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Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen

2008
978-3-8233-7382-7
Gunter Narr Verlag 
Martine Boyer-Weinmann
Frank Estelmann
Olaf Müller

Im Münchener Abkommen einigten sich das nationalsozialistische deutsche Reich, das faschistische Italien und die Demokratien England und Frankreich im September 1938 auf die Zerschlagung der im Versailler Vertrag gegründeten und völkerrechtlich garantierten Tschechoslowakei. Die europaweiten Reaktionen auf das Abkommen reichten von der Erleichterung darüber, daß zwanzig Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs ein neuerlicher Krieg noch einmal abgewendet schien bis zum Entsetzen über die Kapitulation der Demokratien. Diese Spannbreite der Reaktionen zeigt der vorliegende Band, der einen deutsch-französischen Blick auf die kulturelle Produktion französischer Intellektueller und deutschsprachiger Exilanten in Frankreich zwischen September 1938 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wirft. Neben Darstellungen der historischen Zusammenhänge und des französischen Buchmarkts finden sich Analysen zu Texten von Louis Aragon, Simone de Beauvoir, Maurice Blanchot, Siegfried Kracauer, Heinrich Mann, Paul Nizan, Joseph Roth, Jean-Paul Sartre u. a. sowie eine ausführliche Zeittafel und ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson über seine Exilerfahrungen ab 1936.

edition lendemains 5 Martine Boyer-Weinmann Frank Estelmann / Olaf Müller (Hrsg.) Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen Literatur und Exil in Frankreich zwischen Krise und Krieg Gunter Narr Verlag Tübingen Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen edition lendemains 5 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) Martine Boyer-Weinmann Frank Estelmann / Olaf Müller (Hrsg.) Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen Literatur und Exil in Frankreich zwischen Krise und Krieg Gunter Narr Verlag Tübingen Titelbild: Titelbild: Eva Herrmann: Umschlagentwurf f. Lion Feuchtwanger: Exil (Detail). In: Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main © VG Bild Kunst, Bonn 2008 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch: die Deutsch-Französische Hochschule, Saarbrücken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6382-8 Inhalt Einleitung .............................................. 5 ‚M ÜNCHEN ‘ UND DANACH A LBRECHT B ETZ : Zwischen Krise und Krieg .................................. 13 M ARIE -L UISE R ECKER : „La paix à tout prix? “ Frankreichs Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland 1938-1939 ................... 29 L ITERATUR DER K RISE : K ONTEXTE UND P OSITIONEN J EAN -P IERRE M ARTIN : Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller ... 45 H ÉLÈNE B ATY -D ELALANDE : Eine große stille Stimme? Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard, von ‚München’ bis zu Épilogue (1940) ........ 63 D OMINIQUE P ERRIN : Eine „dämonische Version“ des Parzifal. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq ......................................... 83 A NDREAS N IEDERBERGER : Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur ............................................... 103 O LAF M ÜLLER : Ignazio Silone und Siegfried Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog .................................. 119 Anhang: Brief von Siegfried Kracauer an Ignazio Silone, Paris, 16. Januar 1939 ........................................ 138 P HILIPPE O LIVERA : Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940. Grundlagen für einen Vergleich mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ......................................... 141 E CHOS DER K RISE IN L ITERATUR , P UBLIZISTIK UND W ISSENSCHAFT F RANK E STELMANN : Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption: Von der Publizistik zur Romanliteratur des Exils ........................ 159 M ARTINE B OYER -W EINMANN : Von La Conspiration zur Chronique de septembre: Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan ...................................... 185 B RITA E CKERT : „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk ............................................... 203 W OLFGANG S CHOPF : Pariser Echo der Krise: Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils ............................................... 217 J EAN -Y VES D EBREUILLE : Tanz auf dem Vulkan. Die Nouvelle Revue française vom September 1938 bis zum Juni 1940 ..................................... 227 F RIEDRICH W OLFZETTEL : Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont ............................................. 243 M ARTIN S TRICKMANN : Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie als politische Intellektuelle am Ende der 1930er Jahre ................ 257 „I CH REDE MIT JEDEM P ATIENTEN ANDERS “: Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson über sein Exil nach 1936 ........ 267 Zeittafel, Januar 1938 bis September 1940 ....................... 283 Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern ......................... 307 Zu den Übersetzungen ..................................... 313 Personenregister ......................................... 315 Einleitung „Ich habe, wie alle Welt, schlimme Wochen hinter mir. Ich fürchte den Krieg und diesen Frieden, verabscheue dieses neue Europa und hänge am alten Erdteil, möchte fliehen und habe weder Papier noch Geld. Kurz, man kennt die alte Leier.“ 1 Die schlimmen Wochen, von denen Hermann Kesten Ende Oktober 1938 aus dem Pariser Exil an den Mitexilanten René Schickele schrieb, waren die Wochen um das Münchener Abkommen vom September desselben Jahres. Die deutschen Exilanten in Frankreich empfanden diese Wochen als bedrückend und furchterregend, „wie alle Welt“, aber gleichzeitig waren solche Empfindungen für sie seit 1933 eben auch bereits „die alte Leier“, für die Österreicher unter den Exilanten spätestens seit dem März 1938. Die internationale Krise des Sommers 1938, die in der Münchener Konferenz ihren vorläufigen Endpunkt erreicht hatte, änderte jedoch in vielfacher Hinsicht noch einmal das politische und intellektuelle Klima, in dem die Exilanten ihr Auskommen zu suchen hatten. Auf „diesen Frieden“, wie Kesten das Resultat von München abschätzig und mit einer Formulierung bezeichnete, die auch Thomas Mann für den Titel eines Essays über das Abkommen wählen sollte, auf diesen Frieden reagierten Teile der französischen Bevölkerung in einer Weise, die vielen der Exilanten, die „weder Papier noch Geld“ besaßen, das Leben zusätzlich erschwerten. Eine verbreitete xenophobe Meinung hielt die vor Hitler nach Frankreich geflüchteten Deutschen für potentielle Unruhestifter, die den teuer erkauften Kompromiß von München wieder gefährden könnten. Die daraus resultierende Stimmung beschrieb Kesten ebenfalls Ende Oktober in einem Brief an Fritz Landshoff: „Nun bin ich also im schönen Paris, wo die Emigranten betreten und gespenstisch wandeln, mitten in der neusten antisemitischen Bewegung Frankreichs (auch in der douce France sind die Juden schuld, und die Ausländer)“. 2 Während die deutsche Besatzung Frankreichs und die französische collaboration mit den deutschen Besatzern nach 1940 gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten diesseits und jenseits des Rheins vielfach untersucht worden sind, fehlen für den präzisen (literar-)historischen Bezugsrahmen zwischen dem Münchener Abkommen im September 1938 und dem deutschen Einmarsch in Frankreich komparatistisch und interkulturalistisch angelegte Forschungsarbeiten, die die zeitgeschichtlichen Aspekte der Kultur-, inbesondere der Literaturproduktion, in den Vordergrund stellen. Dies darf verwundern, spielten doch in dieser Zeit eine Reihe der inzwischen 1 Hermann Kesten an René Schickele, Paris, 30. Oktober 1938, in: Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933-1949, hg. von Hermann Kesten, Frankfurt am Main: Fischer 1973, S. 62. 2 Brief vom 31. Oktober 1938, in: ebd., S. 63. 