und weist auf ein Konzept hin, das einen der zentralen Werte des angelsächsischen Sprachraums spiegelt: Es bedeutet unbeobachtet sein, Dinge ohne (Beobachtung) Andere(r) tun, und es impliziert, dass jeder Mensch das will und braucht. 4 Vgl. hierzu auch die zentralen Werte von being fair oder being reasonable (Wierzbicka 2006, 103ff.). Tanja Wagensohn 302 im Russischen oder Polnischen englische Konstruktionen wie Would you..., Will you..., Why don’t you... 5 Andere Themen hingegen tauchen immer wieder in russischen Diskursen, auch literarischen, auf - Emotionalität, Irrationalität, Handlungsunfähigkeit und moralische Leidenschaft. Die russische Sprache hat wesentlich mehr Verben, die Emotionen ausdrücken, als etwa das Englische (Wierzbicka 1993, 403). Außerdem lassen sich Wörter wie duša, sud’ba oder toska nicht schlicht mit Seele, Schicksal oder Melancholie übersetzen, sie bergen ganze Konzepte, die sich sprachlich in Vokabular und grammatischen Konstruktionen niederschlagen. 2.3 Politik und Diskurs Auf welchem Weg schaffen es Ideen, Handlungen, Handlungsspielräume oder Strategien zu definieren oder zu rechtfertigen? Auf welche Weise wird die Geltung von Aussagen, Positionen und Wertvorstellungen in der Politik erzeugt? Anhand welcher Indizien auf verschiedenen sprachlichen Ebenen lassen sich „Pro“- oder „Anti“-Diskurse erkennen? Gibt es Strategien mit bestimmten Motiven? Kriegserklärungen, Friedensverhandlungen, Vermittlungsgespräche, Parlamentsdebatten: Politik wird im Diskurs. Ideologisch besetztes Vokabular, der Gebrauch von Wörtern aus anderen Sprachen oder sozialen Gruppen, regionale Einfärbung von Sprache - all das lässt sich bewusst und gezielt einsetzen. Rhetorische Fertigkeiten zeigen die Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischen Lager, vermitteln Distanz, signalisieren Solidarität. Wie zwischenmenschliche und zwischenstaatliche Beziehungen aussehen, welche Meinungen und Einstellungen zu Sachverhalten herrschen oder sich verändern, welchen Gruppen man sich zugehörig fühlt, das alles ist mit Sprache und deren Gebrauch verknüpft. Das Beispiel Nationen macht es deutlich - sie sind imagined communities (Anderson 1983): Die Menschen stellen sie sich vor und erfinden sie immer wieder neu. Die Größe von Nationen ist begrenzt, sie sind souveräne Gemeinschaften, ihre Grenzen sind nie starr und immer zufällig. Buchdruck und das Aufkommen des Kapitalismus trugen zur Entstehung von Nationen bei: Publikationen, die nun nicht mehr nur in den Eliten verständlichem Latein entstanden, sondern in den jeweiligen Sprachen, gelangten auf die entstehenden Märkte. Die wichtigste Eigenschaft der Sprache in diesem Zusammenhang ist ihre Eigenschaft, diese vorgestellten Gemeinschaften hervorzubringen. Sprache geht dem Bewusstsein voraus, lautet die Hypothese, und sprachwissenschaftliche Untersuchungen skizzieren, wie Politiker in ihren communities dieselben über linguistische Verfahren immer wieder neu erfinden. 5 Mit Beispielen und Nachweisen Wierzbicka (2003, 30 ff.). Im Deutschen wird meist ein Modalverb benutzt: Können Sie mir bitte sagen... entspricht im Russischen der knappe Imperativ Skažite požalujsta... Politik als Sprachkonstrukt 303 Ähnlich verhält es sich mit nationaler Identität. Deren Herstellung beruht auf sozialer Praxis, die einerseits aus institutionellen, andererseits aber auch aus diskursiven Elementen bestehen kann. Die diskursive Konstruktion von nationaler Identität, so registriert die Linguistin Ruth Wodak, beruht vor allem auf der Betonung nationaler Einzigartigkeit und innernationaler Gleichheit, zugleich auf der expliziten Betonung zwischennationaler Differenzen. Innernationale Differenzen werden dabei so weit wie möglich ausgeblendet (Wodak 1998, 102). Bestimmte Eigenschaften werden etwa in der Presse dem „Selbst“ und dem „Anderen“ zugeordnet, es werden singularisierende und differenzierende Motive verwendet, unterschiedliche Argumentationsverfahren eingesetzt. Fahnen- und Stigmawörter dienen der Affirmation nationaler Identität, der Abgrenzung nach außen und der Positionierung des „Wir“ und des „Ich“. 3 Fallbeispiele Drei Beispiele illustrieren im Folgenden, wie sprachwissenschaftliche Befunde einen konstruktivistischen Untersuchungsansatz unterstützen können. Beispiel eins führt nach Russland und thematisiert die dort herrschende, oft beklagte politische Passivität der Bürger. Warum sind die Strukturen der Zivilgesellschaft noch immer so schwach ausgeprägt und die Verantwortungsübernahme für das Gemeinwesen so selten? Das zweite Beispiel ist Deutschland. Warum haben „die Deutschen“ so große Schwierigkeiten, ihren Staat zu reformieren? Warum haben sie solche Angst vor Veränderungen, warum löst jede Reformidee lange Debatten aus, hat aber letztlich meist keine realen Konsequenzen? Das dritte Beispiel fragt danach, wie Europäer Identität und Amerikaner Nation konstruieren und daraus politisches Handeln legitimieren. 3.1 Russland und die Zivilgesellschaft Was bedeutet Zivilgesellschaft? Plurale, auch konkurrierende Vereinigungen, die ihre Angelegenheiten eigenständig organisieren und ihre Interessen artikulieren, also Bürgerinitiativen, Kultureinrichtungen, nicht-staatliche Regierungsorganisationen oder Selbsthilfegruppen, gehören zum breiten Spektrum derer, die den Staat in Schach halten und seine Allmacht verhindern sollen: 6 Zivilgesellschaft beschreibt die Sphäre kollektiven Handelns und öffentlicher Diskurse, die zwischen Individuum und Staat wirksam werden und damit Einfluss auf staatliche Prozesse und ihren Verlauf neh- 6 U.a. Linz/ Stepan (1996); Merkel (2000); Diamond (1999). Tanja Wagensohn 304 men. 7 Diese Zivilgesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren in Russland nur schwach ausgeprägt. Vor Michail Gorbatschows „Revolution von oben“ Mitte der 80er Jahre, vor Perestrojka, Glasnost und „neuem politischen Denken“, existierte sie so gut wie nicht. Der Aufbauprozess der letzten 15 Jahre ist zäh, häufig wurden zivilgesellschaftliche Akteure wie Nichtregierungsorganisationen etc. nach westlichem Vorbild geschaffen bzw. „eingesetzt“. Unter Putin wurde die Bewegungsfreiheit von NGOs zudem wieder eingeschränkt (Pleines 2005). Oft sprechen Wissenschaftler aus diesem Grund von „illiberaler“ oder „illegitimer“ Demokratie in Russland. Die Entwicklung der Sprache in Russland reflektiert heute eine Gesellschaft, die nicht zuletzt die Einstellung zum politischen System bzw. zu einer Vielzahl der politischen Akteure prägt; diese Haltung wird in der gesellschaftlichen Entwicklung auch nachhaltig bleiben. Mit und in der Sprache entstanden verändertes politisches Handeln und letztendlich ein neuer gesellschaftlicher Entwurf. Es entwickelte sich eine immanente Dynamik, in der Sprache, aber auch in den sozialen und politischen Beziehungen, in der Wahrnehmung, im Denken, im Handeln. Daraus entstanden ganze Netze von Verweisungen. Der gesellschaftliche, politische, sprachliche Bruch war radikal. Nach dem Ende der Sowjetunion griff man für die neuen Strukturen auf die politischen Systeme der USA und Westeuropas zurück - und auf deren Begrifflichkeiten. So prägen heute die Beschreibung des russischen politischen Systems im Wesentlichen Vokabeln aus anderen kulturellen und sprachlichen Umfeldern. 8 Die „erdrutschartigen Innovationsschübe“ (Zybatow 1995, 187f.) im Russischen seit der Perestrojka illustrieren die Veränderungen des Landes nach 1989/ 90, den Versuch, ein politisches System zu reproduzieren, dem die individuelle, spezifische Basis fehlt. Stapelweise sind in den vergangenen Jahren in Russland Wörterbücher und Kompendien erschienen, die den Bürgern solche Begriffe zusammenstellen und versuchen, ihnen auch die neue Disziplin der Politikwissenschaft und ihres 7 Zivilgesellschaft hat mehrere Funktionen. Sie soll den privaten und gesellschaftlichen Raum sichern, indem sie den Einzelnen vor Übergriffen des Staates schützt, und soll zwischen Staat und Bürgern, also politischer und unpolitischer Sphäre vermitteln. Darüber hinaus hat sie eine sog. Sozialisationsfunktion - Bürgertugenden wie Toleranz, Vertrauen und Kompromissbereitschaft sollen gefördert werden, um die Gesellschaft gegen Angriffe auf Freiheit und Demokratie zu immunisieren. Zudem soll Zivilgesellschaft freien Raum für die Debatten der Bürger schaffen und die Gemeinschaft der Bürger stärken, um einer übermäßig individualisierten Gesellschaft entgegenzuwirken. 8 Votum, lobbi, sammit, immunitet, lider, imidž sind Anglizismen und Amerikanismen, die des genaueren Hinsehens bedürfen, gehören sie doch nicht zu den Wörtern, die Russlands politische Kultur und die politische Sozialisation seiner Bürger spiegeln. Ebenso verhält es sich mit der Wirtschaft: bankrot, rejting, sponsor, nou-chau, biznes, biznesmen, trejder sind Folgen des Übergangs von Planzur Marktwirtschaft. Politik als Sprachkonstrukt 305 Forschungsgegenstandes zu erklären. 9 Derartige Versuche, die sprachliche Desorientierung zu beseitigen, lassen sich als Versuch interpretieren, der Suche nach Sinn und Wahrheiten einer postsowjetischen Gesellschaft ein wenig Struktur zu geben. Buchstäblich fehlten die Worte für das, was passierte: Die bisherigen Werte und Normen verloren ihre Gültigkeit, es begann ein bis heute andauernder Prozess, sich von 70 Jahre lang gültigen Verhaltens- und Lebensparadigmen zu lösen und sich als Staat und Gesellschaft neu zu definieren, neu zu erfinden. Problematisch dabei ist die wachsende Unübersichtlichkeit, das Fehlen jeglicher Normen, Regeln, Gesetze im gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen Leben und in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die die 90er Jahre charakterisierten, eine „neue Grenzenlosigkeit“, bezpredel’, (Wagensohn 2001, 217f.). Die postkommunistische Phase bedingt Veränderungen in Weltanschauungen und Wertungen, die sich auch in den russischen Soziolekten und der Jargonlexik spiegeln (Šim uk 2004, 263ff.). Betrachter konstatieren eine Vielzahl von Wörtern und Ausdrücken, in denen sich verachtende Gleichgültigkeit zum Leben zeigt. Sprache spiegelt nicht nur Desinteresse am geschäftigen Alltag, sondern ist eine Absage, am Kampf gegen die Lebensumstände teilzunehmen. Die Wortfelder um Grausamkeit, Mord und Rechtlosigkeit sind riesig; Metaphern der Krankheit und des Niedergangs Russlands nehmen seit den 90er Jahren zu (Zybatow 1995; Becker 2001, 107), Jargonwörter, etwa vpalivat’, vparivat’, vtjuchivat’, obuvat’, was übersetzt so viel bedeutet wie „etwas gewinnbringend verkaufen, indem man auf die eine oder andere Weise betrügt“ (Šim uk 2004, 275), fanden Eingang in die Standardsprache. Diese Ergebnisse zum Sprachwandel werden von einem weiteren hochinteressanten Phänomen ergänzt, das für den politischen Kontext ebenfalls aufschlussreich ist: Das Russische hat unzählige passive Dativ-Konstruktionen, 10 die deutlich machen, dass der Sprecher bestimmte Dinge von außen empfängt und auf sie direkt keinen Einfluss hat. (Wierzbicka 1992). So liefert die Grammatik Hinweise auf die viel beklagte politische Passivität der russischen Bürger, auf das beständige Gefühl und dessen Artikulation, ohnehin nichts ändern zu können und die Dinge hinnehmen zu müssen, wie sie kommen. 3.2 German angst Von Russland nach Deutschland: Wie sieht es mit der politischen Wirklichkeit hier aus? Verstehen die Deutschen einander immer noch nicht? Die viel 9 Beispielsweise Politologija. Enciklopedi eskij slovar’. Moskva (1993); Politologija. Kratkij slovar’. Rostov-na-Donu (2001); Davajte govorit’ pravil’no! Politi eskij jazyk sovremennoj Rossii. Moskva/ Sankt Peterburg (2004). 10 Z.B. mne cho etsja - ich will (wörtlich „mir will man“); ej o en tjaželo živetsja - sie hat ein hartes Leben (wörtlich „ihr lebt es sich hart“). Tanja Wagensohn 306 bemühte „Mauer im Kopf“, die Tatsache, dass noch immer zwischen den beiden Teilen Deutschlands differenziert wird und man sich auch im 17. Jahr der Einheit noch häufig in „Ossis“ und „Wessis“ differenziert, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man jahrzehntelang in beiden deutschen Staaten Deutsch, aber doch wohl nicht die gleiche Sprache gesprochen hat. Horst Schlosser verweist zu Recht darauf, dass „politische und wirtschaftliche Entscheidungen und Erfahrungen mit sprachlichen Zeichen einher[gehen]“ und „von solchen Zeichen aufs stärkste geprägt“ (Schlosser 2005, 9) sind. Die Deutschen lebten in zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen Referenzsystemen. Die deutsche Sprachwissenschaft hat dies in Gegenstandsbereichen wie „Sprache in der DDR“ und „Sprache der Wende“ untersucht (Schlosser 1990; von Polenz 1993). Es existierten in Ost und West Spezifika der deutschen Sprache in Bezeichnung, Bedeutung und Wertung. 11 Freiheit und Demokratie etwa bezeichneten unterschiedliche Dinge. Die äußeren Lebensumstände haben sich mit der deutschen Wiedervereinigung schnell verändert - die Wertsysteme, in denen die Deutschen ihre Sprache erworben haben, nicht. Sind ihnen dann zumindest kulturelle Konzepte gemein? Etwa die German angst, von der im anglo-amerikanischen Sprachraum die Rede ist? Dieses Phänomen besitzt kein Äquivalent in anderen europäischen Sprachen. Die Deutschen sind von „Existenzangst“ und „existenziellen Ängsten“ geplagt, haben „Angstzustände“ und kennen „Angst“ in Dutzenden sprachlichen Zusammensetzungen. Die deutsche Formulierung vom „Angst haben“ benötigt - im Deutschen - keine weitere Erklärung. Diese Angst ist diffus, unbestimmt, hat keinen klaren Grund, sie ist undeutlich, beruht auf Ungewissheiten und lässt sich nie in den Griff bekommen, weil unklar ist, wo der Grund für die Angst beheimatet ist. 12 1974 zeichnete Rainer Werner Fassbinder in einem seiner besten Filme, „Angst essen Seele auf“, die soziale Realität einer von wachsender Einsamkeit, engen Moralvorstellungen und Fremdenfeindlichkeit geprägten westdeutschen Gesellschaft. Der Titel des Films ist programmatisch, es ist der Blick des marokkanischen Gastarbeiters auf eine Gesellschaft, die sich in den 70er und 80er Jahren mit einer Vielzahl von Ängsten herumplagt. Eine Gesellschaft, wie Karl Dietrich Bracher 1981 anmerkte, die „mit der Erbschaft des Faschismus und des Nationalsozialismus belastet und von der Stabilisierung des Nachkriegsprovisoriums getragen (…) war“, und „in Deutschland und Europa gewissermaßen unter der Wirkung und im Zeichen von zwei Zeitgeschichten, die tief verschieden und doch nahezu, gleichstark in unser politisches Dasein hineinwirken, einen doppelten Be- 11 Über Sprachlenkung wurde zudem bewusst und zielgerichtet Einfluss genommen (Girnth 2002, 14f.); dies ist in totalitären Systemen ein verbreitetes Phänomen, so auch im Nationalsozialismus in Deutschland (Greule/ Sennebogen, 2004). 12 Mit Nachweisen Vežbickaja [Wierzbicka] (2001, 44ff.) unter Verweisen auf Philosophie und Theologie. Zum Vergleich: „Furcht“ und „fürchten“ sind häufig objektbezogen. Politik als Sprachkonstrukt 307 zugsrahmen unseres politischen Bewußtseins bilden: die Zwischenkriegszeit seit 1917/ 18 und die Nachkriegszeit seit 1945 beziehungsweise 1949/ 50“ (Bracher 1981, 234). Die Generation der 68er in der Bundesrepublik, die den Wirtschaftswunderstaub der Ära Adenauer abschütteln wollte, fand sich nicht nur im fortdauernden und wiederbelebten Ost-West-Konflikt, sondern sah sich gleichzeitig einer Krise der Weltwirtschaft, ökologischen Katastrophen und atomaren Schreckensszenarien gegenüber. 13 So fanden sich die Deutschen im Westen an der Schwelle der 80er Jahre eingebettet in starke Kontinuitäten und jähe Brüche, in einer tiefen Diskrepanz zwischen materieller und technischer Entwicklung einerseits und einem Hinterherhinken derselben in geistig-moralischer Hinsicht, die sich im Rückzug in alternative Lebensmodelle und esoterische Subkulturen artikulierten. Die Generationen X und Golf 14 lernten Reiki und Yoga, zu Hause dufteten Räucherstäbchen zwischen Tarotkarten und Rosenquarz, im Fernsehen trafen sich die Schönen und Reichen in „Dallas“ und „Denver“, Madonna war „like a virgin“ und „material girl“. Ein wenig Bohème, zwischen Bioladen und amerikanischen Erfolgsgeschichten, geplagt von Angst und Selbstzweifel. Die Deutschen im Osten lebten zur gleichen Zeit in einem System, in dem Angst wichtigstes Instrument der Politik war: Stacheldraht, Stasi, Schießbefehl. Ende der 80er war der Wunsch nach Selbstbestimmung größer als die Angst. Den Revolutionen im Osten Europas folgte das endgültige Ende der DDR. „Angst“, so scheint es, ist für das Verständnis deutscher Kultur ein Schlüsselwort. Die allen politischen Diskussionen ebenfalls innewohnende Forderung nach „Sicherheit“ geht damit Hand in Hand. 15 Die Diskussionen nach dem 11. September 2001, den verhinderten Terroranschlägen auf amerikanische Flugzeuge in London fünf Jahre später oder die Kofferbombenfunde auf deutschen Bahnhöfen im August 2006 spiegeln die Ängste einer Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit bereit ist, Freiheit für mehr Sicherheit einschränken zu lassen. Dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt - „den Mut, dies in der Öffentlichkeit einzugestehen, findet die deutsche Politik nicht“, konstatieren ausländische Beobachter (Neue Zürcher Zeitung, 25.08.2006). Der von Bracher Anfang der 80er festgestellte doppelte Bezugsrahmen des deutschen politischen Bewusstseins ist 1990 historisch weitergeschrieben 13 1968 wurde der Club of Rome gegründet, wenig später erschien die Studie von Dennis L. Meadows (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart. 14 Florian Illies schrieb 2001 in „Generation Golf“ über die in Deutschland zwischen 1965 und 1975 Geborenen; Douglas Coupland bereits 1991 über die Kinder der sog. Baby boomer, die Jahrgänge 1960 bis 1970 in den USA, in „Generation X“. 15 Damit ist „Sicherheit“ mehr als engl. safety, auch mehr als security; häufig auch verbunden mit den Begriffen „Geborgenheit“ und „Heimat“. Mit Nachweisen Vežbickaja [Wierzbicka] (2001, 109 ff.). Ergänzend Kauffmann (2003, 73ff). Tanja Wagensohn 308 worden. Eine Gemengelage, die sich in ständig neuen Selbst(er)findungsdiskursen wiederfindet: „Du bist Deutschland! “, „Wir sind Papst! “ 3.3 Von Europäern und Amerikanern Wie werden politische Zugehörigkeiten konstruiert? Nichts hat Amerikaner und Europäer in den vergangenen Jahren so entzweit wie der Krieg im Irak. Die Metapher vom „alten“ und „neuen“ Europa des amerikanischen Außenministers Donald Rumsfeld verdeutlichte die Emanzipation der „alten“ Europäer, insbesondere der Deutschen, von den Befreiern nach 1945, und zugleich die fortbestehende Perzeption dieser Rolle Amerikas durch die Staaten des ehemaligen Ostblocks, die sich gegenüber Washington von den „alten“ Europäern distanzierten. Viele konnten und können die amerikanische Irak-Politik nach wie vor nicht begreifen und fürchten weitere bewaffnete Konflikte. Wer begreifen will, muss den Blickwinkel wechseln. Amerika wurde angegriffen und befindet sich seit dem 11. September 2001 im Krieg. Der „war on terrorism“ ist ein zentraler Bestandteil der im März 2006 veröffentlichten nationalen Sicherheitsstrategie, in der bereits mit dem Vorwort des Präsidenten deutlich wird, dass dieser Krieg auch die Politik der nächsten Jahre definieren wird. 16 Der 9/ 11-Schock hat dazu beigetragen, die amerikanische Nation neu zu schaffen. Untersuchungen zur präsidialen Rhetorik George Bushs, der medialen Aufbereitung der Ereignisse und auf 9/ 11 folgende Werbekampagnen unterstützen diese These (Silberstein 2002). Über die Erinnerung an Freiheit und Gerechtigkeit als Grundwerte der amerikanischen Nation und der Artikulation der Bedrohung Amerikas wird ein Bedrohungspotenzial konstruiert, das eindeutige Gegenmaßnahmen erfordert: „Today, our fellow citizens, our way of life, our very freedom came under attack (…) This is a day when all Americans from every walk of life unite in our resolve for justice and peace (…) None of us will ever forget this day. Yet, we go forward to defend freedom and all that is good and just in our world (…)” verkündete der amerikanische Präsident George Bush in seiner Rede an die Nation unmittelbar nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York. 17 Seither verstehen sich die Amerikaner in der Rolle der Nation, die weltweit den Frieden verteidigt, und sie legitimieren auf diesem Weg 16 „My fellow Americans, America is at war. This is a wartime security strategy required by the grave challenge we face - the rise of terrorism fuelled by an aggressive ideology of hatred and murder, fully revealed to the American people on September 11, 2001 (…).” Abrufbar unter http: / / www.whitehouse.gov/ nsc/ nss/ 2006/ intro.html (Zugriff am 16.12.2006). 17 Statement by the President in His Address to the Nation. Abrufbar unter http: / / www.whitehouse.gov/ news/ releases/ 2001/ 09/ 20010911-16.html (Zugriff am 16.12. 2006). Politik als Sprachkonstrukt 309 auch ihr Vorgehen im Irak. 18 Zeithistorisch und politisch bedingte Sprechakte konstruieren die Bedrohung (Möller/ Ehrhardt 2005, 48) - und rechtfertigen Verteidigung. Die Europäer wiederum? Neben der Neuerfindung ihrer Nationen nach dem Ende der bipolaren Welt quält sie, sich als europäische Gemeinschaft im Sinne einer community zu erfinden. Sie sind „Vielfalt in Einheit“, differieren hinsichtlich Erweiterung und Finalität der EU, und für viele ist die eigene Nation bedeutsamer als je zuvor. Die europäische Integration war als ergebnisoffener, dynamischer Prozess intendiert, und „Europa ist kein fixierter und konservierter Zustand. Europa ist ein anderes Wort für variable Geometrie, variable nationale Interessen, variable Betroffenheit, variable Innen-Außenverhältnisse, variable Staatlichkeit, variable Identität. (...) Bei diesem Novum Europa handelt es sich um ein gesellschaftliches Konstrukt (...)“ (Beck/ Grande 2004, 13), dem man mit institutionellen Reformen und der Schaffung einer europäischen Verfassung nicht gerecht wird: „Es geht um viel mehr, nämlich darum: Europa neu zu denken“ (Beck/ Grande 2004, 16f.). 19 Eine komplexe Forderung: Europa, europäische Identität und die (Neu-) Erfindung Europas erfolgen in weit mehr als den 25 Sprachen ihrer Mitglieder und in unterschiedlichsten Beziehungsgeflechten. Seit der Romantik haben sich die Schriftsteller mit diesem Thema auseinander gesetzt, und die von Milan Kundera und György Konrád Mitte der 80er Jahre angestoßene literarisch-essayistische Mitteleuropa-Debatte gehört zu den Diskursen, die Einfluss bzw. Nachwirkungen auf die europäischen Diskurse der Gegenwart haben. Es gehörte zur Strategie der Schriftsteller, die Legitimität der moskauorientierten kommunistischen Regierungen dadurch in Frage zu stellen, dass man das eigene Land als historisch, geographisch und kulturell nicht zum Osten Europas gehörend zeichnete (Lützeler 1998, 443ff.). Die Diskussionen darüber, wo Europas kulturelle und geographische Grenzen verlaufen, dauern an und werden vermutlich noch lange geführt. Es gibt so viele Grenzziehungen wie Identitätsentwürfe, in denen insbesondere „der Osten“ und „der Balkan“ Gegenstand unzähliger Diskurse sind. Letzterem wird die Zugehörigkeit zu Europa in den Medien in der Regel unter Verweis auf unterschiedliche kulturhistorische und religionsgeschichtliche Entwick- 18 „The United States will lead and calls on other nations to join us in a common international effort. All free nations have a responsibility to stand together for freedom because all free nations share an interest in freedom’s advance.” Champion Aspirations for Human Dignity. Abrufbar unter http: / / www.whitehouse.gov/ nsc/ nss/ 2006/ section II.html (Zugriff am 16.12.2006). 19 Ein schwieriges Unterfangen: Zu den zentralen Problemen der Europäischen Union gehört nach wie vor ihre mangelnde Akzeptanz bzw. Skepsis ihr gegenüber in weiten Teilen der EU-Bevölkerung. Noch immer glauben nur etwa 36 Prozent der EU-Bürger, dass ihre Stimme in den Entscheidungsprozessen der EU überhaupt Bedeutung hat. Eine negative Entwicklung dieser Tendenz registrieren Umfragen u.a. in Deutschland (Eurobarometer 65, Frühjahr 2006, 29f.). Tanja Wagensohn 310 lungen sowie unter Verweis auf divergierende Wertvorstellungen abgesprochen (Quenzel 2005, 127ff.). Existiert dann überhaupt europäische Identität? Die Situation bleibt schwierig, meist überwiegt das nationale Moment. Der schwebende Vertrag über eine Verfassung für Europa ist momentan auch nicht dazu in der Lage, sie herzustellen (Krzyzanowski 2005, 137ff.). Der Prozess europäischer Identitätsbildung basiert zum einen auf der Identifikation mit der Gemeinschaft und einer klaren Strategie der Abgrenzung gegenüber anderen. Ausgehend von der Theorie der imagined communities finden auch Strategien der Abgrenzung gegenüber Vorstellungen von den Anderen, die in diesem Prozess die Funktion einer Gegenidentität übernehmen. Die Europäer pflegen Zweiteres in besonderem Maße. Gegenstand heutiger Diskurse zu Europa und europäischer Identität sind nahezu ausschließlich Abgrenzungsdiskurse - vorrangig gegen die USA und ihre Politik. Zweifelsohne sind aber auch die Diskurse innerhalb der EU sehr unterschiedlich. 20 Ihre Analyse für alle Mitgliedsstaaten wäre zu Vergleichszwecken wünschenswert. Denn vielleicht sind ja welche darunter, in denen man statt nach „Was ist Europa nicht? “ fragt: „Warum Europa? Wozu Europa? “ Erinnert sich noch jemand an den Frieden? 4 Fazit Zusammengefasst: Beispiel eins liefert über die Analyse sprachlicher Strukturen Hinweise darauf, welche Defizite das Ergebnis der Neukonstruktion politischer Wirklichkeit birgt, wenn die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen zu sehr von den Ideen der Neukonstruktion divergieren. Beispiel zwei deutet an, dass sich spezifische kulturelle Konzepte, die sich über Lexik ermitteln lassen, auf Prozesse und Inhalte von Politik auswirken können. Beispiel drei skizziert, wie Identität und Nation über politische Diskurse neu erfunden bzw. neu konstruiert werden und wie politisches Handeln über Diskurse gerechtfertigt werden kann. Alle drei Beispiele gemeinsam zeigen auf, dass Politik und politisches Handeln untrennbar mit interkultureller Kommunikation verbunden sind und die Einbeziehung von Sprachen und ihrer Analyse im Sinne eines cross-linguistic-Ansatzes sein sollte. In diesem Sinne sind die in diesem Aufsatz skizzierten Überlegungen als Plädoyer zu verstehen - an die Politikwissenschaft, nicht nur Disziplinen wie Geschichte, Recht oder Soziologie als Kooperationsfächer zu betrachten, sondern auch die Philologien, - an die Sprachwissenschaft, noch mehr Aufschluss über kulturelle Konzepte und politische Diskurse zu geben. Eine umfassende interkulturelle Bildung und Handlungskompetenz, die sich eben nicht in Stereotypisierungen und Klischees erschöpft, versteht sich heute als selbstverständliche Notwendigkeit in Wirtschaft und Geschäftsle- 20 Für Großbritannien aufschlussreich Mautner (2000). Politik als Sprachkonstrukt 311 ben (Hofstede 2001; Thomas 2003). Disziplinen wie Wirtschaftswissenschaften und Psychologie pflegen längst interkulturelle Ansätze. Zentrales Moment der interkulturellen Forschung sind Sprachen. Warum sollte die Politikwissenschaft auf sie als Analysewerkzeug verzichten? 5 Bibliographie 5.1 Gedruckte Literatur Almond, Gabriel/ Sidney Verba (1963): The Civic Culture. Princeton. Barbour, Stephen/ Carmichael, Cathie [Hrsg.] (2000): Language and Nationalism in Europe. Oxford/ New York. Beck, Ulrich/ Grande, Edgar (2004): Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M. Becker, Joern-Martin (2001): Semantische Variabilität der russischen politischen Lexik im zwanzigsten Jahrhundert. München. Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas (2001): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 19. Aufl. Frankfurt a.M. Böke, Karin (1996): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin. Bosbach, Franz [Hrsg.] (2000): Angst und Politik in der europäischen Geschichte. Dettelbach. Bracher, Karl Dietrich (1981): Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert. Berlin. Chilton, Paul A. (2004): Analysing Political Discourse. 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Zwar nehmen auch nicht-sprachwissenschaftliche Publikationen zum Thema „Kommunikation“ zu, insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften z.B. zur Unternehmenskommunikation, Integrierten Kommunikation und Kommunikationspolitik, doch geht es in solchen Werken in aller Regel um strategische und operationale Aspekte und höchstens am Rande um das zugrunde liegende sprachliche und kommunikative Wissen (eine Ausnahme stellt Zerfaß 2004 dar). So tauchen in betriebswirtschaftlicher Literatur trotz häufiger Thematisierung von Kommunikation auch keine Begriffe wie „Betriebslinguistik“ oder „Wirtschaftslinguistik“ auf, während Verweise beispielsweise auf „Betriebspsychologie“ oder „Betriebssoziologie“ selbstverständlich sind (Kleinberger Günther 2003, 23; 24). Die Reaktion auf die zunehmend wichtige Rolle von Sprache und Kommunikation im Beruf sind auf der einen Seite Bemühungen um Sprachstandardisierung und -automatisierung (vgl. Habscheid 2003), auf der anderen Seite breit gestreute laienlinguistische Beratungs- und Trainingsangebote (siehe stellvertretend z.B. die Angebote des F.A.Z.-Instituts). Weitere Indizien für Handlungsbedarf sind Kooperationen zwischen Wirtschaft und Sprach- und Kommunikationswissenschaft, die sich beispielsweise in Berater- und Gutachtertätigkeit, aber auch in Projekten zu Textoptimierung, Krisenkommunikation u.Ä. äußern. Was dabei von sprachwissenschaftlicher Seite auffällt, ist, dass die Betroffenen oft von einem zu simplen oder sehr technizistischen Verständnis von Kommunikation ausgehen und dass Wei- Nina Janich 318 terbildungsbedarf auch in Bezug auf Textorganisation, Textverständlichkeit und Wortsemantik besteht (vgl. z.B. Jakobs 2006). In der Sprachwissenschaft hat sich die Teildisziplin, die sich Angewandte Linguistik nennt, bereits in zahlreichen Forschungsarbeiten dem Zusammenhang von Sprache und Beruf und vor allem der Wirtschaftskommunikation gewidmet, ausgehend von der These, dass erfolgreiche Kommunikation und damit die Kommunikationsfähigkeit der Agierenden für immer mehr Berufe in immer größerem Maße wettbewerbsentscheidend ist. Gegenstände der Angewandten Linguistik sind hierbei zum Beispiel bestimmte berufsspezifische Textsorten (wie Geschäftsberichte bei Keller 2006 oder Mitarbeiterzeitschriften bei Bischl 2000), Gesprächssorten (wie Besprechungen bei Thörle 2005 oder mündliche Kommunikationsformen im Überblick bei Brünner 2000), kommunikative Teilkompetenzen (wie das berufliche Schreiben, z.B. bei Göpferich 2002; Sauer 2002; Jakobs u.a. 2005) oder besondere kommunikative Phänomene in beruflichen Kontexten (wie Sprachstandardisierung und -automatisierung bei Habscheid 2003 oder Höflichkeit in der Unternehmenskommunikation bei Ebert 2003). Viele dieser Forschungsansätze sind nicht nur deskriptiv-analytisch angelegt, sondern auch anwendungsorientiert: Vielfach werden aus den Forschungsergebnissen Änderungs- und Verbesserungsvorschläge abgeleitet, oder die Untersuchungen finden bereits in enger Kooperation mit der Praxis statt und haben Textoptimierung, Arbeitserleichterung oder Mitarbeiterfortbildung zum Ziel. Was bislang jedoch fehlt, ist ein ganzheitlicher Zugang zu einzelnen Tätigkeitsfeldern oder Berufen, der sowohl die mündlichen und schriftlichen Kommunikate als auch sämtliche damit verbundenen Tätigkeiten in den Blick nimmt und aus einer sprecherbezogenen Perspektive unter dem Aspekt der kommunikativen Anforderungen und der daraus abzuleitenden notwendigen kommunikativen Kompetenz betrachtet. In diesem Beitrag soll am Beispiel der Unternehmenskommunikation ein Vorschlag für ein integratives Konzept unterbreitet werden, das aus Anforderungsprofilen (welche Informationen sind sprachlich und medial wie an wen zu übermitteln? ) Kompetenzprofile (welches sprachliche, technische und kulturelle Wissen und welche darauf aufbauenden kommunikativen Kompetenzen braucht man für diese Anforderungen? ) ableitet, um auf diese Weise aussagekräftige berufliche Kommunikationsprofile zu gewinnen, die für Wissenschaft und Praxis als Orientierungsrahmen für Forschung bzw. Aus- und Fortbildung dienen können. 1 Da beim Thema ‚Kommunikation im Beruf’ nicht nur der Kompetenz- und der Wissensbegriff, sondern auch Fragen der Motivation und der Effizienz eine zentrale Rolle spielen, stellen Organisations- und Lernpsychologie wichtige Referenzdisziplinen dar, so dass ein Anliegen des Beitrags auch ist, 1 Ich danke Eva-Maria Jakobs für die ausführliche Diskussion dieser Idee und zahlreiche Anregungen, die in die Ausarbeitung eingeflossen sind. Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation 319 zur stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie aufzufordern. 2 „Kommunikationsprofil“ - ein operationaler Vorschlag Der Vorschlag zur Lösung des soeben beschriebenen Desiderats besteht darin, so genannte Kommunikationsprofile für einzelne Berufszweige und Tätigkeitsfelder zu erstellen. Der Begriff des Kommunikationsprofils ist bislang noch nicht sprach- oder kommunikationswissenschaftlich terminologisiert und wartet daher auch noch auf eine Modellierung und methodische Operationalisierung. Der Ausdruck wird derzeit vor allem in der PR- Beratungspraxis und in Rhetoriktrainings verwendet und dann meist auf Unternehmen als Ganze oder teilweise auch auf Einzelpersonen im Sinne einer „verbalen Visitenkarte“ (Image, individuelle Stärken und Schwächen) bezogen. Vereinzelt taucht er auch im Rahmen der Partnervermittlung oder in Darstellungen über mehrsprachige Länder auf. Nicht üblich ist die hier vorgeschlagene Verwendungsweise für die Verbindung von berufsspezifischen Anforderungsprofilen (= Gesamtheit sprachlich-kommunikativer Aufgaben im Rahmen eines Berufsfeldes bzw. Tätigkeitsbereiches) mit entsprechenden Kompetenzprofilen. 2 Ziel bei einer solchen Konzeptualisierung ist es, über den Begriff des Kommunikationsprofils zu einer ganzheitlichen und sprecherbezogenen Perspektive auf kommunikationsintensive Berufsfelder zu gelangen, die weiterer Forschung quasi als Koordinatensystem dienen kann, die aber auch für praktische Zusammenhänge konkrete Sprachverwendung und kommunikative Anforderungen der ausgewählten Tätigkeitsbereiche sichtbar macht und somit Anregungen zu Vernetzungsmöglichkeiten und Synergien zwischen verschiedenen Tätigkeitsbereichen gibt sowie sinnvolle Ansatzpunkte zur Aus- und Weiterbildung aufzeigt. 2.1 Beispiel Unternehmenskommunikation Die Komplexität von Kommunikationsprofilen soll exemplarisch am Berufsfeld der Unternehmenskommunikation skizziert werden. Wirtschaftsbetriebe können - verkürzt dargestellt - als Handlungssysteme charakterisiert werden, die mit dem Zweck des ökonomischen Erfolgs vier verschiedene allgemeine Handlungsbereiche aufweisen: „a) Informationen müssen gesammelt werden; b) Entscheidungen müssen gefällt werden; c) Handlungen müssen realisiert werden und d) Kontrollen müssen erfolgen“ (Kleinberger Günther 2003, 19). Keiner dieser Arbeitsschritte ist ohne Kommunikation und damit ohne Verwendung von Sprache denkbar; da Betriebe in aller 2 Zu den Problemen eines Bestimmungsversuchs beruflicher kommunikativer Kompetenz vgl. Efing/ Janich (im Druck). Nina Janich 320 Regel aufgrund ihrer Größe und Komplexität arbeitsteilig strukturiert sind, kann auch der Bereich „c) Handlungen realisieren“ in der Regel nicht kommunikations- und sprachfrei ablaufen: Koordination und Abstimmung der Handlungsschritte zwischen den verschiedenen betroffenen bzw. verantwortlichen Personen erfolgt in der Regel über verbale Kommunikation. Der Bereich der Unternehmenskommunikation ist ein sehr offener, je nach zugrunde liegender Definition. In den Wirtschaftswissenschaften werden in der Regel vor allem externe und interne Kommunikation unterschieden. Mit Blick auf die Bestimmung als Berufsfeld erscheint die Differenzierung bei Ansgar Zerfaß sehr klar: Er unterscheidet Organisationskommunikation (intern), Marktkommunikation (extern: Werbung und Marketing) und Öffentlichkeitsarbeit (extern, auch: Public Relations/ PR) (Zerfaß 2004, 216). Unternehmenskommunikation als ein Berufsfeld aufzufassen und primär personenstatt strategiebezogen zu beschreiben, ist aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften vielleicht etwas kühn, liegt Unternehmenskommunikation im beschriebenen weiten Sinne doch kein spezifischer Ausbildungsweg oder -schwerpunkt zugrunde. Zudem umfasst sie relativ autonome Tätigkeitsbereiche und Arbeitsschwerpunkte wie Marketing oder PR. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive scheint aber gerade die Wahl eines so offenen Betätigungsfeldes spannend und hilfreich zu sein, um die Definierbarkeit und gegenseitige Abgrenzbarkeit von Termini wie Berufsfeld oder Tätigkeitsbereich zu testen sowie um die vielfältigen kommunikativen Verflechtungen und möglichen Zielkonflikte verschiedener Tätigkeitsbereiche innerhalb eines gemeinsamen Arbeitskontextes und unter Vorgabe eines für alle geltenden übergreifenden Kommunikationsziels (= ökonomischer Erfolg des Unternehmens) zu untersuchen. Zum Tätigkeitsbereich der Öffentlichkeitsarbeit gehört typischerweise der Kontakt zur Presse und zur Öffentlichkeit (also z.B. Politik, Anwohner/ Nachbarn, Wissenschaft), zum Tätigkeitsbereich der Marktkommunikation der Kontakt zu (potenziellen) Kunden, Lieferanten und Konkurrenten, zum Tätigkeitsbereich der Organisationskommunikation die gesamte Kommunikation innerhalb des Unternehmens (also z.B. hierarchische Kommunikation zwischen Management und Mitarbeitern oder interfachliche Kommunikation zwischen verschiedenen Abteilungen). In jedem der Tätigkeitsfelder werden über verschiedene Text- und Gesprächssorten unterschiedliche Zielsetzungen im Rahmen des Gesamtziels „wirtschaftlicher Erfolg“ verfolgt: Die interne Unternehmenskommunikation dient der „arbeitsteiligen Formulierung und Realisierung strategischer Konzepte“ (Zerfaß 2004, 316) und damit der Förderung von Leistung und Motivation der Unternehmensangehörigen. Marktkommunikation erfolgt dagegen weitgehend persuasiv und dient der „Durchsetzung strategischer Konzepte in den Beziehungen mit Lieferanten, Abnehmern und Wettbewerbern“ (ebd., 316f.). Öffentlichkeitsarbeit zielt darauf ab, „prinzipielle Handlungsspielräume zu sichern und konkrete Strategien zu legitimieren“, d.h. zur sozialen Integration eines Unternehmens beizutragen, indem versucht wird, durch den Aufbau von Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation 321 Vertrauen „gesellschaftsweite Reputation und moralische Integration“ zu erwerben (ebd., 317). Diese unterschiedlichen Zielsetzungen, die durchaus miteinander in Konflikt geraten können, lassen dennoch bereits die intensiven kommunikativen Vernetzungen innerhalb der drei Tätigkeitsbereiche erahnen. Nicht überraschend setzt sich in der Betriebswirtschaft daher auch zunehmend das Konzept der Integrierten Kommunikation (Bruhn/ Boenigk 1999; Bruhn 2005) durch, das die Verflechtung und inhaltliche wie formale Abstimmung der Kommunikation der einzelnen Tätigkeitsbereiche und damit auch der schriftlichen und mündlichen Kommunikate fordert. Es unterscheiden sich aber natürlich nicht nur die Kommunikationsziele und die Art der zu übermittelnden Informationen, d.h. die Zwecke und Handlungsmuster prototypischer Text- und Gesprächssorten, sondern zwangsläufig auch die Adressierungs- und Argumentationsstrategien, der Fachbezug bzw. Fachlichkeitsgrad und der sich daraus ergebende sprachlich-stilistische Gestaltungsspielraum. Andererseits sind die verschiedenen Tätigkeitsbereiche häufig an zahlreichen Kommunikationssituationen und damit auch schriftlichen und mündlichen Kommunikaten gemeinsam beteiligt, wie z.B. am Messegespräch, dem Geschäftsbericht, der Imagebroschüre, der Mitarbeiterzeitung, unternehmensinternen Datenbanken, Intranetplattformen u.a. Die kommunikativen Anforderungen werden zudem dadurch komplexer, dass Texte und Gespräche in vielschichtige Kommunikationsprozesse, die auch nicht-sprachliche Arbeitsabläufe enthalten können, und diese wiederum in Unternehmenshierarchien eingebettet sind. Die wissenschaftliche Herausforderung besteht darin, zumindest alle prototypischen, in jedem Fall aber alle institutionalisierten kommunikativen Tätigkeiten im Sinne regelmäßiger beruflicher Anforderungen zu erfassen und die regelmäßigen Vernetzungen zu anderen Tätigkeitsbereichen aufzuzeigen. Methodisch schwierig wird es sicherlich, auch ungewöhnlichere und nur fallweise auftretende, dennoch aber hochrelevante Text- und Gesprächssorten zu erfassen (z.B. Kommunikationsabläufe im Falle von Fusionen, Unternehmenskrisen etc.) - möglicherweise überhaupt nicht mehr operationalisierbar ist schließlich eine Registrierung der sehr wichtigen informellen Kommunikation, die gleichsam zwischen den offiziellen Texten und Gesprächen verläuft. Diese ersten Andeutungen führen zu einer mehrschichtigen Beschreibungsmatrix für berufliche Kommunikationsprofile. 2.2 Beschreibungsparameter Ein Kommunikationsprofil - so der Vorschlag - könnte anhand einer mehrdimensionalen Matrix beschrieben werden (siehe Abb. 1). Um das Modell für unterschiedliche Forschungsinteressen offen zu halten und weil je nach Berufszweig die Kategorien „Beruf(sfeld)“ und „Tätigkeitsbereich“ unterschiedlich eng gefasst und voneinander abgegrenzt wer- Nina Janich 322 den können, wird zuerst die links in der Abbildung eingetragene Beschreibungsebene festgelegt, nämlich auf welche Tätigkeitsbereiche sich das im Folgenden zu beschreibende kommunikative Anforderungsprofil bezieht. Damit lässt sich zugleich verdeutlichen, wie eng die Beziehungen zwischen welchen Tätigkeitsbereichen sind bzw. sein müssten, wo also Vernetzungen bereits bestehen oder sinnvoll wären. Im Bereich Unternehmenskommunikation müsste zusätzlich zwischen den hierarchischen Ebenen Management und Mitarbeiter unterschieden werden, um hierarchisch ablaufende Kommunikationsprozesse besser erfassen zu können. Abb. 1: Beschreibungsmatrix für Kommunikationsprofile. Dann wird danach gefragt, wer wen (sprachlich und medial) wie worüber informieren muss und welche Kommunikationsprozesse sich daraus entwickeln (Information wird hier im weitesten Sinn und nicht nur als Proposition repräsentativer Sprechakte verstanden). Der sprachwissenschaftliche Fokus liegt dabei auf den im Rahmen dieser prozessualen Abläufe prototypischerweise vorkommenden Text- und Gesprächssorten und ihrer medialen Form (Mittelfeld in der Abbildung). Durch die Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Verflechtung im Rahmen von Kommunikationsprozessen lässt sich die Komplexität eines beruflichen Kommunikationsprofils aufzeigen und führt die Analyse über rein textlinguistische Erfassungen von Kommunikaten der Wirtschaftskommunikation hinaus. Die Beschreibung der Vernetzungen wird außerdem dann besonders relevant, wenn es um weiterführende an- Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation 323 wendungsorientierte Fragen geht wie die nach Effizienz und Kommunikationserfolg. Wie fein dabei die Text- und Gesprächssorten differenziert werden (ob also beispielsweise von Besprechungen oder von Mitarbeitergespräch, Abteilungsleiterkonferenz u.Ä. die Rede ist), hängt sowohl vom ausgewählten Berufsfeld als auch vom jeweiligen Forschungsinteresse ab. Insbesondere bei Texten kann und sollte differenziert werden, ob ein Handelnder in einem Tätigkeitsbereich vorwiegend rezeptiv mit ihnen konfrontiert wird oder sie produktiv beherrschen muss (in der Abbildung oben eingetragene Beschreibungsebene). Die durch Informierungsabsichten und Informationsbedürfnisse initiierten Kommunikationsprozesse mit ihren medienspezifisch realisierten Text- und Gesprächssorten, mit denen jemand in einem bestimmten Tätigkeitsbereich konfrontiert ist, werden nun nach verschiedenen Parametern näher bestimmt (in der Abbildung rechte Beschreibungsebene): 3 1. In welcher Sprache wird (mündlich/ schriftlich? ) kommuniziert (z.B. Deutsch, Englisch, Französisch, mehrere Sprachen in Kombination; Mutter-/ Landessprache vs. Fremdsprache); wie stark sind Textbzw. Gesprächssorten dabei auch entsprechend kulturell geprägt? 2. Wer sind die Adressaten bzw. Absender? Gibt es mehrere Adressaten, die durch Strategien der Mehrfachadressierung erreicht werden müssen? Wie ist das Verhältnis zu bzw. zwischen ihnen (symmetrisch vs. asymmetrisch-hierarchisch; Experten desselben Faches/ intrafachlich vs. Experten unterschiedlicher Fächer/ interfachlich oder Experten-Laien-Kommunikation/ fachextern)? Wie öffentlich und/ oder offiziell ist die Kommunikationssituation? 3. Hat der Textproduzent bzw. Gesprächsteilnehmer im Rahmen des beschriebenen Kommunikationsprozesses Weisungsbefugnis oder ist er im Gegenteil weisungsgebunden? Hier können konkret text- und gesprächsbezogen hierarchische Strukturen von Kommunikationsprozessen abgebildet werden. 4. Was ist der Kommunikationszweck bzw. die Text-/ Gesprächsfunktion (also z.B. vorwiegend informativ/ repräsentativ, appellativ/ direktiv, kommissiv, deklarativ, expressiv)? Wie verhält sich der aktuelle Kommunikationszweck zu den allgemeinen Zielen des Tätigkeitsbereichs (also z.B. Strategienentwicklung, -durchsetzung oder -rechtfertigung) und zum übergreifenden Unternehmensziel (d.h. dem anzustrebenden ökonomischen Erfolg)? Handelt es sich ganz grundsätzlich um Arbeits- oder Sozialkommunikation? Welche pragmatischen Verbindungen bestehen zu anderen Text- und Gesprächssorten? 5. Welche den Text/ das Gespräch kennzeichnenden Sprachhandlungsmuster lassen sich daraus ableiten? Ist die Kommunikation an eine 3 Die folgenden Beschreibungsparameter sind zum großen Teil angeregt durch bewährte Vorschläge für Text- und Gesprächsanalysen (vgl. z.B. Brinker 2005; Henne/ Rehbock 2001 und bes. Brünner 2000, 7-20). Nina Janich 324 praktische Tätigkeit gebunden (empraktisch) oder davon losgelöst (nicht-empraktisch)? 6. Besteht inhaltlich und sprachlich ein fachlicher Bezug (handelt es sich also z.B. um sachlich-technische oder um hierarchisch-ökonomische Kommunikation? ); wenn ja, zu welchem Fach bzw. welchen Fächern? Lassen sich allgemeine Aussagen über die Themenentfaltung machen? 7. Welche Stilzüge prägen den Text bzw. das Gespräch aufgrund der bisher festgestellten Merkmale sprachlich; wie hoch ist z.B. der Grad an Formalität bzw. Informalität, wie stark die Bindung an kulturspezifische Diskursmuster? 8. Liegen institutionelle Normen, Vorgaben oder standardisierte Textbzw. Gesprächsfragmente vor, die bei der Produktion zu beachten bzw. einzubinden sind? Lassen sich Tendenzen zur Automatisierung dieses Kommunikationsprozess-Abschnittes feststellen? Aus dieser Beschreibung der Kommunikationsprozesse entsteht schließlich ein berufsspezifisches Anforderungsprofil. In einem weiteren, interpretativen Schritt kann aus dem Anforderungsprofil ein Kompetenzprofil abgeleitet werden (in der Abbildung unten eingetragene Beschreibungsebene): • Welches berufsspezifische sprachliche Wissen wird, aufbauend auf dem alltagssprachlichen Wissen, entsprechend obiger Beschreibungskategorien benötigt (z.B. Fachwortschatz; Wissen über Textverständlichkeit; performatives Wissen; pragmatisches Wissen über Adressierungsformen; stilistisches Wissen)? Durch welches kulturelle (z.B. in Bezug auf Diskurstraditionen und -stile) und technische (z.B. in Bezug auf die Mediennutzung) Wissen muss das sprachliche Wissen ergänzt sein? Wie explizit (und explizierbar) hat dieses Wissen zu sein? • Welche Kompetenzen (prozedurales Wissen/ „Können“) werden darauf aufbauend in einer fach- und berufsspezifischen Ausprägung benötigt? Nach dem Modell sprachlicher Kompetenzen, wie es in Janich (2004, 88-141) entwickelt wurde, sind dies voraussichtlich besondere Formen der Kontextualisierungs-, Strukturierungs-, kreativen, transsubjektiven (bzw. transkulturellen! ) und metasprachlichen Kompetenz; dann: Medien- und Vernetzungskompetenz (zwecks einer integrierten Kommunikation nach innen und außen); nach Zerfaß (2004, 190f.) z.B. aktive Kommunikationskompetenz (= sprechen/ schreiben), Wahrnehmungskompetenz (= zuhören können) und Kooperationskompetenz (= Fähigkeit, eine gemeinsame Kommunikationspraxis herzustellen). • Teil eines Kompetenzprofils sollten des Weiteren die für die Kommunikationspraxis relevanten Normen und Kommunikationsmaximen sein (vgl. z.B. Ebert 2003, 134; Sauer 2002), d.h. das Wissen um die institutionenspezifische Angemessenheit bestimmter Kommunikationsstile und -gewohnheiten, da der Einzelne in seiner beruflichen Umge- Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation 325 bung nicht als Individuum, sondern als Mitglied einer Institution handelt. 3 Sprachwissenschaftliche Zugänge Methodisch erscheint - wie aus den Beschreibungskategorien zu ersehen - ein Rückgriff auf die linguistische Pragmatik in Verbindung mit text- und gesprächsanalytischen Ansätzen am sinnvollsten. Dabei sollte die Analyse der sprachlichen Handlungsmuster nicht nur zweckrationale, sondern auch sinnrationale und expressive Sprachhandlungen (vgl. entsprechendes Sprachhandlungsmodell bei Janich 2004, 31-41), ja auch die nichtsprachlichen Handlungen einbeziehen, will sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, wie so häufig das zweckrationale Handeln allein in den Blick zu nehmen und damit als einzig relevantes Handeln zu verabsolutieren. Einen hohen Stellenwert sollten außerdem empirische Erhebungen einnehmen: Um ein Kommunikationsprofil in aller Detailliertheit zu erstellen, müssen neben Recherchen in der Forschungsliteratur erstens authentische Texte und Gespräche analysiert werden; zweitens erscheint es notwendig, die Betroffenen explizit einzubeziehen und mit Hilfe von Fragebögen, Interviews und teilnehmender Beobachtung sowohl ihre tatsächlichen regelmäßigen kommunikativen Aufgaben und Tätigkeiten zu eruieren als auch ihre Einschätzungen und Bewertungen zu deren Relevanz und Effizienz im beruflichen Alltag abzufragen (vgl. z.B. Kleinberger Günther 2003; Jakobs 2006). Nur durch den solchermaßen doppelten Zugang kann sichergestellt werden, dass (annähernde) Vollständigkeit bei der Erstellung eines Kommunikationsprofils erreicht wird und Forschungsdesiderate nicht unentdeckt bleiben. Der analytisch-interpretative Schritt, aus den zusammengestellten Text- und Gesprächssorten auf das (notwendige oder vorhandene) sprachliche Wissen und die kommunikative Kompetenz zu schließen, sollte dagegen nicht mehr nur über sprachwissenschaftliche Zugänge gewagt werden, 4 sondern unter Einbeziehung der Psychologie und anderer Disziplinen. 5 4 Eine interdisziplinäre Aufgabe: Kooperation mit der Psychologie Sinnvoll, wenn nicht notwendig, erscheint bei der beschriebenen Forschungsaufgabe die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, zum Beispiel der Soziologie, der Medien- und der Informationswissenschaft sowie mit 4 Vgl. hierzu das Kompetenzenmodell bei Janich (2004, 88-141) und die dortige Auseinandersetzung mit der Spracherwerbsforschung. 5 Vgl. auch den Überblick zum Begriff der beruflichen kommunikativen Kompetenz bei Efing/ Janich (im Druck). Nina Janich 326 den betroffenen Fächern, die sich aus der Wahl des zu beschreibenden Berufsfeldes ergeben (also z.B. mit der Betriebswirtschaftslehre und der Wirtschaftsinformatik, wenn es um Kommunikationsprofile in der betrieblichen Kommunikation geht). Vor allem aber interdisziplinäre Kooperationen mit psychologischen Arbeitsgebieten wie Lern-, Organisations- und Kulturpsychologie dürften bei der Erforschung von Kommunikationsprofilen vielversprechend sein. Hinzu kommt, dass die Psychologie bereits seit langem intensiv zu Fragen der betrieblichen Kommunikation (besonders unter den Aspekten Leistung, Effizienz und Motivation) forscht und sich auch dadurch als Partner für sprachwissenschaftliche Fragestellungen anbietet: „Die psychologische Forschung hat im Gegensatz zur Linguistik schon früh erkannt, dass Situationen im betrieblichen Alltag erfasst, beschrieben, interpretiert und die Mitarbeiter geschult werden müssen. Wenn Menschen zusammen arbeiten, laufen komplexe psychologische [sic! eigentlich psychische] Prozesse ab, die sich zum Teil sprachlich manifestieren. […] Sieht man allgemein Laien- oder Fachliteratur zur Kommunikation in Betrieben durch, fällt auf, wie gross die Diskrepanz zwischen den wenigen linguistischen und den vielen psychologischen Artikeln zu sprachlichen Fragen ist.“ (Kleinberger Günther 2003, 49) Psychologie und Sprachwissenschaft könnten vor allem bei den in Abbildung 1 rechts und unten eingetragenen Beschreibungsebenen fruchtbar zusammenarbeiten: • Zwar sind die Beschreibungen der Text- und Gesprächssorten erst einmal ein genuines Arbeitsfeld der Sprachwissenschaft, aber schon beim Handlungsbegriff und bei der Klassifikation von Handlungstypen und Zielorientierungen können wertvolle Anleihen bei psychologischer Fachliteratur gemacht werden (vgl. z.B. Layes 2000, 76-99). • Die Interkulturelle Psychologie erforscht Kultur als Orientierungssystem (Thomas 1999), indem sie beispielsweise empirisch nationale Kulturstandards erhebt und daraus interkulturelle Trainings entwickelt (z.B. Kammhuber 2003 oder die Beiträge von Eberhard, Martin, Schmid und Foellbach in Janich/ Neuendorff 2002): Eine kulturelle Prägung von einzelnen Text- und Gesprächssorten kann Ursache für Kommunikationsprobleme sein oder besondere Anforderungen an die kommunikative Kompetenz der Handelnden stellen. • Hierarchien im Unternehmen prägen das kommunikative Handeln und mehr oder weniger alle Kommunikationsprozesse. Hinzu kommen, nicht nur durch Hierarchien, sondern auch durch die verschiedenen Arbeitsbereiche bedingt, unterschiedliche Zielorientierungen der handelnden Personen. Das Konfliktpotenzial, das sich aus solchen komplexen Kommunikationssituationen ergibt, sollte nicht nur hinsichtlich sprachlicher Phänomene untersucht werden (z.B. Probleme durch unterschiedlichen Fachsprachengebrauch oder notwendige Mehrfachadressierung), sondern es sollten auch die Einstellungen der Handelnden und entsprechende psychische Effekte berücksichtigt Kommunikationsprofile in der Unternehmenskommunikation 327 werden. Hier kann die Psychologie nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch wertvolle Anregungen liefern (vgl. z.B. die Methode der „kritischen Ereignisse“ bzw. „kritischen Anforderungen“ und die der „subjektiven Eignungstheorien“, im Unternehmenskontext beschrieben und angewandt z.B. bei Graner 2005). • Auch bei der Klärung eines geeigneten Wissens- und Kompetenzbegriffs dürfte die Psychologie wertvolle Anregungen zu liefern haben (z.B. Kronenberg 1996; Kammhuber in diesem Band; Neuweg 2001). Für die Unternehmenskommunikation außerdem interessant ist hier, wie ein sinnvolles Wissens- und Informationsmanagement betrieben werden kann, eine Frage, mit der sich nicht nur die Wirtschaftsinformatik (vgl. z.B. Buxmann 2001), sondern auch die Organisationspsychologie schon lange beschäftigt (vgl. z.B. Heiss 2005 und dortige Literaturhinweise). • Schließlich geht es bei den abzuleitenden Kommunikationsmaximen unter anderem um Aspekte wie Motivation und Effizienz bzw. Effektivität, auch dies Forschungsgegenstände der Organisationspsychologie (vgl. z.B. Kronenberg 1996; Rosenstiel 1998). 5 Perspektiven für Praxis und Angewandte Linguistik Da das Ziel bei der Erstellung von Kommunikationsprofilen ist, für konkrete Tätigkeitsbereiche ein möglichst authentisches und vollständiges Bild beruflicher Sprachverwendung zu entwerfen und daraus notwendige kommunikative Kompetenzen und Wissensbestände zu rekonstruieren, versprechen Kommunikationsprofile für die Praxis einen doppelten Nutzen: Einerseits kann das jeweilige Kompetenzprofil sowohl Berufseinsteigern als auch den mit der Aus- und Fortbildung befassten Institutionen und Organisationen Anhaltspunkte dafür geben, welche Kompetenzen in einem bestimmten Tätigkeitsbereich benötigt werden. Gerade in Berufen, denen keine sprach- oder kommunikationswissenschaftliche Ausbildung zugrunde liegt, kann es für alle Seiten - Ausbilder, Arbeitnehmer, Arbeitgeber - hilfreich sein, sich mit Hilfe von Kommunikationsprofilen vor Augen zu führen, wie vielfältig die täglichen sprachlich-kommunikativen Anforderungen in einem Tätigkeitsbereich sind und dass komplexe kommunikative Aufgaben leichter bewältigt werden können, wenn die dafür notwendigen Kompetenzen bereits in der Ausbildung erworben werden konnten. Auch entsprechender Fortbildungsbedarf nach der eigentlichen Ausbildung lässt sich über Kommunikationsprofile besser konkretisieren und begründen (vgl. Jakobs 2006, 330). Andererseits ermöglichen vernetzte Kommunikationsprofile verschiedener, aber miteinander kooperierender Tätigkeitsbereiche und Berufsfelder einen Überblick darüber, wo Kooperation sowieso stattfindet und wo sie Nina Janich 328 darüber hinaus nützlich, sinnvoll und effektiv wäre - sie können demnach auch einen Beitrag zu erfolgreichem Wissensmanagement leisten. Zusammengefasst versprechen Kommunikationsprofile das Bewusstsein für die zentrale Rolle von Sprache und Kommunikation im Beruf zu stärken, wenn nicht mancherorts auch erst zu schaffen. Sie können dabei sowohl als Prüfinstanz für das breite Beratungsangebot der Laienlinguistik und Praktischen Rhetorik herangezogen werden als auch selbst als Grundlage eines wissenschaftlich fundierten Aus- oder Weiterbildungsangebots dienen. Für die Angewandte Linguistik können Kommunikationsprofile als Koordinatensysteme dienen, in die bereits geleistete Forschung eingeordnet werden kann und aus denen sich noch offene Forschungsfragen erschließen lassen. Eine Operationalisierung des Begriffs bzw. Überprüfung der vorgeschlagenen Matrix am konkreten Fall ist zwar noch zu leisten, aber die Ausführungen sollten gezeigt haben, dass das Konzept offen genug ist, um es an unterschiedliche Forschungskontexte und Berufsfelder anzupassen und je nach Erkenntnisinteresse entweder auf Kommunikationsprozesse mit ihren Text- und Gesprächssorten, auf Kompetenzen und Wissen oder auf die Vernetzung zwischen verschiedenen Tätigkeitsbereichen und ein entsprechendes Wissens- und Kommunikationsmanagement zu fokussieren. 6 Bibliographie Bischl, Katrin (2000): Die Mitarbeiterzeitung. Kommunikative Strategien der positiven Selbstdarstellung von Unternehmen. Wiesbaden. Brinker, Klaus (2005): Linguistische Textanalyse. 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Lange bevor verschiedene akademische FachvertreterInnen sich anstrengten in interdisziplinären Dialogen sich über Verständigung zu verständigen, was oftmals misslang, bündelte sich ein reichhaltiges Wissen zur Wissenschaft und Praxis der Kommunikation in den Werken der abendländischen Rhetorik und Dialektik. Lange bevor Kultusministerien diskutierten, ob die Förderung der mündlichen Kommunikationskompetenz in den Lehrplänen von Schülern und in der Lehrerausbildung verankert werden soll, war es von der Antike bis zum 18. Jhdt. selbstverständlicher Bestandteil im Bildungskanon für jeden, der in der Gesellschaft nach Höherem strebte. Und lange bevor die Mehrheit des deutschen Volks die nationalsozialistische Propaganda bereitwillig aufnahm, waren die zentralen Wirkmechanismen der Überredung und Überzeugung aufgeschrieben worden. Nun ist uns leider dieser Schatz bis auf wenige Ausnahmen abhanden gekommen, was zur Folge hat, dass eine nicht unerhebliche Anzahl eigentlich vernünftig wirkender Menschen sich an testoteron-geladenen Tschakka-Du-schaffst-es- Motivationsshows berauscht, oder man sich bei medienpsychologischen Experimenten zur Beurteilung der Überzeugungskraft von Kanzlerkandidaten die Augen reibt, weil der jeweilige Kandidat immer dann Zustimmung erntete, wenn die Aussage wenig differenziert, aber dafür umso nachdrücklicher formuliert wurde. So kann konstatiert werden, dass das gut nachvollziehbare Misstrauen, das in Deutschand nach 1945 der Rhetorik und Kommunikation entgegengebracht wurde, den schon damals sehr durchlässigen Schutzschild gegenüber kommunikativer Manipulation noch weiter verkümmern ließ. Der Eindruck scheint sich immer wieder zu bestätigen, wenn der Fernsehzuschauer die rhetorische Hilflosigkeit von Politikern und Journalisten gegenüber sog. „Volkstribunen“ und „Rechts- oder Linkspopulisten“ mit Erschrecken und Bedauern zur Kenntnis nehmen muss. Aus dem gemeinsamen Wurzelwerk der Rhetorik sind viele Triebe gesprossen. Linguisten, Kommunikationspsychologen, -pädagogen und -soziologen, Sprach- und Sprechwissenschaftler, Kommunikations- und Stefan Kammhuber 332 Medienwissenschaftler u.v.m. haben ihre eigenen Perspektiven in Form von Theorien und Methoden ausdifferenziert und beanspruchen, die jeweils vorherrschende Disziplin auf dem Gebiet der Kommunikation zu sein. Letztendlich sind wir aber alle wie die Blinden in der bekannten Allegorie, die einen Elefanten an unterschiedlichen Stellen abtasten und versuchen dieses Tier zu beschreiben. Jede Aussage beansprucht ihre Geltung, spiegelt aber eben nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit wider, so dass nur das kooperative Verhandeln der jeweiligen Perspektiven uns ein Stück weit dem Untersuchungsgegenstand näher bringt. In diesem Beitrag soll deshalb geklärt werden, wie der übermächtige Elefant „Kommunikation“ aus psychologischer Perspektive beschrieben werden kann und welche Ableitungen daraus für die Förderung kommunikativer Kompetenz vorgenommen werden können. Der Forschungsgegenstand Kommunikation ist in verschiedenen Disziplinen der Psychologie von Interesse. Während die Entwicklungspsychologie der Frage der lebensgeschichtlichen Entwicklung von Sprach- und Dialogfähigkeit nachgeht, beschäftigt sich die allgemeine Psychologie und zunehmend auch die Neuropsychologie mit ihren bildgebenden Verfahren mit der Beschreibung von Funktionen und Prozessen, die dem Miteinandersprechen zugrunde liegen oder es begleiten. Am intensivsten erforscht wird Kommunikation innerhalb der Sozialpsychologie, die sich auf die Beschreibung und Erklärung des Erlebens und Verhaltens von Menschen in ihrem sozialen Kontext konzentriert. Viele Disziplinen der sog. Angewandten Psychologie, z.B. die Wirtschaftspsychologie, pädagogische oder klinische Psychologie, greifen diese Ergebnisse auf und nutzen sie für ihre jeweiligen Zwecke (Auhagen/ Bierhoff 2003). In der Sozialpsychologie wird Kommunikation meist in Begleitung des noch weiter zu fassenden Vorgangs der sozialen Interaktion bearbeitet, also des aufeinander bezogenen Handelns von Personen in Situationen. Darunter fallen dann auch die Prozesse der sozialen Wahrnehmung und die daraus abgeleiteten Attributionsprozesse über Ursachen und Ziele des eigenen und fremden Verhaltens. Diese Vorgänge sind für das Verstehen kommunikativer Beziehungen von enormer Bedeutung, wie das folgende Beispiel zeigen wird, auf das ich mich im Folgenden immer wieder beziehen werde: D ER S PIEGEL berichtet in einem Artikel mit der Überschrift „Der große Kommunikator“ über den Vorstandsvorsitzenden von DaimlerChrysler, Dieter Zetsche: „Es geschah am Mittwoch, dem 25. Januar, in der Konzernzentrale Stuttgart- Möhringen. Zetsche trat vor die Führungskräfte. Er entschuldigte sich für ein Absperrseil zwischen den Mitarbeitern und seinem kleinen Stehpult. Er hasst solche Barrieren. Bei anderen Gelegenheiten zieht er gerne sein Sakko aus und signalisiert so Nähe zu den Gesprächspartnern (…). Dann sagte der Konzernboss zunächst einiges nicht: er sagte nicht: Wir wollen 1,5 Milliarden Euro sparen und deshalb 6000 Arbeitsplätze in der Verwaltung streichen. Stattdessen beschrieb er die Nöte, mit denen die meisten der Versammelten zu kämpfen haben (…) ‚Sie al- Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 333 le wissen, wie viel Zeit Sie täglich mit Überprüfungen, Abstimmungen, Absicherungen und Abgrenzungen verbringen’, sagte Zetsche. Und er präsentierte die Erlösung von diesem Übel: sein neues Management-Modell. (…) Zetsche sagte nicht: Wir werden die Macht der Zentrale und somit auch des Vorstandsvorsitzenden stärken. Er sagte, man befreie die Führungskräfte vor Ort von Verwaltungsaufgaben. Dass deshalb 6000 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren werden, erschien den Zuhörern offenbar logisch. Zetsche sagte noch, es sei ihm ‚sehr bewusst, dass hinter den Zahlen Menschen und Schicksale stehen’. Und die Schicksale applaudierten, spärlich zwar, aber immerhin.“ (Nr. 33, 14.08.06, 73) 2 Kommunikationsmodelle Beginnen wir zunächst mit der Analyse der Kommunikationssituation. In der Rhetorik und später in der Psychologie hat es immer wieder Versuche gegeben, den Vorgang der Kommunikation zu beschreiben, um ihn verstehbar und lehrbar zu machen. Weite Verbreitung erfuhr dabei das an die Nachrichtentechnik angelehnte Sender-Empfänger-Modell von Shannon und Weaver (1948). Demzufolge nehmen Gesprächspartner wechselseitig die Rollen von Sender und Empfänger ein und übermitteln sich Informationen. Dabei enkodiert der Sender das von ihm Gemeinte, die Bedeutung, in Zeichen, die der Empfänger wahrnimmt und seinerseits wieder in Bedeutung übersetzt, und dann läuft der Prozess wieder umgekehrt zurück. Vorraussetzung für das Verstehen der Information ist, dass Sender und Empfänger über den gleichen Zeichen- und Bedeutungsvorrat verfügen. In der oben beschriebenen Situation scheinen aber erheblich vielschichtigere Prozesse abgelaufen zu sein, die in diesem Modell nicht erfasst werden, wie z.B. die Ängste der Mitarbeiter, die kommunikativen Erfahrungen mit dem Vorgänger Schrempp etc. Kurzum, das Modell ist zu simpel, um daraus tatsächlich Ableitungen für eine kommunikative Praxis vorzunehmen. In der gegenwärtigen Praxis der Kommunikationstrainings erfreut sich das 4-Seiten-Modell der Nachricht des Hamburger Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz v. Thun besonderer Beliebtheit. Er geht davon aus, dass eine Äußerung immer vier Aspekte enthält: eine Information über den Inhalt (Sachinhalt), über die Person selbst (Selbstoffenbarung), die Beziehung zum Gesprächspartner (Beziehung), sowie eine Intention (Appell). Verstehen ereignet sich dann, wenn der Gesprächspartner in der Lage ist, die vier Aspekte in ihrer Gewichtung zu entschlüsseln, wie sie vom Sender auch gemeint waren. Dieses Modell stellt eine empirisch und logisch nicht ganz einwandfreie Kombination des Zeichenmodells von Karl Bühler (1934) und den sog. Axiomen der Kommunikation von Paul Watzlawick dar, insbesondere dessen Unterteilung von Kommunikation in Inhalts- und Beziehungsaspekt. So soll hier das logisch stringentere Modell von Bühler als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen im Mittelpunkt stehen. Bühlers Ansatzpunkt sind die Funktionen menschlicher Sprache, die er nach drei Aspekten unterscheidet: Stefan Kammhuber 334 1. Darstellungsfunktion, d.h. dass sprachliche Zeichen immer auf einen Inhalt verweisen, also einen Sachbezug haben; 2. Ausdrucksfunktion, d.h. dass eine Äußerung immer auch einen Hinweis über die Befindlichkeit des Sprechers enthält, über seine Stimmung, seine Einstellung etc.; 3. Appellfunktion, d.h. dass Sprechen als Handlung immer intentional ausgerichtet ist, also beim Gesprächspartner eine bestimmte Reaktion auslösen will; Die Verwendung der grammatischen Formen in Bezug auf die drei Funktionen der Sprache ist beabsichtigt. Während in Bezug auf den Sachinhalt eindeutig festgelegt werden kann, was gerade sprachlich verhandelt wird, kann dies in Bezug auf die Ausdrucksfunktion und die Intention des Sprechers nur konjunktivisch beschrieben werden, denn zu einem vollständigen Verstehen der Äußerung bedarf es vieler weiterer Informationen, z.B. welche Beziehungshistorie Mitarbeiter und Vorstand aufweisen, welche Hoffnungen mit dem Vorstand verbunden sind etc. Wir wissen also zu wenig über die Sprechsituation in diesem Fall. Gerade in den Kommunikationsmodellen der klassischen Psychologie wurde die Sprechsituation zumeist vernachlässigt. Es ging darum, allgemeingültige Aussagen über das Miteinander- Sprechen zu formulieren, so dass die kontextuelle Einbettung, von der die Bedeutungsgebung entscheidend abhängt, in den Hintergrund trat. In der Tat schrieben zwar sowohl Bühler als auch später Schulz von Thun über die Sprechsituation. Gleichwohl fanden in ihren graphischen Modellen die situativen Faktoren keine Berücksichtigung. Erst in jüngster Zeit hat sich die Psychologie wieder verstärkt mit der Situiertheit psychischer Funktionen beschäftigt. Die Forschung zu sog. „Situated Cognition“ bzw. „Situated Learning“ oder auch „Situated Action“ hat in den USA wieder Bewegung in die allgemeine Psychologie und insbesondere in die Pädagogische Psychologie gebracht, indem gezeigt wurde, dass die bisherige Vorstellung vom menschlichen Geist als einer mehr oder weniger gut funktionierenden Computerfestplatte der Komplexität und Flexibilität menschlichen Handelns in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation nicht gerecht wird. Die erkenntnistheoretische Basis dieser Ansätze sind der Pragmatismus in der Tradition von William James und John Dewey sowie die soziohistorische Schule in der Tradition von Wygotskji. In ihnen wird davon ausgegangen, dass Menschen durch das Handeln in und mit ihrer Umwelt Wissen aufbauen, modifizieren und verändern. Das Wissen einer Person kann nicht von der Erfahrungssituation getrennt werden, in der es konstruiert wird. Es ist also immer mit der spezifischen lebensgeschichtlichen Situation, mit dem spezifischen Vorwissen einer Person, der spezifischen raum-zeitlichen Konstellation, den Erwartungen, Emotionen und Absichten unauflöslich verknüpft (Kammhuber 2000a). Kommunikative Kompetenz bedeutet dann, in der Lage zu sein, in der entsprechenden Kommunikationssituation diese komplexen Interaktionsbe- Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 335 ziehungen der Person-Umwelt-Verbindungen des Gesprächspartners zu ergründen, um aus dem Gesagten das Gemeinte zu erschließen und entsprechend darauf zu reagieren. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir den Gesprächspartner in seiner biographischen Situiertheit intensiv kennen bzw. über kommunikative Strategien verfügen, um ihn im Gespräch kennen zu lernen. Nimmt man dies ernst, dann ist streng genommen wahrhaftes Verstehen so gut wie unmöglich. Selbst von Menschen, die uns sehr gut kennen, fühlen wir uns im Alltagserleben doch häufig unverstanden. Um wieviel weniger werden wir selbst dann im beruflichen Alltag unsere Kollegen und Gesprächspartner tatsächlich verstehen? Schnell wird aus einer solchen Perspektive deutlich, dass die klassischen Ratgeber der Kommunikationspraxis ins Leere gehen, versuchen sie doch allgemeine Hinweise zu liefern, wie jedermann in jeder Situation zu jeder Zeit rhetorisch bestehen kann. Ganz besonders deutlich wird dies bei Büchern mit Musterreden, -predigten oder auch -bewerbungsschreiben. Diese sind zwar zumeist geschliffen getextet, aber eben nicht in Bezug auf die spezifische Zielgruppe, die vom Nutzer zu einem bestimmten Zeitpunkt angesprochen werden soll. Bedeutet dies aber, dass Rhetorik bzw. Kommunikation nicht lehrbar oder lernbar ist? Mit Sicherheit nicht. Es ist nur nicht ganz so einfach, wie es manche Hochglanzprospekte von Rhetoriktrainern versprechen. 3 Kommunikative Kompetenz als Person-Situation- Interaktion Wenn wir nun aus der Perspektive der situierten Kognition Ableitungen für die Bestimmung kommunikativer Kompetenz vornehmen wollen, wäre der erste Schritt die Analyse sog. Behavior Settings für Gesprächssituationen. Der Begriff Behavior Settings entstammt der ökologischen Psychologie und bezeichnet Situationen, die eine spezifische Person-Umwelt-Konstellation beinhalten. Bereits in der antiken Rhetorik unterschied man z.B. drei Gattungen der Rede, die Gerichtsrede, die beratende (politische) Rede und die Lob- und Tadelrede. Für jede dieser Gattungen galten andere Überzeugungsmittel als wirksam, ging es doch bei der Gerichtsrede um die Feststellung, ob ein Verhalten gerecht oder ungerecht zu bewerten war, bei der beratenden Rede, inwieweit eine Entscheidung positive oder negative Konsequenzen zeitigt, und bei der Lob- und Tadelrede, inwieweit ein Verhalten den in der Gesellschaft gültigen Normen besonders gut oder schlecht entspricht. Beziehen wir dies auf die Gegenwart der Unternehmenskommunikation können z.B. folgende Kommunikationssituationen identifiziert werden, wie z.B. Einstellungsgespräch, Zielvereinbarungsgespräch, Kreativrunden, Brainstorming, Meinungsaustausch ohne Entscheidungsfindung, Problemlöse-Besprechungen mit Entscheidungsfindung, Regelkommunikation, jährliches Mitarbeitergespräch, Dienstgespräch mit Mitarbeitern, Kri- Stefan Kammhuber 336 tikgespräch, Beurteilungsgespräch, Verhandlungsgespräch, z.B. mit Zulieferern, Einkäufern; Verkaufsgespräch, Rückkehrgespräch, z.B. nach längerer Krankheit eines Mitarbeiters, Ansprache (z.B. bei Dienstjubiläen), Präsentation (z.B. in der Betriebsversammlung), Vortrag (z.B. vor externen Bezugsgruppen), Mediengespräch (z.B. in Pressekonferenzen, TV-Statements, Talkshows) etc. Jede dieser Kommunikationssituationen ist durch Situationsfaktoren, wie z.B. Rollenverteilung, Geschlechter-, Alters- oder Machtverhältnisse bestimmt. Geht es in einem Beurteilungsgespräch einzig und allein um die Bewertung der Arbeitsleistung eines Mitarbeiters durch den Vorgesetzten mit entsprechenden Konsequenzen, z.B. (Nicht-)Beförderung, Prämie u.ä., so weist diese Situation ein starkes Machtgefälle auf, denn die Arbeitsleistung des Vorgesetzten steht ja nicht zur Debatte. Hingegen kann in öffentlichen Verwaltungen und in der Mehrheit von Unternehmen ein Mitarbeiter das jährliche Mitarbeitergespräch einfordern, in dem sich Vorgesetzter und Mitarbeiter gegenseitig Rückmeldung über arbeitsalltagsübergreifende Problemstellungen, wie z.B. Zusammenarbeit, Arbeitsplatz, Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, geben. Auch hier spielt der Machtunterschied zwischen Führungskraft und Mitarbeiter eine Rolle, ist aber schwächer ausgeprägt, weil der Mitarbeiter erheblich mehr Einfluss auf den Gesprächsverlauf und die Gesprächsthemen nehmen kann und nach Unterschrift unter ein gemeinsames Protokoll auch eher in der Lage ist, Veränderungen einzufordern. Führte eine Führungskraft ein jährliches Mitarbeitergespräch wie ein Beurteilungsgespräch, würde das eigentliche Ziel des jährlichen Gesprächs, nämlich auch als Vorgesetzter eine Rückmeldung zu erhalten bzw. die gegenseitigen Erwartungen zu klären, konterkariert werden. Kommunikative Kompetenz bedeutet also zunächst die Fähigkeit, die einer Kommunikationssituation inhärenten Einflussfaktoren zu reflektieren, also wer redet mit wem, in welcher Rollenverteilung, in welchem raumzeitlichen Kontext, mit welcher Beziehungshistorie, aus welchem Grund und mit welchem Ziel. Diese Einflussfaktoren lassen sich weiter differenzieren. Teilen mein Gesprächspartner und ich den gleichen kulturellen Hintergrund oder haben wir eine sehr unterschiedliche Sozialisation durchlaufen? Erwartet mein Mitarbeiter einen eher kooperativen oder einen eher paternalistischen Führungsstil? Haben meine Mitarbeiter bereits schlechte Erfahrungen mit Personalinstrumenten gemacht und sind deshalb gegenüber der Einführung des jährlichen Mitarbeitergesprächs voreingenommen? Findet die Regelkommunikation bei Schichtübergabe in einer lauten Werkshalle in wenigen Minuten statt oder in einem ruhigen Raum in längerer Zeit? Sind die Mitarbeiter vor einer Betriebsversammlung durch kursierende Gerüchte über evtl. Produktionsverlagerungen in Sorge? Die Psychologie liefert für eine nähere Analyse dieser Fragen entsprechende Forschungsergebnisse und -methoden, wie z.B. die Kulturpsychologie und die Interkulturelle Psychologie, in der erfasst wird, wie sich das in einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft verhandelte Orientierungssys- Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 337 tem aus Werten, Normen und Regeln auf die Erwartungen der Menschen an bestimmte (Kommunikations-)Situationen auswirkt. So konnte z.B. in einer an der Universität Regensburg durchgeführten, quasi-experimentellen Studie mit insg. knapp 300 Versuchspersonen aus drei unterschiedlichen Kulturkreisen (chinesisch, arabisch, deutsch) festgestellt werden, dass die jeweiligen Zuhörer unterschiedliche, kulturspezifische Vortragseröffnungen (chinesisch, arabisch, deutsch) präferierten. Den Versuchspersonen wurden drei verfilmte Vortragseröffnungen einer Gastvorlesung gezeigt, präsentiert von demselben Sprecher in demselben situativen Kontext. Während die deutsche Vortragseröffnung sachorientiert gestaltet war, beinhaltete die arabische Eröffnung eine ausführliche Danksagung, religiöse Floskeln und patriotische Bezüge verbunden mit einem intensiven nonverbalen Ausdrucksverhalten. Die chinesische Eröffnung war dagegen geprägt von Höflichkeitsroutinen gekoppelt mit einem zurückhaltenden nonverbalen Ausdruck. Danach wurden die Zuhörer aufgefordert, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie die Eröffnungen entlang bestimmter Skalen bewerten und auch eine Priorisierung vornehmen sollten, welche der Eröffnungen sie am passendsten empfinden. Ihnen wurde nicht mitgeteilt, dass es sich bei der Studie um ein interkulturelles Experiment handelt, sondern lediglich um eine Studie zur Rhetorik. Dabei konnte festgestellt werden, dass die unterschiedlichen Gruppen die eigenkulturelle Eröffnung in der Regel bevorzugten und die anderen eher ablehnten (Pechler 2004; Lackner 2004; Sessner 2004). Die Studie zeigt, dass der kulturelle Kontext ein Normensystem bereithält, das als Orientierung für die Gestaltung und den Ablauf rhetorischer Situationen genutzt und als Maßstab zur Beurteilung für die Angemessenheit der rhetorischen Leistungen anderer herangezogen wird. Wird dieser kulturspezifische Kontext vernachlässigt, z.B. weil eine Person davon ausgeht, dass sie über „genügend Fingerspitzengefühl“ und „gesunden Menschenverstand“ verfügt, um in jeder Situation bestehen zu können, so kann auch nicht mehr von kommunikativer Kompetenz dieser Person gesprochen werden. Die Erstellung situationsspezifischer Kommunikationsprofile, wie sie Janich (in diesem Band) fordert, ist deshalb unbedingt zu unterstützen. 4 Kommunikative Kompetenz: Partialkompetenzen Nachdem wir uns nun eingehend mit der Notwendigkeit der Analyse der Sprechsituation auseinandergesetzt haben, können nun nachfolgend aus dem Modell der Sprechsituation drei Partialkompetenzen abgeleitet werden (siehe auch Kammhuber 2000b), die wiederum in Bezug auf die drei psychologischen Funktionsebenen Kognition, Emotion und Handeln beschrieben werden können: Stefan Kammhuber 338 4.1 Ausdruckskompetenz Wenn Personen eine Situation als gemeinsame empfinden, so wird auch das gezeigte Verhalten füreinander von Bedeutung. Erst dann gilt der berühmte Satz von Watzlawick, dass Menschen nicht nicht kommunizieren können. Jedes Ausdrucksverhalten führt dann zu einer Eindrucksbildung beim Gesprächspartner, ob es der Sprecher beabsichtigt oder auch nicht. So kann in einer Krisensituation das Statement „Kein Kommentar“ des Unternehmenssprechers zu einem Eindruck der Blockade und des Mauerns und in der Folge erst recht zu Misstrauen führen. Das Ausdrucksverhalten besteht aus verbalen und nonverbalen Zeichen. Das verbale Ausdrucksverhalten bezieht sich z.B. auf die Wahl der Sprachebene in einer bestimmten rhetorischen Situation. So ist eine gute Führungskraft ebenso wie ein guter Politiker in der Lage, die Sprachebene in Abhängigkeit von der Zielgruppe zu variieren, um den entsprechenden Eindruck zu erzeugen. Man spricht dann gerne von „Stallgeruch“ oder „Volksnähe“. Im Feld der nonverbalen Kommunikation lassen sich visuelle (z.B. Mimik, Gestik, Blickkontakt, Habitus), auditive (z.B. Stimmhöhe, Sprechgeschwindigkeit, Stimmklang, Stimmführung), taktile (z.B. Distanz, Berührungen, Verhalten im Raum) und olfaktorische (Gerüche) Ausdrucksmittel unterscheiden. Die Kommunikationspsychologie wiederum beschäftigt sich damit, festzustellen, welche Ausdrucksmittel mit welcher Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Eindruck führen, der dann das weitere Gesprächsverhalten beeinflusst; im obigen Beispiel überwindet DaimlerChrysler-Chef Zetsche die Distanz räumlich, er zeigt einen ‚hemdsärmeligen’ Habitus, und der S PIEGEL -Autor empfindet das Gesprächsverhalten sofort als „Nähe“. Besonders interessant wird Ausdrucksverhalten und Eindrucksbildung im Kulturvergleich, wenn die Ausdrucksmittel mit anderen Bedeutungen versehen werden. So wird Lachen in asiatischen Kulturkreisen sehr oft eingesetzt, um Spannung aus konfliktträchtigen Situationen herauszunehmen bzw. von kritischen Themen im Gespräch abzulenken, was von Deutschen oftmals als irritierend oder nicht dem Ernst der Lage entsprechend beurteilt wird (Kammhuber 2003b). Menschen sind mehr oder weniger bewusst bestrebt, den Eindruckbildungsprozess beim Gesprächspartner zu steuern. Die Psychologie des „Impression Management“ (Mummendey 1995) interessiert sich dabei für Strategien, die Menschen für diesen Zweck einsetzen, wie z.B. Andeuten der eigenen Expertise („nach 20 Jahren in diesem Forschungsgebiet kann ich Ihnen sagen…“) oder der Präsentation des eigenen Prestiges („ich spreche nur ungern über mein Bundesverdienstkreuz…“). Kommunikative Kompetenz bedeutet im Hinblick auf die Ausdruckskompetenz das eigene Ausdruckverhalten einer Reflexion zugänglich machen zu können und es intentional steuern zu können, also vom Ausdrucksverhalten zum Ausdruckshandeln zu gelangen. Das setzt das Wissen um die Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 339 verschiedenen (non-)verbalen Ausdrucksmittel voraus sowie das Wissen um die individuellen und soziokulturellen Wahrnehmungsvorgänge der Rezipienten. Um dieses Wissen in manifestes Ausdruckshandeln zu übersetzen, bedarf es der entsprechenden physischen Fähigkeiten sowie einem geeigneten emotionalen Zustand, z.B. ob eine Person in der Lage ist das normale Lampenfieber zu kontrollieren und zu nutzen (Beushausen 1996). 4.2 Darstellungskompetenz Einen Sachverhalt darstellen zu können, so dass es der oder die Gesprächspartner verstehen können, ist eine in einer arbeitsteiligen Gesellschaft notwendige Kompetenz, ob es sich nun um die Präsentation eines neuen „Managementmodells“, eine Schichtübergabe, die Delegation einer Aufgabe, eine Pressekonferenz etc. handelt. Kommunikationspsychologen haben diesen Prozess unter dem Stichwort „Verständlichkeit“ empirisch und theoretisch zu erfassen versucht. So entwickelte z.B. Groeben (1982) folgende Kriterien der Verständlichkeit: • Kognitive Gliederung und Ordnung: Verstehen hängt immer davon ab, inwiefern der Gesprächspartner in der Lage ist, das Mitgeteilte mit seinem Vorwissen in Verbindung zu bringen, es integrieren zu können. Dies kann z.B. durch Vor- und Nachstrukturierung von Gesprächsinhalten geleistet werden. • Sprachliche Einfachheit: Anschauliches, begreifbares Sprechen sowie einfache Satzkombinationen mit wenig Einschüben und Passivkonstruktionen erhöhen die Verständlichkeit. • Semantische Kürze und Redundanz: Kürzere Texte sind verständlicher als längere. Bei komplexen, längeren Beiträgen kann die Wiederholung von zentralen Aussagen die Verständlichkeit wesentlich erhöhen, insbesondere in der mündlichen Kommunikation. • Motivationale Stimulanz: Um eine Aussage zu verstehen, muss nicht nur ein Mitteilungswille beim Sprecher, sondern auch ein Verstehenswille beim Gesprächspartner gegeben sein. Es muss aus Sicht des Partners ein „guter Grund“ gegeben sein, warum ich jemandem zuhören soll. In der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, die zu den Situiertheitstheorien zählt, geht man davon aus, dass Menschen erst dann, wenn sie eine für sie relevante Handlungsbarriere erleben, einen intensiven Lernprozess beginnen (Holzkamp 1995). Solche Barrieren können z.B. sog. konzeptuelle Konflikte sein, wenn also etwas für den Gesprächspartner Neues, Spannendes, mit dem Vorwissen noch nicht Integrierbares dargestellt wird. Neben diesen, dem Sprechen inhärenten, Kriterien zählt zur Darstellungskompetenz auch die Steuerung der Kommunikationssituation, also die Sicherstellung, dass der Sprecher akustisch hörbar ist und seine Visualisierungen für die Zuhörer sichtbar sind. In diesem Zusammenhang wird dann die Stefan Kammhuber 340 Medienkompetenz, z.B. bei der Verwendung von Präsentationsprogrammen oder Mikrofonen wichtig. In einer sich global immer weiter vernetzenden Welt ist es eine zentrale Aufgabe, die Verstehensfähigkeit sicherzustellen, wenn z.B. in einer für die Zuhörer erst neu gelernten Sprache kommuniziert wird, z.B. in Ausländerbehörden und Integrationskursen, oder in der Verkehrssprache des Weltunternehmens, die für manche Mitarbeiter noch fremd ist. Kommunikative Kompetenz bedeutet in Bezug auf die Darstellungskompetenz, Sprechsituationen veständlich gestalten zu können. Dies setzt das Wissen um Kriterien der Verständlichkeit ebenso voraus wie das Wissen um das Vorwissen der Zielgruppe, die Fähigkeit einen Mitteilungswillen zu entfalten und sich nicht durch Lampenfieber-Phänomene stören zu lassen sowie die sprecherischen Mittel, um die Kriterien in das Sprechhandeln zu übersetzen. 4.3 Gesprächskompetenz Sprechen ist immer mit einer Intention verbunden. Ob diese Intention verstanden wird, hängt zunächst von den bereits beschriebenen Ausdrucks- und Darstellungskompetenzen des Sprechers ab. Überzeugendes Sprechen hängt aber insbesondere von der Definition der Beziehung ab, die der Gesprächspartner vornimmt. Wird der Sprecher als authentisch erlebt? Ist er mir sympathisch? Verfolgt er kooperative Gesprächsziele? Oder wird er als manipulativ empfunden? Erst wenn die Beziehung zum Gesprächspartner geklärt ist, kann die Bedeutung des Gesagten verstanden werden. So wird bei einem beiderseits frisch verliebten Pärchen der Satz „Du bist ja eine Schnepfe! “ keine Eskalation auslösen, während das bei einem Paar, das sich seiner gegenseitigen Zuneigung nicht mehr sicher ist, zu einer ernsthaften Krise führen kann. Damit Gespräche für alle Beteiligten als gelungen empfunden werden können, es sich tatsächlich um gegenseitiges Überzeugen und weniger um Überreden durch den Einsatz mehr oder weniger subtiler Machtmittel handelt, ist die Frage der Gesprächshaltung bzw. der Ethik des Sprechens berührt. Erstaunlicherweise hat die Psychologie hier nur wenig von der antiken Rhetorik, insbesondere von den Schriften Quintilians profitiert, der ein einzigartiges Gefüge rhetorischer Schulung als umfassender Persönlichkeitsentwicklung entworfen hatte. Der gute Mensch, der „vir bonus“, vereinte in sich eine umfassende Bildung mit einer exzellenten rhetorischen Technik und einem ausgeprägten Gefühl um moralisches Tun. Nur ihm konnte hohe ‚kommunikative Kompetenz’ bescheinigt werden. Haltungsfragen waren der sich als Naturwissenschaft verstehenden akademischen Psychologie aber eher suspekt und wurden der Philosophie oder Theologie überlassen, womit sie allerdings in Bezug auf die Kommunikationspsychologie lange Zeit einen ausgeprägten blinden Fleck zu verzeichnen hatte. Erst die entwicklungspsychologische Forschung zum moralischen Denken und Handeln oder auch die Psychologie zur Vertrauensbildung, Kommunikative Kompetenz aus psychologischer Perspektive 341 aber vor allem auch die Psychologie der therapeutischen Kommunikation, die nicht ohne die Reflexion der therapeutischen Haltung bestehen kann, liefern die Grundlage für eine Bestimmung einer kommunikativen Kompetenz, die nicht als pure Sozialtechnologie zum Schlechten wie zum Guten beliebig verwendbar ist, sondern sich an moralischen Kategorien messen lassen muss. Wenn wir uns zurückbesinnen auf die Ausführungen zur situierten Kognition, so wird deutlich, dass ein absoluter Wahrheitsanspruch einer Person erkenntnistheoretisch nicht abbildbar ist, sondern in einem Prozess der sozialen Konstruktion über Perspektiven auf die Welt verhandelt wird. Es geht also weniger um Wahrheit als vielmehr um Plausibilitäten. Wenn dies so ist, so kommt dem Argumentieren und der Prüfung der Grundlagen und Gültigkeit von Schlussregeln eine entscheidende Rolle zu. Damit Argumente aber geprüft werden können, müssen sie geäußert werden, also Situationen geschaffen werden, in denen alle Beteiligten zu Worte kommen und die Möglichkeit zur Prüfung der Argumente haben. Insbesondere in hierarchischen Systemen ist diese trivial anmutende Aussage eine ständige Herausforderung. Kann tatsächlich ein Argument der Vorgesetzten ohne Angst vor Konsequenzen hinterfragt oder gar widerlegt werden? Drei Aspekte, die ich an anderer Stelle bereits beschrieben habe (Kammhuber 2000b), sind für die Gesprächskompetenz entscheidend: • Transparenz: Die Offenlegung von Gesprächszielen, von hierarchischen Einflüssen und Entscheidungsprozessen, macht Gegenstände verhandelbar. • Partizipation: Kann sich jeder an einer Gesprächssituation beteiligen und tatsächlich und nicht nur scheinbar Einfluss auf das Gesprächsergebnis und die Entscheidungsfindung ausüben? • Wertschätzung: Nicht honigsüßes Vermeiden von kritischen Themen ist damit gemeint, sondern ein tatsächliches Wert-Schätzen, d.h., sich mit dem Gesprächspartner mit seinem individuellen, sozialen und kulturellen Hintergrund auseinander zu setzen, ihn ernst zu nehmen und mit Respekt zu begegnen. Sie kann nicht gespielt werden durch rhetorische Techniken, wenngleich sie helfen können, tatsächliche Wertschätzung auch auszudrücken. Spätestens hier wird klar, warum die häufig von den Medien vor Kanzlerduellen herangezogenen „Körpersprache-Experten“ nicht mehr leisten als schlechte Wahrsager in einem muffigen Zelt. 5 Bibliographie Aronson, Elliot. (1994): Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluß. Heidelberg. Auhagen, Ann E./ Bierhoff, Hans-Werner [Hrsg.] (2003): Angewandte Sozialpsychologie. Das Praxishandbuch. Weinheim/ Basel/ Berlin. Stefan Kammhuber 342 Beushausen, Ulla (1996): Sprechangst. Erklärungsmodelle und Therapieformen. Opladen (Beiträge zur psychologischen Forschung, 26). Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Jena. Groeben, Norbert/ Vorderer, Peter [Hrsg.] (1982): Textverständnis - Textverständlichkeit. In: Leserpsychologie. Bd. 1. Münster. Holzkamp, Klaus (1995): Lernen. Eine subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a.M. Kammhuber, Stefan (2000a): Interkulturelles Lernen und Lehren. Wiesbaden. Kammhuber, Stefan (2000b): Kommunikationskompetenz als Schlüsselqualifikation für globales Management. In: Alois Wierlacher [Hrsg.]: Kulturthema Kommunikation. Konzepte - Inhalte - Funktionen. Möhnesee, 137-148. Kammhuber, Stefan (2003a): Rhetorik und Präsentation. In: Auhagen, Ann E. [Hrsg.]: Angewandte Sozialpsychologie. Das Praxishandbuch. Weinheim/ Berlin/ Basel, 43-60. Kammhuber, Stefan (2003b): Interkulturelle Rhetorik. In: Thomas, Alexander/ Kinast, Eva-Ulrike/ Schroll-Machl, Sylvia [Hrsg.]: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Grundlagen und Praxisfelder. Bd. 1. Göttingen, 274-286. Lackner, Tobias (2004): Kommunikative Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf die arabische und deutsche Zuhörerschaft. Unveröff. Diplomarbeit, Universität Regensburg: Institut für Exp. Psych. Mummendey, Hans D. (1995): Psychologie der Selbstdarstellung. 2., erw. u. bearb. Aufl. Göttingen. Pechler, Doris (2004): Zur kommunikativen Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf eine deutsche Zuhörerschaft. Regensburg. Sessner, Kathrin (2004): Zur kommunikativen Wirkung kulturspezifischer Vortragseröffnungen auf eine chinesische und deutsche Zuhörerschaft im Vergleich. Unveröff. Diplomarbeit, Universität Regensburg: Institut für Exp. Psych. Shannon, Claude E./ Weaver, W. (1948): The mathematical theory of communication. Urbana, Illinois. Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin Sprachverwendungen - Sprachwirkungen 1 Sprache im Kontext medizinischer Kommunikation Die Medizin ist ein komplexes, in sich stark differenziertes Fachgebiet. Es kann horizontal in verschiedene theoretische Disziplinen (z.B. Anatomie, medizinische Psychologie, Pathologie) und klinische Fächer (z.B. Chirurgie, Gynäkologie, Innere Medizin) eingeteilt werden, die zu einem nicht unerheblichen Teil wieder ein Untersystem der medizinischen Fachsprache mit eigener sachlicher und sprachlicher Selbständigkeit darstellen. Vertikal können vier Ebenen unterschieden werden (vgl. Lippert 1979, 84; Löning 1985, 26-31; Wiese 1998, 1278): (a) Wissenschaftsebene (Wissenschaftssprache): Kommunikation zwischen Forschern, 1 Kommunikation zwischen Forschern und behandelnden Ärzten (Fachmann - Fachmann) (b) Praxisebene (fachliche Umgangssprache): Kommunikation zwischen Arzt und anderen medizinischen Berufen in der Alltagsarbeit (Fachmann - Fachmann, interdisziplinär) (c) Behandlungsebene (laienbezogene Sprache): Kommunikation zwischen Arzt und Patient (Fachmann - Laie) (d) Außerfachliche Ebene (Sprache der medizinischen Laien): Kommunikation zwischen Patienten, zwischen Journalist und Leser (Laie - Laie). Die Kommunikation auf den Ebenen (a) und (b) kann dabei als fachintern, die auf den Ebenen (c) und (d) als fachextern bezeichnet werden. Neben der horizontalen und vertikalen Gliederung tragen der Code (schriftlich vs. mündlich) und das Medium (z.B. Telefon, Internet, Fernsehen) zu einer weiteren Ausdifferenzierung der medizinischen Text- und Gesprächssorten bei. 2 1 Auf eine explizite Nennung der weiblichen Personenbezeichnungen wurde aus Gründen der Verständlichkeit verzichtet. 2 Ein Überblick über die wichtigsten (schriftlichen) Textsorten des Bereichs Medizin findet sich bei Wiese (2000). Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 344 Ein häufig untersuchter sprachwissenschaftlicher Gegenstand 3 im Bereich der Medizin und ihrer Fachsprache ist die Fachlexik (z.B. Rawlinson 1974; Olszewska 1991); mit schätzungsweise über einer halben Million Lexemen ist die Fachsprache der Medizin die umfangreichste Fachsprache und verfügt damit über einen Wortschatz, der größer ist als der der Gemeinsprache (Lippert 1999, 1966). Auf der Wissenschaftsebene (a) wurde bisher vor allem die schriftliche, fachunspezifische Textsorte „Originalarbeit“ (z.B. Busch-Lauer 2001; Ylönen 2001) untersucht, auf der Behandlungsebene (c) Arzt-Patienten-Gespräche (z.B. Löning 1985; Wrobel 1985; Lalouschek 1995) und die Textsorte Beipackzettel (z.B. Mentrup 1988; Schuldt 1992). Die Ebene (b) wurde sprachwissenschaftlich noch kaum in den Blick genommen, die außerfachliche Ebene (d) vor allem unter dem Aspekt der Popularisierung medizinischen Wissens betrachtet (z.B. Biere/ Liebert 1997; Becker 2001). 4 Die hier beschriebene Forschungskooperation zwischen den Fächern Deutsche Sprachwissenschaft und Psychosomatische Medizin beschäftigt sich besonders mit zwei in der sprachwissenschaftlichen Forschung unterrepräsentierten Themen: der genuin medizinischen Fachtextsorte Arztbrief und der computervermittelten Patienten-Patienten-Kommunikation. 2 Im Fächerkontakt entwickelte Arbeitsgebiete: Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft und Abteilung für Psychosomatische Medizin an der Universität Regensburg 2.1 Wie der Kontakt entstand Der Kontakt zwischen der deutschen Sprachwissenschaft und der Psychosomatik an der Universität Regensburg geht auf das Hauptseminar Sprache in Institutionen zurück, 5 in dem eine Referatsgruppe mit der Sprache in der Institution Krankenhaus befasst war. In einer daran anschließenden Hausarbeit wollte eine Seminarteilnehmerin 6 Arzt-Patienten-Gespräche untersuchen. Empirisches Material für ihre Untersuchung - in Form der Aufnahme eines Anamnesegesprächs - erhielt sie schließlich in der Abteilung für Psy- 3 Es werden aufgrund der Ausrichtung der hier vorgestellten Forschungskooperation vor allem die gegenwartssprachlichen, synchronen Untersuchungen berücksichtigt. Die Medizin, ihre Fachsprache(n) und Textsorten sind auch von sprachhistorischem Interesse und wurden verschiedentlich bereits in den „diachronen Blick“ genommen (z.B. Riecke 2004). 4 Es gibt derzeit nur eine einzige spezifische Bibliographie zur medizinischen Fachsprache bzw. zur Kommunikation in der Medizin, die allerdings nicht mehr sehr aktuell ist (Lüking 1994). Entsprechende Forschungsliteratur findet sich außerdem in den Studienbibliographien „Diskursforschung und Kommunikation in Institutionen“ (Becker- Mrotzek 1992) und „Fachsprachen und Fachkommunikation“ (Fluck 1998). 5 Sommersemester 2002, unter der Leitung von Albrecht Greule. 6 Stud. phil. Verena Eschlwöch. Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 345 chosomatische Medizin des Universitätsklinikums Regensburg (Prof. Dr. Thomas Loew). Aus diesem Anstoß 7 ergaben sich eine Reihe von Gesprächen zwischen den beiden Fachvertretern und weiteren Mitarbeitern, bei dem gemeinsame Forschungsprojekte gesichtet wurden (siehe dazu unten). Im Fach Deutsche Sprachwissenschaft bildete sich eine Arbeitsgruppe aus interessierten Studierenden und Lehrenden, aus der bislang vier Studienabschlussarbeiten (Magisterarbeiten und Hausarbeiten für die Zulassung zum Staatsexamen) hervorgingen (Eschlwöch 2004; Klinger 2004; Krampfl 2005; Renner 2004). Ferner befassten sich in der Folge eine Übung zur Fachsprache der Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Psychosomatik insbesondere mit Arztbriefen und Anamnesegesprächen sowie ein Hauptseminar zur Semantik in mehreren Hausarbeiten mit der medial vermittelten Patienten- Patienten-Kommunikation. Im Folgenden werden die Inhalte, Ziele und Erträge der bisherigen kooperativen Projekte und interdisziplinären Forschungsbereiche näher vorgestellt. 2.2 Kooperative Projekte 2.2.1 Frame-Analysen in Arztbriefen Ein wesentlicher Bestandteil von Arztbriefen, die in der psychosomatischen Medizin Anamnese-Erstgespräche zusammenfassen, ist die Thematisierung des Lebenshintergrunds der Patienten mit seinen möglichen belastenden Faktoren. Mit Blick auf ihre Einbettung in den Handlungskontext der psychosomatischen Medizin wurde von Thomas Loew angeregt, eine spezielle Fragestellung sprachwissenschaftlich zu untersuchen, nämlich: Welche lexikalischen und semantischen Strukturen prägen diesen Teil von Arztbriefen? Wie weit basiert der auf den Lebenshintergrund des Patienten bezogene Teil des Arztbriefes auf lexikalisch-semantischen Vorstrukturierungen? In der weiteren Kooperation wurde im Rahmen einer Arbeitsgruppe des Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Regensburg (geleitet von den Verfasserinnen zusammen mit Sandra Reimann) sowie im Rahmen mehrerer studentischer Studienabschlussarbeiten untersucht, mit welcher sprachwissenschaftlichen Methodik solche Strukturen herausgearbeitet werden können. Dies geschah auf der Basis des linguistischen Frame-Ansatzes. Diesem Ansatz zufolge evozieren wahrgenommene Situationen, und ebenso auch Wörter in bestimmten Kontexten, bei einem Sprachteilhaber eine Datenstruktur, die in seinem Gedächtnis gespeichert ist und das Wissen über stereotypische Situationen mit ihren typischen Bestandteilen enthält. Eine solche Struktur wird Frame genannt, denn sie bildet den konzeptuellen 7 Die Hausarbeit von Verena Eschlwöch gab außerdem den Anstoß zu einem kurzen Aufsatz, in dem es um die Frage der Identitätsbildung durch Sprache geht (vgl. Greule 2003). Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 346 Rahmen, innerhalb dessen die aktuelle Situation zunächst einmal erfasst wird oder in dem ein Wort Erwartungen an mit ihm verbundene weitere Konzepte weckt. Frames sind hierarchisch aufgebaut, sie bestehen aus über- und untergeordneten Ebenen, aus Leerstellen (slots) und deren Füllern (fillers) sowie charakteristischen Interrelationen zu anderen Frames (vgl. Minsky 1980; Müske 1992; Konerding 1993). Vor dem Hintergrund der praktischen Erfordernisse in der psychosomatischen Medizin war auch ein konkretes Interesse an solchen Untersuchungen, entsprechende Erkenntnisse aus den sprachwissenschaftlichen Analysen 8 letztlich für ein elektronisches Notizen-Navigationssystem, eventuell sogar für ein Programm zur standardisierten Textgeneration nutzen zu können. 2.2.2 Sprachwissenschaftliche Analysen von Texten des Internetforums www.hungrig-online.de Ein weitreichendes Gebiet für eine interdisziplinäre Kooperation zwischen psychosomatischer Medizin und Sprachwissenschaft ist ferner das Internetforum hungrig-online.de, ein moderiertes und von Psychologen und Ärzten betreutes Forum, in dem seit 1999 Menschen, die selbst oder indirekt über Angehörige von Essstörungen betroffen sind, miteinander über die verschiedenen Erscheinungsformen der Krankheiten, Erfahrungen, Therapien u.Ä. kommunizieren. Die aus der Sicht der Psychosomatischen Medizin aufgeworfene Frage an die Sprachwissenschaft ist folgende: Lassen sich Indizien in Sprachgebrauch und Kommunikationsverhalten von Mitgliedern des Forums finden, die auf qualitative Entwicklungen im Krankheitsverlauf hindeuten könnten? Und lässt sich im Anschluss daran ermitteln, ob mögliche positive Entwicklungen durch die foreninterne Kommunikation zumindest mit angestoßen wurden? Im Zusammenhang mit der ersten dieser beiden Fragen wurde im Rahmen eines sprachwissenschaftlichen Hauptseminars zur Semantik 9 eine Reihe von Hausarbeiten angefertigt, in denen stichprobenartig Beiträge (sog. Postings) aus dem Forum unter verschiedenen Aspekten analysiert wurden. Auffällig und untersuchenswert erschienen den Seminarteilnehmern folgende Thematiken: 10 a) Aus welchen Bestandteilen setzt sich der Frame „Essen“ in den Texten zusammen? Worin unterscheidet er sich von einem möglicherweise exis- 8 Vgl. Loew/ Thim-Mabrey: „Frames in Arztbriefen der psychosomatischen Medizin“. 9 Wintersemester 2005/ 2006, unter der Leitung von Christiane Thim-Mabrey. 10 Die Studierenden (in der Reihenfolge der nachfolgend vorgestellten Arbeiten: Sandra Schilling, Markus Eisenhofer, Andrea Czech, Oliver Mertens, Simone Martin, Silvia Schnorrer, Silvia Heß) entwickelten die Konzepte ihrer Arbeiten überwiegend selbstständig, nachdem sie sich ausführlicher in die Forums-Kommunikation eingelesen hatten, und arbeiteten - in einem lockeren Arbeitsgruppen-Verbund mit Möglichkeit zum Gedankenaustausch - zum Teil mit Texten derselben Forumsmitglieder. Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 347 tenten „allgemeinen“ Frame „Essen“, wie er etwa in einem Wörterbuch begegnet, das den Wortschatz nach Sachgruppen geordnet darstellt? 11 Zum Beispiel sind charakteristische Subframes zum Frame „Essen“ in den untersuchten Postings ‚Gewicht’ (mit den Slots ‚Gewichtsveränderung’, ‚Gewichtsskalen-Bereiche’ und ‚Waage’) und ‚Essverhalten’ (mit dem Slot ‚Kontrolle und Kontrollverlust’), die in einer allgemeinen Wortschatzsystematik entweder gar nicht (so bei ‚Gewicht’) oder nicht mit diesem Slot (so bei ‚Kontrolle und Kontrollverlust’) dem Frame „Essen“ zugeordnet werden. Ebenfalls auffällig sind die Verbindungen mit einem Ortsframe (mit Fillers wie ‚Supermarkt’, ‚Toilette’, ‚Arbeitsplatz’), und dem Frame „Angst“, die beide nicht zum allgemeinen Frame „Essen“ gehören. Hier ist die Frage, ob sich über längere Zeiträume und bei einer positiven Entwicklung und zunehmenden Überwindung der Essstörung in den Beiträgen eines Forumsmitglieds Veränderungen in der Realisierung des Frames oder sogar deutliche Annäherungen an den allgemeinen Frame zeigen. b) Welches Geschlechts(rollen)verständnis findet sich in den Texten der - noch - selteneren männlichen Betroffenen? Wie konstituiert sich in diesem Zusammenhang der Frame „Mann“? In ausgewählten Beiträgen eines männlichen Forumsmitglieds mit einer Essstörung wurde sichtbar, dass sich in der Thematisierung des Frames „Mann“ überwiegend solche Elemente finden, von denen sich der betreffende Verfasser in seinem Selbstverständnis deutlich abgrenzt. Weitere Untersuchungen müssen nun erweisen, ob sich die Ablehnung dieses mentalen Frames - die möglicherweise eine der Ursachen für die Essstörung ist - auf bestimmte Elemente dieses Frames konzentriert. Ferner ist zu untersuchen, ob und wie andere Forumsmitglieder in ihren Erwiderungen zu entsprechenden Äußerungen auf eine Restrukturierung dieses (abgelehnten) Frames hinwirken und ob sie dies erfolgreich tun. c) Eine Untersuchung zur Verwendung von Abkürzungen in Postings des Forums eröffnet interessante Möglichkeiten, auf die Einstellungen der Schreibenden gegenüber bestimmten Aspekten ihrer Erkrankung bzw. ihrer therapeutischen Erfahrung und ihres Selbstverständnisses als Mitglied einer Gruppe zu schließen. Zum Beispiel hat die Verwendung mancher Abkürzungen Züge einer fachsprachlichen Gattungssystematik, wenn in manchen Beiträgen etwa ESler (‚solche, die an einer Essstörung leiden’), Msler (‚solche, die an [der speziellen Störung] Magersucht leiden’) und, darauf aufbauend, eine neue Gruppe, nämlich die nicht-ESler (‚solche, die nicht an Essstörungen leiden’) gegenübergestellt werden. Die Notwendigkeit, in die gängigen Abkürzungen des Forums eingeführt zu werden, um darin kommunizieren zu können, unterstreicht ebenfalls einen gewissen Anstrich von Quasi-Fachsprachlichkeit. Andererseits werden die als steif und unverständ- 11 Z.B. die Sachgruppe „Essen und Trinken“ in Dornseiff (2004). Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 348 lich empfundenen tatsächlichen medizinischen Fachwörter durch abgekürzte Formen gewissermaßen popularisiert. Zu weiteren semantischen Auswirkungen von Abkürzungen gehören eine abschätzige oder verniedlichende Konnotation, Anthropomorphisierungen (der weibliche Personenname Mia für Bulimia nervosa) sowie der Übertritt in eine andere Wortart, die es semantisch ermöglicht, eine weitreichende Identifikation mit der Krankheit auszudrücken. So wird in Ich habe eine Essstörung oder Ich leide unter einer Essstörung bzw. Ich leide unter ES aus der substantivischen Abkürzung eine adjektivische: Ich bin ES (also nicht im Sinne der Vollform *Ich bin Essstörung). Insbesondere im Hinblick auf mögliche Veränderungen in den Einstellungen zu sich selbst, zur eigenen Erkrankung und zur Gruppenzugehörigkeit könnte im Laufe der persönlichen Entwicklung von Forumsmitgliedern ein anderer Umgang mit solchen krankheitsbezogenen Abkürzungen festzustellen sein. d) Ebenfalls ein Indiz für Einstellungen sind Emoticons, d.h. „Smileys“ unterschiedlicher Art. Mit diesem paraverbalen, ikonischen Mittel wird gekennzeichnet, dass aus einer Äußerung ein bestimmter Gefühlswert oder eine bestimmte kommunikative Einstellung eindeutig herausgelesen werden soll (vgl. Runkehl/ Schlobinski/ Siever 1998, 64f.). 28 solcher Emoticons stehen den Forumsmitgliedern zur Verfügung. Diese können, wie sich zeigt, weit überwiegend neun Basisemotionen wie Freude, Ärger, Traurigkeit und Zuneigung zugeordnet werden. Besonders interessant ist hierbei, dass Emoticons ein stark selbstreflexiv ausgerichtetes Ausdrucksmittel sind: Zum einen reflektiert das Forumsmitglied, welche Emotionsmarkierung der Äußerung zugeordnet werden soll - und dies wird in der Regel mit einer Reflexion der tatsächlichen Emotionen einhergehen -, zum anderen reflektiert das Mitglied auch den Verstehenshorizont der Kommunikationspartner. Die bisher durchgeführten exemplarischen Untersuchungen haben ergeben, dass solche Emoticons verschieden eingesetzt werden können - z.B. ironisch abschwächend oder verstärkend, das vorher Gesagte vereindeutigend oder ergänzend -, dass ferner bei einzelnen Beiträgern Emoticons für bestimmte Emotionen überwiegen und dass in unterschiedlichen Zeiten oder Phasen ihrer Mitgliedschaft im Forum jeweils andere Typen von Emoticons dominieren können. Auch hier geht es darum, bei einzelnen Beiträgern mögliche Veränderungen auf dieser paraverbalen Ebene zu beobachten. e) Einstellungen und innere Haltungen, stillschweigende Annahmen als Teil des Welt- und des Selbstbilds kommen in unterschiedlichen Dimensionen so genannter „hintergründiger Satzinhalte“ (von Polenz 1985, 298) zum Tragen. Hierzu gehören die Präsuppositionen, d.h. als gegebene Tatsachen vorausgesetzte Inhalte von Äußerungen, deren Wahrheit eigentlich in einem Dialog nicht zur Disposition steht und auch nicht ohne Weiteres negiert werden kann (vgl. Seuren 1991). Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 349 Im Zusammenhang der untersuchten Forumstexte ist es notwendig, solche Inhalte mit einem sprachwissenschaftlichen Instrumentarium zu ermitteln, insbesondere soweit sie mit den Voraussetzungen und dem Verlauf der Essstörungen verbunden sind oder sein könnten. Eine der Seminararbeiten lotete die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Analyse anhand ausgewählter Beiträge von zwei Forumsmitgliedern aus. Eine zweite Arbeit befasste sich mit der Frage, wieweit Dialogpartner im Forum Präsuppositionen von Beiträgern wahrnehmen, aufgreifen, korrigieren oder zu beeinflussen versuchen. f) Eine weitere mögliche Verbindung von innerer Befindlichkeit und sprachlichem Ausdruck wurde auf einer elementaren Ebene von Wortschatz und Wortwahl überprüft: Gibt es eine Korrelation zwischen stark positiven und stark negativen Stimmungslagen einerseits und der Wahl bzw. Bevorzugung bestimmter Typen von Wörtern andererseits? Die sich mit dieser Frage befassende Arbeit benutzte eine weit verbreitete Typologie des sprachlichen Zeichens, der zufolge man im Wortschatz einer Sprache - etwa nach Keller (1995) - Ikone, Symptome und Symbole unterscheidet. Wörter, die aufgrund ihrer äußeren (z.B. lautlichen) Beschaffenheit einen assoziativen Schluss auf das durch sie Bezeichnete erlauben, sind Ikone (z.B. die Bezeichnung Kuckuck nach dem Vogelschrei des bezeichneten Vogels). Symptome dagegen sind Wörter, deren Bedeutung kausal erschlossen werden kann (z.B. ein nachhaltig-emphatisches Ach! als Ausdruck - und sozusagen unmittelbar ausgelöste Folge - einer vorangegangenen starken Überraschung oder Enttäuschung). Symbole schließlich sind die Mehrheit der Wörter im Wortschatz; ihre Bedeutung kann nicht erschlossen werden, sondern ist konventionell bzw. regelbasiert festgelegt. Die Hypothese, die von der Seminarteilnehmerin aufgestellt und untersucht wurde, lautete: Ikone und Symptome sind stärker emotional orientiert, Symbole dagegen neutraler, da sie als von außen definiert empfunden werden; deshalb ist besonders in stark negativen Stimmungslagen eine erhöhte Frequenz von Ikonen und Symptomen zu erwarten. In diese Untersuchung wurden außer Wörtern auch noch andere Ausdrucksmittel wie Emoticons und Interpunktion mit einbezogen. - Die erheblichen theoretischen und praktischen Schwierigkeiten in der Zuordnung von Ausdrucksmitteln zu einem der drei Zeichentypen werden in der Analyse von entsprechenden Texten deutlich herausgearbeitet. Dennoch ist die Fragestellung sowohl originell als auch wichtig und verdient weitere Untersuchungen. 2.3 „Fachsprache der Medizin“: sprachwissenschaftlich In einer Übung zur Fachsprache der Medizin, 12 in der Studierende die Gelegenheit hatten, die Sprachwissenschaft anwendungsorientiert kennen zu 12 Wintersemester 2004/ 05, unter der Leitung von Katja Kessel und Sandra Reimann. Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 350 lernen und praxisnahes Arbeiten zu üben, wurden zunächst theoretische Grundlagen erarbeitet und anschließend für die praktischen Analysen vor allem Arztbriefe der Psychosomatik herangezogen, die von der Abteilung für Psychosomatische Medizin zur Verfügung gestellt worden waren. Die Themenschwerpunkte der Übung waren: Semantik und Lexik (Fachwortschatz, Themen- und Frame-Analyse etc.), Syntax (Satzstrukturen, Attribute, Tempus- und Moduswahl etc.) und Stil (Stilbrüche, Wirkung, Nominal-, Verbalstil etc.). Dabei war besonders zu berücksichtigen, dass sich die untersuchten Arztbriefe durch eine Mehrfachadressierung zum einen an den Patienten selbst, zum anderen an den behandelnden Arzt auszeichnen und dabei unterschiedliche Ziele verfolgen: Der Patient soll über die Ergebnisse des Anamnesegesprächs zusammenfassend informiert und gegebenenfalls dazu motiviert werden, empfohlene therapeutische Maßnahmen einzuleiten; der behandelnde bzw. überweisende Arzt soll fachgemäß informiert werden. Da die Studierenden stets die Kommunikationssituation und die „Gelingensbedingungen“ hinsichtlich der angestrebten Kommunikationsziele sowie die Verständlichkeit und Akzeptanz der Texte bei dem bzw. den Adressaten berücksichtigen sollten, erforderte der Sachverhalt der Mehrfachadressierung ein hohes Maß an sprachwissenschaftlicher Reflexion. Am Ende des Kurses wurden schließlich mit Blick auf die unterschiedlichen Ziele, die sich aus der doppelten Adressierung ergeben, (sprachliche) Verbesserungsvorschläge für solche Arztbriefe formuliert. 13 In der medizinischen Ausbildung wird das Schreiben von Arztbriefen nicht explizit gelernt und die Studierenden bzw. jungen Ärzte verfassen Arztbriefe entweder nach dem Muster anderer Arztbriefe oder ziehen einen Ratgeber (z.B. Neumann-Mangoldt 1970; Heckl 1990) heran. Die auf diese Weise erlernten „Stilnormen“ beziehen sich jedoch normalerweise auf den traditionellen Arztbrief, der ein „schriftlicher Bericht an einen untersuchenden oder behandelnden Kollegen in Form eines Überweisungs-, Befund- oder Entlassungsberichtes“ (Neumann-Mangoldt 1970, 1) ist. Eines ist den Verfassern von Arztbriefen vielleicht gar nicht bewusst: Wenn der Brief zusätzlich oder zuvorderst an den Patienten adressiert ist, sollte sich das auch in der (sprachlichen) Gestaltung des Briefes niederschlagen. Im Folgenden soll nur an einem einzigen Beispiel, nämlich dem Konjunktiv-Gebrauch, aufgezeigt werden, dass bei Briefen mit Mehrfachadressierung tradierte Normen überdacht werden sollten. In einem Ratgeber findet sich zu diesem Problem die folgende Normsetzung: „Man referiert die Angaben des Patienten immer in der indirekten Rede. [Hervorhebung im Original]“ (Heckl 1990, 19). Arztbriefe unterliegen laut Heckl (ebd.) dem „Prinzip der objektiven Schilderung“. Angaben des Patienten, „welche ja nur subjektiver Natur sind“, bekämen durch indikativische Formulierungen „einen 13 Eine Publikation aller Verbesserungsvorschläge ist in Vorbereitung: Katja Kessel/ Thomas Loew: „Ratschläge für psychosomatische Arztbriefe mit Mehrfachadressierung“. Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 351 ungerechtfertigt objektiven Anstrich“. Unter Berufung auf den Grammatik- Duden wird der Indikativ deshalb abgelehnt, denn der „Indikativ (Wirklichkeitsform) drückt immer aus, daß der mit einer Verbform genannte Vorgang tatsächlich und wirklich ist“ (ebd., 20). Nur durch den Gebrauch des Konjunktivs bei der Wiedergabe der Anamnese komme die nötige Distanz des Untersuchers zum Ausdruck. Dementsprechend findet sich auch in den an den Patienten adressierten Arztbriefen ein häufiger Konjunktivgebrauch: (1) Sie berichteten, dass Sie eine chronische Schmerzpatientin seien und unter einem ständig vorhandenen Schmerz im Gesicht leiden würden. In der Übung wurden nun Probleme und Wirkungen dieser Modusverwendung diskutiert. So stellten die Studierenden zunächst fest, dass die Verfasser der Briefe (Ärzte, Medizinstudenten) den Konjunktiv der indirekten Rede nicht immer sicher beherrschen: Nicht selten werden anstelle eindeutiger Konjunktiv-I-Formen (wie er/ sie mache, gehe) Konjunktiv-II-Formen (er/ sie machte, ginge) oder Konjunktiv-II-Ersatz (würde machen, gehen) verwendet: (2) Aktuell würden Sie alle vier Wochen zum Psychiater gehen, er würde eine kleine Therapie machen [...]. Außerdem wird der Konjunktiv nicht immer konsequent beibehalten: (3) Nach der Operation waren Sie ein Jahr lang zu Hause und haben dann wieder als Altenpflegerin gearbeitet, bis Anfang 2001. Zu diesem Zeitpunkt hätten Sie in beiderseitigem Einvernehmen Ihr Arbeitsverhältnis beendet. „Traditionelle“ Arztbriefe, die nicht an den Patienten adressiert werden, berichten von ihm in der dritten Person und können dazu auf die eindeutig als Konjunktiv I erkennbaren Formen zurückgreifen (Die Patientin arbeite als Altenpflegerin.). Im Gegensatz dazu verlangen jedoch die hier untersuchten, an den Patienten adressierten Briefe die Formen der Sie-Anrede. Diese sind in den meisten Fällen mit denen des Indikativs identisch und somit nicht als Konjunktiv erkennbar (Sie arbeiten als Altenpflegerin.). Um den Konjunktiv mit Sie eindeutig zu kennzeichnen, ist deswegen in der Regel ein Ausweichen auf den Konjunktiv II oder eine Umschreibung mit würde + Infinitiv notwendig (Sie arbeiteten als Altenpflegerin. oder: Sie würden als Altenpflegerin arbeiten.). Welche Wirkung könnte aber nun die Verwendung des Konjunktivs auf den angesprochenen Patienten haben? Zwei Aspekte wurden in der Übung besonders herausgearbeitet: die stilistische Markierung des Konjunktivs und die Interpretation des Konjunktivs als Irrealis. 14 Das heißt: Der Konjunktiv I wird in der Umgangsprache kaum noch verwendet und ist eher als gehobenere Sprache markiert. Insoweit Patienten einer bildungsfernen Schicht entstammen oder sogar Nicht-Muttersprachler sein können, mag durch den 14 Eine Befragung der Patienten müsste allerdings noch zeigen, ob die diskutierten sprachlichen Formulierungen tatsächlich solche Wirkungen haben. Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 352 Gebrauch des Konjunktivs eine unbeabsichtigte Distanz des „gebildeten“ Arztes zum Patienten empfunden werden. Außerdem könnte der Konjunktiv vom Patienten dahingehend interpretiert werden, dass der Arzt seinen Angaben nicht glaubt bzw. deren Wahrheitsgehalt anzweifelt. Diese Schlussfolgerung liegt besonders dann nahe, wenn zwischen Konjunktiv und Indikativ gewechselt wird (vgl. Beispiel 3) und/ oder (fälschlicherweise) der Konjunktiv II verwendet wird (vgl. Beispiel 2). Da der Konjunktiv II dem Funktionsbereich der „Irrealität/ Potenzialität“ (Duden 2005, § 749) zuzuordnen ist, drückt der Sprecher bzw. Schreiber durch seine Verwendung aus, „dass das Gegenteil von dem, was der entsprechende Aussagesatz im Indikativ ausdrückt, aus seiner Sicht zutrifft oder wenigstens nicht auszuschließen ist“ (Duden 2005, § 749). Diese Interpretation liegt jedoch nicht im Sinne des Arztes, da sie dem oben genannten „Prinzip der Objektivität“ widerspricht. Im Sinne der „Textoptimierung“ unter der Vorgabe der Mehradressierung formulierten die Studierenden deshalb schließlich den Ratschlag, in den Arztbriefen auf den Konjunktiv zu verzichten. Das ist auch laut Duden unproblematisch: Da durch Redeeinleitungen wie Sie gaben an,… die indirekte Rede ausreichend markiert ist, „ist der Konjunktiv als Signal der Indirektheit [...] überflüssig: Man wird den abhängigen Satz auch im Indikativ als indirekte Rede verstehen“ (Duden 2005, § 772). Die Studierenden haben in der praxisorientierten Übung „Fachsprache der Medizin“ erkannt, dass die Sprachwissenschaft nicht nur Begründungen liefern und Wirkungszusammenhänge klären kann, sondern letztlich mit direkt „verwertbaren“ Ratschlägen zu einem Gelingen der Arzt-Patienten- Kommunikation beitragen kann. 2.4 Fragestellungen, Ziele, (erwünschte) Erträge aus Sicht der Sprachwissenschaft In den vorgestellten Untersuchungsschwerpunkten verbindet sich der Bezug zu einem Anwendungsgebiet, das außerhalb der Sprachwissenschaft liegt, mit sprachwissenschaftlich-theoretischen Aspekten zu ausgesprochen vielfältigen Forschungsimpulsen. Konzepte, die wie der Frame-Ansatz oder die Präsuppositionstheorie und die Typologie von Zeichen in der sprachwissenschaftlichen Forschung unbefriedigend abgrenzbar erscheinen und allein deshalb schon umstritten sind, gewinnen in der Anwendung auf konkrete Textsorten und Kommunikationsdomänen ganz neue Konturen und zeigen sich zugleich unter neuen Fragestellungen. Zur Frame-Thorie etwa: Gibt es überhaupt „allgemeine“ Frames, die im Gesamtwortschatz einer Sprache ausgemacht werden können? Wodurch erhalten sie ihre Struktur, aufgrund deren sie als Vergleichsgröße für spezielle, textsorten- oder domänenspezifische Variationen dienen könnten? An solchen spezifischen Frame-System-Untersuchungen fehlt es bislang noch weitgehend. Die beiden hier betrachteten Kommunikationsbereiche (Arzt- Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 353 briefe und problemzentriertes Internet-Forum) - mit ihrer großen Reichweite, ihrer spezifischen, gut abgrenzbaren Thematik und ihrem außerhalb der Sprachwissenschaft gründenden Beobachtungs- und Handlungsbedarf - bieten jedoch starke Anhaltspunkte dafür, dass die betreffenden theoretischen Konzepte durchaus präzisierbar und verbesserungsfähig sind. Dazu sind freilich weitere Untersuchungen zu diesen und anderen Textsorten und Domänen nötig. Eine weitere Perspektive eröffnet sich, wenn man - angeregt durch die psychosomatisch orientierte Fragestellung - dazu übergeht, Entstehung und Wandel von Frames innerhalb von Textsorten und Sprechergruppen sowie schließlich noch von Individuen zu beobachten. Dabei können kürzere, aber auch längere, sprachhistorisch relevante Zeiträume einbezogen werden. Auch ein Vergleich von bestimmten massenmedial vermittelten Frame-Ausformungen sowie deren Pendants in gruppenbezogener oder individueller Kommunikation ist wünschenswert und könnte der Stereotypen-Forschung neue Impulse geben. Zu Erscheinungen wie Abkürzungen und Emoticons: Ihre Untersuchung hat sich bereits in der Anwendung auf eine kleine Zahl von Texten als Beispiel dafür erwiesen, wie viele Aspekte und Funktionen von (para)sprachlichen Ausdrucksmitteln erst dann greifbar werden, wenn sie in einer diabzw. polylogischen Langzeit-Kommunikation eingesetzt und untersucht werden. Eine solche Langzeit-Kommunikation, die einerseits problem- und themenzentriert ist und andererseits eine einigermaßen konstante Beteiligung der Kommunikationspartner über längere Zeiträume hinweg ermöglicht, liegt im Fall von hungrig-online.de in schriftlicher Form vor. Dadurch lassen sich hier zahlreiche bisher noch kaum erforschte Merkmale dieser Ausdrucksmittel erkennen. Weitere Erträge der sprachwissenschaftlichen Forschung, die aus eingehenden hungrig-online.de-Untersuchungen zu erwarten sind, sind neue Erkenntnisse zur Patienten-Patienten-Kommunikation und zur Kommunikation in Internet-Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder oft, wenn sie über längere Zeit teilnehmen, ja durchaus als eine spezifisch sozialisierte Expertengruppe betrachtet werden können. Eng damit verbunden ist auch die Erforschung der Konstitution einer gruppenbezogenen Identität, soweit die Übernahme eines gruppenspezifischen Sprachgebrauchs auf eine solche hindeutet (Oppenrieder/ Thurmair 2003, 41f.). Schließlich kommt in noch grundsätzlicherer Hinsicht die Frage in den Blick, wieweit Sprachverwendung und (sprachlich gestaltete) personale Identität gegenseitig aufeinander verweisen können und ob sich über den Zeitraum von mehreren Jahren bereits innere Entwicklungen sprachlich signifikant niederschlagen und nachweisen lassen. Dass dies jedoch allein mit sprachwissenschaftlichen Methoden nicht erforschbar ist, sondern der entsprechenden Fachwissenschaften bedarf, versteht sich. Im Zusammenhang mit den Arztbriefen ist es ferner ein lohnender Forschungsgegenstand zu untersuchen, wie die Umsetzung von Gesprächen in gesprächsnahe Texte erfolgt und welche Möglichkeiten bestehen, solche Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 354 Texte aufgrund ihrer häufig wiederkehrenden Wendungen und Satzschablonen verbal zu standardisieren und letztlich elektronisch zu produzieren. 2.5 Was noch zu tun ist Die in 2.2 vorgestellten Analysen zu ausgewählten Texten des hungrigonline.de-Forums sind sowohl im Hinblick auf die untersuchten sprachlichen Details als auch hinsichtlich der analysierten Textmenge erste Stichproben und keineswegs vollständig. In einem größeren Projekt, dessen Aufgabenstellung der archivierten Textmenge, der Zahl und den unterschiedlichen Profilen der Forumsmitglieder sowie der teilweise mehrjährigen Langzeit-Kommunikation einzelner Mitglieder gerecht werden soll, sind mehrere Arbeitsschritte und -bereiche auszubauen und zu koordinieren: eingehende Untersuchungen zu einzelnen sprachlichen und parasprachlichen Details bei unterschiedlichen Forumsmitgliedern mit dem Blick auf die Langzeit-Entwicklung, wobei weitere Details gesichtet und untersucht werden müssen (z.B. die Verwendung von abschwächenden und verstärkenden Heckenausdrücken wie irgendwie oder so ziemlich in bestimmten emotionalen Konstellationen); Untersuchungen zu Kombinationen einzelner Merkmale bei spezifischen Kommunikanten und zum unterschiedlichen Einsatz solcher Mittel, je nachdem ob es sich um einen reaktiven oder einen initiativen Beitrag im Forenpolylog handelt. 15 Welche Mittel und Merkmale dabei als signifikant gelten können, müsste zum einen sprachwissenschaftlich durch eine Kontrastierung mit anderen, sinnvoll vergleichbaren Textkorpora überprüft werden und zum anderen mit psychologisch-psychotherapeutischen Kriterien und Parametern abgestimmt werden. Auch die Untersuchung der Arztbriefe müsste in mehreren Richtungen vertieft werden: Da die tatsächliche Wirkung auf den Patienten, mit dem das Anamnese-Gespräch geführt wurde, unter praktisch-therapeutischen Gesichtspunkten von erheblicher Bedeutung ist, müssten die Stilwirkungen unterschiedlicher sprachlicher Mittel und Ausdrucksweisen empirisch untersucht werden - dies wäre ein Novum in der sprachwissenschaftlichen Stilforschung. Ferner bedarf es einer Erforschung des „Dreiecksverhältnisses“ zwischen dem Arzt-Patienten-Gespräch, den Gesprächsnotizen durch den Arzt und dem Arztbrief als Endprodukt: Wie stark und nach welchen Vorgaben strukturiert der Arzt das Gespräch, wie selektiert und strukturiert er seine Notizen, und wie erfolgt die Umsetzung in die Inhaltsstrukturen des Arztbriefs? Neben individuellen Komponenten gehen hier zum einen therapeutische und zum anderen Textsorten-Traditionen ineinander über. Deren Anteile müssen geklärt und auf ihre Wichtigkeit hin überprüft werden, bevor gefragt werden kann, wie viel Innovationsspielraum für Veränderungen der Arztbriefstrukturen besteht. 15 Eine Magisterarbeit zum Frame „Mann“ ist derzeit im Entstehen begriffen, eine weitere zur Präsuppositionsanalyse ist geplant, des Weiteren ein Habilitationsprojekt. Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 355 2.6 „Fachsprache der Medizin“: Kommunikation in Studium und Praxis der psychosomatischen Medizin Neben der Sachinformation spielt in der medizinischen Kommunikation die subjektive Bedeutung von Information, der Erfahrungshintergrund sowohl vom Patienten als auch vom Arzt eine Rolle, daneben sind sicherlich auch unbewusste Prozesse mit zu berücksichtigen, die den Informationsaustausch beeinflussen (Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung). Die diesbezüglichen Fertigkeiten und Kenntnisse werden im Medizinstudium vermittelt, in den Fächern Medizinische Psychologie und Soziologie. Die Schulung der Gesprächstechnik spielt dabei zwar eine Rolle, jedoch keine zentrale. Die Modelle, nach denen diese Kenntnisse vermittelt werden, also die Grundlagen menschlicher Kommunikationsprozesse, Erkennen von dysfunktionaler Kommunikation, Erkennen von möglichen Konfliktpotentialen in Gesprächen, sind Inhalte. Die Techniken stammen aus der nondirektiven Gesprächsführung mit Schwerpunktsetzung in der Empathie, dem Vermitteln von Wertschätzung und dem Setting. Formal ist das Problem der ärztlichen Schweigepflicht, der Dokumentations- und Berichtspflicht, das Recht auf Aufklärung zu Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen bzw. zum Krankheitsverlauf bedeutungsvoll, letztendlich auch das Beschwerde-Management. Die Gesprächstechnik umfasst konkret: engagiertes, gleichaktives Zuhören, das Paraphrasieren, das Konzentration unterstützen soll, weiterhin das Verständnis-Sichern sowie spezifische Fragetechniken (offene Fragen, Ansprechen von Gefühlen, Hinterfragen der eigentlichen Gedanken des Patienten) und schließlich auch den Versuch, vollständig die den Patienten interessierenden Aspekte abzudecken. Die Konfliktpotentiale werden historisch nach dem Harvard-Konzept analysiert (Fisher/ Ury/ Patton 2004), wobei erst Klärung der wahren Interessen (motivationaler Aspekte) im Vordergrund steht, dann das Vertreten von Interessen statt Positionen und verschiedene Lösungsstrategien in den Blick genommen werden, wie z.B. das Teambrainstorming mit dem Ziel, Lösungen zu finden, die für alle Vorteile bringen. Daneben spielen Elemente der Transaktionsanalyse (z.B. Stewart 2000) eine Rolle. Hierbei wird die Gesprächsebene vereinfacht entweder als partnerschaftliche, informationsvermittelnde oder als hierarchische Struktur verstanden. Auf Inkongruenzprobleme wird dabei geachtet: Ein Partner verhält sich z.B. informationsvermittelnd, der andere im Gespräch hierarchisch; Lösungsstrategien werden abgeleitet. Eine weitere Technik, die bedeutungsvoll ist, ist die themenzentrierte Interaktion (Cohn 1975), die auf die Beseitigung von Störungen im Gespräch zielt, das Umfeld, den Erfahrungshintergrund des Kommunikationsprozesses einbezieht und, anders als im Vormodell, Sachmotiv und Beziehungsebene voneinander abgrenzt. Kommunikationsfertigkeiten, bei denen das einzelne Wort, die Formulierung, der Kontext, aber auch die Dokumentation, die Verschriftlichung eine Rolle spielen, sind das Mitarbeitergespräch, das Kritikgespräch mit den Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 356 entsprechenden Konfliktpotentialen und Fehlern. Die klinischen Gesprächsfertigkeiten werden in den einzelnen Disziplinen geübt, die Versprachlichung der erhobenen Befunde und strukturierte stringente Vermittlung stellen eine zentrale Qualifikation dar, die im Studium aber eher informell vermittelt wird. Gezielte Programme werden bisher nicht angeboten, wohl auch aus dem Grund, dass empirische Befunde hierfür noch nicht vorliegen und die Gestaltung didaktischer Konzepte eher aus der Erfahrung heraus entwickelt wurde. Besondere Bedeutung haben Kommunikationstechniken und Versprachlichung bei Problemen, die konkret die Kommunikationsfähigkeit betreffen, insbesondere bei neurotischen Störungen unterschiedlichster Art; hier spielt das unbewusste Missverständnis, die falsche Zuordnung eine Rolle. 2.7 Fragestellungen, Ziele, (erwünschte) Erträge aus Sicht der psychosomatischen Medizin Die Fertigkeit, Patienten zu verstehen und sich ihnen mitzuteilen, hat im ärztlichen Handeln eine große Bedeutung. 50 % der Behandlung ist im Prinzip Information über die augenblickliche Situation, z.B. den Stellenwert und die Bedeutung bzw. die Konsequenz von Symptomen, Information über Behandlungswege, z.B. Schonung, diätetisches Verhalten, Trainingsprogramme, Umgang mit Verletzungen und Wunden, Einsatz von Heilhilfsmitteln oder Einnahme von Medikamenten. Modelle, die die Patienten bei ihrem subjektiven Krankheitsverständnis abholen, sind entwickelt. Wie die Informationen jedoch transportiert werden können, welche Wiederholungsfrequenz nötig ist, wie die Formulierungen abhängig von der Schicht und dem Bildungsgrad sowie der emotionalen Situation gestaltet werden können - hierzu liegen noch keine empirischen Untersuchungen vor. Eine weitere Ebene, bei der die Versprachlichung eine sehr große Bedeutung bekommt, ist die Ebene der automatisierten Verschlüsselung von Inhalten zu Abrechnungszwecken oder zur Dokumentation bzw. direkten Datenverarbeitung. In der Regel wird auf Dokumente zurückgegriffen, die in anderen Kontexten angefertigt wurden, z.B. Arztbriefe oder Befundberichte, die dann automatisiert mittels Worterkennung gelesen werden und deren Begrifflichkeiten schließlich definierten Prozeduren zugewiesen werden. Generell gilt, dass die gezielte Erforschung der schriftlichen Kommunikation für die Gestaltung der Briefe oder der Dokumentation sehr hilfreich sein kann, da der Dokumentationsaufwand auch bei einer Beschleunigung der diagnostischen Prozesse, Verkürzung der Verweildauer sowie längeren Lebenszeit von Menschen und höheren Komorbidität zunehmend bedeutungsvoller wird. Auch ist die konkrete Anleitung, insbesondere mit dem multikulturellen Hintergrund und der Vielsprachigkeit, auf die sich auch in unserem Kulturraum die Medizin einstellen muss, ein zentraler Punkt. Die Schwierigkeiten, die sich auch durch zusätzliche psychosoziale Belastungs- Sprachwissenschaft und psychosomatische Medizin 357 faktoren und damit verbundene emotionale Vertiefung ergeben und die auch über die Sprache vermittelt werden, erschließen weitere Forschungsbereiche. Für den Bereich der schriftlichen Kommunikation sind die direkte Information über die Medien oder das Internet sowie der direkte Austausch von Patienten und Angehörigen untereinander in schriftlicher Form (siehe das hungrig-online-Projekt jetzt mit derzeit 5 Mio. Page imprints im Monat und über 20.000 Usern) sicher ein beachtenswertes Beispiel. 3 Fazit: Die Sprachwissenschaft und ihr Forschungsgegenstand „Sprache in der psychosomatischen Medizin“ Es ist eine Prämisse und verstärkte Erfahrung der wissenschaftlichen Forschung der jüngeren Zeit, dass ein interdisziplinärer Zugang zu vielen Forschungsgebieten nicht nur Erkenntnisse komplementiert, sondern solche durchaus zum Teil erst ermöglicht und auf die beteiligten Wissenschaften und Fächer zurückwirken kann. Die Kooperation mit der psychosomatischen Medizin ist für die Sprachwissenschaft jedoch aus mehreren Gründen besonders interessant. Zum einen kommt der Sprache und der sprachlichen Kommunikation in der Diagnostik der psychosomatischen Medizin eine tragende Rolle zu. Andererseits ist ein zentrales Axiom der Sprachwissenschaft, dass Formen und Ausprägungen kommunikativer Äußerungen zumindest zu einem gewichtigen Anteil aus dem grundsätzlich instrumentellen Charakter der Sprache abzuleiten sind. Im Bühler’schen Organon-Modell der Sprachverwendung wie auch in der Sprechakttheorie ist zentral verankert, dass sprachliche Äußerungen erst dann vollständig verstanden sind, wenn auch dekodiert wurde, welche innere Befindlichkeit und Einstellung des Sprechers ausgedrückt werden sollte und welche Auswirkung auf den Hörer beabsichtigt ist. Es sind eben diese beiden Aspekte, die im Zusammenhang der psychosomatischen Medizin sowohl in diagnostischer als auch in (gruppen- oder einzel-)therapeutischer Hinsicht im Vordergrund stehen. Darüber hinaus kann durch die Untersuchungen der psychosomatischen Medizin ein Einblick in die tatsächlichen außersprachlichen, innerpsychischen Tatsachen erzielt werden, die aus der Perspektive der sprachwissenschaftlichen Untersuchung andernfalls eine „black box“ bleiben müssen. 4 Bibliographie Becker, Andrea (2001): Populärmedizinische Vermittlungstexte. Studien zur Geschichte und Gegenwart fachexterner Vermittlungsvarietäten. Tübingen. Becker-Mrotzek, Michael (1992): Diskursforschung und Kommunikation in Institutionen. Heidelberg (Studienbibliographien Sprachwissenschaft, 4). Biere, Bernd-Ulrich/ Liebert, Wolf-Andreas [Hrsg.] (1997): Metaphern, Medien, Wissenschaft. Zur Vermittlung der AIDS-Forschung in Presse und Rundfunk. Opladen. Katja Kessel/ Thomas Loew/ Christiane Thim-Mabrey 358 Busch-Lauer, Ines-Andrea (2001): Fachtexte im Kontrast. Eine linguistische Analyse zu den Kommunikationsbereichen Medizin und Linguistik. 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Pragmatische Konzepte wie Sprechakt, Implikatur, Deixis, Präsupposition, Konversations- und Informationsstruktur sind allgemein akzeptiert und werden in den verschiedensten theoretischen Ansätzen verwendet. Dies hat nicht zuletzt mit einer Hinwendung der modernen Linguistik zu Schnittstellen- Phänomenen zu tun, also zu solchen sprachlichen Sachverhalten, deren Analyse einen Rückgriff auf zwei oder mehrere Ebenen der Sprachbeschreibung notwendig macht. Dennoch ist die Pragmatik nicht so arriviert, wie es zunächst scheinen mag. Dies hat zwei Gründe. Zum einen ist da die alte Frage der Abgrenzung zwischen Semantik und Pragmatik. Schon John Searle insistierte in seinen Speech Acts, dass die Untersuchung der Sprechakte nicht nur eine Sache der parole, sondern auch der langue sei. Ein Zwitterbegriff wie der Begriff der konventionellen Implikatur, den Paul Grice in Logic and Conversation in die Debatte warf, weckte Zweifel an der eindeutigen Abgrenzung zwischen what is said und what is implicated. Die Frage nach der Abgrenzung zwischen Semantik und Pragmatik ist aktuell wie eh und je und hat gerade in der neueren analytischen Sprachphilosophie einen großen Auftrieb bekommen (vgl. Szabó 2005). Zum anderen ist es so, dass die empirische Bestätigung für viele pragmatische Hypothesen ausgeblieben ist bzw. nicht in dem erforderlichen Maße gesucht wurde. Dies gilt im Bereich der Sprechakttheorie etwa für die Menge der anzunehmenden Sprechakttypen, für die korrekte Sprechaktklassifikation und für das Konzept der indirekten Sprechakte. Die Konzepte der konversationellen Implikatur sind inzwischen zwar gut erforscht, aber dies gilt eher in sprachtheoretischer Hinsicht (vgl. Levinson 2000). In Bezug auf die konkreten einzelsprachlichen Phänomene, die sich zum Beispiel mit der skalaren Implikatur verbinden, gibt es noch relativ wenige empirische Untersuchungen. Die neuere Entwicklung, über die ich im Folgenden berichten will, besteht darin, dass pragmatische Konzepte mit Mitteln untersucht werden, die der experimentellen Psychologie bzw. Psycholinguistik entnommen sind. Jörg Meibauer 362 Diese Forschungsrichtung heißt experimentelle Pragmatik. Mit ihr verknüpft sich eine doppelte Hoffnung: Dass die Anwendung experimentellpsychologischer Verfahren die pragmatische Theorie zu präzisieren vermag und dass die Ergebnisse dieser Experimente auch bestimmte Befunde der experimentellen Psychologie in ein neues, „pragmatisches“ Licht rücken können. 2 Was untersucht die experimentelle Pragmatik? Die meisten Forscher unterteilen die linguistische Pragmatik im Anschluss an Levinson (1983) in die fünf Gebiete Deixis und Referenz, Implikatur, Präsupposition, Sprechakt und Konversationsstruktur. Die Konversationsstruktur ist jedoch inzwischen praktisch ein eigenes Untersuchungsfeld geworden, während ein weiteres Gebiet, die Informationsstruktur, in die Pragmatik eingegliedert worden ist. Eine aktuelle Vermessung der Pragmatik findet sich im Handbook of Pragmatics (Horn/ Ward 2004). Von den eingangs erwähnten fünf pragmatischen Gebieten sind vor allem die Gebiete Deixis und Referenz, Implikatur und Sprechakt Gegenstand experimentellpragmatischer Untersuchungen. Auf Forschungen zum Gebiet Deixis und Referenz werde ich in diesem Beitrag nicht eingehen, vgl. den Überblick von Clark/ Bangerter (2004). Vielmehr konzentriere ich mich auf Arbeiten zu Implikaturen und Sprechakten. Zu dem Bereich der Implikaturen gehören, wenn man den klassischen Ideen von Grice (1989) folgt, Phänomene der Metapher und Ironie genauso wie die skalaren Implikaturen. Metaphern und Ironie waren für Grice (1989) als scheinbare Verstöße gegen die Maxime der Qualität, welche besagt „Versuche, einen wahren Beitrag zu geben! “, zu analysieren. Dies ist natürlich, wie Grice selbst wusste, nur ein erster Ansatz. Was aber diesem Ansatz als eine Art selbstverständliche Annahme zugrunde liegt, ist die Ansicht, dass erst die wörtliche Bedeutung einer Äußerung berechnet wird, und dann pragmatische Schlussfolgerungen darauf aufbauen. In vielen Untersuchungen wurde dagegen zu zeigen versucht, dass tatsächlich entweder die Verarbeitung parallel erfolgt oder sogar eine pragmatische Bedeutung schneller abgeleitet wird als die wörtliche Bedeutung (vgl. Récanati 1995; Gibbs 2004; Glucksberg 2004). Skalare Implikaturen sind solche konversationelle Implikaturen, die aufgrund der Beachtung der Quantitätsmaximen („Mache deinen Beitrag so informativ, wie es der gegenwärtige Konversationszweck verlangt“ und „Mach deinen Beitrag nicht informativer, als verlangt“) zustandekommen. Hat man zum Beispiel eine Skala <alle, einige>, dann ist einige der schwächere Ausdruck und alle der stärkere. Aus der Assertion des schwächeren Ausdrucks resultiert die Negation des stärkeren. Behaupte ich zum Beispiel Einige Mädchen trugen einen Pferdeschwanz, dann ist mein Gegenüber zu der Annahme berechtigt, dass ich nicht in der Lage bin, in verantwortungsvoller Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 363 Weise die stärkere Behauptung Alle Mädchen trugen einen Pferdeschwanz zu machen. Dass es sich tatsächlich um eine konversationelle Implikatur handelt, sieht man daran, dass eine Äußerung wie Einige Mädchen trugen einen Pferdeschwanz, ja sogar alle keinen logischen Widerspruch darstellt. In der Theorie von Levinson (2000) sind skalare Implikaturen generalisierte konversationelle Implikaturen (GCI). GCIs kommen aufgrund von bestimmten Prinzipien wie dem Q-Prinzip, dem I-Prinzip und dem M- Prinzip zustande (vgl. Meibauer 2006) und werden von partikularisierten konversationellen Implikaturen (PCI) abgegrenzt. GCIs sind relativ grammatiknah, es sind Prinzipien, die sogar im Sinne einer präsemantischen Pragmatik direkten Einfluss auf die Wahrheitsbedingungen eines Satzes nehmen können. Einen solchen Einfluss pragmatischer Inferenzen auf die Semantik nehmen auch die Relevanztheoretiker wie Carston (2002) an, die hier von einer „Explikatur“ im Gegensatz zur Implikatur ausgehen. Relevanztheoretiker lehnen aber eine Unterscheidung zwischen GCI und PCI ab, genauso wie eine an der Theorie von Grice orientierte Unterscheidung verschiedener pragmatischer Prinzipien. Vielmehr haben in ihrem Ansatz generelle kognitive Prinzipien wie das Kognitive Prinzip der Relevanz, das Kommunikative Prinzip der Relevanz und die Annahme der optimalen Relevanz die Funktion, pragmatische Inferenzen jeglicher Art zu steuern (vgl. Wilson/ Sperber 2004; Meibauer 2006). Gerade die Relevanztheoretiker, die oft mit einem eingeschränkten Set sprachlicher Beispiele argumentieren, bemühen sich in den letzten Jahren, ihre Prinzipien einer experimentellen Prozedur zu unterwerfen, um sie zu präzisieren und feinkörniger zu machen. Die experimentellen Verfahren, die in der experimentellen Pragmatik verwendet werden, sind aus der Psychologie bzw. der Psycholinguistik bekannt. Zum Teil handelt es sich um klassische Experimente, die im Lichte der experimentellen Pragmatik neu interpretiert werden. Innerhalb der Psycholinguistik ist es üblich, grob zwischen den drei Bereichen der Sprachproduktion, der Sprachrezeption und der Sprachentwicklung bzw. dem Spracherwerb zu unterscheiden (vgl. Friederici 1999; Grimm 2000; Herrmann/ Grabowski 2003; Rickheit/ Herrmann/ Deutsch 2003). Experimentell-pragmatische Untersuchungen zur Sprachproduktion sind eher rar, die meisten einschlägigen Untersuchungen beschränken sich auf die Sprachrezeption. In der folgenden Darstellung möchte ich auf einige Forschungen zur Sprachrezeption eingehen, vor allem aber auf Erkenntnisse zum Spracherwerb. Es liegt auf der Hand, dass Kinder ihre pragmatische Kompetenz genauso erwerben wie ihre grammatischen Fähigkeiten. Ein zweijähriges Kind versteht noch keine Ironie und keine Metaphern (Winner 1988) und hat noch unklare Vorstellungen bezüglich anspruchsvoller Sprechakttypen wie zum Beispiel der Beleidigung oder dem Kompliment. Die Forschung zur pragmatischen Entwicklung kann inzwischen auf eine Reihe von Ergebnissen zurückblicken (vgl. Hickmann 1995, 2000; Pan/ Snow 1999). Da experimentelle Verfahren in der Spracherwersbforschung gang und gäbe sind, kann gerade Jörg Meibauer 364 im Bereich des Pragmatikerwerbs mit methodologischer Expertise der Psycholinguistik gerechnet werden. 3 Sprechakte Im Folgenden betrachten wir zwei Phänomene aus dem Bereich des Sprechakterwerbs, nämlich Versprechen und Lügen. Während die experimentellpragmatische Forschung beim Versprechen von den klassischen Glückensbedingungen ausgeht und diese in ihrem Erwerbsverlauf überprüft, ist es umgekehrt so, dass eine pragmatische Theorie des Lügenerwerbs von einer reichhaltigen psychologischen Forschungstradition profitieren kann (Lee 2000). 3.1 Versprechen Eine klassische sprechakttheoretische Beschreibung des Versprechens hat Searle (1971) vorgelegt. Versprechen werden, wie andere Sprechakte auch, durch die Angabe von Glückensbedingungen definiert. Die Bedingung des propositionalen Gehalts besagt, dass in einem Versprechen Bezug auf eine zukünftige Handlung des Sprechers genommen werden sollte. Die Einleitungsbedingung besagt, dass die zukünftige Handlung des Sprechers im Interesse des Hörers sein sollte. Die Aufrichtigkeitsbedingung besagt, dass der Sprecher die zukünftige Handlung auszuführen beabsichtigt. Und die Wesentliche Bedingung besagt, dass der Sprecher verpflichtet ist, die zukünftige Handlung auch tatsächlich auszuführen (das „kommissive“ Moment). Beherrschen Kinder von früh auf diese Bedingungen oder müssen sie schrittweise erlernt werden? Untersucht wurde unter anderem das Verstehen der Aufrichtigkeitsbedingung und der Einleitungsbedingung. Experimente von Astington (1988) haben ergeben, dass viele Kinder zwischen 5 und 9 Jahren annehmen, dass Versprechen wahre Feststellungen sind, die sich auf zukünftige oder vergangene Sachverhalte beziehen. Der aus der Erwachsenenperspektive wichtige Punkt, dass die zukünftige Handlung nicht nur realisiert sein muss, sondern auch vom Sprecher bewirkt sein muss (wie es die Aufrichtigkeitsbedingung verlangt), ist für Kinder in diesem Alter noch nicht relevant. Mit anderen Worten, der frühe Begriff des Versprechens ähnelt stark einer Voraussage, d.h. einem assertiven Sprechakt. Erst zwischen 11 und 13 Jahren entwickelt sich die vollständige Unterscheidung zwischen Versprechen und Assertionen. In anderen Experimenten hat man sich der Einleitungsbedingung zugewendet (Bernicot/ Laval 2004). Untersucht wurde, ob für Kinder deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung eine Rolle spielt. Als Materialien wurden unter anderem Bildergeschichten verwendet, in denen die Einleitungsbedingung einmal erfüllt war, einmal nicht. Eine weitere Variable war die Form der Äußerung, nämlich explizit performativ versus futurischer Deklarativsatz. Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 365 Zum Beispiel ging eine Geschichte, in der die Einleitungsbedingung erfüllt war, so: (1) Bill is supposed to go to bed at 8: 30. He’s allowed to look at a book before going to sleep. One night, Bill’s father thinks Bill is very tired. He wants Bill to turn off the lights very soon. Bill says to his father: „I promise I’ll turn out the lights right away.