6 Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen kanonisch gewordenen französischen und deutschen Künstler der klassischen Moderne eine bemerkenswerte Rolle, wie Jean-Paul Sartre, Paul Valéry oder Louis Aragon auf französischer und Heinrich Mann, Walter Benjamin oder Alfred Döblin auf deutscher Seite. Sie und eine ganze Reihe weiterer Autoren aus den französischen Künstlerkreisen und den Exilgruppen der deutschsprachigen Intellektuellen in Paris waren in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs in dieser Zeit nicht nur deutlich vernehmbar. Auch hat das umstrittene Münchener Abkommen gerade bei den vor allem in Paris ansässigen Protagonisten des kulturellen Lebens der Vorkriegszeit eine spezifische gesellschaftliche Dynamisierung ihrer ästhetischen Praxis in Gang gesetzt, die von den sich weiterhin überschlagenden Ereignissen auf der weltpolitischen Bühne weiter politisiert wurde und erst mit der sogenannten „drôle de guerre“ und nach dem Juni 1940 konkrete Formen der Kollaboration, der inneren Emigration oder des Widerstands annahm. War die Literatur der Zwischenkriegszeit allgemein von avantgardistischen Positionen gekennzeichnet, deren allmähliche Revision die intellektuellen Biographien der bekannten französischen Surrealisten wie Aragon seit dem Anfang der 1930er Jahre charakterisiert, so waren es doch vor allem die Krisen dieses Jahrzehnts, die allmählich ein gesellschaftliches und ästhetisch vermitteltes Krisenbewußtsein schärften, das sich ab 1936 mit dem Putsch Francos in Spanien und dem spanischen Bürgerkrieg, dem Scheitern der Front populaire-Regierung in Frankreich und den großen Streikbewegungen sowie den nunmehr etablierten faschistischen Regimes in Deutschland und Italien zum beinahe übermächtigen Bedrohungsszenario steigerte. Am Ende des Jahres 1938 waren selbst grundsätzlich der Autonomieästhetik verpflichtete Künstler wie Paul Valéry oder der Maler Henri Matisse politisiert worden. Bei vielen Autoren führte das allgemein geteilte, aber oft diffuse Krisenbewußtsein zu neuen ästhetischen Positionen, wie etwa bei Michel Leiris, dessen großes autobiographisches Projekt in dieser Zeit seinen Anfang nahm, oder bei Jean-Paul Sartre, der den Roman als ästhetisches Medium politischen Engagements neu entdeckte und in La nausée das Porträt einer reaktionären Dritten Republik in Frankreich entwarf, das in seinen gesellschaftsanalytischen Dimensionen den Romanwerken Aragons oder Feuchtwangers zur Seite gestellt werden kann. In bezug auf den spezifischen zeitgeschichtlichen Rahmen ähneln sich die exildeutsche und französische künstlerische Produktion dieser Zeit, auch wenn sie sich in den Inhalten und Formen des dabei entwickelten Krisenbewußtseins deutlich unterscheiden. Diese Besonderheit läßt einen genauen Blick auf die Zeit zwischen 1938 und 1940, die gerade in Frankreich durch eine bemerkenswerte publizistische Tätigkeit geprägt war - wovon die Zeittafel im Anhang ein umfassendes Bild vermittelt -, als Desiderat der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung erscheinen. Dieses Desiderat gilt auch für die deutschsprachige Exilforschung, die in den vergangenen Jahren vermehrt kleinere zeitliche Einheiten als die umfassende Referenzperiode zwischen 1933 und 1945 in den Blick genommen hat. Dies scheint nicht nur hilfreich zu sein für die Historiographie Europas im Zeichen des Kamp- Einleitung 7 fes zwischen den Demokratien und den Faschismen. Der Konflikt, der zwischen dem Herbst 1938 bis zum Kriegsausbruch 1939 (und noch darüber hinaus) die Befürworter von den Gegnern der Appeasementpolitik Englands und Frankreichs trennt, die munichois von den anti-munichois, war auch ein die Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts prägender Konflikt. Er findet seinen Ausdruck in allen publizistischen Medien, also in Reden, Zeitungsartikeln und Zeitschriftenbeiträgen, in Tagebüchern, Essays und auch in den großen literarischen Gattungen wie dem Roman. Der Fall Paul Nizans ist deshalb besonders signifikant, weil er auch die medialen Differenzen zwischen den Formen, in denen die Krise geschrieben wurde, sichtbar macht. Nizan Reaktionen sind gleichzeitig symptomatisch für ein tiefes Krisenbewußtsein bei jenen französischen Intellektuellen, die geschockt auf die Nichtinterventionspolitik Frankreichs und Englands gegenüber Hitler reagierten und intensiv über die Aufgaben und über das Scheitern Europas und seiner Werte nachdachten. Zu ihnen gehörte Michel Leiris, der in der Retrospektive schrieb: „A Nîmes, durant la crise internationale qui précéda l’accord de Munich, tout ce sur quoi j’avais vécu jusqu’alors me semblait s’écrouler comme un château de cartes […].“ 3 Im Ergebnis ist ‚München’, das die von Leiris angesprochene Phase dogmatischer Orientierungslosigkeit mit sich brachte, in der französischen Öffentlichkeit noch heute das paradigmatische historische Beispiel für eine Situation, in der es den Demokratien an Wehrhaftigkeit mangelt. Was das deutsch-französische Verhältnis angeht, war es nicht die bloße Präsenz deutscher Emigranten in Frankreich, die auf eine Vernetzung deutsch-französischer Positionen auch auf ästhetischem Feld hinwirkte. Erst die im Laufe des Jahres 1938 greifbar werdende militärische Bedrohung Frankreichs durch Nazideutschland führte zu einer interkulturellen Dynamik, die zwar die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs bestehenden Hoffnungen auf ein friedliches Verhältnis beider Länder mehr und mehr als utopisch erscheinen ließ, dennoch aber, auch im Zeichen der offiziellen Appeasementpolitik der späteren antifaschistischen Kriegskoalition und des Internationalismus-Gedankens in kommunistischen Zirkeln, deutsch-französische Wahrnehmungsmuster aktivierte und veränderte, was gerade auch im literarischen Bereich feststellbar ist. Heinrich Manns monumentales Romanwerk über Heinrich IV., Walter Benjamins Passagenwerk oder die Berichte, die Benjamin über das literarische Leben in Paris für das im New Yorker Exil arbeitende Frankfurter Institut für Sozialforschung schrieb, tragen ebenso den Index interkulturellen Austauschs wie Hanns Erich Kaminskis in französischer Sprache verfaßtes Pamphlet Céline en chemise brune, das als eines der ersten Werke den Antisemitismus des späteren Kollaborateurs und populären französischen Literaten Louis-Ferdinand Céline themati- 3 Michel Leiris: La règle du jeu, éd. par Denis Hollier, Paris: Gallimard (Pléiade) 2003, S. 355. [Dt.: In Nîmes, während der internationalen Krise, die dem Münchener Abkommen voranging, schien all das wie ein Kartenhaus zusammenzubrechen, worauf ich bis dahin gelebt hatte <…>]. 8 Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen sierte. Die Mitglieder des Collège de sociologie um Georges Bataille, Roger Caillois oder Denis de Rougemont bemühten sich zur selben Zeit um eine philosophisch und soziologisch informierte politische Krisenbewältigung, unter anderem durch eine neue Rezeption der idealistischen Philosophie Hegels oder eine aktualisierende Lektüre der Politik der deutschen Romantiker. An diesem Collège waren deutsche Intellektuelle im Pariser Exil wie Walter Benjamin oder Hans Mayer beteiligt. Rougemont, einer der Mitbegründer des Collège, war als Französisch-Lektor Mitte der 1930er Jahre in Frankfurt am Main gewesen und ließ in seinen Beiträgen, die die Entwicklung der literarischen Ästhetik und die Geschichte der Kriegstechniken in europäischer Perspektive zusammenzudenken versuchen, seine Deutschlanderfahrungen mit in das Programm des Collège einfließen. Dennoch dominiert auch in diesem Bereich der Krisengedanke: die Zeit um und nach ‚München’ war - die Internierungen zahlreicher deutscher Exilanten in den Lagern der französischen Republik sind nur ein sichtbares Zeichen davon - auch vom Scheitern der großen internationalistischen Versöhnungsprojekte zwischen Intellektuellen verschiedener nationaler Herkunft geprägt. Heinrich Manns Versuch, im Herbst 1938 noch einmal den Volksfrontgedanken aufleben zu lassen, scheiterte. Angesichts der Fülle der möglichen Themen, an denen sich die für den vorliegenden Band zentralen Fragen verfolgen ließen, können die Beiträge nicht mehr als exemplarische Analysen bieten, die jedoch alle dadurch systematisch verbunden sind, daß sie den Folgen ‚Münchens’ für die kulturelle Produktion deutscher und französischer Intellektueller in Frankreich im Zeitraum zwischen September 1938 und Juni 1940 nachgehen. Der Zugang ist dabei prinzipiell interdisziplinär, allerdings mit einem Schwerpunkt auf literatur- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Ziel sollte es nicht allein sein, die ideologischen und diskursiven Differenzen der einzelnen Gruppierungen herauszuarbeiten, die in dieser Zeit auf die französische Öffentlichkeit Einfluß nahmen, sondern die ästhetische Praxis verschiedener Autoren - wenn auch notgedrungen nur schlaglichtartig - miteinander in eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Beziehung zu setzen und in der politischen Geschichte der späten 1930er Jahre zu situieren. Diese Auseinandersetzung mit der ‚historischen Semantik’ scheint uns in den vorliegenden, zum größten Teil monographisch angelegten und vielfach aufeinander Bezug nehmenden Beiträgen gerade im Blick auf das deutsch-französische Verhältnis gelungen zu sein, und wir hoffen, damit vielseitige Anregungen für weitere transnational ausgerichtete Arbeiten zu bieten. Eine ausführliche Einleitung kann an dieser Stelle entfallen, da die beiden am Anfang stehenden Beiträge von Albrecht Betz und Marie-Luise Recker ausdrücklich einleitenden Charakter haben. Die Herausgeber möchten insbesondere der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Université Lumière Lyon 2 danken, deren Universitätspartnerschaft den Impuls für den vorliegenden Band gegeben hat. Einzeln danken möchten wir Frau Professorin Julia Zernack Einleitung 9 und Herrn Dr. Eberhard Fahlke für das Dekanat des Fachbereichs Neuere Philologien der Universität Frankfurt, Herrn Professor Werner Hamacher für die Universitätspartnerschaft und Herrn Professor Roland Spiller für das Institut für Romanische Sprachen und Literaturen. Organisatorische Unterstützung für die Frankfurter Tagung im März 2006, auf die dieser Band zurückgeht, erhielten wir auch vom Vizepräsidenten der Universität Frankfurt am Main, Professor Jürgen Bereiter-Hahn, und vom International Office, in Person von John-Andrew Skillen und Almuth Rhode. Hervorgehoben seien auch die Kooperationspartner des Projekts, namentlich das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main, dem wir, in Person seiner Leiterin Frau Dr. Brita Eckert, für die erfreuliche und ertragreiche Zusammenarbeit danken, und der S. Fischer Verlag, besonders Roland Spahr, der das Gespräch mit Hans Keilson ermöglichte, dessen Transkription wir in den vorliegenden Band aufgenommen haben. Der Abdruck des Briefes von Siegfried Kracauer an Ignazio Silone vom 16. Januar 1939 erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Neben den Universitäten Frankfurt am Main und Lyon 2 danken wir weiteren Förderern und Stiftern. Dazu gehört an erster Stelle die Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Universität Frankfurt. Genannt sei auch die Vereinigung von Freunden und Förderern der Universität Frankfurt. Der unbürokratische Zuspruch und die Unterstützung beider waren uns eine enorme Hilfe. Dann danken wir auch der Deutsch-Französischen Hochschule in Saarbrücken für ihr großes Engagement. Wir sind froh darüber, uns über die DFH auch institutionell in die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen einbringen zu dürfen. Die Herausgeber danken Denise Lorenz und Agnès Schachermayer für ihre Hilfe bei den Übersetzungen. Bei der Drucklegung des Bandes war Maike Erdmann beteiligt, die das Projekt in allen wichtigen Etappen mitbetreut hat. Unterstützung bekamen wir auch von Christine Meixner, Volker Schneider, Philipp Stadelmaier und Zsófia Török. In gestalterischen Fragen sind wir von Katja Hoffmann (Büro 48, Frankfurt am Main) hervorragend betreut worden. In allen weiteren Fragen standen uns Francesca Fabbri, Peter Weinmann und Ramona Lenz zur Seite. Schließlich sei Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock für die Aufnahme dieses Bandes in die von ihnen herausgegebene Reihe „editions lendemains“ gedankt, und Jürgen Freudl vom Narr-Verlag für seine kompetente, geduldige und freundliche Unterstützung. Die Herausgeber, Frankfurt am Main/ Lyon im April 2008 ‚München’ und danach Albrecht Betz Zwischen Krise und Krieg Angst laste auf Europa, notiert André Gide 1938 in sein Tagebuch und fügt seine Trauer - und sein Entsetzen - hinzu über die Massaker, die aus dem Spanischen Bürgerkrieg gemeldet werden. 1 Dessen Ausbruch jährte sich im Sommer 2006 zum 70. Mal. Von luziden Zeitgenossen wurde er als Vorspiel, als Probelauf gleichsam für den kommenden, größeren Krieg gesehen, und sein Verlauf verhieß nichts Gutes. Die kurzlebige Spanische Republik - noch einmal Gide - ‚agonisiere’. Aber für die langlebige, nämlich 70jährige III. Republik Frankreichs galt das ebenso. Die eigene ‚Dekadenz’ avancierte zum zentralen Thema. Gibt es Ähnlichkeiten mit dem an Breite gewinnenden aktuellen Modethema des déclin, des Niedergangs Frankreichs dem Le Monde im Februar 2006 erneut mehrere Seiten widmete? Marcel Gauchet, Chefredakteur der bei Gallimard erscheinenden Zeitschrift Le Débat faßte Ähnlichkeiten und Unterschiede so zusammen: natürlich gebe es keine äußere oder auch ideologische Bedrohung, wie in den 1930er Jahren, wofür Namen wie Hitler, Mussolini, Franco und Stalin standen; und eine Arbeitslosigkeit von zehn Prozent habe für die Betroffenen heute nicht die gleichen Folgen wie vor dem Krieg. Aber die profunde Krise der Eliten und der öffentlichen Institutionen - Armee, Schule, Justiz und Sicherheitssysteme - sei nicht zu übersehen. Hinzu trete der Eindruck, in einem Land zu leben, daß von der Geschichte verurteilt sei, dessen Bedeutung in Europa schrumpfe. Wenn man heute von déclin statt von décadence spreche, dann darum, weil es keine wirkliche Sehnsucht nach verschwundenen Werten gebe. Jeder habe in seinem Privatleben eine außerordentliche Freiheit gewonnen, das einzige, was wirklich mobilisiere, sei die Verteidigung des Erreichten. Stanley Hoffmann prägte bereits vor Jahrzehnten den Ausdruck „société bloquée“ (blockierte Gesellschaft), eine, in der die Gruppen sich mißtrauisch wechselseitig in Schach halten und so den status quo verhärten. 2 Damit ist man zugleich nah und weit entfernt von jener Atmosphäre äußerster Aggressivität, von unüberwindlich scheinenden politischen und gesellschaftlichen Gegensätzen einer wie im Windkanal sich zuspitzenden Krise wie in den späten 1930er Jahren; weit entfernt freilich auch von einer 1 André Gide: Journal, Bd. 2: 1926-1950, éd. par Martine Sagaert, Paris: Gallimard (Pléiade) 1997, S. 621. 2 Vgl. Stanley Hoffmann: Essais sur la France. Déclin ou renouveau? Paris: Seuil 1974, S. 10. Im Diskussionszusammenhang mit Michel Crozier war dessen Buch: La société bloquée, Paris: Seuil 1970, entstanden. Albrecht Betz 14 Phase äußerster künstlerischer Produktivität - vor allem im Bereich der Literatur - die jene Epoche auszeichnet. * Jean-Paul Sartre, dem 1938 mit La Nausée (Der Ekel) ein früher Durchbruch gelingt, wird diese Phase im Rückblick so zusammenfassen: A partir de 1930, la crise mondiale, l’avènement du nazisme, les événements de Chine, la guerre d’Espagne, nous ouvrirent les yeux; il nous parut que le sol allait manquer sous nos pas […]: ces premières années de la grande Paix mondiale, il fallait les envisager soudain comme les dernières de l’entre-deux-guerres; […]. Du coup, nous nous sentîmes brusquement situés: le survol qu’aimaient tant pratiquer nos prédécesseurs était devenu impossible […]. 3 Fast wirkt dieser Passus wie ein Echo auf einen Essay von Julien Benda aus dem Jahr 1938 über den „Konflikt der Generationen in Frankreich“. Dort hatte Benda, zehn Jahre nach seinem berühmten Buch über La trahison des clercs (Der Verrat der Intellektuellen), unterschieden zwischen jenen Autoren, die ihre Sozialisation vor und jenen, die sie nach dem Ersten Weltkrieg erfahren hatten. Die ältere Generation, so Benda in seinem Text - den übrigens Leopold Schwarzschild für sein Neues Tage-Buch, die bekannteste Pariser Exil-Zeitschrift, übersetzen ließ - habe ein anderes Verhältnis zum individuellen Glück besessen, sei nicht in beständiger „Angst vorm Kriege“ aufgewachsen, habe in der „persönlichen Freiheit“ - auch der literarischen Ungebundenheit - etwas geradezu Heiliges gesehen. 4 Die Absolutheitsansprüche von Geist und Moral seien ihr selbstverständlich gewesen. Demgegenüber fröne die junge Generation einem Kultus von Energie und Aufopferung, fordere gesellschaftliche Veränderungen, sie „glaube, weniger denken als vielmehr handeln zu müssen“. Im Prinzip verwerfe sie das derzeitige „demokratische Regime, das ihr im wesentlichen als eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform erscheint“. Demokratie werde von ihr mit Plutokratie identifiziert. „Der Nimbus der fascistischen Regierungsformen - auch des Sowjetismus -“, fährt Benda fort, „ergibt sich teilweise aus dem jugendlichen Glauben, die ‚totalitären‘ Systeme seien in hohem Grade freigeworden von der Macht des Geldes“. 3 Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? , Paris: Gallimard 1948, S. 212-213. [Dt. nach der Ausgabe Was ist Literatur? , hg. und übersetzt von Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 164-165: „1930 öffneten uns die Weltkrise, das Aufkommen des Nazismus, die Ereignisse in China und der Spanienkrieg die Augen; der Boden schien unter unseren Füßen zu wanken <…>: jene ersten Jahre des großen Weltfriedens mußte man plötzlich als die letzten der Zwischenkriegszeit betrachten. <…> Damit fühlen wir uns plötzlich situiert: das Überfliegen, das unsere Vorläufer so gerne praktizierten, war unmöglich geworden <…>“]. 4 Julien Benda: „Der Konflikt der Generationen in Frankreich“, in: Das Neue Tage-Buch, 6. Jg., 15.10.1938, S. 1001-1009. Zwischen Krise und Krieg 15 Risiken einzugehen beim eigenen, möglichst radikalen Engagement - in Frontstellung zu einer sich mehr und mehr in ihren Widersprüchen verkrampfenden Gesellschaft - sei an der Tagesordnung. „Ich glaube“, resümiert Benda, „die ganze jüngere Generation (und sie bekennt sich ja, rechts wie links, fast ausnahmslos zu Nietzsches Gedankenwelt: von Thierry- Maulnier über Guéhenno bis zu André Malraux) würde sich solidarisch erklären mit dem Wort aus der Götzendämmerung: ‚Den freien Mann ekelt es vor jenem erbärmlichen Behagen, das ein Traum ist der Krämer, der Christen, der Kühe, Weiber, Engländer und sämtlicher Demokraten‘.