“ Five minutes later, Bill’s father sees that the lights are out. Die Kinder im Alter von 3, 6 und 10 Jahren hatten die Aufgabe, entweder dem (korrekten) Bild „Bill’s father is happy“ oder dem (nicht korrekten) Bild „Bill’s father is unhappy“ zuzustimmen. In dieser Geschichte wurde eine explizit performative Formel verwendet (I promise). Eine Geschichte, in der die Einleitungsbedingung nicht erfüllt war, hatte das folgende Format: (2) Bill’s best friend is called Bungo: it’s his dog. They played together all afternoon in the woods and Bungo is dirty. Bungo really needs to be washed, but Bill’s father doesn’t want Bill to use the hose alone. Bill says to his father: „I’ll wash Bungo tomorrow.“ The next day, Bill’s father sees Bill washing his dog with the hose.“ Hier war die Bildalternative „Bill’s father is unhappy“ korrekt. Bills Äußerung ist ein futurischer Deklarativsatz. Folgende Resultate zeigte die Untersuchung (Bernicot/ Laval 2004, 213): • Die 3-Jährigen und die 6-Jährigen beherrschten die Aufgabe weniger gut als die 10-Jährigen. • Die Kinder gaben bei den Aufgaben vom Typ (1) „Einleitungsbedingung erfüllt“ mehr richtige Antworten als bei den Aufgaben vom Typ (2) „Einleitungsbedingung nicht erfüllt“. • Die sprachliche Form - explizit performative Äußerung versus futurischer Deklarativsatz - hatte keinen Einfluss, wenn die Einleitungsbedingung erfüllt war. Wenn sie nicht erfüllt war, hatte die Variable „explizit performative Äußerung“ einen negativen Einfluss auf die Menge der korrekten Antworten. Insgesamt schließen die Autoren aus ihren experimentellen Befunden, dass die von Astington (1988) untersuchte Aufrichtigkeitsbedingung für Versprechen früher erworben wird als die Einleitungsbedingung. 3.2 Lügen In sprechakttheoretischen Termini gesprochen, sind Lügen unaufrichtige Behauptungen (Meibauer 2005). Wie lernen Kinder zu lügen? Diese Frage versucht nicht nur die neuere Forschung zur pragmatischen Entwicklung zu beantworten, vielmehr ist die Erforschung des kindlichen Verständnisses der Lüge ein klassisches Thema der Entwicklungspsychologie. Seit dem einflussreichen Werk von Piaget (1932/ 1973) gibt es kontinuierliche For- Jörg Meibauer 366 schung zu diesem Thema. Piagets Grundannahme war, dass jüngere Kinder die Motive eines Handelnden vernachlässigen und dass sie sich nur für die Form und die Konsequenzen einer Handlung interessieren. Diese Einstellung wurde moralischer Realismus genannt. Nach Piaget neigen Kinder bis zu 8 Jahren dazu, wenn man sie mit Geschichten konfrontiert, in denen ein Junge etwas Unplausibles behauptet, aber nicht zu täuschen versucht (z.B. prahlt er damit, in einem tollen Auto gefahren zu sein), dieses Verhalten als moralisch verwerflicher zu beurteilen als im alternativen Fall, wo die falsche Behauptung plausibel ist, aber der Junge zu täuschen versucht (z.B. drückt er sich vor einer Aufgabe, indem er behauptet, der Fuß tue ihm weh). Diese Kinder sind also nicht an dem Motiv oder der Intention des Sprechers interessiert; alles was zählt ist, ob eine Behauptung falsch ist oder nicht, und in welchem Maße sie von der Wahrheit abweicht. Als problematisch hat sich jedoch in Bezug auf den ersten Fall die Annahme erwiesen, dass ein Sprecher eine falsche Behauptung äußert (und weiß, dass diese falsch ist), aber keine Täuschungsabsicht hat. Sehr viel besser geeignet sind Szenarios, in denen ein Sprecher unabsichtlich eine falsche Behauptung macht. Wie Wimmer/ Gruber (1986, 184) zeigen, neigen 6- Jährige dazu - im Gegensatz zu Piagets Annahmen - nur auf der Grundlage der Täuschungsabsicht zu urteilen. Moralischer Realismus ist bei diesen Kindern also nicht vorhanden (Peterson 1991, 11). Dennoch scheint es Unterschiede in den Urteilen verschiedener Altersgruppen zu geben. So berichten Wimmer/ Gruber (1986, 185) über Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren, die über einen Fall urteilten, in dem ein Sprecher keine Täuschungsabsicht hatte, aber eine falsche Behauptung machte. Den Kindern wurde erzählt, dass Zuhörer enttäuscht waren von dieser falschen Behauptung. In diesem Fall erkannten die Hörer die aufrichtige Absicht zwar an, behaupteten aber nichtsdestotrotz, dass der Sprecher log. Für diese Kinder war also relevant, was tatsächlich der Fall war. Darüber hinaus assoziierten die Kinder Lügen mit schlechtem Verhalten, so dass ihre Urteile keineswegs auf eine moralisch neutrale Einstellung zum Lügen zurückgeführt werden konnten (Peterson 1991, 12). Die empirische Forschung seit den 80er Jahren konzentrierte sich auf zwei Aspekte des Problems des moralischen Realismus: (i) das kindliche Verhalten in Bezug auf die Bedingung des irrtümlichen Glaubens (False Belief Task), und (ii) die Untersuchung kindlicher Definitionen von Lügen. Es besteht heute Einigkeit darüber, dass die Entwicklung des Lügens mit einer emergenten Theory of Mind verknüpft ist, d.h. der Fähigkeit, über die epistemischen Einstellungen Anderer zu reflektieren. So argumentierten Wimmer/ Perner (1983, 126), „that around the ages of 4 to 6 years the ability to represent the relationship between two or more persons’ epistemic states emerges”. In ihren Experimenten testeten sie Kinder zwischen 3 und 9 Jahren hinsichtlich ihres Verständnisses von zwei Geschichten. In diesen Geschichten beobachteten Probanden, wie ein Protagonist ein Objekt an einer Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 367 bestimmten Stelle x deponierte. Sie wurden dann Zeugen davon, wie dieses Objekt von der Stelle x zu der Stelle y gebracht wurde, während der Protagonist abwesend war. Sie mussten daher annehmen, dass der Protagonist noch glaubte, dass das Objekt sich an der Stelle x befand. Die Probanden sollten dann angeben, wo der Protagonist gucken würde, wenn er zurückkäme. Das Resultat bei dieser Aufgabe war, dass „none of 3-4-year old, 57% of 4-6-year old, and 86% of 6-9-year old children pointed correctly to location x in both sketches.” (Wimmer/ Perner 1983, 103). Als Grund wurde zunächst ein Mangel zur Fähigkeit der Repräsentation angenommen. In einer späteren Studie revidierten Perner/ Leekam/ Wimmer (1987, 136) ihre Hypothese dahingehend, dass das Kind unfähig sei, Propositionen konfligierende Wahrheitswerte zuzuordnen. Andere Forscher haben vorgeschlagen, dass die Urteile nichts mit repräsentationellen Defiziten zu tun haben, sondern mit der Anwendung kontextsensitiven Wissens (Dalke 1995). In weiteren empirischen Studien wurden andere Aspekte des kindlichen Lügenerwerbs hervorgehoben: die kindliche Fähigkeit, Information zu verbergen (Peskin 1992); die kindliche Fähigkeit zu täuschen, d.h. täuschendes Zeigen, falsches Spurenlegen und Entfernen von richtigen Spuren (Sodian 1991; Sodian/ Taylor/ Harris/ Perner 1991); die kindliche Fähigkeit, Glaubenseinstellungen zuzuschreiben, die sich auf moralische Werte, soziale Konventionen oder Besitzverhältnisse bezogen (Flavell/ Mumme/ Green/ Flavell 1992). Eine weitere Perspektive ergibt sich, wenn man Kinder auffordert, Lügen zu definieren. Prinzipiell könnten ja bestimmte Untersuchungsergebnisse damit zusammenhängen, dass Kinder Lügen einfach anders definieren als Erwachsene. Wenn also Kinder dazu neigen, unter Lügen „any statement that fails to convey the literal, objective truth” (Peterson 1991, 7f.) zu verstehen, zeigen sie lexikalischen Realismus. Schon Piaget hatte herausgefunden, dass Kinder bis zu 9 Jahren meinten, dass falsches Raten, Witze, Erinnerungsfehler, Fantasien, Versprecher, Rechenfehler, Übertreibungen usw. Lügen seien. Ein ähnliches Resultat hatte eine Studie von Peterson/ Peterson/ Seeto (1983) mit Kindern zwischen 5 und 12 Jahren; in dieser Studie zeigte sogar eine erwachsene Kontrollgruppe Eigenschaften von lexikalischem Realismus. Insgesamt gibt es Indizien für die folgenden Annahmen: • Kinder zwischen 3 und 5 Jahren orientieren sich in erster Linie daran, ob ein behaupteter Sachverhalt wahr oder falsch ist. • Forschungen zur False Belief Task zeigen deutlich, dass die kindliche Fähigkeit zur Reflexion über die epistemischen Einstellungen Anderer noch in der Entwicklung begriffen ist. • Mit sich entwickelnder Theory of Mind betonen die Kinder mehr und mehr die Intention des Sprechers. Bis zu einer schlüssigen und empirisch begründeten Theorie des Sprechakterwerbs ist es noch weit. So konzentriert sich die Forschung oft auf bestimm- Jörg Meibauer 368 te Sprechakte oder Altersgruppen oder etabliert erst einmal bestimmte experimentelle Designs. Insbesondere soziale und emotionale Aspekte von Sprechakten, die man nur im Rahmen von weiteren komplexen Theorien begreifen kann, werden meist vernachlässigt. Dennoch zeigen die skizzierten Forschungsergebnisse, dass Ergebnisse aus der experimentell-pragmatischen Forschung nicht nur unsere Kenntnisse über den Spracherwerb allgemein bereichern, sondern auch eine Herausforderung für die Sprechakttheorie selbst sind, weil sie zum Beispiel die Frage zu klären helfen, was „Unaufrichtigkeit” ist. 4 Implikaturen Die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, ist sicherlich eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen. Allerdings zeigte sich in experimentellen Untersuchungen, dass diese Fähigkeit bei einzelnen Personen in unterschiedlichem Maße ausgeprägt ist, und vor allem, dass viele Menschen nicht in der Lage sind, bestimmte Schlüsse zu ziehen, die sie eigentlich aufgrund ihrer logischen Kompetenz ziehen sollten. Frappierend sind zum Beispiel die Ergebnisse von Wasons Selection Task (benannt nach dem Psychologen P.C. Wason), einer Aufgabe, die wiederholt in psychologischen Untersuchungen zum Schlussfolgern verwendet wurde (vgl. Van der Henst/ Sperber 2004, 156ff.). In einer abstrakten Version dieser Aufgabe wurden Versuchspersonen wie folgt instruiert: „Hier sind vier Karten. Jede Karte hat eine Zahl auf einer Seite und einen Buchstaben auf der anderen Seite. Zwei von diesen Karten zeigen eine Zahl auf der Vorderseite und zwei einen Buchstaben auf der Vorderseite. Geben Sie an, welche von den Karten Sie umdrehen müssen, um zu beurteilen, ob die folgende Regel wahr ist: ‚Wenn eine 6 auf der einen Seite ist, ist ein E auf der anderen Seite.‘“ 6 7 E G Typischerweise sind nur etwa 10 Prozent der Probanden in der Lage, die richtige Antwort zu geben, nämlich „6“ und „G“. (Für die anderen 90%, zu denen ich auch gehöre, die folgende Erläuterung: Die 6 muss man umdrehen, um zu prüfen, ob ein E auf der Rückseite ist. Die 7 muss man nicht umdrehen, weil in der Regel nur von einer „6“ die Rede ist. Die E-Karte braucht man nicht umzudrehen. Entweder es steht eine 6 auf der Rückseite oder etwas anderes. In beiden Fällen ist die Regel richtig. Die G-Karte muss umgedreht werden: Auf der Rückseite könnte eine 6 sein, und dann wäre der Schluss falsch.) Van der Henst/ Sperber (2004, 159) vermuten, dass die falschen Antworten dadurch zustande kommen, dass sich die Versuchsper- Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 369 sonen von Relevanzprinzipien leiten lassen. Zum Beispiel könnten sie annehmen, dass es Karten gibt, die eine 6 auf der einen, und ein E auf der anderen Seite haben (sonst wäre die Regel ja nicht relevant). Und dies würde sie zur falschen Wahl der 6-Karte und der E-Karte führen. Während also nicht alle Erwachsenen immer „logisch“ sind, zeigt sich hinsichtlich des Pragmatikerwerbs von Kindern, dass diese oft „logischer“ sind als Erwachsene. Dies hat sich in einer Reihe von Untersuchungen ergeben, die letztlich die Auffassung unterstützen, dass die Fähigkeit, im Sprachverstehen mehr und mehr die komplexe Äußerungssituation zu beachten, mit der kindlichen Entwicklung zunimmt (vgl. Noveck 2001; Noveck 2004; Papafragou/ Musolino 2003; Chierchia et al. 2004). Dies sei im Folgenden anhand von zwei Untersuchungen illustriert, die von Noveck (2001) durchgeführt worden sind. Diese beziehen sich auf zwei klassische Implikaturenphänomene, nämlich auf die Koordination mit und sowie auf die skalaren Implikaturen. 4.1 Koordination mit und Es war das Anliegen von Grice (1989), die wörtliche Bedeutung („what is said“) von Konnektoren so weit wie möglich mit ihrer aussagenlogischen Funktion zu identifizieren. Alle weiteren, darüber hinausgehenden Bedeutungen sollten als konversationelle Implikaturen („what is implicated“) abgeleitet werden. Ein klassischer Fall ist die Konjunktion und. Es gibt einerseits Fälle, wo die Anordnung der Konjunkte völlig gleichgültig ist, vgl. etwa Die WM ist aus und 3 mal 4 ist 12. Das heißt p & q ist das Gleiche wie q & p. Andererseits gibt es Fälle, wo die Anordnung der Konjunkte einen großen Unterschied macht: (3) a. Mary got married and got pregnant. b. Mary got pregnant and got married. Die Äußerung (3a) wird so verstanden, dass Mary erst geheiratet hat und dann schwanger wurde, während (3b) so verstanden wird, dass Mary erst schwanger wurde und dann geheiratet hat. Wie wir wissen, macht das in vielen Ländern der Welt einen großen Unterschied. Bedeutet das und in beiden Fällen etwas anderes? Die „bedeutungsminimalistische“ Antwort ist nein. Die über die bloße Verknüpfungsbedeutung hinaus entstehende Extrabedeutung ‚und dann‘ bzw. ‚und deswegen‘ wird pragmatisch abgeleitet. Wie geschieht dies? Für Grice (1989) war hier die Submaxime der Modalität „Be orderly! “ einschlägig: Ereignisse sollten normalerweise in der Reihenfolge berichtet werden, in der sie tatsächlich passiert sind. Levinson (2000) betrachtet diese Fälle als „conjunction buttressing“, ausgelöst durch die Anwendung des I-Prinzips, welches den Inhalt hat, dass der Sprecher so wenig wie möglich sagen soll, während der Hörer so viel wie nötig anreichern soll. Durch das I-Prinzip ausgelöste Implikaturen sind für Levinson GCIs, d.h., sie sind relativ unabhängig vom Äußerungskontext. Jörg Meibauer 370 Sind Kinder in der Lage, das Reihenfolgeprinzip zu beachten? Dies wurde in einer Studie untersucht, über die Noveck (2004, 310) berichtet. Kindern im Alter von 7 und 10 Jahren wurden Geschichten vom Typ (4a) präsentiert und sie sollten dann entweder der Frage (4b) oder der Frage (4c) zustimmen: (4) a. While sitting on her couch, Julie was reading a comic book. Suddenly, the telephone rang. She went out of the living room and ran to answer. It was Isabelle who was inviting Julie to celebrate her birthday Saturday. Since they were very good friends, Julie accepted the invitation. b. Julie answered the phone and accepted an invitation? c. Julie accepted an invitation and answered the phone? Die meisten Versuchspersonen, Kinder wie auch die erwachsene Kontrollgruppe, stimmten (4b) zu. Die Kinder waren aber überraschend tolerant gegenüber (4c). Ungefähr 85% der 7-Jährigen stimmten (4b) zu, 63% der 10- Jährigen, und 29% der Erwachsenen. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass für die jüngeren Kinder noch der beschriebene Sachverhalt im Vordergrund steht. Dies würde einer Präferenz für die reine Verknüpfungsbedeutung (Konnexität) entsprechen. Noveck (2004, 310f.) betrachtet solche und weitere Ergebnisse als Beleg für den relevanztheoretischen Ansatz von Carston (2004), der davon ausgeht, dass bei der und-Koordination keine GCI im Spiel ist, wie es Levinson (2000) sehen würde, sondern dass es sich um eine pragmatische Anreicherung unterdeterminierter Propositionen handelt. Meines Erachtens sind die Ergebnisse aber durchaus mit dem Ansatz von Levinson vereinbar. Selbstverständlich muss die Fähigkeit zur Ableitung von GCIs erworben werden, da auch die zugrunde liegenden Prinzipien gelernt werden müssen. 4.2 Skalare Implikaturen Ein weiterer Fall von GCIs sind die skalaren Implikaturen. Betrachten wir den Fall einige. Äußere ich (5a), entsteht in vielen Fällen die konversationelle Implikatur (5b), die durch die Beachtung der Quantitätsmaxime bzw. des Q- Prinzips bei Levinson (2000) abgeleitet wird. Dass es sich tatsächlich um eine Implikatur handelt, sieht man daran, dass diese durch einen geeigneten Zusatz gestrichen werden kann, siehe (5c). (5) a. Einige Mädchen trugen einen Pferdeschwanz. b. Nicht alle Mädchen trugen einen Pferdeschwanz. c. Einige Mädchen trugen einen Pferdeschwanz, ja es waren sogar alle. Generell gilt, dass in einer Skala <alle, einige> die Assertion des rechtsstehenden Elements zur Ableitung der Negation des linksstehenden Elements einlädt. Die Ordnung der Elemente in der Skala erfolgt nach ihrer „Stärke“. Linguistik und Psychologie: Experimentelle Pragmatik 371 Zu beachten ist dabei, dass aus der Äußerung „Alle Mädchen trugen einen Pferdeschwanz“ logisch folgt ‚Einige Mädchen trugen einen Pferdeschwanz‘. Um die Implikaturenkompetenz von Kindern zu überprüfen, hat man in mehreren Untersuchungen eine Truth Value Judgement Task durchgeführt. Zum Beispiel wurden den Kindern mit Spielzeug Situationen vorgespielt, die von einer Puppe kommentiert werden. Die Kinder sollten dann beurteilen, ob die Puppe recht hat. Angenommen, in einer Situation hätten alle Mädchen einen Pferdeschwanz. Die Puppe kommentiert diesen Sachverhalt mit der Äußerung: „Einige Mädchen tragen einen Pferdeschwanz.“ Die „logischen“ Kinder sollten dieser Äußerung zustimmen, denn wenn es wahr ist, dass alle Mädchen einen Pferdschwanz tragen, ist es auch wahr, dass einige Kinder einen Pferdeschwanz tragen. Kinder hingegen, die schon Implikaturen beherrschen, sollten den Kommentar der Puppe ablehnen, denn in diesem Fall wäre es - der Quantitätsmaxime folgend - angebracht, die stärkere Äußerung „Alle Mädchen tragen einen Pferdeschwanz“ zu wählen. In mehreren Untersuchungen gab es Indizien dafür, dass der Unterschied zwischen (jüngeren) logischen Kindern und (älteren) pragmatischen Kindern real ist. Dies ist besonders eindrucksvoll in solchen Experimenten gezeigt worden, wo man die konversationelle Implikatur normalerweise nicht ableiten würde. Zum Beispiel würde eine Äußerung wie „Einige Giraffen haben einen langen Hals“ wohl nicht die Implikatur ‚Nicht alle Giraffen haben einen langen Hals’ auslösen, weil es zu unserem prototypischen Wissen gehört, dass Giraffen lange Hälse haben. Dennoch neigen, wie Noveck (2004, 306f.) berichtet, bis zu 85% der befragten 8- und 10-Jährigen dazu, der unterinformativen „Einige ...“-Äußerung zuzustimmen, während die erwachsene Kontrollgruppe nur zu etwa 41% zustimmte. Wie solche Ergebnisse genau zu interpretieren sind, ist trotz des einleuchtenden experimentellen Designs (das auf Smith 1980 zurückgeht) umstritten. • Es könnte sein, dass junge Kinder ganz einfach unter einige soviel wie ‚einige, sogar alle‘ verstehen, d.h. die Ergebnisse sind eigentlich Resultat unvollkommenen lexikalischen Lernens. • Es könnte sein, dass Kinder (und auch Erwachsene) den Versuchsaufbau nicht immer gut verstehen, z.B. dass sie nicht annehmen wollen, dass die Puppe lügt. • Schließlich ist zu beachten, dass schlechte, „logische“ Leistungen der Kinder möglicherweise nicht mit der pragmatischen Entwicklung zusammenhängen (Pragmatic Delay Hypothesis), sondern mit einer begrenzten Verarbeitungsfähigkeit (Processing Limitation Hypothesis). Dies ist jeweils die Auffassung von Chierchia et al. (2004). Jörg Meibauer 372 5 Ausblick Wir haben gesehen, dass es im Bereich der Sprechakte und der Implikaturen experimentell-pragmatische Forschung gibt, die zum Teil auf älteren klassischen psychologischen Studien aufbaut. Es gibt einige Indizien dafür, dass sich jüngere Kinder in ihrer pragmatischen Entwicklung „logischer“ verhalten, mehr an der Wahrheit/ Falschheit von Sachverhalten interessiert sind, noch nicht fähig, Intentionen und Einstellungen Anderer zu berechnen und die komplexe Äußerungssituation einzubeziehen. Allerdings ist nicht klar, wie solche Ergebnisse von dem jeweiligen Versuchsaufbau, den untersuchten Kindern und weiteren Einflussfaktoren abhängen, zumal auch Erwachsene nicht immer die erwarteten Leistungen zeigen. Der Unterschied zwischen pragmatischen und logischen Schlüssen scheint aber gut etabliert zu sein. Vorschnell wird manchmal geurteilt, das eine oder anderere Ergebnis sei eine Bestätigung der Relevanztheorie (Noveck 2004). Da die Prinzipien der Relevanztheorie selbst zum Teil sehr grob sind, halte ich das nicht immer für überzeugend (siehe aber Van der Henst/ Sperber 2004). Mir scheint vielmehr der Vorteil der experimentellen Pragmatik zu sein, dass man die Chance hat, manche sehr globale Hypothesen pragmatischer Theorien im Angesicht von vielfältig strukturierten Daten zu überprüfen und langfristig zu verfeinern. Dadurch gewinnt die pragmatische Theorie, die Psycholinguistik bzw. experimentelle Psychologie, und nicht zuletzt - wie ich ansatzweise zu zeigen versucht habe - die Theorie der pragmatischen Entwicklung. 6 Bibliographie Astington, Janet Wilde (1988): Children’s understanding of the speech act of promising. In: Journal of Child Language 15, 157-173. Bernicot, Josie/ Laval, Virginie (2004): Speech Acts in Children: the Example of Promises. In: Noveck, Ira A./ Sperber, Dan [Hrsg.]: Experimental Pragmatics. Basingstoke/ New York, 207-227. 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That which we call a rose by any other name would smell as sweet” oder auf der anderen Seite bei Wilhelm von Humboldt („Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“ 1820): „die Verschiedenheit der Sprachen ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“, dann wird in diesen beiden extremen Positionen das Spektrum deutlich, in dem sich die Diskussion um die Beziehung von Sachverhalt und Bezeichnung zunächst in der Philosophie und Linguistik, jetzt aber auch zunehmend in der Psychologie bewegt. Interessanterweise finden sich allerdings in psychologischen Lexika und Handbüchern nur vereinzelt Bemerkungen über Namen, und wenn, dann häufig im Kontext der Psychopathologie (z.B. Onomatomanie, das zwanghafte Suchen nach vergessenen Namen, Wörtern oder Bezeichnungen, oder Onomatolalie, der Zwang, Namen oder Wörter ständig zu wiederholen). Selbst in psychologischen Beiträgen zum subjektiven Lexikon wird häufig zumindest implizit davon ausgegangen, dass das Lexikon der Namen identisch mit dem Lexikon der Sachverhalte sei. Lediglich beim Schlagwort „Cultural Relativity“ (Rosch 1974) finden sich Analysen und empirische Untersuchungen zur Beziehung von Namen und Sachverhalten, die üblicherweise bei der Diskussion der so genannten Sapir-Whorf-Hypothese als Fortführung der Position Wilhelm von Humboldts ansetzen, dass nämlich die Differenziertheit eines Bezeichnungsbzw. Namenssystems bestimmt, was in der Welt unterschieden werden kann und wie die zugrunde liegenden Sachverhalte verarbeitet werden. Um die Beziehung zwischen Namen und Sachverhalten aus kognitionspsychologischer Sicht zu beleuchten, bietet sich das Farblexikon an, weil hier sprachgebundene Leistungen wie Benennen mit nicht-sprachlichen wie z.B. Generalisieren oder Identifizieren verglichen werden können. Darüber hinaus liegen einerseits viele Untersuchungen zu den physiologischen Prozessen der Farbwahrnehmung und darauf basierend zur psychophysischen Struktur, dem ‚Farbkörper’, und zum andern vergleichende sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Evolution von Farblexika vor (s. Abb. 1). Alf C. Zimmer 376 Von kognitionswissenschaftlich besonderem Interesse sind metaphorische Farbbezeichnungen wie Türkis, Orange oder Violett, weil diese z.B. in der muttersprachlichen Entwicklung im Deutschen in relativ genau bestimmbaren Entwicklungsphasen des individuellen Farblexikons auftreten, so dass sich die Beziehung des individuellen Farbraums zum Farblexikon vor und nach der Aufnahme der Nutzung eines neuen Farbnamens untersuchen lassen (Zimmer 1982). Die Farbe Türkis ist für solche Untersuchungen besonders geeignet, weil sie im Spracherwerb vergleichsweise spät auftaucht, dabei im Gegensatz zu Violett eine enge Beziehung zum Referenzobjekt aufweist und zudem fokal dem entspricht, was in der Diskussion um sprachlichkulturellen Relativismus das Paradebeispiel darstellt, nämlich „grue“, die Farbbezeichnung für Farblexika, in denen Grün (green) und Blau (blue) nicht gesondert auftreten. Im Deutschen kommt dieser Farbbezeichnung noch spezielle Bedeutung zu, weil schon im Mittelhochdeutschen die Verschiebung von der Bezeichnung eines Halbedelsteins zu einer Farbe auftritt: Hugo von Langenstein (1293) in ‚Leben und Martyrium der hl. Martina’ „noh der eiter varve turggis,/ der hat vur vallen hohen pris“. 2 Kognitive Rahmenbedingungen für die Beziehung von wahrgenommen Farbstrukturen und dem subjektiven Farblexikon In einer sorgfältigen Aufarbeitung vorliegender empirischer Befunde und der Re-Analyse vorliegender Interpretationen konnten Berlin und Kay 1969 zeigen, dass zwar der Vergleich von Farbbezeichnungen über verschiedene Sprachen und Kulturen hinaus deutliche Unterschiede aufweist, diese Unterschiede aber nicht dazu führen, dass die Farben in diesen Sprachkulturen auch unterschiedlich wahrgenommen werden, sondern dass die von Whorf (1956) postulierten und von Brown/ Lenneberg (1954) gezeigten Unterschiede auf die Erinnerbarkeit von unterschiedlichen Farbreizen mit und ohne distinkte Farbnamen im subjektiven Lexikon zurückzuführen sind. 1978 haben Kay und McDaniel eine evolutionäre Generierung von Farbbegriffen für unterschiedlich elaborierte Farbvokabulare erstellt (s. Abb. 1). Kognitionspsychologische Überlegungen zu „Türkis“ 377 Abb. 1: Evolution von Farblexika nach Kay und McDaniel (1978) (Zimmer 1982, 214). Anknüpfend an Beare (1963) hat Zollinger (1984) eine universalistische These der Evolution von Farblexika postuliert, wonach die Struktur des Farbraumes, wie durch den Munsell-Körper definiert, die Evolution neuer Farbbegriffe determiniert, sobald technologische und kulturelle Bedingungen gegeben sind, die eine weitere Differenzierung möglich oder notwendig machen. Als Beispiel für seine Analyse wählt er die Farbe Türkis. Die Argumente Zollingers (1984), die für technologische und kulturelle Randbedingungen hinsichtlich der Farbdifferenzierung sprechen, überzeugen zum Teil; sicher spielen neue Möglichkeiten in der Farbherstellung und Färbetechnik in Mode und Kultur eine Rolle bei der sprachlichen Ausdifferenzierung, aber dies kann nicht allgemein so unmittelbar wirksam werden, wie von ihm behauptet, denn während z.B. im Mittelhochdeutschen der Zeitraum zwischen der ersten Nennung von Türkis als Halbedelstein bei Wolfram von Eschenbach und seiner Verwendung als Farbbegriff bei Hugo von Langenstein nur knapp 100 Jahre ausmacht, findet sich bei vergleichbaren Randbedingungen in England die erste Nutzung als Farbbegriff erst sehr viel später (Harvey 1573 „an alabaster neck, a turcois eie“). Das Argument aber, wonach die Form des Munsell-Körpers das Auftreten neuer Farbbegriffe an bestimmten Stellen notwendig macht, erscheint zirkulär, denn Whorf (1956) folgend müsste man ja gerade annehmen, dass für unterschiedliche Sprachkulturen auch der Munsell-Körper unterschiedlich ist; daher kann aus der großen Distanz zwischen fokalem Grün und fokalem Blau nicht zwingend geschlossen werden, dass exakt in der Mitte der Ort für einen neuen Farbbegriff, nämlich Türkis, auftauchen muss. Meines Erachtens lassen sich zumindest drei Ebenen unterscheiden, auf denen Bedingungen für den Prozess der Farbbenennung erfolgen und die Alf C. Zimmer 378 damit ursächlich für die Evolution der unterschiedlichen Lexika von Farbbegriffen verantwortlich sind. Die Tatsache, dass diese Bedingungen auf den unterschiedlichen Ebenen interagieren, mag dazu geführt haben, dass die hitzige Debatte über sprachlichen Relativismus bzw. Universalismus anhand der Farblexika so wenig schlüssig erscheint (Brown/ Lenneberg 1954; Berlin/ Kay 1969; Rosch 1975; Kay/ McDaniel 1978; Zimmer 1982). Die unterscheidbaren Ebenen sind: 1. die physiologische Basis der Farbwahrnehmung (s. DeValois 1973; Wattenwyl/ Zollinger 1979), 2. allgemeine kognitive Prozesse, die auf den Unterschied basaler und abgeleiteter Farbkategorien Einfluss haben, die Rolle von Prototypen und die Bildung von internen Bezugssystemen für Farbbegriffe, 3. die sprachpragmatischen Randbedingungen für Farbbenennungen, die die Implikaturen in der Kommunikation beeinflussen (Grice 1975) und die Frage, wie mitteilbar (shareable) sprachliche Bedeutung sein muss, damit die unterschiedlichen Teilnehmer des kommunikativen Prozesses ihr Wissen über die Welt teilen können (Hirsch 1967; Freyd 1983). Dazu kommen linguistische Randbedingungen für abgeleitete Farbbegriffe, die einen klar metaphorischen Bezug haben wie z.B. Türkis. Wie Cohen/ Murphy (1984) gezeigt haben, können diese Randbedingungen semantisch wie auch syntaktisch wirken. Aus Perspektive der universalistischen Position formen die Ebenen 1 bis 3 eingebettete Mengen mit Ebene 1 als Kern. D.h., die physiologisch bedingte Kodierung von Licht in Kategoriensysteme von Gegenfarben ist primär und gilt universell für alle Menschen mit nichtpathologischer Farbsichtigkeit. Darüber hinaus sind die Regeln für die mentale Repräsentation dieser Kategorien ebenfalls universell: Die Bildung disjunktiver Kategorien (z.B. grue) oder abgeleiteter Kategorien wie z.B. Türkis sowie das interne Format dieser Kategorien. Im Gegensatz dazu postuliert die Position der starken kulturellen Relativität, dass die kommunikativen und linguistischen Randbedingungen zentral sind und dass die physiologischen Randbedingungen keine entscheidende Rolle bei der Evolution der Farblexika spielen. Gegen diese Position sprechen die Ergebnisse z.B. von Zimmer (1982) hinsichtlich der ontogenetischen Entwicklung von abgeleiteten Farbkategorien, die Ergebnisse von Kay/ Kempton (1984) hinsichtlich der Unterschiede der internen Repräsentationen verursacht durch unterschiedliche Farblexika, und die spezielle Rolle, die metaphorische abgeleitete Farbbegriffe spielen, wenn wie bei Orange und Türkis Referenzobjekte in der Umwelt der Sprechenden bestehen; hier interagieren offenkundig zumindest die Ebenen 2 und 3. Dies zusammen mit den empirischen Schwierigkeiten, die Randbedingungen der Ebenen 1 und 2 empirisch zu trennen (Berlin/ Kay 1969; Kay/ McDaniel 1978; Zimmer 1982), sind die Ursache zwischen anscheinend widersprüchlichen Befunden, die immer wieder die Debatte hinsichtlich Kognitionspsychologische Überlegungen zu „Türkis“ 379 universalistischer vs. relativistischer Prinzipien der Wahrnehmung angeheizt haben. Zollinger (1984) behauptet, dass sowohl die subjektiven Distanzen zwischen den Farben Grün und Blau bzw. Schwarz und Gelb wie auch die Entstehung von Farbbegriffen (z.B. Braun, aber auch Türkis) direkt aus den Verhältnissen im sog. Munsell-Farbkörper abgeleitet werden können. Dies macht aber die implizite Vorannahme, dass die mentalen Repräsentationen von Farbwahrnehmungen und Farbbegriffen isomorph sind. Shepard (1982a) hat auf der Grundlage seiner Untersuchungen zu räumlichen Repräsentationen und Generalisierungsgradienten vorgeschlagen, dass externe Objekte (in diesem Falle reflektiertes Licht auf den Objekten A, B und C) proximale Reize (hier Farben wie im Gegenfarbsystem kodiert, A’, B’, C’) und interne Repräsentationen A’’, B’’, C’’ so interagieren, wie es in Abbildung 2 dargestellt ist. Abb. 2: Ebenen der Repräsentation nach Shepard (1982) (Zimmer 1984, 413). Shepard (1982a, 331) führt dazu aus, „The designation of the relation between corresponding internal and external structures as one of ‘complementarity’ attempts to capture these two aspects of that relation - namely: (a) that the two structures, existing in necessarily disjoint domains, Alf C. Zimmer 380 cannot be directly compared; and (b) that they must nevertheless be capable of a very precise and efficient mesh at the lower-dimensional common boundary.” Die Abbildung der distalen Reize in mentale Repräsentation muss also derart sein, dass ein Vergleich mit dem externen Objekt schnell erfolgen kann und die relevanten Eigenschaften dieses Objektes aufgreift. Darüber hinaus müssen die internen Transformationen den Transformationen entsprechen, die in der externen Welt möglich sind, damit der Wahrnehmende eine konstante Repräsentation seiner Umwelt leisten kann; hier spielen die Phänomene der Farbkonstanz und des Farbkontrasts eine entscheidende Rolle, die ja eben nicht direkt auf die Wellenlänge des Lichts, sondern auf die neuronale Kodierung im Auge bzw. im visuellen Cortex zurückzuführen sind. Diese Beziehungen machen es möglich, dass Objekte in der externen Welt ihre Identität trotz Transformationen ihres Erscheinungsbilds behalten (Höffdings Problem der Konstanzen 1891); aus evolutionärer Sicht erlauben diese Prozesse dem Organismus auf dynamische Veränderungen optimal zu reagieren. Wenn die interne Repräsentation der Farben ausschließlich räumlich wäre, d.h. analog, dann ließen sich weder die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Reaktionen auf Reize mit unterschiedlichen Farben noch die Phänomene der Farbkonstanz erklären. Dies und andere Effekte (z.B. die Konjunktionstäuschung zwischen Farben und Farbnamen, Virzi/ Egeth 1984) haben dazu geführt, dass Farbwahrnehmung als zentrales Beispiel für kategoriale Wahrnehmung anzusehen ist, und sie machen es daher notwendig, eine diskrete Form der internen Repräsentation anzunehmen. Sun (1983) und Zollinger (1984) vertreten dagegen die Auffassung, dass mentale Repräsentationen von Farben primär analoger Art seien, dies steht im Gegensatz zu den theoretischen und empirischen Befunden von Kay/ McDaniel (1978), Zimmer (1982) und insbesondere Kay/ Kempton (1984), die alle von einer hybriden Repräsentation ausgehen, die sowohl analogen wie auch diskreten Charakter hat. In seiner Arbeit von 1983 berechnet Sun die Distanzen zwischen fokalen Farben mit einer gewichteten euklidischen Distanz im Munsell-Farbkörper. Darauf basiert er sein Drei- Wellen-Modell der Evolution von Farbbegriffen, das auf folgenden Annahmen basiert: 1. Die Diskriminierbarkeit von Farben im gesamten Munsell-Farbkörper ist konstant, 2. lokale Einheiten der Diskriminierbarkeit können zu globalen Distanzen zusammengefasst werden, 3. diese Distanzen aufgrund von Unterscheidbarkeit entsprechen den Distanzen in der analogen mentalen Repräsentation 1: 1, und 4. diese Distanzen sind für alle Menschen mit uneingeschränkter Farbsichtigkeit gleich und unabhängig vom jeweiligen Farblexikon. Kognitionspsychologische Überlegungen zu „Türkis“ 381 Hinsichtlich dieser Annahmen gibt es gravierende theoretische und empirische Vorbehalte; so haben Shepard/ Romney/ Nerlove (1972) die Annahmen 1-3 anhand von empirischen Daten sorgfältig untersucht und ihre eingeschränkte Gültigkeit gezeigt. Die Annahme 4 ist von besonderem Interesse, weil sie die Grundlage dafür darstellt, die Distanzen im Munsell-Farbkörper als Standard für die Entwicklung von Farblexika zu nehmen. Kay/ Kempton (1984) haben in einer sorgfältigen ethnologischen Felduntersuchung gezeigt, dass die wahrgenommene Ähnlichkeit von Farben in der Blau/ Grün-Region systematisch durch die im jeweiligen Farblexikon vorhandenen basalen Farbkategorien der Beurteilenden beeinflusst wird. In ihren Experimenten verglichen sie jeweils drei Farbchips und forderten die Versuchspersonen auf, die jeweils Ähnlichsten herauszulegen. Ihre Versuchspersonen waren Indianer in Nordmexiko, die entweder Englisch oder Tarahumara sprachen. Tarahumara ist eine uto-aztekische Sprache mit nur einer verbalen Bezeichnung (siyoname) für Blau oder Grün. Insgesamt stellte sich heraus, dass die aufgrund des Farblexikons unterschiedlichen Farbkategorie-Grenzen zu einer Verzerrung der Unterscheidbarkeitsskala von Farben führen, wie man sie aufgrund der Wyszecky/ Stiles-Tabellen (1967, 250-500) berechnen kann. Dieses Ergebnis macht es notwendig, die Beziehung zwischen dem Repräsentationsformat der mentalen Repräsentationen und der sprachpragmatischen und linguistischen Randbedingungen genauer zu untersuchen. Kay/ McDaniel (1978), Zimmer (1982) und Kay/ Kempton (1984) machen lediglich Annahmen über die lokale Unterscheidbarkeit von Farben. Aus diesem Grunde ist es angemessen, die physikalische Skala der Wellenlängen, umgerechnet auf gleiche Unterscheidbarkeit als lokales Bezugssystem für die Verwendung spezifischer Farbbegriffe zu nutzen. Diese lokalen Bezugssysteme lassen sich dann zu höherdimensionalen Konfigurationssystemen i.S. von Penrose (1980) kombinieren. Solche formalen Mannigfaltigkeiten sind dann in der Lage, sowohl den analogen Charakter der Farbwahrnehmung (mit der lokalen Metrik der Diskriminierbarkeit) wie auch ihren kategorischen Charakter im Konfigurationsraum darzustellen. Ein solches Modell macht es dann auch verständlich, dass der postulierte kulturelle Relativismus in Diskriminations-Experimenten nicht gefunden werden kann, weil es hier eine enge Beziehung zwischen Unterscheidbarkeit und den vorliegenden physikalischen Variablen gibt. Auf der anderen Seite zeigen Aufgaben wie Farbvergleiche (Kay/ Kempton 1982), Farbgedächtnis (Brown/ Lenneberg 1984) und illusorische Konjunktionen bei der Bildung von Farbbegriffen (Virzi/ Egeth 1984), dass der Konfigurationsraum der Farben kognitiv penetrierbar i.S. von Pylyshyn (1984) ist und damit von Sprache beeinflusst werden kann. Die kognitive Penetrierbarkeit wird besonders deutlich, wenn primäre Farbbegriffe mit abgeleiteten Farbbegriffen verglichen werden. Speziell bei Türkis als einem abgeleiteten Farbbegriff, für den der Träger der Metapher (der Halbedelstein) dem Sprachnutzer vertraut ist, wird offen- Alf C. Zimmer 382 sichtlich, dass sich deutliche qualitative Unterschiede dieser Farbbegriffe im Vergleich zu den primären ergeben: 1. Die Bedeutung dieser Farbbegriffe ist deutlich enger als der primärer Farbbegriffe (s. Zimmer 1982). 2. Hinsichtlich Farbkonstanz zeigen sich deutlich schwächere Effekte als bei primären Farbbegriffen. 3. Die Reaktionszeiten für die Identifikation solcher Farbbegriffe sind deutlich länger als die für primäre Farbbegriffe. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass aufgrund der lokalen Diskriminierbarkeit im Munsell-Farbraum die Evolution von Farblexika nicht erklärt werden kann. Offenkundig spielen generellere kognitive Rahmenbedingungen bei der Interaktion von Farblexika und wahrgenommenen Farben eine entscheidende Rolle, die bei metaphorischen Farbbegriffen wie Türkis besonders deutlich werden. 3 Bibliographie Berlin, Brent/ Kay, Paul (1969): Basic Color Terms: Their Universality and Evolution. Berkeley/ Los Angeles. Brown, Roger/ Lenneberg, Eric H. 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In: Psychological Research 46/ 4, 403-409. 9 Wirtschaftswissenschaften Edgar Feichtner Nicht alles, was gefällt, wirkt! Zur Bewertung von Werbung aus betriebswirtschaftlicher Sicht 1 Problemstellung „Ich weiß genau, dass die Hälfte meiner Werbeausgaben zum Fenster hinausgeworfenes Geld ist, ich weiß nur nicht welche Hälfte.“ (John Wanamaker/ Henry Ford) Diese oft mit Schmunzeln zitierte ‚Weisheit’ thematisiert ein für den Werbungtreibenden sehr ernsthaftes Problem - die signifikante Ineffizienz von Werbekampagnen. Grundsätzlich kann diesem Problem auf zwei Arten begegnet werden: 1. entsprechend den Herren Wanamaker und Ford - mit Resignation oder 2. mit einer Analyse der möglichen Wirkungsfallen und der Ableitung entsprechender Planungsmodelle. Erschwerend bei der Konzeption eines Planungsmodells sind jedoch unterschiedliche Bewertungskriterien der Bezugsgruppen und ein daraus resultierender möglicher Zielkonflikt, welcher zuallererst aufgelöst werden muss. Bezugsgruppen zentrale Bewertungskriterien Agenturen, Kreative, Medien und entsprechende Verbände bzw. Institutionen Kreativität, Originalität, Qualität der Umsetzung Konsument Unterhaltung, Information Sprachwissenschaft sprachliche Umsetzung werbungtreibende Unternehmen bzw. Betriebswirtschaft Erreichen der psychographischen und ökonomischen Ziele 2 Zielsetzung und Vorgehensweise Im Folgenden (Kap. 3) soll zunächst das Spannungsfeld zwischen den Zielen der Werbungtreibenden und Bewertungskriterien der weiteren Bezugsgruppen aufgelöst werden. Im Rahmen von Kapitel 4 wird ein Modell zur systematischen Werbeplanung bzw. zur Werbekontrolle vorgestellt. Dabei werden diejenigen Kriterien beschrieben, welche als Rahmenbedingungen den Spielraum der Edgar Feichtner 388 Werbegestaltung festlegen bzw. begrenzen, und ausgewählte Parameter der Werbewirkung dargestellt. Abschließend wird die Werbe-Kampagne W ILTHENER Traubenlikör anhand der Wirkungsparameter bewertet. 3 Zielkonflikt und Zielhierarchie Kotler/ Bliemel (1999, 973) definieren die Werbung wie folgt: „Die Werbung ist eines der Instrumente der absatzfördernden Kommunikation. Durch Werbung versuchen die Unternehmen, ihre Zielkunden und andere Gruppen wirkungsvoll anzusprechen und zu beeinflussen. Zur Werbung gehört jede Art der nicht persönlichen Vorstellung und Förderung von Ideen, Waren oder Dienstleistungen eines eindeutig identifizierten Auftraggebers durch den Einsatz bezahlter Medien.“ Meffert (1998, 692) zitiert Schweiger/ Schrattenecker (1995): „Ein kommunikativer Beeinflussungsprozess mit Hilfe von (Massen-) Kommunikationsmitteln in verschiedenen Medien, der das Ziel hat, beim Adressaten marktrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen im Sinne der Unternehmensziele zu verändern.“ Daraus folgt, dass die zur Werbe-Investition führende Motivation die Erreichung der Ziele der Werbungtreibenden (Unternehmen, Interessensgruppen, Organisationen etc.) ist und somit Parameter wie Kreativität, Unterhaltung, sprachliche Umsetzung lediglich Mittel zur Zielerreichung sind. Natürlich können Originalität, Kreativität, Unterhaltungswert und sprachliche Qualität die Wirkung von Werbemitteln bzw. -kampagnen verstärken. Allerdings sind diese Parameter nur insofern als gelungen zu bewerten, inwieweit sie die Zielerreichung fördern. 4 Planungsmodell Wer vermutet, Werbekonzeption bedeutet einen kreativen Geistesblitz aus dem Nichts umzusetzen - welcher isoliert betrachtet durchaus genial sein kann - liegt falsch. Analog dazu würde nur ein schlechter Architekt ein Haus planen, ohne dass er das Grundstück kennt, und würde zugunsten des Designs sämtliche Gesetze der Statik und Bauphysik ignorieren. Werbekonzeption bedeutet eine systematische prozessorientierte Vorgehensweise, ein Prozess, welcher sich innerhalb gegebener Rahmenbedingungen bewegt und bewährte bzw. nachgewiesene Wirkungsparameter berücksichtigt. Nicht alles, was gefällt, wirkt! 389 4.1 Rahmenbedingungen der Botschaftsgestaltung Wie oben bereits angesprochen, müssen sich die Parameter der Botschaftsgestaltung (Text, Bild, Musik etc.) innerhalb des konzeptionellen Rahmens bewegen. Dabei sind folgende begrenzende Kriterien zu berücksichtigen: - Unternehmen - Unternehmensumfeld - Wettbewerber - Unternehmens- und Marketingziele - Strategische Unternehmensbzw. Produktposition - Produktnutzen und Nutzenbegründung - Werbeziel - Zielgruppe Vorstellen kann man sich das Modell als einen zunächst unbeschränkten Aktionsraum, welcher durch die oben genannten Parameter auf einen zulässigen Restbereich reduziert wird. Dieser Bereich stellt dann den ‚Spielraum’ für die Kreativen (Graphiker, Texter, Regisseure, Produzenten etc.) dar, der durchaus ausgefüllt werden kann; jedoch dürfen Grenzen nicht überschritten werden. 4.1.1 Unternehmen Bleiben wir bei unserem Reduktionsmodell, wird der Aktionsraum zunächst durch unternehmensbezogene Parameter reduziert. Diese sind beispielsweise das Unternehmensleitbild (z.B. Umgang mit religiösen Werten/ Symbolen) und Kommunikationskonstanten (z.B. Logo, Unternehmensfarben, Formensprache). Coca Cola 1 Logo, Farbe und Formsprache streng definiert. 1 Coca Cola-Abbildung abrufbar unter http: / / www.coca-cola-gmbh.de/ marken/ cc.html (Zugriff am 02.01.2007). Edgar Feichtner 390 4.1.2 Unternehmensumfeld Weiter müssen Entwicklungen im Unternehmensbzw. Marktumfeld berücksichtigt werden. Die Verarbeitung negativ besetzter Themen kann sich nachteilig auf den Werbeerfolg auswirken, andererseits können positiv besetzte Themen den Werbeerfolg steigern. Senoussi 2 Absatzprobleme während der ersten Ölkrise 1973 aufgrund der Werbemotive. 4.1.3 Wettbewerber Eine weitere Einschränkung erfährt unser Aktionsraum durch den Auftritt bzw. die Position der relevanten Wettbewerber. Zur Vermeidung der Austauschbarkeit (Ausnahme: die sog. Me too- Strategien) sind die Kommunikationskonstanten (Farben, Formensprache etc.) sowie die kommunikative Position der Wettbewerber zu berücksichtigen. 2 Senoussi-Abbildung abrufbar unter http: / / www.emaillereklameborden.net/ frits/ emaille/ Emaille2Pagina/ tn-Senoussi.jpg (Zugriff am 02.01.2007). Nicht alles, was gefällt, wirkt! 391 Hasseröder 3 ... austauschbare Erlebniswelten Holsten 4 4.1.4 Unternehmens- und Marketingziele Werbeziele müssen die Ziele höherer Entscheidungsebenen (Unternehmens- und Marketingziele) fördern. Nicht zielführend sind beispielsweise Kampagnen, welche zu einer hohen Markenbekanntheit führen, jedoch aufgrund von Imageschädigung dem Abverkauf der beworbenen Produkte hinderlich sind. Benetton 5 ... hohe Markenbekanntheit aufgrund von umfangreicher Medienberichterstattung. Boykottierung der Benetton-Läden/ Produkte. 4.1.5 Strategische Unternehmensbzw. Produktposition Werbung ist ein Instrument der Kommunikationspolitik bzw. des Marketing-Mix (Produkt, Preis, Distribution und Kommunikation) und hat die 3 Hasseröder-Abbildung abrufbar unter http: / / www.hasseroeder-shop.de/ index.php (Zugriff am 02.01.2007). 4 Holsten-Abbildung abrufbar unter http: / / www.holsten-pilsener.de/ downloads/ media/ auf_samstag_15_30.jpg (Zugriff am 02.01.2007). 5 Benetton-Abbildung abrufbar unter http: / / www.korfftext.de/ der_streit/ benetton.html (Zugriff am 02.01.2007). Edgar Feichtner 392 Aufgabe, die strategische Position bzw. die Marketingstrategie zusammen mit den anderen Marketing-Mix-Instrumenten umzusetzen. Basis jeglicher Werbeplanung ist die strategische Position der Marke bzw. des Produktes. Audi 6 ... Vorsprung durch Technik. Wer war der Zweite auf dem Mond? 4.1.6 Produktnutzen und Nutzenbegründung Der zentrale Produktnutzen (faktisch = USP oder werblich/ emotional = UAP) muss Fokus der Werbegestaltung sein. Ausnahmen sind dabei auf die Aktualität des Markenzeichens reduzierte Kampagnen wie z.B. Bandenwerbung. Dr. BEST Dreikopf 7 ... die neue Dr. BEST Dreikopf ist die einzige Zahnbürste mit dem frei beweglichen, 3-geteilten Bürstenkopf. Marlboro 8 ... Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer. 6 Audi-Abbildung abrufbar unter http: / / www.audi.de/ etc/ medialib/ cms4imp/ audi2/ reports.Par.0020.File.pdf (Zugriff am 20.01. 2007). 7 Dr. BEST Dreikopf-Abbildung abrufbar unter http: / / www.dr-best.de/ dreikopf.jsp (Zugriff am 02.01.2007). 8 Marlboro-Abbildung abrufbar unter http: / / www.medienkultur.org/ sm1/ tdm/ bvm/ marlboro.htm (Zugriff am 02.01.2007). Nicht alles, was gefällt, wirkt! 393 4.1.7 Werbeziele Werbeziele sind grundlegend für die Gestaltung der Werbebotschaft und ebenso ein Maß für die Bewertung der Werbemittel-Qualität. Im Rahmen eines Werbemittels (Anzeige, Plakat, Spot, etc.) kann eine oder können mehrere Wirkungsebene/ n berücksichtigt werden. Vielfach werden Kampagnen auf unterschiedliche Medien aufgeteilt (z.B. Image im Rahmen eines TV-Spots und Information im Rahmen einer Zeitungs-Anzeige). Wirkungsebenen Werbeziele kognitive Ebene Beachtung/ Bekanntheit/ Information affektive Ebene Interesse/ Einstellung/ Image/ Präferenz/ Bedürfnis konative Ebene Informationssuche/ Kaufabsicht/ Testen Krombacher 9 ... Bekanntheit und Image ALDI 10 ... Information 4.1.8 Zielgruppe Die Zielgruppenbeschreibung wird aus der strategischen Marketingplanung übernommen und ist Grundlage für die Botschaftsgestaltung. Konkret bedeutet dies, dass Inhalte (Texte, Bilder, Humor etc.) und Tonalität der Werbemittel die Erlebniswelten der Zielgruppen berücksichtigen müssen. Hierbei eignen sich insbesondere psychographische Beschreibungskriterien wie z.B. Lebensstile bzw. Milieus. 9 Krombach-Abbildung abrufbar unter http: / / www.aerophoto.de/ krombacher.htm (Zugriff am 02.01.2007). 10 ALDI-Abbildung abrufbar unter http: / / www.aldi-essen.de/ (Zugriff am 02.01.2007). Edgar Feichtner 394 SIGMA Milieus 11 ... Traditionelles Arbeitermilieu (4,9% - 3,4 Mio.) SIGMA Milieus 12 ... Hedonistisches Milieu (9,9% - 6,8 Mio.) 4.2 Botschaftsgestaltung Es soll an dieser Stelle nicht zum wiederholten Male die Diskussion um die Tauglichkeit der Stufenmodelle der Werbewirkung geführt werden. Dem Autor ist durchaus klar, dass die AIDA-Formel bereits vor über 100 Jahren von E. Lewis als Anleitung für Verkaufsgespräche entwickelt wurde und auch eine strenge hierarchische Abfolge der Wirkungsstufen anderer Modelle nicht generell unterstellt werden kann. Andererseits ist es plausibel, dass Werbung nur dann i.S. der Definitionen (vgl. Kap. 3) beeinflussen kann, wenn: 11 SIGMA Milieu-Abbildung 1 abrufbar unter http: / / www.sigma-online.com/ de/ SIGMA_Milieus/ SIGMA_Milieus_in_Germany/ Traditionelles_Arbeitermilieu/ # (Zugriff am 02.01.2007). 12 SIGMA Milieus-Abbildung 2 abrufbar unter http: / / www.sigma-online.com/ de/ SIGMA_Milieus/ SIGMA_Milieus_in_Germany/ Hedonistisches_Milieu/ # (Zugriff am 02.01.2007). Nicht alles, was gefällt, wirkt! 395 a. das Werbemittel wahrgenommen, b. die eigentliche Werbebotschaft aufgenommen bzw. verstanden, c. die Zielgruppe beeinflusst und d. ggf. eine Reaktion ausgelöst werden kann. Im Folgenden werden Wirkungselemente vorgestellt, welche bei der Werbeplanung berücksichtigt werden müssen. Wirkungselemente Beachtung des Werbemittels Hat das Werbemittel die Voraussetzungen, im (werblichen) Umfeld wahrgenommen zu werden? Zielerreichung durch ... • Motive • Format • Farben etc. Verstehen der Werbebotschaft Wird bzw. kann der Rezipient zur eigentlichen Werbeaussage vordringen und diese lernen? Zielerreichung durch ... • thematische Verbindung von Eyecatcher und Werbeobjekt • Verständlichkeit der Werbeaussage • Leserlichkeit der Werbetexte • Ausreichende Qualität von Bild und Ton Entstehen von Bedürfnissen, Präferenzen und Kaufabsichten Ist das Werbemittel in der Lage Bedürfnisse, Präferenzen und Kaufabsichten zu erzeugen? Zielerreichung durch ... • emotionale Werbeinhalte • Darstellung des Kundennutzens. Unterstützung zur Rückmeldung Unterstützt das Werbemittel die Rückmeldung durch den potentiellen Kunden (Information, Besuch eines Fachgeschäftes etc.)? Zielerreichung durch ... • Adresse, Telefonnummer, Internet • Routenplan zur nächstgelegenen Filiale • Antwortfax, -brief • Gewinnspielcoupon 5 Beispiel Die Umsetzung der Wirkungsparameter soll am Beispiel W ILTHENER Traubenlikör dargestellt werden. Im Rahmen der Kampagne wurden Großflächenplakate und Radiospots eingesetzt. Edgar Feichtner 396 Großfläche 13 Schaltzeit: August bis Dezember 2001 Radiospot 14 Schaltzeit: Oktober und November 2001 Text Sprecherin: Sprecher 1: Sprecherin: Sprecher 1: Sprecherin: Sprecher 1: Sprecherin: Sprecher 2: Geräusche/ Musik Er nahm sie in die Arme und bedeckte sie mit seinen Küssen. Wellen der Erregung durchzuckten ihren zarten Körper. Die Glut steigerte sich auf ihren Lippen. Dann biss sie auf die Traube und der süße Schmelz ergoss sich wie… Entschuldigung, möchten Sie noch was trinken? Oh ja, noch ein’ Wilthener Traubenlikör bitte. Ein Wilthener Traubenlikör. Ein Wilthener Traubenlikör. Ein Wilthener Traubenlikör? Mhm. Ein Wilthener Traubenlikör. Der Neue von Wilthener. Einfach traubenhaft. Schritte, Klavierspiel im Hintergrund; endet, bevor Sprecher 2 einsetzt. Stimmengewirr 5.1 Großfläche Wirkungselemente Beachtung des Werbemittels • Aufgrund des zentralen Motives (Paar), der Farbe (Goldton) und der Großfläche hat das Werbemittel gute Voraussetzungen, im (werblichen) Umfeld wahrgenommen zu werden. • Der Baum im Hintergrund des Paares reduziert allerdings die Prägnanz der Szene. Verstehen der Werbebotschaft • Zielsetzung = die Konditionierung von ‚Sinnlichkeit’ mit dem Produkt. 13 Wilthener Großflächen-Abbildung abrufbar unter http: / / www.adquarter.de/ content. html (Zugriff am 16.01.2007). 14 Radiospot abrufbar unter http: / / www.adquarter.de/ content.html (Zugriff am 16.01. 2007). Nicht alles, was gefällt, wirkt! 397 • Motiv und Tonalität des Werbemittels kann Sinnlichkeit vermitteln. Der Produktname ist groß und gut leserlich dargestellt. Dadurch sind Voraussetzungen für eine Konditionierung gegeben. • Der Versuch, die physische Präsentation des Produktes thematisch mit der Szene zu verbinden (Plakat im Plakat in Verbindung mit dem Spruch „Nun küss ihn doch endlich“) ... stört die sinnliche/ romantische Szene ... ist schwer zu verstehen (sagt das die Flasche? ) Entstehen von Bedürfnissen, Präferenzen und Kaufabsichten • Aufgrund der Austauschbarkeit des Produktes bzw. (vermutlich) nicht vorhandener differenzierender Produkteigenschaften (Qualität) ist die Kommunikation des Produktnutzens auf die emotionale Ebene (Erlebnisebene) begrenzt. • Die Voraussetzungen dafür sind gegeben (vgl. dazu die Ausführungen oben). Unterstützung zur Rückmeldung • Keine Unterstützung der Rückmeldung durch den potentiellen Kunden, insbesondere fehlt die Information, wo der Likör zu kaufen ist (evtl. eine Internetadresse etc.). 5.2 Radiospot Wirkungselemente Beachtung des Werbemittels • Aufgrund von Stimme und Text (Reizwörter: Küsse, Erregung, Glut etc.) des zentralen Motives (Paar), hat das Werbemittel gute Voraussetzungen, im (werblichen) Umfeld wahrgenommen zu werden. Verstehen der Werbebotschaft • Zielsetzung = die Konditionierung von ‚Sinnlichkeit’ mit dem Produkt. • Tonalität der Sprecherin kann Sinnlichkeit vermitteln. • Eine Frau sitzt in einer Bar und liest einen Roman? Sie wird dann vom Kellner unterbrochen und nach einer neuen Bestellung gefragt. • Die Verbindung der ‚Lesepassage’ mit der Bestellung bzw. mit dem Produkt bzw. die Konditionierung funktioniert dabei nur bedingt. • Spätestens nach der zweiten Wiederholung der Bestellung bricht die Sinnlichkeit der Szene drastisch ein. • (Wiederholungen des Markennamens sind gerade bei Produkteinführungen sinnvoll, in diesem Spot aber denkbar schlecht umgesetzt.) Edgar Feichtner 398 Entstehen von Bedürfnissen, Präferenzen und Kaufabsichten • Auch hier ist aufgrund der Austauschbarkeit des Produktes die Kommunikation des Produktnutzens auf die emotionale Ebene (Erlebnisebene) begrenzt. • Die Voraussetzungen dafür sind nur bedingt gegeben (vgl. dazu die Ausführungen oben). • Abspann: „... einfach traubenhaft“ trifft nicht die gewollte sinnlich erotische Stimmung. Unterstützung zur Rückmeldung • Keine Unterstützung der Rückmeldung durch den potentiellen Kunden, insbesondere fehlt die Information, wo der Likör zu kaufen ist und evtl. Internetadresse zum Radiospot etc. 5.2 Integrierte Kampagne (Großfläche und Radiospot) Laut Schaltplan wurde zunächst die Großfläche geschaltet (ab August), später wurden die Radiospots (ab Oktober) gesendet. Großfläche Radiospot Bilder • Paar umarmt sich am Ufer eines Sees. • Ein Plakat bzw. eine Flasche fordert sie auf sich zu küssen! ? • Frau sitzt in einer Bar und liest einen Roman, wird von einem Kellner unterbrochen und bestellt noch einen Traubenlikör. Mit sehr viel Phantasie und nach intensivem Nachdenken könnte man sich den Spot als Fortführung der Plakatszene vorstellen. Das Plakat beschreibt das Bild der (vorausgegangenen) Romanpassage. Aber wie kommt die Frau plötzlich zu den Trauben? Wirkungsvoller wäre eine konsequente Abstimmung der beiden Werbemittel gewesen. Zum Beispiel hätte die Kampagne mit einem Radiospot beginnen können, welcher die ‚ganze’ Geschichte erzählt. Zeitlich verzögert hätte die Größfläche dann als Reminder mit einer Schlüsselszene die Geschichte in den Köpfen der Betrachter aktualisieren können. 6 Bibliographie 6.1 Literatur Kotler, Philip/ Bliemel, Friedhelm (1999): Marketing-Management. Analyse, Planung, Umsetzung und Steuerung. 9., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart. Meffert, Heribert (1998): Marketing. Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung. 8., vollst. neubearb. u. erw. Aufl. Wiesbaden. 6.2 Abbildungen ALDI-Abb. abrufbar unter http: / / www.aldi-essen.de/ (Zugriff am 02.01.2007). Nicht alles, was gefällt, wirkt! 399 Audi-Abb. abrufbar unter http: / / www.audi.de/ etc/ medialib/ cms4imp/ audi2/ reports.Par.0020.File.pdf (Zugriff am 02.01.2007). Benetton-Abb. abrufbar unter http: / / www.korfftext.de/ der_streit/ benetton.html (Zugriff am 02.01.2007). 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SIGMA Milieu-Abb. 1 abrufbar unter http: / / www.sigma-online.com/ de/ SIGMA_ Milieus/ SIGMA_Milieus_in_Germany/ Traditionelles_Arbeitermilieu/ # (Zugriff am 02.01.2007). SIGMA Milieus-Abb. 2 abrufbar unter http: / / www.sigma-online.com/ de/ SIGMA_ Milieus/ SIGMA_Milieus_in_Germany/ Hedonistisches_Milieu/ # (Zugriff am 02.01.2007). Wilthener Großflächen-Abb. abrufbar unter http: / / www.adquarter.de/ content.html (Zugriff am 16.01.2007). Sandra Reimann Ist Traubenlikör eROTisch? Zur Bewertung von Werbung aus sprachwissenschaftlicher Sicht 1 Werbekritik - nicht nur eine Frage der Wissenschaft „Dieser Hörfunkspot ist furchtbar schlecht, ich such mir einen neuen Sender, wenn er wieder läuft.“ Diese Äußerung ist zwar konstruiert, entspricht aber in etwa der möglichen Kritik von Radiohörern und ist weder für die Werbepraxis noch für die wissenschaftliche Bewertung überflüssig, da die Gestaltung der Werbung mit deren Zweckorientiertheit einhergeht. Aus Sicht der Wissenschaft müssen Gründe für die Beurteilung genannt werden. 1 Die Bewertung von Werbung ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: Die Produktionsseite - d.h. die werbetreibenden Unternehmen und die Werbeagenturen - setzt Tests (Pre- und Posttests) zur Werbewirkung ein, verschiedene Medien (Rundfunkanstalten, Werbezeitschriften, wie „Horizont“ und „werben & verkaufen“) wählen in Kreativ-Wettbewerben die am besten wirkenden Spots aus oder besprechen (neue) Kampagnen 2 und eine Institution wie der Art Directors Club für Deutschland (ADC) e.V. 3 zeichnet jährlich die kreativsten und innovativsten Werbeideen aus. Sogar Frauenzeitschriften, wie B ILD DER F RAU (29.05.2006, Nr. 22, 5: „Unser liebster Bär“ ), berichten über Beurteilungen von Werbung, z.B. in einer Internet-Umfrage des Deutschen Werbemuseums 4 in Frankfurt zur beliebtesten Werbefigur Deutschlands (es wurde der Bärenmarke-Bär). Eine Bewertung wird auch durch die Gesetzgebung vorgenommen im Rahmen des seit 1909 bestehenden Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, genauer gegen den Verstoß der „guten Sitten“ (Heinemann 1996, 322, Hervorhebung im Original). Über sie wacht seit 1972 der vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft 1 Vgl. Janich (2005, 229ff.) zu fehlender Forschungsliteratur im Hinblick auf Sprachkritik der Werbung. 2 Vgl. auch die zehn Bewertungskriterien der ARD-Werbung SALES & SERVICES GmbH für Radiowerbung. Im Hinblick auf die „Beste Nutzung von Text“ beispielsweise werden folgende Details überprüft: „1. Liebevoll getextet 2. Lebendige, involvierende Sprache 3. Gut verständlich, zielgruppengerecht“. Abrufbar unter http: / / www.radiostars.de/ bewertung (Zugriff am 30.06.2006). 3 „Das Ziel des ADC ist, die kreative Leistung in Deutschland zu verbessern und somit neue Maßstäbe zu setzen.“ Abrufbar unter http: / / www.adc.de (Zugriff am 01.07.2006). 4 Das Deutsche Werbemuseum e.V. gab 27 Werbefiguren mit jeweils einer kurzen Beschreibung vor, aus denen ausgewählt werden konnte. Abrufbar unter http: / / www. werbemuseum.de (Zugriff am 10.04.2006). Sandra Reimann 402 gegründete „Deutsche Werberat“. Er erstellt auch „Verhaltensregeln für die werbetreibende Wirtschaft, […]. Es soll zum Beispiel (frauen-)diskriminierende und jugendgefährdende Werbung vermieden werden“ (Heinemann 1996, 322). 5 Aus wissenschaftlicher Sicht beschäftigen sich vor allem die Wirtschafts- und die Kommunikationswissenschaften, die Psychologie und die Soziologie mit der Markt- und Wirkungsforschung - allerdings bisher mit unzureichenden Ergebnissen. 6 Im Hinblick auf die Literatur ist zwischen Werbe(text)ratgebern, die Tipps zur Gestaltung und den sprachwissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern Einblick in den Produktionsprozess geben, 7 und wissenschaftlichen Forschungen zu unterscheiden. Bewertungskriterien werden also stets im Hinblick auf das jeweilige Ziel aufgestellt: Das ist vor allem die Wirkung beim potentiellen Kunden oder Kreativität und Originalität. 2 Die Bewertung von Werbung als sprachwissenschaftliches Forschungsdesiderat Die Sprachwissenschaft beschäftigt sich seit den 1950er Jahren mit Werbung, insbesondere der Werbesprache. Jedoch geschah dies bisher fast ausschließlich in deskriptiver Weise, d.h., verschiedene vorkommende Phänomene (Textbausteine, Produktname, Lexik, Syntax, Phraseologie usw.) werden beschrieben und bestenfalls noch interpretiert - z.B. bei diachronen Arbeiten im Hinblick auf die zeitgeschichtliche Verankerung. Die normative Vorgehensweise, also die Bewertung und möglicherweise die Verbesserung von (sprachlichen) Gegebenheiten, steckt im Hinblick auf Werbung noch gänzlich in den Kinderschuhen. 8 Dabei braucht sich die Sprachwissenschaft nicht 5 Als Beispiele werden die provokant erscheinenden und von den Produzenten mit dem Anspruch auf Kunst, den Ausdruck kultureller Anliegen oder gesellschaftlich-sozialer Probleme kreierten Werbekampagnen (1990er Jahre) von Otto Kern u.a. mit der intertextuellen Anspielung auf das Abendmahl von Leonardo da Vinci - Protagonisten in der Werbung sind halbnackte Models in Jeans - und von Benetton mit bereits in der Presse veröffentlichten Reportagefotos, die das übliche „Heile-Welt-Bild“ der Werbung konterkarieren, genannt. Der Effekt öffentlicher Rügen ist jedoch auch die Bekanntmachung der Werbung (Heinemann 1996, 323f.). 6 „Wie Werbewirkungen genau zustande kommen, ist kaum ausreichend geklärt - der Stand der Werbewirkungsforschung wird als unzureichend und realitätsfern bezeichnet (Mayer/ Illmann 2000: 673ff.). Trotz ihrer Vielfalt und Anwendungshäufigkeit in der Praxis sind Werbewirkungstests kaum ein qualifiziertes Entscheidungsinstrument. Konsens besteht darüber, dass Werbewirkung ein multifaktorieller Prozess ist, der immer in eine konkrete Situation mit zahlreichen Störgrößen wie z.B. Werbeablehnung (Reaktanz) oder Immunität gegenüber Werbung eingebettet ist.“ (Stöckl 2004, 243f.). 7 Beispiele sind Schönert (1982) und aktuelle Werke, wie Reins (2006, zur Sprache) sowie Pricken 2007, zu Strategien) und Stoklossa (2007, zu visueller Kommunikation). 8 Vgl. Hagl/ Lüthy-Schnabel/ Reimann (im Druck) zur defizitären Forschungslage. Erste Ergebnisse finden sich in Reimann (im Druck 1) zur Bewertung der Umsetzung von Werbestrategien in mehrmedialen Kampagnen. Ist Traubenlikör eROTisch? 403 auf die Untersuchung von Sprache zu beschränken, da diese nur künstlich aus dem Werbemittel herausgetrennt werden kann, was die Ergebnisse verfälschen könnte; außerdem ist eine Reduzierung auf sprachliche Erscheinungen nicht nötig, wenn man beispielsweise semiotisch vorgeht. Die Bewertung von historischer Werbung ist erst ein zweiter Schritt, der auch die Berücksichtigung der jeweiligen zeitlichen Umstände (gesellschaftlicher Kontext, technische Entwicklungen, Umfeld der einzelnen Werbekonzeption) erfordert, die wir heute teilweise nicht mehr lückenlos nachvollziehen können (vgl. z.B. Schmidt/ Spieß 1997). Bei der Bewertung historischer Werbung, wie sie beispielsweise mit dem Historischen Werbefunkarchiv der Universität Regensburg (HWA) mit Spots von 1948-1987 vorliegt, müssten z.B. auch technische Möglichkeiten und Gestaltungstrends berücksichtigt werden. In diesem Beitrag soll jedoch zunächst ein Kriterienkatalog für die Untersuchung aktueller Werbung aufgestellt werden. Es ist an dieser Stelle deutlich zu machen, dass sich die (sprachwissenschaftliche) Bewertung auf die Gestaltung von Werbung vor dem Hintergrund des Werbeziels bezieht und nicht auf die Existenz von Werbung an sich, was auch Manipulationsvorwürfe, wie sie vor allem in den 50er/ 60er Jahren vorherrschten (vgl. z.B. Greule 2006, 53), und die Darstellung bestimmter Werte, Klischees und Stereotypen einschließt (Janich 2005, 231f.; vgl. auch Kollmann 1994). 3 Die Kampagne Wilthener Traubenlikör - ein interdisziplinäres Experiment Die Notwendigkeit der fächerübergreifenden Zusammenarbeit bei der Beurteilung von Werbung liegt auf der Hand, besonders offensichtlich ist sie im Hinblick auf wirtschaftswissenschaftliches Instrumentarium, wenn es also um die beabsichtigten Wirkungsschritte und die Rahmenbedingungen der Werbekommunikation geht (vgl. den Beitrag von Edgar Feichtner in diesem Band). 9 Die Wirtschaftswissenschaften - heute vor allem die Betriebswirtschaft/ das Marketing - forschen über Werbung schon seit den 1920er Jahren: „Sie fokussiert auf die Rolle der Werbung in der unternehmerischen Kommunikationspolitik innerhalb des Marketing-Mix. […] Das Marketing hat auch frühzeitig den Stellenwert der Werbung als Marktkommunikation beim Wandel von der ‘Mangel-’ zur ‘Überflussgesellschaft’ bzw. vom Verkäuferzum Käufermarkt erkannt und in der Phase der Marketingorientierung (1970er Jahre) die Arbeiten zur Werbung forciert. Kennzeichnend für viele dieser frühen Arbeiten ist, dass sie - obwohl betriebswirtschaftlich initiiert - Werbung als Phänomen begreifen, das nur interdisziplinär untersucht werden kann.“ (Siegert/ Brecheis 2005, 17f.) 9 Die AIDA-Formel ist das bekannteste Modell für Aufbau, Gestaltung und Wirkung von Werbung. Mittlerweile gibt es weitere (vgl. Kugler 1998, 65). Sandra Reimann 404 Anhand der Werbekampagne für Wilthener Traubenlikör, 10 die aus dem Plakat „Kuss“ und dem Hörfunkspot (folgend auch HF-Spot) „Buch der Leidenschaft“ (siehe Anhang) besteht, werden nun exemplarisch aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Bewertung von Werbung sowie ansatzweise eine Optimierung skizziert. Das Korpus stimmt mit dem von Edgar Feichtner (in diesem Band) überein. Er beurteilt Plakat und Hörfunkspot aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Der Leser kann nun eine direkte Gegenüberstellung der Disziplinen vornehmen, die sich auf diese Fragen bezieht: Inwieweit überschneiden oder unterscheiden sich die sprach- und die wirtschaftswissenschaftlichen Kriterien hinsichtlich einer Bewertung und wo wäre gegenseitige theoriegestützte Hilfestellung nötig zur Beantwortung entstehender Fragen? Kommen die beiden Disziplinen auf ähnliche oder tendenziell verschiedene Resultate? 4 Zielsetzung und Kriteriologie Folgende Überlegungen gehen einer sprachwissenschaftlichen Bewertung voraus: 1. Welches Ziel wird aus sprachwissenschaftlicher Sicht verfolgt? 2. Welche Kriterien sollen einer solchen Untersuchung zugrunde liegen? Ziel der Analyse sind die Bewertung hinsichtlich einer zweckorientierten Darstellung und gegebenenfalls eine ansatzweise Verbesserung der negativ kritisierten Aspekte. Die Appellfunktion und persuasive Absicht der Textsorte „Werbemittel“ ist nicht nur für die Werbekonzeption und die Marktforschung ausschlaggebend, sondern muss auch der sprachwissenschaftlichen Analyse und den auszuwählenden Kriterien zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang ist das Wissen um die Zielgruppe (Alter, Bildung, soziales Umfeld) von Bedeutung, welches - zumindest für aktuelle Werbung - werbetreibende Unternehmen oder Werbeagenturen weitergeben können. Zu fragen ist, ob sich die Zielgruppe in der Werbung, zum Beispiel in der Lexik, wiederfindet und angesprochen fühlt. Untersucht man eine Kampagne mit mehreren Werbemitteln, sollte die kritische Beleuchtung des Medienzusammenspiels im Hinblick auf die Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen medialen Möglichkeiten (Medienspezifika) - z.B. prosodische Phänomene und chronologische Abläufe im Radio, Text-Bild-Bezug in der Printwerbung - sowie die Verdeutlichung der Zugehörigkeit der beteiligten Werbemittel zu einer Kampagne die übergreifende Frage sein. Hierher gehört auch der so genannte „Visual-transfer-Effekt“ (Behrens 1996, 191f.; Gleich 2003, 514; Drabczynski 1998, 53f.). Wird nur ein einzelnes Werbemittel untersucht, ist auch auf die medienbezogenen Eigenschaften zu achten 10 Nach Auskunft der Werbeagentur ad.quarter (Hamburg) wurde die Kampagne 2001 geschaltet, wobei die Plakate ab August für 4-5 Monate, der Hörfunkspot im Oktober und November 2001 im Einsatz waren. Ist Traubenlikör eROTisch? 405 (z.B. Rezeptionssituation: Ort und Zeit der Nutzung, Berücksichtigung der Funktion von Medium und Werbemittel, beabsichtigte Reichweite, eingesetztes Budget). Diachron auf ein Produkt bezogen ist zu untersuchen, ob die Werbung über Jahre Kontinuität, Innovation oder gar Brüche aufweist (Markenkommunikation). Auch innerhalb eines Werbemittels ist nach der Stimmigkeit der eingesetzten Darstellungsmittel zu fragen. Schließlich ist zu überlegen, ob die (sprachliche) Gestaltung zum Produkt passt (Produktspezifika). Hier ist besonders zwischen teuren Gütern, also solchen mit hohem Kaufrisiko und entsprechend größerem Erklärungsbedarf, und günstiger Alltagsware zu unterscheiden (Drabczynski 1998, 52f.). Außerdem gehört hierher die (ersatzweise) Darstellung von Produkteigenschaften, wie etwa des Geschmacks. Eine große Rolle spielt der Einsatz des Markenbzw. Produktnamens (wie und wie oft, medienspezifische Umsetzung), da er - übrigens in der Printwerbung bisweilen sogar als einziges sprachliches Element - die Identifikation des beworbenen Produkts und die Unterscheidung von vergleichbaren Konkurrenzmarken gewährleisten soll. 11 Ein Hauptbetätigungsfeld der sprachwissenschaftlichen Analyse wird im Dienste der Verständlichkeit stehen. Zu untersuchen ist der Umgang mit Wortschatz und Themen (Lexik, Textgrammatik), mit der syntaktischen Gestaltung (z.B. Seyfarth 1995, 206ff.) und der paraverbalen Ebene (z.B. Sprechtempo, klare Aussprache). Als wichtige rhetorische Figur ist in dem Zusammenhang die Wiederholung, vor allem von Wörtern, zu nennen (Geminatio). Auch dramaturgisch-strukturelle Gegebenheiten, z.B. der Wechsel von Schauplätzen und der produktionstechnische Einsatz von Schnitten (Drabczynski 1995, 85), sind zu berücksichtigen. Folgend sind die Untersuchungskriterien hinsichtlich einer Bewertung im Überblick aufgelistet: Zusammenspiel der Werbemittel einer Kampagne (Inhalt/ Strategie, Struktur, Form/ Gestaltung) Medienspezifika Produktspezifika Verständlichkeit Marken-/ Produktname Zielgruppenansprache Erfüllung des Werbeziels 5 Deskriptive Analyse - eine Voraussetzung zur Bewertung Der Bewertung geht die Analyse der Werbemittel mit den der Fragestellung entsprechenden Kriterien voran (Häusermann 1998, 65). 12 Da es sich beim 11 Zur Umsetzung von Marken- und Produktnamen vgl. Reimann (im Druck 2). 12 Zur Verständlichkeit und zum Verstehen von Radio- und Fernsehsendungen vgl. Burger (2005). Hier können durchaus Parallelen zur Werbung gezogen werden. Vgl. zur Verständlichkeit von Texten auch Behrens (1996, 76ff.). Sandra Reimann 406 vorliegenden Korpus um eine mehrmediale Kampagne handelt, sollte der Aspekt der (gegenseitigen) Bezugnahme und der Präsentation der Zusammengehörigkeit von Plakat und Hörfunkspot im Vordergrund stehen. 5.1 Inhaltliche Argumentation 13 Im Mittelpunkt der Kampagne stehen die zusammenhängenden Zusatznutzen „Sinnlichkeit/ Leidenschaft“ und „Genuss“, die sich zunächst auf ein Liebespaar, dann aber auch auf den Likör beziehen und diesen aufwerten, was im Hörfunkspot in der Schlussäußerung Der Neue von Wilthener / Einfach traubenhaft gipfelt. Die Quintessenz der Kampagne lautet: Wer Wilthener Traubenlikör trinkt, darf sich auf ein erfülltes Liebesleben freuen. Die Motivik wird jedoch in den beiden Werbemitteln unterschiedlich umgesetzt. Zwar ist stets von einem Paar die Rede - im Hörfunkspot im Rahmen des Buchausschnitts, auf dem Plakat mit den in enger Pose stehenden, sich festhaltenden beiden jungen Menschen -, die Handlung ist allerdings unterschiedlich: Während im Hörfunkspot der Mann den aktiven Part übernimmt (Er nahm sie in die Arme und bedeckte sie mit seinen Küssen), ist es auf dem Plakat die Frau, die ihren Partner fest umgreift und erwartungsvollherausfordernd ansieht. Man könnte die Haltung der beiden als Vorstufe zum Vollzug des Küssens betrachten, wie dies im Spot thematisiert wird. Anzumerken ist noch, dass das Paar auf dem Plakat trotz der scheinbar beabsichtigten Handlung statisch wirkt, während der vorgetragene Buchausschnitt einen sehr dynamischen Eindruck vermittelt. Dafür sorgen die Handlungs- und Vorgangsverben (nahm, bedeckte, durchzuckten, steigerte sich, biss, ergoss sich), es gibt keinerlei Zustandsverben. Auch Substantive sind vorhanden, die als semantisches Merkmal ‘Bewegung’ beinhalten (Wellen der Erregung, Glut). Der HF-Spot ist zweigeteilt: In der - empfängerbezogenen - leidenschaftlichen Anfangsszenerie, die vollständig dem sprachlichen Feld ‘leidenschaftlich-erotische Begegnung’ zuzuordnen ist, kommt plötzlich die Traube ins Spiel und stellt eine Verbindung zum Produkt her. Ein Kellner reißt die Leserin aus ihrer Geschichte und fragt sie nach ihren Wünschen. Fortan dreht sich die Werbung nur noch um das Produkt. Das Lokalambiente, zu dem auch die Musik- und Geräuschkulisse gehören, fehlt auf dem Plakat, das nur eine Szene zeigt, völlig. Wie gezeigt wurde, ist die Kampagne mit der Verwendung eines allgemein erstrebenswerten, weil „biologisch [sic! ] vorprogrammierten Schemabilde[s]“ (Kroeber-Riel 1993, 171) sehr offensichtlich emotional ausgerichtet, in der MehrWert-Terminologie des Werbepraktikers Borsch als „Erlebniswelten aufbauen“ bezeichnet. (Borsch 2002, 95). Der MehrWert „Aktualisieren“ dagegen - er bezieht sich nach Borsch auf eine Produktneueinführung - wird nur äußerst knapp und ausschließlich im Hörfunkspot angesprochen: 13 Zur Definition von emotionalen und informativen Strategien vgl. Janich (2005, 38). Ist Traubenlikör eROTisch? 