“ 5 Für die jungen mit dem Faschismus sympathisierenden Intellektuellen erwähnt Benda, außer Thierry-Maulnier, Robert Brasillach; er hätte auch Lucien Rebatet und Bertrand de Jouvenel nennen können sowie die wenig älteren Céline und Drieu La Rochelle, die sich zu Stars der Collaboration mausern werden. Für die jungen Linken erwähnt er Jean Guéhenno: er hätte Aragon sowie Sartres Freund Paul Nizan hinzufügen können, der soeben für seinen marxistisch inspirierten Roman La Conspiration (Die Verschwörung) mit dem Prix Interallié ausgezeichnet worden war. Für die Vorkriegsgeneration, die inzwischen über 60jährigen, nennt Benda stellvertretend Romain Rolland und Giraudoux; er hätte ebenso Valéry, Gide und Claudel anführen können; und dann jene (aber sie hätten in seine Gegenüberstellung nicht gepaßt), die sich bei den jüngeren außerhalb seiner Kategorien bewegten: angefangen bei den Sürrealisten um Breton, dann den Gründern des Collège de Sociologie wie Roger Caillois und Georges Bataille, den jungen ‚Personalisten‘ um Emmanuel Mounier und Denis de Rougemont und die Zeitschrift Esprit. Fast scheint es, als hätte die politisch fiebrige Vorkriegsatmosphäre, einem giftigen Aphrodisiakum gleich, die literarische Produktivität gesteigert - die natürlich jene selbst in Frankreich seltene Akkumulation von Talenten voraussetzte, von Benda beschrieben als Gleichzeitigkeit der ungleichzeitigen Generationen. Die literarisch keinesfalls arme Periode der Okkupation, in die hinein diese Phase sich verlängert, kann vielleicht ebenso sehr unter dem Aspekt der Kontinuität wie dem des Bruchs gesehen werden. * „Alle Gedankengänge“, schreibt Alfred Kantorowicz in seinen Erinnerungen Exil in Frankreich, „führten zurück zu jenem Tiefpunkt der Geschichte am 30. September 1938, als von Chamberlain und Daladier im Namen Großbritanniens und Frankreichs in München die Tschechoslowakei ausgeliefert wurde“ 6 . Und er zitiert aus Thomas Manns damals entstandenem Essay 5 Ebd., S. 1006. 6 Alfred Kantorowicz: Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten, Bremen: C. Schünemann 1971, S. 26-27. Albrecht Betz 16 Dieser Friede: „Die Geschichte des Verrates der europäischen Demokratie an der tschechoslowakischen Republik, die Darbringung dieses […] Staates an den Faschismus, um […] ihn dauernd zu befestigen und sich seiner als eines Landsknechtes gegen Rußland und den Sozialismus zu bedienen […]“; dieser schlimme Höhepunkt der westlichen Appeasementpolitik, die Kapitulation aus bürgerlicher Furcht vor dem Kommunismus, habe „die Deutschen der inneren und äußeren Emigration“ schmerzlich gewahr werden lassen, daß wir „Europa, zu dem wir uns bekannt hatten und das wir moralisch hinter uns zu haben glaubten, in Wirklichkeit nicht hinter uns hatten; daß dieses Europa den mehrmals so nahe gerückten Sturz der nationalsozialistischen Diktatur garnicht wollte“ 7 . In der Oktobernummer von Esprit nimmt Emmanuel Mounier in einem „Lendemains d’une trahison“ (Nach dem Verrat) betitelten Artikel zur Krise von München Stellung; über seine publizistischen Kollegen in Gringoire und anderen Rechtsblättern schreibt er: „‚Plutôt Hitler que Blum‘.“ 8 Die faschistischen Staaten als „assurance contre Moscou“ (Versicherung gegen Moskau): so klingt der konservative Tenor in den Ohren der Linken; sie ist sich sicher, daß es der Kapitalfraktion wichtiger sei, die sozialen Errungenschaften der Volksfront im Innern rückgängig zu machen, als sich gegen die äußere Gefahr - den befürchteten Revanchekrieg Hitlerdeutschlands - zu wappnen. 9 Es gibt noch ein anderes Motiv für die Parole ‚Lieber Hitler als Blum’ - und darum findet sie sich auch in Célines berüchtigtem Pamphlet Bagatelles pour un massacre -: das antisemitische. Wenn man von Zeitgeist-Literatur - als nicht-fiktionaler - sprechen will, dann sei angemerkt, daß es in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in Frankreich an antisemitischen Ausfällen dort nicht mangelt: sie finden sich keineswegs nur bei der nationalistischen Rechten, wo man sie ohnehin seit Drumont erwartet, sondern auch bei Autoren wie Jouhandeau, Giraudoux und dem jungen Maurice Blanchot. Der immer wiederkehrende Refrain lautet, Frankreich befinde sich im Zustand der „décomposition“ (Zersetzung): wegen des parlamentarischen Regimes, wegen der Volksfront (sie dauerte nicht einmal zwei Jahre) und wegen der Überschwemmung durch emigrierte Juden. 10 Welches außenpolitische Kraftfeld umgibt die Widersprüche dieser Jahre, in denen es von ideologischen Diskursen wimmelt? Versuchen wir eine Reduktion jener Komplexität. 7 Zitiert nach: ebd., S. 26-27. 8 Emmanuel Mounier: „Lendemains d’une trahison“, in: Esprit (Oktober 1938), S. 1-15. [Im Zusammenhang lautet das Zitat ins Deutsche übersetzt: Ohne Zweifel täuschen sie sich radikal über den Sinn der Faschismen, die die bourgeoise Macht nur als Drehscheibe benutzen <…>. Man versteht nichts vom Verhalten dieser Fraktion der französischen Bourgeoisie, wenn man nicht hört wie sie mit halber Stimme murmelt: ‚Lieber Hitler als Blum‘; Übers. A.B.]. 9 Zitiert nach: Journal de la France et des Français. Chronologie, Paris: Gallimard 2001, S. 2049-2050. 10 Michel Winock: „L’esprit de Munich“, in: ders.: Les années trente. De la crise à la guerre, Paris: Seuil 1990, S. 121. Zwischen Krise und Krieg 17 Sehr vereinfacht gilt für die Periode von 1933-1939 in Europa, daß wesentlich drei Kräfte mit dem Anspruch auftreten, stellvertretend für den Kontinent zu sprechen: - die liberalen Demokratien, vor allem Frankreich und Großbritannien; - die faschistischen Staaten unter Führung von Italien und dem Deutschen Reich; - die Sowjetunion, als einziges Land, in dem der Kommunismus an der Macht ist, auf das sich jedoch zahlreiche kommunistische Parteien in der Mehrheit der europäischen Länder stützen. Diese drei politischen Kräfte operieren mit einer ähnlichen Strategie hinsichtlich ihrer Selbstdarstellung und ihrer Propaganda: bei dem mehr oder weniger affirmierten Ziel, ihre Hegemonie auf ganz Europa auszudehnen, suchen sie sich der Loyalität der je eigenen Bevölkerung zu versichern, indem sie ein negatives Amalgam der je anderen beiden Kräfte präsentieren. Aus Sicht der bürgerlichen Demokratie sind Faschismus und Kommunismus beide Erscheinungsformen des Totalitarismus: die rote Diktatur und die braune gleichen sich. Die eine wie die andere wetteifern im Kult um den charismatischen Führer (Mussolini, Stalin, Hitler), die Macht liegt bei einer staatlichen Einheitspartei; die Politik der Beeinflussung, so wie sie die Machtzentrale definiert, ist feindlich gegenüber jedem Pluralismus und führt zu Kollektivismus und Militarisierung der Gesellschaft. Aus faschistischer und nationalsozialistischer Perspektive sind Liberalismus und Marxismus Zwillingsbrüder, auch wenn sie in unterschiedlichen historischen Epochen in die Welt traten. Gemeinsam ist ihnen der abstrakte Materialismus (das Geld, die Massen). Die Quelle allen Übels sind die Ideen von 1789 und ihre unheilvollen Folgen: die Emanzipation der Juden, der Frauen und der Arbeiter. Die Juden spielen folgerichtig die entscheidende Rolle in beiden Lagern (Plutokratie, Bolschewismus), die einander korrespondieren. Die organische Einheit, das harmonische Wachstum, Blut und Boden, Volk und Nation stehen unter der Bedrohung unmittelbarer Entartung, geraten sie unter ihren Einfluß. Von marxistischer Warte aus erscheint der Faschismus als extreme und äußerste Form des Liberalismus, der in seine Endkrise geraten ist und sich zuvor nur pseudodemokratisch verhüllt hatte. Beide Ideologien sind der Arbeiterklasse und dem Volk feindlich. Sie verteidigen das Privateigentum, einen Überrest der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, eine Welt, von der man weiß, daß sie - zumindest seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 - zum Untergang verurteilt ist. Der Faschismus wird (laut Dimitrow 1935) definiert „als offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischten Elemente des Finanzkapitals“ 11 . 11 Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands, Berlin: Dietz 1969, S. 978. Albrecht Betz 18 Soweit einige Linien des Koordinatensystems vor dem Pakt, der diese Gewißheiten erschüttern und von dem noch die Rede sein wird. * Kehren wir zur Literatur - nun vor allem der des deutschen Exils in Frankreich und ihren politischen Herausforderungen - zurück und beobachten einige Konstellationen etwas näher. Der chronologische Zufall will es, daß am gleichen 10. November 1938, an dem in Paris der Schutzverband deutscher Schriftsteller (SDS) sein Doppeljubiläum begeht 12 - dreißig Jahre zuvor war er in Berlin gegründet und fünf Jahre zuvor, 1933, in Paris als Exilverband neugegründet worden -, die Führungsspitze des Dritten Reichs von Berlin nach München geflogen war: zu einem Abendempfang für die deutsche Presse im Braunen Haus. Daß sich einen Tag zuvor die Reichskristallnacht ereignet hatte, hinderte sie daran keineswegs. Während der SDS in Paris sein Sonderheft „Der deutsche Schriftsteller“ vorstellte - mit Beiträgen fast aller Autoren, die damals zählten: die Namen reichen von Heinrich und Thomas Mann über Brecht und Döblin zu Seghers, Graf und Zweig -, hielt Hitler in München, flankiert von Goebbels und Heß, Rosenberg und Dietrich seine berüchtigte Presserede; sie war eine Anti-Intellektuellenrede. In ihr fiel zum ersten Mal der vielzitierte Satz: „Wenn ich so die intellektuellen Schichten bei uns ansehe, leider, man braucht sie ja; sonst könnte man sie eines Tages ja […] ausrotten oder so was.“ Das ging, wohlgemerkt, nicht an die Adresse der Emigranten - von ihnen war schon, anders als noch einige Jahre zuvor, gar nicht mehr die Rede; sie waren, Goebbels zufolge, nurmehr Kadaver auf Urlaub -, sondern richtete sich gegen jene Beamten, Juristen und Journalisten im Reich, die etwa noch Zweifel oder gar Skrupel hegten gegenüber seinen, Hitlers Entscheidungen. Er charakterisierte sie als „unzuverlässig“, es fiel der Ausdruck „Hühnervolk“. Dagegen sei es „schon etwas anderes […], eine wunderbare Aufgabe […], Geschichte zu machen […]“ 13 . Hier war nun in der Tat der wunde Punkt auch der Emigration berührt: ihre fast auf ein Nichts geschrumpften Handlungschancen. Während Hitler mit seiner Rede gegen „Defätismus“ den Verlegern, Chefredakteuren und Rundfunkintendanten ankündigte, daß es mit dem Reden vom Frieden jetzt ein Ende habe, das „Volk“ müsse von nun an psychologisch auf den Krieg vorbereitet werden, die „Geschlossenheit der Nation“ hinter der Führung herzustellen sei propagandistisches Hauptziel - nannte Heinrich Mann in seinem Eröffnungsbeitrag für den SDS jene, die seit 1933 in Deutschland regierten, ebenso überzeugend wie ohnmächtig: „die Feinde der Intellektu- 12 Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München: Edition Text + Kritik 1986, S. 319. 