407 Der Neue von Wilthener. Nachprüfbare Fakten, beispielsweise der Preis, sind an keiner Stelle zu finden. Die Kampagne ist, wie schon angesprochen, empfänger- und produktbezogen ausgerichtet. Es wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die am Kommunikationsprozess beteiligten Komponenten Sender, Empfänger und Produkt innerhalb der Werbemittel thematisiert werden (vgl. beispielsweise Reimann 2003). Festzuhalten ist noch, dass mit Sender hier ausschließlich der Produkthersteller und mit Empfänger der Rezipient der Werbung gemeint ist. Der Sender wird im Hörfunkspot auffallend häufig, jedoch vor allem im Rahmen des Produktnamens genannt, insgesamt sechsmal, auf dem Plakat dagegen nur einmal innerhalb des Produktnamens, allerdings gegenüber dem Gattungsnamen Traubenlikör in Schriftgröße und Farbigkeit hervorgehoben. Das Produkt wird im Hörfunk fünfmal erwähnt, das Appellativ Traube als Produktbestandteil zusätzlich einmal. Zudem ist der Likör auch mit dem substantivierten Adjektiv Der Neue [...] gemeint. Auf dem Plakat kommt mit der Produktabbildung auch die visuelle Komponente zum Tragen. Der Produktname ist nur einmal verschriftlicht. Die anvisierte Zielgruppe wird im Hörfunkspot klarer herausgearbeitet. Die Sprecherin steht als Vorbildverbraucherin für alle potentiellen Kundinnen. Sie wird vom Kellner direkt angesprochen: Entschuldigung / möchten Sie noch was trinken? Sie verlangt mehrfach Wilthener Traubenlikör. Den Hörerinnen und Hörern bleibt sie durch ihre Anwesenheit während des ganzen Spots präsent. Auch die Protagonisten im Buchausschnitt - vor allem die Frau - könnten Vorbildverbraucher sein. Dafür spricht der Genuss einer Traube, die zunächst wie ein Fremdkörper in der Szenerie wirkt. Auf dem Plakat zeigt sich die Vorbildverbraucherin als attraktive, junge, blonde Frau, die ihren Liebsten im Griff hat: Bestimmt hat sie einen Arm um seinen Nacken gelegt, mit dem anderen hält sie sich an seinem Oberarm fest. Dabei schaut sie ihm fordernd in die Augen. Sprachlich werden die Empfänger lediglich noch durch den Imperativ küss (ihn) thematisiert. Festzuhalten bleibt, dass sich die Zielgruppe werbemittelimmanent als ausschließlich weiblich darstellt. 5.2 Struktur(elemente), Form/ Gestaltung Der Hörfunkspot besteht aus gesprochener Sprache - eine Sprecherin, zwei Sprecher -, Musik (Klaviermusik im Hintergrund) und Geräuschen (Schritte des Kellners, Stimmengewirr). Vor dem Dialog zwischen Sprecherin und Sprecher 1 erfolgt ein Monolog der später am Gespräch beteiligten weiblichen Stimme, die der Werbebotschaft entsprechend unverkennbar erotisch klingt. Abschließend erfolgt der Kommentar von Sprecher 2, der außerhalb der dargestellten Szene steht, was durch die fehlende atmosphärische Begleitung (weder Musik noch Geräusche) deutlich wird. Sandra Reimann 408 Die Printwerbung wird von dem beinahe plakatfüllenden Bild mit den Farben Gold, Schwarz und Dunkelrot 14 (nur punktuell: das Oberteil der Frau und der Herstellername) dominiert: Gezeigt wird - für den Rezipienten links vorne - ein etwas feiner gekleidetes Paar (helles Hemd einerseits, ärmelloses dunkelrotes Oberteil oder Kleid andererseits) - nur die Oberkörper sind sichtbar - in romantischer, dämmerungsbedingt vermutlich abendlicher Seenlandschaft. Dass es sich um Werbung handelt, wird durch das Plakat im Plakat deutlich: Zu sehen ist das Produkt und der Imperativsatz Nun küss ihn doch endlich. Außerdem ist horizontal, den ganzen unteren Rand des Plakats und ein Fünftel der Gesamthöhe einnehmend, der Produktname Wilthener Traubenlikör abgedruckt. Traditionelle werbliche Textbausteine, die vor allem aus der Anzeigenstruktur (Headline - Fließtext - Slogan) stammen (Janich 2005, 43ff.), sind in keinem Werbemittel vorhanden. Ein Slogan - werbemittelübergreifend am besten geeignet, um Kampagnenzugehörigkeit zu signalisieren (Greule/ Reimann im Druck) - kann im Hörfunk nicht eindeutig ermittelt werden, da das Plakat keine mit dem Radiospot übereinstimmenden Textelemente aufweist. Am ehesten käme auch wegen der Platzierung und des Sprecherwechsels sowie der Kürze (Setzung) noch die Redeeinheit von Sprecher 2 in Betracht: Der Neue von Wilthener / Einfach traubenhaft. Das Plakat umfasst nur zwei Textteile: Der Satz Nun küss ihn doch endlich. in der rechten Hälfte des Werbemittels auf mittlerer Höhe soll nach den in meiner Dissertation vorgenommenen und von der Headline sich abgrenzenden Definitionskriterien (Reimann im Druck 1) Schlagzeile genannt werden. Der davon abgesetzte Produktname am unteren Rand könnte allenfalls als Ein-Wort-Slogan (Bajwa 1995, 57) bezeichnet werden, was meines Erachtens allerdings zu weit führt. Durch die Abgrenzung vom Rest des Plakats - Größe sowie Farbigkeit (Herstellername erscheint dunkelrot) - wird die Identifikationsfunktion mit dem Produkt visuell deutlich hervorgehoben. Der Produktname (Anzahl der Nennungen und Platzierung) wurde unter 5.1 thematisiert. Die Textmenge beläuft sich auf dem Plakat auf sieben, im 30 Sekunden langen Hörfunkspot auf 71 Wörter. 15 14 Hinsichtlich der Wirkung von Farben steht Gold vor allem für Reichtum/ Pracht und das Überirdische/ Göttliche, also das Besondere, Rot unter anderem für das Sinnliche und die Leidenschaft, das Blut und das Feuer (Heller 2002, 51ff. und 181ff.). Schwarz soll hier die Finsternis/ Dunkelheit ausdrücken. „In der Werbung kommt Schwarz eine besondere Bedeutung zu, denn es erhöht als Untergrund die Leuchtkraft aller Spektralfarben. Hingegen läßt es Pastelltöne noch blasser erscheinen.“ (Rudolph 1976, 159). 15 Die Gesprächspartikel, die zur Bestätigung der vorhergehenden Äußerung eingesetzt wird - mit Buchstabenschrift transkribiert als mhm - wird ebenfalls als ein Wort gezählt. Ist Traubenlikör eROTisch? 409 6 Bewertung der Kampagne Angesprochen werden besonders positive und negative Aspekte der Kampagnenkonzeption und -gestaltung, die einer Verbesserung zugrunde liegen könnten, das heißt, es wird keine Kommentierung aller in der deskriptiven Analyse genannten Punkte vorgenommen. 6.1 Inhalt Im Hinblick auf die Verbundenheit der Werbemittel zu einer Kampagne sind - über die gemeinsame Idee hinaus - die unterschiedlichen Situationen negativ anzumerken. Dem Buchausschnitt, in dem eine sinnlich-leidenschaftliche Begegnung zwischen Mann und Frau stattfindet, sowie der Cafébzw. Lokalatmosphäre (HF-Spot) steht die Naturszene mit dem unbewegt wirkenden, sich küssen wollenden Paar gegenüber. Die Verbindung bestimmter Alkoholika mit Erotik ist gängig (z.B. Champagner). Ob sie jedoch immer noch - und obendrein so vordergründig - funktioniert, erscheint fraglich: „Neuere Studien aus Schweden und Großbritannien haben jetzt ergeben, dass sich Werbeexperten durchaus irren, wenn sie ihre Reklame für Mainstream- Produkte mit Sex würzen: Das ‚Sex sells’-Konzept funktioniert nicht mehr - zumindest nicht besser als andere Werbekonzepte und manchmal sogar schlechter. […] Dabei hat solche [rationale, S.R.] Werbung vor allem bei Jüngeren oft die bessere Wirkung, wie jetzt eine Befragung von 700 schwedischen Jugendlichen ergab. […] Parfümreklame wurde ebenso wie Limonadenwerbung behandelt. […] Sogar Männer, so Frost [vom Marketingberater Proficiency 2020, S.R.], würden heute in der Mehrzahl witzige und informative Werbung bevorzugen.“ (S ÜD- DEUTSCHE Z EITUNG 12.01.2006, Nr. 9, 9) Die Information, dass es sich um eine Produkteinführungswerbung handelt, wird nur im Hörfunkspot - am Schluss - gegeben (Der Neue von Wilthener / Einfach traubenhaft). Man hätte diesen Neuigkeitswert als positives Produktmerkmal besser hervorheben und die Rezipienten neugierig auf die Existenz des Likörs machen können. Im besten Fall ist davon auszugehen, dass die Bekanntmachung des neuen Produkts nicht das Werbeziel war, sondern allgemein die Imagebildung, die hier die Verbindung von Likör und Sinnlichkeit ist. Auf produktspezifische Eigenschaften, vor allem den Geschmack bei Genussmitteln - Grundnutzen - (vgl. z.B. Schucker 1983, 128), wird nur vage und lediglich im Hörfunk eingegangen: der süße Schmelz (der Traube). Auf dem Plakat ist als Produkteigenschaft lediglich die Farbe des Likörs zu sehen. 6.2 Zielgruppe Die junge weibliche Zielgruppe ließ sich mittels der deskriptiven Analyse eindeutig aus den Werbemitteln herausarbeiten. Das gilt besonders für den Sandra Reimann 410 HF-Spot, in dem die Sprecherin mehrfach den Likör verlangt. Die Werbeagentur bestätigte diese Absicht. 16 Ob sich die Frauen wirklich von dem populären, aber wenig überraschenden, so offensiv präsentierten sinnlicherotischen Thema noch angesprochen fühlen, müsste mit dem Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften bzw. von Marktforschungsinstituten ermittelt werden. 6.3 Struktur(elemente) und Form/ Gestaltung Im Spot sind mehrere Brüche festzustellen, die selbst bei einer inszenierten Kommunikation zwischen Werbespot und Hörern nicht großzügig übergangen werden können: Der erotisch angelegte Beginn birgt thematisch zunächst keine Überraschungen oder Abweichungen und widerspricht den Erwartungen der Rezipienten nicht. Die semantische Kohärenz wird jedoch unterbrochen, indem der Hauptbestandteil des Getränks ins Spiel gebracht wird (Dann biss sie auf die Traube). Die inhaltliche Verständlichkeit leidet hier unter der fehlenden Einführung des Lexems Traube, das obendrein mit einem bestimmten Artikel versehen ist (die). Die Hörer dürften sich fragen: Welche Funktion hat hier plötzlich eine Traube? Beim unmittelbar danach folgenden und abrupt vorgenommen Szenenwechsel - ein Kellner fragt den weiblichen Gast nach seinem Wunsch - verlangt die Vorleserin mehrfach Wilthener Traubenlikör. Den Rezipienten wird abverlangt, erstens nachträglich die Anfangssituation als Buchausschnitt zu identifizieren, was auch durch die unverändert beibehaltene Klangfarbe der Sprecherin erschwert wird, und zweitens die Verbindung zwischen der positiv konnotierten Traube (süße Schmelz) in der erotischen Szene und der Wahl der Frau im Lokal (Wilthener Traubenlikör) herzustellen. Inhaltlich-strukturell erscheint es problematisch, diese Textarbeit - sie beginnt beim sicherlich beabsichtigten fehlenden einleitenden Hinweis auf die Textklasse Erzählung - von den Hörern zu verlangen, zumal es sich beim Hörfunk um ein flüchtiges Medium handelt und inhaltliche Überlegungen nur auf Kosten der Aufmerksamkeit für den noch verbleibenden Spotteil, der immerhin mehrfach den Produktnamen umfasst, möglich sind. Eine positive Anmerkung bleibt noch: Der Spot endet mit einem geschickt gewählten Wortspiel, das das erotische Thema noch einmal auf sprachlich engstem Raum mit dem beworbenen Produkt kombiniert: traubenhaft in Anlehnung an das Hochwertwort traumhaft, eine Suffixbildung. Der Laut / m/ wird durch / ben/ ersetzt. Durch diesen Austausch, der zu einem Neologismus führt - traubenhaft ist kein gängiges Wort -, geht die positive Konnotation des Basismorphems Traum auf Traube über. Beim Plakat wird die Werbesituation mit dem „Bild im Bild“ zu offensichtlich, gleichsam platt dargestellt. Zusammenhanglos ist die auffallend groß wirkende Stellwand am Seeufer platziert. Der neben der Produktabbil- 16 Telefonische Auskunft von Tom Krause von der Agentur ad.quarter, August 2006. Ist Traubenlikör eROTisch? 411 dung auf das Plakat gedruckte Satz Nun küss ihn doch endlich. verweist vermutlich (auch) auf das Liebespaar. Der im Hinblick auf den Referenten unklar bleibende Text-Bild-Bezug ist bestenfalls als gewolltes Referenzspiel (Janich 2005, 152f.) zu werten. Durch die alleinige Verwendung des Pronomens ist die Referenz uneindeutig: Es stellt sich die Frage, wer ihn sein soll: Ist der junge Mann oder doch der Likör 17 gemeint oder geht es um beide? Insgesamt fehlt in der Printwerbung der Kampagne eine kreative Umsetzung der Idee, mit Erotik zu werben. Hinsichtlich der Interpunktion ist festzuhalten, dass der Satz mit einem Punkt statt einem beim Imperativsatz erwarteten Ausrufezeichen endet. Vermutlich soll die Aufforderung auf diese Weise weniger aufdringlich wirken (vgl. Baumgart 1992, 104f.). Textstrukturell ist werbemittelübergreifend die fehlende Übereinstimmung in der Sprache anzumerken. Mit Ausnahme des Produktnamens gibt es keinerlei gemeinsame Textbausteine. Hier bleibt die Möglichkeit unberücksichtigt, eine Zusammengehörigkeit von Plakat und HF-Spot über das einzige übereinstimmende Darstellungsmittel, die Sprache, herzustellen. Zumindest ein einprägsamer gemeinsamer Slogan - man hätte hier den Text von Sprecher 2 aus dem HF-Spot verwenden können Der Neue von Wilthener / Einfach traubenhaft - wäre nahe liegend gewesen. Abschließend folgen noch einige Anmerkungen zur Farbgebung: Das Plakat ist insgesamt überwiegend in der goldenen Farbe des Produkts gestaltet, wobei vereinzelt dunkelrote Elemente (das Oberteil der Frau, der Markenname) - die vermutlich erste Assoziation hinsichtlich der Farbe bei Traubenlikör - hinzukommen. Im HF-Spot wird die goldene Farbe des Likörs nicht thematisiert - auch nicht indirekt. Im Gegenteil, die Hörer werden mit der sinnlichen Anfangsszene farblich beinahe in die Irre geführt: Sollte man eine Farbe dafür finden, würde man sicherlich auf Rot kommen (vgl. Heller 2002). 6.4 Medienspezifika Zu den zu berücksichtigenden Medienspezifika zählen Darstellungsmittel, Ort und Zeit der Nutzung, Reichweite, Anforderungen an den Nutzer, werbliche Funktion und das Umfeld der Werbung (vgl. Reimann im Druck 1). Hinsichtlich der Darstellungsmittel ist festzuhalten, dass der Hörfunkspot nicht über Bilder, das Plakat nicht über Ton verfügt. Deshalb müssten gerade die Komponenten Ton (beim Hörfunk) und Bild (beim Plakat) besonders gut genutzt werden. Im Hörfunkspot regt die Sprecherin in der Tat durch prosodische Phänomene (langsames Sprechtempo, sinnlich klingende Stimme) die Phantasie der Rezipienten an, was auch ohne Brechung 17 Die Personifizierung des Produkts ist in der Werbung nicht selten. Vgl. beispielsweise die Werbung für die Orangenlimonade Frucade, die zunächst mit den Merkmalen einer begehrenswerten Frau versehen und deren Identität den Hörern erst am Spotende preisgegeben wird (Quelle: z.B. Antenne Bayern 17.08.2006, 8.59 Uhr). Sandra Reimann 412 durch das Medium Hörfunk beim (Vor)Lesen von Romanen oder Märchen Ziel ist. Ihre Sprechweise unterstreicht den Inhalt, die Themen ‘Liebe’ und ‘Sexualität’, die auf das Produkt übertragen werden sollen. Dagegen wirken Sprecher 1, der den Kellner verkörpert, und Sprecher 2, der außerhalb der Szenerie einen Kommentar abgibt, recht nüchtern, was vor allem bei Letzterem nicht zum Inhalt (Einfach traubenhaft) passt. Nachteilig wirkt sich meines Erachtens die zu große Ähnlichkeit der beiden männlichen Stimmen aus. Da der Hörer kein Bild zur Verfügung hat, ist er auf die Unterscheidbarkeit im Ton angewiesen. Wird diese als unbedeutsam angesehen, hätte man auf einen Sprecher auch verzichten können. Die sprachliche Umsetzung als Dialog ist jedoch medienadäquat, da zur medialen Mündlichkeit im elektronischen Medium so auch die konzeptionelle hinzukommt (vgl. Koch/ Oesterreicher 1985/ 86, 15-43). Das Plakat an sich dagegen ist auf große Bildflächen und wenig Text ausgerichtet, was vor allem an der Rezeptionssituation liegt: Man rechnet hauptsächlich mit vorbeifahrendem oder vorbeigehendem Publikum, das mit einem Blick die Werbebotschaft erfassen können soll. Diese Vorgaben wurden bei der Gestaltung der Printwerbung beachtet: Sprachlich ist lediglich der Satz Nun küss ihn doch endlich. in Großbuchstaben und recht großer Schrift vorhanden sowie am unteren Rand, die gesamte Plakatbreite einnehmend, der Produktname Wilthener Traubenlikör, wobei die Marke Wilthener in Größe und Farbe (dunkelrot) zusätzlich hervorgehoben wird. 6.5 Umgang mit dem Produktnamen Die fünfmalige Nennung des gesamten Produktnamens sowie die zusätzliche einmalige Erwähnung der Marke Wilthener im flüchtigen Medium Hörfunk erleichtert die Einprägung des Namens. Demgegenüber erscheint der Name auf dem Plakat nur einmal, jedoch in großer Schrift und farblich teilweise hervorgehoben. Die Art der Integration des Namens in die Spotgeschichte ist wenig gelungen, weder kreativ noch passend. Das Ping-Pong- Spiel mit dem Produktnamen zwischen weiblichem Gast und Kellner, in dem ausschließlich der Name abwechselnd von dem einen und dem anderen genannt wird, ist in keiner Weise in die Geschichte eingefügt. Häusermann (1998, 65) weist für die Hörfunkkommunikation allgemein auf die gewinnbringende Verbindung der Ziele Behaltbarkeit/ Erinnern und ansprechende Textgestaltung hin: „In der sprachkritischen Argumentation wird deshalb das Ziel der Verständlichkeit mit dem Ziel der Attraktivität gepaart. Die beiden Ideale gehen dabei ineinander über: Ein attraktiver Text kann verständlicher sein, ein verständlicher attraktiver.“ Ist Traubenlikör eROTisch? 413 6.6 Zusammenfassung der wichtigsten Bewertungsergebnisse Zusammenspiel der Werbemittel einer Kampagne, Medienspezifika Die inhaltliche Verbundenheit von Plakat und Hörfunkspot wird nicht klar. Über die Grundidee hinaus, die mit der „Sex-sells“-Thematik nicht originell ist, haben die beiden Werbemittel nichts miteinander zu tun. Die formalstrukturelle Gestaltung ist medienadäquat und demzufolge richtigerweise nicht einheitlich: eine Szene auf dem Plakat und wenig, gut lesbarer Text, Dialog im HF. Die männlichen Stimmen sind jedoch kaum unterscheidbar. Negativ anzumerken ist auch die gänzlich fehlende sprachliche Übereinstimmung zwischen den Werbemitteln. Produktspezifika Produktspezifische Eigenschaften werden kaum angesprochen. Lediglich im Hörfunkspot wird vom süße[n] Schmelz (der Traube) gesprochen, auf dem Plakat ist die Farbe des Likörs zu sehen. Verständlichkeit Die Verständlichkeit ist vor allem im Hörfunk ein Thema. Das Sprechtempo ist langsam genug und, was die Sprecherin betrifft, dem Inhalt angepasst, die Sätze bzw. Redeeinheiten sind recht kurz, die mehrfache Wiederholung des Produktnamens fördert dessen Einprägsamkeit, wenn auch die mehrmalige Nennung des Namens durch die beiden Sprecher keinen Sinn im Fortgang des Dialogs erkennen lässt. Problematisch ist die inhaltliche Verständlichkeit im Spot. Die Brüche und verschiedenen dargestellten Situationen - an die Anfangsszene wird nicht hingeführt - erschweren ein sofortiges Verständnis seitens der Rezipienten. Marken-/ Produktname Die Erinnerung an den Produktnamen wird im Hörfunk, wie erwähnt, durch dessen häufige Erwähnung unterstützt - auch wenn die Umsetzung zu kritisieren ist. Demgegenüber ist der Name auf dem Plakat nur einmal angebracht, jedoch in großer Schrift und am unteren Rand. So ist er gut lesbar. Zielgruppenansprache Die Zielgruppe - weiblich - wird deutlich herausgearbeitet, besonders im Hörfunk. Erfüllung des Werbeziels Dass es sich um ein neues Produkt handelt, wird kaum in die Werbestrategie einbezogen. Im Vordergrund steht wohl die Botschaft, dass die Konsumenten des Wilthener Traubenlikörs erotisch-leidenschaftliche Gefühle entwickeln, was allerdings vom Grundprinzip her keine neue Idee darstellt und deshalb nicht überzeugend wirkt. Sandra Reimann 414 7 Bibliographie 7.1 Gedruckte Literatur Bajwa, Yahya Hassan (1995): Werbesprache - ein intermediärer Vergleich. Diss. Universität Zürich. Baumgart, Manuela (1992): Die Sprache der Anzeigenwerbung. Eine linguistische Analyse aktueller Werbeslogans. Heidelberg (Konsum und Verhalten, 37). Behrens, Gerold (1996): Werbung. Entscheidung - Erklärung - Gestaltung. München. B ILD DER F RAU 29.05.2006, Nr. 22, 5: Unser liebster Bär. Borsch, Norbert (2002): Auf den Punkt gebracht. MehrWert für Marken durch Konzentration auf einen Gedanken. In: Mattenklott, Axel/ Schimansky, Alexander [Hrsg.]: Werbung. Strategien und Konzepte für die Zukunft. München, 88-105. Burger, Harald (2005): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. 3. Aufl. Berlin. Drabczynski, Michael (1995): Das flimmernde Medium und die Macht des gedruckten Wortes. Funktionale Aspekte des Intermediavergleichs. 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Sandra Reimann 416 8 Anhang 18 Plakat „Kuss“ Hörfunkspot „Buch der Leidenschaft“ 19 Gesprochene Sprache Musik/ Geräusche Sprecherin: Er nahm sie in die Arme und bedeckte sie mit seinen Küssen / Wellen der Erregung durchzuckten ihren zarten Körper / Die Glut steigerte sich auf ihren Lippen / Dann biss sie auf die Traube und der süße Schmelz ergoss sich wie … Sprecher 1: Entschuldigung / möchten Sie noch was trinken? Sprecherin: Oh ja / noch ein’ Wilthener Traubenlikör bitte Sprecher 1: Ein Wilthener Traubenlikör Sprecherin: Ein Wilthener Traubenlikör Sprecher 1: Ein Wilthener Traubenlikör? Sprecherin: Mhm. Ein Wilthener Traubenlikör Sprecher 2: Der Neue von Wilthener / Einfach traubenhaft Schritte, Stimmengewirr, Klavierspiel im Hintergrund, das endet, bevor Sprecher 2 einsetzt. 18 Plakat und Hörfunkspot abrufbar unter http: / / www.adquarter.de/ content.html (Zugriff am 16.01.2007). 19 Schrägstriche in der Transkription deuten die angenommene, im Hörfunk nicht vorhandene Interpunktion an. Das Fragezeichen wird ergänzt, um die fehlenden paraverbalen Möglichkeiten des verschriftlichten Textes aufzufangen. Die gesprochene Sprache wird in Buchstabenschrift transkribiert, da die genaue phonetisch-phonologische Verschriftlichung nicht dem Analysezweck dient und auch die Lesbarkeit erschwert. 10 Rechtswissenschaft Gabriele Klocke Überlegungen zur Benennung und Begründung einer Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 1 Einleitung Der Arbeitskreis Sprache und Recht der Universität Regensburg, zu dessen maßgeblichen Gründungsmitgliedern auch der Jubilar gehört, benennt in seinem Namen zwei Forschungsgegenstände: Sprache und Recht. Der Name des Arbeitskreises war insofern klug gewählt, als er kaum Spekulationen darüber zulässt, welches Fach hier in den Dienst des jeweils anderen gestellt wird. 1 Mithin sind Vertreter der beteiligten Fakultäten gleichermaßen berechtigt, an den Forschungsthemen zu „arbeiten“. So begrüßenswert hier der Verzicht auf eine programmatische Engführung im interdisziplinären Kontakt ist, 2 so unabdingbar ist eine Einordnung des besagten Gegenstandspaares in den Fächerkanon der Sprachwissenschaft. 3 Eine solche Positionierung erfolgt nicht zuletzt über eine angemessene Benennung einer entsprechenden Teildisziplin. Im vorliegenden Beitrag unternimmt die Verfasserin den Versuch, die in der einschlägigen Literatur vorfindlichen Fächerbezeichnungen „Forensische Linguistik“, „kriminalistische Linguistik“ und 1 Stickel (2001, 1) weist jedoch darauf hin, dass in den zunächst unkompliziert erscheinenden Koordinationen „Sprache und Recht“ bzw. „Recht und Sprache“ eine hierarchische Positionierung der Konstituenten verborgen sei: „Während ein Titel ‚Recht und Sprache’ eine im Dienste des Rechts stehende Sprachwissenschaft suggeriert, die durch das Recht angefragt wird, so bezeichnet der Titel ‚Sprache und Recht’ eine primär sprachwissenschaftliche mit dem Forschungsgegenstand Recht.“ 2 Der Regensburger Arbeitskreis Sprache und Recht ist nicht das einzige Arbeitsgremium, welches diesen Namen wählte: In den thematisch einschlägigen Veröffentlichungen und Tagungsankündigungen findet sich ebenfalls häufig das Gegenstandspaar „Sprache und Recht“. So veranstaltete das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim im Jahr 2001 eine Fachtagung zum Thema „Sprache und Recht“. Die TU Dresden trug im Jahr 2005 ein gleichnamiges interdisziplinäres Kolloquium aus. Im Jahr 2006 trafen sich auf internationaler Ebene Juristen und Sprachwissenschaftler, um sich auf einer internationalen Tagung mit „Language and Law“ zu beschäftigen. Selten jedoch trifft man in den Veröffentlichungs- und Veranstaltungskatalogen auf eine fachterminologische Bezeichnung des entsprechenden Arbeitsfeldes. 3 Zu einer Einordnung dieses Forschungsfeldes in den rechtswissenschaftlichen Fächerkanon werden an dieser Stelle keine Überlegungen angestellt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass auch und gerade die sprachwissenschaftlich interessierte Rechtswissenschaft - eigenständig oder in interdisziplinärer Zusammenarbeit - wertvolle Beiträge zum Thema „Sprache und Recht“ liefert. Vgl. hierzu einen Aufsatz aus juristischer Perspektive von Schnapp (2004) und einen in interdisziplinärer Zusammenarbeit entstandenen Beitrag von Lorenz et al. (2005). Gabriele Klocke 420 „Rechtslinguistik“ unter Berücksichtigung der forschungsgegenständlichen Vielfalt im Felde des Rechts zu ordnen. Ferner wird diskutiert, welches Selbstverständnis eine auf das Recht bezogene Sprachwissenschaft pflegt bzw. pflegen sollte: Sieht sie sich ausschließlich als Hilfswissenschaft mit Gutachterfunktion? Oder beabsichtigt sie darüber hinaus, die Rechtspraxis über deren sprachliche Aspekte eigeninitiativ zu informieren? Während die Verfasserin an dieser Stelle noch Überlegungen zu einer angemessenen Bezeichnung eines entsprechenden Arbeitsfeldes anstellt, hat sich bereits ein in der Mehrzahl aus Juristen bestehendes und durchaus über seine Grenzen hinaus bekanntes Arbeitsgremium ohne Scheu den Titel „Arbeitsgruppe Rechtslinguistik“ zugelegt. 4 2 Vielfalt der Forschungsgegenstände und Benennungen 2.1 Die Forschungsgegenstände Sprache und Recht aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Häufig wird behauptet, die Forschungsgegenstände Sprache und Recht hätten bislang kaum sprachwissenschaftliche und noch weniger rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren (z.B. Schwintowski 2003). Dass dies nicht stimmt, beweist die Menge der Veröffentlichungen, welche von Nussbaumer im Jahr 1997 für die Bibliographie „Sprache und Recht“ zusammengetragen wurden. Seither sind eine ganze Reihe weiterer Fachtexte erschienen, die aus Platzgründen hier nicht alle angeführt werden. Eine auf die Forschungsgegenstände Sprache und Recht bezogene Wissenschaft umfasst nach Meinung der Verfasserin • eine auf juristische Texte bezogene Textsorten-, Fachsprachen- und Verständlichkeitsforschung, die auch und gerade rechts- und sprachgeschichtliche Aspekte in den Blick nimmt, 5 • eine auf juristische mündliche oder schriftliche Texte bezogene Übersetzungswissenschaft, 6 • eine auf die Praxis justizieller Instanzen bezogene Kommunikationsbzw. Diskursanalyse, 7 4 Christensen, abrufbar unter http: / / www.recht-und-sprache.de/ index_rl.htm (Zugriff am 01.08.2006) (Hervorh. d. Verf.). 5 Vgl. beispielhaft zur Verständlichkeits- und Fachsprachenforschung den Herausgeberband von Lerch (2005); vgl. beispielhaft für das Wechselspiel von Sprach- und Rechtsgeschichte den Beitrag von Schroeder in diesem Band. 6 Vgl. zum Dolmetschen in österreichischen Asylverfahren Pöllabauer (2005). 7 Vgl. für den bereits gut erforschten Bereich der Gerichtskommunikation Hoffmann (1980). Für den Bereich der polizeilichen Kommunikation stehen originär diskursanalytisch angelegte Forschungsarbeiten u.a. aufgrund von Feldzugangsproblemen noch aus. Vgl. für die Instanz Strafvollzug Klocke (2004). Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 421 • eine Analyse all jener Sprechhandlungen, welche als Tatbestände oder Sanktionsinhalte von Rechtstexten erfasst bzw. konstituiert werden, 8 • Implementationsforschungen zu nationalen und internationalen gesetzlichen Sprachenregelungen, 9 • all jene gutachterlichen Tätigkeiten, in denen Sprachwissenschaftler unter Heranziehung der Ergebnisse linguistischer Grundlagenforschung mündliche oder schriftliche Textkorpora im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens auswerten (vgl. Dern 2003), • letztlich auch die Rezeption von Forschungsergebnissen aus benachbarten Forschungsbereichen wie etwa der kriminalistischen Phonetik (Sprechererkennung) oder des (Hand-)schriftenvergleichs. Auch hier sind Computerlinguisten, Physiker oder Psycholinguisten neben anderen Kriminalisten als Gutachter bzw. Sachverständige tätig. 10 Nachdem nun in groben Zügen dargelegt wurde, welches Aufgabenspektrum Sprachwissenschaftlern im Felde des Rechts begegnet, steht noch die Frage aus, wie ihr Arbeitsgebiet präzise zu bezeichnen sei. 2.2 „Forensische Linguistik“ Die Bezeichnung „Forensische Linguistik“ findet vor allem im Wortgebrauch der am Strafverfahren beteiligten Akteure Verwendung und erfährt dort zumeist eine enge Auslegung: Folgt man der entsprechenden Fachliteratur, so zählen zum Objektbereich der deutschen forensischen Linguistik schwerpunktmäßig, wenn nicht gar ausschließlich, inkriminierte Sprachdaten schriftlicher oder mündlicher Natur, anhand derer im Beweismittelverfahren Erkenntnisse über Tatzusammenhänge gewonnen werden können. So unterscheidet Eisenberg (2002, 845 Rn. 1992ff.; 1996ff.) in seinem Buch „Beweisrecht“ den „forensisch-linguistischen Textvergleich“ vom „forensisch-linguistischen Sprachvergleich“ und verweist damit auf die literale bzw. orale Qualität inkriminierter Sprachdaten. Der Autor geht nicht auf eventuelle weitere Forschungsgebiete der forensischen Linguistik ein. Offenbar erkennt er in der forensischen Linguistik primär eine auf das beweismittelrechtliche Strafverfahren spezialisierte Hilfswissenschaft. Im Gesamtkanon der von der Verfasserin gesichteten rechtswissenschaftlichen Literatur findet sich lediglich eine Veröffentlichung, welche den Terminus „forensisch“ über den beweismittelrechtlichen Bereich hinaus einsetzt: Alte- 8 Beispielhaft für die Beleidigung (§185 StGB) Klocke (2005). Vgl. für allgemeine sprechakttheoretische Überlegungen zum Strafrecht Navarete/ Polaino-Orts (2006). 9 Vgl. hier etwa eine von Albrecht Greule betreute Magisterarbeit zur Sprachstatusplanung und zum Sprachenkonflikt am Beispiel Lettlands, welche auch Aspekte der Sprachengesetzgebung berücksichtigt (Mehlich im Druck). 10 Vgl. für eine knappe Einführung in den kriminaltechnischen Methodenkanon Ackermann (2003). Gabriele Klocke 422 henger (1996) setzt sich mit „forensischen Textsorten“ auseinander. Forensische Texte sind für ihn „sämtliche mündliche oder schriftliche Texte, welche im gerichtlichen Kontext in Erscheinung treten“ (ebd., 49). Er führt seine Untersuchung am Beispiel des Zivilprozesses durch. 11 Der engen Auffassung von „Forensischer Linguistik“ wie sie etwa Eisenberg pflegt, steht damit eine weite Definition nach Altehenger gegenüber. In der Tat spricht einiges dafür, die Bezeichnung „forensisch“ für sämtliche juristische Arbeitsgebiete zu verwenden: Folgt man den gängigen etymologischen Wörterbüchern, so findet man für „forensisch“ folgende Bedeutungs- und Verwendungsgeschichte: In seiner ursprünglichen Form bedeutete lat. forensis ‚gerichtlich‘, ‚zum Gericht gehörig‘. Das Wort forensis leitet sich ab aus dem lateinischen Forum Romanum, welches auch den Ort der Rechtspflege bezeichnete. Seit dem frühen 18. Jahrhundert liegt lat. forensis in gebuchter Form vor, seit dem späten 19. Jahrhundert finden wir dessen eingedeutschte Entlehnung forensisch. In seiner veralteten Bedeutung bezeichnete forensisch die Fähigkeit, sich im gerichtlichen Kontext wortgewandt und rhetorisch geschickt äußern zu können. Eine Verengung des Wortgebrauchs für forensisch auf eines der großen Rechtsgebiete war bis ins späte 19. Jahrhundert nicht vorgesehen. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich in Rechtsquellen der Hinweis auf einen spezifiziert strafrechtlichen Verwendungskontext: forensisch bezeichne „sämtliche gerichtlichen oder kriminologischen Zwecken dienende Sachverhalte“. 12 Dieser spezifizierende Verweis auf die Kriminologie verengt die Bedeutung von forensisch auf den strafrechtlichen Bereich. Der Hinweis auf die kriminologische Bedeutung entbehrt dabei jeder sachlichen Grundlage: Die traditionelle Kriminologie widmete sich anhand anthrobiologischer, psychologischer und sozialstatistischer Mittel der Erforschung des allgemeinen Phänomens „Verbrechen“, seiner Ursache, Sanktionierung und Vermeidbarkeit. Die Verfasserin erkennt nicht, an welcher Stelle hier eine Forensische Linguistik in ihren Anfängen nennenswert hätte beteiligt sein können. Es steht zu vermuten, dass in den Rechtsquellen und Wörterbüchern die Forschungsdisziplin „Kriminologie“ mit der polizeilich-praxisorientierten „Kriminalistik“ verwechselt wurde: Die Kriminalistik beschäftigt sich mit der Aufklärung von Verbrechen und setzt hierfür verschiedenste kriminaltechnische Methoden ein - in jüngerer Zeit findet sich hier neben Feldern wie etwa der Ballistik, Textil-, Lack-, und Rauschmittelanalyse auch vermehrt die Linguistik. Eine zur Tataufklärung am Beweismittelverfahren beitragende Wissenschaft geht also kriminalistisch und nicht kriminologisch vor. 11 Hierbei ist zu beachten, dass sich das Gebiet der Rechtswissenschaft in die drei großen Bereiche Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht gliedert, innerhalb derer sich wiederum Spezialgebiete wie etwa das Familienrecht, das Baurecht oder das Jugendstrafrecht heraus gebildet haben. 12 Schulz/ Basler (2004) Stichwort: forensisch; Wissenschaftlicher Rat der DUDEN-Redaktion (1999) Stichwort: forensisch; Paul/ Henne et al. (2002) Stichwort: forensisch. Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 423 Wie nun verwenden Sprachwissenschaftler in ihrer Rolle als Nichtjuristen den Terminus „Forensische Linguistik“? In der einschlägigen germanistischen Fachliteratur wird vereinzelt dafür plädiert, der Forensischen Linguistik ein breites Spektrum von Arbeitsfeldern zuzuordnen: Eine breite Definition des Fachgebiets Forensische Linguistik liefert aktuell die in der Autorenerkennung des Bundeskriminalamtes tätige Linguistin Schall: „Die forensische Linguistik stellt ein Teilgebiet der Sprachwissenschaft im Bereich der Strafverfolgung dar, das sich mit der Aufklärung von Verbrechen, die in Form sprachlicher Handlungen verübt werden, durch eine sprachliche Spurenanalyse beschäftigt. Damit ist aber nur ein Teil des Gegenstandes beschrieben; die FL umfasst nämlich eine Vielzahl von Teildisziplinen, etwa die Analyse des Sprachverhaltens vor dem Gericht, die Analyse der Gesetzessprache, die Analyse von in Warenzeichen verwendeter Sprache und die Autorenidentifizierung.“(Schall 2004, 544ff.; Hervorh. d. Verf.). Kniffka wies bereits vor zwanzig Jahren auf die einseitige Verwendung des Terminus „Forensische Linguistik“ hin: Die Forensische Linguistik sei „von Klischees umgeben“. Eines davon sei die Vorstellung, dass sie „(einzig und allein) linguistische Hilfe bei der Täterermittlung“ sei. Sie sei jedoch „viel mehr als Autorenermittlung“ (Kniffka 1990, 3; 23). In weiten Teilen der allgemeinen germanistischen Linguistik steht jedoch die einseitige Verwendung der Bezeichnung „Forensische Linguistik“ gar nicht zur Debatte: Bierwisch zeigt sich der Rechtswissenschaft ergeben und postuliert eine Zuständigkeit der forensischen Linguistik für „sprachwissenschaftliche Expertisen zu juristischen Fragen“ (Bierwisch 1992, 42) und reduziert damit die Rolle des Sprachwissenschaftlers auf eine rein reaktiv ausgerichtete gutachterliche Tätigkeit. Grewendorf wiederum geht auf eventuelle Bezeichnungsunschärfen gar nicht erst ein, sondern billigt der Bezeichnung „Forensische Linguistik“ allenfalls den Status eines „Etiketts“ zu (Grewendorf 1990, 249). Die Berliner Arbeitsgruppe (2000, 8) hingegen stellt fest, dass der Terminus „sich für bestimmte linguistische Techniken [gemeint sind vorrangig kriminalistische Techniken, d. Verf.] eingebürgert“ habe. 2.3 „Forensic Linguistics“ Es wird deutlich, dass sowohl in den Rechtsals auch in den Sprachwissenschaften Uneinigkeit, wenn nicht gar ein mangelndes Bewusstsein für den Bedeutungshorizont des Terminus „Forensische Linguistik“ vorliegt. Ein erweiterter Blick auf die internationale Forschungslage zum Thema „Sprache und Recht“ ergibt Folgendes: Im Wissenschaftsenglisch findet sich die fachdisziplinäre Bezeichnung „forensic linguistics“, die ein Arbeitsfeld bezeichnet, in welchem seit einigen Jahrzehnten interdisziplinär geforscht und auch gelehrt wird. In seinem Standardlehrwerk zur „Forensic linguistics“ weist der Sprachwissenschaftler Gibbons (2003) auf ein breites Tätigkeitsfeld dieser Forschungsdisziplin hin: Nach Gibbons (2003, 12) umfasst Gabriele Klocke 424 forensic linguistics das Studium der Sprache und des Rechts, inklusive der Rechtstexte und der Sprache der Gerichte, der Polizei und der Gefängnisse. Ferner ordnet Gibbons der forensic linguistics die Beschäftigung mit der Verbesserung der professionellen Übersetzung und Dolmetschung von Rechtstexten, die Aufdeckung von sprach(en)bedingter Benachteiligung im rechtlichen Verfahren sowie das forensisch-linguistisch basierte Beweismittelwesen zu. Auch der Prozess der textproduzierenden Gesetzgebung zählt nach Meinung des Autors zum weiten Forschungsfeld der forensic linguistics. In diesem Sinne beherbergt die „International Association of Forensic Linguists (IAFL) […] those working on any aspects of language and the law”. 13 Selbst der seinerseits ausschließlich kriminalistisch arbeitende forensische Linguist Olsson weist in seinem Lehrbuch zur Autorenschaftsanalyse an prominenter Stelle und unmissverständlich auf die originäre Breite des forensisch-linguistischen Anwendungsfeldes hin (Olsson 2004, ii). 2.4 Kriminalistische Linguistik Es wurde gezeigt, dass der Terminus „Forensische Linguistik“ mehr als nur den kriminalistischen Bedeutungszusammenhang abzudecken vermag. Er bezeichnet sämtliche Beschäftigung mit Sprache, die im rechtlichen bzw. gerichtlichen Kontext auftritt. Linguistische Arbeitsfelder, die speziell am strafrechtlichen Beweismittelverfahren Anteil haben, könnten darum treffender mit dem Terminus „Kriminalistische Linguistik“ betitelt werden. Da Bekennerschreiben, Drohbriefe oder ähnliche inkriminierte Schreiben gerichtsrelevante Textsorten darstellen, wäre damit die kriminalistische Linguistik ein Teilgebiet der forensischen Linguistik. In der Literatur finden sich entsprechende Hinweise: Nickel schlägt explizit vor, die forensisch-linguistische Autorenschaftsbestimmung „Kriminalistische Linguistik“ zu nennen (Nickel 1992, 357). Dern meint, Sprache sei ein „Tatwerkzeug“ und ordnet die in den Bereichen Autorenerkennung tätigen Sprachwissenschaftler der Kriminalistik zu (Dern 2003, 70f.; 75). Auch Steinke (1995) verzichtet auf eine enge Auslegung der Fachbezeichnung und möchte die linguistische Textanalyse neben der Schreibmittelanalyse, der Handschriftenuntersuchung und der Sprechererkennung in den Kreis der „kriminaltechnischen Disziplinen“ eingereiht sehen. Kniffka (1992, 157) verweist auf die „indirekte Hilfsfunktion der Angewandten Linguistik im kriminalistisch-forensischen Kontext“. Nach Meinung der Verfasserin sollte die semantische Auffangzuständigkeit des Terminus „Forensische Linguistik“ erweitert und die Fachbezeichnung „Kriminalistische Linguistik“ für den Einsatz der Linguistik im Gerichtsverfahren reserviert werden. Mit einer solchen Maßname wäre aber noch nicht der Status des Terminus „Rechtslinguistik“ geklärt. 13 Abrufbar unter http: / / www.iafl.org (Zugriff am 01.08.2006). Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 425 2.5 „Rechtslinguistik“ Das substantivische Determinativkompositum „Rechtslinguistik“ lässt erkennen, dass es sich um eine Linguistik handelt, die sich dem Forschungsgegenstand „Recht“ widmet. 14 Diese Wortbildung scheint fest lexikalisiert zu sein - machen doch bereits Juristen Gebrauch von ihr (vgl. Fußnote 4). Allein: Mit welchen Aspekten des Rechts beschäftigen sie sich? Betreiben Rechtslinguisten auch kriminalistische Linguistik? Findet sich im Wortfeld zum Lexem Recht auch die Fachbezeichnung Kriminalistik? Dornseiffs „[...] Deutsche[r] Wortschatz nach Sachgruppen“ (2004, Titel 21.18) führt unter dem Sachgruppentitel Recht nicht gesondert einen kriminalistischen Aspekt an. Auch in Augsts „Wortfamilienbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (1998, 1083f.) finden sich in keiner der mehrstufigen Bedeutungsableitungen zum Kernwort Recht Teilbedeutungen, die auf eine kriminalistische Komponente hinweisen. Ebenso scheint es in der sprachwissenschaftlichen Diskussion konsensfähig, dass die Fachbezeichnung „Rechtslinguistik“ nicht den Bereich der kriminalistischen Linguistik abdeckt: So unterscheidet etwa Nussbaumer die Rechtslinguistik von der Forensischen Linguistik 15 : Mit „Rechtslinguistik“ sei ein Interesse der Linguistik am Recht gemeint, das über die konkrete Gutachtertätigkeit hinausgeht.“ 16 Eine nach Meinung der Verfasserin heuristisch wertvolle Auslegung des Terminus „Rechtslinguistik“ liefert das Institut für Allgemeine Sprachwissenschaften der Universität Münster: Die „Rechtslinguistik untersucht die besonderen Beziehungen zwischen Sprache und Recht bzw. der Rechtsgemeinschaft, zwischen den sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen, die nicht nur in den Institutionen von Rechtsprechung und Rechtspflege verwendet werden, sondern auch im Rechtsbewusstsein des Laien eine zentrale Orientierungsfunktion haben für die Organisation sozialen Handelns.“ 17 Diese Standortbestimmung macht wie keine andere deutlich, dass der Terminus „Rechtslinguistik“ die kriminalistische Linguistik nicht miteinschließt. 14 Das Grundglied „-linguistik“ legt neben dem Genus und der Wortart auch die semantische Klasse fest. Das Erstelement „Recht-“ ist dem Zweitelement „-linguistik“ in seiner semantischen Anreicherungsform somit untergeordnet. 15 Nussbaumer hat vorliegend die enge, d.h. kriminalistisch ausgerichtete Linguistik in Verwendung. 16 Nussbaumer (1997, 10) plädiert in diesem Kontext übrigens gegen eine disziplinäre Etablierung eines fest umrissenen und auf das Recht bezogenen Teilbereichs in der Linguistik, für den die Existenz eines speziellen Terminus verbürgen könnte. Nussbaumers Argument: „[...] das wäre auch schlecht möglich, stiftet doch der Gegenstandsbereich Recht [...] nicht eine Einheit des theoretischen und praktischen sprachwissenschaftlichen Zugriffs und in diesem Sinne nicht eine Einheit eines sprachwissenschaftlichen Teilbereichs.“ 17 Abrufbar unter http: / / www.uni-muenster.de/ Rektorat/ Forschungsberichte-1997-1998 / fo11lb01.htm (Zugriff am 01.08.2006). Gabriele Klocke 426 2.6 Zwischenbilanz In Orientierung an den obigen Ausführungen veranschaulicht folgende Grafik die Benennungsvorschläge der Verfasserin: FORENSISCHE LINGUISTIK Rechtslinguistik Kriminalistische Linguistik • Fachsprachenforschung • Autorenerkennung • Sprache vor Gericht • Sprechererkennung • Sprachengesetzgebung • ... • ... Abb. 1: Systematisierung eines forensisch-linguistischen Arbeitsfeldes. 3 Begründungszusammenhang Die in diesem Aufsatz entworfene Präzisierung in Systematik und Benennung ermöglicht es, die Tätigkeit des Sprachwissenschaftlers im Felde des Rechts in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Weise zu verorten und zu begründen. Bei der gutachterlichen kriminalistischen Linguistik handelt es sich ausschließlich um eine Form der angewandten Linguistik, welche auf Grundlagenfächer wie etwa die linguistische Fehleranalyse, die Dialektologie oder die Phonetik zurück greift; und freilich weist auch die Rechtslinguistik immer wieder Züge einer angewandten Wissenschaft auf, wenn sie etwa auf dem Gebiet der Fachsprachen- und Verständlichkeitsforschung mit gutachterlicher Expertise zur Verfügung steht. Linguisten sollten jedoch nicht ausschließlich in Reaktion auf juristischen Bedarf forschen, sondern sie sollten auch in proaktiver Weise Forschungsgegenstände und Methodenwahl bestimmen. 18 Ebenso wie es eine das Recht autonom und durchaus auch kritisch erforschende Rechtssoziologie bzw. Rechtstatsachenforschung gibt, sollte es eine das Recht erforschende Sprachwissenschaft geben. Um diese Notwendigkeit zu begründen, seien zur Veranschaulichung zwei Beispiele genannt: Im Arbeitsfeld der kriminalistischen Linguistik tritt immer wieder das Problem der Verlässlichkeit gutachterlicher Aussagen auf: 19 Liegen zum Bei- 18 Tiersma (2005, 242f.) differenziert zwischen einer kriminalistischen Linguistik, welche rein lösungsorientiert vorgehen und einer kritisch-aufklärenden Rechtslinguistik die problematisierungsorientiert sei: „Apart from its increasing promise in helping to solve specific crimes where language is an issue, linguistics may be even more useful in helping us understand important aspects of the legal system.” 19 Zur Gesamtproblematik vgl. Kniffka (1992, 163; 191f.). Sprachwissenschaft im Felde des Rechts 427 spiel bei einer Autorenerkennung Textdaten vor, so sollten diese einen möglichst großen Umfang aufweisen, um eine hinreichend verlässliche gutachterliche Aussage treffen zu können (vgl. Dern 2003, 70). Gemäß den allgemeinen Regeln der Statistik sind auch kriminalistisch-linguistische gutachterliche Stellungnahmen in Abhängigkeit von der Datenlage (Qualität, Quantität) in unterschiedlichem Ausmaß aussagekräftig. Von justizpraktischer Seite besteht die Erwartung, dass auch für ein wenig umfangreiches inkriminiertes Sprachdatenkorpus ein verlässliches Gutachten erstellt wird. Der Gutachter kann jedoch in Ermangelung einer breiten Sprachdatenbasis nur auf einem wenig aussagekräftigen Wahrscheinlichkeitsniveau bewerten, was wiederum dem justiziellen Auftraggeber in seinem Entscheidungsprozess kaum weiter hilft. Hier ist es nun Aufgabe einer empirischen Sprachwissenschaft, dem Justizpraktiker einschlägiges Methodenverständnis zu vermitteln. Der Linguist hat dabei die Seriosität seines Faches zu betonen und inhaltlich - in diesem Fall methodenfest - zu begründen. Als weiteres Beispiel sei die inzwischen schon traditionsreiche rechtslinguistische Diskursanalyse genannt: Hier konnte mehrfach belegt werden, dass es sich bei Gesprächen zwischen Vertretern des Kriminaljustizsystems und den Tatverdächtigen bzw. Angeklagten um eine in hohem Maße machtungleichgewichtige Situation handelt, in welcher Zeugen, Tatverdächtige bzw. Angeklagte mit bestimmten Fragetechniken um ihre Rederechte gebracht werden. 20 Es bedarf keiner längeren Erörterung, dass und warum solcherlei sprachwissenschaftliche Forschung dem in der Praxis tätigen juristischen Fachvertreter nicht gelegen kommt. 21 Die Beispiele legen den Schluss nahe, dass insbesondere eine proaktiv tätige Forensische Linguistik den Forschungsgegenständen Sprache und Recht in allen ihren Facetten gerecht werden kann. 4 Fazit Eine in der beschriebenen Weise auffallend breit konzipierte Forensische Linguistik kann man freilich auch ablehnen: Eine befriedigende Systematisierung dieses linguistischen Forschungsbereiches steht noch aus. Ebenso wäre die Abgrenzung zu bzw. die Zusammenarbeit mit anderen linguistischen Fachgebieten und der Rechtswissenschafft immer wieder aufs Neue zu klären. 20 Vgl. beispielhaft für den Polizeibereich die auch migrationslinguistisch interessanten Studien der Forschungsgruppe um Reichertz: Donk (2000) und Schröer (2000). 21 Die auf die (kriminal-)justiziellen Instanzen bezogenen Forschungsdisziplinen Kriminologie und Rechtssoziologie, welche ihrerseits zum Teil institutionenkritisch arbeiten, haben mit entsprechenden Zugangsproblemen im Forschungsfeld zu kämpfen. Gabriele Klocke 428 Dennoch sei dem Jubilar an dieser Stelle der ungehörig „bunte Strauß möglicher Themen“ 22 mit viel Freundlichkeit überreicht: Er enthält Forschungsfragen für noch viele Jahre. 5 Bibliographie 5.1 Gedruckte Literatur Ackermann, Rolf [Hrsg.] (2003): Handbuch der Kriminalistik für Praxis und Ausbildung. Stuttgart. Altehenger, Bernhard (1996): Forensische Texte. 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Stickel, Gerhard (2001): Vorbemerkungen über Sprache und Recht. In: Haß-Zumkehr, Ulrike [Hrsg.]: Sprache und Recht. Berlin, 1-6. Solan, Lawrence M./ Tiersma, Peter M. (2005): Speaking of crime. The language of criminal justice. Chicago. Wissenschaftlicher Rat der DUDEN-Redaktion [Hrsg.] (1999): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 3. Mannheim. 5.2 Elektronische Literatur Christensen, Ralph: Rechtslinguistik. Abrufbar unter http: / / www.recht-und-sprache. de/ index_rl.htm (Zugriff am 01.08.2006) (Hervorh. d. Verf.). Forschungsbericht 1997-98, Institut für Allgemeine Schprachwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Abrufbar unter http: / / www.unimuenster.de/ Rektorat/ Forschungsberichte-1997-1998/ fo11lb01.htm (Zugriff am 01.08.2006). The International Association of Forensic Linguists. Abrufbar unter http: / / www.iafl. org (Zugriff am 04.08.2006). Friedrich-Christian Schroeder Sprache und Recht Das Recht ist zu seiner Vermittlung auf das Medium der Sprache angewiesen, und da es nicht so sehr auf Macht als auf der inneren Anerkennung durch die „Rechtsunterworfenen“ beruht, hat die Sprache dabei eine besondere Bedeutung. Dieses enge Aufeinanderangewiesensein von Recht und Sprache ist seit Langem bekannt. Man hat jedoch den Eindruck, dass sich die Sprachwissenschaft der besonderen Bedeutung des Rechts als Gegenstand ihrer Forschung noch nicht recht bewusst geworden ist. Sprachhistorische Anthologien ignorieren die großen juristischen Texte, und auch für die Gegenwart beschränkt sich der Beitrag der Sprachwissenschaft zur Erforschung des Rechts im Wesentlichen auf stilistische Kritik an juristischen Texten und Empfehlungen für die Gesetzgebung. Auf der anderen Seite hat man den Eindruck, dass in der Gegenwart nischensuchende Sprachwissenschaftler geradezu über das Recht herfallen und nicht nur einen bunten Strauß möglicher Themen, sondern auch entsprechende Bezeichnungen präsentieren. 1 Es ist daher zu begrüßen, dass der Jubilar unbeeinflusst von derartigen Voreingenommenheiten einen Arbeitskreis mitbegründet hat und wesentlich mitgestaltet, der wohlweislich die neutrale Bezeichnung „Sprache und Recht“ trägt. Vor allen terminologischen Erörterungen erscheint es wichtig, zunächst einmal die in Betracht kommenden Fragestellungen zu sichten und sie dabei nicht zu kumulieren, sondern zu strukturieren. Dabei ergeben sich unseres Erachtens folgende Komplexe. 1 Die Sprache als Medium des Rechts Hierbei darf nicht der Eindruck entstehen, als ob „das Recht“ selbst eine Quelle der Sprache sei. Auch die Rechtstexte werden von bestimmten Akteuren sprachlich gestaltet. Insbesondere bei Gesetzen bleibt aber der „Gesetzgeber“ traditionell anonym und wird das Gesetz damit zu einer eigenen „Rechtsquelle“. Seit Langem hat sich die „objektive Auslegung“ gegenüber der subjektiven durchgesetzt. 1 Hierzu der Beitrag von Gabriele Klocke in diesem Band. Friedrich-Christian Schroeder 432 1.1 Spezifika der Rechtssprache Spezifika der Rechtssprache sind offensichtlich. Auf den ersten Blick fällt die Häufung von Substantiven und Relativsätzen ins Auge. Beispiel: „Wer eine andere Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung bei ihm oder einem Dritten zu Arbeitsbedingungen, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu den Arbeitsbedingungen anderer Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer stehen, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausüben, bringt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft“ (§ 233 Abs. 1 Satz 1 Strafgesetzbuch). Hier finden sich in einem Satz 22 Substantive und vier Relativsätze, alle ineinander verschachtelt. Dies führt dazu, dass in dem Hauptrelativsatz das Prädikat (bringt) 60 Wörter nach dem Subjekt (Wer) steht. Es handelt sich nicht etwa um eine verstaubte Bestimmung, sondern um ein Produkt der jüngsten Gesetzgebung: Die Vorschrift wurde am 11.02.2005 in das Strafgesetzbuch eingefügt. Ähnlich formuliert ist der in englischer und französischer Amtssprache abgefasste Rahmenbeschluss des Rats der Europäischen Union zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 19.07. 2002, den die Vorschrift in deutsches Recht umsetzt. Die Besonderheiten der Rechtssprache werden oft als Volksfremdheit und fehlende Transparenz beklagt, gelegentlich aber auch als besondere stilistische Qualität (Code Napoléon) gefeiert. 1.2 Unterscheidung und Untersuchung juristischer Textsorten Es ist allgemein bekannt, dass die Texte von Gesetzen, Verträgen und Urkunden höchst unterschiedliche Charakteristika aufweisen. Für Gesetze gibt es inzwischen umfangreiche Handbücher der zuständigen staatlichen Institutionen mit Anweisungen zu Grammatik und Stil. 2 Diese wurden von der Sprachwissenschaft überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen. Ein mögliches Forschungsobjekt ist auch der Sprachgebrauch in juristischen Institutionen wie Diskurse vor Gericht und die „Knastsprache“. 1.3 Einfluss der Rechtssprache auf die Alltagssprache Vor allem in der Vergangenheit hat die Rechtssprache häufig auf die Alltagssprache eingewirkt. So haben zahlreiche Formulierungen der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532 Eingang in die deutsche Sprache 2 Für die Bundesrepublik „Handbuch der Rechtförmlichkeit“ (1999). Hrsg. v. Bundesministerium der Justiz. 2. Aufl. Köln; für die Schweiz „Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes“ (2002). Hrsg. v. Bundesamt für Justiz. 2., überarb. Aufl. Bern. Sprache und Recht 433 gefunden, der bis heute andauert. Rechte dürfen nicht „verkürzt“, „abgeschnitten“ werden; Rechtsmittel werden auch heute noch „eingelegt“, Urteilsgründe „eröffnet“, Gerichtsentscheidungen werden als „Erkenntnisse“ und als „Endurteil“ bezeichnet. Auch heute geschieht manches „aus gutem Grund“. Manches geht „über das Verständnis“ von jemandem, Kosten sind „draufgegangen“ und „aufgelaufen“ (vgl. Schroeder 2000, 206). Die - falsche - Formulierung „Vortäuschung falscher Tatsachen“ ist aus dem Strafgesetzbuch in die Alltagssprache eingegangen. 1.4 Geschichte Die vorstehend aufgeführten Forschungsinteressen gelten auch für historische Rechtstexte, Gesetzestexte ebenso wie historische Urkunden und Verträge. Im Wintersemester 1998 veranstalteten der Jubilar und der Verfasser unter dem Thema „Recht und Sprache in der Frühen Neuzeit“ein gemeinsames sprach- und rechtswissenschaftliches Seminar über die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Carolina) von 1532, das wichtige gegenseitige Erkenntnisse erbrachte. Untersucht wurden u.a. die Verdachtsgründe der Carolina (Art. 33-44) aus sprachwissenschaftlicher und juristischer Sicht. Während die juristischen Teilnehmer über Strafe und Gerichtsverfahren und die Rolle der Folter in der Carolina referierten, sprachen die Linguiste über Sprache und Syntax der Carolina. 1.5 Ausländische Rechtstexte und internationaler Vergleich Alle vorstehend dargestellten Forschungsansätze gelten auch für ausländische Rechtstexte. Dabei ergibt sich von selbst der Reiz zu einem Vergleich mit entsprechenden deutschen Texten. Hierher gehört auch die Problematik der Übersetzung von Rechtstexten mit ihrer grundlegenden Alternative zwischen möglichst sinngerechter und möglichst wortgetreuer Übersetzung (vgl. Schroeder 2005, 236ff.). Das deutsche Gesetzbgebungshandbuch (s.o. 1.2) wurde wurde übrigens ins Russische und ins Chinesische übersetzt. 1.6 Auslegung von Rechtstexten Die Auslegung nach dem Wortsinn ist zwar - neben der historischen, der systematischen und der teleologischen Auslegung - eines der anerkannten Kriterien zur Auslegung von Rechtstexten. Diese Methode wird aber seit Jahrhunderten von der Rechtswissenschaft ohne Zuhilfenahme der Sprachwissenschaft bewältigt. In der Tat ist die sprachwissenschaftliche Problema- Friedrich-Christian Schroeder 434 tik hier so gering, dass ein größerer wissenschaftlicher Anteil nicht in Frage kommt. 3 Zur Untersuchung der Frage, ob bestimmte Äußerungen als Straftaten zu bewerten sind (z.B. Verbreitung von Pornographie, Aufruf zu Straftaten), wurden von den Gerichten verschiedentlich Wissenschaftler als Gutachter herangezogen. Allerdings ist die Bewertung einer Äußerung eher eine Aufgabe der Sprach- und Literaturwissenschaft. 2 Sprache als Gegenstand des Rechts 2.1 Sprachenrecht im nationalen Bereich Hierher gehören die Vorschriften über die Festlegung einer Staatssprache und die neuerdings zunehmenden Vorschriften über den Schutz der Staatssprache bzw. der Mehrheitssprache. Es gab und gibt zahllose Sprachgebote und -verbote. Ferner gehört hierher der immer wichtiger werdende Schutz der Sprache der Minderheiten. Hierzu hat Albrecht Greule einige aktuelle Forschungsaufträge vergeben (z.B. Mehlich 2005). Dabei unterscheidet er zu Recht Sprachenrecht und Sprachenpolitik. Auch die amtlichen Gesetzgebungshandbücher (s.o. 1.2) beruhen auf Rechtsvorschriften (das deutsche auf der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien). Zudem ist die Rechtschreibung seit Längerem ein Gegenstand der Regulierung. Die jüngste Rechtschreibungsreform in Deutschland hat neben sprachwissenschaftlichen auch rechtliche Probleme (Kompetenz, Haftung für Aufwendungen von Verlagen u.ä.) aufgeworfen. 2.2 Sprachenrecht im internationalen Bereich Hierher gehören die Bestimmungen der internationalen Organisationen über die Anerkennung bestimmter Sprachen als offizielle Sprachen. In der Europäischen Union ergeben sich hieraus zunehmend Probleme. 2.3 Historische Dimension Sprachpolitik mit rechtlichen Mitteln gab es auch schon in der Vergangenheit. So wurde die Goldende Bulle von 1356 in bewusster Anknüpfung an die Tradtion des Römischen Reiches in lateinischer Sprache verfasst. Vor allem nach Annexionen versuchen Staaten, die Sprache des verdrängten Staates zu unterdrücken (z.B. Verbot der deutschen Sprache in den unter polnische Verwaltung gestellten Gebieten nach 1945). 3 Der Bundesgerichtshof greift zur Auslegung des Merkmals „auf frischer Tat betroffen“ beim räuberischen Diebstahl auf den Duden zurück (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, 28. Band, 1979, 227). Sprache und Recht 435 3 Sprache als Identifizierungsmittel Sprache ist schließlich ein wichtiges Mittel zur Indentifizierung des Sprachverwenders, das insbesondere zur Ermittlung von Straftätern und zur Feststellung der Herkunft von Asylbewerbern, aufgefundenen Personen mit Gedächtnisverlust u.ä. dient. Dabei geht es um die Identifizierung individueller Sprachverwender. Die Identifizierung kann hier erfolgen durch die Analyse von Wortschatz, Satzbau, Dialekt u.ä. oder der nur akustisch feststellbaren Stimmfärbung. Gerade diese Anwendungsfälle erfreuen sich offensichtlich im angloamerikanischen Raum als „Forensic Linguistics“ großen Interesses. Es handelt sich jedoch um angewandte Sprachwissenschaft, wenn nicht gar um eine bloße Sprecherkennungstechnik, die eher in polizeiliche Labors und Kriminalämter als in die Wissenschaft gehört. Offensichtlich in Erkenntnis dieser Beschränkung bezieht die „Forensic Linguistics“ zunehmend auch die unter 1 dargestellten Probleme in ihr Forschungsgebiet ein. Übrigens ergeben sich hierbei wieder zahlreiche juristische Probleme (Zulässigkeit der Maßnahmen, Schutz der informationellen Selbstbestimmung u.a.). 4 Schluss Die Terminologie hat vor allem die völlige Heterogenität der unter 1 und 2 herausgearbeiteten Teilbereiche zu berücksichtigen. In den beiden Teilbereichen hat jeweils eine der beteiligten Disziplinen die Führung, im ersten Teilbereich die Sprachwissenschaft, die zweiten die Rechtswissenschaft. Daraus ergeben sich die beiden Bezeichnungen Rechtslinguistik und Sprachenrecht. Die Versuche, auch den zweiten Bereich der Linguistik zuzuschlagen, sind verfehlt. Als zusammenfassende Bezeichnung verbleibt nur - Sprache und Recht. Da der Zeitpunkt der Festschrift frühzeitig gewählt ist, besteht die Aussicht, dass Albrecht Greule noch längere Zeit den Arbeitskreis Sprache und Recht und über ihn hinaus die Sprachwissenschaft und die Rechtswissenschaft mit originellen Beiträgen bereichern und damit dazu beitragen wird, das vorstehend aufgeführte enorme Problemfeld wenigstens teilweise zu erschließen. 5 Bibliographie Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (1979). Hrsg. v. Mitgliedern des Bundesgerichtshofes und der Bundesanwaltschaft. Bd. 28. Köln, 227. Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes (2002). Hrsg. v. Bundesamt für Justiz. 2., überarb. Aufl. Bern. Handbuch der Rechtförmlichkeit (1999). Hrsg. v. Bundesministerium der Justiz. 2. Aufl. Köln. Friedrich-Christian Schroeder 436 Mehlich, Diane (2005): Sprachenrecht und Sprachenpolitik in Europa - am Beispiel Lettland. Magisterarbeit Universität Regensburg. Schroeder, Friedrich-Christian (2005): Probleme der Übersetzung von Gesetzestexten. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 117/ 1, 236ff. Schroeder, Friedrich-Christian [Hrsg.] (2000): Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. und des Heiligen Römischen Reiches von 1532 (Carolina). Stuttgart. 11 Theologie und Hymnologie Hermann Kurzke O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte Prolog Dieses Lied gehörte zu den vielen starken, später nie wieder überbotenen religiösen Erlebnissen meiner Jugendzeit, die ich in den 50er und frühen 60er Jahren im bayerischen Schwaben zubrachte. Es drückte, mit seiner wehmütigen Melodie, mit seinen Klagelauten und mit seinen sehnsüchtigen Anrufungen, die Quintessenz meiner Adventsstimmung aus, die sich aus allerlei schwer bestimmbaren Elementen zusammensetzte: einem Gefühl von Bedürftigkeit, Unverstandenheit, Dunkelheit, Einsamkeit, jugendlichem Durst der Seele und allgemeiner Klage über die conditio humana, das sich verband mit einer vagen Hoffnung auf Fülle und Freiheit, Licht und Verstehen, Nahrung und Trost. Es war nicht der „Sündenjammer“ (1,3), was mich plagte, sondern der Jammer des Menschseins überhaupt. 1. O komm, o komm, Emanuel! Nach dir sehnt sich dein Israel. In Sündenjammer weinen wir und flehn und flehn hinauf zu Dir. Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 2. O komm, Du wahres Licht der Welt, das unsre Finsternis erhellt! Wir irren hier in Trug und Wahn; Hermann Kurzke 440 o führ uns auf des Lichtes Bahn! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 3. O komm, Du holdes Himmelskind, so hehr und groß, so mild gesinnt! Wir seufzen tief in Sündenschuld; o bring uns Deines Vaters Huld! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 4. O komm, Erlöser, Gottes Sohn, und bring uns Gnad von Gottes Thron! Die Seele fühlt hier Hungersnot; o gib uns Dich, lebendig Brot! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 5. O komm, o komm, Gott Sabaoth, Du unser Hort in aller Not! Mit Jesses neuem Herrscherstab treib weit von uns die Feinde ab! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 6. O komm, o komm, Emanuel, befrei' Dein armes Israel! Die Sünde schloß die Himmelstür; Du öffnest sie, wir jubeln Dir. Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. Zum Singerlebnis gehörte die Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche. Man sang das Lied nicht zu Hause, um den Adventskranz versammelt, sondern mit Hunderten anderer Einsamer und Durstiger, als anonymer Bestandteil des „armen Israel“ (6,2). Bei diesem Lied (bei kaum einem sonst) gelang mir die Identifikation mit Israel mühelos. „Nach Dir sehnt sich Dein Israel! “ (1,2): In der Menge der Flehenden geborgen wurde singend unmittelbar evident, dass wir Christen nicht fertig Erlöste sind, sondern immer noch mit Israel auf den Messias warten. Dass hier die Fassung aus dem Augsburger Nachkriegsgesangbuch Laudate, das von 1948 bis 1975 in Gebrauch war, 1 an die Spitze gestellt wurde, hat hauptsächlich die erwähnten biographischen, kaum qualitative Gründe. 1 Hier in der Ausgabe Laudate. Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Augsburg, München/ Kempten 1962. O komm, o komm, Emanuel ist dort Lied Nr. 92. Als Quellennachweis wird für die Melodie „Kölner Gsb. 1852“ vermerkt, für den Text „Bone Cantate“. Dazu weiter unten mehr. - Für wertvolle Hilfestellungen bei den Recherchen für diesen Aufsatz danke ich Hansjakob Becker (Mainz), Dominik Fugger (Karlsruhe), Andreas Scheidgen (Mainz), Alexander Saberschinsky (Trier), Lukas Speckmann (Münster) und der Dom- und Diözesanbibliothek zu Köln. O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 441 Zugleich decke ich damit eine Verlegenheit zu: Unter den zahlreichen Fassungen, die man in Gesangbüchern des 20. Jahrhunderts findet, gibt es keine „beste“, hält keine einer kritischen Prüfung auf sprachliche, poetische und sachliche Konsistenz stand. Die Überlieferung des Liedes präsentiert durchgehend Mixturen aus Bruchstücken verschiedener Herkunft und verschiedener Sinnrichtung, verquirlt mit anonymen Zutaten, welche die Ausgangsidee des Liedes in der Regel nicht stärken, sondern verwischen. Versuchen wir, die wichtigsten Entwicklungsadern herauszuschälen. 1. Station: Die mittelalterlichen O-Antiphonen Als theologische und bildliche Ausgangsidee sind die seit dem frühen Mittelalter überlieferten O-Antiphonen zu betrachten: Sieben alttestamentliche, an Christus, der jedoch nicht genannt wird, gerichtete Rufe, die sich aus der Bildlichkeit der Messiaserwartung speisen. 2 O Sapientia, quae ex ore Altissimi prodiisti, attingens a fine usque ad finem fortiter, suaviterque disponens omnia: veni ad docendum nos viam prudentiae. O Adonai, et dux domus Israel, qui Moysi in igne flammae rubi apparuisti, et ei in Sina legem dedisti: veni ad redimendum nos in brachio extento. O Radix Jesse, qui stas in signum populorum, super quem continebunt reges os suum, quem gentes deprecabuntur; veni ad liberandum nos, iam noli tardere. O Clavis David, et sceptrum domus Israel: qui aperis, et nemo claudit; claudis, et nemo aperit: veni et educ vinctum de domo carceris, sedentem in tenebris, et umbra mortis. O Oriens, splendor lucis aeternae, et sol justitiae: veni, et illumina sedentis in tenebris, et umbra mortis. O Rex gentium, et desideratus earum, lapisque angularis, qui facis utraque unem: veni, et salva hominem, quem de limo formasti. O Emmanuel, Rex et legisfer noster, expectatio gentium, et Salvator erum: veni ad salvandum nos, Domine Deus noster. 2. Station: Ein lateinischer Hymnus des frühen 18. Jahrhunderts Daraus schuf ein Anonymus einen Hymnus, der (laut Bäumker 1883-1911, 419f. 3 ) erstmals Köln 1722 im Psalteriolum cantionum catholicarum gedruckt vorliegt: 4 2 Näheres bei Heil (2002). Der Text hier nach Breviarium Romanum, Ausgabe 1870. Eine deutsche Übersetzung (von Alex Stock) findet sich bei Heil (ebd., 87f.). 3 Die lateinische Vorgeschichte des Liedes habe ich nicht recherchiert, sondern verlasse mich im Wesentlichen auf Bäumker. 4 Der Text wird hier übernommen aus der Internetseite http: / / www.hymnsandcarol sofchristmas.com (Zugriff am 24.11.2006) (und mit einer um Wörtlichkeit, nicht um Po- Hermann Kurzke 442 1. Veni, Veni Emmanuel! Captivum solve Israel! Qui gemit in exsilio, Privatus Dei Filio. Komm, komm, Emanuel! Befreie das gefangene Israel! Das im Exil seufzt dem Sohn Gottes zugehörig. Gaude, gaude, Emmanuel Nascetur pro te, Israel. Freu dich, freu dich, Emanuel wird für dich geboren werden, Israel 2. Veni, O Jesse virgula, Ex hostis tuos ungula, De specu tuos tartari Educ et antro barathri. Komm, o Wurzelsproß aus Jesse Aus der Kralle des Feindes Aus dem Schlund der Unterwelt aus dem Abgrund der Hölle führe die Deinen heraus. Gaude, gaude, Emmanuel Nascetur pro te, Israel. 3. Veni, Veni O Oriens! Solare nos adveniens, Noctis depelle nebulas, Dirasque noctis tenebras. Komm, komm, o Aufgang Komm zu uns als Sonne Vertreibe die Nebel Und die gräßliche Finsternis der Nacht. Gaude, gaude, Emmanuel Nascetur pro te, Israel. 4. Veni, Clavis Davidica, Regna reclude caelica, Fac iter tutum superum, Et claude vias inferum. Komm, davidischer Schlüssel Verschließe die himmlischen Reiche Mach den Weg der Hohen sicher Und verschließe die Wege der Niederen. Gaude, gaude, Emmanuel Nascetur pro te, Israel. 5. Veni, Veni Adonai! Qui populo in Sinai Legem dedisti vertice, In Majestate gloriae. Komm, komm, Adonai, Der du dem Volk auf dem Berg Sinai Das Gesetz gegeben hast In der Majestät deiner Herrlichkeit. Gaude, gaude, Emmanuel Nascetur pro te, Israel. Das Verhältnis von Strophe und Refrain ist das einer Wechselrede. In der Strophe fleht das Volk Israel um Emanuel, im Refrain antwortet Gott Vater: Ja, er wird kommen, freu dich, Israel. Zwei der sieben Antiphonen gingen in dieser Version bereits verloren, was das Bewusstsein für die grundlegende Strukturidee aber nur geringfügig schwächt. esie bemühten Arbeitsübersetzung von mir versehen). Man findet dort auch die zwei zur Siebenzahl der O-Antiphonen fehlenden, aber nur selten überlieferten Strophen: 6. Veni, O Sapientia, Quae hic disponis omnia, Veni, viam prudentiae Ut doceas et gloriae. 7. Veni, Veni, Rex gentium, veni, Redemptor omnium, Ut salvas tuos famulos Peccati sibi conscios. O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 443 3. Station: Ein Kirchenlied der Aufklärung: Hermann Ludwig Nadermann 1810 Das deutschsprachige Lied ist eine Übertragung dieses lateinischen Hymnus. Es beginnt seine Karriere in einem Münsteraner Gymnasialgesangbuch, das Hermann Ludwig Nadermann im Jahr 1810 herausgegeben und größtenteils auch verfasst hat. 5 Der Text lautet: 1. O komm, o komm, Emanuel, Es sehnt nach dir sich Israel! In Angst und Jammer weinen wir, Und fleh'n, und fleh'n hinauf zu dir. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock' und jauchze Israel! “ 2. O komm, du wahres Licht der Welt, Und schein' in diese Dunkelheit! Wir irren hier in Trug und Wahn, Du bist es nur, der helfen kann. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock' und jauchze Israel! “ 3. O komm, du holdes Himmelskind, Des neuen Bundes Opferlamm! Wir seufzen tief in Sündenschuld; Du bringst uns deines Vaters Huld. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock' und jauchze Israel! “ 4. Erlöser, Heiland, Gottessohn, Wir hoffen Gnade nur durch dich! Verschlossen ist des Himmels Thor! Du nah'st und öffnest uns das Thor! „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock' und jauchze Israel! “ Eine weitere Strophe ging verloren. Von den einst sieben Angerufenen sind wörtlich nur noch Emanuel und Oriens vorhanden. Die Jesse- und die Adonai-Strophen sind restlos verschwunden. Von der Clavis Davidica bleibt nur noch die Metapher vom Öffnen und Schließen (4,3-4). Generell verschwindet das dezidiert Alttestamentliche der O-Antiphonen zugunsten von neutestamentlichen Christusprädikaten: „Erlöser, Heiland, Gottes Sohn“, „des neuen Bundes Opferlamm“ und besonders das weihnachtliche „Himmelskind“. Dadurch wird die Identifikation mit der Sprecherrolle „Israel“ erheblich geschwächt. Geblieben ist die auf „O Oriens“ rückzubeziehende Licht- Strophe, deren Metaphorik im aufklärerischen Zeitgeist um 1810 beliebt war und, diesem Standard folgend, gegen „Trug und Wahn“ in Stellung ge- 5 Eingesehen wurde das Exemplar der Dom- und Diözesanbibliothek Köln, das bei dem Lied handschriftlich den Verfasserhinweis „Nadermann“ enthält. Hermann Kurzke 444 bracht wird - wovon in den lateinischen Quellen keine Rede ist. Erstmals taucht die Sünde auf (3,3). Poetisch kommt Nadermann mit den paarweise gereimten achtsilbigen Zeilen der lateinischen Vorlage nicht gut zurecht. Er verzichtet auf den ersten Paarreim und weicht dadurch die relativ strenge, durch ihre Statik und Symmetrie eindrucksvolle Form auf. Auch die litaneiartige Einheitlichkeit der jeweils ersten Zeile (stets „veni“ plus Anrufung) kann er nicht durchhalten. Häufig kommt es, um die erforderliche Silbenzahl zu erreichen, zu Doppelungen („und fleh'n und fleh'n“), pleonastischen Füllwörtern („frohlock' und jauchze“) und identischen Reimen („Thor - Thor“). Die Gottesantwort „Bald kommt er, dein Emanuel“ ist bis an den Rand der Komik missglückt. 4. Station: Heinrich Bone 1847 Die nächste Station der Liedgeschichte ist Heinrich Bone, 6 der mit seinem Restaurationsgesangbuch Cantate (Mainz 1847) etliche vergessene Lieder wieder in die Tradition einzuspeisen vermochte. Darunter sind auch mehrere Neuübertragungen lateinischer Hymnen. Das bekannteste Lied aus diesem Bereich ist Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein, eine gelungene Eindeutschung des Veni creator spiritus. Bone ist ein Mann mit Bildung, Können und Geschmack. Er folgt nicht den Nadermannschen Spuren, sondern besinnt sich auf die lateinische Vorlage und bringt sie optimal zur Geltung: 1. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! In Angst und Elend liegen wir Und seufzen weinend nur nach dir. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 2. Ach komm, o komm, Emanuel, Befrei dein armes Israel! Mit Jesse's neuem Herrscherstab Treib weit von uns die Feinde ab. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 3. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! Geh auf, o Sonn! Mit deiner Pracht Zerstreu den Nebel und die Nacht! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 4. Ach komm, o komm, Emmanuel, 6 Näheres über Heinrich Bone findet man bei Schmidt (2005). O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 445 Befrei dein armes Israel! Mit Davids Schlüssel niedersteig, Schließ auf, schließ auf das Himmelreich! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 5. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! Komm, starker Gott, Gott Sabaoth, Mach frei dein Volk von aller Noth! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. Statik und Symmetrie des lateinischen Liedes werden hier hervorragend umgesetzt. Den die O-Antiphonen abschließenden und zusammenfassenden Emanuel-Ruf verwendet Bone geschickt als rahmenartige, in allen Strophen gleichbleibende Bitte („Befrei dein armes Israel! “), auf die der Refrain tröstend antwortet: „Bald kommt, bald kommt Emanuel! “ Vier der sechs Verszeilen stehen damit fest. Lediglich das Verspaar 3-4 gibt Raum für Variation. Hier fügt Bone immerhin vier der sieben O-Rufe ein: „Jesse“, „Oriens“, „Clavis Davidica“ und „Adonai“. Das streng alttestamentliche, noch durch keine christliche „Erlösung“ verwischte Bild bleibt gewahrt. Die Struktur einer litaneiartigen Folge von statischen Klagerufen, auf die echoartig die Trostzusage antwortet, erfüllt das Grundanliegen des Liedes überzeugend. 5. Station: Das Lied im Kölner Gesangbuch 1887 Nadermanns Lied hatte inzwischen eine ganz vorzügliche Melodie gefunden 7 und begonnen, sich im nordrhein-westfälischen Raum zu verbreiten. Andererseits war Bones Text fraglos besser. Einmal Eingesungenes lässt sich jedoch nur schwer vertreiben. Bone wird nirgends komplett übernommen. Stattdessen durchmischen sich die Texte. Bones Formulierungen dringen insbesondere in die Nadermannschen Schwachstellen ein. Schon bald kristallisiert sich eine im Kölner Raum bis zum Kölner Gotteslob stabile Fassung heraus, die wir hier nach dem Kölner Gesangbuch von 1887 wiedergeben. Sie besteht aus drei Schichten: Nadermann (recte wiedergegeben), Bone (kursiv) und anonymen Bearbeiterzutaten (fett): 7 Die Melodiegeschichte von O komm, o komm Emanuel kann hier nur gestreift werden. Der früheste bisher bekannte Nachweis der eingangs wiedergegebenen Melodie findet sich (als Melodie des lateinischen Veni veni Emanuel) in der Sammlung von Kirchengesängen für katholische Gymnasien (1836) (vgl. Bäumker 1883-1911, 419) und wird 1852 in die Notenausgabe von Bones Cantate übernommen. Sie ist aber wahrscheinlich älter. Weitere, zum Teil bis heute gebräuchliche Melodien entstehen im 19. Jahrhundert (vgl. Die Einheit im katholischen deutschen Kirchenliede 1911, 15-20). Hermann Kurzke 446 1. O komm, o komm, Emmanuel, Nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd' und Elend weinen wir Und fleh'n und fleh'n hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 2. O komm, du wahres Licht der Welt, Das unsre Finsternis erhellt, Geh auf, o Sonn, mit deiner Pracht, Zerstreu den Nebel und die Nacht. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 3. O komm, du holdes Himmelskind, Und rett' uns vor dem Fluch der Sünd'! Wir seufzen tief in schwerer Schuld, O bring uns deines Vaters Huld. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 4. O komm, Erlöser, Gottes Sohn, Und bring uns Gnad von Gottes Thron! Mit Davids Schlüssel niedersteig, Schließ auf, schließ auf das Himmelreich! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 5. Komm, starker Gott, Gott Sabaoth, Mach frei dein Volk von aller Not! Mit Jesses neuem Herrscherstab Treib weit von uns die Feinde ab! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! Man sieht, dass der Bone-Anteil von Strophe zu Strophe zunimmt, wobei am Ende zwei Verspaare aus verschiedenen Bone-Strophen zu einer neuen Strophe zusammengefasst werden. Die Bearbeitereingriffe sind in erster Linie metrisch orientiert. Sie ergänzen die bei Nadermann fehlenden Reime. Einen inhaltlichen Akzent setzen sie allerdings mit dem Begriff „Sünde“, den sie an zwei Stellen einfügen. Insgesamt entsteht ein Zwittergebilde mit sehr schwammigen Konturen. Strophe 1 entspricht noch der alttestamentlichen Messiaserwartung, mit einer Akzentverschiebung Richtung „Sünde“. Auf die Strophen 2 und 3 fällt das Licht des christlichen Weihnachtsfests. Die Strophen 4 und 5 versammeln den Restbestand der O-Antiphonen und wirken angehängt. In Strophe 5 ändert sich überdies die Kommunikationssituation: Nicht mehr Christus als Messias wird herbeigefleht, sondern Gott Sabaoth, der Herr der Heerscharen, nicht mehr der Sohn, sondern der Vater. Damit ist auch die Antwort Gottes im Refrain logisch hinfällig. O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 447 6. Station: Laudate Augsburg 1962 Als Beispiel für die Lage in den Diözesangesangbüchern der Nachkriegszeit werfen wir einen kurzen Blick auf die eingangs wiedergegebene Augsburger Fassung. Ihre Quellenangabe lautet „Bone Cantate“, aber sie besteht dominant aus Nadermann. Von Bone stammen lediglich der Refrain und die Verspaare 5,3-4 und 6,1-2. Wieder gibt es zahlreiche Bearbeiterzutaten, so vor allem die Reimergänzungen 3,2 und 4,2, das Wort „Sündenjammer“ (1,2), das Adjektiv „hold“ (3,1), das Verspaar 4,3-4 (Hungersnot - lebendig Brot) und das Schlussverspaar 6,3-4: „Die Sünde schloß die Himmelstür; Du öffnest sie, wir jubeln Dir.“ Der Jubel verdrängt hier vorzeitig die Klage, der Messias wird nicht mehr erwartet, sondern ist schon da und öffnet gerade die Tür des Himmels. Das Wort „Sünde“ kommt gleich drei Mal vor und bildet mithin einen starken Akzent. Im Gesamtbild sieht man ein Volk in Sündenjammer weinend, in Trug und Wahn irrend, in Sündenschuld seufzend und seelisch hungernd, das nach einem Erlöser ruft. Trotz aller Mischungen und Inkonsequenzen bleibt ein Grundimpuls des Liedes erhalten, der sich am Schluss in dem wirkungsstarken Boneschen Verspaar verdichtet: „O komm, o komm, Emanuel, befrei dein armes Israel! “ Das Lied ist schwer beschädigt, aber nicht zerstört. 7. Station: Das Lied im EinheitsGesangbuch Gotteslob von 1975 Zum Abschluss noch ein Blick auf die Lage im Gotteslob. Sie ist komplex, um nicht zu sagen: chaotisch. Das Lied konnte in den Stammteil nicht vordringen, befindet sich aber in 15 von 29 Diözesananhängen. Einige Blicke in dieses Gestrüpp. Münster 2000 druckt als Quellenangabe „T und M: Münster (Verspoell) 1850“, bringt aber dann den vierstrophigen Text der Nadermannschen Fassung mit Glättungen, Reimergänzungen und anderen kleinen Verbesserungen, ferner mit einer eigenen Melodie und um die „Himmelskind“-Strophe gekürzt, die im Vorläufergesangbuch noch da war (Ausgabe Münster 1971). Lüttich schreibt vorsichtig „T: Nach Veni veni Emanuel M: Christian Felix Ackens, Aachen 1841“. Textlich folgt der übliche Nadermann-Bone- Verschnitt mit eigenen Variationen. Das Passauer Gotteslob reduziert den Text auf zwei Nadermann-Strophen mit Bone-Refrain. Die Quellenangabe lautet „M: Gesangbuch Paderborn 1819 T: 1. Str. nach Veni veni Emanuel 2. Str. Thesy Schweitzer“, doch 2,1-2 ist original Nadermann, 2,5-6 ist Bone, so dass auf Thesy Schweitzer allenfalls das Verspaar 2,3-4 zurückgehen kann. Essen gibt als Quelle an: „Nach dem Veni, veni Emanuel, Köln 1722, übertragen von Hermann L. Adermann“, worauf die uns bekannte Fassung von Nadermann folgt, einschließlich Refrain („Frohlock' und jauchze...“) und mit wieder neuen Bereimungen der nichtgereimten Zeilen. Würzburg gibt rich- Hermann Kurzke 448 tig an „T: Münster 1810 M: Düsseldorf 1836“, bringt dann wie das Augsburger Laudate vier Strophen reimkorrigierten Nadermann mit Bone-Refrain und zwei Bone-Strophen mit Bearbeiterspuren. Der Österreich-Anhang schreibt „T: Veni, veni Emanuel, Köln 1722 M: Gesangbuch Paderborn 1619“, bei gleichem Text wie Würzburg und Augsburg. Trier schreibt „T: Köln 1722, M: Düsseldorf 1836“ und bringt eine etwas anders zusammengesetzte Kombination aus zwei Dritteln Nadermann und einem Drittel Bone. Das Augsburger Gotteslob gibt an: „T: nach Heinrich Bone, Cantate 1852 M: Kölner Gesangbuch 1852“ und druckt dann vier Strophen, deren Grundbestand Nadermann bildet, mit kleinen Änderungen, die wir schon kennen („Hungersnot“ - „lebendig Brot“) und einer fast neuen Schluss-Strophe: O „Gott mit uns“, wir harren dein, komm tritt in unsre Mitte ein! Die Sünde schloß die Himmelstür; du öffnest sie, wir jubeln dir. Von Heinrich Bone wurde lediglich der Refrain übernommen. Epilog Die geschilderten Prozesse als Reichtum katholischer Tradition zu bezeichnen wäre euphemistisch. Es handelt sich eher um Verwilderung und Verwahrlosung eines religiösen Sprechens, dessen ausgewaschenen Vokabeln mittlerweile jede Trennschärfe abgeht. Wenn ich für ein neues Gesangbuch eine Fassung vorschlagen müsste, würde ich die von Heinrich Bone (mit der Melodie aus Düsseldorf 1836) empfehlen, die den Weg in die Singepraxis bisher als ganze nicht finden konnte, obgleich sie poetisch und theologisch die beste ist. Bibliographie Bäumker, Wilhelm (1883-1911): Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen. Band IV. Freiburg. Bone, Heinrich (1847): Cantate. Mainz. Die Einheit im katholischen deutschen Kirchenliede (1911). Ediert von Gustav Erlemann. Trier. Heil, Ulrich Gabriel (2002): Gott, send herab uns deinen Sohn. In: Franz, Ansgar [Hrsg]: Kirchenlied im Kirchenjahr. Tübingen, 87-96. The Hymns and Carols of Christmas. Abrufbar unter http: / / www.hymnsandcarol sofchristmas.com (Zugriff am 24.11.2006). Laudate. Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Augsburg (1962). München/ Kempten. Nadermann, Hermann Ludwig [Hrsg.] (1810): Geistliche Lieder, nebst einigen Gebeten und Litaneyen, zum gottesdienstlichen Gebrauche des Münsterischen Gymnasium. Mit Erlaubniß der Obern. Münster, bey Friderich Theissing. O komm, o komm, Emanuel - Stationen einer Liedgeschichte 449 Sammlung von Kirchengesängen für katholische Gymnasien (1836). Hrsg. v. J.B.C. Schmidts, ordentlichem Lehrer am Gymnasium zu Düsseldorf. Düsseldorf. Schmidt, Rebecca (2005): Gegen den Reiz der Neuheit. Katholische Restauration im 19. Jahrhundert. Tübingen. Franz Simmler Liturgische Textsorten und Textallianzen 1 Problemstellung, Erkenntnisziel und terminologische Vorklärungen Im Rahmen der Konzeption des Handbuchs „Textsorten und Textallianzen um 1500“ werden die religiösen Textsorten der christlichen Religion in die sechs Kommunikationsbereiche der Bibel, der Liturgie, der Katechese, der Verkündigung einschließlich der Seelsorge, der Theologie und der Organisationseinheit der Kirche eingeteilt (Simmler 2000, 676 mit weiterweisender Literatur). Als terminologische Grundlagen dienen die Unterscheidungen von Text, Textexemplar, Textsorte mit ihren Textteilen und Teiltexten und der Begriff der Textallianz mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Eine weitere begriffliche Differenzierung hat Albrecht Greule (2003, 294) für den liturgischen Kommunikationsbereich vorgeschlagen, indem er die Messfeier der katholischen Kirche als „Großritual“ klassifiziert. Das Erkenntnisziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den theoretischen textuellen Status von sprachlichen Äußerungen zu klären, die einen liturgischen Bezug besitzen und in nicht-linguistischen Klassifikationen als Plenare, Lektionare, Evangelistare, Messbuch/ Missale, Agende/ Kirchenordnung, Messerläuterung, Messfeier (katholisch) und Messfeier/ Abendmahl (evangelisch) bezeichnet werden. Als Materialgrundlage werden dazu einmal deutschsprachige Überlieferungen aus der Zeit von 1475 bis 1525, dem im Handbuch zu behandelnden Zeitabschnitt, herangezogen, soweit dies für die Argumentation erforderlich ist. Eine vollständige Analyse bleibt den Handbuchartikeln vorbehalten. Zusätzlich wird auf die jeweils älteste deutschsprachige Tradition verwiesen. Wenn den deutschsprachigen Traditionen lateinische vorausgehen, wird von diesen ausgegangen. Die Grundlage der theoretischen Überlegungen und der empirischen Analysen bilden die in früheren Arbeiten vorgenommenen terminologischen Festlegungen, die den Handbuchartikeln zugrunde liegen sollen. So wird von ‚sprachlichen Äußerungen’ immer dann gesprochen, wenn gesprochene oder geschriebene Kommunikationsakte vorliegen, die an einen externen Kommunikationsrahmen aus Sprecher/ Schreiber, Hörer/ Leser, Ort und Zeit gebunden und linguistisch noch nicht klassifiziert sind. Der Begriff ‚Text’ wird universell definiert: „Ein Text ist ein Merkmalbündel, das aus den externen Merkmalen Sprecher/ Schreiber, Hörer/ Leser, Ort und Zeit und einer begrenzten Anzahl interner Merkmale besteht, die durch die Komponenten der Kohärenz und Kompletion Franz Simmler 452 miteinander verbunden sind.“ (Simmler 1984, 38 mit ausführlicher Begründung und weiterweisender Literatur) Mit dieser Definition werden generelle und übereinzelsprachliche Texteigenschaften erfasst. Unter Kohärenz sind die textuellen Merkmale der funktionalen und topikalen Sequenzbildungen zu verstehen und unter Kompletion die Existenz von Initiatoren und Terminatoren (= Merkmale des Textbeginns und Textendes), von einer Thema-Rhema-Abfolge und von einer Sprecherperspektive. Vom universellen Text-Begriff werden die einzelsprachlich gebundenen Termini ‚Textsorte’ und ‚Textexemplar’ unterschieden: „Eine Textsorte ist eine nach dem Willen der beteiligten Kommunikationspartner abgeschlossene komplexe -Einheit, die aus einer begrenzten Auswahl, einer besonderen Kombinatorik und einem regelmäßigen Vorkommen von externen und internen -Einheiten, den textuellen Merkmalen, besteht, die in konstituierender, identifizierender und differenzierender Sinnfunktion zu einem neuen, spezifischen Merkmalbündel zusammengeschossen sind.“ (Simmler 1984, 37 mit ausführlicher Begründung und weiterweisender Literatur) Die Textsorte ist eine Einheit der langue, die in der parole in einem oder mehreren konkreten Textexemplaren realisiert wird. Da die menschliche Kommunikation nur in der parole erfolgt, ist unter methodologischem Aspekt von den parole-Einheiten auf die langue-Einheiten zu schließen. Ein ‚Textauszug’ ist immer ein Teil eines Textexemplars und nie ein ganzes Textexemplar. Bei den Textteilen werden besondere Einheiten unterschieden, die als ‚Makrostrukturen’ bezeichnet werden: „Makrostrukturen sind textinterne, aus Ausdrucksseite und Inhaltsseite bestehende satzübergreifende Einheiten der langue, die gegenüber anderen satzübergreifenden Einheiten und hierarchisch gesehen kleineren Einheiten wie Satztypen eine distinktive Funktion besitzen und bei ihrem Auftreten mit ihnen zusammen größere Einheiten der langue, nämlich Textsorten, konstituieren, wobei sich je nach extern gewähltem Medium bzw. bei Medienkombinationen verschiedene auditive und/ oder visuelle Realisierungsformen ergeben können.“ (Simmler 1996, 612 mit ausführlicher Begründung und weiterweisender Literatur) Bei den Makrostrukturen wird eine zusätzliche Spezifizierung in Teiltexte vorgenommen, denn es gibt „eine Gruppe von Makrostrukturen, denen eine potentielle Texthaftigkeit zukommt. Dies liegt daran, daß vergleichbare Makrostrukturen in einer anderen externen Variablenkonstellation mit ähnlichen, jedoch nie völlig identischen textuellen Merkmalbündeln auch selbständig und mit eigenem Textsinn vorkommen können und dann Textexemplare konstituieren.“ (ebd., 617). Zu diesen Teiltexten gehören Gedichte, Lieder, Briefe, Dialoge in Textsorten wie ‚Romanen’ bzw. Text-Bild- Kombinationen und Tabellen in Textsortenvarianten wie dem ‚Bericht nach Ereignis’ in Tageszeitungen. Von den auf der Unterscheidung von langage, langue und parole beruhenden Definitionen ist der Begriff der ‚Textallianz’ zu unterscheiden. Unter Liturgische Textsorten und Textallianzen 453 ihm werden verschiedene Phänomene subsumiert (Schwarz 2001, 10f.). Von besonderer Relevanz ist der Terminus, wenn mit ihm Sammlungen von Textexemplaren einer einzigen oder verschiedener Textsorten bezeichnet werden. Von ihm können einmal die Phänomene der Intertextualität 1 abgegrenzt werden, bei denen explizite Bezugnahmen zwischen Textexemplaren einer oder verschiedener Textsorten vorliegen. Die Bezüge werden jedoch immer durch linguistische Einheiten hergestellt, die hierarchisch gesehen unterhalb der Einheit eines Textexemplars liegen. Zum anderen sollte der Begriff der Textallianz vom Diskurs-Begriff im Sinne Foucaults (1973, 171) unterschieden werden, soweit unter diesem „die Gesamtheit der Texte“ verstanden wird, „die über Gleiches bis Ähnliches sprechen/ schreiben.“ (Warnke 2002, 7). 2 Ein solcher Diskurs-Begriff, der als „Entgrenzung des traditionellen linguistischen Textbegriffs“ und als „tragfähiger Baustein für die kulturwissenschaftliche Ausweitung der Linguistik“ (ebd., 8; 15) angesehen wird, 3 setzt eine klare Begrifflichkeit von Text, Textexemplar, Textsorte und Textallianz voraus 4 und sollte nicht als eine Möglichkeit angesehen werden, auf eine solche Differenzierung zu verzichten bzw. verzichten zu können. 5 2 Sprachliche Äußerungen mit liturgischem Bezug 2.1 Plenar, Lektionar, Evangelistar und Epistolar Die Plenare, Lektionare, Evangelistare und Epistolare gehören zu den liturgischen Büchern. Unter liturgischen Büchern werden in der Tradition der katholischen Kirche „im weiteren Sinn alle schriftl[ichen] Hilfsmittel für das sprachl[iche] Element der Liturgie“ und „im engeren Sinn die v[on] der kirchl[ichen] Autorität herausgegebenen od[er] wenigstens bestätigten („promulgierten“) Text-(z.T. auch Riten-)Vorlagen“ (Häussling 1997, Sp. 995) verstanden. Die liturgischen Bücher sind für die Rollenträger gedacht: Für die Bischöfe und Priester entsteht das Sakramentar, der Kantor benutzt die Gesangbücher, das Antiphonale, das Graduale und die Hymnare, für den Lektor steht das Lektionar bereit. Für den Gebrauch in der Liturgie werden aus den Vollbibeln bzw. ihren Teilen, aus dem Alten und Neuen Testament, „besondere Buchtypen“ hergerichtet, das Psalterium, das Plenar, das Evangelistar und das Epistolar, und schließlich werden „Bücher“ geschaffen, „die, wie eine Partitur, alle in einer Feier benötigten Texte (u[nd] die zeremoniellen Weisungen) darbieten: für die Meßfeier das Missale, für 1 Vgl. dazu Bußmann (2002, 317), Glück (2000, 314f.) jeweils mit weiterweisender Literatur auf verschiedenste Verwendungsweisen. 2 Zu anderen Ausprägungen des Diskursbegriffes siehe Warnke (2002), ferner Bußmann (2002, 171f.); Glück (2000, 162-164). 3 Kritisch dazu Tegtmeyer (1997, 78). 4 Ähnlich auch in Bezug auf Text und Textualität Holthuis (1993, 29). 5 Dazu auch Heinemann (1997, 29-31). Franz Simmler 454 das Stundengebet das Brevier. Die Entwicklung ist bald nach 1000 abgeschlossen.“ (ebd., Sp. 996). In der lateinischen Tradition wird der Terminus ‚Plenar’ nicht einheitlich verwendet: „Plenarien nannte man im frühen MA jedes, bes. aber ein liturgisches Buch, das sonst getrennt auftretende Formeln und Texte für den praktischen Gebrauch in einem Sammelband vereinigt. Der Ausdruck kann ein Evangeliarum plenarius (erg.: liber), die vier Evangelien oder alle nt. Schriften enthaltend, ein Lectionarius p. mit allen gottesdienstlichen Lesestücken sowie das Vollmissale (missale p. oder plenum) bezeichnen, in dem alle Stücke der → Messe (: II), die zuvor auf das → Sakramentar, → Lektionar, Antiphonar oder Graduale ( → Liturgie: V) verteilt waren, in einem Buch gesammelt sind.“ (Dienst 1961, Sp. 417). In der deutschsprachigen Tradition werden mit Plenar „Bücher“ bezeichnet, „die neben den liturg. Texten oft durch Beigaben (Predigt; Gebet; Auslegung) ergänzt sind.“ (Reifenberg 1999, Sp. 354). Ähnlich formuliert Dienst (1961, Sp. 417), nach dem im „weiteren Sinne [...] auch die deutschen Meßerklärungen des MA zu den P[lenarien] zu rechnen“ sind. Ein Terminus, der 1. alle Evangelien, 2. das ganze NT, 3. alle gottesdienstlichen Lesestücke, 4. das Vollmissale und 5. die Messerklärungen umfasst, ist auch außerhalb textlinguistischer Klassifikationen unbrauchbar. Im Folgenden soll der Terminus nur in dem Sinne verwendet werden, dass er die gottesdienstlichen Lesestücke, d.h. die Perikopen aus den Evangelien und den Episteln, enthält. Die übrigen Verwendungsweisen der Bezeichnung ‚Plenar’ werden davon getrennt und in dieser Untersuchung nach ihren Strukturen und Funktionen neu und anders klassifiziert und definiert. Auch der Terminus ‚Lektionar’ wird nicht einheitlich, jedoch wesentlich einheitlicher als der des Plenars gebraucht. Nach Selle (1997, Sp. 805) enthält das ‚Lektionar’ „in der Ordnung des Kirchenjahres v.a. Lesungen aus der Hl. Schrift für den Gottesdienst“. Es wurde vom „Voll-/ Missale, das alle zu einer Meßfeier gehörenden Texte (Gebete, Lesungen, Gesänge) in einem Buch vereinigte“, verdrängt. Diese Definition findet sich auch bei Urner (1960, Sp. 311f.), doch kann nach ihm ein Lektionar „auch nur die nichtev[angelischen] Lesungen“ enthalten. Im Folgenden wird der Terminus ‚Lektionar’ nur für die erste Verwendungsweise gebraucht. Für eine Sammlung von Leseabschnitten aus den Episteln wird der Terminus ‚Epistolar’ verwendet. Das bedeutet, dass die Termini ‚Plenar’ und ‚Lektionar’ synonym sind. Eine terminologische Trennung ist zwischen ‚Evangeliar’ und ‚Evangelistar’ notwendig. Während das ‚Evangeliar’ die vier Evangelien vollständig enthält, sind in einem ‚Evangelistar’ nur die in Messfeiern verwendeten Evangelienperikopen enthalten. Eine Verwendung des Terminus ‚Evangeliar’ für beide Texttraditionen (Selle 1995, Sp. 1028) verdeckt die zentralen Struktur- und Funktionsunterschiede. Für ‚Evangeliar’ ist in der deutschsprachigen Tradition auch der Terminus ‚Evangelienbuch’ üblich. Vom Liturgische Textsorten und Textallianzen 455 ‚Epistolar’ ist die ‚Epistelsammlung’, die alle Episteln des Neuen Testament enthält, zu unterscheiden. Werden die so definierten liturgischen Bücher mit der Vollbibel bzw. ihren Teilen, dem Neuen und Alten Testament, verglichen und unter textlinguistischem Aspekt klassifiziert (Punkt 1.), dann ist die ‚Vollbibel’ oder ‚Gesamtbibel’ eine Textallianz aus Textexemplaren unterschiedlicher Textsorten. Dies gilt auch für die Textsammlungen des Neuen und des Alten Testaments. Die in ‚Evangeliaren’ zusammengefassten vier Einzelevangelien sind Textallianzen von Textexemplaren einer einzigen Textsorte, die aufgrund ihrer externen Variablenkonstellation und der internen Merkmale der Makrostrukturen und der syntaktischen und lexikalischen Merkmale als ‚(Geoffenbarter) Bericht’ klassifiziert werden kann (Simmler 2004, 506f. mit ausführlicher Definition und Begründung). Ebenso gehören die in ‚Epistelsammlungen’, also Textallianzen, zusammengestellten einzelnen Briefe als Textexemplare zu einer einzigen Textsorte, zur Textsorte ‚Epistel’ oder ‚Brief’, wobei die spezifische Funktion dieser Briefe im Vergleich zu gegenwärtigen Briefformen zu beachten ist. Die ‚Evangeliare’ und ‚Epistelsammlungen’ bilden also jeweils Textallianzen von Textexemplaren einer einzigen Textsorte. Die von Häussling als „Bücher“ und „Buchtypen“ klassifizierten Einheiten konstituieren keine Textexemplare und können daher auch nicht Textsorten zugeordnet werden. Mit ‚Buch’ und ‚Buchtyp’ wird lediglich eine mediale Präsentationsform gekennzeichnet, die zunächst handschriftlich erfolgt und nach der Erfindung des Buchdrucks dessen medialen Möglichkeiten folgt. Den Plenaren, Lektionaren, Evangelistaren und Epistolaren und den in ihnen enthaltenen Teilen fehlen die textuellen Merkmale der funktionalen und topikalen Sequenzbildung, der Thema-Rhema-Abfolge und der einheitlichen Sprecherperspektive, so dass sie nicht als Textexemplare klassifiziert werden können. Die Existenz von Initiatoren und Terminatoren reicht allein nicht aus, um ein Textexemplar zu konstituieren. Die in Plenaren, Lektionaren, Evangelistaren und Epistolaren zusammengestellten Teile sind Textauszüge aus größeren Einheiten und haben zu diesen einen ersten Intertextualitätsbezug. Der zweite Intertextualitätsbezug besteht zur Messfeier, in der diese Textauszüge im Rahmen einer neuen Kommunikationssituation mit einer spezifischen externen Variablenkonstellation und gemeinsam mit anderen textuellen Merkmalen zu einer neuen Sinnfunktion verbunden sind. Im Hinblick auf die bisher verwendete Terminologie müssen die Plenare, Lektionare, Evangelistare den Textallianzen zugeordnet werden, jedoch mit der Besonderheit, dass diese Allianzen als Sammlungen von Textauszügen, d.h. als Textteilallianzen, zu klassifizieren sind. Der Terminus der ‚Textallianz’ wird somit um den der ‚Textteilallianz’ erweitert, eine Erweiterung, die bereits Schwarz (2001, 10f.) nicht ausgeschlossen hatte. Seit dem 16. Jahrhundert nennt man „die Abschnitte, die der Bibel für den liturg[ischen] Gebrauch entnommen sind u[nd] nach einer bestimmten Franz Simmler 456 Ordnung bei den Gottesdiensten verkündet werden“ (Nübold 1999, Sp. 33), Perikopen. 6 Bevor Textteilallianzen geschaffen wurden, wurden die Perikopen im Gottesdienst aus Vollbibeln bzw. ihren Teilen, in denen Anfang und Ende der Perikopen markiert waren, vorgetragen. Zum Auffinden der Perikopen wurden Register beigegeben, die sich am Ablauf des Kirchenjahres orientierten. In der deutschsprachigen Bibeltradition ist die älteste Perikopeneinteilung in Behaims Evangelienbuch von 1343 vorhanden. In ihm ist sie mit den Textgliederungsprinzipien in Kapitel und Eusebianische Abschnitte verbunden (Simmler 2005, 202). 7 Durch die Perikopen werden u.a. Handlungen, Aussagen und Gleichnisse Christi begrenzt, d.h., die Perikopen markieren inhaltsseitig zusammengehörende Textteile. Nicht jeder inhaltsseitige (und auch ausdrucksseitige) Relationen zeigende Textteil besitzt jedoch den textuellen Status eines ‚Textes’ oder den eines ‚Textexemplars’. Wird der Terminus ‚Text’ jedoch in einem so weiten Sinne gebraucht, dann hebt er die hier getroffenen terminologischen Differenzierungen auf und wird - unter linguistischem Aspekt - unbrauchbar. In der deutschsprachigen Tradition stammt das älteste ‚Lektionar’ aus der Zeit um 1300. 8 Im Untersuchungszeitraum des Handbuchs kommen datierte Handschriften von 1485 und 1487 (Splett 1987, Nr. 126 und 108) 9 und Inkunabeln 10 vor. Das älteste deutschsprachige Evangelistar ist Ende des 13. Jahrhunderts überliefert. 11 In den Untersuchungszeitraum des Handbuchs gehört eine datierte Handschrift von 1476. 12 Die Epistolare sind in Handschriften nie isoliert überliefert, sondern sind immer mit Evangelistaren verbunden. Die älteste deutschsprachige Überlieferung ist von 1380/ 90 (Splett 1987, Nr. 11), aus dem Untersuchungszeitraum des Handbuchs stammen zwei datierte Handschriften von 1470 und 1474 (ebd., Nr. 18f.). Der Unterschied der gemeinsam in einer Handschrift tradierten Epistolare und Evangelistare zu den Lektionaren besteht in der Anordnung. Während in den Lektionaren die Perikopen aus den Episteln und Evangelien nach der Anordnung des Kirchenjahres pro Messfeier zusammen vorkommen, sind sie in den Epistolaren und Evangelistaren jeweils für sich nach den Messfeiern des Kirchenjahres angeordnet. 6 Zum Festhalten Luthers an der Perikopenordnung vgl. Friedrichs (2003, Sp. 1113). 7 Simmler (2005) auch zu Verbindungen der Perikopeneinteilung mit der makrostrukturellen Einteilung in Absätze. 8 Olmütz, Státní vedecká knihovna, Ms. 2 VIII 36 (348); dazu Splett (1987, Nr. 9) mit weiterweisender Literatur. 9 Dort auch zu weiteren handschriftlichen Traditionen. Zu einem Lektionar von 1464 liegt eine Teiledition und eine Untersuchung von Jeske (1974) vor. 10 Pietsch (1927, 244-258) nennt 57 Drucke, der älteste stammt von 1473. 11 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 952 Helmst.; dazu Splett (1987, Nr. 7). 12 Cgm 8118; dazu Splett (1987, Nr. 28). Zu vier Evangelistaren von der 2. Hälfte des 14. bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts legt Splett (1996) eine Edition mit ersten Untersuchungen vor. Liturgische Textsorten und Textallianzen 457 2.2 Messbuch/ Missale und Agende/ Kirchenordnung Neben den bereits behandelten liturgischen Büchern spielen in der katholischen Tradition das Messbuch/ Missale und in der reformatorischen Tradition die Agende/ die Kirchenordnung eine besondere Rolle. Die verschiedenen in den Messbüchern erkennbaren katholischen Traditionen werden in der Tridentinischen Reform im Missale Romanum von 1570 zu einem „Einheitsmissale“ zusammengefasst, das erst durch die Reform des Zweiten Vatikanums 1970 vom Missale Romanum ex decreto SS Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI. promulgatum abgelöst wurde (vgl. Niebergall 1977, 773; 775). 13 Nach Häussling (1997, Sp. 996) ist das Missale ein ‚Buch’, das die in einer Messfeier benötigten „Texte“ enthält. Auch nach Niebergall (1977, 771) ist das Missale ein ‚Buch’, das „alle Bestandteile der Messe“ in sich vereinigt. Auf die Regelungen von 1570 bezogen besteht ein Messbuch aus vier Teilen, aus dem Proprium Missarum de Tempore, aus dem Ordo Missae, aus dem Proprium Missarum de Sanctis und aus dem Commune Sanctorum. Der Ordo Missae enthält „die Texte der unveränderlichen Teile“ und „gibt die ‚Reihenfolge’ der einzelnen Teile der Messe an“ (Schott 1962, 45*), die drei übrigen Teile bieten die veränderlichen Teile für den Gebrauch in der Messfeier. Das Proprium Missarum de Tempore orientiert sich am Kirchenjahr und enthält „die Messen aller Sonntage, vom ersten Adventssonntag bis zum letzten Sonntag nach Pfingsten, sowie die Messen der Feste, die sich um die genannten Hauptfeste gruppieren.“ (ebd.). Das Proprium Missarum de Sanctis bietet „das Besondere der Messen von den Heiligenfesten“ (ebd.), das Commune Sanctorum enthält Messformulare für verschiedene andere Heiligenfeste, für Kirchweihfeste, Marienfeste, Votivmessen für die Wochentage und für verschiedene Anliegen, für Totenmessen und Orationen für verschiedene Anliegen (ebd.). Das Nebeneinander der Bezeichnungen ‚Texte’, ‚Bestandteile’ und ‚Teile’ für die Elemente der Einheit des Messbuchs und der Terminus ‚Buch’ für diese Einheit zeigt eine klassifikatorische Unsicherheit. Unter textlinguistischem Aspekt ergibt sich aus dem Aufbau des Messbuches, das es den Textallianzen zuzurechnen ist und nicht ein Textexemplar konstituiert. Es enthält wie die Evangelistare Perikopen aus den biblischen Büchern, also Textteile. Daneben sind jedoch auch Satzäußerungen wie Deo gratias (Dank sei Gott) und Kurzdialoge wie der Wunsch des Priestern Dominus vobiscum (Der Herr sei mit euch.) und die Antwort der mitfeiernden Gemeindemitglieder Et cum spiritu tuo (Und mit deinem Geiste.) und Elemente wie das Gloria, das Paternoster/ Vaterunser und das Credo enthalten. Das Gloria ist ein frühchristlicher Prosahymnus und gehört „seit karol[ingischer] Zeit z[um] festen Bestand auch der v[om] Priester geleiteten Meßfeier, außer in Bußzeiten.“ (Gerhards/ Lurz 1995, Sp. 751). Als Hymnus kommt es in anderen Kommunikationsbereichen selbständig vor und unter- 13 Ausführlicher dazu Jedin (1939, 30-66). Franz Simmler 458 scheidet sich so von den Perikopen. Im Messbuch ist das Gloria jedoch Textteil einer größeren Einheit. Wegen seiner potentiellen Texthaftigkeit erhält es den Terminus ‚Teiltext’. 14 Das Paternoster ist das Gebet des Herrn, das Christus seinen Jüngern als vorbildliches Gebet genannt hat. In den Evangelien des Matthäus (Mt 6,9-13) und Lukas (Lk 11,2-4) ist es in einer längeren und einer kürzeren Form tradiert; es ist in den Evangelien, die zur Textsorte ‚(Geoffenbarter) Bericht’ gehören, eine Makrostruktur, ein Teiltext. Diesen textuellen Status besitzt es auch im Messbuch, in das es in der längeren Form des Matthäus-Evangeliums aufgenommen ist (Jannasch 1962, Sp. 1235; Bitter/ Hunze 2001, Sp. 548). Seine Verwendung in anderen Kommunikationsbereichen zeigt sich bei der frühchristlichen Taufvorbereitung und nach der Taufe, nach der es „die Neugetauften z[um] ersten Mal zus[ammen] mit der Gemeinde“ (Wentz 2001, Sp. 549) sprachen. Losgelöst von den liturgischen Zusammenhängen kann das Paternoster auch individuell selbständig gebetet werden. Das Credo/ das Glaubensbekenntnis hat im Messbuch ebenfalls den Status eines Teiltextes. Wie das Paternoster ist es zunächst ein „wesentl[icher] Teil der Taufliturgie“ (Probst 1994, Sp. 1340f.); seit dem 5. Jahrhundert wird es in der Nicaeno-Konstantinopolitanischen Fassung in die Messfeier integriert (ebd.; Jammers 1957, Sp. 1880). Unabhängig vom liturgischen Bezug kann es in einzelnen Kommunikationssituationen isoliert verwendet werden. Gloria, Paternoster und Credo stehen in zwei zentralen Intertextualitätsbezügen. Allen dreien ist der Bezug zur Messfeier gemein. Gloria und Paternoster besitzen einen expliziten Bezug zu den Evangelien, zur Textsorte ‚(Geoffenbarter) Bericht’. Das Paternoster übernimmt vollständig den Wortlauf aus dem Matthäus-Evangelium, während im Gloria nur der erste Satz gloria in excelsis deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis (Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen, die guten Willens sind.) mit dem Ersatz von in altissimis durch in excelsis aus dem Lukas-Evangelium (Lk 2,14) stammt (Biblia 1994, 1609). 15 Die übrigen Sätze des Gloria sind Lobpreisungen Gottes und ein Bekenntnis zur Dreifaltigkeit, die keine direkten sprachlichen Vorbilder in der Bibel haben. Dies gilt auch für das Credo, das „in konzentrierter Form“ dem Glauben einer Glaubensgemeinschaft eine „verbindl[iche] Sprachgestalt“ (Feifel 1995, Sp. 707) verleiht und sich so von anderen religiösen Auffassungen abgrenzt (Waldenfels 1995, Sp. 699). Das Credo hat einen kontroverstheologischen Ursprung und ist eine monophysitische Reaktion auf das Chalcedonense (451) (Probst 1994, Sp. 1340). Die im Messbuch enthaltenen Elemente, die Textteile, Teiltexte und Sätze sind nicht durch die einen Text konstituierenden textuellen Merkmale miteinander verbunden. Sie stehen zum Teil unverbunden nebeneinander und bieten alternative Möglichkeiten zum Gebrauch in einer anderen Kommunikationssituation, in der Messfeier. Daher bildet das Messbuch eine besonde- 14 Zur terminologischen Begründung vgl. Simmler (1996, 617-624). 15 Die deutsche Übersetzung ist Schott (1962, 376) entnommen. Liturgische Textsorten und Textallianzen 459 re Form einer Textallianz, die als Textteil-/ Teiltextallianz bezeichnet werden kann. In der deutschsprachigen Tradition stammt das älteste Missale aus dem Jahre 1381. Es ist in einer Handschrift aus der Stiftsbibliothek Einsiedeln (Msc 435) überliefert. 16 In den evangelischen Kirchen, vor allem in den lutherischen Kirchen, versteht man gegenwärtig unter einer Agende „das Buch oder die Bücher, die die feststehenden und wechselnden Stücke, also das Ordinarium und das Proprium des Gemeindegottesdienstes und der gottesdienstlichen oder Amtshandlungen ( → Kasualien) enthalten.“ (Niebergall 1977, 756). 17 In den reformierten Kirchen werden dieselben sprachlichen Äußerungen als ‚Kirchenbuch’ oder einfach ‚Liturgie’ bezeichnet. Der Terminus ‚Agende’ wird seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts, z.B. in der Herzog-Heinrich- Agende von 1540, verwendet. In der Reformationszeit werden die Elemente des Gemeindegottesdienstes in Kirchenordnungen geregelt, die jedoch „über die Anweisungen zum Gottesdienst hinaus in der Regel meist umfangreiche Ausführungen über die neue Lehre und Bestimmungen für das kirchliche Leben insgesamt“ (Niebergall 1977, 756) enthalten. Nach Niebergall (ebd., 777f.) halten sich die „reformatorischen Konzeptionen auf liturgischem Gebiet“ zunächst „durchweg an die jeweils überlieferten Gottesdienstformen“, übernehmen aber nur das, „was dem Evangelium von der rechtfertigenden Gnade nicht widersprach.“ Da „die weltliche Obrigkeit den Anspruch erhob, auch in geistlichen Angelegenheiten wie gerade bei der Reform des Gottesdienstes Entscheidungen zu treffen“, kommt es im Laufe des 16. Jahrhunderts „zu einer kaum übersehbaren Zersplitterung auf liturgischem Gebiet.“ Die Kirchenordnungen stellen nicht wie das Missale die für die Messfeier relevanten Elemente zusammen, sondern verweisen nur auf sie. So regelt der „Artikel der ceremonien und anderer kirchen ordnung“ vom 10. Dezember 1525 für das Herzogtum Preußen (Sehling 1911, 30-38) nicht nur die mette und messe, sondern auch die vesper, die gefesse des sacraments, die tauf, die öffentliche busse, die ehe und den ehebruch, das begrebnis und die visitation. Zur mette wird u.a. ausgeführt: „Anzufahen wie gewöhnlichen domine labia mea ect. lateinisch oder deütsch nach bequemigkeit ane venite und antiphen und volgende zwene oder drei psalmen“, und zur messe wird u.a. bestimmt: „Darauf zur epistel sol der priester ein halb oder ganz capitel aus dem neuen testament, in Paulo anzufahen, durch alle episteln der aposteln, und acta apostolorum, am sontag und feiertagen, wo es die menige der zuhörer fordert auf dem gewonlichen predigstuel, an werktagen aber vor dem altar, gegen dem volk, wol laute, verstentlich und deütsch lesen, und pronunciren ane accent, damit die wort so vil bas vernommen werden von den umstendern.“ 18 16 Dazu die Handschriften-Beschreibung von Scarpatetti (1983, 55f.). 17 Dort auch weitere Ausführungen zur geschichtlichen Entwicklung. 18 Alle Zitate Sehling (1911, 31f.). Franz Simmler 460 Aus diesem Befund ergeben sich folgende Schlüsse: 1. Die Kirchenordnung ist im synchronen Zustand in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts weder in ihren Strukturen noch in ihren Funktionen mit der Textteil-/ Teiltextallianz des Messbuchs vergleichbar. 2. Die einzelnen Kirchenordnungen oder Agenden erfüllen alle Bedingungen einer Texthaftigkeit und sind keine Zusammenstellungen heterogener Textteile und Teiltexte. 3. Die Kirchenordnungen oder Agenden konstituieren eine spezifische Textsorte ‚Kirchenordnung’, deren Funktion es ist, Anweisungen für das Zusammenleben der evangelischen Gemeinden einschließlich der Regelungen für den Gottesdienst zu geben. Unter dem Aspekt einer Klassifikation der Textsorten der christlichen Religion gehören sie somit nicht zum Kommunikationsbereich der Liturgie, obwohl sie sich auf diesen auswirken, sondern zum Kommunikationsbereich der Organisationseinheit der Kirche. Eine Sonderstellung nimmt die sog. Wormser Messe von 1524 ein (vgl. Punkt 2.4); im Druck wird ein Messformular mit allen Teilen in deutscher Sprache für eine Messfeier wiedergegeben. Diese Zusammenstellung entspricht einer solchen, die aus dem Messbuch für eine konkrete Messfeier entnommen werden kann und in diesem für das jeweilige Fest im Kirchenjahr vorgeschrieben ist. Der Wormser Druck konstituiert eine spezifische liturgische Textsorte ‚Messformular’. 2.3 Messerläuterung Unter ‚Messerläuterung’ bzw. ‚Messerklärung’ werden „Bemühungen“ verstanden, „den Gläubigen die intentionale Teilnahme an der Eucharistiefeier, theologisch begründet, mit Nutzen für das rel[igiöse] Leben u[nd] die Spir[itualität] zu öffnen“, weil die Verwendung der lateinischen Sprache in der Messfeier „die Durchsichtigkeit des überkommenen Ritus“ beeinträchtigte (Häussling 1998, Sp. 162f.). Falk (1889, 2) fasst den Begriff der ‚Messauslegung’ viel zu weit, wenn er unter dem Terminus „alle alten Drucke“ subsumiert, „welche in irgend einer Weise mit der Meßfeier in Beziehung stehen“, und dann isolierte Messauslegungen, Messauslegungen im ‚Beschlossen Gart des Rosenkrantz Marie’, Postillen, Messformulare, Orationen der Sonntagsmessen, Gebet- und Erbauungsbücher mit Messandachten, Andachtsbücher und eine ‚Belehrung über die zwölf Früchte der heiligen Messe’ ohne weitergehende Differenzierung behandelt. Mit Recht wird diese mit dem Diskurs-Begriff von Foucault zusammenfallende Klassifizierung von Reichert (1967, CX, Anm. 485) zurückgewiesen, der selbst „zwischen dem theoretisch-lehrhaften Meßtraktat, der praktisch-pastoralen Meßauslegung und der allgemein-volkstümlichen ‚Meßandacht’“ unterscheiden möchte. Liturgische Textsorten und Textallianzen 461 Die älteste deutschsprachige ‚Messerläuterung’ ist eine Incunabel von ca. 1480, die vermutlich von Friedrich Creussner in Nürnberg gedruckt wurde. 19 Bereits im zweiten Initiator nach dem Titelholzschnitt wird die Konzeption der Messerläuterung deutlich: „Messe [<M> = In (6z); <E> = Maj] singen oder lesen wer das thun sol wenn wie oder wo Das werdent ir mit kurtzen worten vernemen vnd vnterweist Auch von der messe bedeutung vnd irer zirunge Des geleychen wenn wie vnd wer messe schuldig sey zu h ren was nutzes vnd gutheyt kumen den menschen die da mit andacht messe h ren Wem messe zu haben vnd zu h ren verbotten sey vnd es doch dar ber nit latt was dem dar auß volget vnd kumbt “. 20 Es geht um eine Erläuterung der Rahmenbedingungen, der externen Merkmale der Messe, um die Bedeutung der internen Merkmale der Messe und um die Funktion der Messe für die Zuhörer und um die Folgen für eine Nicht- Teilnahme an der Messe. Dieser Konzeption ordnen sich die Makrostrukturen unter: Auf Bemerkungen kirchenrechtlicher und pastoraler Art über Bau, Weihe und Rekonziliation des Kirchengebäudes, über Weihestufen, über Priester und Privilegien des Priesters, über Ämterverlust und Irregularität, über Sakrament und Priesterstand, über die Messe des guten und schlechten Priesters und über pastorale Anweisungen zur Messfeier (Reichert 1967, 1-13) folgen die Darstellung und Deutung der vorbereitenden Handlungen und Gebete in der Sakristei, die Deutung der Kirche und der heiligen Geräte und die Beschreibung des Weges des Priesters zum Altar einschließlich des Stufengebetes und der Begrüßungsriten (ebd., 14-47). Dann folgt die Erläuterung der Messe, die aus den vier Teilen 1. Von dem Introit biß zu dem Canon, 2. Von dem Canon biß auff das Pater noster, 3. Von dem Pater noster biß auf die Collecten und 4. Postcommunio bis Schlußevangelium besteht. Erläutert werden alle Elemente der Messfeier, d.h. sowohl die sprachlichen Teile als auch die rituellen Einzelhandlungen und die Sachen. Die Erläuterungen umfassen sachliche Worterklärungen und allegorische Deutungen in rememorativer, anagogisch-typologischer und tropologischer Form. Bei den sprachlichen Teilen der Messfeier folgt auf den lateinischen Teil die deutsche Übersetzung, an die sich vor den Erläuterungen manchmal noch eine Paraphrase anschließt. Zusätzlich werden noch Gebete als Andachtshilfen für den Laien hinzugefügt (vgl. Reichert 1967, XCI-CIX). Abgeschlossen wird die Messerläuterung durch den Terminator „Hie endt sich das buch das man nent die außlegung des ambts der heyligen messe “ (ebd., 208) mit einer zeitgenössischen Klassifikation als außlegung. 19 Zur Druckbeschreibung und zu den weiteren Traditionen siehe Reichert (1967, XIX- XXII; XXII-XXXII; XLVIII-LVI). 20 Vgl. Abbildung der ersten Textseite bei Reichert (1967, Beilage 2 nach XXXII; Seite 1 der Edition. - In = Initiale, z = zeilig, Maj = Majuskel, Unterstreichung = Fettdruck der beiden ersten Druckzeilen. Normalisiert wurden < > zu <s>, < > zu <ß> und < > zu <r>. Die Abkürzungszeichen wurden aufgelöst. Die Interpunktion wird beibehalten. Franz Simmler 462 Die Messerläuterung besitzt alle textuellen Merkmale, die sie als ein Textexemplar ausweisen: Die Erklärungsteile sind mit den übrigen Teilen systematisch in einer klaren Thema-Rhema-Abfolge, einer einheitlichen Sprecherperspektive und einer spezifischen Textfunktion verbunden. So entsteht anders als beim Messbuch eine geschlossene, die Teile integrierende und aufeinander beziehende Einheit. Wie im Messbuch fungieren die dort als Textteile und Teiltexte zu klassifizierenden Elemente auch in der Messerläuterung; die Gebete für die Laien sind in der Messerläuterung Teiltexte; alle Textteile und Teiltexte sind zu einer neuen komplexen Sinneinheit verbunden und konstituieren die Textsorte ‚Messerläuterung’. Die Teile, die zum Ordo Missae oder Ordinarium und zum Proprium gehören, besitzen eine zweifache Intertextualität. Sie zeigen Bezüge zur Textteil-/ Teiltextallianz des Messbuchs und solche zur Messfeier. Einzelne Teile, die Perikopen, haben noch einen dritten Intertextualitätsbezug zur Textsorte ‚(Geoffenbarter) Bericht’. Trotz ihrer liturgischen Bezüge gehört die Textsorte ‚Messerläuterung’ nicht zum Kommunikationsbereich der Liturgie, sondern wegen der primär erläuternden Funktion zum Kommunikationsbereich der Katechese, speziell der Gemeindekatechese, im Hinblick auf eine bewusste Teilhabe an der Messfeier. 2.4 Messfeier (katholisch) und Messfeier/ Abendmahl (evangelisch) In der katholischen Messfeier bilden die Textteile und Teiltexte des Ordo Missae und die aus den veränderlichen Teilen des Messbuchs in der Form eines Messformulars die verbale Basis einer konkreten Feier. Sie verbinden sich mit den Bewegungen des Priesters am Altar und seinen rituellen Handlungen und mit der überwiegend passiv beteiligen Gemeinde zu einer „harmonischen Einheit“, die „alle Sinnesbereiche“ erfasst (Sequeira 1987, 23). Der Gottesdienst erweist sich „als eine kommunikative Handlung, in der verschiedene Zeichensysteme - verbaler wie nichtverbaler Art - miteinander verschränkt im Vorgang der Kommunikation zur Anwendung kommen.“ (Bieritz 1987, 53). In der katholischen Messfeier existiert vor den Neuregelungen des Vatikanums II von 1970 folgende Abfolge verbaler und nonverbaler Elemente: Stufengebet, *Introitus, Kyrie, Gloria, *Tagesgebet, *Lesung, *Zwischengesänge, *Evangelium, *Predigt, Credo, *Offertorium, Bereitung des Brotes, Mischung des Weines, Bereitung des Wassers, Händewaschung, *Gabengebet, *Präfation, Sanctus, Bitte an Gott Vater um Annahme des Opfers, Bitte für die Lebenden, Bitte um Gemeinschaft mit den Heiligen, Wandlung, Gedächtnis des Erlösungstodes Christi, Bitte für die Verstorbenen, Schlusspreis, Pater noster, Brotbrechung, Agnus Dei, Kommunion, *Communio Liturgische Textsorten und Textallianzen 463 (Lied), *Schlussgebet, Entlassung und Segen, Schlussevangelium (Schott 1962, 46*). 21 Die einzelnen Textteile und Teiltexte werden durch die Handlungen des Priesters und die (zum Teil auch antwortend) teilnehmende Gemeinde zu einer neuen Einheit verbunden, so wie die erläuternden Teile der Messerläuterung dieselben Elemente zur Einheit der Textsorte ‚Messerläuterung’ verbinden. Der Unterschied besteht darin, daß die vorher schriftlich fixierten Elemente gesprochen werden und mit nonverbalen Handlungen verbunden sind. Beides reicht jedoch nicht aus, eine neue linguistische Einheit „Großritual“ zu begründen. Eine Festlegung des Textsorten-Begriffs auf geschriebene Äußerungen und des Redesorten-Begriffs auf gesprochene Äußerungen (vgl. Simmler 1978, 34f.) ist zwar möglich, doch besitzen sowohl Textsorten als auch Redesorten denselben sprachtheoretischen Status. Wird der Textsorten-Begriff für geschriebene und gesprochene Äußerungen verwendet, erweist sich zwar die ‚Messfeier’ unter Berücksichtigung der externen Variablenkonstellation, der rituellen Teilhandlungen des Priesters und der teilweise einbezogenen Gemeinde als ein komplexer Ritus oder ‚Großritus’, der jedoch der linguistischen Ebene der Textsorte zuzuordnen ist. Wegen der durch verbale und nonverbale Elemente in der externen Variablenkonstellation aus Priester, Gemeinde, Ort (Kirchenraum) und Zeit (Dauer der Messfeier) neu geschaffenen kommunikativen Einheit ist eine Zuordnung der Messfeier zu den Textallianzen nicht zu begründen. Unter textlinguistischem Aspekt ist die ‚Messfeier’ den Diskussionen im Medium des Fernsehens, die ebenfalls sehr ritualisiert sind, den Osterspielen, die ebenfalls vorher schriftlich fixierte Textteile mündlich und in nonverbale Handlungen einbezogen realisieren, und mit allen Aufführungen von Theaterstücken zu vergleichen, deren texttheoretischer Status als Textexemplar von Textsorten unbestritten ist. Um die (theologisch und nicht linguistisch) zu begründende Besonderheit der katholischen Messfeier hervorzuheben, kann die durch einzelne Messfeiern begründete Textsorte als ‚Sakramentaler Gottesdienst’ bezeichnet werden. 22 Die evangelische Messfeier in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt eine „Neuformung des Sakramentsverständnisses gemäß dem evangelischen Heilsglauben“. Alle reformatorischen Richtungen sind sich in der „Verwerfung des Meßopfers“ einig, weil man in ihr „Werkfrömmigkeit und Gefährdung des einen Opfers Christi am Kreuz“ sah, in der „Neuformung des A[bendmahl]sverständnisses ging man hingegen verschiedene Wege.“ (Graß 1957, Sp. 29f.). 23 Diese zeigen sich u.a. in Martin Luthers „Deudsche Messe und ordnung Gottes diensts.“ von 1526 24 und in der „Form vnd Ordenung der Euangelischen deutzschen Messen / wie sie z Worms gehalten 21 Die veränderlichen Teile sind mit einem Asterisk gekennzeichnet. 22 So Simmler (2000, 682-685) auf der Grundlage der Bestimmungen des Vaticanum II. 23 Zu den verschiedenen Wegen vgl. Staedtke (1977, 110-122) und Smend (1896). 24 WA. XIX, 72-113. Franz Simmler 464 wirt.“ 25 von einem unbekannten Verfasser von 1524. 26 Während Luther die Messteile nur nennt und einzelne Alternativen zulässt, 27 bietet die sog. Wormser Messe eine feste Abfolge und die Textteile in deutscher Sprache, vom Vaterunser jedoch nur den Beginn. Die Abfolge ist durch Überschriften markiert: „Wann der prister anzogen ist / so drit er vor den altar vnd spricht.; Anruffung der zukunfft des heyligen geystes.; Last vns betten.; Die beicht.; Absolution.; Eingang der Mess.; Psalmen.; Gloria.; Kirieeleyson.; Gloria in excelsis.; [Wunsch]; Antwort.; Die collect.; Epistel.; Euangelium.; Das Patrem.; Bereytung des kelchs.; [Wunsch]; Antwort.; Prefatio.; [Wunsch]; Antwort.; [Gebete]; Uffhebung des Sacraments.; Uffhebung des kelchs.; Gebete mit Vatter unser.; Agnus dei.; Nimpt der prister den kelch vnd spricht.; [Wunsch]; Antwort.; [Gebet]; [Wunsch]; Antwort.; Benedictio.; Nunc dimittis.“ 28 Gegenüber der katholischen Messfeier fallen vor allem die Veränderungen im Opferungsteil und im Wandlungsteil auf. 29 Wie dort bilden die einzelnen Elemente Textteile und Teiltexte einer neuen Sinneinheit. Wegen der gemeinsamen Textteile und Teiltexte stellt sich unter textlinguistischem Aspekt die Frage, ob eine Textsortenvariante oder eine neue Textsorte vorliegt. Wegen der Unterschiede im Sprachgebrauch, der Verwendung der lateinischen und der deutschen Sprache, und wegen des sich in den ausgelassenen und veränderlichen Elementen zeigenden anderen dogmatischen Grundverständnisses dürfte es begründet sein, eine eigene Textsorte ‚Gottesdienst’ oder ‚Abendmahl’ anzusetzen. 30 Vom ‚Sakramentalen Gottesdienst’ und vom ‚Abendmahl’ ergeben sich gemeinsame und unterschiedliche Intertextualitäten. Gemeinsam ist beiden Textsorten der Bezug zur Bibel; mit der Integration von Psalmen ist im ‚Abendmahl’ der Bezug zum Alten Testament ausgeprägter. Unterschiedliche Intertextualitäten existieren vom ‚Sakramentalen Gottesdienst’ zum ‚Messbuch’ und zur ‚Messerläuterung’ bzw. vom ‚Abendmahl’ zur ‚Kirchenordnung’ und zum ‚Messformular’ oder vergleichbaren, noch nicht den gleichen Grad der Verbindlichkeit signalisierenden Vorschlägen und Bestimmungen. 25 Faksimiledruck als Beilage zu Kosmos und Ekklesia. 26 Zur Datierung siehe Brunner (1953, 116f.; 159). 27 WA. XIX, 78f. 28 Zur Art der Normalisierung vgl. Anm. 20. In eckigen Klammern sind sprachliche Äußerungen angegeben, die keine Überschriften besitzen. Alle Überschriften sind durch ein Segmentierungszeichen zusätzlich zur verwendeten Drucktype hervorgehoben. 29 Dazu Meyer (1965, 389). 30 Dazu und zum Verhältnis zu Luthers Einteilung siehe Brunner (1953, 146-154). Liturgische Textsorten und Textallianzen 465 3 Ergebnisse Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: 1. Die Unterscheidung von Text, Textexemplar, Textsorte, Makrostruktur, Textteil und Teiltext bzw. Textallianz ist in der Lage, die verschiedenen sprachlichen Äußerungen mit liturgischem Bezug zu klassifizieren. Bei der Textallianz ist eine zusätzliche Differenzierung notwendig in Textexemplar-, Textteil- und Textteil-/ Teiltextallianzen. Eine neue linguistische Einheit ‚Großritual’ ist unter texttheoretischem Aspekt nicht zu begründen. 2. Die untersuchten sprachlichen Äußerungen sind innerhalb der christlichen Religion verschiedenen Kommunikationsbereichen zuzuordnen. Zum Kommunikationsbereich der Liturgie gehören die Textsorten ‚Sakramentaler Gottesdienst’, ‚Abendmahl’ und ‚Messformular’, die Textteilallianzen ‚Plenar/ Lektionar’, ‚Evangelistar’ und ‚Epistolar’ und die Textteil-/ Teiltextallianz ‚Messbuch’. Dem Kommunikationsbereich der Katechese ist die Textsorte ‚Messerläuterung’ zuzuordnen und dem Kommunikationsbereich der Organisation der Kirche die Textsorte ‚Kirchenordnung’. 3. Die Aspekte der Intertextualität und des Diskurses sind terminologisch deutlich von den strukturell und funktional begründeten Klassifikationen in Textsorten und Textallianzen zu trennen und setzen eine solche voraus, wenn sie linguistisch begründet sein sollen. 4 Bibliographie Bieritz, Karl Heinrich (1987): Das Wort im Gottesdienst. In: Gestalt des Gottesdienstes. Regensburg, 47-76. Bitter, Gottfried/ Hunze, Guido (2001): Vaterunser. In: Lexikon für Theologie und Kirche. X. Freiburg u.a., Sp. 548-549. Brunner, Peter (1953): Die Wormser deutsche Messe. In: Wendland, Heinz-Dietrich [Hrsg.]: Kosmos und Ekklesia. Festschrift für Wilhelm Stählin zu seinem siebzigsten Geburtstag 24. September 1953. Kassel, 106-162. Bußmann, Hadumod [Hrsg.] (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. I. Abt. Werke. Weimar 1883-1912 (= WA.). Dienst, Karl (1961): Plenarien. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. V. 3. Aufl. 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Freiburg u.a., Sp. 549-550. Heinrich Tiefenbach Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen im evangelischen Kirchenlied 1 Die Textquelle Die Vielfalt der Formen, die das im Beitrag von Hermann Kurzke (in diesem Band) behandelte Kirchenlied zur Bezeichnung Jesu Christi aufweist, hat für den vorliegenden Beitrag die Anregung gegeben, der Frage nachzugehen, welche sprachlichen Mittel für diese Aufgabe im gegenwärtig gebräuchlichen kirchlichen Liedgut eingesetzt werden. Ein ursprünglich geplanter Vergleich mehrerer Liederbücher erwies sich sehr rasch als viel zu umfangreich, so dass die Beobachtungen sich auf ein einziges Gesangbuch beschränken müssen. Durchgesehen wurde das Evangelische Kirchengesangbuch (EG), das im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen, der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich sowie der Kirche Augsburgischer Konfession und der Reformierten Kirche im Elsass und in Lothringen (Frankreich) erarbeitet wurde und seit dem ersten Advent 1996 im Gebrauch der Gemeinden ist. 1 Das Corpus bilden die Bezeichnungen aus dem sogenannten Stammteil, also die von 1 bis 535 (535 = 147,3) durchgezählten Lieder, die zum gemeinsamen Liedgut der genannten evangelischen Kirchen gehören. In den einzelnen Landeskirchen können, entsprechend dem Diözesanteil des Gotteslobs, Regionalteile hinzutreten, in Bayern etwa ein Abschnitt ‚Lieder für Bayern und Thüringen’ (Nr. 536-669). Diese Teile sind hier nicht systematisch ausgewertet, sondern nur gelegentlich herangezogen worden. Die Zitate aus dem EG werden im laufenden Text mit Ordnungsnummer und Strophe aufgeführt; die Notierung (147,3) bedeutet somit das Lied Wachet auf, ruft uns die Stimme, Strophe 3 (Gloria sei dir gesungen). Eine vollständige Darbietung des Materials von mehr als anderthalbtausend Belegen ist nicht möglich, doch soll versucht werden, einige Grundlinien zu zeichnen. Das Evangelische Kirchengesangbuch umfasst altes und neues Liedgut und spannt den Bogen von deutschsprachigen Fassungen neutestamentlicher Cantica über Hymnen und Sequenzen aus der Tradition der mittelalterlichen Frömmigkeit zu den Liedern der neueren Zeit. Jüngstes Datum für Lieder im Corpus ist das Jahr 1988 (EG 53; 154,6 und 229). Stark vertreten ist das traditionelle Liedgut des reformatorischen Zeitalters, doch auch aus den 1 Näheres (mit weiterer Literatur) bei Völker (2000, 769). Heinrich Tiefenbach 470 folgenden Epochen sind viele Lieder bis heute im lebendigen Gebrauch, wobei einzelne Autoren (etwa Paul Gerhardt) und Frömmigkeitsbewegungen (Pietismus, Erweckungszeitalter) die Sprache dieser Lieder stark geprägt haben. Im 20. Jahrhundert hat besonders die Zeit des Kirchenkampfs den Gemeindegesang mit neuen Liedern bereichert. Dazu treten in der Gegenwart Lieder aus der Ökumene, die zur Vielfalt beitragen. Damit ist der Bestand nur in groben Zügen umrissen, aber es wird schon deutlich, dass die Sprache der Lieder vom Deutsch des Spätmittelalters bis zur Gegenwart reicht und dass neben Originaltexte Übersetzungen fremdsprachiger Vorlagen treten. Ins Bewusstsein der singenden Gemeinde wird dieses breite Spektrum durch die Angaben von Autor und Zeit gebracht, die sich am Ende der Gesangbuchtexte finden. 2 Auch wird vermerkt, wenn es sich bei dem betreffenden Lied um eine Übersetzung handelt. In einigen Fällen ist die Version der Originalsprache beigegeben. Der Text der Lieder ist nicht ganz selten lexikalisch verändert worden, was eine eigene sprachwissenschaftliche Studie lohnen würde. Darauf wird nachfolgend nur in dem Maße eingegangen, wie die Beurteilung der untersuchten Christusattribute direkt davon berührt ist. Ein systematischer Vergleich der heutigen Textfassungen mit den ursprünglichen Versionen ist also nicht beabsichtigt. Vielmehr wird der Text des EG so genommen, wie er von den Redaktoren des Buchs gemeint ist, nämlich als Liedbuch für die Gemeinde der Gegenwart. Die Texte sind im Gesangbuch nach inhaltlichen Gruppen geordnet, innerhalb dieser Gruppen in der Regel chronologisch. Die Folge beginnt mit Liedern in der Ordnung des Kirchenjahrs. Daran anschließend stehen Lieder zum Gottesdienst samt den liturgischen Gesängen und zu den einzelnen Stationen des Gemeindegottesdienstes. Es folgen Lieder auf der Grundlage biblischer Texte (Psalmen, Cantica, Erzähllieder). Den letzten Komplex bildet ein mit ‚Glaube - Liebe - Hoffnung’ überschriebener Teil, der Gesänge zu den verschiedenen Situationen des christlichen Lebens enthält und mit Liedern zur Bestattung schließt. Die Autoren der Lieder, soweit sie nach dem Jahre 1500 wirkten, können meist einer der reformatorischen Kirchen zugerechnet werden. Ihre Sprache und Bilderwelt orientiert sich somit gewöhnlich an der Bibelübersetzung Martin Luthers, 3 die deshalb in diesem Beitrag für die biblischen Parallelen herangezogen wird. 4 Es sind aber, und zwar schon in den Vorläufern des EG, durchaus auch römisch-katholische Verfasser vertreten, deren Lieder hohen Bekanntheitsgrad haben können und zum Teil, wie etwa im Falle von Johann Scheffler (Angelus Silesius), von großer Wirkung auf das Schaffen evangelischer Liederdichter gewesen sind. 2 Die Angaben wurden im vorliegenden Beitrag übernommen, dazu die Nachweisungen im HbEG und HbEKG. 3 Zitiert wird in diesem Beitrag nach der Ausgabe letzter Hand 1545/ 46 (WA Deutsche Bibel) und der CD-ROM Lutherbibel (1545). 4 Die Abkürzungen für die biblischen Bücher richten sich nach den in RGG 8, XVIII, XXI, verwendeten Siglen. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 471 2 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes Bei der Zusammenstellung des Untersuchungsmaterials bestand ein Problem darin, den Begriff ‚Christusattribut’ trennscharf zu verwenden. Einige Formulierungen in den Liedern lassen nämlich offen, auf welche Person der Trinität sich die gewählten Bezeichnungen beziehen oder ob überhaupt eine einzelne dieser Personen angesprochen ist oder werden soll. Der Terminus ‚Christusattribut’ wurde daher recht restriktiv gehandhabt. Voraussetzung für die Aufnahme ins Corpus war es, dass explizit im Text und für den Textbenutzer erkennbar eine Bezeichnung des Gottessohnes beabsichtigt ist. 5 Damit sind Verwendungen erfasst, die schon lexikalisch diesen Inhalt implizieren (Sohn, ähnlich Bruder, Kindlein, Lamm, Mensch), aber auch solche, die sich erst im Textzusammenhang als Christusbezeichnungen erweisen. So etwa wird Gott in 15,3 (ebnet Gott die Bahn) dadurch als zugehörig erkennbar, dass der Begriff, obschon alttestamentliches Zitat (Jes 40,3), im Zusammenhang des Bußrufs Johannes des Täufers auf Christus als den nahenden Messias weist. So wird das Jesaja-Zitat bereits in der neutestamentlichen Vorlage verstanden (Mt 3,3 mit Parallelen). 6 Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass der Begriff Messias nur ein einziges Mal, und zwar eher beiläufig, als Christusbezeichnung auftritt (42,5). 7 Die Wendung Herr Zebaoth, im Alten Testament häufig gebraucht in der Bedeutung ‚JHWH der Heere/ Heerscharen’ (Jüngling 2001), wird in Martin Luthers Lied nach Psalm 46 ausdrücklich auf Christus bezogen (362,2 nach Ps 46,8,12), der einzige Fall im Material. Das Lexem Tröster, das im Johannesevangelium stets als Bezeichnung des Heiligen Geistes erscheint (Joh 14,16,26; 15,26; 16,7), wird im Kirchenlied öfters explizit für Christus verwendet (105,1; 232,1 u.ö.). 3 Jesus und Christus als Nukleus. Diminutivformen Der Überblick beginnt mit den Bezeichnungen, die allein oder als Kern (Nukleus) einer Attributgruppe auftreten. Die einfachste Form der Nennung ist der Gebrauch des bloßen Eigennamens (Jesus), wozu das sprachgeschichtlich als Attribut zu verstehende Christus heute wohl mehrheitlich als Teil dieses Propriums aufgefasst wird. Beide Elemente können je einzeln oder auch 5 Das Problem wurde im Konkordanz-Band des HbEG (Bd. 1) unterschiedlich gelöst: „Dabei umfaßt Gott auch Jesus Christus und den Heiligen Geist, es sei denn, diese haben eigene Gliederungsabschnitte“ (HbEG 1,10). Dementsprechend wird bei Wahrheit (ebd., 492) nur eine Kategorie ‚von Gott’ angesetzt, die auch explizite Christus- Nennungen enthält, hingegen bei Weg (ebd., 496) die Unterscheidung ‚von Gott’ und ‚von Christus’ durchgeführt. Gar keine Differenzierung zeigt etwa Gast (ebd., 141). 6 HbEKG 1,2,44. Die Bibelstellen, auf denen die Lieder beruhen, sind in diesem Handbuchband zum EKG einschließlich der Wendungen, die auf Assoziationen und Reminiszenzen beruhen, umfassend zusammengestellt. 7 Im Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Zürich 1988, zu mein Heiland geändert (HbEG 3, H. 3,12). Heinrich Tiefenbach 472 auch gemeinsam ohne erkennbare Funktionsunterschiede auftreten. Bei gemeinsamem Auftreten ist die Folge Jesus Christus obligatorisch. Das paulinische Christus Jesus ist nur einmal anzutreffen (51,4; Kurt Müller-Osten 1939/ 1950 8 ). Die Variante Christ wird aus versrhythmischen Gründen verwendet und ist zugleich häufig genutztes Reimwort (: ist, bist). Konkurrenzen mit dem gleichlautenden Appellativ Christ werden durch die Artikellosigkeit 9 des Namens und die Nichtteilhabe an der Numerusopposition verhindert. Sehr häufig ist ferner die Kombination mit Herr/ Herre als vorangestellter Apposition, wobei Herr Jesus Christ(us), Herr Jesu(s) und Herr Christ, nie aber *Herr Christus auftreten. 10 Ein spezifisches Problem ist die Flexion von Jesus Christus (die folgenden Bemerkungen gelten für einzelnes wie gemeinsames Auftreten beider Lexeme, wenn nichts anderes vermerkt ist). Die in den Originaltexten der älteren Lieder stets der lateinischen Flexion folgenden Dative und Akkusative (Jesu Christo, Jesum Christum) sind in den Stammteil-Fassungen des EG durchgehend durch die Grundform ersetzt. 11 Selten sind für den Doppelnamen erhaltene lateinische Vokative (Jesu Christe), die alle ohne Reimzwang erscheinen (6,2; 72,1; 145,7; 180.1; 217,1; 304,6). Bei Einzelgebrauch der Lexeme wird die Vokativform Jesu allerdings noch sehr häufig verwendet (zuletzt in einem Lied vom Jahre 1877: 375,4). Hingegen ist Christe im Einzelgebrauch auf wenige Lieder des 16. Jahrhunderts und liturgische Formeln beschränkt. Ferner tritt es in einem Lied vom Jahre 1676 (205,2) und in einem vom Jahre 1875 (92,1) auf, im letzten Fall wohl in Anlehnung an den zugrunde liegenden Hymnus des 9. Jahrhunderts (Rex Christe, factor omnium). 12 Der lateinische Genitiv (Jesu und Christi) ist hingegen durchgehend bewahrt worden und wird auch in Liedern des 20. Jahrhunderts konstant gebraucht (93,4; 97,1 u.ö.). Jesu Christi ist nur aus zwei Liedern des 16. und 17. Jahrhunderts zu belegen (202,7; 328,4). Die durchgehende Markierung des Genitivs entspricht den Flexionsverhältnissen einheimischer starker Substantive in der Gegenwartssprache, die flexivisch nur noch den Genitiv regelmäßig bezeichnen. Von daher muss der Versuch in einem Lied vom Jahre 1963, dem lateinischen Genitiv durch Artikelgebrauch auszuweichen (nimm an des Christus Freundlichkeit 56,4) als sprachlicher Missgriff bezeichnet werden. Der gleiche Autor (Dieter Trautwein) verwendet an anderer Stelle den lateinischen Genitiv durchaus (Glieder Christi 268,5), vielleicht 8 Die vierte Strophe ist das Ergebnis der Revisionsfassung (HbEG 3, H. 2,37). 9 Mit Numerale in 253,2: Wir haben eínen Christus nur. In die Nähe eines Appellativs kommt die Konkretisierung der Etymologie des Namens Jesus (Jehoschua ‚JHWH ist Hilfe/ Rettung/ Heil’): als ein Jesus Hilfe leist! (248,3). 10 Wohl dagegen postnuklear: Christus, der Herr 48,1 u.ö. 11 Im Regionalteil Sachsen auch Jesum Christum (780,2). HbEG 1,61-63 gibt bei den nichtattribuierten Christus-Belegen an, ob es Dativ- oder Akkusativformen sind. Bei Jesus (ebd., 256-260) sind hingegen nur Genitiv und Vokativ markiert, die formal ohnehin erkennbar sind. 12 Zu den Einzelheiten HbEG 3, H. 5,75-80. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 473 analog zur schwedischen Vorlage, wo allerdings der zweigliedrige Begriff auftritt (Jesu Kristi kyrka). Als Ausdruck sprachlicher Archaik ist der einzige lateinische Akkusativ im Corpus zu werten, was zudem durch den präpositionslosen Verbgebrauch verstärkt wird (wir glauben Christum, Gottes Sohn 184,1; in Rudolf Alexander Schröders Credo-Lied vom Jahre 1937, das auch sonst zahlreiche sprachliche Archaismen aufweist). 13 Adjektivische Attribute zu Christ kommen nur ganz vereinzelt vor: heilig Christ (105,1), der wahre Christ (141,3), bei Christus überhaupt nur einmal das Possessivpronomen (deinem Christus 212,4, a. 1982). Auch Jesu(s) wird selten adjektivisch attribuiert, gelegentlich mit lieber, vereinzelt gütiger, (herz)liebster, schönster, treuer, hier und da auch mit Possessivpronomen. Nur ein einziges Mal erhält der zweigliedrige Begriff ein Adjektivattribut (lieb Herr Jesus Christus 6,1). Die Diminutivform Jesulein erscheint achtmal, und zwar ausschließlich in Liedern des Weihnachtskreises. Dass diese Wortbildung den Revisionen getrotzt hat, ist wohl außer der Reimbewahrung (35,2; 60,3) Autoritäten wie Martin Luther (24,7,13), Nikolaus Herman (27,5), Philipp Nicolai (70,6) und Paul Gerhardt (39,6 14 ) zu verdanken, vielleicht auch Vertonungen wie dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Letztmalig tritt Jesulein in Michael Müllers Epiphaniaslied vom Jahre 1700/ 1704 auf (73,9). Das Beispiel gibt Anlass, generell einen Blick auf die Diminutiva zu richten, die als Christusbezeichnungen verwendet werden. Zu dem Simplex Kind, das ausschließlich in Liedern zu Advent und Weihnachten gebraucht wird, 15 tritt sehr häufig Kind(e)lein (26 Belege), und zwar ebenfalls in Texten der Zeit Advent bis Epiphanias, dazu einmal in einem Tauflied (203,1). Niemals jedoch werden *Kindchen oder überhaupt -chen-Suffigierungen verwendet, die hier offenbar schon immer als stilistisch unangemessen empfunden wurden. Die Unbefangenheit freilich, mit der in den älteren Liedern das schöne Kindelein (24,7) und schönstes Kindlein in dem Stalle (39,7) besungen wurden, 16 scheint in neuerer Zeit gänzlich verloren gegangen und der Besorgnis vor unangemessener Gefühligkeit und süßlicher Verkitschung gewichen zu sein. Joseph Mohrs holder Knabe im lockigen Haar (46,1), in der Kombination seiner Attributionen ganz singulär, 17 hat erst im EG in den Stammteil vordringen können, während es noch in den Vorgängern (Evangelisches Kirchengesangbuch und Deutsches Evangelisches Gesangbuch) in die Anhänge verwiesen wurde, schwerlich allein aus konfessionellen Gründen. Der Gefahr einer 13 Die Regionalteile, die das Lutherlied Christum wir sollen loben schon (Hahn 1967 Nr. 14) bewahren, haben die Akkusativform nicht angetastet. 14 Sein Wir singen dir, Immanuel ist nur in Regionalteilen vertreten (z.B. Jesulein Nordelbien 544,10). 15 Einmal auch außerhalb (312,7), aber auch dort als Zitat der weihnachtlichen Verheißung Jes 9,6. 16 In einigen Regionalteilen auch Christkindlein und Söhnelein. 17 Hold als Christusprädikat noch in 43,2 und du holder Freund 251,5 (Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf); im älteren Sinne von ‚gnädig’: 214,2. Heinrich Tiefenbach 474 missverstehenden Verharmlosung des Kinds in der Krippe wird in beklemmend-drastischer Weise in Jochen Kleppers Weihnachtslied vom Jahre 1938 (Du Kind in dieser heiligen Zeit, 50) das Passionsgeschehen entgegengehalten (vor deiner Krippe gähnt das Grab 50,3). Aussagen zum Kind-Werden Gottes dienen auch in den älteren Liedern nicht der Erzeugung einer gemütvollen Weihnachtsstimmung, doch ist der Gedanke der Inkarnation in manchen der dort auftretenden Formulierungen modernem Missverstehen oder gar Unverständnis ausgesetzt. So erfolgen dann bisweilen Eingriffe in das Liedgut, die ihrerseits wiederum Kritik hervorgerufen haben. 18 Als -lein-suffigierte Christusprädikation ist weiterhin Blüm(e)lein (7,3; 30,1-3; 70,2) zu nennen, das an Jes 11,1 anknüpft. Aus der Lutherbibel, die dieses Wort niemals verwendet, stammt es freilich nicht, sondern aus der vorreformatorischen Liedtradition. Zu erwähnen ist weiterhin Knäbelein (33,1). An Diminutiva ist sonst nur noch Lämmlein in Paul Gerhardts Passionslied (83,1,2; nur hier) zu erwähnen, 19 das keineswegs verniedlichend wirkt, sondern das Ausgeliefert-Sein und die Schutzlosigkeit Christi unterstreicht. Ganz außerhalb der bisher genannten Bezüge stehen die Christusbezeichnungen Brünnelein, Lebensbrünnlein (399,1,2,4), die in dem mit diesen Begriffen an Ps 65,10 (Gottes Brünlin hat Wassers die fülle), Ps 42,2 und Ps 36,10 anknüpfenden Lied von Johannes Mühlmann vom Jahre 1618 erscheinen. 20 4 Die Nuklei Sohn und Herr Einen sehr hohen Anteil an den Christusbezeichnungen hat das Lexem Sohn. Damit ist die Rolle Christi in der göttlichen Trinität zum Ausdruck gebracht, und eine Vielzahl der Belege stammt aus Strophen (nicht selten liedabschließenden), die das Gloria patri, den trinitarischen Lobpreis enthalten. Das pränuklear gebrauchte Attribut Gott(e)s (nur vereinzelt postnuklear: 20,5; 35,2; 66,2; 141,5), selten des Vaters (139,2; postnuklear 23,5; 59,2; 180.1; 180.3), verbalisiert die göttliche Natur, die jedoch sprachlich viel häufiger durch Possessivpronomina (dein/ sein Sohn) zum Ausdruck gebracht wird. Die Einzigartigkeit Christi wird durch die Adjekivattribute ein(i)ger und eingebor(e)ner bezeichnet, die in dieser Verwendungsweise und Kombination eben diese 18 Man vergleiche die Einwände von Christa Reich (HbEG 3, H. 4,24) gegenüber der Tilgung der siebten Strophe von Gerhard Tersteegens Jauchzet, ihr Himmel (41), die in der Bitte gipfelt Gib mir auch bald,/ Jesu, die Kindergestalt,/ an dir alleine zu kleben. 19 Nur einmal in der Lutherbibel, aber in anderem Zusammenhang (Lev 3,7), ferner milch Lemblin 1Sam 7,9. 20 Brünlin kommt dreimal in Luthers Bibel vor (Ps 46,5; 65,10, Jdt 7,7). Zum Schriftverständnis dieses Liedes HbEKG 1,2,440-442. Auf terminologische Gemeinsamkeiten mit Johann Arnds ‚Sechs Bücher vom wahren Christentum’ und ‚Paradiesgärtlein’ weist HbEKG 3,2,277f. hin. Das Lied ist nur eines der Beispiele, bei denen ein Zusammenhang der Sprache der Lieder mit der des erbaulichen Schrifttums besteht. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 475 spezifisch kirchensprachliche Sonderbedeutung haben. 21 Obwohl eingeboren, Lehnübersetzung von lat. unigenitus, bis heute im Credo verwendet wird und auch in der Revision der Lutherbibel vom Jahre 1984 nicht beseitigt wurde (Joh 1,14 u.ö.), erscheint das Wort im Liedgut letztmalig im Jahre 1768 (in der deutschen Te deum-Version 331,5). Die menschliche Natur Christi wird durch Sohn-Attribute seltener unterstrichen. Zu nennen sind die parallel geordneten Attribute Gottes und Marien Sohn (38,1; 70,2; 403,1), daneben noch vereinzelt die pränuklearen Genitive der Jungfrau (12,3), Marien (100,1-5; 442,3, also nur in schwach flektierter Form, niemals *Marias) und Davids (13,2,3; 71,1, als Präpositionalattribut aus Davids Stamm 19,2). Die Lieder entstammen fast alle dem Weihnachtskreis. Selten sind Komposita mit Grundwort Sohn, unter denen Gottessohn (77,3; 78,2; 86,2; 88,2; 100,4; 531,3) jedoch ebenfalls Menschensohn deutlich übertrifft, das lediglich in zwei Liedern des 20. Jahrhunderts erscheint (178.6; 271,7), was für diese Selbstbezeichnung Christi (Mt 8,20 u.ö., vgl. Müller 2002) überraschend selten ist. Der Grund könnte darin liegen, dass dieses Kompositum in der Lutherbibel nicht benutzt wird. Die zahlreichen Belege dort bezeugen ausschließlich die Wortgruppe (meist des Menschen son, vereinzelt andere Artikelwörter). 