13 Rede Hitlers vor der deutschen Presse (10.11.1938), in: DVJs für Zeitgeschichte, München 1958, S. 175-193, hier S. 188. Zwischen Krise und Krieg 19 ellen“, sie erzwängen „alles nur durch Schrecken“. Auf die Dauer stellten „die größere Macht“ aber jene „schöpferischen Denker und Bildner“ dar, die „ihr Volk auszudrücken und zu überzeugen“ vermöchten, die als Intellektuelle in ihrer „echten Erscheinung“ eben „keine Fremde“ seien. Darin, wie Heinrich Mann die großen Ideen für die eigentlich geschichtswirkenden Kräfte hielt, blieb er ungebrochen der Aufklärung verpflichtet. Vernunft, Meinungsfreiheit, Vertrauen in das bessere Argument und dessen Durchsetzungskraft gehörten für ihn zum „Geist von 1789“, über den er in diesen Monaten zahlreiche Aufsätze auch in den Zeitungen des Gastlandes veröffentlichte. Einer der Titel lautete: „Die Französische Revolution geht weiter“ 14 . Fast spiegelverkehrt dazu nahmen sich die Sätze in Hitlers Rede aus. Er wollte - gleichsam in ‚Aufhebung’ Napoleons, mit dem er sich verglich - die gesamte Entwicklung, die auf den „Ideen der Französischen Revolution“ beruhte, rückgängig machen. Meinungsfreiheit galt ihm als „disziplinloses“ „Tohuwabohu“. Siegesgewiß, den künftigen ‚Einmarsch’ in Paris offenbar schon vor Augen, hieß es dazu: „Wenn wir die französische Pressepolitik der letzten […] Jahre verfolgen, so können wir doch nicht bestreiten, daß die Zerfahrenheit dieser Presse mitverantwortlich ist für den Zusammenbruch Frankreichs.“ Dagegen sei es ihm als Führer gelungen, daß künftig die wichtigen „Schwerter […] nach einem Kommando und nach einer Richtung hin“ schlagen würden. 15 Präzis gegen diese behauptete Einheit richtete sich, wie disproportional bei den gegenwärtigen Machtverhältnissen auch immer, das SDS-Heft als versuchte Selbstdarstellung der Autoren im Exil. Oskar Maria Graf resümierte die Aufgabe in diesem Satz: „Diese Vorstellung, Deutschland und Hitler seien ein und dasselbe, in der Welt nie aufkommen zu lassen, das ist eine unserer wesentlichen Aufgaben als Schriftsteller.“ 16 Doch die bitteren Erfahrungen und Depressionen häuften sich. Die Versuche zur Bildung einer Deutschen Volksfront im Exil waren durch Führungsintrigen der KPD und die Nachrichten über die Moskauer Schau- Prozesse längst illusorisch geworden; wichtige Exil-Intellektuelle wie Arthur Koestler und Manès Sperber, aber auch der mitreißende Propagandist Willi Münzenberg hatten die Partei im Laufe des Jahres verlassen; ab Herbst versuchten sie mit Hilfe einer neugegründeten Wochenzeitung - sie trug den optimistischen Namen Die Zukunft - eine Sammlung der Hitlergegner unter Ausschluß der Kommunisten; mit gemischtem Erfolg. Immerhin schrieben in ihr Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, beide Brüder Mann, Alfred Kerr, Oskar Maria Graf und andere. Als „Organe de l’Union Franco-Allemande“, so der Untertitel, publizierten hier auch französische Schriftsteller (übrigens 14 Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays, Berlin/ Weimar: Aufbau 1971, S. 471, 474, 478. 15 Wie Anm. 13. 16 Oskar Maria Graf: „Von der Kraft unserer Sprache“, in: Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Paris, November 1938, S. 23. Albrecht Betz 20 deckt sich die Erscheinungsperiode der Zukunft fast genau mit den Eckdaten dieses Bandes: Oktober 1938 bis Mai 1940). So, wie die Isolation des Exils und seine innere Zerklüftung wuchsen, nahmen auch die äußeren Enttäuschungen zu. Zwei Monate nach der Krise von München mußte eine Reihe von politischen Emigranten in Paris einige Tage Schutzhaft auf sich nehmen, da sie den Besuch Ribbentrops bei dessen Kollegen am Quai d’Orsay, Bonnet hätten stören können; ihre ohnmächtige Wut kann man sich unschwer vorstellen. Unterzeichnet wurde eine deutschfranzösische Nichtangriffserklärung; aber ‚deutsch‘ hieß hier ‚nazideutsch’ und Bonnet setzte seine Appeasementpolitik fort, dem Dritten Reich ‚freie Hand’ im Osten zusichernd. Zur atmosphärischen Beunruhigung in Frankreich beigetragen hatten in der vorangegangenen Phase zwei Schriften einflußreicher Autoren, die hier zumindest erwähnt werden müssen. André Gide hatte mit seinen Retouches à mon Retour de l’URSS, der kritischen Korrektur seines Reiseberichts über Sowjetrußland, viele Hoffnungen westlicher Oppositioneller erschüttert, die sich auf ein vom Kapitalismus befreites Land gerichtet hatten. Umgekehrt hatte Georges Bernanos, der nach gängigem Urteil im rechten Spektrum des Katholizismus zu verorten war, mit Grands Cimetières sous la lune ein Pamphlet gegen die Greuel der Franco-Repression im Spanischen Bürgerkrieg und die Haltung eines Teils des Klerus vorgelegt, das die Gewißheiten vieler Katholiken ins Wanken brachte. Den Emigranten wiederum blieb an schmerzlichen Erfahrungen auch im intellektuellen Bereich nichts erspart. So konnten sie im Februar 1939 in der berühmten Nouvelle Revue française (NRF), dem Flaggschiff des Verlags Gallimard, die folgenden Bemerkungen lesen, aus der Feder Jacques Chardonnes (einem späteren Lieblingsautor Mitterands): […] depuis 1918, ils [= les Juifs - A.B.] […] ont marqué de leur influence […] tous les événements: la révolution, l’inflation, la faillite, l’anarchie de l’argent ou de la misère. […] l’effort de régénération prendra chez l’Allemand la forme d’une révolte contre le juif. Cette victoire sur soi-même, opposée à l’esprit juif, est incarnée par Hitler. Il n’a rien apporté qu’une foi au peuple, un remède au mal allemand. 17 Wenige Monate vor Kriegsausbruch kam es, im Sommer 1939, erneut zu einer scharfen Konfrontation der exildeutschen mit den nazideutschen Positionen gegenüber Frankreich. Anlaß war ein historischer: die bevorstehende 150-Jahrfeier der Französischen Revolution. Den Auftakt lieferte, im Mai, 17 Jacques Chardonne: „Politique“, in: Nouvelle Revue française 305 (Februar 1939), S. 193- 211, hier S. 207. Zitiert nach Pierre Hebey (Hg.): L’Esprit NRF, 1908-1940, Paris: Gallimard 1990, S. 1209. [Dt.: Seit 1918 haben die Juden in Deutschland durch ihren Einfluß alle Ereignisse <…> mitbestimmt: Revolution, Inflation, Konkurs, Anarchie des Geldes oder der Misere. <…> Die Anstrengung der Regeneration wird beim Deutschen die Gestalt einer Revolte gegen den Juden annehmen. Dieser Sieg über sich selbst, dem jüdischen Geist entgegengesetzt, wird inkarniert von Hitler. Er hat dem Volk nichts als einen Glauben gebracht, ein Heilmittel gegen das deutsche Übel; Übers. A.B.]. Zwischen Krise und Krieg 21 Alfred Rosenberg mit einer Rede im Berliner Sportpalast. Sie war, schon vom Datum her, eine Gegenmanifestation. In Paris feierte man die Einberufung der Generalstände, die der Revolution vorausgegangen war. Deren Prinzipien und Institutionen hatten - keineswegs unangefochten - eineinhalb Jahrhunderte überdauert. „Aber es scheint uns“, kündete Rosenberg in Berlin mit dem Pathos des Praeceptor Germaniae, „das gerade das schon aufdringlich einsetzende Freudengeläute nur ein Grabesläuten über ein untergehendes Zeitalter ist“. „Die Weltanschauung der Demokratie“ sei historisch widerlegt, erstarrt zu einem System, das nur noch den Rahmen für bourgeoisen Egoismus, für parasitäre Anarchie, kurz: das Chaos bilde. „1789“ sei der Ursprung des Niedergangs. Im Liberalismus, mit dem Marxismus im Gefolge und der Judenemanzipation als „Verrat an Europa“ sah der Ideologe Rosenberg die Ursünden, von denen die deutsche „Junge Bewegung“ sich befreit habe. Dank der „anderen Weltrevolution“ - so hatte er seine Rede betitelt und damit die nationalsozialistische gemeint -, schlage das „Herz Europas“, „erneut mit (germanischem) Blut durchflutet“, wieder in Deutschland. 18 Heinrich Mann, durchaus mit dem Selbstbewußtsein des Doyen und Sprechers des ‚besseren Deutschland’, das ins Exil vertrieben wurde, konterte mit dem erwähnten Aufsatz Die Französische Revolution geht weiter. „Ein gewisser Rosenberg, Hohepriester des Rassismus und einer Clique zugehörig, die ihre kleine Konterrevolution fälschlich als revolutionär“ ausgebe, habe in der intellektuellen Wüste des Dritten Reiches verkündet, die Französische Revolution weise als Ergebnis nur Klassenkampf und Chaos auf; das wirkliche Chaos, die Kolonisierung der Nachbarstaaten durch das Dritte Reich, nenne er „Neuordnung Europas“. Diese Völker - ebenso wie das deutsche dessen große Geister seit Kant, Schiller und Hölderlin durchweg den Ideen von 1789 verpflichtet seien - erinnerten sich der individuellen Freiheit und der nationalen Unabhängigkeit. Die Revolution gehe weiter. 19 Wie immer man Heinrich Manns globale Vereinnahmung des deutschen Parnaß für 1789 relativieren muß: die äußerste Gegenposition zum offiziellen Diskurs im Dritten Reich wird hier deutlich. Ein Satz wie: „Von den drei Losungsworten der Französischen Revolution muß nicht nur das erste, die Freiheit, sondern auch das zweite, die Gleichheit, in Kraft treten, damit das dritte, die Brüderlichkeit, seinen Sinn erhält“ 20 , meint das Wieder-ins-Recht- Setzen der politischen Prinzipien, vermehrt um die noch unverwirklichte soziale und ökonomische égalité. Gerade die Forderung der Gleichheit innerhalb der berühmten Trias war für die Nazi-Theoretiker das irritierendste Element. Diese Idee im Zentrum zu eliminieren war Voraussetzung, auch juristische, um die beiden wichtigsten Feindgruppen im Inneren - Arbeiter- 18 Alfred Rosenberg: „Die andere Weltrevolution“, in: ders.: Tradition und Gegenwart. Reden und Aufsätze 1936-1940, München: F. Eher Nachf. 1941, S. 287-316. 19 Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur, Anm. 14, S. 435. 20 Ebd., S. 471. Albrecht Betz 22 bewegung und Juden - mit allen Mitteln staatlicher Gewalt ausgrenzen zu können. Im eigentlichen Gedächtnismonat, im Juli 1939, erschienen in Paris Gedenk- und Sondernummern zahlreicher Zeitschriften. Und wieder nahm auch die Publizistik des Dritten Reiches ‚Anteil‘ auf ihre Weise, und das heißt: nun schon im Ton der Abrechnung. Ernst Krieck etwa - er war eine Art oberster Nazi-Pädagoge und war im Mai 1933 zum Direktor der Frankfurter Universität gewählt worden - behauptete in seiner Zeitschrift Volk im Werden, die „nationalsozialistische Bewegung“ stamme - via „Volksgemeinschaft“ - aus tieferen Quellen als Naturrecht und Rationalismus, ihr komme die „rassebedingte Mission in der Geschichte“ zu. Darum habe sie das „Erbe der französischen Revolution liquidiert“ 21 . Die „geistige Überwindung der Aufklärung durch den Nationalsozialismus“ feierte Hans W. Hagen in der Julinummer von Geist der Zeit. Mit ihrem Substrat, dem „Materialismus“, sei die Aufklärung im „Bolschewismus“ gelandet; antagonistisch stehe der westlichen Demokratie, als der „Erbin […] von 1789“, „unsere ewige germanische Sendung“ gegenüber. 22 Um einiges dezenter, ihren bürgerlichen Lesern zublinzelnd, ließ die Frankfurter Zeitung einen großen Aufsatz über die Revolution enden mit dem Resumé, es sei damals eine neue Macht aufgetreten, „die es vorher nicht gegeben hatte: die Straße“ 23 . Die reichsdeutsche Gegeninszenierung zu den staatlichen Feiern in Frankreich begann, pünktlich am 14. Juli und in pompöser Regie, in München: mit den „Festtagen der deutschen Kunst“. Die monumentale Selbstdarstellung sollte zugleich - Gipfel der Verstellung - den friedlichen Aufbauwillen des jungen Staates demonstrieren, während „im Ausland hektisch gerüstet“ werde. In einem gigantischen Festzug defilierten „2000 Jahre deutscher Kultur“ durch die Innenstadt, von den „wiedererstandenen Helden Germaniens“ bis zur Gegenwart. Hitler selbst eröffnete die „Große deutsche Kunstausstellung“. Die Rede vor den in- und ausländischen Journalisten hielt Reichspressechef Dietrich. Die nationalsozialistische „Revolution des Denkens“ habe falsche, unfruchtbare Ideale gestürzt, um neue, lebensstarke an ihre Stelle zu setzen […]. Und so mutet es uns an wie ein Symbol, daß gerade der heutige Eröffnungstag dieses Freiheitsfestes der Kunst zusammenfällt mit dem Eröffnungstag der Revolution des Liberalismus vor 150 Jahren, mit dem Sturm auf die Bastille. Diese Revolution […] schrieb zwar das Wort Freiheit auf ihre Fahnen, in Wirklichkeit hat sie die Freiheit in der Willkür und Zügellosigkeit des Individuums erstickt. Die ‚unsterblichen Ideen‘ des Liberalismus sind die Ideen, an denen die Völker sterben. Dieses freiheits- und persönlichkeitsfeindliche Idol von 1789 21 Ernst Krieck: „Die Französische Revolution und die nationalsozialistische Bewegung“, in: Volk im Werden 5 (1939), S. 195-196. 22 Hans W. Hagen: „Was ist Aufklärung? Auch ein Beitrag zur Hundertfünfzigjahrfeier der Französischen Revolution am 14. Juli 1939“, in: Geist der Zeit 7 (1939), S. 490. 23 Frankfurter Zeitung vom 16.7.1939, S. 3. Zwischen Krise und Krieg 23 haben wir in Deutschland gestürzt und bei uns das Monument der wahren Freiheit aufgerichtet. 24 Während Heinrich Manns Bekenntnis zur Französischen Revolution uneingeschränkt affirmativ bleibt und ihm die Vorstellung einer Dialektik der Aufklärung, ihrer historischen Selbstzerstörung, gar nicht im Horizont erscheint, stellt Walter Benjamin ihre Nachwirkungen zur Diskussion. Er kommentiert in der Pariser Zeitschrift Europe - unter dem Titel Allemands de Quatre-vingt-neuf - die Wirkung der Revolution auf Zeitgenossen wie Herder, Forster, Hölderlin und andere und sucht sie seinem französischen Publikum so darzustellen, daß - in der Brechung durch deutsche Zeugnisse - einige der Probleme von 1789 wieder sichtbar werden, die durch die historischen Metamorphosen hindurch ihre Brisanz bewahrt haben. Das wichtigste scheint ihm der Nationalismus. Jener der französischen Revolutionsarmeen habe ein historisches Recht für sich geltend machen können: „Mars français, protecteur de la liberté du monde“. Aber die „Keime der Entartung“ im Land selber, die Verbindung des Kultus der „Tugend“ mit dem „Terror“, hätten schon bereit gelegen. Das ferne Wetterleuchten am Horizont der Geschichte des Bürgertums entlade sich „im Deutschland der Gegenwart in Gestalt des furchtbarsten Unwetters […]. Daß an die Stelle der Konjunktion des nationalen Ideals mit der Tugend, wie sie Robespierre vorgeschwebt hat, bei Hitler die des nationalen Ideals mit der Rasse getreten ist, das zeigt den Unterschied an, der zwischen dem bürgerlichen Führer der Heroenzeit“ und dem der Niedergangszeit bestehe. Am heroischen Anfang der Epoche von 1789 steht somit der Fortschrittsoptimismus, der in Frankreich von der Durchsetzbarkeit der Vernunft (auch mit als legitim verstandener Gewalt) ausgeht, der Zuversicht, daß der Naturzustand aufhebbar sei: angewandte Aufklärung als progressiv gedachter Prozeß der Humanisierung. Am Ende des 150jährigen Zeitabschnitts steht, so Benjamin, die Rebarbarisierung der bürgerlichen Gesellschaft, die - am radikalsten in Deutschland - den Faschismus erzeugt, um ihre Produktions- und Herrschaftsverhältnisse ultimativ zu verlängern. Benjamin warnte - es waren nur mehr wenige Wochen bis zum Kriegsausbruch -, die Vernichtung der Arbeiterbewegung könne anderen Ländern drohen. Unerwähnt ließ er, was auch den Juden in diesen Ländern drohte. Benjamins Kritik galt, als Resultat seiner Erfahrungen mit der Volksfront und den Diskussionen im Exil, dem unverdrossenen Festhalten an ehemals progressiven Konzepten, dem Fortschrittsglauben und dem Historismus, die inzwischen gegenaufklärerisch wirkten: die Antifaschisten entwaffnend. 25 24 Abgedruckt in: Völkischer Beobachter vom 15.7.1939, S. 1. 25 Walter Benjamin: „Allemands de Quatre-vingt-neuf“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, 1980, S. 1096-1097. Albrecht Betz 24 * Weder Benjamin noch Heinrich Mann wurden indes zur Mitarbeit in dem im gleichen Monat gegründeten Pariser Informationsministerium herangezogen, das die reichsdeutsche Propaganda bekämpfen sollte. Der Krieg lag bereits in der Luft, als Daladier ausgerechnet den Pazifisten und hypersensiblen Literaten Jean Giraudoux, zum Kommissar für Information, de facto zum Gegenspieler Goebbels’ kürte. Zeitgenossen schien es, als habe eine Flöte gegen eine Posaune ankommen wollen. Der Dramatiker und Romancier, Schöngeist und Diplomat Giraudoux hatte vor dem Ersten Weltkrieg in München Germanistik studiert; von daher rührte seine Liebe für deutsche Romantik, Märchen, Poesie. Den letzten Pariser Theatererfolg, kurz vor der Sommerpause 1939, hatte er mit Ondine errungen, nach der gleichnamigen Erzählung Undine des Romantikers Friedrich de la Motte-Fouqué. Giraudoux galt als Deutschlandkenner. Zu den Schriftstellern, Publizisten und Professoren, die er nun um sich sammelte, um Gegenpropaganda in Richtung Deutschland zu produzieren, gehörte eine Reihe deutscher Emigranten, so Alfred Döblin, der Verleger Kurt Wolff, der junge Romanautor Ernst Erich Noth, der an der Universität Frankfurt am Main eine Dissertation eingereicht hatte, ehe er nach Frankreich geflohen war, der Philosoph Paul Landsberg, sowie mehrere elsässische Germanisten wie Robert Minder und Albert Fuchs. 26 Für die in Paris exilierten deutschen und inzwischen auch österreichischen Schriftsteller und Publizisten schien Giraudoux’ Kommissariat - im Hotel Continental gegenüber den Tuilerien - eine unverhoffte Chance, ihren Kampf gegen die Nazis mit der Feder fortzuführen, sofern sie aus der ersten Internierung Anfang September wieder entlassen worden waren. Aber nur für wenige fand sich Verwendung, und ein linkes Image empfahl sich keineswegs. Giraudoux selber wandte sich in wöchentlichen Rundfunkansprachen an die Nation; obwohl nicht ohne Resonanz, blieb ihre Wirkung, verglichen mit der seines Kontrahenten in Berlin, gering; in einer Notiz in Goebbels’ Tagebuch ist abschätzig von Giraudoux’ „Literatengeschwätz“ die Rede. 27 Giraudoux, denkbar deplaciert in dieser Rolle, demissionierte Ende März 1940. Immerhin hatte er fast während der gesamten Dauer der drôle de guerre versucht, wenn auch als literarischer Don Quichotte, der im Gebrauch der Waffen der Propaganda ungeübt war, gegen die massive Feindpropaganda anzurennen, die über den Äther herüberdrang. 