22 Einmaliges dieser menschen Son (Joh 12,34) nimmt ebenfalls eine vorangehende Wortgruppe auf (Des menschen Son mus erhöhet werden). Hochfrequent ist die Christusbezeichnung Herr/ Herre, die als Kern der Attributgruppe oder selbst in attributiver Funktion auftritt. Pränuklear attribuierend zu Herr erscheinen außer dem Possessivpronomen nur gelegentlich Adjektive, vor allem lieber, vereinzelt süßer (109,3; 213,1), treuer (441,1), heilger zu parallelem Herr und Gott (179,3). Das einzige Partizip Präsens (kommende 153,2, Kurt Marti 1971) scheint für den Sprachstil der Gegenwart charakteristisch zu sein. Selten sind postnukleare Genitive, am häufigsten Herr der Herrlichkeit (1,1; 9,1; 80,4), daneben der Engel (143,8), der Geister (357,3), der Gnaden (213,1), aller Herren (193,2, pränuklear 248,4), der Welt (42,4; 410,3). 5 Die Nuklei Heiland und Immanuel Eine exklusive Christusbezeichnung ist Heiland, das im Deutschen bereits früh als Lehnübertragung von lat. salvator heimisch ist. 23 Das in der Basis erscheinende Substantiv Heil wird gleichfalls häufig als Christusbezeichnung verwendet (nach Apg 4,12), etwas seltener das Nomen agentis Erlöser (nach Hi 19,25, in christologischer Deutung), das ebenfalls zu den kirchen- 21 DWB² 7,749 datiert die Ablösung von einig durch einzig noch vor das Jahr 1800. Zu 1 eingeboren s. ebd., 672f. 22 Im EG kommt des Menschen Sohn nicht vor, nur einmal im Regionalteil Württemberg in dem Lied Des Menschen Sohn wird kommen (558). 23 Zur Frühgeschichte des Wortes siehe Kolb (1987). Heinrich Tiefenbach 476 sprachlichen Lehnübersetzungen gehört (zu lat. redemptor). 24 Im Corpus ist Heiland gut vertreten (69 Belege), ganz vereinzelt in der Kombination mein Heiland Christus (111,1). Der Eindruck, dass sich Heiland in Kirchenliedern des 20. Jahrhunderts auf dem Rückzug befindet, gründet in der Beobachtung, dass von den wenigen Nachkriegsbelegen (53,2; 116,1 25 ; 292,4) die Mehrzahl auf Übersetzungen beruhen (aus dem Polnischen [Zbawiciel] und dem Suaheli, auch die Magnificat-Texte 309,1; 310). Nur zwei Belege stammen ferner aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von denen der erste (51,5) Reminiszenz an ein populäres Weihnachtslied (48,1) darstellen könnte, der zweite (Heiland, der uns mild verbindet 532,2, Jochen Klepper 1941 26 ) sprachlich/ stilistisch einen Habitus aufweist, der an Texte aus pietistischer Tradition anknüpft. Die sechs Gesangbuchbelege für Immanuel (6,3; 41,7; 42,5; 73,7; 121,1) 27 reichen zeitlich nur bis zum Jahre 1757 (Christian Fürchtegott Gellert), wenn man von dem Nachzügler des Jahres 1954 absieht (55,3), der in einer Übersetzung aus dem Englischen auftritt. 28 Diese Christusbezeichnung knüpft an das Prophetenwort Jes 7,14 an, das vielleicht ursprünglich einen Thronfolger für König Ahas zusagen sollte (Werlitz 1996; Schmid 2001), aber bereits im Neuen Testament als Verheißung Christi verstanden wird (Mt 1,23, dort mit der Übersetzung: ‚Gott mit uns’). Die Lutherbibel von 1545 schwankt zwischen den Formen Jmmanuel/ JmmanuEl (Jes 7,14; 8,8,10) und EmanuEl (Mt 1,23; so auch die griechischen und lateinischen Vorlagen), die in den heutigen Bibeln zu Immanuel vereinheitlicht sind, einer Graphie, die die Gesangbuchschreibungen übernehmen. 6 Prägungen nach neutestamentlichen Vorbildern Neutestamentlichen Vorgaben folgt auch die Christusbezeichnung Meister, die ihr Vorbild in der in den Evangelien gebrauchten Anrede für Christus (Mt 8,19; 23,8,10 u.ö.) hat und auch in den Liedern häufig erscheint (251,4; 357,3; 394,1,5 u.ö.). Bis in den Wortlaut hinein beruhen zahlreiche weitere Bezeichnungen auf solchem bibelnahen Sprachgebrauch, etwa Aufgang aus der Höh (450,4 nach Lk 1,78), Lamm, Gotteslamm (36,4 u.ö.; 96,1; 114,6 nach Joh 1,29,36), Trost (7,4 u.ö. nach Lk 2,25), Wort (8,1 u.ö. nach Joh 1,1-3). In vielen Fällen hat ein Ich bin-Logion aus dem Johannesevangelium als Bildspender 24 DWB² 8,1969 verzeichnet außerreligiöse Verwendungsweisen erst vom ausgehenden 15. Jahrhundert ab. 25 In der nicht in das EG übernommenen sechsten Strophe ein weiterer Heiland-Beleg (HbEG 3, H. 3,71, mit weiteren Angaben zu diesem Lied aus Tansania). 26 Die biographische Situation der unmittelbaren Bedrohung seiner Familie durch die Machthaber des Dritten Reiches, in der Jochen Klepper das Lied schuf, ist in HbEG 3, H. 8, 86—91 dargestellt. 27 Paul Gerhardts Wir singen dir, Immanuel, das im EKG noch im Hauptteil stand (Nr. 30, HbEKG 3,1,197f.), erscheint jetzt nur noch in einigen Regionalanhängen. 28 Dort our Lord Immanuel (HbEG 3, H. 5,45). Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 477 gedient. Genannt seien etwa die folgenden Bezeichnungen: Brot des Lebens (217,2 u.ö. nach Joh 6,35,48), Hirt(e) (20,5 u.ö. nach Joh 10,12), Licht (20,5 u.ö. nach Joh 8,12), Wahrheit (20,5; 74,3; 145,2 nach Joh 14,6), Weg, Himmelsweg (20,5; 206,4 nach Joh 14,6), Weinstock (206,4 nach Joh 15,5). Weiteres liefern die biblischen Gleichnisse, so das häufige Bräut(i)gam (33,2 u.ö. nach Mt 25,1- 13), Gast (10,2; 24,8, vgl. Mt 25,35), Perl (70,2, vgl. Mt 13,46). Weiterhin werden Formulierungen und Bilder der apostolischen Briefe übernommen: Fürsprech(er) (149,6; 366,4; 373,4, nach 1Joh 2,1), Haupt (112,6,7 u.ö., nach Eph 4,15; Kol 1,18), Glanz der Herrlichkeit (161,3 nach Hebr 1,3), Herzog der Seligkeit (90,2 nach Hebr 2,10), Liebe (98,1-3 u.ö., nach 1Joh 4,8), Mittler (42,7 u.ö. nach 1Tim 2,5; Hebr 9,15; 12,24). Der Gnadenstuhl Röm 3,25 erscheint (offenbar unter Einfluss von Luthers weit verbreiteten Predigten und Auslegungen 29 ) als Gnadenthron (38,1; 397,3). Recht häufig verwendet wird Morgenstern als Christusbezeichnung (16,1 u.ö., Apk 22,16), und auch der Löw aus Judas Stamm (114,6, Apk 5,5) sowie das A und O (35,1; 66,1; 70,7, nach Apk 1,8 u.ö.) entstammen dem letzten Buch des Neuen Testaments. Das Schmuckvokabular der Apokalypse hat besonders in Philipp Nicolais Epiphaniaslied Wie schön leuchtet der Morgenstern (70) eine Reihe von Bezeichnungen geliefert, die auch anderweitig verwendet werden (Krone, Perle, Kleinod, Schatz) und noch durch weitere Bibelstellen zu stützen wären (für Kleinod vgl. Phil 3,14). Die sozusagen ‚ästhetischen’ Christusprädikationen sind für das heutige Sprachempfinden womöglich etwas befremdlich. Das gilt vielleicht auch für die gar nicht so seltene Christusattribuierung Zier, die als solche allerdings nur in dem halben Jahrhundert der Jahre 1598 bis 1653 vertreten ist, vorwiegend, aber nicht ausschließlich (473,1) im Reim (11,1; 36,10; 346,5; 396,1; 400,1; 473,4). Auffällig ist bei dieser zeitlichen Beschränkung die eine Ausnahme eines Liedes vom Jahre 1952 (488,4, nach englischer Vorlage), wo man vielleicht doch Reimnot annehmen darf, die das Grimmsche Wörterbuch 30 insgesamt für das Überleben des im Barock noch häufiger gebrauchten, in der Lutherbibel nicht erscheinenden Wortes in Rechnung stellt. 7 Alttestamentliche Vorbilder und liturgische Bezüge Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss auf die Sprache der Lieder, die Bilder des Alten Testaments haben. Es sind solche Stellen, die oft schon in der rabbinischen Tradition als messianische Prophezeiungen verstanden und dann im christlichen Schriftverständnis, beginnend mit den Episteln und Evangelien, auf Jesus Christus bezogen wurden: Abrams Lohn (12,3, nach Gen 15,1), Held (4,2; 10,1 u.ö., nach Gen 49,10), Jakobs Stern (39,5, nach Num 24,17), Hüter (85,5; 373,4 u.ö., nach Ps 121,4), Nothelfer (60,3; 422,1, nach Jer 14,8; Dan 29 DWB 4,1,5 [8], 592 s.v. Der Hinweis wurde in HbEKG 3,1,198f. und HbEG 3, H. 3,9 nicht beachtet. 30 DWB 15 [31], 1139f. Heinrich Tiefenbach 478 6,27), Wurzel Jesse (70,1, nach Jes 11,1), weiterhin das Bild der Sonne (7,5; 11,10 u.ö.; Sonne der Gerechtigkeit Mal 3,20 [4,2]). Auch die Christusbezeichnung Knecht (16,2; 27,3,5; 78,2; 93,2; 346,2) ist nur auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund verständlich (dazu Haag 1997; Baltzer 2000). Viele der Gottesprädikationen des Psalters werden als Christusattribute gedeutet, so Fels, Hort (357,4; 385,3; 404,4 [Seelenhort], nach Ps 18,3 u.ö.), Freude, Wonne (35,1; 396,1,6, u.ö., nach Ps 43,4). Für die Kirchenbesucher waren und sind diese Bezüge besonders gut erkennbar, wenn sich die Lieder mit den entsprechenden Tageslesungen und liturgischen Gesängen verbinden. Wenige Beispiele sollen genügen. So erscheint Jes 11,1 in der alttestamentlichen Lesung zum Fest Mariä Heimsuchung (2. Juli) und zum Weihnachtsfest. Es kann ferner bei den zur Christvesper (Heiligabend) verlesenen Weissagungen auftreten, unter denen auch Jes 9,6-7 zu finden ist (aus der alttestamentlichen Lesung dieses Tages), in der das zwölfmal bezeugte Christusepitheton Friedefürst (13,1; 14,2; 20,6 u.ö.) erscheint. Aus Sach 9,9, dem Leitvers zum Adventsintroitus, stammen die Messiasbezeichnungen König, Gerechter, Helfer (1,1,2). Die Fortsetzung dieses Introitus aus Ps 24,7-10 enthält die Bezeichnung König der Ehren, die gleichfalls in die Reihe der Christusprädikationen übernommen wurde (29,1; 33,2 u.ö., auch Ehrenkönig 119,1; 256,3; 350,5). Für eine historische Analyse solcher Verwendungen ist zu beachten, dass der heutige Gebrauch von früheren Lektionsverteilungen abweichen kann. So gehörte Mal 3,20 in älteren Ordnungen zur Lesung am 2. Adventssonntag, Sach 9,9 war auch Lektion an Palmsonntag u.a.m. 8 Prägungen nach Bekenntnistexten Die Lieder zeigen weiterhin Christusprädikationen, die sich im Wortlaut an kirchliche Bekenntnistexte anschließen, soweit diese nicht ohnehin den biblischen Vorlagen folgen. Zu diesen Texten gehören etwa die Credo-Lieder (183; 184). Doch sind auch Formulierungen zu finden, die nur einzelne Wendungen aufnehmen, wie wahrer Gott (45,2 u.ö.) und du Licht vom Licht (74,1; 161,3) nach dem Nicänum. An den Wortlaut der Confessio Augustana (Art. 3) lehnt sich wahr’ Mensch und wahrer Gott (30,3; 422,1) an. Die im Neuen Testament (Joh 5,22; 12,48; Apg 10,42; 2Tim 4,8; 1Petr 4,5 u.ö.) und auch in den Bekenntnissen deutlich artikulierte Rolle Christi als Richter am Ende der Zeiten findet nur recht spärlichen Niederschlag in entsprechenden Christusbezeichnungen der Lieder. Alle drei Richter-Belege des Corpus entstammen dem Liedgut des 16. Jahrhunderts und haben altkirchliche Vorlagen (191, a. 1529, das Te deum; 3,5, a. 1523 den Hymnus Conditor alme siderum; 149,7, a. 1586, die Sequenz Dies irae). Das einst sehr populäre Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer vom Jahre 1970, das noch in einigen Regionalteilen erscheint, beginnt die letzte Strophe mit Herr, du bist Richter, doch liegt dort eine explizite Christusprädikation nicht vor, Ähnliches bei den Belegen EG 241,8; 280,2. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 479 9 Genitivattribute Pränukleare Genitive zu den Christusbezeichnungen sind nicht allzu häufig und beschränken sich meist auf die auch nach heutiger Syntax dort möglichen Typen (Namen und Namenäquivalente). Reste älterer Syntax wie der Heiden Heiland (4,1), der Jungfrau Sohn (12,3), des Lichtes Prediger (469,1), der Seelen Fels und Hort (385,3), deins Volks Israel Preis, Ehre, Freud und Wonne (519,4, nach dem Nunc dimittis) sind insgesamt selten und auf das ältere Liedgut beschränkt. Daher müssen meines Lebens Leben, meiner Seele Trieb und Kraft (406,1 vom Jahre 1833, im ersten Teil vielleicht ein Paul-Gerhardt-Zitat [36,10]), der schönsten Rose Flor (47,2 vom Jahre 1844) und besonders der Welten Christus (381,3 vom Jahre 1967) als ausgesprochene Archaismen gelten. Sehr wenige Belege erscheinen für postnukleare Adjektive, meist als Restformen eines freieren Gebrauchs der älteren Zeit oder als erweiterte Attribute 31 (Christus, blutend am Kreuz 381,3). Archaisch ist König mild (13,3 vom Jahre 1826). Überraschenderweise sind auch postnukleare Genitivattribute relativ selten. Häufiger sind nur die schon genannten festen Verbindungen wie Sohn/ Lamm Gottes, König der Ehren, Sohn des Vaters. Wenig zahlreich sind ferner Präpositionalattribute, die besonders zur Lokalisierung und Situierung verwendet werden (Mann von Golgatha 93,1 32 , Gott mit dem Antlitz des Menschen 153,4, Gotteslamm auf Erden 96,1, Sieger im Todesstreit 178.7 u.a.). 10 Besetzung der pränuklearen Position Im Blick auf die in pränuklearer Position auftretenden Pronomina und Adjektive ist festzustellen, dass die Gruppe der Possessivpronomina besonders gut vertreten ist, die den monologischen oder dialogischen Charakter des Liedes zusammen mit den verwendeten Personalpronomina steuern, so dass dein Heiland kommt zu dir (34,2) gegenüber mein Heiland ist mein Schild (112,7) eine andere Sprechsituation impliziert. Das Possessivpronomen der dritten Person kommt unter den Christusprädikationen überwiegend zusammen mit Sohn vor. Attributivische Adjektive erscheinen in aller Regel in Einzelstellung. Ausnahmen bilden heiliger, barmherziger Heiland (518,1-3, nach der Antiphon Media vita in morte sumus) und deinen rechten und ein’gen Sohn (191 in Luthers Te deum-Verdeutschung), postnuklear in du König groß und reich (24,11). Bei allmächtig starker Gotteshauch (255,6, auch als Prädikation des Heiligen Geistes aufzufassen) liegt in dem ersten Adjektiv wohl adverbieller Gebrauch vor. Auch eine solche Erweiterung ist nur an dieser Stelle zu belegen. Die öfters verwendeten Adjektive (über einig und eingeboren wurde bereits in Abschnitt 4 gesprochen) sind ewig, groß, heilig, höchster, lieb und (sehr 31 Weiteres hierzu in Abschnitt 11. 32 Der Ortsname Golgatha ist einzig in diesem Lied belegt. Heinrich Tiefenbach 480 häufig) liebster, recht, schön/ schönster, stark, süß, treu, wahr, wert. Gut tritt nur in Verbindung mit Hirt(e) auf. Heute singuläre Lexeme wie zweigestammt (12,3, Heinrich Held 1658) sind in der geistlichen Poesie des 17. und 18. Jahrhunderts häufiger anzutreffen. 33 Zur Steigerung werden neben dem Superlativ auch Präfixoide eingesetzt (wunderschön 70,6, wunderstark 10,1) oder zusätzlich zu morphologischen Mitteln verwendet (herzliebst 60,3; 81,1). Recht vereinzelt sind adjektivische Prädikationen, die das Passionsgeschehen ansprechen (erwürgt 114,6; 255,2 nach Apk 5,6 u.ö.). Für diese Aufgabe stehen eher Substantive bereit, am häufigsten Lamm, dazu die Komposita Gotteslamm (90,1; 96,1; 114,6; 192), Osterlamm (19,2; 101,5). Im Blick auf die in Liedern des 20. Jahrhunderts auftretenden Adjektivattribute ist eine deutliche Zurückhaltung bei ihrem Gebrauch in Christusprädikationen unübersehbar. Zwar fehlen nicht konventionelle Verbindungen wie heller Morgenstern (16,1), lieber Sohn (51,2; 208,1), lieber Herr Jesus (96,3), guter Hirt (20,5; 265,4), doch bleiben sie ziemlich vereinzelt. Heilsam Gnad (51,2, nach Tit 2,11) zeigt bereits in der sprachlichen Form altertümliche Züge (demgegenüber hat die Lutherbibel von 1545 heilsame gnade), ebenso o heilig Kind (55,3, neben dem heilgen Kinde 53,3). Ungewöhnlich ist das schon oben erwähnte Partizip Präsens kommende (153,2), wie überhaupt attributive Partizipien Ausnahme sind. Die Gründe dafür sind im folgenden Abschnitt zu erörtern. Traditionell, aber im bisherigen Liedgut nicht vertreten, sind du schöner Lebensbaum des Paradieses und gütiger Jesus (96,1, nach ungarischer Vorlage). 34 Auch für ältere Lieder glaubt man bestimmte Zeitströmungen erkennen zu können, etwa im Falle des Adjektivs süß, das als Erscheinung des barocken Sprachinventars anzusprechen und im Corpus der Christusprädikate erstmalig für das Jahr 1591 zu belegen ist (109,3). 35 Schon Gerhard Tersteegens süßer Immanuel (41,7, a. 1731) scheint ein Spätling zu sein und erst recht Ernst Moritz Arndts der süße Herr der Gnaden (213,1, a. 1819). 11 Satzförmige Attribute Die bisher besprochenen Christusprädikationen haben Substantive und Adjektive, ganz vereinzelt auch Partizipien erfasst. Schon auf diesem Gebiet war es nicht möglich, alle Fälle zu erörtern. Noch vielfältiger ist der Bereich 33 DWB 16 [32], 1051 mit Belegen. 34 Als nicht-christusspezifische Gottesprädikation ist gütig gleichfalls auffallend selten (nur 265,1; 363,7; 439,1; Allgüt’ger 513,2). Christian Keimanns Passionslied Sei gegrüßet, Jesu gütig (Fischer/ Tümpel 1964, 4, Nr. 16) hat keine Aufnahme in die neueren Gesangbücher gefunden. 35 Der Wortgebrauch ist freilich älter und findet sich etwa in dem bekannten Weihnachtslied Der Tag, der ist so freudenreich (Strophe 2: Ei du süßer Jesu Christ) im Klugschen Gesangbuch vom Jahre 1529 (HbEKG 3,1,166-169; Näheres zu den Wittenberger Gesangbüchern: HbEG 2,352-354), das noch in einigen Regionalteilen des EG auftritt. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 481 der satzförmigen Attribute, über die abschließend einige Beobachtungen mitzuteilen sind. Alle Christusattribute in Satzform sind Relativsätze, die, abhängig vom Bezugswort, gewöhnlich mit dem Relativpronomen der/ die/ das eingeleitet werden, gegebenenfalls mit der vom Verb des Relativsatzes geforderten Präposition: der Mann, der helfen kann, bei dem nie was verdorben (346,2). Sehr häufig ist weiterhin die Verwendung zusammen mit dem Pronomen der zweiten Person Singular (der du). Diese syntaktische Lösung ist dem Deutschen erstmalig bei der Verbindung des eigentlich auf die dritte Person bezogenen Relativpronomens mit einer flektierten Verbform der zweiten Person im Paternoster (qui es in caelis) abverlangt worden. Sie wurde in den Verdeutschungen lange mit der du bist im Himmel wiedergegeben. Selten ist das Einleitewort welch (Kind..., welches uns selig macht 30,2; Sohns..., durch welchen ich dein Kind und Erbe bin 328,5), und einmal wird das relativische Verhältnis durch ein (diskontinuierlich gebrauchtes) Pronominaladverb ausgedrückt (das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben 36,9, Paul Gerhardt 1653, heute ein eher umgangssprachlicher Gebrauch). Die Endstellung des finiten Verbs ist, wie die Beispiele schon zeigen, nicht stets eingehalten, zum Teil gewiss mit Rücksicht auf Rhythmus und Reim, bei den älteren Texten wohl auch als Reste der größeren syntaktischen Freiheit im subordinierten Satz, womit zugleich die Möglichkeit gegeben ist, durch Rechtsverschiebung bzw. Ausklammerung einem Satzglied ein stärkeres rhematisches Potential zu geben: der in Eil machet heil die vergift’ten Wunden (36,8). Vereinzelt kommt die Erscheinung noch in Texten der Gegenwart vor: der mich zu allen Zeiten kann geleiten (209,3, a. 1964, hier gleichfalls mit akzentuierender, durch den Reim gestützter Funktion). In dem schon erwähnten Credo-Lied Rudolf Alexander Schröders trägt die Abweichung von der heute üblichen Spannsatzstellung zum archaischen Sprachstil bei: den Sohn, der annimmt unsre Not, litt unser Kreuz, starb unsern Tod (184,3). Auxiliarverben sind nicht ganz selten erspart, und zwar bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein (der für uns in den Tod gegangen 256,1, a. 1824). 36 Die satzförmigen Attribute bieten den Vorteil, auf einfache Art durch mehrere Satzglieder erweiterbar zu sein, die syntaktisch betrachtet Verbergänzungen oder Angaben darstellen, selten nur einfache Prädikationen wie etwa in der Fels..., der diamanten ist 357,4. Meist enthält der Relativsatz neben dem Subjekt ein weiteres Satzglied oder auch mehrere. In stilistischer Hinsicht kommt so eine Auflockerung in das Gefüge hinein. Die Erweiterung eines Attributs ist hingegen nur durch andere Attribute in festgelegter Stellung möglich, wodurch sehr komplexe Einheiten mit straffer Spannung entstehen würden. Die Satzglieder eines Relativsatzes folgen demgegenüber 36 Hingegen wird man in Kurt Ihlenfelds Passionslied vom Jahre 1967 (Der Sohn, der es erduldet, hat uns am Kreuz entschuldet 94,5) mit einer finiten Präsensform zu rechnen haben, nicht mit einem Partizip II samt (aus stilistischen Gründen wegen der Wiederholung) erspartem temporalen Hilfsverb, was aber nicht wirklich sicher auszuschließen ist. Heinrich Tiefenbach 482 dem Prinzip der Reihung (Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt 98,1), die eine gewisse Spannweite zulässt: Christus, der Herr..., den Gott zum Heiland euch hat erkoren (48,1, a. 1870). Der Versuch, derartiges durch erweiterte Attribute wiederzugeben (*der euch von Gott zum Heiland erkorene Christus), zeigt die Schwerfälligkeit eines solchen Gebildes, das aber in der Sprache gerade auch der älteren Zeit durchaus auftreten konnte, man vergleiche etwa den Titel des bekannten Passionstextes von Barthold Heinrich Brockes Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus vom Jahre 1712. Im Material der Christusprädikationen kommt dergleichen nicht vor. In einigen Fällen wäre diese Umformung kaum möglich: dessen Heil und Gegenwart all Stund euch kann erfüllen (359,2, a. 1941). Die Zurückhaltung gegen Erweiterungen von Adjektiven und der nahezu vollständige Ausfall von pränuklearen Partizipialattributen lässt sich auf diese Weise zwanglos begründen: Der syntaktische Spannungsbogen, der vor dem Nukleus aufgebaut wird, darf nicht überdehnt werden. Anders ist es in postnuklearer Position. Hier bietet der Relativsatz die Möglichkeit, reihend weiteres rhematisches Material ohne Klammerüberdehnung zu bringen. So überrascht es vielleicht nicht, dass neben den (spärlichen) postnuklearen Adjektiven auch einige wenige erweiterte Partizipien zu finden sind: Christus, für uns gestorben (320,4), entsprungen aus des Vaters Schoß (399,1), o Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit erfunden geduldig (190.1), aus Gott geboren vor der Zeit, erhöht zu Gottes rechter Hand (184,1,4); Präsenspartizipien nur Christus, blutend am Kreuz, Christus, schreiend am Kreuz (381,3,4, a. 1967). Im Zusammenhang der satzförmigen syntaktischen Einheiten soll auf eine Erscheinung aufmerksam gemacht werden, die man als ‚absoluten Relativsatz’ bezeichnen könnte. Damit sind solche Sätze gemeint, die von der Form her Relativsätze sind, aber keinen substantivischen (oder pronominalen) Nukleus haben, sondern ohne Bezugswort selbst das Satzglied darstellen: Der am Kreuz den Sieg errang, der ins Reich der Himmel drang, ist nah auf eurem Wege (359,1). Diese Konstruktion wird auffallend häufig im Liedgut des 20. Jahrhunderts verwendet, aus dem auch das zitierte Beispiel stammt. Doch ist sie den älteren Texten nicht gänzlich fremd. Die syntaktische Erscheinung, die er „Relativsatz ohne Stütze“ nennt, steht nach Ansicht von Otto Behaghel (1928, § 1399) im Falle der Voranstellung unter lateinischem Einfluss und folgt der Analogie von Einleitungen mit verallgemeinernden Pronomina. Belege für derartige Sätze treten zwar spärlich, aber doch schon seit althochdeutscher Zeit auf. Man könnte sie als eine Form der Herausstellung des Relativsatzes betrachten, bei der das stützende Wort des übergeordneten Satzes erspart ist: Der sich den Erdkreis baute, der läßt den Sünder nicht (16,5) könnte syntaktisch gleichwertig zu *Der sich den Erdkreis baute, läßt auch den Sünder nicht umgeformt werden. Diese Probe zeigt, dass das Subjekt der des regierenden Satzes letztlich nur die Funktion eines Korrelats hat. Eine im allgemeinen Sprachgebrauch der Gegenwart sehr verbreitete Erscheinung wie der ‚freie Relativsatz’ ist allerdings nur bedingt vergleichbar, da er durch die Einleitung mit w-Pronomina gewöhnlich indefiniten Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 483 Charakter hat (etwa Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht 16,5), und das liegt bei den Liedbelegen gerade nicht vor. Der älteste Corpusbeleg für ‚absolute Relativsätze’ stammt aus dem Kindersegen des Heinrich Laufenberg vom Jahre 1430: Ein gute Nacht und guten Tag geb dir, der alle Ding vermag (468,4, syntaktisch unverändert gegenüber dem Original Wackernagel 1990, 2, Nr. 707). Für die Erststellung ist ein Lutherlied zu nennen (Der ohn Sünden war geboren, trug für uns Gottes Zorn 102,2). Gelegentlich erscheint als Satzeinleitung der du, wobei vielleicht ebenfalls ein bekanntes Lutherlied (Der du bist drei in Einigkeit 470,1) fördernd gewirkt haben könnte. Inhaltlich sind die Möglichkeiten, in Relativsätzen Aussagen über Jesus Christus zu machen, sehr vielfältig und stehen den Formulierungen der syntaktisch unabhängigen Sätze in nichts nach. Ein gewisser semantischer Einfluss ist durch das attribuierte Substantiv gegeben, aber die Spannweite ist doch so groß, dass eine auch nur annähernd vollständige Aufzählung nicht möglich ist. Einige wenige Beispiele neben den schon genannten müssen genügen. Häufig angesprochen werden in den Relativsätzen die Menschwerdung (der unser Bruder worden ist 6,1; der du heute Mensch für uns geboren 45,4) und die Erwählung durch Gott (den Gott selbst ausersah 16,3), das Leiden und Sterben (der du geduldig bist für mich am Kreuz gestorben 345,4), die Auferstehung und der Sieg über den Tod (der von dem Tod erstanden schon 109,1; der den Tod überwand 102,1). Damit ist Christus Überwinder aller Mächte der Finsternis (der seinen Feind gewaltig fällt 109,2), deren Dunkelheit er erhellt (Licht vom Licht, das durch die Finsternisse bricht 74,1), Inhaber der Allmacht (dem im Himmel und auf Erden alle Macht gegeben ist 406,2), der Heil und Hilfe bringt (der uns mild verbindet, die Wunden heilt, uns trägt und pflegt 532,2; der euch das Heil gewähret 346,3, der mir in aller Not Rat, Trost und Hilfe schafft 139,3) und die Menschen liebt (mein Heiland, der mich liebt 351,6). Weniger häufig in solchen Attributsätzen formuliert werden die Himmelfahrt und die Wiederkunft Christi, wie sie im Credo-Lied des Cyriakus Günther vom Jahre 1714 auftreten (der nach den Leidenszeiten gen Himmel aufgefahren ist; der einst wird wiederkommen und sich, was tot und lebend ist, zu richten vorgenommen 405,4,5). 12 Schlussüberlegungen Über das Gesangbuch ist gesagt worden, dass es „mindestens im evangelischen Bereich nach Bibel und Katechismus zu einem erstrangigen Medium der Frömmigkeit geworden“ ist (Völker 1984, 561). Im praktischen Vollzug des Gottesdienstes dürfte es heutzutage eher vor dem Katechismus rangieren. Die Art und Weise, wie in diesem Medium das Zentrum des christlichen Glaubens zur Sprache gebracht wird, ist daher aller Aufmerksamkeit wert. Der Überblick über die Christusprädikationen aus sprachwissenschaftlich-germanistischer Perspektive sollte an mancherlei Einzelheiten der Formulierungen aufzeigen, in welcher Weise die Texte ein sehr komplexes und Heinrich Tiefenbach 484 keineswegs einsträngiges Bild vermitteln, in das viele unterschiedliche Elemente eingegangen sind. Dazu gehören Redeweisen der kirchlich-theologischen Auslegungstraditionen ebenso wie Ausdrucksformen unterschiedlicher Frömmigkeitskulturen, wobei deren Nebeneinander bis heute andauern kann, teils aber auch Geschichte ist. Selbst dort, wo sich Autoren bemüht haben, unmittelbar aus der Sprache biblischer Texte zu schöpfen, sind Auswahl der Attribute, Schriftverständnis und Wahl der sprachlichen Form das Ergebnis von Prägungen, die durch zeitbedingte Spiritualität und kirchliche Sozialisation beeinflusst sind, und das kann wohl auch gar nicht anders sein. Spezifische Wortwahl, dazu eine Reihe von grammatischen Formen, lassen in manchen Fällen eine relativ genaue Fixierung dieser Faktoren zu, und solche Präferenzen sind bei älteren wie bei neueren Texten auszumachen. Insofern ist alles Liedgut im Wortsinn ‚historisches’ Sprachmaterial. Die im Gesangbuch auftretende Gleichzeitigkeit des Redens und Singens in sprachlichen Formen, die die Christenheit über die Jahrhunderte hinweg gefunden hat, kann Abstand und Vertrautheit zugleich in sich schließen. Abstand schaffen Wortwahl und Grammatik, die häufig keine Ausdrucksformen der Zeit sind, in der die Gesangbuchbenutzer leben. Revidierende Eingriffe aus sprachlichen, bisweilen auch aus theologischen Gründen sind aus dem Bemühen erfolgt, diesen Abstand nicht zu groß werden zu lassen. Nicht nur aus Respekt vor dem Erbe sollten sich solche Veränderungen weiterhin auf die Beseitigung von Unverständlichem und Fehlzudeutendem beschränken, auch um nicht die Integrität des Sprachkunstwerks zu zerstören, ein Prädikat, auf das viele der Lieder mit Recht Anspruch erheben können. Und weiterhin impliziert sprachlicher Abstand nicht notwendig emotionalen Abstand. Denn der Text der Lieder kann gerade auch wegen der Distanz vom bloßen Heute einen Raum der Vertrautheit und Beheimatung schaffen, der die mitsingenden und mitbetenden Teilnehmer am Gottesdienst durch den Vollzug zeichenhaft auf die Gemeinschaft weist, die sich in derartigem Handeln manifestiert. Hier hat die Sprache der Jetztzeit ebenso ihren Platz wie das Zeugnis derer, die vorausgegangen sind, mit denen sich die Gemeinde im Singen ihrer Lieder verbunden weiß. Und schließlich kann in der Zeitbedingtheit der Formen anschaulich erfahrbar werden, dass das Thema dieses Redens und Singens in sehr unterschiedlicher Weise zu Wort kommen kann, niemals aber in menschlicher Sprache restlos auszuschöpfen ist. 13 Bibliographie Baltzer, Klaus (2000): Gottesknecht. In: RGG 3, 1224-1226. Behaghel, Otto (1928): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 3. Die Satzgebilde. Heidelberg (Germanische Bibliothek I,10,3). DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 1-16, Quellenverzeichnis. Leipzig 1854-1971. Nachdruck Bd. 1-33, München 1984. Sprachwissenschaftliches zu Christusbezeichnungen und Christusattributen 485 DWB² = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Bd. 1ff. Leipzig 1983ff. EG = Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland, o. O., o. J. [als CD-ROM: ] Evangelisches Gesangbuch elektronisch. Stammteil und alle Regionalteile Deutschlands und Österreichs. Herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland. 2. Aufl. Stuttgart 2004. Fischer, Albert/ Tümpel, W[ilhelm] (1964): Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Bd. 1-6. Gütersloh 1904-1916. Nachdruck Hildesheim. Haag, Ernst (1997): Knecht Gottes. In: LThK 6, 154-156. Hahn, Gerhard (1967) [Hrsg.]: Martin Luther. Die deutschen geistlichen Lieder. Tübingen (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Neue Folge 20). HbEG = Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch. Bd. 1. Lippold, Ernst/ Vogelsang, Günter (1995): Konkordanz zum Evangelischen Gesangbuch. Mit Verzeichnis der Strophenanfänge, Kanons, mehrstimmigen Sätze und Wochenlieder; Bd. 2. Herbst, Wolfgang (1999): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs; Bd. 3, Heft 1-13. Hahn, Gerhard/ Henkys, Jürgen (2000-2006): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Göttingen. HbEKG = Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Hrsg. von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen unter Mitarbeit von Otto Schlißke. Bd. 1,2. Köhler, Rudolf (1965): Die biblischen Quellen der Lieder; Bd. 3,1. Weismann, Eberhard/ Mahrenholz, Christhard (1970): Liederkunde. Erster Teil: Lied 1 bis 175; Bd. 3,2. Stalmann, Joachim/ Heinrich, Johannes (1990): Liederkunde. Zweiter Teil: Lied 176-394. Göttingen. Kolb, Herbert (1987): Über Heilant als Eigennamen in der althochdeutschen Literatur. In: Bergmann, Rolf/ Tiefenbach, Heinrich/ Voetz, Lothar [Hrsg.]: Althochdeutsch. Bd. 2. Heidelberg, 1234-1249. Jüngling, Hans-Winfried (2001): Zebaot. In: LThK 10, 1389-1391. LThK = Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 1-11, 3. Aufl. Freiburg/ Basel/ Rom/ Wien 1993-2001. Lutherbibel = Die Luther-Bibel. Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912 [hrsg. von Mathias Bertram u.a.]. Berlin 2000 (Digitale Bibliothek, 29). Müller, Mogens (2002): Menschensohn im Neuen Testament. In: RGG 5, 1098f. RGG = Religion in Geschichte und Gegenwart. 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Andreas Wagner Gottes Konturen in der Sprache Körper und Emotionen Gottes in Psalmen und Kirchenliedern 1 Sprache und Texte als Gegenstand der Theologie und als Grundlage der Exegese In der (christlichen) Religion 1 wie in der Theologie geht es ohne Sprache nicht. Die alttestamentliche wie auch die neutestamentliche Tradition ist in (hebräischen und aramäischen bzw. griechischen) Texten gefasst und überliefert. Und (fast) jede Form von gelebter, aktualisierter, ausgeübter christlicher Religion funktioniert nur mit Sprache. Diese Aussage ist überkonfessionell und im wahrsten Sinne des Wortes „fundamental“. Verkündigung, Tradition, Gottesdienst, Gesang, Liturgie, Bekenntnis(se), Sakramente - selbst wenn man nur die allen Konfessionen gemeinsame Schnittmenge von Taufe und Abendmahl nimmt -, Seelsorge, Katechese, die meisten Formen von Diakonie u.v.a.m sind ohne Sprache nicht möglich. Christliche Religion und Sprache sind also kaum zu trennen, es gibt nur sehr wenige Momente christlicher Religion, die ganz ohne Sprache auskommen, etwa Handeln am Nächsten, Schweigen, Meditieren, Bildbetrachten/ -meditieren u.Ä. Nicht nur Sprache, auch das Nachdenken über Sprache gehört zur christlichen Religion (wie auch zur jüdischen) von Anfang an dazu. 2 Die Erzählung von der Benennung der Schöpfungswerke durch den Menschen in Gen 2 ist ein zentraler Akt der Sprachreflexion des Alten Testaments (vgl. Rad 1987, 57-59; Heller 1988, 71-82; Seebass 1996, 116; Büsing 1998, 191-208); seitdem begleitet das Nachdenken über Sprache die Theologie. In allen Zeiten der zweitausend Jahre nachbiblischer Theologie war die Theologie mit dem Nachdenken über Sprache eng verbunden, ja weithin hat die Theologie das Nachdenken über Sprache getragen, ich nenne nur für den deutschen und europäischen Sprachraum als Beispiele die Verschriftlichung althochdeutscher Sprachdenkmäler im christlichen Kontext (vgl. Wolff 2004, Kap. 3.1.1 1 Meine Perspektive als Exeget ist eine christliche Perspektive, der Kontext meiner Erörterungen sowohl der religiösen als auch der theologischen Aussagen ist daher ein christlicher. Sprache hat darüber hinaus natürlich für die meisten Religionen eine besondere Bedeutung, vgl. Mensching (1983, 9-33); Sawyer/ Simpson (2001); Kurz (2004); Bayer (2004). 2 In den meisten „Geschichten“ der Sprachwissenschaft wird die alttestamentlichjüdisch/ christliche Tradition daher auch berücksichtigt, vgl. Coseriu (1970); Arens (1974); Koerner (1995). Andreas Wagner 488 bietet hier einen Überblick), 3 die Philologia Sacra, 4 die Bibelübersetzungen, 5 die Herausarbeitung der Bedeutung der Sprache für Verstehen und Erkennen in der Hermeneutik Schleiermachers (vgl. Gadamer 1986; Rieger 1988) bis zur Formgeschichte (vgl. Wagner 1996, 117-129 (+ Lit., 149-163 passim); Ehlich 2000, 535-549; Wagner im Druck), dem exegetischen Vorläufer der Textlinguistik. Sprache selbst ist in der Religion Ausdrucks- und Handlungsmittel und in der Theologie das Medium, in dem und aus dem heraus sich Erkenntnis ereignet und konstituiert. 6 Es verwundert daher nicht, dass in neuerer Zeit vielfältige Wechselbeziehungen bestehen zwischen Theologie und Sprachwissenschaft, dass die Theologie in vielen Disziplinen auf linguistische Erkenntnisse, Methoden, Fragestellungen zurückgreift. Alle neueren theologischen Lexika bieten etwa Artikel zu dem Stichwort Sprache, Sprachwissenschaft/ Linguistik und vielen Teilausschnitten dieses Forschungsfeldes. 7 Und vielfältig werden sprachwissenschaftliche Erkenntnisse in den theologischen Einzeldisziplinen aufgenommen, vom Strukturalismus (vgl. Schlesier 1988-2001, 106-123) bis zur Sprechakttheorie (vgl. Wagner 1997; Wagner 2002, 55-83), von der Konversationslinguistik (vgl. Welke-Holtmann 2004) bis zur Schlüsselwortforschung (vgl. Diesel 1996) u.Ä. Wie wollte man auch etwa eine hebräische Grammatik schreiben, ohne auf Fragestellungen der Sprachwissenschaft einzugehen? 2 Erkenntnisinteressen Die Erkenntnisinteressen von Sprachwissenschaft und Theologie sind nicht deckungsgleich. Gegenstand der Sprachwissenschaft ist „Sprache“ 8 , Gegen- 3 Althochdeutschen Texten in christlichem Kontext hat nicht zuletzt der Jubilar große Aufmerksamkeit gewidmet, vgl. Greule (1982). Und weil die Studie aus einem Seminar des Jubilars hervorgegangen ist, darf ich auch verweisen auf Wagner (1996, 297-321). 4 Hier einzelne Literatur anzuführen ist im Grunde nicht möglich, in der Tradition der Philologia sacra stehen letztlich alle Wissenschaften und Teildisziplinen, die sich mit den biblischen und verwandten Sprachen und Überlieferungen befassen. 5 Keine Sprachgeschichte des Deutschen kommt um die „Leistung Luthers“ (Wolf 2004, Kap. 5.4.4) herum. 6 Die Theologie des „Wortes Gottes“ des mittleren 20. Jahrhunderts hat sich ganz dieser Linie der Theologie verschrieben und bringt diesen Zug von Theologie vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck, vgl. Körtner (2001); Krötke (2005, Sp. 1700-1702; 1702-1704; 1704-1706), wenn auch immer zu beachten ist, dass „Wort Gottes“ nicht deckungsgleich ist etwa mit dem Wortlaut der Bibel: „W.[ort]G.[ottes] aber meint das W., welches Menschen in menschlichen Worten hören können, ohne dass es in diesen Worten aufgeht.“ (Krötke 2005, 1700). Vgl. für die spätere protestantische Theologie Ebeling (1971); Jüngel (2001). 7 Stellvertretend seien hier genannt: Galling u.a. (RGG, 3. Aufl.); Krause/ Müller (TRE); Cancik u.a. (HrwG); Kasper u.a. (LthK); Betz u.a. (RGG, 4. Aufl.). 8 Sprache in der ganzen Vielfalt von Betrachtungsmöglichkeiten und Grenzgebieten; das schließt universale (Sprachfähigkeit, sprachliche Universalien) wie auch historischeinzelsprachliche Phänomene ein. Gottes Konturen in der Sprache 489 stand der Theologie ist die „(christliche) Religion, der christliche Glaube“ 9 . Überall, wo sich die Gegenstandsgebiete überschneiden, gibt es gemeinsame Erkenntnisinteressen. Aufgrund der Durchdrungenheit des Gegenstandes der Theologie mit dem Phänomen der Sprache ist es - nach derzeitigem Wissenschaftsstand und aus meiner Perspektive - häufiger der Fall, dass sich theologische Arbeiten sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zu Nutzen machen als umgekehrt (s.o.). Zur Bedeutung des Phänomens Sprache für die Theologie ist in Kap. 1 bereits Wesentliches gesagt. Einige Gebiete möchte ich aber auch hervorheben, bei denen die Theologie Bedeutung für die Sprachwissenschaft erlangt hat: - Die Sprachwissenschaft kann von linguistischen oder linguistiknahen Erkenntnissen theologischer Teildisziplinen profitieren. Ein Beispiel aus meinem Arbeitsgebiet der alttestamentlichen Exegese ist die Hebraistik, die in der Theologie als „echte“ linguistische Disziplin einen wichtigen Ort hat und Hand in Hand mit der linguistischen Diskussion betrieben wird. 10 - Auch ist die Linguistik dort auf die Theologie und Religionswissenschaft angewiesen, wo etwa der Bereich der religiösen Sprache erforscht wird und Sprachphänomene, die von Phänomenen der Religion durchdrungen sind, um ihrer lingustischen Besonderheiten willen untersucht werden (Theolinguistik). 11 - Zudem gibt es weitere Erkenntnisinteressen, die mit Sprache zu tun haben, die weder allein einen linguistischen noch einen theologischen Fokus haben, etwa wenn sich weitere Wissenschaftsgebiete, die wiederum für die Theologie und/ oder Linguistik relevant sind, um sprachliche Phänomene bemühen. So ergeben sich Übergangsfelder mit der Psychologie (sprachliche Belange der Seelsorge), der Soziologie (Kirche- und Jugendsprache), der Neurowissenschaft (historische Epistemologie), der Geschichtswissenschaft (Sprache als Quelle für historische Informationen), der Historischen Anthropologie (Sprache als Quelle für anthropologische Konzepte, s.u.) u.a. Im Folgenden möchte ich exemplarisch ein vieldimensionales Phänomen diskutieren, das in den Gegenstandsbereich und das Erkenntnisinteresse mehrerer Wissenschaften bzw. Disziplinen fällt, das aber ohne Beteiligung der Theologie und Sprachwissenschaft nicht zu analysieren ist. 9 Auch die Theologie ist eine facettenreiche Wissenschaft, die sich in Hauptdisziplinen wie exegetische (alt- und neutestamentliche) Wissenschaft, Kirchengeschichte, Dogmatik/ Systematik/ Ethik, Praktische Theologie, Religionspädagogik etc. ausdifferenziert hat. 10 Vgl. zum Stand der Hebraistik Michel (1985, 505-510); Irsigler (1995, Sp. 69-81); Müller, (1998, Sp. 1412-1417); Jenni (2000, 1-37). 11 Vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur, zur Theolinguistik Wagner (1999, 507-512). Andreas Wagner 490 3 Körper und Emotion als sprachlich greifbare Erkenntnisgegenstände Der Zugang zu Vorstellungen, Ideen, Anschauungen, Denksystemen, kurz „Konzepten“ einer Kultur/ Sprachgemeinschaft/ Religionsgemeinschaft - die Grenzen der Begriffe wie auch der „Phänomene“ sind hier jeweils fließend - kann über verschiedene „Quellen“ 12 gesucht werden. Dies gilt auch für die hier im Zentrum der Betrachtung stehenden Konzepte „Körper“ und „Emotion“. Bilder wären hier ein geeigneter Zugang (iconic turn). Explizite Reflexionen, die in einer Kultur über die genannten Phänomene angestellt, und Theorien, die darüber entworfen werden (etwa der Mensch als Maschine etc. in der Auffassung Leonardo da Vincis; vgl. Grewenig 2002) ein anderer. Auch der Zugang über Sprache - im vorliegenden Zusammenhang den Alltagsmetaphern - ist in (historischen) Kulturen möglich. Ein solcher Zugang empfiehlt sich vor allem bei Kulturen, für die sich (aus Gründen der schwierigen materiellen Überlieferung, der bisher fehlenden Aufarbeitung u.Ä.) „relativ“ wenig Bilder heranziehen lassen, wie bei derjenigen des Alten Testaments bzw. des alten Israel. 13 Auch in Kulturen, in denen keinerlei explizite bzw. theoretische Reflexionen („Philosophien“) über die Phänomene „Körper“ oder „Emotion“ angestellt wurden, kann der Analyseweg über die Alltagsmetaphern weiterführend sein. 14 Neuere sprachphilosophische bzw. sprachwissenschaftliche Theorien über die Metaphern des Alltags bieten dabei gute Möglichkeiten, wenn es um die Analyse solcher grundlegenden Konzepte einer Kultur geht. An einem Ausschnitt aus dem Phänomenbereich möchte ich hier die Zusammenarbeit von Theologie/ Exegese und Linguistik demonstrieren. Dabei sind die Verhältnisse des Alten Testaments mit denjenigen der späteren Übersetzungssprachen und Ausdeutungen zu vergleichen. Und weil hier Beschränkung geboten ist, sollen als Korpus Psalmen und deren Aufnahme in Kirchenliedern - einem Feld, das Albrecht Greule sehr am Herzen liegt - dienen. 12 Hier nicht im Sinne des Quellenbegriffs der Historiker, sondern im Sinne von Erkenntnisquelle. 13 Hier geht es nicht darum, das A.T. bzw. Israel als von einer umfassenden Bilderlosigkeit geprägte Kultur darzustellen. Im Gegenteil, die neuere Forschung hat herausgearbeitet, dass das biblische Bilderverbot nicht ein Abbildungsverbot war, vgl. Wagner (2005, 1-22). Und in den letzten Jahrzehnten hat die Erschließung von Bildmaterial aus der israelitisch-palästinischen Kultur große Fortschritte gemacht, vgl. (Auswahl): Keel/ Uehlinger (1990); Keel/ Uehlinger (2001); Schroer/ Keel (2005ff.). Aber verglichen mit dem Bildermaterial anderer altorientalischer (etwa der ägyptischen) oder gar gegenwärtiger Kulturen, in denen Bilder in allen denkbaren Medien (TV, Film, Internet, Photos, Werbung usw.) unzählbar auftreten, ist der überlieferte und erschlossene Bestand an Bildern aus Israel gering. Auf die Ergänzung durch sprachliche Quellen kann aufgrund dieser Situation beim Bereich A.T./ Israel nicht verzichtet werden. 14 Zu denen das A.T. wie der ganze Alte Orient auch gehört, vgl. zur „Theorielosigkeit“ der altorientalischen Kulturen Machinist (1987, 258-291). Gottes Konturen in der Sprache 491 4 Körper Gottes und Emotionen in Psalmenliedern 4.1 Das Korpus der Psalmenlieder Als Textkorpus lege ich zugrunde die Psalmenlieder des Evangelischen Gesangbuches. Es handelt sich dabei um das derzeit aktuelle Gesangbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen, der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich sowie der Kirche Augsburgischer Konfession und der Reformierten Kirche im Elsaß und in Lothringen (Frankreich), das ich in der Ausgabe für die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche), 3. Aufl. Speyer 2004, gebraucht habe. Das Gesangbuch hat einen Stammteil mit 535 Liedern, der in allen genannten Kirchen gilt, sowie regionale Anhänge. Bei den hier herangezogenen Psalmenliedern handelt es sich um die Lieder mit den Nummern 270-306 (Biblische Gesänge), die sämtlich Psalmen aus dem Alten Testament als Textgrundlage haben. Die Lieder sind freilich keine Übersetzungen, sondern Weiterdichtungen, Weiterführungen, die sich nicht wörtlich an die Psalmenvorlage halten, sondern den Gehalt des biblischen Psalmentextes in Worten, Bildern, Metaphern ihrer Zeit zur Sprache bringen, ihn nach ihren jeweiligen theologischen und kulturellen Gegebenheiten variieren, anpassen etc. So sind sie auch immer ein starkes Zeugnis ihrer Zeit und ihrer Welt und können mit dem biblischen Text kontrastiert werden. Die Sammlung des Evangelischen Gesangbuches umfasst Lieder verschiedenster Zeiten (vorwiegend 16.-20. Jh.) und Herkunft (vorwiegend deutschsprachiger-europäischer Raum). So auch die Teilsammlung der Psalmenlieder. Aber alle Lieder sind im Gesangbuch zusammengefasst und sprachlich so überarbeitet, dass sie in der gegenwärtigen Welt - auch sprachlichen Welt - zur Anwendung kommen sollen. Das Gesangbuch folgt nicht einem musealen Interesse, sondern zielt auf praktische Anwendung. Auch wenn sich im Text der Lieder etliche altertümliche Wendungen gehalten haben, ist zumindest die Intention der Gesangbuchgestalter, dass die Lieder in der Gegenwart verstanden werden sollen und in der Gegenwart Glaubenserfahrungen zum Ausdruck bringen, die für christlich orientierte Menschen wichtig sind. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Lieder auch sprachlich verstanden werden können. In gewisser Weise kann man also sagen, dass sie, großzügig gerechnet und die Zeit von der Reformation bis zur Gegenwart einschließend, unsere „neuzeitliche“ sprachliche Welt - in der Gestalt einer an die gegenwärtige Standardsprache des „Neuhochdeutschen“ angepassten Form - repräsentieren. Damit ist auch vorauszusetzen, dass sie alles enthalten, was ansonsten im Repertoire der Sprache zu finden ist, etwa bestimmte Konzepte von Alltagsmetaphorik, die in der Neuzeit herrschend geworden sind. Und um diesen letzten Aspekt soll es mir insbesondere gehen. Ich möchte zunächst zwei Bildbzw. Metaphernbereiche beschreiben, den Bereich des Körpers Gottes und den Bereich der Emotionen, um diese Andreas Wagner 492 beiden Bereiche mit den Metaphernwelten der biblischen Vorlagetexte zu vergleichen. Bild und Metapher sollen dabei als weit gefasste Begriffe verstanden sein und dazu dienen, die Konzepte der Metaphern der Alltagssprache zu untersuchen. Ich folge dabei dem Theoriekonzept, wie es von Lakoff/ Johnson, Kövecses und Rolf u.a. in die Diskussion gebracht wurde (Lakoff/ Johnson 2003; Kövecses 1990; Kövecses 2002; Kövecses 2003; Kövecses 2005; Rolf 1994, 131-137; Rolf 2005 ) . 4.2 Der Körper Gottes Zunächst lege ich eine kleine Übersichtsliste vor mit Belegen aus den Psalmenliedern, die Hinweise auf das „Bild“ des Körpers Gottes enthalten. Ich habe hier nur substantivische Hinweise aufgelistet, weil sie unmittelbar verständlich und später gut mit dem hebräischen Vorlagentext „Wort für Wort“ vergleichbar sind; es hätten auch verbale Aussagen herangezogen werden können, auch diese enthalten Vorstellungen über den Körper Gottes - wenn Gott den Menschen ruft wie im Lied Nr 277 (wenn du mich rufst, / hilf mir gehorchen), dann ist vorausgesetzt, dass es ein Ruforgan, einen Mund etc. gibt. Aber für die vorliegende Studie, die ohnehin nur einen kleinen Ausschnitt der Sach- und Problemlage präsentieren kann, ist der substantivische Bestand ausreichend. Sprachliche Benennungen des Körpers Gottes in Psalmenliedern Lied- Nr. Textausschnitt Psalm, auf den sich das Lied bezieht 275 dein gnädig Ohr neig her zu mir (Ps 31) 276 sein Antlitz ist gericht’, zu tilgen von der Erden / all, die erfunden werden, / dass sie ihn fürchten nicht (Ps 34) 280 es wolle Gott uns gnädig sein / und seinen Segen geben / sein Antlitz uns mit hellem Schein / erleucht zum ewgen Leben (Ps 67) 281 Sein furchtbar majestät’scher Blick / schreckt die ihn hassen, wie zurück (Ps 68) 281 Sein Auge hat uns stets bewacht / ihm sei Anbetung, Ehr und Macht (Ps 68) 284 Wunderbar ist’s wie du täglich Trost gewährst, / der du uns mit deiner Hände Schöpfung ehrst (Ps 92) 285 Du lässt uns fröhlich singen / von den Werken, die, Herr, deine Hand gemacht (Ps 92) 285 Die deine Rechte halten / werden grünen und blühen und fruchtbar sein (Ps 92) 286 Seht, seine Rechte sieget wieder, sein heilger Arm gibt Kraft und Mut (Ps 98) 286 er trägt sein Volk auf seinen Armen / und hilft, wenn alles (Ps 98) Gottes Konturen in der Sprache 493 uns verlässt 287 Er sieget mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm (Ps 98) 288 kommt mit Frohlocken, säumet nicht, kommt vor sein heilig Angesicht (Ps 100) 290 Denkt an die Wunder, die er tat / und was sein Mund versprochen (Ps 105) 290 er denket ewig seines Bunds / und der Verheißung seines Munds (Ps 105) 290 Er führt an seiner treuen Hand / sein Volk in das verheißne Land (Ps 105) 292 Dem Tod entriß mich deine Hand, / ich lebe, Herr, in deinem Land (Ps 116) 299 Dein gnädig’ Ohren kehr zu mir, / und meiner Bitt sie öffne (Ps 130) 299 sein Hand zu helfen hat kein Ziel, / wie groß auch sei der Schade (Ps 130) 301 Führte es mit starker Hand / durch die Wüste in sein Land (Ps 136) 303 Aber der Gottvergeßenen Tritte / kehrt er mit starker Hand zurück (Ps 146) Die Benennungen der Körperteile Gottes in den Liedern ergänzen sich zu einem „Gesamtbild“, wenn mehrere Lieder kombiniert werden; man kann auch von einem „Großbild“ bzw. einer „Großmetapher“ oder einer „mehrkomponentiellen Metapher“ sprechen. Der Aufbau eines solchen Großbildes geschieht wohl seltener in einem einzigen Verwendungszusammenhang (Gottesdienst o.Ä.) als zeitlich sukzessiv und in der Summe vieler Mitsingeakte (bei verschiedensten Gottesdiensten und Gelegenheiten). In den seltensten Fällen dürfte dieser Vorgang bei den Mitsingenden bewusst ablaufen. Trotzdem formt sich mit der Zeit (und gespeist von der Hör-/ Sing-/ Leseerfahrung auch etlicher anderer Lied- und Bibeltexte) ein „Bild Gottes“, das von jedem Körperteil her evoziert wird; es umfasst: Körperteil Lied-Nr. Gottes - Antlitz/ Angesicht - Augen/ Blick - Ohren - Mund - Arm - Hand - Rechte (Hand) 276, 280, 288 281 275, 299 290 286, 287 284, 285, 290, 292, 299, 301, 303 285, 286, 287 Insgesamt ergibt sich so ein „Bild Gottes“, Gott wird sprachlich als sehbare Gestalt gezeichnet, die der Gestalt eines Menschen ähnelt, also „menschengestaltig/ anthropomorph“ ist. Lied 281 bringt dies explizit zum Ausdruck: Lobsinget Gott, die ihr ihn seht / lobsinget seiner Majestät (Ps 68). Auf die theologische Problematik dieses „Anthropomorphismus“-Phänomens will ich hier Andreas Wagner 494 nicht grundsätzlich eingehen, 15 zu einigen nahe liegenden Erläuterungen s.u. Kap. 6. Dagegen sind nun die in diesem Groß-Bild enthaltenen Körpervorstellungen zu bedenken. Für unser Körperempfinden bietet dieses Groß-Bild zunächst kaum Auffälliges: Einzele Körperteile ergeben insgesamt eine Vorstellung vom Gesamtkörper; mindestens die Gestalt Gottes ist so in Konturen greifbar. Verzichtet wird in diesem Bild auf alle Einzelheiten. Wenn wir auf die deutschsprachigen Lieder sehen, die als Adressaten die Menschen der Gegenwart haben, dann ist sicher vorauszusetzen, dass Körpervorstellungen über den menschlichen Körper das Analogon zum göttlichen Körper abgeben. Die Körpervorstellung der Neuzeit ist nun durch verschiedene Faktoren geprägt, die auch dem sprachlichen Bild anhaften; natürlich transportiert solch ein Bild, das ja auch auf Sachen, auf Sachverhalte rekurriert, auch gesellschaftliches Wissen über diese Sachverhalte. Man muss, wenn man die Unterschiede dieses neuzeitlichen Körperverständnisses im Vergleich zum biblisch-altorientalischen bedenkt, auf jeweils eigene Konzepte gefasst sein. Die etwa mit dem Stichwort „Körperkult“ verbundenen Vorstellungen bilden dabei nur die Spitze eines typisch neuzeitlich-westlichen Körperverständnisses. Körpertraining mit Sport und Bodybuilding, Diät, Ernährungsplänen usw. sind dem Alten Orient als Massenphänomen natürlich genauso fremd wie das Schönheitsideal des schlanken, durchtrainierten, jugendlichen Menschen, dem in der Gegenwart viele Menschen nacheifern. Selbstredend hat es in der biblischen/ altorientalischen Welt auch ein Körperverständnis/ Körperbewusstsein (s. dazu u.) und auch ein Körperideal 16 gegeben, aber ein anderes. Sehr bedeutend und prägend für das westlich-neuzeitliche Körperbewusstsein ist die Vorstellung vom Körper als Gesamtorganismus, als funktionellem Zusammenhang. Diese Vorstellung ist schon in einigen mittelalterlichen Anschauungen - die wiederum aus antiken, aber nicht orientalischen, sondern griechisch-römischen Quellen geschöpft haben - ausgeprägt, etwa wenn man an „ganzheitliche“ Körperauffassungen bei Hildegard von Bingen u.Ä. denkt. In der Medizin wird diese Vorstellung vom Mittelalter bis zur Neuzeit zunehmend wichtig, der Körper wird als Funktionseinheit betrachtet, bei der alle Teile zusammenhängen, teilweise durch den Zusammenhang erst konstituiert werden (Kreislauf) (vgl. Faller 1999). Die Anatomie, die jedes noch so kleine Körperteil in den Blick nimmt und seine Funktion für das Ganze bestimmt, erlebt bis zur Gegenwart einen enormen Aufschwung (vgl. Budde 1988). 17 Aber auch in philosophischen Entwürfen ist der Organismusgedanke, der Gedanke des Körpers als Funktionsgefüge 15 Vgl. dazu (knapp): Wagner 2004ff. Abrufbar unter: www.wilat.de (im Erscheinen); Wagner (in Vorbereitung für 2007)). 16 Zur Schönheit im A.T. vgl. Westermann (1984, 119-137); Augustin (1983); Keel (1984); Grund (2003); Kaiser (2003, 167-178). 17 Zu den Neuentdeckungen und -bestimmungen in der Renaissance vgl. Vollmuth (2004); vgl. auch Grewenig (2002). Gottes Konturen in der Sprache 495 immer wieder zum Ausdruck gebracht worden (vgl. Angehrn 2003). Er bestimmt ebenso mechanistische Körperauffassungen („Mensch als Maschine“) wie alle leib-seelischen Entwürfe. Viele dieser Aspekte schwingen in einem Bild des Körpers mit, auch wenn es innerhalb des Körperbildes Gottes nicht um den menschlichen, sondern um den göttlichen Körper geht. Der Körper Gottes wird gedanklich analog nach den Bauplänen der Körpervorstellung überhaupt konstruiert. Die Bestandteile des Körpers (Hand, Arm, Gesicht usw.) sind sachlich wie sprachlich in menschlicher wie göttlicher Körpervorstellung gleich. Der göttliche Körper wird - im Deutschen - mit keinen anderen „Körperbezeichnungen“ (Wörtern) beschrieben als der menschliche Körper. 4.3 Emotionen, ihre Bilder und das sie bestimmende Körperkonzept In einem zweiten Durchgang will ich einen Blick auf die Metaphorik der Emotionen werfen. Auch hier zeigen sich in den hinter den Bildern stehenden Konzepten Grundauffassungen zum Körper bzw. zum Verhältnis Körper und Emotion. Ich bespreche dabei Belege, die sachlich zusammengehörig sind und folge nicht, wie in der Liste der Körperteile Gottes, der Nummerierung der Lieder/ Psalmen. 4.3.1 Mensch - Emotion Im Vordergrund der Verbindung von Mensch und Emotion stehen zunächst Bilder, die mit dem „Herzen“ als dem zentralen Gefühlsorgan im Innern arbeiten (vgl. Geerlings 2006): 272 ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen. Ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir (Ps 9) 276 im Herzen stets mir schwebe / das Lob der Ehren sein (Ps 34) Die Rede vom Herzen kann gesteigert werden, wenn man nicht nur das Herz als im Inneren des Körpers befindlich, sondern den Herzensgrund als das Innerste, Tiefste des Herzens bemüht; der Herzensgrund ist einer russischen Puppe vergleichbar ein Gefäß im Gefäß: 292 ich danke dir von Herzensgrund, / und tue deinen Namen kund (Ps 116) 293 Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all, / lobt Gott von Herzensgrunde (Ps 117) Häufig werden Emotionen mit der Seele in Verbindung gebracht: 278 Was betrübst du dich, meine Seele, / und bist so unruhig, harre doch auf Gott (Ps 42/ 43) 278 Du, Herr, kennst meiner Seele Trauer (Ps 42/ 43) Andreas Wagner 496 Die Vorstellung eines Leib-Seele-Dualismus - 303 Der Leib und Seel gegeben hat (Ps 146) - ist alles andere als alttestamentlich (s.u. Kap. 5.2). Wie das Herz ist auch die Seele im Inneren des Menschen zu suchen: 282 Dort [Wohnung Gottes, zu der das betende/ singende „Ich“ hin will] jauchzet Leib und Seel in mir, / o Gott des Lebens, auf zu dir (Ps 84) 289 Nun lob, mein Seel, den Herren, / was in mir ist, den Namen sein (Ps 103) Auffällig ist die Nähe von Emotion und Glaube in den Liedern. Erwartet wird von Gott, dass er das, was der Gläubige den Grund des Vertrauens, eben den Glauben nennt, vermehrt; der „Sitz“ dieses Glaubens ist drinnen, wie Seele und Emotion: 289 Sei Lob und Preis mit Ehren / Gott Vater, Sohn und Heilgem Geist! / Der wolle in uns mehren, / was er aus Gnaden uns verheißt, / daß wir ihm fest vertrauen, / und gründen ganz auf ihn, / von Herzen auf ihn bauen, / daß unser Mut und Sinn / ihm allezeit anhangen. / Drauf singen wir zur Stund: / Amen, wir werden’s erlangen, / glauben wir von Herzensgrund. (Ps 103) Die Lokalisation des Glaubens im „Herzensgrund“ ist ganz analog der Lokalisation der Emotionen. Das Herz ist nach der Vorstellung der Lieder auch das Organ, mit dem man Gott sucht: 295 die recht von Herzen suchen Gott und seine Zeugniss’ halten, sind stets bei ihm in Gnad (Ps 119) bzw. das Wort Gottes bewahrt: 295 Mein Herz hängt treu und feste / an dem, was dein Wort lehrt (Ps 119); 299 auf ihn [Gott] mein Herz soll lassen sich / und seiner Güte trauen, / die mir zusagt sein wertes Wort; / das ist mein Trost und treuer Hort, / des will ich allzeit harren (Ps 130). Da das Herz aber ebenso das Organ der Emotionen ist, wird auch so eine Nähe zwischen Emotion und Glaube hergestellt. 4.3.2 Gott - Emotion Wie zu erwarten finden sich die wesentlichen Elemente bildlicher Ausgestaltung von Emotionen, die zum Ausdruck menschlicher Emotionen gebraucht werden, auch dann, wenn es um die Emotionen Gottes geht. Wie bei der Körperauffassung gibt es hier klare Entsprechungen. Wie die Menschen hat Gott etwa ein Herz: 276 All, die im Glauben stehen, / sieht Gott in Gnaden an, / lässt sie mit ihrem Flehen / zu seinem Herzen nahn 18 (Ps 34) Schließlich findet sich im Bereich der auf Gott angewandten emotionalen Aussagen diejenige Metapher, die am kennzeichnendsten für das Verhältnis 18 Vgl. auch: 296 Mein Hilfe kommt mir von dem Herrn, / er hilft uns ja von Herzen gern (Ps 121). Gottes Konturen in der Sprache 497 von Körper und Emotion in der europäisch-neuzeitlichen Welt ist, die Gefäß- oder Behälter-Metapher: 288 Er [Gott] ist voll Güt und Freundlichkeit, / voll Lieb und Treu zu jeder Zeit (Ps 100) Gott ist „voll“ der genannten Emotionen. Voll sein kann vor allem ein Gefäß; ähnlich, wie ein Gefäß, ein Behälter mit Flüssigkeit angefüllt ist, ist der Körper mit Emotionen angefüllt. Die Gefäß-/ Behältermetapher ist die Schlüsselmetapher für das neuzeitlich-westliche Körper- und Emotionenverständnis. Sie gibt auch den Rahmen ab für die oben aufgelisteten metaphorischen Ausdrücke, die auf das Herz als im Gefäß befindliches Organ bauen bzw. die das Herz selbst noch einmal als Gefäß betrachten. Das hinter dieser Metapher stehende Konzept setzt voraus, dass sich Emotionen in unserem Innern befinden, dass sie aus uns heraus entspringen. Ausdrücke, die zur Behältermetapher zu zählen sind, finden sich in allen sprachlichen Bereichen bei der Verbalisierung verschiedenster Emotionen. - unter Dampf stehen - platzen - aus sich herausgehen - unter Verschluss halten - voll sein Behälter droht zu platzen Behälter steht unter Druck und platzt Behälter läuft über/ aus Emotionen befinden sich im Behälter mit geschlossenem Deckel Behälter ist voll, angefüllt mit Emotionen Dass wir Emotionen mit der Behältermetapher zum Ausdruck bringen, geschieht in aller Regel unbewusst. Die dahinterstehende Konzeption gehört ebenfalls zu den unbewussten Prägungen, sie stellt eine Mentalität dar, auf die „Menschen keinen direkten Zugriff haben“; die „ein weitgehend unbewußt wirkender ‚anthropologischer Zustand‘“ (Böhme 1985, 264) ist. Den Körper zum Gefäß gemacht zu haben, die Emotionen in das Innere verlagert zu haben, ist das Ergebnis einer über Jahrhunderte zu verfolgenden Kulturarbeit, die Hermann Schmitz in seinem Werk „System der Philosophie“ eindrucksvoll beschrieben hat. Vor allem in den Teilbänden „Der Gefühlsraum“ und „Der Leib“ hat Schmitz das „eigenleibliche Spüren“ einer umfassenden phänomenologischen Analyse unterzogen (vgl. Schmitz 1988; 1981; 1989; Böhme 1997, 525-548). 19 Emotionen sind nach diesem Prozess 19 Vgl. dazu auch Böhme (1997, 531): „In den philosophiehistorischen Partien dieser Bände zeigt Hermann Schmitz, daß ein angemessenes Verständnis von Leiblichkeit und Gefühlen im Zuge der ersten griechischen Aufklärung - die 'platonische Wende' -, dann auch in der christlichen Tradition und vor allem in den neuzeitlichen und modernen Subjekt-Theorien nachhaltig verdeckt und verdrängt wurde. Vereinfacht gesprochen: in der Philosophie- und Theoriegeschichte spiegelt sich ein zivilisatorischer Prozeß, in welchem die [...] Erfahrungen der andrängenden Macht der Gefühle und des Leibes gebrochen werden zugunsten der Auszeichnung, praktischen Behauptung und Selbstermächtigung eines 'Subjekts': dessen Leistungsstärke ist funktional darauf abgestellt, eben das Andrängende und Durchwehende gefühlshafter und leiblicher Dynamiken zu Andreas Wagner 498 nicht mehr „Mächte, die den Fühlenden unwiderstehlich ergreifen und durchwirken (weswegen der Fühlende den Gefühlen gegenüber in eine eigentümlich exzentrische und passive Position geriet)” (Böhme 1997). Emotionen sind nun interiorisiert, im Gefäß des Körpers eingeschlossen und damit auch kontrollierbar. Dass die Behältermetapher in den Psalmenliedern nur wenig zur Anwendung kommt, liegt vermutlich an den Textvorlagen (s. dazu u.). Mit der Gefäßmetapher stehen auch die folgenden Bilder in Verbindung: 282 von dir [Gott] herab fließt mild und hell / auf ihn [den Menschen] der reiche Segensquell (Ps 84) 283 Ach gieß aus deines Himmels Haus, / Herr, deine Güt und Segen aus / auf uns und unsre Häuser (Ps 85) Aus dem Gefäß heraus fließt der reiche „Segensquell“ auf die Menschen und auf ihre Häuser. Segen wird zwar nicht als Emotion begriffen, aber Ähnlichkeiten des „ausströmenden“ Segens mit „herausströmenden/ -drängenden“ Emotionen sind kaum von der Hand zu weisen. Die Vorstellungen vom Körper als „Behälter“ der Emotionen und vom Körper als Organismus durchdringen einander. Im mechanistischen Körperkonzept bildet sogar die „Gefäßmetapher“ selbst eine gedankliche Brücke: Der wie eine Maschine arbeitende Körper wird mit Blick auf die Emotionen als maschinenähnlich gesehen: er kann „unter Dampf“ stehen, kann „vor Emotionen platzen“ oder „bersten“ usw. Ähnlich umschließt der Körper im Leib-Seele-Dualismus die Seele, die mit den Emotionen in Verbindung steht. Das Organismus-Körperkonzept und die Vorstellung vom Körper als Gefäß der Emotionen bilden also eine einheitliche Grundvorstellung, die zwar Variationen zulässt, die aber insgesamt die neuzeitlich-westliche anthropologische Konzeption bestimmt. 'introjizieren', d.h. vor allem, sie als endogene bzw. autonome Regungen zu verinnerlichen. Nur unter dieser Voraussetzung der 'intrapsychischen' Deutung können wir von einem Seeleninnenraum sprechen, der das Leibliche wie das Atmosphärische absorbiert. Die Seele [...] ist die Erfindung und zivilisatorische Durchsetzung einer absoluträumlichen Instanz im Dienst der Selbstermächtigung. Die Seele ist von Leib und Gefühlen abgezweigte Energie sowie vom Geist geborgte Form. Derart ist sie ein 'Medium, das die Botschaft ist': Herr im eigenen Hause zu sein; und sie ist das Paradoxon raumloser Räumlichkeit und leibloser Macht. Das ist nicht kulturkritisch zu beklagen, schon deswegen nicht, weil wir die zivilisatorischen Effekte der Introjektion und Subjektermächtigung nicht abschütteln können und wohl auch kaum auf ihre Leistungen verzichten wollen: sich abschirmen, sich distanzieren und wenigstens ein stückweit sich frei machen zu können von der durchwirkenden Macht der Gefühle und des Leibes, die wir nicht haben sondern sind.“ Gottes Konturen in der Sprache 499 5 Körper Gottes und Emotionen in den Psalmen des Alten Testaments 5.1 Die Psalmen des A.T. Die Sammlung der Psalmen des A.T. - als Sammlung Psalter genannt - besteht aus 150 Einzelpsalmen, die den Hauptbestandteil der überlieferten religiösen Dichtung Israels darstellen. 20 Die Psalmen gehören daher zur religiösen Überlieferung des Judentums und des Christentums. Der hebräische (masoretische) Urtext der Bibel und der griechische und lateinische Text, dem ältere katholische Übersetzungen zuweilen folgen, haben z.T. verschiedene Zählungen, die durch unterschiedliche Zusammenfassungen bzw. Trennungen einzelner Psalmen bedingt sind. Die einzelnen Psalmen sind über verschiedenen Teilsammlungen im Lauf der Zeit zum vorliegenden Psalmen-Buch zusammengewachsen, das spätestens im 2. Jh. v. Chr. abgeschlossen war. Die einzelnen Psalmen selbst sind schwer zu datieren, die Frage muss bei jedem Psalm erörtert werden; älteste Psalmen stammen wohl aus frühisraelitischer Zeit (Anfang 1. Jts. v. Chr.), jüngere sind eindeutig nachexilisch (nach 538 v. Chr.). 21 5.2 Emotionen in den Psalmen des A.T. Ohne Zweifel gehören die Psalmen zu denjenigen Texten im A.T., in denen Emotionen am häufigsten thematisiert bzw. verbalisiert werden. Ein einfaches Indiz stellt die Häufigkeit der Emotionsbegriffe dar: In keinem Buch des A.T. kommen so viele Emotionssubstantive vor wie im Psalter. Es ist daher höchst interessant, die Metaphorik der Emotionen im Psalter zu untersuchen, zumal im Vergleich mit der Metaphernwelt der Psalmenlieder. Das erste und vielleicht fundamentalste Ergebnis ist zunächst ein überraschendes und negatives: Es finden sich keinerlei Metaphern, die unter das Konzept der Behälterbzw. Gefäßmetapher zu subsumieren wären! Dies gilt sowohl für die Psalmen, die den oben genannten Psalmenliedern zugrunde liegen wie auch für sämtliche restlichen Psalmen, ja sogar für das ganze A.T. überhaupt (s. Kap. 5.3 erster Absatz). Ein zweites Ergebnis ist durch eine andere Funktionsbestimmung des Herzens in den Psalmen bzw. im Hebräischen bedingt. Das Herz (l b) ist im A.T. nicht Sitz der Emotionen, sondern Sitz des Verstandes, der Denkfähigkeit. „In den weitaus meisten Fällen werden vom Herzen intellektuelle, rati- 20 Psalmen außerhalb des Psalters finden sich in weiteren Büchern des A. T. (z.B. Schilfmeerlied und Mirjamlied 2. Mos. 15; Deboralied Ri. 5) und in der außerkanonischen, apokryphen und pseudepigraph. Literatur (z.B. Psalmen Salomos, 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr.; fünf syrisch überlieferte Psalmen; die Loblieder der Qumrangemeinde). 21 Zur Einführung: Seybold (1986), Weber (2001/ 2003). Neuere Einzelstudien: Janowski (2003), Seybold (2003). Neuere Kommentare: Hossfeld/ Zenger (1993/ 2002), Hossfeld/ Zenger (2000), Seybold (1996), Oeming (2000). Andreas Wagner 500 onale Fähigkeiten ausgesagt, also genau das, was wir dem Kopf und genauer dem Gehirn zuschreiben.“ (Wolff 2002, 77). 22 „Im alten Orient ist das Herz vor allem der Sitz der Vernunft und des Verstandes, des geheimen Planens und Überlegens und der Entschlüsse. [...] Nach Dtn 29,3 hat ein Mensch Augen, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz, um zu verstehen. [...] Mangel an Herz bedeutet in Israel nicht Gefühlskälte, sondern Gedankenlosigkeit, Unvernunft oder schlicht Dummheit.“ (Schroer/ Staubli 2005, 35). Entsprechende Wendungen, die in den Psalmenliedern aufgenommen sind, sind daher in den Ursprungstexten der hebräischen Psalmen nicht auf den Zusammenhang mit Emotionen, sondern auf den Zusammenhang mit Intellektualität zu beziehen: In Lied Nr. 272 wird Ps 9 aufgenommen, wo im biblischen Text in V.2 zum Ausdruck gebracht wird, dass das Loben „durch das Herz“ erfolgen soll: Ich will, Jahwe, dich preisen/ danken mit/ durch mein ganzes Herz, und erzählen/ verkünden will ich alle deine Wundertaten! Gemäß der hebräischen Anthropologie ist hier gemeint, dass der Beter den Dank „mit ganzem Verstand“ durchführt, „mit rechter Planung“ o.ä. In den Liedern 276 (Ps 34), 292 (Ps 116) und 293 (Ps 117) findet sich im hebräischen Text an den entsprechenden Stellen das Herz gar nicht erst in der Vorlage. So ist im hebräischen A.T. das Herz weder Sitz des Gefühls noch Gefäß im Gefäß; es steht ebenso wenig wie die Emotionen in einer dem neuzeitlichwestlichen Kontext vergleichbaren Beziehung zur Behältermetapher. Ähnlich wie beim Herzen sind im Vergleich zur neuzeitlich-westlichen Welt die Verhältnisse im A.T. bei dem Phänomen der „Seele“ gelagert. Das A.T. verfolgt hier ein völlig eigenes Konzept. Das entsprechende hebräische Wort, das in den deutschen Übersetzungen und Lieddichtungen mit Seele wiedergegeben ist, næfæš, hat ein breites Bedeutungsspektrum, das von Hals und Kehle, über Gier bis zu Leben, Person u.Ä. reicht. Keinesfalls meint es Seele in einem Leib-Seele-Dualismus oder im Sinne einer Körper-Seele- Geist-Trichotomie. Und keinesfalls hängen die Emotionen damit zusammen (vgl. Wagner 2004ff.). Die Belege für die Emotionen Gottes in den Liedern (s.o.) sind nun ebenso in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen wie die Aussagen über Emotionen der Menschen. Auch wenn im A.T. Gott in keinster Weise von den Emotionen ausgenommen ist - es gibt in Form der Liebe Jahwes, des Zorns Jahwes, der Reue Jahwes theologisch wichtige und bedeutsame Anthropopathismen -, so treten bei den beiden Liedbelegen doch die Andersartigkeiten in der Auffassung der Emotionen hervor: In Lied 276 (Ps 34) sind die Verhältnisse gegenüber dem Psalm „umgedreht“; Ps 34,19 hält fest: Nahe ist Jahwe denen, die zerbrochenen Herzens (=Verstandes) sind / und hilft denen, die zerschlagenen Sinnes sind. In Lied 276 nahen sich die Flehenden dem Herzen (Sitz des Gefühls, des inneren Gemüts) Gottes. Und in Lied 288 (Ps 100) 22 Vgl. auch Janowski (2003, 166-173); Toro Rueda (2004); Müllner (2006, 20-21). Gottes Konturen in der Sprache 501 kommt eine Gefäßmetapher zur Anwendung (voll Lieb und Treu), die dem hebräischen Text fremd ist. Fazit: Die Emotionskonzepte der neuzeitlich-westlichen Lieder und der hebräischen Psalmen unterscheiden sich grundlegend. 5.3 Körpervorstellung in den Psalmen und im A.T. Es ist viel schwerer, das den Psalmen wie überhaupt den hebräischen Texten innewohnende Metaphernkonzept für Emotions-Ausdrücke positiv zu beschreiben als das Fehlen der Behältermetapher und die Verschiedenheit des Konzeptes gegenüber dem neuzeitlich-westlichen zu konstatieren. In mehreren Studien habe ich versucht, mich diesem Konzept anzunähern (Wagner in Vorbereitung 2006). 23 Ich kann hier nur die Richtung andeuten und muss auf diese Studien und auf die weitere Diskussion verweisen. Im vorliegenden Zusammenhang ist das negative Ergebnis insofern ausreichend, als es deutlich zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Körperauffassung und dem Körper-Emotions-Verhältnis in den Psalmenliedern (s.o. Kap. 4.3) und in den hebräischen Psalmen ein anderer ist. Wie auch immer das Verhältnis von Körper und Emotion zu beschreiben ist, es wird nicht vorausgesetzt, dass der Körper die Emotionen einschließt, dass er der Gefäßorganismus ist, innerhalb dessen sich die emotionalen Vorgänge abspielen. Diese Andersartigkeit des Verhältnisses von Körper und Emotion lässt vermuten, dass auch das Körperverständnis überhaupt ein anderes ist. Und in der Tat sind etliche Indizien anzuführen, die darauf weisen, dass der Körper nicht unter dem Blickwinkel des Organismus, des Systems u.Ä. betrachtet wird. Auch dies kann ich hier nur andeuten. Der Mensch kann nach dem Alten Testament als Ganzes unter dem jeweiligen Aspekt gesehen werden, den ein anthropologischer Begriff oder ein Körperteil zum Ausdruck bringt. Die alttestamentliche Anschauung zum Menschen verzichtet darauf, alle diese Aspekte in ein System zusammenzubinden. Sie stehen vielmehr additiv-parataktisch nebeneinander, ohne in ein „System“ Mensch integriert zu sein; 24 diese Begriffe können in den Texten 23 Wagner (2004ff.): „Im Alten Testament findet sich die Behältermetapher so gut wie nicht. Gefühle erscheinen hier als etwas, das (von außen) über den Menschen kommt (Num 5,14: und der Geist der Eifersucht kommt über ihn). Für Gefühle und Emotionen gibt es plausible Gründe; man kann sich ihnen „naturgemäß“ kaum entziehen und viel weniger eine „innere Kontrolle“ ausüben, weil sie ja auch nicht als im Innern des Körpergefäßes entstehend gedacht werden. In einigen Texten hat es den Anschein, als sollten die Gefühle durch Verweis auf äußere Normen (2Sam 13,12: so tut man nicht in Israel) der Kontrolle unterworfen werden.