26 Albrecht Betz: „Giraudoux, Minder und die Emigranten“, in: ders./ Richard Faber (Hg.): Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 210-211. 27 Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hg. von Elke Fröhlich, Bd. 1/ 4, München: Saur 1996, S. 107. Zwischen Krise und Krieg 25 * Der eigentliche Schock, man ist versucht zu sagen: der Jahrhundertschock dieser an überraschenden Brüchen und Allianzen überreichen Epoche, fällt ziemlich genau in die Mitte unseres Zeitraums. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 - er ging dem Ausbruch des Krieges um nur eine Woche voran - wurde zu einem Wendepunkt in der politischen Biographie einer ganzen Generation von kommunistisch engagierten Menschen. Unverständnis, Verwirrung, Erbitterung, Verstörung, Fassungslosigkeit - so lauten die häufigsten Reaktionen in den Memoiren der Betroffenen. Daß Ribbentrop zu Ehren auf dem Moskauer Flughafen die Hakenkreuzfahne gehisst wurde und eine Militärkapelle der Roten Armee das Horst- Wessel-Lied intonierte - das waren die makabren Details einer Perversion, die als unvorstellbar gegolten hatte. Die Auswirkungen des Paktes auf die Antifaschisten in Frankreich waren aus zwei Gründen besonders gravierend: zum einen war die kommunistische Partei Frankreichs (KPF) damals die größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion, galt als Vorbild für die Parteien westlich der SU und hatte, als ein Hauptpfeiler der Volksfront mit durchaus nationalen Akzenten, gewaltig expandiert. Erklärtes Ziel war bislang, dem nur scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des europäischen Faschismus - mit Nazi-Deutschland im Zentrum - Widerstand zu leisten. Nun schien diese Politik rückwirkend delegitimiert. Der zweite Grund: in Frankreich lebten viele Zehntausende antifaschistischer politischer Emigranten aus anderen Ländern, nicht nur aus Deutschland, sondern aus vielen osteuropäischen Ländern, dann, vor allem seit März 1939, dem Ende des Bürgerkriegs, aus Spanien und, zum Teil seit vielen Jahren, aus Italien. Giulio Ceretti etwa, der in Paris in der italienischen Exil-KP aktiv war und Togliatti nahestand, faßte die Wirkung des Pakts rückblickend in dem drastischen Bild: „Es war so, als ob wir einen schweren Schlag vor den Kopf erhielten, ähnlich wie bei Rindern im Schlachthaus.“ 28 Während - um zu den Autoren zurückzukehren - Aragon in seinen Kommentaren der von ihm herausgegebenen Abendzeitung Ce Soir den neuen Moskauer Kurs vorbehaltlos exekutierte (er bestand darin, sich vom ‚imperialistischen Krieg‘ der Westmächte zu distanzieren), brach Nizan mit der Partei; denn dem ersten Pakt, der in internen Diskussionen noch mit der Notwendigkeit des Zeitgewinns für die auf den Krieg nicht vorbereitete Sowjetunion gerechtfertigt worden war, wurde in Moskau, nur einen Monat später, ein deutsch-sowjetischer Freundschaftsvertrag nachgeschoben, der die frühere Todfeindschaft als Fehleinschätzung, als Illusion und Irrtum erscheinen ließ. Das konnte Nizan nicht mehr nachvollziehen. Der dünn gewordene Faden der Loyalität mit der - bis vor wenigen Jahren mit so starken Hoffnungen beliehenen - Union riß jetzt auch für Willi 28 Zitiert nach: Wolfgang Leonhard: Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes, München: Knesebeck und Schuler 1989, S. 130. Albrecht Betz 26 Münzenberg. Berühmt wurde die Schlagzeile, unter der er in der Zukunft seine Abkehr begründete: „Der Verräter, Stalin, bist Du! “ 29 Es ist diese Konfusion, der Zusammenbruch bis dahin gültiger Maßstäbe, die - daran sei hier nur erinnert - den historischen Hintergrund bildet für Walter Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen. * Der Zusammenbruch im Juni 1940 bleibt fraglos das wichtigste Ereignis in Frankreichs zeitgenössischer Geschichte, durch sein Ausmaß und seine Folgen. Die Vernichtung - innerhalb weniger Wochen - einer Armee, die viele für unbesiegbar gehalten hatten, die Flucht von Millionen Flüchtlingen über die Straßen der Provinz, der Einsturz des republikanischen Regimes - des dauerhaftesten seit 1789 - mit den anschließenden Abrechnungen, der Absturz des Prestiges Frankreichs in der Welt, die Welle von Anti-Parlamentarismus, Antisemitismus und Reaktion in der Hauptstadt, die Akzeptanz der Collaboration bei einem erheblichen Teil der Eliten - all diese Fakten waren Gegenstand unzähliger Kontroversen und Debatten. Weniger ausgiebig wurde im Land darüber diskutiert, daß seit dem Beginn der dreißiger Jahre neue Strömungen aufgetaucht waren, die nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus suchten und zur Revolte gegen die liberale und individualistische Gesellschaft aufriefen, gegen eine sich abschottende Bourgeoisie und ein erschlafftes Regime; es waren dies Themen, bei denen später ausgeblendet wurde, daß sie - mit oft nur geringen Akzentverschiebungen - in Vichy ebenso wie in der Résistance zu finden waren. Während zahlreiche Schriftsteller in die unbesetzte Zone im Süden Frankreichs flüchteten - wie Gide, Malraux, Aragon und viele andere - fühlten sich die mit dem Faschismus sympathisierenden Autoren durch die Katastrophe bestätigt: die zunehmende Dekadenz, die sie seit Jahren anprangerten, hatte folgerichtig in die grande débâcle geführt, jetzt war nur zu hoffen, daß es unter deutscher Besatzung zu einer Reinigung und Regeneration, zur Rückbesinnung auf eigene virile, kämpferische Werte kommen würde, mit denen die Gegenseite gesiegt habe. Eine maskuline Orientierung sei angesagt, ein auf politischen Glauben gestützter Wille zur Tat - statt blutleerem Rationalismus und egoistischer Ich-Bezogenheit, die sich in femininem Hedonismus erschöpft habe: ein Feindbild-Ensemble, zu dem die angebliche Infektion durch jüdischen Materialismus - Gegenpol eines notwendigen heroischen Spiritualismus - deutlich hinzutritt; so bei Céline, Brasillach und Drieu La Rochelle. 30 29 Ebd., S. 238. 30 Robert Soucy: Fascismes francais? 1933-1939. Mouvements antidémocratiques, trad. par Francine Chase et Jennifer Phillips, Paris: Éd. Autrement 2004, S. 389-424 (ursprünglich: French fascism: the second wave, 1933-1939, New Haven/ London: Yale University Press Zwischen Krise und Krieg 27 Für viele der deutschen Exilschriftsteller in Frankreich nimmt das Jahr 1940 Züge der Apokalypse an. Falls sie nicht verzweifelt ihrem Leben ein Ende setzen - wie Benjamin, Carl Einstein, Ernst Weiss und Walter Hasenclever -, bleibt ihnen nur die Flucht, möglichst in die USA, da sie ahnen, was die in Berlin proklamierte ‚Neuordnung Europas‘ verheißt. Bertolt Brecht, noch in Finnland, notiert im Juni 1940 mit grimmigem Zynismus in sein Arbeitsjournal: „die letzten darbietungen der marseillaise werden jetzt von den deutschen Stukas zum ewigen schweigen gebracht […].“ 31 Thomas Mann, der in Kalifornien die Entwicklung in Frankreich verfolgt, zitiert anläßlich des bevorstehenden Quatorze juillet die Presse des Dritten Reichs: „das besiegte Land müsse büßen für seine ‚Irrtümer und Verbrechen‘ […] Der Bastillentag habe ein Tag nachdenklicher Trauer zu werden, da mit ihm alles Schlechte begonnen.“ 32 Die schärfste Analyse des französischen Desasters von 1940 schrieb kein Schriftsteller oder Publizist, sondern ein Historiker - nicht aus dem Abstand, sondern unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten; er lieferte zugleich ein großes Zeugnis für ein kritisches examen de conscience, eine Bewußtseinserforschung. Gemeint ist Marc Blochs L’étrange défaite, niedergeschrieben noch vor dem Herbst 1940. 33 Der Text ist auch als Akt des intellektuellen Widerstands zu lesen, denn die Bedingungen eines Sich-Wiedererhebens Frankreichs zu reflektieren setzt voraus, die Bedingungen seines Zusammenbruchs zu untersuchen. Über diese ‚nationale Selbstkritik‘, in der Bloch vor allem die Sklerose der Eliten, der militärischen und der zivilen, geißelte, schrieb kurz nach dem Krieg der aus dem Londoner Exil nach Paris zurückgekehrte Raymond Aron einen erst unlängst wiederveröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Meditationen über die Niederlage. 34 Auf der Suche nach den tieferen Ursachen habe Bloch zurecht parallel zu einer anderen Niedergangsanalyse argumentiert: zu Renans, nach dem Debakel von 1871 verfaßter Réforme intellectuelle et morale de la France. Da sie sich für die intelligenteste Nation hielten, habe ihre Eigenliebe die Franzosen veranlaßt, sich moralisch anzuklagen, um eben dadurch eine intellektuelle Selbstanklage zu vermeiden. Ein Alibi, wie in der bekannten querelle des mauvais maîtres vom Herbst 1940, als die Vichy-Propagandisten das nationale mea culpa verbanden mit einer Attacke auf die Schriftsteller wie Gide, Cocteau und die Surrealisten, die der Jugend falsche Werte vermittelt hätten. Tatsächlich, so Bloch wie zuvor Renan, sei ein über seine Regierungsform gespaltenes Land nicht imstande, einen Krieg zu führen. Das entscheidende Manko sei, neben der gesellschaftlichen Verkastung und dem 1995). - Vgl. auch: Albrecht Betz/ Stefan Martens (Hg.): Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944: collaborer, partir, résister, Paris: Éd. Autrement 2004. 31 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 98. 