“ 24 Für den ägyptischen Bereich, der ein der israelitischen Auffassung analoges Körperverständnis aufweist, resümiert Brunner-Traut (1996, 71): Der Körper wurde „primär nicht als Einheit erkannt, vielmehr sukzessiv erfasst [...], d.h. als ein Nebeneinander seiner vergleichsweise selbständigen Teile, [...] der menschliche Körper [wurde] nicht als Organismus, sondern als ein Kompositum seiner Glieder verstanden“. Brunner-Traut Andreas Wagner 502 einzeln abgerufen werden oder in den verschiedensten Kombinationen auftreten: ba ar „Fleisch“ Aspekt des körperlich-vergänglichen Anteils an Mensch und Tier, wird nie von Gott ausgesagt l b „Herz“ Aspekt der Rationalität, Sitz des Verstandes næfæš „Leben, Gier, Kehle“ Aspekt des Lebens, der Lebendigkeit ru a „Wind, Geist, Kraft, Vitalität“ Aspekt der letztlich von außen kommenden Vitalität „Fuß“ Aspekt der Präsenz, Kraft und Macht „Auge“ Aspekt des Sehens und Erkennens „Ohr“ Aspekt des Hörens und Begreifens usw. Im Vordergrund der Körperbegriffe steht dabei weder die individuelle Körperbeschaffenheit oder Physiognomie - auch Körperbzw. Menschendarstellungen auf Bildern gehen im Alten Orient so gut wie nie über das ideale und in seinen typischen Elementen immer „gleiche“ Körperbild hinaus -, sondern die mit den Körperteilen verbundene Funktion; Körperbilder sind daher meistens als „Funktionsbilder“ aufzufassen. Das Bild vom Körper Gottes will nicht seine physignomische und leibliche Beschaffenheit optisch anschaulich machen, sondern dient dazu, Gott in seiner Kommunikationsfähigkeit (Gesicht, Augen, Ohren, Mund) und Handlungsfähigkeit (Hand, Arm, Fuß) zu denken. 6 Unterschiedliche Metaphernkonzepte führen auf unterschiedliche anthropologische Entwürfe Es liegt nun auf der Hand, sowohl für den Bereich des theologischen und historischen Erkennens und Verstehens wie auch für den Bereich der praktischen Anwendung biblischer Texte und neuzeitlicher Lieddichtung, auf die Beachtung der Unterschiede zu verweisen. Den Lieddichtungen ist nicht vorzuwerfen, dass sie sich unserer neuzeitlich-westlichen Metaphorik bedienen, wenn sie zu den Menschen der Gegenwart sprechen wollen. Aber dieselben Metaphern der biblischen Texte, im Lichte der neuzeitlich-westlichen Metaphernwelt gelesen, führen natürlich zu Missverständnissen die biblischen Texte betreffend. Will man die biblischen Texte ernst nehmen, muss man sich auf ihre eigene Metaphernwelt einlassen und darf sie nicht von der neuzeitlich-westlichen Metaphernwelt her zu verstehen suchen. Eine Umsetzung in die neuzeitliche (1996, 73): „Daß der Körper eine anatomisch-physiologische Funktionseinheit darstellt, daß die Organe gegenseitig voneinander abhängen, liegt weit abseits von ägyptischer Vorstellung.“ Gottes Konturen in der Sprache 503 Metaphernwelt kann durchaus adäquat sein, bringt aber auch immer Gefahren mit sich. Eine vergleichbare Nähe etwa von Glaube und Gefühl, wie sie in den Liedern zum Ausdruck kommt, gibt es in den hebräischen Psalmen nicht. Da die Metaphernwelten in der Regel unbewusst gelernt und gebraucht werden, sollte eine explizite Besinnung auf diesen Sachverhalt gerade für theologisch-kirchliche Spezialisten, die für den Umgang mit Liedern und Bibeltexten verantwortlich sind, hilfreich sein. Zu achten ist insbesondere etwa in Gottesdiensten, in denen Lieder und Bibeltext gleichermaßen vorkommen, auf die „Stimmigkeit“ der Metaphernwelten. Die Metaphern wirken zwar meist unbewusst bei den Gottesdienstteilnehmern, aber sie wirken oft stark und bleiben aufgrund ihrer Anschaulichkeit zuweilen lange im Gedächtnis. Entsprechend groß kann auch eine „unbewusst erahnte bzw. gefühlte“ Unstimmigkeit sein. Auf die Notwendigkeit, dem optisch-körperlichen Verständnis zu wehren, das ausgehend vom neuzeitlichen Körperverständnis auch den „Körper Gottes“ erfassen kann, wurde oben schon hingewiesen (s.o. Kap. 5.3). 7 Leistungsfähigkeit der Analysemethode der „Metaphern des Alltags“ und Zusammenwirken von Sprachwissenschaft und Exegese In den zuletzt angesprochenen Aspekten sehe ich den größten theologischen Nutzen einer solchen Untersuchung von biblischen und kirchlichen Texten mit linguistischen Methoden. Die sprachwissenschaftliche Analyse stellt über ihr Analyseinstrumentarium eine Methodik bereit, sprachliche Sachverhalte zu erkennen und explizit zu formulieren. Sie kann durch neue Methoden, wie hier an der Metaphernanalyse veranschaulicht wurde, Anstöße geben, sprachliche Phänomene neu zu untersuchen oder gar neu zu entdecken. Die Erkenntnisrichtung geht wie in dem hier angeführten Fall deutlich über das linguistische Erkenntnisinteresse hinaus; Körperkonzepte führen auf anthropologische Grundsachverhalte, die nun in den Zusammenhang mit anderen kulturellen Paradigmen gestellt werden können. Etwa diese anthropologischen Grundsachverhalte in den unterschiedlichen Abschnitten der Geistesgeschichte zu verstehen, ist für die Theologie entscheidend: Im A.T. liegen andere Verhältnisse vor als in der Neuzeit. Die Unterschiede müssen erkannt und benannt werden. Theologie bringt bei diesem Vorgang ihre theologische Sach- und philologische Sprachkompetenz ein. Die Linguistik stellt ein Analyseinstrumentarium zur Verfügung. Beide profitieren voneinander. Andreas Wagner 504 8 Bibliographie 8.1 Gedruckte Literatur Angehrn, Emil/ Baertschi, Bernard [Hrsg.] (2003): Der Körper in der Philosophie. Bern (Studia Philosophica, 62). Arens, Hans (1974): Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. Bd.1. Frankfurt a.M. Augustin, Matthias (1983): Der schöne Mensch im Alten Testament und im hellenistischen Judentum. Frankfurt a.M./ Bern/ New York (Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums, 3). Bayer, Klaus (2004): Religiöse Sprache. Thesen zur Einführung. Münster (Religionswissenschaft: Forschung und Wissenschaft, 2). Betz, Hans Dieter/ Browning, Don S./ Janowski, Bernd/ Jüngel, Eberhard [Hrsg.] (1998-2005): Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 1-8. 4. Aufl. Tübingen. 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Peter Wiesinger Zur Problematik der Wiedergabe von Begriffen und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 1 Einleitung Die Bibel und insbesondere das Neue Testament als Grundlage des christlichen Glaubens ist nicht nur das am meisten übersetzte Buch der Welt, sondern wird auch immer wieder ins Deutsche übersetzt. So befinden sich heute fast 20 deutsche Übersetzungen des Neuen Testaments im Umlauf. Trotz der großen Anzahl an Übersetzungen und der intensiven philologischen Bemühungen auch um die Urtexte geht jedoch das Christentum in der westlichen Welt stark zurück, so dass schon 1976 Siegfried Meurer zynisch vom „Bestseller ohne Leser“ sprach (vgl. den Buchtitel von Meurer 1976). Obwohl die einzelnen Übersetzer bestimmte Übersetzungsprinzipien verfolgen, legen sie diese meist nicht oder wenn überhaupt, dann nur ansatzhaft dar. Zwar nannte schon Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jhs. hermeneutische Grundsätze (vgl. Schleiermacher 1977, 272f.), aber die theoretische Übersetzungswissenschaft oder Translatorik blickt erst auf eine rund vierzigjährige Entwicklung zurück. So werden die einzelnen Bibelübersetzungen erst nachträglich in ihrer kritischen Würdigung analysiert und den einzelnen Übersetzungstypen zugeordnet. Als solche hat Heidemarie Salevska im Jahr 2000 den strukturtreuen, den sinntreuen und den wirkungstreuen Übersetzungstyp vorgeschlagen (vgl. Salevska 2001). Während die strukturtreue Übersetzung auf allen sprachlichen Ebenen soweit wie möglich dem Ausgangstext folgt und nur jene syntaktischen Strukturen ändert, die es in der Zielsprache nicht gibt oder die dort nur wenig geläufig sind, trachtet die wirkungstreue Übersetzung den Ausgangstext in der Zielsprache so wiederzugeben, dass Inhalt und Wirkung beim Rezipienten diesselben Effekte auslösen sollen wie zur Entstehungszeit das Original, wobei gegenüber dem Original entsprechende Textmodifikationen vorgenommen werden. Die sinntreue Übersetzung ist schließlich ein Mischtyp, indem sie die inhaltliche Aussage des Ausgangstextes im Zieltext äquivalent wiedergeben will. Formal kann dies mit stärkerer Orientierung am Ausgangstext oder stärker mit den Ausdrucksmitteln der Zielsprache erfolgen. Da die Bibel jedoch kein gewöhnlicher Text ist, sondern vor allem als religiöses Werk die Grundlage des christlichen Glaubens bildet, wird bei der Übersetzung teilweise auch versucht, die angenommene Botschaft einzubringen. Wie bezüglich der Übersetzungstypen fünf ausgewählte aktuelle deutsche Peter Wiesinger 510 Bibelübersetzungen verfahren, habe ich an der Perikope von der Taufe Jesu nach Matthäus 3, 13-17 zu zeigen und entsprechend zu beurteilen versucht (vgl. Wiesinger 2006). Ein besonderes Problem bildet bei der Übersetzung die Wiedergabe von Begriffen und Sachbezeichnungen, denn die jüdische und die antike griechisch-römische Welt zur Zeit Christi war in ihren Lebensverhältnissen und Vorstellungen eine andere als unsere Gegenwart. Dabei handelt es sich um biblische Grundlagen; um das Verständnis von Personen und ihren gegenseitigen Beziehungen und Handlungsweisen; um gesellschaftlich übliches Verhalten; um die zeitgenössische Einteilung der Obrigkeiten, der Verwaltung und des Militärs; sowie um Maße, Gewichte und Geldeinheiten. Besonders hier fragt sich der Leser, dem der zugrunde gelegte griechische Originaltext unbekannt ist, was denn dort tatsächlich steht, wenn er die unterschiedlichen Wiedergaben der einzelnen Übersetzungen miteinander vergleicht. Vor allem relevant ist diese Frage bei der Wiedergabe von biblischen Grundbegriffen, weil sie die Grundlagen des christlichen Glaubens bilden, die ein Teil der Übersetzer je nach angenommener religiöser Aussage der einzelnen Konfessionen und ihrer Theologien bereits mit einer entsprechenden Wortwahl dem Leser begrifflich zu vermitteln trachtet. Auch in den fortlaufenden Texten gibt es zum Teil beträchtliche Unterschiede, die durch das individuelle Übersetzungsverfahren entstehen, wobei aber das inhaltliche Verständnis und damit die Aussage meist nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Das Neue Testament ist ausschließlich in hellenistischer griechischer Sprache, der damaligen Koine der antiken Welt, abgefasst. Deshalb wird der an der griechischen Überlieferung erarbeitete kritische Text den Übersetzungen zugrunde gelegt. Auch die römisch-katholische Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1961-65) für das Neue Testament den griechischen Originaltext als Grundlagentext anerkannt, was nicht immer so war. Es empfiehlt sich daher, bevor wir uns den Problemen der Begriff- und Sachwiedergaben zuwenden, kurz die Geschichte der Textgrundlagen und der Übersetzungstradition zu behandeln, denn die Begriff- und Sachbezeichnungen stehen einerseits in der Tradition der Luther-Übersetzung und haben andererseits trotz katholischer lateinischer Kirchensprache bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil auch hier eine durch den Religionsunterricht und die Messperikopen vermittelte deutschsprachige Tradition. Nachdem der griechische Text schon ab dem 2. Jh. in der sogenannten Vetus Latina übersetzt wurde, es aber keinen verbindlichen lateinischen Text gab, veranlasste Papst Damasus I. (366-384) die von Hieronymus (347- 420) ab 383 angefertigte Vulgata als Übertragung des griechischen Originaltextes in die lateinische Volkssprache der Zeit. Sie wurde 1546 auf dem Konzil von Trient als der für die katholische Kirche allein verbindliche Text festgelegt und schließlich durch Papst Klemens VIII. 1592 in der von Papst Sixtus V. vorbereiteten sogenannten Clementina herausgegeben. Es war dies die Antwort auf den Protestantismus, denn als Martin Luther 1522 das Neue Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 511 Testament übersetzte, legte er den 1514/ 16 von Erasmus von Rotterdam erstmals herausgegebenen griechischen Originaltext zugrunde. Während für Luther und den Protestantismus die Bibel allein die Glaubensgrundlage bildet, und dies vornehmlich in deutscher Fassung, bezieht die katholische Kirche auch die Tradition der Auslegung und Lehre besonders der Kirchenväter mit ein. Deshalb verlangte die katholische Kirche, nachdem sie die Verbote der Bibellektüre in der Volkssprache von 1622 und 1713 aufgehoben hatte, für Bibelübersetzungen auch die kirchliche Überprüfung und bischöfliche Druckerlaubnis und für die von Laien nicht gern gesehene Bibellektüre die Anleitung durch Geistliche, ehe Papst Pius X. 1902 davon abging. So wundert es nicht, dass es in der katholischen Kirche kaum Bibellektüre gab und für wenige interessierte Laien ohne Lateinkenntnisse bis ins ausgehende 18. Jh. die Luther-Übersetzung in der katholischen Adaptierung von Johannes Dietenberger (1534) und ihrer Modernisierung durch Caspar Ulenberg (1630) als sogenannte Mainzer oder Catholische Bibel nachgedruckt wurde. Die Bibelkenntnis der Laien beschränkte sich daher über den Religionsunterricht hinaus auf die Kenntnis der sonn- und feiertäglichen Evangelienperikopen, die in den Messen auf Deutsch verlesen wurden und die Grundlage der folgenden auslegenden Predigt bildeten. Erst der Landshuter und Münchener Theologieprofessor und nachmalige Domkapitular in Regensburg und Dompropst in Augsburg Franz Joseph Allioli (1793-1873) fertigte 1830-34 eine neue katholische Übersetzung auf der Grundlage der Vulgata unter Berücksichtigung des griechischen Originaltextes an, die sogar die päpstliche Druckerlaubnis erhielt und bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der verbindliche deutsche Bibeltext war und auch in den Perikopenbüchern verwendet wurde. Eine deutliche Wende brachte schließlich das Zweite Vatikanische Konzil, indem es für das Neue Testament allein den griechischen Originaltext für verbindlich erklärte und danach die Vulgata in der Nova Vulgata als der lateinischen Bibel der katholischen Kirche revidieren ließ, ohne dass dieser Übersetzung noch kritischer Wert beigemessen wird; die Volkssprache in die Liturgie einführte und damit volkssprachliche Bibelübersetzungen verlangte; und schließlich die Lektüre aller volkssprachlichen Bibelübersetzungen sanktionsfrei gestattete. Auf diese Weise entstand in zwei Anläufen ab 1961 unter kirchlicher Leitung die sogenannte Einheitsübersetzung, die seit 1967 auch unter Mitwirkung der Evangelischen Kirche Deutschlands erarbeitet wurde und deren Neues Testament 1969-72 als Probedruck und 1980 in endgültiger und überarbeiteter Fassung erschien. Aber die schon seit längerem währende reaktionäre Haltung der katholischen Kirche führt nun unter Papst Benedikt XVI. zur Forderung, bei der Bibelübersetzung die Auslegung der Kirchenväter und damit die interpretative Tradition in die Textgestaltung einzubeziehen. Zwar geht die katholische Kirche bis jetzt nicht an eine eventuelle diesbezügliche Überarbeitung der Einheitsübersetzung heran, aber die Evangelische Kirche Deutschlands hat diese 2005 aufgekündigt, nachdem sie Peter Wiesinger 512 im liturgischen Bereich ohnehin an der 1984 überarbeiteten Luther-Übersetzung festgehalten hat. 2 Herangezogene aktuelle Bibelübersetzungen Im Folgenden seien die herangezogenen 13 aktuellen Bibelübersetzungen kurz vorgestellt. Darunter verstehen wir jene deutschen Ausgaben des Neuen Testaments (NT), die unabhängig von der Zeit ihrer Entstehung teils als Originalübersetzungen und teils in erneuernder Bearbeitung sich heute im Buchhandel befinden und somit für jedermann leicht zugänglich sind. 1. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg (Hans Lufft) 1545. Hrsg. von Hans Volz. Bd. 2. Darmstadt 1972. (Lu 1545) Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierte Fassung von 1984. Hrsg. von der Evangelischen Kirche Deutschlands. Stuttgart 1999. (Lu 1984) Nach mehreren vorangegangenen Revisionen wurde der Text des NT 1976-83 neuerlich gründlich überarbeitet, indem Luthers Text an vielen Stellen dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und teilweise einzelne Passagen neu übersetzt wurden. 2. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zürcher Bibel. 21. Aufl. Zürich 1996. (Zü) Die Zürcher Bibel der reformierten Kirche geht auf Ulrich Zwingli und Leo Jud zurück, die 1529 Luthers Übersetzung des NT dem Schweizer Sprachgebrauch anpassten. Seit 1665 erschien sie in der durchschnittlichen hochdeutschen Orthographie und wurde 1868 und 1892 verbessert, ehe auf der Grundlage von 1892 von 1907-31 eine gründliche Überarbeitung erfolgte. 3. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Übersetzt von Dr. Joseph Franz Allioli. München 1830-34. Nachdruck: Wien 1971. (Al) 1 Die mit päpstlicher Druckerlaubnis veröffentlichte Übersetzung Alliolis basiert auf der Vulgata, gibt aber zusätzlich die Abweichungen vom griechischen Text wieder. Die vielen Nachdrucke beschränken sich auf orthographische Neuerungen. 4. Die Bibel. Elberfelder Übersetzung. 9. Aufl. Wuppertal 2003. (Elb) Um 1850 entschloss sich eine Gruppe evangelischer Theologen unter der Leitung von Carl Brockhaus (1822-99) zu einer neuen zeitgemäßen, den hebräischen und griechischen Originaltexten möglichst eng folgenden Neuübersetzung der Bibel, die 1856-71 erschien. 1960-85 er- 1 Derzeit befindet sich als aktueller Nachdruck im Umlauf: Das Neue Testament nach Joseph Franz von Allioli. Eingeführt, kommentiert und meditiert von Eleonore Beck und Gabriele Miller. Stuttgart 2003. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 513 folgte eine gründliche Revision, wobei dem 1974 abgeschlossenen NT Nestle/ Aland zugrunde gelegt wurde. Die 9. Aufl. ist ein Nachdruck der 4., im NT neuerlich nach Nestle/ Aland revidierten Auflage von 1992. 5. Das Neue Testament. Übersetzt und erläutert von P. Dr. Konstantin Rösch, O. M. Cap. Paderborn 1946. (Rö) Neubearbeitet von P. Dr. Johann Kapistran Bott, O. M. Cap. Paderborn 1967. Der Kapuzinermönch Konstantin Rösch (1869-1944) stammte aus dem Allgäu und wirkte von 1895 bis 1941 als Lektor für das NT an der Schule seines Ordens in Münster in Westfalen. Seine mit kirchlicher Druckerlaubnis versehene vollständige Übersetzung des NT erschien erstmals 1921, nachdem bereits 1914 die vier Evangelien publiziert worden waren, und wurde von Rösch zuletzt 1937 revidiert, ehe ihre Betreuung seit 1946 Röschs Mitbruder Johann Kapistran Bott übernahm. Er besorgte dann 1967 eine Neubearbeitung der vier Evangelien und der Apostelgeschichte mit den dazugehörigen Einleitungen, während er die weiteren Schriften des NT und die ihnen vorangestellten Einleitungen unverändert beibehielt. Botts Anliegen war eine strengere Angleichung an den griechischen Originaltext und eine anschaulichere Wiedergabe der Begriffe und Sachbezeichnungen. Röschs Übersetzung basiert auf der katholischen Ausgabe des griechischen Originaltextes und fügt in Klammern Abweichungen der Vulgata hinzu. Sie wurde außerdem Grundlage seines weitverbreiteten Perikopenbuches von 1927, das Bott nach einigen liturgischen Änderungen 1951 erneuerte, und ging auch in sein deutsches Messbuch für Laien von 1938 ein. Da Röschs originale Übersetzung und ihre österreichische Sonderausgabe von 1947 bis in die beginnenden 1960er Jahre in fast eineinhalb Millionen Exemplaren verbreitet wurde, während Botts teilweise vorgenommene Neubearbeitung nur eine geringe Auflage erlebte, ziehen wir Röschs originale Übersetzung heran, die sich heute noch in den Bibliotheken und in vielen Haushalten befindet, und fügen Botts Änderungen in Anmerkungen hinzu. 6. Das Neue Testament. Übersetzt und herausgegeben von Prof. Dr. Josef Kürzinger. Aschaffenburg 1962. (Kü) Josef Kürzinger (1898-1984) war von 1935-68 Professor für Theologie an der Katholischen Universität in Eichstätt und erwirkte für seine Übersetzung die Empfehlung des Bischofs von Eichstätt sowie in Würzburg die kirchliche Druckerlaubnis. Kürzingers ursprüngliche Absicht war die Erneuerung und Revision der eingebürgerten Übersetzung von Allioli sowohl nach dem inzwischen wesentlich verbesserten griechischen Originaltext als auch als eine Aktualisierung des inzwischen gewandelten gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauches. Als die Übersetzung 1953 erschien, war sie jedoch eine selbständige Fassung, so dass der Name Alliolis nicht aufzuscheinen brauch- Peter Wiesinger 514 te. Der Erfolg sowie die Ergänzung zur Gesamtbibel durch die 1957 hinzugekommene Übersetzung des AT von Vinzenz Hamp und Meinrad Stenzel veranlassten Kürzinger 1962 zu einer Neubearbeitung seines Textes sowohl unter stärkerem Anschluss an das griechische Original als auch unter Berücksichtigung der Lesbarkeit. Seither wurde die Übersetzung mehrfach nachgedruckt. 7. Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Neue Ausgabe. Revidiert von Dr. Johannes Franzkowiak. Freiburg i.Br. 2005. (Frb) Die sogenannte Freiburger oder Herder-Bibel geht für das NT auf die Übersetzung und Kommentierung durch Willibald Lauck, Wilhelm Bartelt, Otto Cohausz, Edmund Kalt, Peter Ketter und Heinrich Molitor von 1935-50 zurück und erschien erstmals vollständig 1955. Sie wurde für die 2. Aufl. von 1966 von den Benediktinermönchen der Erzabtei Beuron in Abstimmung mit der „Jerusalemer Bibel“ von 1956 grundlegend überarbeitet. Seither gibt es mehrere Nachdrucke der mit kirchlicher Druckerlaubnis versehenen Neufassung. 8. Die Bibel. Einheitsübersetzung. Gesamtausgabe. Mit Kommentar von Eleonore Beck. Stuttgart 2001. (Ein) Die Einheitsübersetzung geht auf die Anregung der katholischen Bischöfe Deutschlands von 1961 zurück und wurde unter Zugrundelegung der griechischen und hebräischen Originaltexte zunächst von Katholiken und Mitgliedern der evangelischen Michaelsbruderschaft und seit 1967 unter Mitbeteiligung der Evangelischen Kirche Deutschlands erarbeitet. Vom so entstandenen ökumenischen Text wurde 1969-72 ein Probedruck des NT veröffentlicht und dann von 1975-79 überarbeitet, ehe 1980 die endgültige, auch das AT enthaltende Gesamtbibel veröffentlicht wurde. Die Einheitsübersetzung wurde nach Einführung der Volkssprachen im Gottesdienst durch das Zweite Vatikanische Konzil der verbindliche katholische Bibeltext aller deutschsprachigen Diözesen. Am NT waren nicht weniger als 39 Übersetzer und 28 Mitarbeiter für Einzelprobleme beteiligt, denen noch 24 Beauftragte für die Revision folgten. Die Einheitsübersetzung ist also gegenüber den geläufigen Übersetzungen eines Einzelnen ein großes Gemeinschaftswerk. 9. Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz. München 1989. (Sti) Der Schwabe Fridolin Stier (1902-81) war von 1927-46 zunächst Lektor und dann Dozent für den alten Orient und von 1946-52 Professor für das AT an der Katholischen Fakultät der Universität Tübingen, ehe er aus disziplinarischen Gründen an die philosophische Fakultät versetzt wurde und dort bis 1972 lehrte. Für seine Lehrveranstaltungen ging er stets vom originalen Bibeltext aus, den er für seine Hörer adäquat zu übersetzen trachtete. Daraus entstand die dem griechischen Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 515 Originaltext eng folgende, doch von eigenwilligen Manierismen bestimmte Übersetzung des NT, von der Stier 1965 bloß das Markusevangelium veröffentlichte. Bis zu seinem Lebensende setzte Stier die Übersetzung der weiteren Schriften des NT fort, konnte aber stets feilend das Gesamtwerk nicht mehr abschließen. Es wurde erst 1989 aus seinem Nachlass herausgegeben, wobei aber nicht alle Texte die von Stier erstrebte endgültige Fassung erhalten haben. 10. Gute Nachricht Bibel. Altes und Neues Testament. Stuttgart 2000. (GN) Die erste Ausgabe des NT dieser Bibel erschien 1968 als „Die gute Nachricht für Sie“ in Anlehnung an die angloamerikanische Bibelübersetzung „Good News for Modern Man“. Sie wurde 1971 von einer größeren Gruppe katholischer und evangelischer Theologen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nach dem griechischen Originaltext von Nestle/ Aland überarbeitet, 1977 um eine Auswahl aus dem AT erweitert und 1982 erstmals als Gesamtbibel unter dem Titel „Die Bibel im heutigen Deutsch - Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments“ veröffentlicht. 1997 erfolgte eine neuerliche Revision, die sich u.a. unter dem Einfluss der feministischen Theologie um eine „frauengerechte Wiedergabe“ bemüht. 11. Neues Leben. Neues Testament mit Psalmen und Sprüchen. Holzgerlingen 2002. (NL) Dieses von einer Gruppe von Übersetzern und Theologen erarbeitete NT steht in enger Verbindung mit der angloamerikanischen Bibelübersetzung „Holy-Bible - New Living Translation (New Testament with Psalms and Proverbs)“ von 1996. Es dürfte zunächst aus der angloamerikanischen Vorlage übersetzt und dann nach dem griechischen Originaltext von Nestle/ Aland überarbeitet worden sein. Erstrebt wird „den biblischen Urtext so zu übersetzen, dass die Gedanken des Originaltextes vollkommen wiedergegeben werden und dennoch dem heutigen Sprachgebrauch angepasst sind“ sowie „den von den biblischen Autoren beabsichtigten Sinn den Lesern von heute zu vermitteln“. Die „Neue Leben“-Übersetzung kann daher als Musterbeispiel für eine rezipientenausgerichtete wirkungstreue Übersetzung gelten. 12. Neue Genfer Übersetzung. Teilausgabe des Neuen Testaments. Genf 2003. (Ge) Die Genfer Bibelgesellschaft der reformierten kalvinistischen Kirche gibt ihre neue kritische Übersetzung des NT nach dem griechischen Originaltext von Nestle/ Aland seit 1994 sukzessive heraus. Das bisher Erschienene - Evangelien, Apostelgeschichte, einige Briefe, Offenbarung - wurde 2003 erstmals zum Buch zusammengefasst. Jede Abweichung vom griechischen Originaltext oder sprachlich bedingte Ungenauigkeiten der Übersetzung sowie alternative Übersetzungs- Peter Wiesinger 516 möglichkeiten werden in Anmerkungen ebenso angegeben wie dort sachdienliche Erläuterungen zu finden sind. 13. Die vier Evangelien. Übersetzt von Walter Jens. 2. Aufl. Stuttgart 2002. (Je) Walter Jens (*1923) habilitierte sich 1949 für Klassische Philologie in Tübingen, wo er bis 1965 zum ordentlichen Professor für dieses Fach aufstieg und sich besonders mit der griechischen Tragödie befasste. 1976 wurde seine Lehrkanzel um Rhetorik erweitert. Schon früh betätigte sich Jens literarisch und trat 1949 der Gruppe 47 bei. Er war dann Mitglied und zeitweilig Präsident des PEN-Klubs. Als protestantischer Christ trat er für die freie, unabhängige Mündigkeit des Christen ein und trug in diesem Sinn auch zur Theologie bei. So gab er u.a. 1978-84 in acht Predigtreihen „Gedanken zu biblischen Texten“ verschiedener Christen heraus. Warum und nach welchen Prinzipien Jens die Evangelien übersetzte, ist nicht bekannt. 2 1972 veröffentlichte er das Matthäusevangelium, wobei er zwar sehr frei, aber noch deutlich dem griechischen Originaltext folgend übersetzte. Es hat den Anschein, als ob Jens mit seiner im Stil literarisch-poetisch ausgerichteten, sinntreuen Übersetzung der strukturtreuen, nicht von eigenwilligen Manierismen freien Übersetzung seines Amtskollegen Stier ein Gegenbeispiel geben wollte. Nachdem Stiers Gesamtübersetzung 1989 erschienen war, setzte auch Jens 1990-93 mit den drei weiteren Evangelien fort, die er gleich Matthäus jeweils unter ein Motto stellte, so z.B. Markus als „Die Zeit ist erfüllt. Die Stunde ist da“. Diese späteren Übersetzungen verdienen jedoch kaum diese Bezeichnung, zumal sie sehr freie poetisch-rhetorische Nachgestaltungen mit journalistisch-effekthaschendem Einschlag sind, wenn z.B. im Markusevangelium die Berichte immer wieder mit der Phrase „Und ich erzähle“ oder im Lukasevangelium der Adressat des Prologs Theophilus immer wieder in verschiedener Weise angesprochen wird. Auch formal gestaltet Jens den Text eigenwillig, wobei er grundsätzlich auf die Verszählung verzichtet. Ist Matthäus, von längeren Redeabschnitten abgesehen, noch in Prosaform fortlaufend geschrieben, so wählt Jens schon hier in den längeren Reden und dann für die drei weiteren Evangelien insgesamt eine versähnliche Kolongestaltung, als ob Dichtung in freien Rhythmen vorliegen würde. Es waren wahrscheinlich nicht religiös-kirchliche, sondern vielmehr literarische und sprachlich-stilistische Motive, die Jens zu seinen Übersetzungen veranlassten. Entsprechend würdigte der germanistische Literaturwissenschaftler Walter Hinck „Jens’ Übertragung von Teilen des Neuen 2 Mein an Walter Jens 2004 gerichtetes diesbezügliches Schreiben blieb leider unbeantwortet. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 517 Testaments [auch] als den einzig zählenden Versuch einer dichterischen Erneuerung der deutschen Bibel in unserer Zeit“. 3 Die schon mehrfach erwähnte, auch von uns herangezogene kritische Ausgabe des griechischen Originaltextes des Neuen Testaments ist Nestle/ Aland: Novum Testamentum. Graece et Latine. Textum Graecum post Eberhard et Erwin Nestle communiter ediderunt Barbara et Kurt Aland … Textus Latinus Novae Vulgatae Bibliorum Sacrorum Editioni debetur. Utriusque textus apparatum criticum recensuerunt et editionem novis curis elaboraverunt Barbara et Kurt Aland una cum Instituto Studiorum Textus Novi Testamenti Monasterii Westphaliae. 3. neubearb. Aufl., 4. korr. und um die Papyri 99-116 erweit. Druck. Stuttgart 2002. Bei der Auswahl der folgenden Beispiele führen wir, wenn nicht anders erforderlich, dem Wörterbuchbrauch folgend Substantive im Nominativ Singular und Verben in der 1. Person Singular Präsens an. Dem griechischen Text fügen wir in gleicher Weise die lateinische Entsprechung der Vulgata (V) und bei Abweichung in Klammern die Übersetzung der Nova Vulgata (NV) hinzu, wobei Nestle/ Aland im Apparat die Lesungen der Vulgata vermerkt. Dabei entnehmen wir den Vulgatatext nach der Clementina aus Novum Testamentum. Graece et Latine. Utrumque textum cum apparatu critico imprimendum curavit Eberhard Nestle novis curis elaboraverunt Erwin Nestle et Kurt Aland. 22. Aufl. Stuttgart 1963. Gelegentlich abweichende deutsche Übersetzungen von Nestle/ Aland beruhen meist auf der Heranziehung von Lesarten anderer griechischer Handschriften, was wir nur allgemein vermerken. Genaue diesbezügliche Angaben können dem kritischen Apparat von Nestle/ Aland entnommen werden. Die Auswahl der folgenden Beispiele entnehmen wir soweit wie möglich dem Markusevangelium (Mk) als dem ältesten der vier Evangelien, dessen Entstehung mehrheitlich um 70 n. Chr. angenommen wird. Es war nicht nur den jüngeren Synoptikern Matthäus (Mt) und Lukas (Lk), sondern auch dem eigenständigen Verfasser des Johannesevangeliums (Joh) bekannt. Die ältesten neutestamentlichen Texte sind jedoch der 1. Brief des Apostels Paulus an die Tessalonicher (1. Thess) von 51 n. Chr. und der 1. Brief an die Korinther (1. Kor), den Paulus zwischen 53 und 55 n. Chr. schrieb. Es ist daher anzunehmen, dass Paulus und Markus die sich in der frühchristlichen Kirche bildende biblische Sprache bzw. Terminologie gebrauchen, die in den jüngeren Schriften des NT weiterwirkt. Teilweise berücksichtigen wir auch die Apostelgeschichte (Apg) und gelegentlich den Römerbrief (Röm) und den 1. Johannesbrief (1. Joh). Im Allgemeinen genügt für die behandelten Ausdrücke die exemplarische Heranziehung weniger Stellen, denn derselbe Aus- 3 Vgl. die betreffende Angabe auf dem Einband der Ausgabe. Peter Wiesinger 518 druck kehrt sowohl im griechischen Originaltext als auch in den meisten Übersetzungen an den anderen Stellen des NT wieder. 4 3 Zur Wiedergabe biblischer Begriffe, Personen und Vorgänge 3.1 Wie nennt Jesus seine Verkündigung? Nach Mk 1,14; 13,10 und 16,15 bezeichnet Jesus seine Verkündigung vom Reich Gottes als eÙaggšlion / evangelium: Mk 1,14 khrÚsswn tÕ eÙaggšlion toà qeoà / praedicans evangelium regni [NV - ] dei. Entsprechend leitet Mk sein ganzes Werk ein mit Mk 1,1 ’ Arc¾ toà eÙaggel…ou ’ Ihsoà Cristoà / Initium evangelii Jesu Christi. Paulus bezeichnet seinen Auftrag verbal als 1. Kor 1,17 oÙ … bapt zein ¢ll¦ eÙaggel zesqai / non … baptizare sed evangelizare. Das griechische Substantiv ist ein Kompositum mit dem Adverb eâ ‘gut, wohl’ und einer Ableitung von ¥ggeloj ‘Bote, Nachricht’ bzw. ¢gg llw ‘melden, verkünden, eine Botschaft sagen’, so dass eÙaggšlion ‘gute Botschaft’ heißt. Im Lateinischen bleibt es als evangelium Lehnwort, und auch im Deutschen ist es ein entsprechender feststehender Terminus. Dem gemäß sprechen Lu, Zü, Al, Elb, Rö, Kü und Ein auch vom Evangelium. Dagegen versuchen die anderen Autoren verschiedene Übersetzungen: Frb und Sti Heilsbotschaft, GN entsprechend ihrem Motto Gute Nachricht und NL Gute Botschaft. Ge verhält sich uneinheitlich, indem es wechselt: Mk 1,1; 8,35; 13,10 Evangelium, 1,14 Botschaft Gottes, 1,15 gute Botschaft, 1. Kor 1,17 Evangelium. Ebenso variabel verfährt Je: Mk 1,1 Botschaft Gottes; 1,14 das gute Wort, Gottes Botschaft; 1,15 Botschaft; 8,35 Botschaft von Gott; 13,10 Botschaft vom Königreich Gottes. 5 Ist bei Varianten nicht ersichtlich, dass es sich stets um den gleichen Ausdruck der Vorlage handelt, so wird im Falle der Übersetzungsversuche nicht deutlich, dass dabei ein feststehender Terminus vorliegt, wenn auch sein unmittelbarer Sinn dem Leser vermittelt werden soll. 4 Als Hilfsmittel verwenden wir im Folgenden die Grammatiken von Blass/ Debrunner, Bornemann und Stoy/ Haag sowie die Wörterbücher bzw. Begriffslexika von Pape, Gemoll, Bauer, Balz/ Schneider und Coenen/ Haacker. Zum Lateinischen ziehen wir heran die Wörterbücher von Georges und Sleumer/ Schmid. Ebenso konsultiert werden RGG und LThK. Um die Darstellung nicht unnötig zu komplizieren, werden diese Werke nur bei problematischen Stellen besonders zitiert. 5 Bott führt in der Neubearbeitung von Rö den sonst nicht gebrauchten Begriff Frohbotschaft ein. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 519 3.2 Wie werden Jesus und seine Begleiter bezeichnet? Bei den Bezeichnungen für Jesus ist zu unterscheiden zwischen der Eigenbezeichnung und wie er von anderen bezeichnet wird. Ebenso gibt es mehrere Bezeichnungen für seine von ihm selbst gewählten zwölf Begleiter. Bezüglich seiner messianischen Sendung nennt sich Jesus stets ab Mk 2,10 Ð u Òj toà ¢nqrîpou / filius hominis, was unproblematisch durchwegs als Menschensohn und nur von Elb wörtlich als Sohn des Menschen übersetzt wird. Seine zwölf Begleiter haben Jesus in ihrer aramäischen Sprache als Rabbi angesprochen, wie aus Mk 9,5; 11,21; 14,45 hervorgeht. Es heißt wörtlich ‘mein Großer’ und war die ehrende Anrede für die Gesetzeslehrer, die Schriftgelehrten. Da Jesus wie jene lehrend auftrat, konnte ihm auch die ehrerbietige Steigerung dieser Anrede Rabbuni zuteil werden. So ruft ihn nach Mk 10,51 der Blinde von Jericho an, der geheilt werden möchte, und so spricht Maria Magdalena nach Joh 20,16 den erkannten Auferstandenen an, wobei die dort mitgegebene griechische Übersetzung mehrheitlich did£skaloj ‘Lehrer’ von did£skw ‘lehren, unterrichten’ lautet, was aber die Cambridger Hs. D des 5. Jhs. treffender mit kÚrioj ‘Herr’ wiedergibt, dem auch einige Versionen der Vetus latina mit dominus folgen. So spricht Jesus auch an die Heilung suchende Griechin Mk 7,28, die Samariterin am Jakobsbrunnen Joh 4,11, der für seinen sterbenden Sohn flehende königliche Beamter Joh 4,49 und die Ehebrecherin Joh 8,11. Wenn gelegentlich auch die Begleiter Jesus so anreden wie z.B. Joh 6,34 und 13,25, so mag es ebenfalls Übersetzung von Rabbi sein. Die häufigste Anrede für Jesus sowohl von seinen Begleitern als auch von Schriftgelehrten, Pharisäern und herantretenden Personen aber ist did£skaloj / magister, wie Jesus sich auch selbst bezeichnet, als er nach Mk 14,14, Mt 26,18 und Lk 22,11 seine Begleiter ausschickt, den Raum für das letzte Paschamahl zu bestellen. Die von Jesus selbst ausgewählten engsten Begleiter sind zwölf an der Zahl (Mk 3,14,16), so dass sie als Gruppe auch mehrfach als oƒ dèdeka / duodecim ‘die Zwölf’ bezeichnet werden wie Mk 4,10; 6,7; 9,35; 14,17,20. Ihrer Funktion nach sind sie nach der mehrheitlichen Bezeichnung wie Mk 5,31; 6,35, 45; 7,2 maqhta / discipuli ‘Schüler’ von manq£nw ‘lernen’. An einer einzigen Stelle nennt sie Mk 6,30 ¢pÒstoloi / apostoli ‘Abgesandte, Boten’ von ¢post llw ‘ausschicken, aussenden’, das als Apostel ein neutestamentlicher Fachterminus wird. Erst nach Jesu Himmelfahrt und dem Pfingstfest werden sie zu ‘Aposteln’, wie sie die Apostelgeschichte von Anfang an bezeichnet, so dass Mk 6,30 sichtlich vorgreift. Das ist auch anlässlich der Wahl der Zwölf der Fall, wo es heißt Lk. 6,13 oÞj ka ¢postÒlouj çnÒmasen / quos et apostolos nominavit ‘die er auch Apostel nannte’. Wer also die mehrheitlichen griechischen Bezeichnungen für Jesus und seine Begleiter textgetreu übersetzen will, sollte Lehrer und Schüler sagen. Das ist mit Freiheiten bloß bei Je der Fall. Zwar übersetzt Je stets Schüler, schwankt aber im anderen Fall, indem er z.B. in Mk 12,14,19,32 zwar richtig Lehrer Peter Wiesinger 520 sagt, aber die gleiche Vorlage in Mk 10,20,35; 13,1 mit aramäischem Rabbi, in Mk 9,17 mit Herr und in Mk 5,35 mit Meister wiedergibt. Einheitlich für korrektes Lehrer entscheiden sich Zü, Elb, Sti, GN und NL, aber die ‘Schüler’ sind für sie wie für sämtliche weitere Übersetzungen Jünger, so dass das richtige Verhältnis bezeichnungsmäßig gestört erscheint. Dies ist gänzlich der Fall bei Lu, Al, Rö, Kü, Frb, Ein und Ge, wo sich Meister und Jünger gegenüberstehen. Dies ist zwar in keinem der Fälle semantisch falsch, entspricht aber eben nicht der griechischen Vorlage, sondern folgt vielmehr einer alten deutschen Benennungstradition. Schon in althochdeutscher Zeit gab der Altersunterschied zwischen einem älteren Lehrer und seinen jüngeren Schülern den Ausschlag für iungiron ‘Jünger’, während der lehrende und wissenschaftlich tätige Mönch mit dem lateinischen magister bezeichnet wurde, das mit Kontraktion zum bereits ahd. Lehnwort meistar führte. Schon für den um 820 entstandenen ahd. Tatian und auch um 870 für Otfrid von Weißenburg sind Jesus und seine Begleiter meistar und iungiron. So hat sich diese Tradition vom Frühmittelalter über Luther bis heute erhalten und eingebürgert. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass sich in der Gegenwartssprache der Sinnbezug von Meister verschoben hat, denn heute versteht man unter dieser Bezeichnung nicht mehr einen Lehrer, sondern nach dem „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ des Dudens (1994, Bd. 5, 2235) einen „Handwerker, der seine Ausbildung mit der Meisterprüfung abgeschlossen hat“; jemanden, der als „Meister in einem Betrieb arbeitet und einem bestimmten Arbeitsgebiet vorsteht“; und am ehesten noch dem biblischen Sinn entgegenkommend einen „Könner auf seinem Gebiet, in seiner Kunst“. Hingegen definiert das Duden-Wörterbuch (Bd. 4, 1768) Jünger ausdrücklich als Fachterminus für „einen aus dem zunächst aus zwölf Männern bestehenden Kreis von Schülern, Anhängern Jesu, die von diesem berufen wurden und in seinem Auftrag als Apostel das Evangelium verkündeten“. Das Übersetzungspaar Lehrer - Jünger von Zü, Elb, Sti, GN und NL entspricht daher gänzlich dem gegenwärtigen Sprachverständnis, wenn es auch ungewöhnlich klingen mag, während die traditionelle Wiedergabe Meister von Lu, Al, Rö, Kü, Frb, Ein und Je als veraltet gelten muss. Wie Meister ist auch Apostel, das Luther wieder aufgegriffen hat, ein seither eingebürgertes Lehnwort. Zwar war mittelhochdeutsch die Übersetzung zwelfbote geläufig, aber nur Sti übersetzt die griechische Vorlage mit Sendbote, während sämtliche andere Übersetzungen beim Lehnwort Apostel bleiben. 3.3 Was verlangt Jesus von denen, die ihm nachfolgen möchten? Bezüglich seiner Nachfolge als Jünger verlangt Jesus Folgendes: Lk 14,26 e tij rcetai prÒj me ka oÙ mise tÕn pat ra Œautoà ka t¾n mht ra ka t¾n guna ka ka t¦ t kna ka toÝj ¢delfoÝj ka t¦j ¢delf¦j ti te ka t¾n yuc¾n Œautoà , oÙ dÚnatai ei ’nai mou maqht j / Si quis venit ad me et non odit patrem suum Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 521 et matrem et uxorem et filios et fratres et sorores, adhuc autem [NV - ] et animam suam, non potest meus esse [NV esse meus] discipulus. Es geht hier um das Verbum misšw . Es begegnet mehrfach auch bei Johannes. So sagt Jesus in fast sinngleicher Weise Joh 12, 25 Ð filîn t¾n yuc¾n aÙtoà apollÚei aÙt n, ka Ð misîn t¾n yuc¾n aÙtoà ™n tù kÒsmwÄ toÚtwÄ e„j zw¾n a„ènion ful£xei aÙt»n / Qui amat animam suam, perdet [NV perdit] eam; et qui odit animam suam in hoc mundo, in vitam aeternam custodit [NV custodiet] eam. Eine andere, das Verbum misšw enthaltende Stelle ist z.B. Joh 7, 7 oÙ dÚnatai Ð kÒsmoj mise‹n Øm©j , ™me ` de ` mise‹ / non potest mundus odisse vos, me autem odit. Griechisch misšw heißt ausschließlich ‘hassen, mit Hass verfolgen, verabscheuen’, und kein Übersetzer zögert, Joh 7,7 anders als mit hassen zu übersetzen. So heißt es z.B. bei Kü: Joh 7, 7 Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie. Man sollte nun glauben, dass dasselbe Verbum misšw in Lk 14,26 und Joh 12,25 ebenfalls mit hassen übersetzt wird. Tatsächlich ist dies wie in Joh 7,7 auch der Fall bei Lu, Zü, Al, Elb, Rö, Frb und Sti. So übersetzt Sti wortgetreu: Lk 14,26 Wenn einer zu mir kommt und nicht hasst seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, und noch dazu sein eigen Leben, kann er nicht mein Jünger sein. Die Johannes-Stelle wird auch von Kü mit hassen übersetzt: Joh 12,25 Wer sein Leben liebt, verliert es, und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zu ewigem Leben bewahren. Was für einige Übersetzer der wortgetreuen Wiedergabe des griechischen Originaltextes jedoch entgegensteht und zu verschiedenen abweichenden Umschreibungen führt, ist die theologische Auslegung. Wie kann denn Jesus, der sonst Nächstenliebe predigt und vorlebt, hier Hass verkünden gegen die Menschen, die man normalerweise besonders liebt, vor allem aber Vater und Mutter, die das vierte Gebot zu ehren fordert, ja gegen sich selbst, wo doch die Eigenliebe als Maßstab der Nächstenliebe gilt? Es wird daher das Verbum misšw in Lk 14,26 und sinngleichem Joh 12,25 in unterschiedlicher Weise durch Paraphrasierung abgeschwächt: Kü: Lk 14,26 Wenn jemand zu mir kommt und er sagt sich nicht los von Vater und Mutter … Ein: Lk 14,26 Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter … gering achtet … Joh, 12,25: Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. GN: Lk 14,26: Wer sich mir anschließen will, muss bereit sein, mit Vater und Mutter zu brechen … Peter Wiesinger 522 Joh 12,25: Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es für das ewige Leben bewahren. NL: Lk 14,26: Wer mir nachfolgen will, muss mich mehr lieben als Vater und Mutter …. Joh 12,25: Wer sein Leben in in dieser Welt gering achtet, wird es zum ewigen Leben bewahren. Ge: Lk 14,26: Wenn jemand zu mir kommen will, muss er alles andere zurückstellen - Vater und Mutter … Joh 12,25: Wer aber in dieser Welt sein Leben loslässt, der wird es für das ewige Leben in Sicherheit bringen. Je: Lu 14,26: Ein Mensch, der zu mir kommt - so wie ihr! - und seinen Vater … höher in Ehren hält als mich … Joh 12,25: Wer aber in dieser Welt sein Leben für nichtswürdig hält, weil es nur s e i n Leben ist, und es hingibt, damit es Frucht bringe unter den Menschen, der wird es wiedergewinnen, unter den Himmeln, und wird in Ewigkeit leben. Diese verschiedenen Paraphrasierungen von misšw ‘hassen’ spannen einen weiten Bogen von noch negativem Inhalt bis zum Gegenteil der positiven Aussage. Abgeschwächten, doch noch negativen Aspekt beinhalten bei Lk 14,26 Kü mit sich lossagen, Ein mit gering achten und GN mit brechen. Eine Verharmlosung bietet Ge mit alles andere zurückstellen. Die Verkehrung ins Gegenteil liefern Je mit höher in Ehren halten als mich und besonders NL mit mehr lieben, wobei Je an das vierte Gebot mit Ehrung von Vater und Mutter denken mag. Teilweise davon abweichend wird Joh 12,25 wiedergegeben. Während Kü hier ja hassen gelten lässt, wählt Ein wie bei Lk 14,26 gering achten, auf das auch GN und NL zurückgreifen, während Ge mit sein Leben loslassen farblos bleibt und Je, von der gänzlichen Abweichung vom griechischen Originaltext abgesehen, mit für nichtswürdig achten die positive Sichtweise würdig negiert. Der Bibelleser, der den griechischen Originaltext nicht kennt, wird also bezüglich der radikalen Aussage Jesu, für seine Nachfolge alle lieb gewordenen Verwandten und sogar sich selbst mit Hass aufzugeben, das heißt sich zur Gänze in seinen Dienst zu stellen, wovon sich übrigens u.a. das Mönchtum und der Zölibat herleiten, von einer Reihe von Übersetzungen in die Irre geführt. 3.4 Was macht Jesus, bevor er Brot und Fische reichen lässt bzw. selber Brot und Wein reicht? Das Handeln Jesu, wenn er bei den Brotvermehrungen Brot und Fische reichen lässt, wird ebenso unterschiedlich beschrieben wie die Reichung von Brot und Wein beim letzten Paschamahl. Bei der ersten Brotvermehrung nahm Jesu nach Mk 6,41 die fünf Brote und zwei Fische, blickte zum Himmel, eÙlÒghsen kai katšklasen toÝj ¥rtouj …/ benedixit et fregit panes … Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 523 Ebenso heißt es an den Parallelstellen bei Mt 14,19 und Lk 9,16. Dagegen vollzieht Jesus bei der zweiten Brotvermehrung nach Mk 8, 6-7 die Vorgänge getrennt, wobei er labën toÝj ˜pt¦ ¥rtouj eÙcarist»saj œklasen ... / et accipiens septem panes, gratias agens fregit … und die Fische eÙlog»saj aÙt¦ / benedicens eos den Jüngern zur Verteilung übergab. In der Parallelstelle bei Mt 15,36 werden beide Vorgänge zusammengezogen und es heißt œlaben toÝj ˜pt¦ ¥rtouj kaˆ toÝj „cqÚaj kaˆ eÙcarist»saj œklasen …/ et accipiens septem panes et pisces et gratias agens fregit … Beim letzten Paschamahl handelt Jesus verschieden, indem er nach Mk 14,22 zwar ¥rton eÙlog»saj œklasen …/ accepit Jesus [NV - ] panem et benedicens fregit, aber nach Mk 14,23 kaˆ labën pot»rion eÙcarist»saj œdwken aÙto j / et accepto calice, gratias agens dedit eis. Auch an der Parallelstelle Mt 26, 26-27 gilt die Verschiedenheit der Vorgänge, während es bei Lk 22,17,19 in beiden Fällen eÙcarist»saj / gratias agens heißt. Nach Joh 6,11,23 hat Jesus bei der Brotvermehrung und nach dem Bericht vom letzten Paschamahl durch Paulus 1. Kor 11, 23-24 ¥rton kaˆ eÙcarist»saj œklasen …/ panem gratias agens fregit … Es handelt sich also, wie immer die Verteilungen sind, um zwei Vorgänge, die mit den Verben eÙlog w und eÙcarist w ausgedrückt werden. Beide sind Präfigierungen mit dem Adverb eâ ‘gut, wohl’ und Ableitungen von eÙlog a ‘Lob, Lobpreisung, Segen’ zu l gw ‘sagen, sprechen’ bzw. von c£rij ‘Dank’ als Bildungen des NT mit den Bedeutungen ‘Segen sprechen, segnen’ bzw. ‘Dank sagen, danken’. Das Lateinische bildet benedicere unmittelbar nach bzw. umschreibt mit gratias agere. Was Jesus jeweils vollzieht, sind also aus sprachlicher Sicht zwei verschiedene Vorgänge, wenngleich ihre Bezeichnungen an den verschiedenen Stellen ausgetauscht auftreten. Exegeten sehen darin einen promisken Gebrauch, denn es war bei den Juden üblich, dass der Hausvater vor der Mahlzeit das Lob- und Dankgebet sprach (vgl. Balz/ Schneider 1992, Bd. 2, 198- 201). Das veranlasst Lu in Mk 6,41; 8,7; 14,22 sowie in Mk 8,6; 14,23, um nur zwei der obgenannten Stellen exemplarisch zu nennen, stets mit einheitlichem danken zu übersetzen. Genauso verfahren Zü mit der Phrase das Dankgebet sprechen und wenn auch formal etwas unterschiedlich, doch semantisch gleich, Ge mit Gott danken bzw. das Dankgebet sprechen. Dagegen unterscheiden alle anderen Übersetzungen den überlieferten zweifachen Wortlaut. So heißt es bei Al, Elb und Rö in verbaler Weise segnen und danken. Umschrei- Peter Wiesinger 524 bungen verwenden Kü als den Segen sprechen bzw. Dank sagen, Sti mit die Preisung bzw. den Dank sprechen, Ein mit den Lobpreis bzw. das Dankgebet sprechen sowie Frb und GN mit das Segensgebet bzw. das Dankgebet sprechen. Etwas uneinheitlich drücken sich NL und Je aus, indem bei NL Gott um seinen Segen bitten, um Gottes Segen bitten und Gottes Segen erbitten bzw. Gott danken, Dank sagen und Dankgebet wechseln. Dagegen verfährt Je willkürlich, indem er teilweise richtig wie in Mk 14, 22-23 und Mt 26, 26-27 segnen und das Dankgebet sprechen unterscheidet, gelegentlich beide Ausdrücke für nur einen der Vorlage gebraucht wie in Joh 6,11 da nahm er die Brote, segnete sie und sagte Dank und teilweise parallel zu Luther für beide Ausdrücke einheitliches segnen bzw. den Segen sprechen verwendet wie in Joh 6,23 und Lk 9,16; 22,17,19. Es ist also bezüglich des griechischen Originaltextes nicht richtig, für die beiden verschiedenen Handlungen des Lobpreisens bzw. Segnens und des Dankens nur einen gemeinsamen Ausdruck zu gebrauchen wie Lu und Zü, teilweise Je und in semantischer Hinsicht Ge, wenngleich sie der exegetischen Auslegung als nur einem Vorgang folgen. Da Segnen ein eingebürgerter liturgischer Brauch ist, der lat. benedicere heißt, und die Segnung die benedictio ist, verschieben die Umschreibungen die Preisung sprechen von Sti und den Lobpreis sprechen von Ein den Sinn nicht nur zugunsten der Etymologie des Wortes eÙlog w , sondern schließen sich ebenfalls der exegetischen Auslegung an. Zwischen den verbalen Übersetzungen als segnen und danken von Al, Elb und Rö und der Auflösung den Segen sprechen und Dank sagen von Kü besteht jedoch kein inhaltlicher Unterschied. Wenn hingegen Jesus vor seiner Aufnahme in den Himmel nach Lu 24, 50-51 denselben Vorgang vollzieht, indem er seine Jünger eÙlÒghsen aÙtoàj / benedixit eos, dann handelt er nach dem jüdischen Brauch des sich Verabschiedens. Es zögern hier daher weder Lu, Zü und Ge noch Kü, Frb, GN, Ein und NL das Verbum einheitlich mit segnen wiederzugeben. Nur Sti bleibt auch hier beharrlich bei (er) sprach die Preisung über sie. 3.5 Was widerfährt Jesus am dritten Tag nach seinem Tod am Kreuz? Was kirchlich 'An£stasij toà kur ou / Resurrectio Domini und volkstümlich Auferstehung (des Herren) heißt, bildet die Grundlage des christlichen Glaubens. Dabei ist in theologischer Hinsicht zwischen Kerygma und Dogma, also zwischen der biblischen Botschaft des NT und da insbesondere der ältesten Überlieferung, wie dem Markusevangelium und dem ersten Thessalonicher- und 1. Korintherbrief des Paulus, und der sich teilweise schon in den jüngeren Schriften des NT auswirkenden Glaubensentwicklung zu unterscheiden. 6 Solchen Fragen können wir freilich nicht nachgehen, doch 6 Die zum Teil unterschiedlichen katholisch-theologischen und evangelisch-theologischen Auffassungen der Auferstehung Jesu legen zusammenfassend dar LThK (1957, 2. Aufl., Bd. 1, Sp. 1028-1041) bzw. LThK (1993, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 1177-1191) und RGG Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 525 beeinflusst die dogmatische Entwicklung nicht nur bereits teilweise die griechischen und dann die lateinischen Texte, sondern sie bestimmt zum Teil auch die deutschen Bibelübersetzungen, so dass Abweichungen zwischen den griechischen Originaltexten und ihren deutschen Wiedergaben auftreten. Hier ist in erster Linie zu fragen, was in den griechischen Originaltexten steht und wie dies ins Deutsche übersetzt wird. Die Vorstellung von der Auferstehung der Toten ist ein junger Glaube der Juden, der um die Wende vom 3. zum 2. Jh. v. Chr. aufkam und im AT erstmals um 170 v. Chr. beim Propheten Daniel 12, 2-3, 13 deutlich belegt ist (vgl. LThK 1993, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 1191ff.; RGG 1998, 4. Aufl., Bd. 1, Sp. 915ff.): Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. […] Du wirst ruhen, und am Ende der Tage wirst du auferstehen, um dein Erbteil zu empfangen. (Ein) Zur Zeit Jesu ist der Glaube an die Auferstehung der Toten weitgehend fest verankert. So diskutieren mit ihm nicht nur die Sadduzäer darüber, die allerdings die Auferstehung leugnen (Mk 12,18-27; Lk 20,27-40), sondern als Lazarus verstorben ist und Jesus Martha dessen Auferstehung versichert, weiß Martha Joh 11,24 oi ’da Óti ¢nast setai œn tÍ ¢nast£sei œn tÍ œsc£tV ¹mšrv / scio quia resurget in resurrectione in novissimo die. Was Jesus an Lazarus gewirkt hat, sagt Joh 12,1 L£zaroj , Ón ½geiren œk nekrîn 'Ihsoàj / Lazarus, … quem suscitavit [NV a mortuis] Jesus. Bei seiner dreimaligen Leidensankündigung prophezeit Jesus Mk 8,31; 9,31; 10,34 Mk 8,31 de tÕn u Õn toà ¢nqrèpou … ¢poktanqÁnai kaˆ met¦ tre‹j ¹m raj ¢nastÁnai / oportet filium hominis … occidi et post tres dies resurgere. Als die Frauen am Ostermorgen den ins Grab gelegten Leichnam Jesu salben wollen, verkündet ihnen der zur rechten Seite des Grabes sitzende Jüngling Mk 16,6 'Ihsoàn zhte‹te tÕn NazarhnÕn tÕn œstaurwm non: ºg rqh / Iesum quaeritis crucifixum. Surrexit. Auch der bekannte Satz in Lk 24,34, der zum geläufigen Ostergruß der orthodoxen Christen wurde, lautet gleich der Markus-Stelle: Ôntwj ºg rqh Ð kÚrioj / surrexit dominus vere. Und in gleicher Weise lautet das Auferstehungszeugnis des Paulus von 53- 55 n. Chr. in 1. Kor 15,4, 12-15, wo es 15,13 heißt: (1957, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 698-702) bzw. RGG (1998, 4. Aufl., Bd. 1, Sp. 922-928). Zum griechischen Wortgebrauch und seiner Erklärung vgl. auch Coenen/ Haacker (1997, Bd. 1, 89-102) und Balz/ Schneider (1992, Bd. 1, Sp. 210-221). Für RGG (3. Aufl.) ist die Unterscheidung zwischen Kerygma und Dogma besonders wichtig. Peter Wiesinger 526 e„ de ` ¢n£stasij nekrîn oÙk stin , oÙde ` CristÕj œg gertai / si autem ressurrectio mortuorum non est, neque Christus resurrexit [NV suscitatus est]. Wie die Stellen zeigen, gibt es im Griechischen hier zwei Verben: ¢n sthmi , das transitiv ‘jemanden aufrichten, jemanden aufstehen machen’ und dessen intransitives Medium ¢n stamai ‘aufstehen, sich erheben’ bedeutet und von dem sich das Substantiv ¢n£stasij ‘das Aufstehen, die Auferstehung’ herleitet, sowie das Verbum œge rw , das aktiv und passiv transitiv ist und ‘erwecken, aufstehen machen’ bedeutet und dessen Medium œge romai ‘erwachen, aufwachen’ ausdrückt. Beide Verben sind daher semantisch eng miteinander verwandt, und wenn Jesus dem Gelähmten aufzustehen befiehlt, heißt der Imperativ im NT geire / surge (Mk 2,9). Das führt dazu, dass beide Verben in der Apostelgeschichte austauschbar werden. So heißt es Apg 2,32 (und ähnlich 2,24): toàton tÕn 'Ihsoàn ¢n sthsen Ð qeÒj / hunc Iesum resuscitavit deus, aber Apg 5,30 (und ähnlich 4,10) Ð qeÕj tîn pat rwn ¹mîn ½geiren 'Ihsoàn / deus patrum nostrorum suscitavit Iesum. Auch bei den Leidensankündigungen steht Mk 8,31 ¢nastÁnai bei der Parallelstelle in Mt 16,21 œgerqÁnai gegenüber. Im Lateinischen, das im Verbalbereich grammatikalisch wesentlich eingeschränkter ist als das Griechische, werden zwar intransitives ¢n stamai mit surgo, -ere ‘aufstehen, sich erheben’ und œge rw mit suscito, -are ‘wecken, zum Aufstehen bringen’ übersetzt, wozu jeweils die adverbialen Präfigierungen mit re- ‘wieder’ hinzutreten. Wegen der potentiellen Austauschbarkeit und Bedeutungsgleichheit der beiden griechischen Verben im NT sowie der lateinischen Beschränktheit wird jedoch der passive Aorist ºg rqh ‘er wurde auferweckt’ in Mk 16,16 und Lk 24,36, der im NT an die Stelle des medialen Aorists ½groto ‘er wachte auf’ tritt, mit dem aktiven Perfekt surrexit und in 1. Kor 15,13 das passive Perfekt œg gertai ‘er ist auferweckt worden’, das mit dem Aktivum ‘er ist auferstanden’ bedeutungsgleich geworden ist, ebenfalls mit dem aktiven Perfekt resurrexit ‘ist auferstanden’ wiedergegeben (vgl. Blass/ Debrunner 2001, §101,20; 342,4). Letzteres verbessert die NV in suscitatus est ‘er ist auferweckt worden’, weil im Griechischen trotz der Aktivbedeutungen der Passivformen deren passiver Sinn nicht völlig geschwunden ist. Es herrscht hier also bezüglich der genauen Festlegung der beabsichtigten Bedeutung Unsicherheit. Nach der weitgehenden Auffassung der griechischen Originaltexte werden die Toten im Allgemeinen ‘erweckt’ und - das ist das ursprüngliche Kerygma - auch Jesus ‘von Gott erweckt’. Ähnlich der Apg 5, 30 sagt diesbezüglich auch Paulus unmissverständlich: Röm 6, 4 sunet£fhmen oân aÙtù di¦ toà bapt smatoj e j tÕn q£naton , na ìsper ºg rqh CristÕj œk nekrîn di¦ tÁj dÒxhj toà patrÒj , oÛtwj ka ¹me j œn kainÒthti zwÁj peripat swmen / consepulti enim [NV ergo] sumus cum illo per baptismum in Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 527 mortem, ut quomodo [NV quemadmodum] Christus surrexit [NV suscitatus est Christus] a mortuis per gloriam patris, ita et nos in novitate vitae ambulemus. Parallel dazu findet sich bei Paulus ein einziges Mal der intransitive mediale Aorist II ¢n sth von ¢n stamai : 1. Thess 4,14 pisteÚomen Óti 'Ihsoàj ¢p qanen ka ¢n sth / credimus quod Iesus mortuus est et resurrexit. Dieser Vorgang heißt nach Joh 11,24 und 1. Kor 15,15 ¢n£stasij / resurrectio ‘Auferstehung’. 7 Auch Jesus kündigt in Mk 8,31 seine Auferstehung mit dem intransitiven futurische Bedeutung aufweisenden Infinitiv des Aorist II ¢nastÁnai ‘aufstehen’ an, was im Lateinischen mit dem adverbial präfigierten Aktivum resurgere ‘wieder aufstehen’ übersetzt wird. Da im Deutschen erwecken transitiv ist, vermittelt es die im griechischen Originaltext unmittelbar enthaltene Bedeutung ‘Gott erweckt den Toten’, also hier ‘Gott erweckt den toten Jesus (wieder)’. Demgegenüber aber ist im Deutschen auferstehen wie lateinisch (re)surgere ein intransitives Verbum, so dass die falsche Vorstellung entsteht, Jesus stehe aus eigener Kraft von den Toten auf. 8 Für die Erweckung des Lazarus Joh 12,1 und die Erweckung Jesu Apg 2,32 und 5,30 wird dies daher im Lateinischen korrekt mit (re)suscitare ausgedrückt, das die NV in 1. Kor 15,13 und Röm 6,4 verbessernd einsetzt, während sie in Mk 16,6 und Lk 24,34 surgere und in Mt 16,21 resurgere belässt. Die schon teilweise durch die Austauschbarkeit und Bedeutungsgleichheit einzelner Formen der beiden verwandten Verben im Griechischen und vor allem durch den lateinischen Gebrauch von (re)surgere ausgelösten unterschiedlichen Vorstellungen kehren nun in erhöhtem Maß in den deutschen Bibelübersetzungen mit transitivem auferwecken bzw. auferweckt werden (von Gott) und aktivem auferstehen (aus eigener Kraft) wieder. Im Allgemeinen werden die beiden Verben in den Übersetzungen ebenfalls unterschiedlich als auferstehen und auferwecken und das Substantiv stets mit Auferstehung wiedergegeben. Entsprechend unterscheidet Elb immer in korrekter Weise: Joh 11,24: Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tag. Joh 12,1: Lazarus, den Jesus aus den Toten auferweckt hatte. Mk 8,31: Der Sohn des Menschen muß … getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Mk 16,6 Ihr sucht Jesus, den Nazarener, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt worden. Lk 24,34: Der Herr ist wirklich auferweckt worden. 7 Das zum Verbum ge rw gehörende Substantiv gersij ‘Auferweckung’ fehlt im NT, kommt aber neben ¢n£stasij in der frühchristlichen Literatur vor, vgl. Balz / Schneider (1992, Bd. 1, Sp. 910). 8 Balz/ Schneider (1992, Bd. 1, Sp. 218) bemerkt zu 1 Thess 4,14 exegetisch „ ¢n sth drückt die Auferstehung nicht als eigene Tat aus, sondern das durch die Tat Gottes ermöglichte Auferstehen“. Peter Wiesinger 528 1. Kor 15,13: Wenn es aber keine Auferstehung der Toten gibt, so ist auch Christus nicht auferweckt. Apg 2,32: Diesen Jesus hat Gott auferweckt. Apg 5,30: Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt. Röm 6,4: So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in Neuheit des Lebens wandeln. 1. Thess 4,14 wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist. Teilweise aber werden entsprechend dem Lateinischen der Vulgata Formen von œge rw mit auferstehen wiedergegeben. So übersetzt es Lu stets in Mk 16,6; Lu 24,34 und 1. Kor 15,13, so dass also Jesus auferstanden ist. Da Al ja überhaupt die Vulgata zugrunde legt, verwundert es nicht, dass er an denselben Stellen wie Lu verfährt. Etwas uneinheitlich verhalten sich hier die katholischen Übersetzungen von Rö, Kü und Ein. Während Rö alle betreffenden Stellen wie die Vulgata mit er ist auferstanden wiedergibt, beschränken es Ein auf Mk 16,6 und Lk 24,34 und Kü bloß auf den bekannten Satz Lk 24,34. Nur Frb folgt mit auferwecken und auferstehen wie Elb gänzlich dem griechischen Originaltext. Grund für die Abweichungen ist einerseits die oben dargelegte Interpretation des formal passiven Aorists ºg rqh . Nach dem katholischen LThK (1993, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 1178) und dem katholischen Theologen Jacob Kremer (Balz/ Schneider 1992, Bd. 1, Sp. 899ff.) ist er nicht passivisch mit er wurde auferweckt, sondern medial mit er ist auferstanden zu übersetzen, weil es für die passive Auffassung kein hebräisches Äquivalent gibt und hebr. qûm nur ‘er stand auf’ heißt. Allerdings wird eingeräumt, dass eine passive Nuance nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Andererseits wirkt sich hier das auch die Vulgata bestimmende Dogma als zentrale traditionelle Lehre der Kirche aus, denn sowohl im Nizänischen als auch im Apostolischen Glaubensbekenntnis, die in der katholischen wie in der evangelischen Kirche gelten, heißt der Glaubenssatz ka ¢nast£nta tÍ tr tV ¹m rv kat¦ t¦j graf£j / et resurrexit tertia die secundum scripturas/ und am dritten Tag auferstanden nach der Schrift tÍ tr tV ¹m rv ¢nast£nta ¢pÕ tîn nekrîn / tertia die resurrexit a mortuis/ am dritten Tage auferstanden von den Toten. Dogmatisch nach der traditionellen Lehre der Kirche verfährt gleich Lu, Al und Rö auch NL, während sich Ge wie Ein verhält. Teilweise vom griechischen Originaltext weicht Sti ab, indem er zwar stets auferstehen und auferwecken unterscheidet - und dies, obwohl er Katholik ist, auch in Mk 16,6 und Lk 24,34 -, aber für das Substantiv das Kompositum Totenauferstehung einführt und Apg 2,32 präziser mit ‘Diesen Jesus hat Gott auferstehen lassen’ übersetzt. Man sieht also, dass auf Grund der engen Bedeutungsverwandtschaft der beiden anstehenden griechischen Verben, ihres teilweisen Austausches, der teilweise aktiven Bedeutung passiver griechischer Formen und der im Lateinischen eingeschränkten Wiedergabemöglichkeiten sowie durch das kirchliche Dogma im Deutschen mehrfach die Vorstellung vermittelt wird, Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 529 Jesus sei aus eigener Kraft auferstanden, während fast alle betreffenden Stellen im griechischen Originaltext und damit das Kerygma (von/ durch Gott) auferweckt worden lauten. Entsprechend stellt das evangelische Handbuch (RGG 1957, 3. Aufl., Bd. 1, Sp. 698) auch grundsätzlich fest: Daß Jesus durch Gott aus den Toten erweckt wurde, ist einhellige Überzeugung der frühen Kirche, ja, der „Glaube“ ist geradezu identisch mit ihr. Und bezüglich des Glaubens wird hinzugefügt: Das Bekenntnis schildert nicht den Vorgang der Auferstehung Christi, sondern stellt lediglich das Faktum fest. Die Formulierung variiert: a) Gott hat Jesus von den Toten erweckt (vgl. Röm 10,9); b) Jesus ist gestorben und auferstanden. (1 Thess 4, 14). Dass sowohl Lu und Ge als protestantische Übersetzungen als auch die katholischen Übersetzungen Al, Rö, Kü, Ein sowie die freikirchliche GN ganz oder teilweise Jesus auferstehen lassen, geht sowohl auf die aktive Bedeutung passiver griechischer Formen zurück, obwohl deren passiver Sinn nicht ganz ausgeschlossen werden kann, als auch auf die in der Vulgata enthaltene dogmatische Lehrtradition der frühen Kirche. Dies ist aber für den, der die philologischen und die teilweise unterschiedlichen theologischen Interpretationen nicht kennt, widersprüchlich und irreführend. 3.6 Was geschah mit Jesus am vierzigsten Tag nach Ostern? Ein kerygmatisch und dogmatisch divergentes Problem wie das Ostergeschehen ergibt sich als Folge für das Ereignis am vierzigsten Tag nach Ostern zum Abschluss von Jesu Erdenwandel. Darüber berichtet kurz Mk 16,19 in dem wohl in der ersten Hälfte des 2. Jhs. angefügten zusammenfassenden Abschnitt Mk 16,9-20. Ursprünglich sind jedoch die Berichte des Lukas, kurz in Lk 24,50-52 und ausführlicher in Apg 1,9-11. Die herausgegriffenen entscheidenden Aussagen sind die folgenden: Mk 16,19 Ð m n oân kÚrioj 'Ihsoàj met¦ tÕ lalÁsai aÙto j ¢nel mfqh e„j tÕn oÙranÕn …/ et dominus quidem I esus postquam locutus est eis, assumptus est in caelum … Lk 24,51 kaˆ ™gšneto ™n tù eÙloge‹n aÙtÕn aÙtoÝj dišsth ¢p ’ aÙtîn kaˆ ¢nefšreto e j tÕn oÙranÒn / et factum est dum benediceret illis, recessit ab eis et ferebatur in caelum Apg 1,9-11 9 kaˆ taàta e pën blepÒntwn aÙtîn œp rqh ... 10 kaˆ æj ¢ten zontej Ãsan e„j tÕn oÙranÒn poreuomšnou aÙtoà … ¥ndrej dÚo … 11 ei ’pan: ... oátoj Ð ’ Ihsoàj Ð ¢nalhmfqe j ¢f ’ Ømîn e j tÕn oÙranÕn oÛtwj œleÚsetai Ón trÒpon œqe£sasqe aÙtÕn poreuÒmenon e j tÕn oÙranÒn / 9 et cum haec dixisset, videntibus illis, elevatus est … 10 cumque intuerentur in caelum euntem illum [NV eunte illo] … duo viri … 11 dixerunt: … „Hic Iesus, qui assumptus est a vobis in caelum, sic veniet quemadmodum vidistis eum euntem in caelum“. Worauf es ankommt, sind die Verben. In Mk 16,19 und Apg 1,11 ist es ¢nalamb£nw ‘in die Höhe nehmen, hinauf nehmen’, das hier jeweils im pas- Peter Wiesinger 530 siven Aorist steht, so dass es Mk 16,19 heißt ‘Jesus … wurde in den Himmel hinaufgenommen’ und Apg 1,11 wörtlich ‘diesen Jesus diesen von euch in den Himmel emporgehobenen’. Lk 24,51 gebraucht zunächst den Aorist von d eimi ‘weg-, fortgehen; sich entfernen’ und dann das Imperfekt von ¢nafšromai ‘hinauf-, emportragen’, was ‘er ging von ihnen weg’ und ‘er wurde in den Himmel hinauf-, emporgetragen’ ergibt. In Apg 1,9 begegnet das Verbum ™pa…rw ‘emporheben’, was im passiven Aorist zu ‘er wurde emporgehoben’ führt. Schließlich tritt noch in Apg 1,10,11 das Partizip Präsens von poreÚomai ‘gehen, reisen, marschieren’ auf, was wörtlich ‘den in den Himmel gehenden’ bedeutet. Sämtliche hier gekürzt wiedergegebenen Stellen werden im Hinblick auf die Variation der anstehenden Verben bei gewissen sonstigen Freiheiten teffend von Kü wiedergegeben: Mk 16,19 Nachdem der Herr Jesus zu ihnen geredet hatte, wurde er hinaufgenommen in den Himmel Lk 24,51 Es geschah aber, während er sie segnete, schied er von ihnen und wurde emporgetragen zum Himmel Apg 1,9-11 9 Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben … 10 und da sie zum Himmel hinaufsahen, indes er hinging … zwei Männer … 11 sprachen: … „Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt hingehen sehen zum Himmel“. Was im NT zur Gänze fehlt, ist ähnlich der Auferweckung durch Gott zu Ostern jenes Verbum ¢n rcomai / ascendo, -ere ‘emporsteigen, sich erheben’, womit die Kirche seit alters her den Vorgang als Folge der dogmatischen Lehre von der Auferstehung Jesu aus eigener göttlicher Kraft nun ebenso dogmatisch ausdrückt. Es heißt daher sowohl im Nicänischen als auch im Apostolischen Glaubensbekenntnis: ¢nelqÒnta e j oÙranoÚj / ascendit in caelum - ascendit ad caelos/ aufgefahren in den Himmel. 9 Entsprechend heißt das kirchliche Fest auch Ascensio Domini ‘Himmelfahrt des Herren’, was im Mittelhochdeutschen mit ûfvart ‘Auffahrt’ wiedergegeben wurde, so dass Jesus wie bei der traditionellen kirchlichen Auffassung der Auferstehung auch hier aus eigener Kraft handelnd verstanden wird. Es verwundert daher nicht, dass in einzelnen Übersetzungen in der Tradition der Kirche sowohl gegen den griechischen Originaltext als auch gegen die Vulgata das Verbum auffahren begegnet. Damit übersetzen Lu, Al und Rö die Stelle Lk 24,51, die dann bei Lu 1984 lautet: Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr gen Himmel. Am ehesten lässt sich noch poreÚomai in Apg 1,10,11 mit fahren wiedergeben, womit Zü, Al, Elb, Frb, Sti und Je wenigstens am Rande noch die kirchlich- 9 Während das lat. Nicaenum für den griechischen Plural den Singular in caelum setzt, verwendet das lat. Apostolicum den Plural ad caelos. Beide Versionen werden gewohnheitsmäßig im Deutschen mit dem Singular wiedergegeben. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 531 traditionelle bzw. volkstümliche Vorstellung der Himmelfahrt einzubringen suchen. So übersetzt Zü: Apg 1,10,11: 10 Und als sie zum Himmel aufschauten, während er dahinfuhr … 11 Dieser Jesus … wird so kommen, wie ihr ihn habt in den Himmel fahren sehen. Alle weiteren Übersetzer mit Ausnahme von Je verfahren unproblematisch, wenn auch nicht immer dem griechischen Originaltext genau entsprechend, indem sie die Variation der Verben reduzieren. So dehnen Zü und NL wurde in den Himmel emporgehoben bzw. hinaufgehoben von Lk 24,51 und Apg 1,9 auf Mk 16,19 aus, während es Lu von Apg 1,9 auf Mk 16,19 überträgt. Gegenüber genauerem wurde in den Himmel hinaufgenommen in Mk 16,19 bei Frb, Sti und NL begnügen sich Al, Rö, Elb, Ein, GN und Je mit etwas sinnveränderndem wurde in den Himmel aufgenommen. Statt emporgehoben in Lk 24,51 wählt Elb hinaufgetragen. Was Kü in Apg 1,10,11 mit hingehen passsend ausdrückt, findet sich auch bei Rö, Ein und Ge und auf Vers 11 beschränkt bei GN, während es in NL ebenso auf Vers 11 beschränkt fortgehen heißt. Je kann hier insofern nicht einbezogen werden, als er statt Mk 16,9-20 eine eigene kurze Zusammenfassung bietet und Lk 24,50-52 völlig frei paraphrasiert. Man sieht also, dass der traditionelle dogmatische kirchliche Begriff der ascensio/ Himmelfahrt im griechischen Originaltext des NT keine Grundlage hat, so dass die das Verbum auffahren verwendenden Übersetzungen die Aussage verfälschen, indem sie Jesus parallel zur Auferstehung ein Handeln aus eigener Kraft einräumen. Vielmehr wurde Jesus nach den Berichten gleich der Auferweckung von Gott in den Himmel hinaufgenommen bzw. emporgehoben. Heute trachtet sowohl die katholische wie die evangelische Theologie den Begriff „Himmelfahrt Christi“ zu meiden, so dass sowohl LThK (1996, 3. Aufl., Bd. 5, Sp. 122ff.) als auch RGG (2000, 4. Aufl., Bd. 3, Sp. 1746ff.) von der „Erhöhung Jesu“ sprechen. Aber das kirchliche Dogma der ascensio/ Himmelfahrt geht so weit, dass bereits in der Liturgie der frühmittelalterlichen Kirche die in die Messtexte aufgenommenen Bibelstellen entsprechend abgeändert wurden. So lautet Apg 1,11 bis heute im Introitus … quem admodum vidistis cum ascendentem in caelum … 3.7 Der Begriff „Logos“ im Johannesevangelium Den unterschiedlichen Auffassungen von „Auferstehung“ und „Himmelfahrt“ Jesu und ihren Übersetzungen angeschlossen werden kann der Begriff „Logos“ im Prolog des Johannesevangeliums Joh 1,1. Er gehört in die von der griechischen gnostischen Philosophie durchdrungene frühchristliche Johannes-Gemeinde und gab schon bald zu verschiedenen Auslegungen und altlateinischen Übersetzungen Anlass, ehe sich verbum durchgesetzt hat. Bekannt sind die nicht nachstehenden Übersetzungsversuche in Goethes „Faust“ (Faust I, 1220ff.), wo Faust überlegt, wie er den Eröffnungsvers Joh, 1,1 'en ¢rcÍ Ãn Ð lÒgoj / In principio erat verbum Peter Wiesinger 532 „in sein geliebtes Deutsch“ übertragen soll. Zwar übersetzt er zunächst wörtlich „Im Anfang war das Wort“, doch er „kann das Wort so hoch nicht schätzen“, so dass ihm einsichtiger erscheint „Im Anfang war der Sinn“. Aber auch dies befriedigt Faust nicht, so dass er es mit „Im Anfang war die Kraft“ versucht und sich schließlich für „Im Anfang war die Tat“ entscheidet. Das Substantiv lÒgoj bedeutet ‘Wort, Rede, Mitteilung, Erzählung, Nachricht’. Zahlreiche Bibelübersetzungen erläutern den Begriff entweder mit Synonymen oder hinsichtlich seiner theologischen Bedeutung mit mehr oder minder ausführlichen Kommentaren. So nennt Elb als Synonyme ‘Rede, Grund, Gedanken, Denkvermögen’ für die seit Lu allgemein übliche Wiedergabe als Wort. Abweichend verhalten sich nur Kü, Sti und Je. Während Kü die Übersetzung gar nicht erst versucht und bei Logos bleibt, was dem Leser ohne Hinzuziehung des Kommentars unverständlich bleiben muss, versuchen Sti und Je in gleicher Weise die Umschreibung mit Er - das Wort, um die dann angesprochene Personifizierung sofort sinnfällig zu machen. So heißt es bei Sti Im Uranfang war Er, das Wort und paraphrasierend bei Je Am Anfang: ER/ Am Anfang: Das Wort. Ähnlich verfährt Ge, wenn sie das auf lÒgoj von Joh 1,1 bezogene Demonstrativpronomen in Joh 1,2 oátoj Ãn ™n ¢rcÍ prÕj qeÒn / hoc erat in principio apud deum nun personifizierend mit der Paraphrase Der, der das Wort ist, war am Anfang bei Gott auflöst. Ungeschickt und unverständlich verfährt hier dagegen NL, wenn es das auf das neutrale Substantiv das Wort in Joh 1,1 bezogene, im Originaltext mit diesem im Genus übereinstimmende Demonstrativpronomen in Joh 1,2 mit abweichendem maskulinem Er übersetzt und auch entsprechend fortfährt, so dass der gegebene grammatikalische Zusammenhang zerstört und der erstrebte Sinn auf diese Weise nicht erreicht wird. 4 Sachwiedergaben 4.1 Das gesellschaftliche Verhalten bei Tisch In der griechisch-römischen Antike war es nicht üblich, beim Essen auf Stühlen am Tisch zu sitzen, sondern auf einer bettartigen Lagerstatt oder auf Pölstern mit aufrechtem Oberkörper hingestreckt zu liegen. Entsprechend kennt das Griechische dafür drei Verben: Es sind als Präfigierungen von ke‹mai ‘liegen, gelegen sein’ ¢n£keimai ’zu Tisch liegen’ und kat£keimai ‘sich niederlegen, zu Tisch liegen’, wodurch zwei Sichtweisen desselben Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 533 Vorgangs ausgedrückt werden. Während nämlich kat£ eine Bewegung von oben nach unten ausdrückt und in erster Linie ‘sich hinlegen’ meint, bezeichnet ¢n£ zwar den umgekehrten Vorgang, aber auch das ‘sich auf etwas befinden’, also ‘liegen’. Das dritte diesbezügliche Verbum ist ¢nap…ptw von p…ptw ‘fallen, stürzen’, das ‘sich zu Tisch hinlegen’ bedeutet. Das NT verwendet am häufigsten ¢n£keimai . Es findet sich beim letzten Paschamahl in Mk 14,18 und Mt 26,20 sowie beim Gastmahl im Hause Simons des Aussätzigen in Mt 26,7 bzw. nach Joh 12,2 im Haus des auferweckten Lazarus. Dagegen verwendet Mk 14,3 beim Gastmahl Simons kat£keimai und Lk 22,14 beim letzten Paschamahl ¢nap…ptw : Mt 26,20 Ñy…aj de ` genom nhj ¢n keito met¦ tîn dèdeka / vespere autem facto, discumbebat cum duodecim discipulis [NV - ] suis [NV - ] Joh 12,2 … Ð de ` L£zaroj eƒj Ãn œk tîn ¢nakeim nwn sÝn aÙtù / Lazarus vero unus erat ex discumbentibus cum eo Mk 14,3 kaˆ Ôntoj aÙtoà ... ™n tÍ o„k…v S…monoj ... katakeim nou aÙtoà Ãlqen gun¾ …/ et cum esset … in domo Simonis … et recumberet, venit mulier … Lk 22,14 kaˆ Óte œg neto ¹ éra , ¢n pesen / et cum facta esset hora, discubuit. Die Stellen werden adäquat von Sti übersetzt, der vor allem auch das abweichende Verbum in Lk 22,14 beachtet: Mt 26,20 Als es Abend geworden war, legte er sich mit den Zwölf zu Tisch … Jo 12,2 Lazarus aber war einer, der mit ihm zu Tisch lag Mk 14,3 Als er … war im Hause Simons …, da kam - während er zu Tisch lag - eine Frau … Lu 22,14 Und als die Stunde gekommen war, ließ er sich nieder. Die antike Sitte des bei Tisch Liegens bzw. des sich zu Tisch Legens behalten wie Sti nur noch Elb und Frb bei, ohne allerdings das andere Verbum des griechischen Originaltextes in Lk 22,14 abzuheben. Ansonsten werden andere Ausdrücke gewählt, wobei jedoch Al und Kü insofern inkonsequent verfahren, als sie in Mt 26,7 und Kü außerdem noch in Mk 14,3 auf zu Tisch liegen zurückgreifen. Das macht auch GN in Joh 12,2, und Je übersetzt Lk 22,14 ausnahmsweise mit zu Tisch legen. Mt 26,7 … gun¾ cousa ¢l£bastron mÚrou barut mou ka kat ceen œp tÁj kefalÁj aÙtoà ¢nakeimšnou / …mulier habens alabastrum unguenti pretiosi et effudit super caput ipsius recumbentis/ …(trat zu ihm) eine Frau mit einem Gefäß von Alabaster, voll kostbaren Salböls, und goß es, während er zu Tische lag, über sein Haupt. (Kü) Schon vor Luther war es jedoch üblich, sowohl in der Bibelübersetzung als auch in der darstellenden Kunst der Malerei und Bildhauerei das biblische Geschehen in die zeitgenössische Gegenwart zu verlegen. Es wundert daher nicht, dass Lu alle Stellen mit zu Tische sitzen bzw. sich zu Tische setzen überträgt. Seinem Vorbild folgen konsequent Zü und Elb und mit den genannten Ausnahmen Al. Ähnlich verfahren Ein, indem hier stets neutrales bei Tisch sein bzw. sich zu Tisch begeben gilt, und mit der genannten Ausnahme Je, der sich in allen Fällen für einheitliches bei/ zu Tisch sitzen entscheidet, z.B. Peter Wiesinger 534 Mt 26,20 Als es Abend wurde, saß Jesus mit seinen Schülern bei Tisch. Dagegen variieren die übrigen Übersetzungen mehr oder minder frei nicht nur die Wortwahl, sondern auch die Syntax. So heißt es z.B. bei Rö: Mt 26,20 Als es Abend wurde, setzte er sich mit den Zwölf zu Tisch Joh 12,2 Lazarus gehörte zu denen, die mit ihm zu Tische saßen Mk 14,3 Als er … im Hause Simons … weilte und bei Tisch war, kam eine Frau … Lk 22,14 Zur bestimmten Stunde ließ er sich zu Tisch nieder. Gegenüber ihrer sonstigen Gewohnheit verfährt hier Ge am freiesten und paraphrasiert überhaupt mehrfach die Vorgänge: Mit 26,20 Als es Abend geworden war, setzte sich Jesus mit den Zwölf zu Tisch Joh 12,2 Lazarus war unter denen, die mit Jesus an dem Essen teilnahmen Mk 14,3 Während der Mahlzeit kam eine Frau … Mk 14,18 Während sie bei Tisch waren und aßen, erklärte er … Umgeht also Ein mit neutralem bei Tisch sein bzw. sich zu Tisch begeben die antiken Vorgänge des Liegens bzw. sich Legens, die Frb, Sti und Elb beibehalten und die gelegentlich Al, Kü, GN und Je wohl aus Unachtsamkeit unterlaufen, so entscheiden sich seit Lu die meisten Übersetzer ganz oder teilweise für den abendländischen Brauch des Sitzens bzw. des sich Setzens. Wenn jedoch die konstanten Ausdrücke des Originaltextes in der Übersetzung variiert oder gar paraphrasiert werden, geht beim Vergleich der Stellen nicht mehr hervor, dass es sich jeweils um dieselben Vorgänge handelt wie bei Rö, Kü, GN, NL und Ge. 4.2 Antike Währungen Da zur Zeit des NT sowohl griechische als auch römische Währungssysteme bestanden und teilweise gleichgesetzt wurden, kommen auch beide Geldeinheiten und Münzen in den Evangelien vor. 10 Das griechische Währungssystem hatte die Geldgewichte Talent und Mine, wobei es sich dabei meist um eine Menge von Goldbzw. Silbermünzen handelte und ein Talent ca 34 kg ausmachte und 60 Minen umfasste. Eine Mine bestand wieder aus 100 Drachmen. Neben der einfachen, aus Silber geprägten Drachme gab es die vierfache Tetradrachme oder Stater und die bereits außer Gebrauch kommende zweifache Didrachme. Die kleinsten griechischen Kupfer- oder Bronzemünzen waren der Chalkos und das Lepton, die den Wert von 1/ 48 bzw. 1/ 144 einer Drachme hatten. Im römischen Währungssystem entsprach seit Kaiser Nero (63 n. Chr.) einer Drachme ein Denar. Die kleinsten römischen Kupfer- oder Bronzemünzen waren der As und der Quadrans, wobei einem As vier Quadrantes entsprachen und dem Quadrans zwei griechische Lepta. In Bezug auf den Denar haben sie den Wert von 1/ 16 bzw. 1/ 64 Denar. Alle diese Geldeinheiten werden u.a. an folgenden Stellen genannt: 10 Zu den Währungssystemen vgl. die anhangsweise gebotenen Erläuterungen besonders bei Lu (301f.), Ein (1587f.) und Zü (Anhang, 34). Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 535 Talent: Mt. 25,14-15 14 … ¥nqrwpoj … œk£lesen toÝj d ouj doÚlouj ... 15 ka ú me ` n dwken pšnte t£lanta 14 … homo … vocavit servos suos … 15 et uni dedit quinque talenta Mine: Lk 19,13 kalšsaj de ` dška doÚlouj Œautoà dwken aÙto‹j dška mn©j …/ vocatis autem decem servis suis dedit illis decem minas … Drachme: Lk 15,8 ¿ tˆj gun¾ dracm¦j cousa dška ™¦n ¢polšsV dracm¾n m an …/ aut quae mulier habens drachmas decem si perdiderit drachmam unam … Stater: Mt 17,27 … eØr»seij statÁra / … invenies staterem Didrachme: Mt 17,24 œlqÒntwn de ` aÙtîn e j KafarnaoÝm prosÁlqon o t¦ d dracma lamb£nontej tù P trwÄ / et cum venissent Capharnaum, accesserunt, qui didrachma accipiebant, ad Petrum Chalkos: Mt 10,9 m¾ kt shsqe crusÕn mhde ` ¥rguron mhde ` calkÕn e„j t¦j zènaj Ømîn / nolite possidere aurum neque argentum neque pecuniam in zonis vestras Denar: Mk 12,15 f ret moi dhn£rion …/ afferte mihi denarium … Lepton, Quadrans: Mk 12,42: ka ™lqoàsa m…a c»ra ptwc¾ balen lept¦ duÒ , Ó œstin kodr£nthj / et cum venisset una vidua pauper, misit duo minuta, quod est quadrans As: Mt. 10,29 oÙc dÚo strouq a ¢ssar ou pwle tai ; / nonne duo passeres asse veneunt? Da die beiden Währungssysteme zur Zeit des NT heute durch die Numismatik in ihren Stufungen und Werten geklärt und ihr vergleichsweiser ungefährer heutiger Geldwert errechnet wurde, ja die Ein sogar Numismatiker zur richtigen Interpretation herangezogen hat, sollte eine angemessene Wiedergabe der Geldangaben erfolgen können. Dazu gibt es drei Möglichkeiten: 1. Da es sich um historische Währungen und Geldeinheiten handelt, werden ihre Bezeichnungen beibehalten und meist in Anmerkungen bzw. in einer anhangsweisen systematischen Darstellung erläutert. 2. Man verzichtet auf die antiken Systeme und versucht als Interpretation neuzeitliche Werte sinngemäß dafür einzusetzen, wobei aber bloß ungefähre Wertvorstellungen vermittelt werden können. 3. Man mischt beide Wiedergabemöglichkeiten, wobei meist die höheren Geldeinheiten mit ihren Bezeichnungen beibehalten und die niedrigen Werte ersetzt werden. Am häufigsten wenden die Übersetzer bei einzelnen Unterschieden nach unten die dritte Möglichkeit an. Das ist der Fall bei Zü, Kü, Frb, Sti und Ein und mit Einschränkungen im höheren Bereich bei Al, Rö und Elb. Die zweite Möglichkeit gilt sowohl für Lu 1545, der damals die Werteskala noch nicht genau wissen konnte, als auch für Lu 1984, wo man trotz der Bekanntheit der Währungssysteme versucht hat, mit gewissen Modifikationen Luthers Bezeichnungen einigermaßen herüberzuretten. Angelehnt an diese protestantische Bezeichnungstradition verfahren Ge, wo allerdings die Anmerkungen die griechischen Geldeinheiten nennen, und GN. Dagegen verhalten sich unsystematisch und willkürlich NL und Je. Im höheren Bereich vom Talent bis zur Didrachme verfährt am konsequentesten Kü, dessen aller- Peter Wiesinger 536 dings in Teilen freie Übersetzungen der obgenannten Stellen folgendermaßen lauten: Mt 25, 14-15 14 Denn wie bei einem Manne ist es, der … seine Knechte rief … 15 Einem gab er fünf Talente Lk 19,13 Er rief zehn seiner Knechte zu sich, gab ihnen zehn Minen … Lk 15,8 Oder welche Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine davon verliert ... Mt 17,27 ... wirst du einen Stater finden Mt 17,24 Als sie nach Kapharnaum kamen, traten die Einnehmer der Doppeldrachme zu Petrus ... Mk 12,15 Bringt mir einen Denar ... Da es sich bei Talent und Mine um Geldgewichte handelt, das Wort Talent aber auch im Sinne von Fähigkeit als bekannt vorausgesetzt werden kann, Mine jedoch nicht, drücken Zü, Al, Rö und Elb Letzteres durch Pfund aus, womit eine deutsche Gewichtseinheit gewählt wird. Für den Stater wählen Zü und Ein das einsichtige Synonym Vierdrachmenstück, und weil Rö ja die Drachme beibehält, kommt er zur Umrechnung zwei Doppeldrachmen. 11 Gegen sein sonstiges Übersetzungsprinzip ersetzt Sti den Stater durch Doppelgulden und die Doppeldrachme im Hinblick auf ihre Verwendung durch Tempelgulden. Letzteres geschieht mit der Umschreibung Tempelsteuer auch bei Rö. Bei Lu 1545 lauten die obgenannten Geldeinheiten Zentner - Pfund - Groschen - Stater - Zinsgroschen - Groschen. Dabei wird das Geldgewicht Talent durch die inhaltlich andere Gewichtsbezeichnung Zentner ausgedrückt, so dass mit Pfund für Mine Ausdruckskorrespondenz besteht. Der Wertgleichheit von Drachme und Denar entspricht ihre Gleichsetzung als Groschen, der zu Luthers Zeit eine Silbermünze war. Die Verwendung der Doppeldrachme als Tempelsteuer soll Zinsgroschen ausdrücken. Damit zeigt Lu 1545 trotz anderer Ausdrücke zwar Systematik, aber mit der Weiterentwicklung der Währungen in den deutschen Ländern schwand besonders seit dem 18. Jahrhundert seine Relation des Groschens zu den höheren Geldeinheiten, so dass der von Luther ursprünglich beabsichtigte Wortsinn verloren ging. Ihn für heutige Bibelleser herzustellen, gelingt auch der Revision Lu 1984 nicht, wo verbessert wird in Zentner Silber - Pfund - Silbergroschen - Zweigroschenstück - Tempelgroschen - Silbergroschen, denn als Groschen gilt heute ein kleines Geldstück von nur geringem Wert. Ge schließt teilweise hier an mit Talent - Geld, jedem ein Pfund - Silbermünzen - Vierdrachmenstück - (Tempelsteuer) - Silbermünze. Bei GN lautet die Abfolge Zentner - ein Pfund Silberstücke - Silberstück - Vierfach-Silberstück - das Doppel-Silberstück als Tempelsteuer - Silbermünze. Das Fehlen einer Systematik zeigen NL mit fünf Beutel Gold - zehn Pfund Silber - Drachme - eine Münze - (Tempelsteuer) - römische Münze und Je mit fünf Goldstücke - jedem von ihnen ein Goldstück - Groschen - Silberstück - (Tempelsteuer) - Geldstück. 11 In der Neubearbeitung von Rö verzichtet Bott auf dessen Spitzfindigkeit und bleibt bei Stater. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 537 Bei der Wiedergabe der beiden kleinen griechischen und römischen Münzen aus Kupfer oder Bronze herrscht in den Übersetzungen völlige Willkür, sowohl was den Versuch betrifft, sie zu umschreiben oder mit Namen bekannter Währungen des deutschsprachigen Raumes wiederzugeben als auch ihre Wertrelation angemessen auszudrücken. Einigkeit besteht hier lediglich in semantischer Hinsicht insofern, als es an den betreffenden Stellen stets darum geht, die Vorstellung eines sehr geringen Wertes zu vermitteln. Dazu kommt, dass beim Chalkos durch die lateinische Wiedergabe pecunia eindeutig ein Geldwert gemeint ist, den einige Exegeten auch für das griechische calkÒj des NT annehmen, während andere schon im Rahmen der Aufzählung mit Gold und Silber bloß mit der ursprünglichen griechischen Bedeutung der Metallbezeichnung ‘Kupfer, Erz, Bronze’ rechnen. Bei teilweise vorhandenen Freiheiten des Übersetzens entsprechen den griechischen Geldangaben am ehesten etwa die folgenden Wiedergaben: Mt 10,9 Steckt auch kein Gold, kein Silber und kein Kupfergeld in euren Gürtel (Ge) Mk 12,42 Dann kam eine arme Witwe und steckte zwei kleine Kupfermünzen hinein - zusammen soviel wie ein Groschen (GN) Mt 10,29 Kauft man denn nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? (Al) In den einzelnen Übersetzungen finden sich folgende Angaben: Lu 1545: Erz - zwey Scherfflin/ ein Pfennig - ein Pfennig Lu 1984: Kupfer - zwei Scherflein/ ein Heller - ein Groschen Zü: Kupfer - zwei Heller/ ein Rappen - fünf Rappen Elb: Kupfer - zwei Scherflein/ ein Pfennig - ein paar Pfennige Al: Geld - zwei kleine Stücke/ ein Pfennig - ein Pfennig Rö: sonstiges Geld - zwei Scherflein/ ein Pfennig - fünf Pfennige 12 Kü: Kupfer - zwei Heller/ ein Pfennig - einige Pfennige Frb: Kupfermünzen - zwei Heller/ ein Pfennig - ein paar Pfennige Ein: Kupfermünzen - zwei kleine Münzen/ - - ein paar Pfennig [sic! ] Sti: Kupfergeld - zwei Kleinmünzen/ ein Pfennig - fünf Pfennige GN: Kupfergeld - zwei kleine Kupfermünzen/ ein Groschen - ein Groschen LN: Geld - zwei kleine Münzen/ - - - Je: Kupfer - ein paar Pfennige/ - - ein Pfennig. Einige dieser Bezeichnungen bedürfen der Erklärung, so Scherflein bei Lu, Elb und Rö. Der Scherf war zu Luthers Zeit die kleinste, leichteste und deshalb nur einseitig geprägte Silbermünze, die bald außer Gebrauch kam. Luthers Diminutiv Scherflein ging dann in der Allgemeinbedeutung ‘geringer, kleiner Betrag’ in den deutschen Wortschatz ein. Auch der Heller bei Zü, Kü und Lu 1984 war ursprünglich eine Silber-, später eine Kupfermünze und im 19. Jh. die kleinste Münze des mitteldeutschen Taler-, süddeutschen Gulden- und österreichischen Kronensystems und ging in Phrasen wie keinen Heller wert sein ein. Dass ihn Zü mit dem Rappen als der kleinsten Münz- 12 In Botts Neubearbeitung lauten die nicht viel besseren Bezeichnungen Kupfergeld - zwei Heller/ ein Pfennig - ein Heller. Peter Wiesinger 538 einheit des Schweizer Frankens erläutert, ist ein allzu starkes Zugeständnis an die Gegenwart. Der Pfennig war zwar schon eine frühmittelalterliche Münze und wechselte in seinem Wert, war aber für Lu mehr als ein Scherf. Die jüngeren Übersetzungen von Rö bis Je nehmen damit jedoch auf die 1871 im Deutschen Reich allgemein eingeführte Markwährung Bezug, in der der Pfennig die kleinste Münze von 1/ 100 Mark verkörpert. Wenn Rö und Sti in Mk 12,42 das Verhältnis von zwei Lepta und einem Quadrans mit ein Pfennig und fünf Pfennige und entsprechend Zü mit fünf Rappen angeben, so ist damit wohl das größere Fünfpfennigstück im Verhältnis zum kleineren Einpfennigstück gemeint. Die meisten Übersetzungen wie Elb, Kü, Frb und Ein lassen dieses Verhältnis mit der unbestimmten Angabe einige/ ein paar Pfennig(e) offen. Insgesamt zeigt sich, dass der größere Teil der Bibelübersetzer bei den höheren Währungseinheiten mehr oder minder bemüht ist, das System in den Griff zu bekommen und zumindest einigermaßen dem Leser zu vermitteln, während bei den niedrigen Einheiten völlige Willkür herrscht und lediglich die Geringfügigkeit der Beträge zum Ausdruck kommt. Aber nirgends sonst ist die gewählte terminologische Vielfalt so groß wie auf diesem Gebiet. 4.3 Die Stundeneinteilung Juden und Griechen teilten den hellen Tag in zwölf Stunden, deren Zählung sie um sechs Uhr morgens begannen. Das ist sehr schön in Mt 20,1-8 am Gleichnis von den Taglöhnern im Weinberg abzulesen. Um einen Einblick zu geben, wie die Übersetzer mit dieser Abweichung von der abendländischen Stundenzählung umgehen, die im deutschsprachigen Kulturraum je zwölf Stunden von Mitternacht bis Mittag und von Mittag bis Mitternacht zählt, genügt es, als Beispiel aus der Passion die letzten drei Lebensstunden Jesu heranzuziehen: Mk 15,33 kaˆ genomšnhj ìraj Ÿkthj skÒtoj œgšneto œf' Ólhn t¾n gÁn Ÿwj éraj œn£thj / et facta hora sexta tenebrae factae sunt per totam terram usque in horam nonam Recht genau übersetzt Zü: Und als die sechste Stunde eingetreten war, kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde. Nach der abendländischen Tagzählung handelt es sich dabei um zwölf Uhr Mittag und drei Uhr Nachmittag. Die meisten Übersetzungen übernehmen die antike Zählung, nämlich auch noch Lu, Al, Elb, Rö, Kü, Frb, Ein, Sti und Je, wobei ein Teil von ihnen die abendländischen Entsprechungen in Anmerkungen oder im Anhang erläuternd hinzufügt. Unmittelbar unsere Stundenzählung aber greifen GN, NL und Ge auf: Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 539 GN: Um zwölf Uhr mittags verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land. Das dauerte bis um drei Uhr. NL: Gegen Mittag legte sich eine Finsternis über das ganze Land, die drei Stunden anhielt. Ge: Um zwölf Uhr mittags brach über das ganze Land eine Finsternis herein, die bis drei Uhr nachmittags dauerte. Zugleich sieht man, wie frei diese Übersetzungen in Bezug auf den griechischen Originaltext verfahren, was auch sonst besonders für NL und weniger für GN und Ge gilt. 4.4 Das Längenmaß Das griechische Längenmaß für Wegstrecken war das Stadion, mit dem beim Gang der beiden Jünger mit dem Auferstandenen die Wegstrecke von Jerusalem nach Emmaus angegeben wird: Lk 24,13 ka doÝ dÚo œx aÙtîn œn aÙtÍ tÍ ¹m rv Ãsan poreuÒmenoi e j kèmhn ¢p cousan stad ouj Œx konta ¢pÕ 'Ierousal m, Î Ônoma 'Emmaoàj / et ecce duo ex illis ibant ipsa die in castellum, quod erat in spatio stadiorum sexaginta ab Jerusalem nomine Emmaus. Wieder übersetzt Zü recht genau: Und siehe, zwei von ihnen wanderten an ebendem Tage nach einem Dorf, das von Jerusalem sechzig Stadien entfernt ist, namens Emmaus. Ähnlich wie bei der Stundeneinteilung folgen auch hier noch Al, Elb, Rö, Kü, Frb, Ein und Sti dem griechischen Originaltext, während GN, GL und Ge und hier außerdem noch Lu 1545 und 1984 und Je verschiedene Anpassungen vornehmen. Nach der Wegstrecke, die Elb, Kü und Ein in einer Anmerkung mit „ca. 11 km“ angeben, richten sich mit der aktuellen Entfernungsmessung in Kilometern NL und GN, wobei Letzere die Strecke allerdings mit 12 km berechnet: NL: Am gleichen Tag waren zwei Jünger von Jesus unterwegs nach Emmaus, einem Dorf, das etwa elf Kilometer von Jerusalem entfernt lag GN: Am selben Tag gingen zwei, die zu den Jüngern von Jesus gehört hatten, nach dem Dorf Emmaus, das zwölf Kilomter von Jerusalem entfernt lag. Dagegen schuf sich Lu 1545 wie des öfteren hier die eigene Bezeichnung Feldwegs, die sich aber nicht durchsetzte: Vnd siehe, zween aus jnen giengen an demselbigen tage in einen Flecken der war von Jerusalem sechzig Feldwegs weit, des namen heisst Emmahus. Da Luther stets die Genitivform gebraucht, scheint er damit sechzig Feld(er) (des) Wegs zu meinen. Es liegt auf der Hand, dass die Revision Lu 1984 nicht nur Luthers Ausdruck, sondern auch die Verbesserung der vorangegangenen Revisionen von 1956 und 1975, die die Zeitangabe zwei Stunden Wegs Peter Wiesinger 540 eingeführt hatten, als veraltet aufgibt und einfach modern etwa zwei Wegstunden sagt: Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. Einer solchen Zeitangabe bedient sich auch Ge: Am selben Tag gingen zwei von den Jüngern nach Emmaus, einem Dorf, das zwei Stunden von Jerusalem entfernt liegt. Ohne tatsächlichen Maßbezug, sei es nach Strecke oder Zeit, aber auch ohne übrigen direkten Textbezug verfährt Je: An diesem Tag,/ dem ersten, der dem Sabbath folgte,/ gingen zwei seiner Schüler zu einem Dorf,/ das Emmaus hieß/ und nah bei Jerusalem lag/ - ein paar tausend Schritte entfernt. Zugleich mit den Anpassungen des antiken Wegmaßes an ein gegenwärtiges Entfernungsverständnis kann man anhand der Textstellen wieder ersehen, wie frei die modernen Übersetzungen GN, NL, Ge und Je mit dem griechischen Originaltext verfahren. Ebenso wird am Luthertext deutlich, wie die durchschnittliche Modernisierung von 1984 erfolgt ist. 4.5 Die Anreden der Gemeindemitglieder in den Apostelbriefen Obwohl zu den frühchristlichen Gemeinden, an die die Briefe der Apostel gerichtet sind, auch Frauen gehörten und in den Briefen teilweise auch Grüße an einzelne Frauen bestellt werden, war die antike jüdische und griechisch-römische Gesellschaft des 1. Jahrhunderts als der Entstehungszeit der Briefe eine patriarchalische. Es versteht sich daher, dass Paulus die Gemeindemitglieder z.B. in 1. Kor. 1,10; 2,1; 3,1. männlich als ¢delfo / fratres ‘Brüder’ anspricht. Zahlreicher und singulär sind die Anreden im 1. Johannesbrief. Neben einmaligem ¢delfo / fratres ‘Brüder’ in 3,13 kommen fast gleich oft ¢gaphto / carissimi ‘Geliebte’ als Plural von ¢gaphtÒj / carus ‘lieb, geliebt’ (2,7; 3,2, 21; 4,1,7,11) und das pluralische Diminutiv tekn a / filioli ‘Kindlein’ von t knon ‘Kind’ (2,1,12; 3,18; 4,4; 5,21) vor. 13 Einmal begegnet 2,18 auch paid a / filioli, das an sich ‘Erziehung’, aber im NT auch die Jugend als Objekt der Erziehung bezeichnet. Von den lateinischen Entsprechungen ist carissimi der Superlativ von carus ‘lieb, teuer, wert’, was wörtlich ‘Geliebteste’ heißt, während filioli als Plural von filiolus ‘Söhnchen’ bedeutet und auf die patriarchalische Gesellschaft Bezug nimmt. Die Übersetzungen dieser Anreden bildeten bis zu den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 mit dem Aufkommen des Feminismus und im Gefolge der Entwicklung einer feministischen Theologie keine Probleme. So übersetzen Lu, Zü, Al, Elb, Rö, Kü, Frb sowie auch Ein und Sti ¢delfo stets mit 13 In den Abschiedsreden spricht Jesus Joh 13,33 die zurückbleibenden Jünger ebenfalls mit tekn a an. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 541 Brüder, das Lu zu liebe Brüder und Zü zu ihr Brüder erweitert. Aber zur Verhinderung sexistischer Ausdrucksweise, die Frauen nicht benachteiligen möchte, ändern die nach 1968 entstandenen Übersetzungen GN stets zu Brüder und Schwestern und Ge zu geschlechtsneutralem Geschwister ab. Hingegen bleibt das sonst so anpassungsbestrebte NL bei liebe Brüder nach Lu. Die Vielfalt der Anreden in 1. Joh. wird, von 3,13 ¢delfo abgesehen, unterschiedlich behandelt, wenn hier im griechischen Originaltext auch keine sexistischen Probleme auftreten. Das Diminutiv tekn a übersetzen nur Al und Kü wortgetreu als Kindlein, das Lu nur in 2,1, 12, 18 gebraucht. An den anderen Stellen (3,18; 4,4; 5,21) aber wählt Lu wie alle jüngeren Übersetzer den normalen Plural Kinder, der meistens zu meine, ihr, liebe Kinder und das in Variation zu den im griechischen Originaltext stets gleichlautenden Stellen erweitert wird. Frb wechselt willkürlich Kindlein, meine Kindlein, liebe Kinder. Da die Vulgata sowohl tekn a als auch in 1. Joh 2,18 paid a in gleicher Weise mit filioli wiedergibt, erfolgt Gleichbehandlung. Bloß Sti macht einen Unterschied, indem er hier passendes ihr Kleinen wählt. Obwohl Sti sonst so genau der Vorlage folgt, wechselt auch er bei sonstigem Kinder die obgenannten Erweiterungen. Der Unterschied zwischen der griechischen Grundstufe ¢gaphto und dem lateinischen Superlativ carissimi findet sich mit Geliebteste nur bei Al, weil Al ja die Vulgata zugrunde legt. Hingegen gilt in Zü, Elb, Rö, Kü, Frb und Sti entsprechend dem griechischen Originaltext Geliebte. Aber schon Lu konnte sich nicht dafür entscheiden und wechselte die Anreden ihr Lieben und meine Lieben. Auch die jüngeren Übersetzungen finden Geliebte als heute gesellschaftlich unangebracht und ändern ab. So wählt Ein in eintöniger Weise liebe Brüder, 14 GN schreibt ihr Lieben und Ge und Nl glauben mit alltagssprachlichem liebe Freunde der Vorlage sinngemäß zu entsprechen. Man sieht also, dass die unterschiedlichen Gesellschaftsverhältnisse zwischen biblischer und heutiger Zeit auch in den Wiedergaben der Anreden ihre Niederschläge finden. Wird in den letzten Jahrzehnten in Brüder von GN und Ge eine sexistische Ausdrucksweise gesehen, so fand schon Luther die Anrede Geliebte als unangemessen, und auch das nur teilweise beibehaltene Kindlein gefiel ihm nicht recht. So verbleiben als textgetreue Übersetzungen nur Kü, der insgesamt den griechischen Vorlagen folgt, und allerdings mit Bezug auf die Vulgata Al. Alle anderen Übersetzungen geben vor allem die Anreden ‘Kindlein’ und die jüngeren Übersetzungen auch ‘Geliebte’ anders wieder. Abermals ist es also beim Vergleich der unterschiedlichen Übersetzungen notwendig, nachzusehen, was denn in den griechischen Originaltexten tatsächlich steht. 14 Entgegen ihrem sonstigen Gebrauch übersetzt Ein Joh 13,33 mit Meine Kinder. Peter Wiesinger 542 5 Ergebnisse Es kann nicht bezweifelt werden, dass die zahlreichen Übersetzer der Bibel jeweils ihr Bestes zu geben bestrebt sind und damit versuchen, den griechischen Originaltext dem heutigen Leser möglichst verständlich und einsichtig zu vermitteln. Hinsichtlich der dabei zur Anwendung kommenden Verfahrensweisen gibt es allerdings beträchtliche Unterschiede, indem sich als grundlegende Übersetzungstypen die strukturtreue, die wirkungstreue und die sinntreue Übersetzung beobachten lassen. Sind dementsprechend in den einzelnen Übersetzungen zwar Syntax, Wortwahl und Stil jeweils verschieden, so bleibt im Allgemeinen diesbezüglich dennoch der intendierte Sinngehalt des Originals weitestgehend bewahrt. Schwierigkeiten entstehen jedoch bei der Wiedergabe einer Reihe von Begriffen und Sachbezeichnungen, wenn die Wortwahl vom Originaltext inhaltlich abweicht und dadurch sich der im Originaltext intendierte Sinn in der Übersetzung verändert. Solche Diskrepanzen werden augenscheinlich, wenn man aktuelle Bibelübersetzungen an charakteristischen Stellen miteinander vergleicht und unterschiedlich starke inhaltliche Abweichungen feststellen muss. Dabei kann es sich um das Verständnis von Personen und ihren gegenseitigen Beziehungen handeln wie beim Verhältnis zwischen Jesus und seinen Begleitern, das der Originaltext als Lehrer und Schüler bezeichnet; um ein anderes gesellschaftliches Verhalten wie z.B. beim antiken zu Tisch liegen gegenüber dem abendländischen zu Tisch sitzen oder um die gegenüber heute abweichende Zeiteinteilung, Wegmessung und Währungsskala. Kritisch werden die Übersetzungsunterschiede besonders dann, wenn sie die biblischen Grundlagen betreffen, auf denen der christliche Glaube aufbaut. Hier besteht bereits eine lange, bis in die frühchristliche Zeit zurückreichende, sich in den Schriften der Kirchenväter niederschlagende, zum Teil dogmatische Lehr- und Auffassungstradition. Ihre Einbeziehung in die Übersetzung wird vor allem von der katholischen Kirche gefordert, was sich auf das Verständnis und damit die Wahl zentraler Begriffe auswirkt. Das ist der Fall bei der Auferstehung Christi und als Folge der Himmelfahrt, wo die meisten biblischen Stellen die Vorgänge als aufwerweckt werden (von Gott) und emporgehoben werden (von Gott) bezeichnen, jedoch die Dogmatik die auch in den Glaubensbekenntnissen enthaltenen Begriffe resurrectio - Auferstehung und ascensio - Himmelfahrt fordert, wobei der letztere Begriff im NT gar nicht vorkommt. Gerade auf die katholischen Übersetzungen von Al, Rö, Kü und Ein, nicht aber auf Frb wirkt sich die dogmatische Ausrichtung an bestimmten Stellen mehr oder minder deutlich aus. In ähnlicher Weise fließen in eine Reihe von Übersetzungen auch Vorstellungen vom liebenden Jesus ein, so dass seine radikale Forderung, alles zugunsten seiner Nachfolge aufzugeben, indem man sogar die Verwandten und sich selber hassen muss, in der Wortwahl vielfach abgeschwächt wird. Manche Begriffe und Sachbezeichnungen werden durch die Einbeziehung ihrer Etymologie zu veranschaulichen versucht, obwohl dafür im Deutschen Lehnwörter oder Lehnübersetzungen bestehen. So trachten Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 543 einige Übersetzungen das eingebürgerte Lehnwort Evangelium auf Grund seiner Wortbildung ebenso zu umschreiben wie sie das Wort segnen für eÙlog w etymologisierend etwa mit den Lobpreis sprechen besser zu fassen versuchen, obwohl das Segnen ein allgegenwärtiger traditioneller kirchlicher Brauch ist. Dass hier auf die Übersetzung des damit verbundenen Verbums eÙcaristšw ‘danken’ teilweise verzichtet wird oder beide Verben einheitlich mit danken wiedergegeben werden, beruht auf der sprachlich nicht sichtbaren exegetischen Interpretation mit Hilfe des AT, wo es vor dem Mahl ein einziges Lob- und Dankgebet gab. Schon Luther war teilweise bestrebt, die andersartigen antiken Sachgegebenheiten seinen Zeitgenossen entweder durch das Aufgreifen analoger aktueller Bezüge zu verdeutlichen wie z.B. bei den Währungseinheiten, oder inhaltlich nachvollziehbare Bezeichnungen neu zu schaffen wie das Wegmaß Feldwegs oder die später ebenso wenig aufgegriffene, hier nicht behandelte Bezeichnung der römischen Stadthalter Quirinus und Pontius Pilatus als Landpfleger. Gerade bei den Währungseinheiten und Längenmaßen schließen sich einige Übersetzungen diesem aktualisierenden Verfahren an, ohne dass dabei allerdings die antike Werteskala einsichtiger wird. Auch der mit den gesellschaftlichen Umbrüchen eingetretene Feminismus und die feministische Theologie bleiben nicht ohne Einfluss auf die jüngsten Bibelübersetzungen wie GN und Ge, die die von Paulus gebrauchte männliche Anrede für die Gemeindemitglieder als Brüder sexistisch auffassen und durch Brüder und Schwestern bzw. Geschwister ersetzen. Vergleicht man also an ausgewählten problematischen Stellen die verschiedenen aktuellen Bibelübersetzungen miteinander, so gibt es bezüglich der Begriffe und Sachbezeichnungen einerseits teilweise Übereinstimmungen und andererseits auch starke Unterschiede. Da nur vereinzelt wie bei Ge in Anmerkungen der originale Wortlaut vermerkt wirkt, muss sich der Bibelleser, sofern er mehrere Übersetzungen zu Rate zieht, fragen, was denn angesichts der Unterschiede tatsächlich im griechischen Originaltext steht. Da eine Überprüfung der überwiegenden Mehrheit der Bibelleser mangels Griechischkenntnissen nicht möglich ist, handeln die nicht strukturtreuen Übersetzungen - und dies ist der größere Teil - gegenüber dem Leser unverantwortlich und dies vor allem dann, wenn sie die Dogmatik ihrer Kirche gegenüber dem überlieferten Wortlaut in ihre Textwiedergabe interpretierend einbeziehen. Auf ein entsprechend unsicheres Terrain begeben sich daher alle jene, die auf Grund einer Übersetzung eine Auslegung biblischer Abschnitte vornehmen und daraus religiösen Nutzen für sich ziehen wollen oder anderen predigen. 15 15 Für die philologische Durchsicht des Manuskripts und für Hinweise möchte ich herzlich danken Frau Doz. Mag. Dr. Hildegund Müller vom Institut für Klassische Philologie der Universität Wien bzw. der Kommission zur Herausgabe des Corpus der lateinischen Kirchenväter (CSEL) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien. Peter Wiesinger 544 6 Bibliographie 6.1 Quellen Al = Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Übers. von Dr. Joseph Franz Allioli. München 1830-34. Nachdruck Wien 1971. Ein = Die Bibel. Einheitsübersetzung. Gesamtausgabe. Mit Kommentar von Eleonore Beck. Stuttgart 2001. Elb = Die Bibel. Elberfelder Übersetzung. 9. Aufl. Wuppertal 2003. Frb = Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Neue Ausgabe. Revidiert von Dr. Johannes Franzkowiak. Freiburg i.Br. 2005. Ge = Neue Genfer Übersetzung. Teilausgabe des Neuen Testaments. Genf 2003. GN = Gute Nachricht Bibel. Altes und Neues Testament. Stuttgart 2000. Je = Die vier Evangelien. Übers. von Walter Jens. 2. Aufl. Stuttgart 2002. Kü = Das Neue Testament. Übers. und hrsg. von Prof. Dr. Josef Kürzinger. Aschaffenburg 1962. Lu 1545 = D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg (Hans Lufft) 1545. Hrsg. von Hans Volz. Bd. 2. Darmstadt 1972. Lu 1984 = Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Rev. Fassung von 1984. Hrsg. von der Evangelischen Kirche Deutschlands. Stuttgart 1999. NL = Neues Leben. Neues Testament mit Psalmen und Sprüchen. Holzgerlingen 2002. Rö = Das Neue Testament. Übers. und erl. von P. Dr. Konstantin Rösch, O. M. Cap. Paderborn 1946. Neubearb. von P. Dr. Johann Kapistran Bott, O. M. Cap. Paderborn 1967. Sti = Das Neue Testament. Übers. von Fridolin Stier. Aus dem Nachlaß hrsg. von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz. München 1989. Zü = Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zürcher Bibel. 21. Aufl. Zürich 1996. 6.2 Literatur Balz, Horst/ Schneider, Gerhard (1992): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. 2. verb. Aufl. 3 Bde. Stuttgart/ Berlin/ Köln. Bauer, Walter (1998): Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6. völlig neubearb. Aufl. von Kurt Aland und Barbara Aland. Berlin/ New York. Blass, Friedrich/ Debrunner, Albert (2001): Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. 18. Aufl. von Friedrich Rehkopf. Göttingen. Bornemann, Eduard (1987): Griechische Grammatik. Unter Mitwirkung von Ernst Risch. 2. Aufl. Frankfurt am Main. Coenen, Lothar/ Haacker, Klaus (1997-2000): Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Neubearb. Ausgabe. 2 Bde. Wuppertal. DUDEN - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1993-1995). 2. völlig neu bearb. und stark erweit. Aufl. Hrsg. von Günther Drosdowski. 8 Bde. Mannheim u.a. Gemoll, Wilhelm (1965): Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. 9. Aufl. von Karl Vretska. München/ Wien. Nachdruck 1988. Begriffe und Sachbezeichnungen in aktuellen deutschen Bibelübersetzungen 545 Georges, Karl Ernst (1913): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8. verb. und verm. Aufl. von Heinrich Georges. 2 Bde. Gotha. Nachdruck als 11. Aufl. Basel 1962. LThK = Lexikon für Theologie und Kirche. 2. völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner. 10 Bde. Freiburg u.a. 1957-1965. 3. völlig neubearb. Aufl. Hrsg. von Walter Kasper. 11 Bde. Freiburg u.a. 1993-2001. Meurer, Siegfried [Hrsg.] (1976): Der Bestseller ohne Leser. Überlegungen zur sinnvollen Weitergabe der Bibel. Stuttgart. Pape, Wilhelm (1914): Griechisch-deutsches Handwörterbuch. 3. Aufl. von M. Sengebusch. 2 Bde. Braunschweig. Nachdruck Graz 1954. RGG = Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. Aufl. Hrsg. von Kurt Galling. 6 Bde. Tübingen 1957- 1962. 4. völlig neubearb. Aufl. Hrsg. von Hans Dieter Betz u.a. 8 Bde. Tübingen 1998-2005. Salevska, Heidemarie (2001): Übersetzungstyp, Übersetzungstheorie und Bewertung von Bibelübersetzungen (Ein Beitrag aus übersetzungtheoretischer Sicht). In: Gross, Walter [Hrsg.]: Bibelübersetzung heute. Geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen. Stuttgarter Symposion 2000. Stuttgart. (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, 2), 119-150. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1977): Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt am Main. Sleumer, Albrecht/ Schmid, Joseph (1926): Kirchenlateinisches Wörterbuch. 2. verm. Aufl. Limburg a. d. Lahn. Nachdruck Hildesheim/ Zürich/ New York 1990. Stoy, Werner/ Haag, Klaus (1997): Bibelgriechisch leicht gemacht. Lehrbuch des neutestamentlichen Griechisch. 4. Aufl. Giessen/ Basel. Wiesinger, Peter (2006): Probleme des Übersetzens der Bibel ins heutige Deutsch. In: Lazarescu, Ioan/ Wiesinger, Peter [Hrsg.]: Vom Wert des Wortes. Festschrift für Doina Sandu zum 65. Geburtstag. Bucure ti/ Wien, 327-344. Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Peter Bassola studierte Germanistik und Latein an der Universität Loránd Eötvös (ELTE) Budapest. Er ist Professor für germanistische Linguistik an der Universität Szeged. Früher lehrte er an der Wirtschaftsuniversität Karl Marx in Budapest, war Lehrbeauftragter an der Katholischen Universität Péter Pázmány in Piliscsaba und im Studienjahr 1995/ 96 Gastprofessor am Germanistischen Institut der Université Lyon III Jean Moulin. Seit 1998 ist er Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Rats des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Sprache in Ungarn, kontrastive Sprachwissenschaft (deutschungarisch), Dependenz- und Valenzgrammatik, Methodik des Grammatikunterrichts. Prof. Dr. Stojan Bra i studierte Germanistik und Romanistik in Ljubljana. Seit 1999 ist er ordentlicher Professor für Germanistische Linguistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. Arbeitsschwerpunkte: Syntax, Stilistik und Textlinguistik. Wichtige Veröffentlichungen: Kommunikative Funktion der gegenwärtigen deutschen Umgangssprache in Pressereiseerzählungen (Frankfurt am Main 1993), Mitherausgeber der Akten des 36. Linguistischen Kolloquiums in Ljubljana (Frankfurt am Main 2004), Mitautor (neben Ulla Fix aus Leipzig und Albrecht Greule aus Regensburg) des textlinguistischen Repetitoriums Textgrammatik - Textsemantik - Textstilistik (im Druck). Mitglied der Redaktionsausschüsse der Fachzeitschriften Linguistica und Vestnik. Prof. Dr. Edgar Feichtner studierte Betriebswirtschaftslehre in Regensburg, München und Johannesburg. Schwerpunkte seines Studiums waren Marketing, Werbepsychologie und Wirtschaftsgeschichte. Nach dem Studium war er in den Bereichen Werbung, Kommunikation und Medien als freier Berater und u.a. als Marketingleiter im Funkhaus Regensburg tätig. Seit 1995 lehrt er an der Fachhochschule Regensburg. Schwerpunkte: Marketing, Werbung, Kommunikationspolitik und Projektmanagement. Im Rahmen seiner Nebentätigkeiten berät Professor Feichtner aktuell Unternehmen wie AUDI AG, Allianz, ver.di, Conrad Electronic, Caritas und IG Metall. Veröffentlichungen: Werbung in lokalen Märkten (München 1994), Regionales Händlermarketing (2001), Standortspezifische Marktforschung (2001). Prof. Dr. Edith Feistner studierte Germanistik und Romanistik in München und Paris. Sie lehrte an den Universitäten in München, Würzburg, Augsburg und Kassel. Seit 1999 ist sie Professorin für germanistische Mediävistik an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Geistliche Literatur und deutsch-französische Literaturbeziehungen im Mittelalter. Wichtige Veröffentlichungen u.a.: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters (Wiesbaden 1995), Mittelalter- Germanistik in Schule und Universität (mit Ina Karg und Christiane Thim-Mabrey, Göttingen 2006). Herausgeberin der Reihe Forum Mittelalter (5 Bände seit 2005). Prof. Dr. Ulla Fix studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig. Sie war als Lektorin in Bagdad und Helsinki tätig. Seit 1992 ist sie Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Textlinguistik, Stilistik, Semiotik, Sprache in der Politik, Sprachkultur, Beziehungen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen: Stil- und Stilwandel (mit G. Lerchner, Frankfurt a.M. u.a. 1996), Sprachbiografien (Frankfurt a.M. u.a. 2000), Hörfilm. Bildkompensation durch Sprache (Berlin 2005). Mitherausgeberin des Autorinnen und Autoren 548 Referatenorgans G ERMANISTIK , der Zeitschrift Deutsche Sprache und der Zeitschrift für Angewandte Linguistik. Prof. Dr. Maria Fölling-Albers studierte Lehramt (Grund- und Hauptschule) sowie Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Pädagogischen Hochschule und an der Universität Münster. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am D.I.P in Münster und als Hochschulassistentin für Grundschulpädagogik an der Universität Oldenburg. Seit 1990 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Grundschulpädagogik an der Universität Regensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Grundschulpädagogik, Lehr-Lernforschung, Kindheitsforschung, Kibbutz-Forschung. Wichtige Veröffentlichungen: Schulkinder heute (Weinheim 1992), Auf dem Weg vom Kleinkind zum Schulkind (mit A. Hopf, Opladen 1995), Kibbutz und Kollektiverziehung (mit W. Fölling, Opladen 2000), Schüler motivieren und interessieren (mit A. Hartinger, Bad Heilbrunn 2002). Prof. Dr. Franz Fuchs studierte Geschichte, Deutsch und Sozialkunde an den Universitäten Regensburg und Wien. Promotion 1986 an der Universität Regensburg, Habilitation 1993 an der Universität Mannheim. Seit 1995 Professor am Institut für Geschichte an der Universität Regensburg, seit 2002 Professor am Institut für Geschichte an der Universität Würzburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Quellenkunde im hohen und späten Mittelalter, Buch- und Bibliotheksgeschichte des Mittelalters, Geschichte des Frühhumanismus nördlich der Alpen. Prof. Dr. Hans-Werner Goetz studierte Geschichte und Anglistik an der Ruhr- Universität Bochum. Er lehrte als Professor auf Zeit an der Universität Bochum und ist seit 1990 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte des frühen und hohen Mittelalters, insbesondere der Historiographie, des Geschichtsbildes und der Vorstellungswelten dieser Epoche. Buchveröffentlichungen u.a. Das Geschichtsbild Ottos von Freising (Köln 1994), Leben im Mittelalter (München 6 2002), Frauen im frühen Mittelalter (Köln 1995), Proseminar Geschichte: Mittelalter (Stuttgart 3 2006), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Berlin 1999), Moderne Mediävistik (Darmstadt 1999), Europa im frühen Mittelalter (Stuttgart 2003). Herausgeber der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe und der Buchreihe Orbis mediaevalis. Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs studierte Germanistik und Geschichte an den Universitäten Saarbrücken und Bonn, war seit 1972 Assistenzprofessor an der Universität des Saarlandes, lehrte 1977 als Gastprofessor in Klagenfurt und wurde im gleichen Jahr auf die Professur für Deutsche Literatur des Mittelalters und Deutsche Sprachgeschichte in Saarbrücken berufen. Er ist Mitglied der Mainzer und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur des frühen und hohen Mittelalters, Prosaroman des späten Mittelalters, Sprachgeschichte des Althochdeutschen, Onomastik und sprachliche Interferenzforschung. Buchveröffentlichungen u.a.: Ordo als Form (Tübingen 1969), Die Kultur der Abtei Prüm im frühen Mittelalter (Bonn 1979), Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter (Kronstein 1979), Die Tholeyer Abtslisten des Mittelalters (Saarbrücken 1986), Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (Tübingen 2 1995). Mitherausgeber u.a.: Zwischen den Sprachen (Saarbrücken 1983), Person und Name (Berlin 2002). Mitherausgeber der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) und der Wolfram-Studien. Prof. Dr. Rupert Hochholzer studierte an der Universität Regensburg die Fächer Katholische Theologie und Germanistik. Seit Oktober 2006 Vertretung des Lehrstuhls Autorinnen und Autoren 549 für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, Institut für Germanistik, an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Innere und äußere Mehrsprachigkeit, Lesekompetenz und Leseförderung, Mediendidaktik. Veröffentlichungen: Himmel und Hölle. Onomasiologische und semasiologische Studien zu den Jenseitsbezeichnungen im Althochdeutschen (Regensburg 1995), Konfliktfeld Dialekt (Regensburg 2004). Lyrik im Deutschunterricht (Baltmannsweiler 2006). Herausgeber der Reihe Regensburger Dialektforum (11 Bände). Prof. Dr. Werner Holly studierte Germanistik, Politische Wissenschaft und Soziologie in Heidelberg, München und Freiburg. Er lehrte an den Universitäten Trier, Sao Paulo, Rostock und Saarbrücken. Seit 1993 ist er Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der TU Chemnitz. Arbeitsschwerpunkte: Pragmatik, Text- und Gesprächslinguistik, Sprache in der Politik, Sprache und Medien. Wichtige neuere Veröffentlichungen: Der sprechende Zuschauer (Mitherausgeber Ulrich Püschel und Jörg Bergmann, Wiesbaden 2001), Einführung in die Pragmalinguistik (Berlin 2001), Fernsehen (Tübingen 2004), Über Geld spricht man (mit Stephan Habscheid, Frank Kleemann, Ingo Matuschek und G. Günter Voß, Wiesbaden 2006). Prof. Dr. Nina Janich studierte Germanistik, Geschichte, Publizistik und Philosophie an den Universitäten Marburg, Mainz und Regensburg. 1997 Promotion, 2003 Habilitation in Regensburg. Seit 2003 Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Werbesprache und Wirtschaftskommunikation, Fachkommunikation und Wissenstransfer, Sprachkultur/ Sprachpolitik. Wichtige Veröffentlichungen: Fachliche Information und inszenierte Wissenschaft. Fachlichkeitskonzepte in der Wirtschaftswerbung. (Tübingen 1998), Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. (Tübingen 1999, 4 2005), Sprachkulturen in Europa. Ein internationales Handbuch. (hrsg. mit Albrecht Greule, Tübingen 2002), Die bewusste Entscheidung. Eine handlungsorientierte Theorie der Sprachkultur (Tübingen 2004). Mitherausgeberin der Reihe Europäische Kulturen in der Wirtschaftskommunikation (9 Bände seit 2001). Prof. Dr. Stefan Kammhuber studierte Psychologie und Sprechwissenschaft in Regensburg. Gründungspartner des iko- Instituts für Kooperationsmanagement an der Universität Regensburg. Seit 2004 ist er Professor für Organisationskommunikation und Interkulturelle Kompetenz am RheinAhrCampus Remagen der FH Koblenz. Arbeitsschwerpunkte: Rhetorik, Internationale Personal- und Organisationsentwicklung, Interkulturelles Lernen und interkulturelles Training. Zahlreiche Publikationen und Vorträge zur Thematik. Katja Kessel, M.A. studierte Germanistik, Pädagogik, Deutsch als Fremdsprache und Interkulturelle Handlungskompetenz in Regensburg und Boulder, CO (USA). Von 2002 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Regensburg. Derzeit arbeitet sie als Referentin der Hochschulleitung an der Fachhochschule Coburg. Arbeitsschwerpunkte: Laienlinguistik, Pragmatik, Gesprächssorte Smalltalk. Wichtige Veröffentlichung: Basiswissen deutsche Gegenwartssprache (mit Sandra Reimann, Basel/ Tübingen 2005). Dr. Gabriele Klocke studierte Linguistik, Psychologie, Biologie und Pädagogik an den Universitäten Bielefeld und Regensburg. Seit 2000 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Rechtslinguistik, Strafvollzugsforschung. Wichtige Veröffentlichung: Über die Gleichheit vor dem Wort. Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug (Bielefeld 2004). Autorinnen und Autoren 550 Prof. Dr. Jarmo Korhonen studierte Germanistik, Nordistik, Allgemeine Phonetik und Pädagogik an der Universität Oulu/ Finnland und Göttingen. Ordinarius für Germanische Philologie an der Universität Oulu 1979-1988, an der Universität Turku/ Finnland 1988-1993, an der Universität Helsinki/ Finnland seit 1993. Vertretung des Lehrstuhls für Deutsche Philologie (Linguistik) an der Universität Tübingen 1981- 1983. Arbeitsschwerpunkte: Phraseologie, Lexikografie, Syntax. Wichtige Veröffentlichungen: Studien zu Dependenz, Valenz und Satzmodell I-II (Bern u.a. 1977-1978), Studien zur Phraseologie des Deutschen und des Finnischen I-II (Bochum 1995-1996), Alles im Griff. Homma hanskassa. Idiomwörterbuch Deutsch-Finnisch (Helsinki 2001). Mitherausgeber der Reihen Finnische Beiträge zur Germanistik und Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki sowie der Zeitschrift Neuphilologische Mitteilungen. Prof. Dr. Hermann Kurzke studierte Germanistik und Katholische Theologie an den Universitäten München und Würzburg. Er ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz. Zahlreiche Publikationen über Thomas Mann (z.B. Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999 u.ö.), ferner über Romantik (Novalis), Hymnologie (Herausgeber der kommentierten Anthologie Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001 u.ö.), Gegenwartsliteratur und Kulturreligiosität (Unglaubensgespräch. Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben, München 2005). Freie Mitarbeit im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Literarischen Welt. Mitherausgeber der Großen Kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe (Frankfurt a.M.). Prof. Dr. med. Thomas Loew studierte Medizin in Florenz, Ulm und Erlangen. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiater und Psychoanalytiker. Nach einigen Jahren der Tätigkeit in der Inneren Medizin und der Psychotherapie hat er in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Erlangen gearbeitet. Seit 2001 ist er Extraordinarius am Universitätsklinikum Regensburg; seit 2006 zusätzlich Leiter und Chefarzt an der Klinik Donaustauf. Seit 2004 ist er 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind das Krankheitserleben und -verhalten bei chronischen Erkrankungen und die psychotherapeutische Interventionsforschung, hier insbesondere die Körperpsychotherapie. Wichtige Veröffentlichungen: Wenn die Seele den Körper leiden läßt (Stuttgart 1998), Psychiatrie systematisch (mit Dieter Ebert, Bremen, jetzt 6 2005), Körpererleben und Körperbild. Ein Handbuch zur Diagnostik (mit Peter Joraschky und Frank Röhricht, Stuttgart 2007). Prof. Dr. Dietrich Jürgen Manske studierte Geographie, Deutsch, Geschichte und Geologie in Erlangen und Hamburg. Er ist pensionierter Professor für Kultur- und Regionalgeographie an der Universität Regensburg. Federführendes Mitglied des Leitungsgremiums des interdisziplinären "Arbeitskreises Landeskunde Ostbayern" (ALO) an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Nord- und Ostbayern mit angrenzenden Räumen, ehem. Jugoslawien, Wales (GB). Wichtige Veröffentlichungen: Die naturräumlichen Einheiten auf Blatt 164 Regensburg = Geographische Landesaufnahme Naturräumliche Gliederung Deutschlands 1 : 200.000 (hrsg. von Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung, Bad Godesberg 1981/ 82), Der Krieg im auseinanderbrechenden Jugoslawien - ein Religionskonflikt? (In: Geodynamik 13/ 2 1992), Geographische Untersuchungen zum Tourismus in Mittel- und Westwales, insbesondere zum Caravan- und Campingtourismus, Mitte der 70er Jahre. (In: Regensburger Beiträge zur Regionalgeographie und Raumordnung 3, Kallmünz/ Regensburg 1991). Mitheraus- Autorinnen und Autoren 551 geber der Reihe Regensburger Beiträge zur Regionalgeographie und Raumplanung (11 Bde.). Prof. Dr. Jörg Meibauer studierte in Köln Germanistik und Philosophie sowie in Brighton Kognitionswissenschaft. Er lehrte an den Universitäten in Köln, Tübingen und Dresden. Seit 1998 Professur für Sprachwissenschaft des Deutschen an der Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Grammatik des Deutschen, Wortbildung, Pragmatik, Spracherwerb, Sprachwandel, Linguistik und Kinderliteratur. Veröffentlichungen zu Rhetorischen Fragen (Tübingen 1986), Modalpartikeln (Tübingen 1994), Pragmatik (Tübingen 1999, 2 2001), Koautor der Einführung in die germanistische Linguistik (Stuttgart/ Weimar 2002, 2 2007) und der Schnittstellen der germanistischen Linguistik (2007), Sammelbände zum Satzmodus (Tübingen 1987), Lexikonerwerb (mit M. Rothweiler, Tübingen 1999), zu Zitat und Bedeutung (mit E. Brendel und M. Steinbach, 2007). Herausgeber der Reihe Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik (mit M. Steinbach, seit 2005). Dr. Michael Prinz studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Regensburg. Nach der Promotion wechselte er 2004 als wissenschaftlicher Assistent an die Universität Leipzig. Wichtige Veröffentlichung: Regensburg - Straubing - Bogen. Studien zur mittelalterlichen Namenüberlieferung im ostbayerischen Donauraum (München 2006). Herausgeber der Buchreihe Regensburger Studien zur Namenforschung. Prof. Dr. Ulrich Püschel ist Akademischer Oberrat für Germanistische Linguistik an der Universität Trier. 1973 Promotion und 1996 Habilitation an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Stilistik des Deutschen, Medienlinguistik mit Schwerpunkt Zeitungssprache, Lexikologie/ Lexikographie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen und anderen Themen, darunter Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion (mit Werner Holly und Peter Kühn, Tübingen 1986), Wie schreibt man gutes Deutsch? Eine Stilfibel (Mannheim u.a. 2000), Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen (hrsg. mit Werner Holly und Jörg Bergmann, Wiesbaden 2001). Prof. Dr. Ursula Regener studierte Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Münster, wo sie auch promovierte. Von 1989 bis 2004 war sie an der Universität Augsburg tätig. Habilitation 1999. Seit 01.10.2004 Ordinaria für Deutsche Philologie/ Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Wichtige Veröffentlichungen: Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung von Johann Christian Günthers „Verliebten Gedichten“ (Berlin u.a. 1989), Formelsuche. Studien zu Eichendorffs lyrischem Frühwerk (Tübingen 2001). Mitherausgeberin „In Spuren gehen...“ Festschrift für Helmut Koopmann (Tübingen 1998), Herausgeberin diverser Bände der Historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe, Mitherausgeberin (seit Jg. 61/ 2001) Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. Erläuterungen und Dokumente (Stuttgart 2004), Aufsätze zur Literatur des 17.-20. Jahrhunderts, zur Editionsphilologie und zur Mediengeschichte. Dr. Sandra Reimann studierte Germanistik, Politik, Soziologie und Journalistik in Regensburg und Eichstätt. Seit 1992 Hörfunkjournalistin. Ab 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 2006 wissenschaftliche Assistentin (mit der Bezeichung Akademische Rätin a.Z.) am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft in Regensburg. Wissenschaftliche Betreuung des Historischen Werbefunkarchivs der Universität Regensburg. Promotion 2006. Forschungsschwerpunkte: Grammatik, Medien-/ Werbesprache, Namenpragmatik, Sprache in der Medizin. Wichtige Veröffentlichungen: Autorinnen und Autoren 552 Basiswissen deutsche Gegenwartssprache (mit Katja Kessel, Basel/ Tübingen 2005), Mehrmedialität in der werblichen Kommunikation. Synchrone und diachrone Untersuchungen von Werbestrategien (Tübingen, im Druck). Herausgeberin: Faszination Hörfunkwerbung - im Wandel. Das Historische Werbefunkarchiv der Universität Regensburg (Regensburg 2006) und Werbung hören. Beiträge zur interdisziplinären Erforschung der Werbung im Hörfunk (im Druck). Prof. Dr. Jörg Riecke studierte u.a. Germanistik, Geschichte, Slavistik und Indogermanistik in Marburg und Regensburg und war Stipendiat der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ von 1989 bis 1993. Er lehrte an den Universitäten Regensburg, Eichstätt, Brno, Frankfurt, Marburg und Gießen. Im Jahre 2006 erging ein Ruf auf einen Lehrstuhl für „Germanistische Sprachwissenschaft“ an der Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Ältere und Neuere Sprachgeschichte, Lexikologie. Veröffentlichungen: Die schwachen jan-Verben des Althochdeutschen (Göttingen 1996), Mittelalterliche medizinische Fachsprache, 2 Bde. (Berlin/ New York 2004), Einführung in die Historische Textanalyse (Göttingen 2004). Mitherausgeber: Klaus Matzel, Gesammelte Schriften (Heidelberg 1990), Festschrift für Hans Ramge (Darmstadt 2000), „Im Eilschritt durch den Gettotag …“. Oskar Singers Reportagen aus dem Getto Lodz (Göttingen 2002), Deutschsprachige Zeitungen in Mittel- und Osteuropa (Berlin 2005), Festschrift für Otfrid Ehrismann (Hildesheim 2006). Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik in Hamburg, Münster/ Westf. und Freiburg/ Br. Er hatte 1972-2002 in Frankfurt a.M. die Professur für Deutsche Philologie inne. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Schwerpunkt Geschichte und Soziolinguistik der deutschen Sprache, zuletzt: „Es wird zwei Deutschlands geben“ - Zeitgeschichte und Sprache in Nachkriegsdeutschland 1945-1949 (Frankfurt a.M. 2005). Herausgeber der Buchreihe Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft (bisher 12 Bände). Initiator und Sprecher der Sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ (seit 1991). Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid studierte Philosophie in Passau sowie Germanistik und Katholische Theologie in Regensburg. Er arbeitete von 1988 bis 2003 bei der Kommission für Mundartforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und ist seit 2003 Professor für Historische deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkt: Historische deutsche Sprachwissenschaft. Wichtige Veröffentlichungen: Althochdeutsche und frühmittelhochdeutsche Bearbeitungen lateinischer Predigten des „Bairischen Homiliars“, 2 Bde. (Frankfurt/ Bern/ New York 1986), Die mittelalterlichen deutschen Inschriften in Regensburg (Frankfurt a.M. u.a. 1989), lîhBildungen. Vergleichende Untersuchungen zu Herkunft, Entwicklung und Funktion eines althochdeutschen Suffixes (Göttingen 1998), Wörterbuch Isländisch-Deutsch. Mit einem Abriß der isländischen Formenlehre (Hamburg 2001). Prof. em. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder studierte Rechtswissenschaft und Osteuropakunde in Bonn, West-Berlin und München. Promotion 1963, Habilitation 1968 in München. 1968-2004 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Ostrecht an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Dogmatik des Straf- und Strafprozessrechts, Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsvergleichung. Wichtige Veröffentlichungen: Der Täter hinter dem Täter (Berlin 1965), Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht (München 1970), Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit (Heidelberg 1992), 74 Jahre Sowjetrecht (München 1992). Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Simmler studierte Germanistik, Geschichte und katholische Theologie in Bonn und München. Erstes Staatsexamen 1969. Promotion in Bonn 1970. Autorinnen und Autoren 553 Habilitation 1978 in Münster/ W. Professor 1980 in Regensburg, seit 1985 an der Freien Universität Berlin für Deutsche Philologie (Sprachwissenschaft). Arbeitsschwerpunkte: Phonologie, Morphologie, Syntax, Textlinguistik in Bezug auf die Gegenwartssprache und die historischen Sprachstufen des Deutschen. Wichtige Monographien: Die westgermanische Konsonantengemination (Münster 1974), Synchrone und diachrone Studien zum deutschen Konsonantensystem (Amsterdam 1976), Die politische Rede im Deutschen Bundestag (Göppingen 1978), Graphematisch-phonematische Studien zum althochdeutschen Konsonantismus (Heidelberg 1981), Morphologie des Deutschen (Berlin 1998). Herausgeber: Textsorten deutscher Prosa vom 12./ 13. bis 18. Jahrhundert (Bern u.a. 2002), Herausgeber der Reihe Berliner Sprachwissenschaftliche Studien, Mitherausgeber der Reihen Berliner Studien zur Germanistik und Jahrbuch für Internationale Germanistik. Prof. Dr. Christiane Thim-Mabrey studierte Germanistik und Anglistik in Regensburg. Sie war DAAD-Lektorin an der Universität Novi Sad, Jugoslawien (1980-1983) und lehrt seit 1984 an der Universität in Regensburg, seit 1992 als Akademische Rätin am Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft (Habilitation 2000). Arbeitsschwerpunkte: Grammatik, Semantik grammatischer Strukturen, Textstrukturen und Textsorten, sprachgeschichtliche Entwicklungen seit fnhd. Zeit. Wichtige Veröffentlichungen: Satzkonnektoren wie „allerdings“, „dennoch“ und „übrigens“ (Frankfurt a.M. 1985), Grenzen der Sprache - Möglichkeiten der Sprache. Untersuchungen zur Textsorte Musikkritik (Frankfurt a.M. 2001). Prof. Dr. Maria Thurmair studierte Deutsch als Fremdsprache, Germanistik und Anglistik in München. Sie lehrte an den Universitäten in München, Rostock und Regensburg, wo sie seit 1998 eine Professur für Deutsch als Fremdsprache innehat. Arbeitsschwerpunkte derzeit: Grammatik, insbes. Morphologie und Wortbildung, Pädagogische Grammatik, Textlinguistik und Textsortenforschung. Wichtige Veröffentlichungen: Modalpartikeln und ihre Kombinationen (1989), Vergleiche und Vergleichen (2001). Mitarbeit an: V. Eismann/ H.M. Enzensberger u.a. (1993ff.): „Die Suche“. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache, H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache ( 2 2003). Prof. Dr. Heinrich Tiefenbach studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die Promotion erfolgte 1970 in Bonn, die Habilitation 1983 an der Westfälischen Wilhelms- Universität in Münster. Seit 1986 lehrt er als Professor für Deutsche Philologie (Sprachwissenschaft) an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Sprache, Lexikologie, Namenkunde. Liste der Publikationen in Entstehung des Deutschen. Festschrift für Heinrich Tiefenbach (Heidelberg 2004). Mitherausgeber der Zeitschrift Beiträge zur Namenforschung. Neue Folge (seit 1994/ 95). Dr. Tanja Wagensohn studierte Politikwissenschaft, Ostslavistik und Germanistik in Regensburg und Moskau. Sie leitet das Bayerische Hochschulzentrum für Mittel-, Ost- und Südosteuropa (BAYHOST) an der Universität Regensburg. Lehraufträge an den Universitäten Regensburg, Würzburg, Erlangen-Nürnberg; OSZE-Wahlbeobachterin. Veröffentlichungen: Von Gorbatschow zu Jelzin. Moskaus Deutschlandpolitik (1985-1995) im Wandel (Baden-Baden 2000), Krieg in Tschetschenien (München 2000), Russland nach dem Ende der Sowjetunion (Regensburg 2001), NKLY (zusammen mit Jürgen Huber, Regensburg 2005). PD Dr. Andreas Wagner M.A. studierte Evangelische Theologie in Mainz und Heidelberg, Dt. Phil., Musikwiss. und Musik in Mainz. Von 1990 bis 2004 war er Assis- Autorinnen und Autoren 554 tent in Mainz. Nach Privatdozentur (2002-2004) in Mainz seit 2004 Privatdozent (Ev. Theol., Altes Testament) und Forschungsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Anthropologie und Religionsgeschichte des A.T., Prophetie, Psalmen, Literatur und Theologie des Alten Testaments, Hebräische Philologie. Wichtige Veröffentlichungen: Monographien: Sprechakte und Sprechaktanalyse im Alten Testament. Untersuchungen an der Nahtstelle zwischen Handlungsebene und Grammatik (Berlin/ New York 1997), Prophetie als Theologie. Die so spricht Jahwe-Formeln und das Grundverständnis alttestamentlicher Prophetie (Göttingen 2004), Emotionen, Gefühle und Sprache im Alten Testament. Vier Studien (Waltrop 2006). Herausgeber: Studien zur hebräischen Grammatik (Fribourg/ Göttingen 1997), Sühne - Opfer - Abendmahl (Neukirchen-Vluyn 1999), Bote und Brief (Frankfurt u.a. 2003), Gott im Wort - Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus? (mit V. Hörner/ G. Geisthardt, Neukirchen-Vluyn 2005), Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments (Berlin/ New York 2006), Parallelismus membrorum (Fribourg/ Göttingen 2007). Prof. Dr. Zenon Weigt studierte Germanistik in Pozna und Greifswald. Er unterrichtet an der Universität Lodz/ Polen und ist Professor für Sprachwissenschaft. Arbeitsbereiche: Textlinguistik und Translatorik, Zeitungsforschung und deutschpolnische vergleichende Studien. Wichtige Veröffentlichungen: Deutsche Präpositionalphrasen „Präp.+Subst.“/ “Präp.+Subst.+Präp.“ als relevante Ausdrucksmittel in fachsprachlichen Texten (Łód 1997), mehrere Aufsätze zu oben angegebenen Gebieten und zur „Lodzer Zeitung“, Mitherausgeber der Zeitschriftenreihe Zeszyty Naukowe WSHE in Łód . Univ.-Prof. Dr. Peter Wiesinger studierte Germanistik, Volkskunde und Anglistik in Wien und Marburg a.d. Lahn. Von 1972 bis 2006 lehrte er als o. Univ.-Prof. für deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur in Wien. Er war von 1995 bis 2000 Präsident der Internat. Vereinigung für Germanistik (IVG) und gehört seit 1998 als wirkliches Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften an. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Sprachgeschichte, Dialektologie, Namenkunde, österr. Deutsch, spätmittelalterliche Literatur. Wichtige Veröffentlichungen: Phonetisch-phonologische Untersuchungen zur Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten (Berlin 1971), Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich (8 Bde., Wien 1989 ff.), Schreibung und Aussprache im älteren Frühneuhochdeutschen (Berlin 1996), Das österreichische Deutsch in Gegenwart und Geschichte (Wien 2006). Herausgeber der Schriften zur deutschen Sprache in Österreich (38 Bde. seit 1980). Univ. Prof. Dipl.-Psych. Mag. Dr. Rainer Winter studierte Psychologie, Philosophie, Soziologie und Cultural Studies in Trier, Frankfurt a.M., Paris, Urbana-Champaign und Madison. Er lehrte an den Universitäten in Trier, Aachen, Potsdam-Babelberg (HFF), Saarbrücken, Dresden, Gießen und Bern sowie an der Fachhochschule für Design Rheinland-Pfalz. Seit 2002 ist er Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Wichtige Veröffentlichungen: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess (München/ Köln 1995) und Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht (Weilerswist 2001). Herausgeber der Buchreihe Cultural Studies im Bielefelder Transcript Verlag (21 Bände seit 2001). Prof. Dr. Christian Wolff studierte Informationswissenschaft, allgemeine Sprachwissenschaft, Geschichte und Anglistik in Regensburg und Bielefeld. 1994 Promotion in Informationswissenschaft, 2000 Habilitation an der Universität Leipzig im Fach In- Autorinnen und Autoren 555 formatik mit einer Arbeit über dynamische elektronische Bücher. 1990-1994 wiss. Mitarbeiter der Informationswissenschaft, Universität Regensburg, 1994-2002 Assistent/ Privatdozent am Institut für Informatik der Universität Leipzig, 2002/ 2003 Professor für Medieninformatik an der TU Chemnitz, seit 2003 Professor für Medieninformatik an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Sprach- und Texttechnologie, Multimediale und webbasierte Informationssysteme, Mensch-Maschine- Interaktion. Wichtige Veröffentlichungen: Graphisches Faktenretrieval mit Liniendiagrammen (Konstanz 1996), Heyer/ Wolff (Hrsg.) Linguistik und neue Medien (Wiesbaden 1998), Einführung in Java (Stuttgart 1999), Eibl/ Womser-Hacker/ Wolff (Hrsg.) Designing Information Systems (Konstanz 2005). Herausgeber des LDV-Forum, Zf. f. Sprachtechnologie und Computerlinguistik. Prof. Dr. Alf C. Zimmer studierte Psychologie, Philosophie und Mathematik an der Universität Münster. Er lehrte an den Universitäten in Tübingen, Oldenburg, Stanford, Münster und Regensburg. Seit 1984 hat er den Lehrstuhl für Experimentelle Angewandte Psychologie an der Universität Regensburg inne und ist z.Z. deren Rektor. Wichtige Veröffentlichungen: A model for the interpretation of verbal predictions (Mahwah 1984), The concept of perceptual 'field' and the revolution in cognition caused by Köhler's "Physische Gestalten" (Dordrecht 2001). Tabula Gratulatoria Zu seinem 65. Geburtstag gratulieren wir Herrn Prof. Dr. Albrecht Greule ganz herzlich: Dieter-W. Allhoff, Regensburg Iris und Helmut Altner, Regensburg Thorsten Andersson, Uppsala (Schweden) Maria Giovannna Arcamone, Pisa (Italien) Johann Aßbeck, Regensburg Armin R. Bachmann, Bayreuth Peter Bassola, Szeged (Ungarn) Rudolf Bauer, Regensburg Verena Bauer, Regensburg Heinrich Beck, Bonn Günter Bellmann, Mainz-Ebersheim Dieter A. Berger, Regensburg Angela Bergermayer, Wien (Österreich) Hanna Biadun-Grabarek, Polen Zofia Bilut-Homplewicz, Rzeszów (Polen) Inge Bily, Leipzig Christian Blomeyer, Kareth Stojan Bra i , Ljubljana (Slowenien) Christine Brau, Bremen Christian Braun, Graz (Österreich) Kurt Brenner, Prunn Helmut Castritius, Braunschweig/ Darmstadt Astrid Christl, Passau Rogier M.J. Crijns, Nijmegen (Niederlande) Nandor Csiky, Regensburg Marta Czy ewska, Warschau (Polen) Wolfgang Dahmen, Jena Jürgen Daiber, Regensburg Friedhelm Debus, Schierensee Artur Dirmeier, Regensburg Christoph Dohmen, Regensburg Martin Dolch, Kaiserslautern Bernhard Dotzler, Regenburg Daniel Drascek, Regensburg Eberhard Dünninger, München Josef Egginger, Winhöring Ernst Eichler, Leipzig Nicole Eller, Passau Lennart Elmevik, Uppsala (Schweden) Sonja Emmerling, Regensburg Ulrich Engel, Heppenheim Gerhard Ernst, Regensburg Peter Ernst, Wien (Österreich) Hans-Werner Eroms, Passau Edgar Feichtner, Regensburg Edith Feistner, Regensburg Detlef Fischer, München Roswitha Fischer, Regensburg Ulla Fix, Leipzig Csaba Földes, Veszprém (Ungarn) Maria Fölling-Albers, Regensburg Marina Foschi Albert, Pisa (Italien) Kurt Franz, Regensburg Franz Fuchs, Würzburg Kurt Gaertner, Marburg Lisa Gaier, Regensburg Bernhard Gajek, Lappersdorf Achim Geisenhanslüke, Regensburg Erwin H. und Elisabeth Geldmacher, Teufen (Schweiz) Germanistisches Institut Universität Helsinki Dieter Geuenich, Duisburg-Essen Henning Gloyer, Regensburg Hans-Werner Goetz, Hamburg Joanna Golonka, Rzeszów (Polen) Jozef Grabarek, Polen Rudolf Große, Leipzig Stefan Hackl, Regensburg Sabine Hackl-Rößler, Waldkirchen Carolin Hagl, Regensburg Gerhard Hahn, Bad Abbach Marianne Hammerl, Regensburg Rudolf Hanamann, Regensburg Ernst Hansack, Regensburg Rüdiger Harnisch, Passau Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken Winfried Haunerland, München Tabula Gratulatoria 558 Karl Hausberger, Regensburg Günter Hauska, Regensburg Dieter Heimböckel, Regensburg Margot Heinemann, Leipzig Karlheinz Hengst, Leipzig Michael Henker, Augsburg Helmut Henne, Braunschweig Marianne Hepp, Pisa (Italien) David Hiley, Regensburg Georg Hilger, Aachen Rupert Hochholzer, Regensburg Walter Hoffmann, Bonn Bernhard Hofmann, Regensburg Werner Holly, Chemnitz Edgar Hösch, München Irma Hyvärinen, Helsinki (Finnland) Nina Janich und Florian Kaffarnik, Darmstadt Wolfgang Janka, Regensburg Gerhard Janner, Auerbach/ OPf. Jörg Jarnut, Paderborn Marija Javor Briski, Ljubljana (Slowenien) Christa Jochum-Godglück und Peter Godglück, Saarbrücken Stefan Kammhuber, Remagen Elisabeth Kappas, Wiesbaden Czeslaw Karolak, Posen (Polen) Ioanna Karvela, Athen (Griechenland) Ulrike Kaunzner, Ferrara (Italien) Gundolf Keil, Würzburg Kari Keinästö, Turku (Finnland) Katja und Jörg Kessel, Coburg Dong-UK Kim, Seoul (Korea) Gabriele Klocke, Regensburg Heinz Kneip, Regensburg Matthias Kneip, Regensburg/ Darmstadt Georg Köglmeier, Oberndorf Michael Kohlhäufl, Bad Abbach Rosa und Volker Kohlheim, Bayreuth Darija Kokalj, Litija (Slowenien) Irena Kokalj, Litija (Slowenien) Werner König, Augsburg Jarmo Korhonen, Helsinki (Finnland) Walter Koschmal, Regensburg Gerhard Koß, Weiden i.d.OPf. Hans Joachim und Marianne Kreutzer, München Hans-Henrik Krummacher, Mainz Ingrid Kühn, Halle Werner Kunz, Regensburg Konrad Kunze, Freiburg im Breisgau Hirokazu Kurosawa, Regensburg Martina Kürzinger, Kasing Hermann Kurzke, Mainz Manuela Lang, Kirn Franz Lebsanft, Bochum Ulrich G. Leinsle, Regensburg Tibor Lénárd, Veszprém (Ungarn) Larissa Likhanova, Pavlodar (Kasachstan) Birgit Listl, Regensburg Thomas Loew, Regensburg W. Christian Lohse, Oberhinkofen Marek L'upták, Banskábystrica (Slowakei) Albrecht P. Luttenberger, Regensburg Dietrich Jürgen Manske, Regensburg Dieter Marenbach, Sinzing Jörg Meibauer, Mainz Jörg Meier, Leiden (Niederlande) Birgit und Eckhard Meineke, Münster Ernst Erich Metzner, Frankfurt a.M./ Rüsselsheim Wolfgang Mieder, Burlington, Vermont (USA) Susanne Modrow, Regensburg Astrid van Nahl, Bonn Norbert Nail, Marburg Susanne Näßl, Leipzig Marek Nekula, Regensburg Susanna Sophia Neri, Würzburg Dagmar Neuendorff, Åbo/ Turku (Finnland) Eva Neuland, Wuppertal Ingrid Neumann-Holzschuh, Regensburg Ulrich Nonn, Koblenz Damaris Nübling, Mainz Gabriele Pani, Regensburg Silvija Pavidis, Riga (Lettland) Ilpo Tapani Piirainen, Münster Martina Pitz, Lyon (Frankreich) Janja Polajnar, Ljubljana (Slowenien) Franz Karl Praßl, Graz (Österreich) Christine Pretzl, Regenstauf Tabula Gratulatoria 559 Michael Prinz, Leipzig Manfred Probst SAC, Vallendar Ulrich Püschel, Trier Hans Ramge, Gießen Georg Rechenauer, Regensburg Ursula Regener, Regensburg Lutz Reichardt, Altbach Sandra Reimann, Regensburg Wolf-Armin Frhr. v. Reitzenstein, München Katja Richter, Heusenstamm Jörg Riecke, Gießen Peter Philipp Riedl, Regensburg Elke Ronneberger-Sibold, Eichstätt Irmtraud Rösler, Rostock Roman Sadzinski, Lodz (Polen) Jürgen Scharnhorst, Berlin Franz Xaver Scheuerer, Laaber Silke Schiekofer, Regensburg Michael Schlaefer, Göttingen Herbert Schlögel, Regensburg Horst Dieter Schlosser, Frankfurt/ M. Gottfried Schmalz, Regensburg Hans Ulrich Schmid, Leipzig Peter Schmid, Regensburg Christopher M. Schmidt, Åbo/ Turku (Finnland) Sigrid Schmitt, Trier Karl Schmotz, Deggendorf Günter Schneeberger, München Edgar W. Schneider, Regensburg Wolfgang Schöller, Regensburg Andreas Schorr, Saarbrücken Friedrich-Christian Schroeder, Regensburg Helga Schubert, München Robert Schuh, Nürnberg Alexander Schwarz, Lausanne (Schweiz) Seminariet för nordisk namnforskning, Uppsala universitet (Schweden) Kate ina Šichová, Regensburg Katrin Simbeck, Schwarzenfeld Franz Simmler, Berlin Brenda Smith, Gainesville, Forida (USA) Rosemarie Spannbauer-Pollmann, Passau Sylvie Stanovská, Brno (Tschechische Republik) Rudolf Steffens, Mainz Anja Steinhauer, Wiesbaden Svante Strandberg, Uppsala (Schweden) Eva Szeherová, Bratislava (Slowakische Republik) Michael Szurawitzki, Åbo/ Turku (Finnland) Harald Tanzer, Regensburg Christiane Thim-Mabrey, Regensburg Maria Thurmair, Regensburg Heinrich Tiefenbach, Regensburg Pavla Tischerová, Pirna Klaus Trost, Bad Abbach Andreas Trpak, Regensburg Theo Vennemann, München Gisela Vollmann-Profe, Eichstätt Rudolf Voß, Mainz Tanja Wagensohn, Regensburg Andreas Wagner, Heidelberg Melanie Wagner, geb. Paul, Simbach/ Landau Erika Waser, Littau (Schweiz) Klaus Watzin, Regensburg Viktor Weibel, Schwyz (Schweiz) Zenon Weigt, Lodz (Polen) Matthias Wermke, Mannheim Hermann H. Wetzel, Regensburg Claudia Wich-Reif, Berlin Peter Wiesinger, Wien (Österreich) Alfred Wildfeuer, Regensburg Rainer Winter, Klagenfurt (Österreich) Armin Wolff, Regensburg Christian Wolff, Regensburg Eva Zametzer, Regensburg Ludwig Zehetner, Regensburg Zentralstelle für Studienberatung, Universität Regensburg: Daniela Hodapp, Sybille Heintz, Ulrich Martzinek, Barbara Eiwan Alf C. Zimmer, Regensburg Reinhard Zimmermann, Hamburg Katarína Znamená ková, Žilina (Slowakische Republik)