32 Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943, Frankfurt am Main: S. Fischer 1982, S. 116-117. 33 Vgl. Marc Bloch: L’Histoire, la Guerre, la Résistance, éd. par Annette Becker et Étienne Bloch, Paris: Gallimard 2006, S. 519-653. 34 Raymond Aron: „Méditations sur la défaite“, Anhang zu Bloch, ebd., S. 1013-1020. Albrecht Betz 28 blinden Karrierismus nicht so sehr das Sich-gehen-lassen, die Verweichlichung und die Korruption gewesen; sondern die Unfähigkeit, den Krieg im voraus zu durchdenken, sich auf neue Taktiken und Techniken einzustellen, statt im Traditionalismus zu verharren. Veränderte Umstände intellektuell nicht antizipiert zu haben sei das ausschlaggebende Versäumnis gewesen. Ein letzter, nicht minder entscheidender Grund für die Niederlage - und wieder weist Aron auf die Parallele zwischen Renans und Blochs Beobachtung hin - sei die Bereitschaft der den Sozialismus fürchtenden Klasse gewesen, ihre patriotische Antipathie gegenüber dem Sieger zu verschweigen und mit ihm ein Arrangement zu treffen, falls dieser die bestehende soziale Ordnung, sprich: die Eigentumsverhältnisse, schütze. * Ab dem Sommer 1940 wird Marschall Pétain, der sich als Retter Frankreichs sieht - und von vielen seiner Landsleute so gesehen wird - den hybriden Versuch einer Nationalen Revolution unter deutscher Besatzung unternehmen. Doch diese vier schwarzen Jahre, les années noires, sind ein anderes Thema. Marie-Luise Recker „La paix à tout prix“? Frankreichs Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland 1938-1939 „La paix, la paix à tout prix, à n’importe quel prix, est-elle en soi le bien suprême? Doit-elle toujours prévaloir, prévaloir sur tout? “ So fragte sich der Schriftsteller Charles Du Bos im September 1938, kurz vor Zusammentritt der Münchener Konferenz, in seinem Tagebuch. 1 In der Tat war dies das zentrale Dilemma der französischen Politik während der Sudetenkrise. Der deutsche Anspruch auf Eingliederung des Sudetenlandes in das Dritte Reich, eine Forderung, die Berlin durch militärische Drohungen massiv stützte, stellte die Regierung in Paris vor schwerwiegende Entscheidungen. Sollte sie den eigenen Verbündeten, die Tschechoslowakei, im Stich lassen und ihn dazu bewegen, seinen strategisch wichtigen westlichen Landessaum an das Deutsche Reich abzutreten und damit seine militärische Verteidigungsfähigkeit zu verlieren? Oder sollte sie sich der Expansionspolitik des Dritten Reiches entgegenstellen, auch wenn dies einen europäischen Krieg nach sich ziehen konnte? Gab es jenseits dieser Alternativen eine Möglichkeit, zu einer einvernehmlichen Lösung der Sudetenfrage zu kommen und hierbei das Dritte Reich in eine neu auszutarierende europäische Ordnung einzubinden? Dies waren Fragen, die die französische Politik in diesem Zeitraum massiv bewegten. Seit der Dreyfus-Affäre war die französische Öffentlichkeit 2 nicht so tief gespalten gewesen wie nun in der Frage des Münchener Abkommens. Die Konfliktlinie zwischen den munichois und den anti-munichois verlief nicht etwa entlang der Parteigrenzen oder zwischen dem linken und dem rechten Lager, sondern quer zu diesen Gruppierungen. Dies verlieh den Auseinandersetzungen eine besondere Härte und Bitternis. 1 Charles Du Bos: Journal, Bd. 9, La Colombe: Éd. du Vieux Colombier 1961, S. 202 (Eintrag vom 18. September 1938). [Dt.: Ist der Frieden, der Frieden um jeden Preis, um egal welchen Preis, das höchste Gut an sich? Muß er immer den Vorrang haben, den Vorrang vor allem? ]. 2 Vgl. hierzu die umfangreiche Darstellung von Yvon Lacaze: L’opinion publique française et la crise de Munich, Bern: Peter Lang 1991; Kazimiera Mazurowa: „La politique allemande des gouvernements, des principaux partis et groupements français dans les années 1938-1939“, in: Les relations franco-allemandes 1933-1939, Paris: Éd. du CNRS 1976, S. 57-74; sowie René Rémond: „L’image de l’Allemagne dans l’opinion publique française de Mars 1936 à Septembre 1939“, in: Klaus Hildebrand/ Karl-Ferdinand Werner (Hg.): Deutschland und Frankreich 1936-1939, München/ Zürich: Artemis-Verlag 1981, S. 3-16. Marie-Luise Recker 30 Für die anti-munichois war es von herausragender politischer Bedeutung, dem deutschen Expansionsstreben dieses Mal entschlossen entgegenzutreten. Seit seiner Machtübernahme hatte es Hitler verstanden, in verschiedenen Einzelaktionen wichtige Bestimmungen des Versailler Vertrages, insbesondere im militärischen Bereich, außer Kraft zu setzen, und hatte zuletzt mit dem ‚Anschluß‘ Österreichs eine entscheidende Veränderung der politischen Landkarte nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen. Ein weiterer territorialer Zuwachs des Dritten Reiches würde die Versailler Ordnung, noch immer zentrales Bezugssystem der französischen Außenpolitik, vollends zusammenbrechen lassen. Zudem stellte die Entscheidung, die verbündete Tschechoslowakei ihrem Schicksal zu überlassen, das gesamte französische Bündnissystem in Ostmitteleuropa in Frage. Hatte sich nicht Polen schon seit 1934 von der Bindung an Paris nach und nach gelöst und seine Sicherheit in die eigenen Hände genommen? Sahen sich nicht auch Jugoslawien und Rumänien mehr und mehr genötigt, sich den Avancen aus Berlin zu öffnen? Durch ein Im-Stich-Lassen der Tschechoslowakei würde nicht nur die Regierung in Prag, sondern würden sich auch die Regierungen in Belgrad und Bukarest veranlaßt sehen, sich den deutschen Forderungen auf politische und wirtschaftliche Annäherung weiter zu öffnen, was den deutschen Machtblock nachhaltig stärken würde. Das System der alliances de revers in Ostmitteleuropa, ein zentrales Element der französischen Sicherheitspolitik in der Zwischenkriegszeit, wäre damit entwertet. In den Augen der anti-munichois war die Zielsetzung klar: die Erhaltung der französischen Großmachtposition erforderte eine entschiedene Reaktion auf die deutsche Expansionspolitik. Die munichois konnten ebenfalls auf überzeugende Argumente zurückgreifen. In ihren Augen war die Versailler Ordnung längst hinfällig geworden, das ostmitteleuropäische Bündnissystem hatte nie die sicherheitspolitische Funktion erfüllt, die seine Protagonisten erhofft hatten. Statt dessen schien es zwanzig Jahre nach Kriegsende an der Zeit, den gegenwärtigen Machtverhältnissen in Europa Rechnung zu tragen und ein neues Ordnungssystem zu etablieren, welches Deutschland und Italien in den Kreis der europäischen Großmächte integrieren und einen machtpolitischen Ausgleich mit ihnen begründen würde. Hierfür schien ‚München‘ eine gute Gelegenheit. Darüber hinaus stand zu befürchten, daß ein Krieg zwischen den Westmächten und dem Dritten Reich allein der Sowjetunion zum Vorteil gereichte, daß Moskau, wenn sich die europäischen Mächte gegeneinander aufrieben, der lachende Dritte sein und seine Machtsphäre weit nach Europa ausdehnen würde. Der latente Antikommunismus, in allen europäischen Ländern als untergründige Strömung präsent, vereinigte sich hier mit machtpolitischen Argumenten. Zudem mußten sich die Kritiker der munichois fragen lassen, ob das Problem der Sudetendeutschen einen europäischen Krieg rechtfertigte und was mit einer solchen militärischen Auseinandersetzung erreicht werden sollte. Angesichts der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, an die Millionen Toten und Verwundeten, an das Inferno des Stellungskriegs, an die mate- Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 31 riellen Verluste sowie die Mühen des Wiederaufbaus der vom Krieg betroffenen Regionen mußte ein neuer europäischer Krieg eine überzeugende Begründung haben. Nicht von ungefähr zählten die Anciens Combattants zu den entschiedensten Befürwortern einer nichtmilitärischen Lösung der Sudetenkrise. Auch war in Rechnung zu stellen, daß die sudetendeutsche Bevölkerung offenbar nichts sehnlicher wünschte, als ‚heim ins Reich‘ geführt zu werden, und daß ein Land wie Frankreich, langjähriger und entschiedener Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sich diesem Ansinnen kaum mit guten Gründen entgegenstellen konnte. In der Sicht der munichois war der Verweis auf machtpolitische Erwägungen kein hinreichendes Gegenargument gegen diese Überlegungen. Darüber hinaus schien Frankreich innenpolitisch auf einen solchen Krieg schlecht eingestellt. Die politische Polarisierung der letzten Jahre hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Formierung monarchistischer, bonapartistischer und faschistischer Kräfte am rechten Rand des politischen Spektrums und der Marsch dieser Gruppierungen auf die Abgeordnetenkammer im Februar 1934 hatte die mangelnde Bindungskraft der herkömmlichen Parteienlandschaft und damit ein strukturelles Defizit der Dritten Republik aufgedeckt. Die Bildung der Volksfrontregierung Blum zwei Jahre später und die von ihr eingeleiteten wirtschafts- und sozialpolitischen Reformmaßnahmen hatten die innenpolitische Polarisierung verschärft und die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschworen. Das Ende des Volksfrontexperiments und die Berufung des Kabinetts Daladier im April 1938, in der Abgeordnetenkammer durch ein eindrucksvolles Vertrauensvotum bestätigt, schien diese Phase politischer Agonie zwar beendet zu haben, auch das von ihm initiierte innen- und wirtschaftspolitische Programm war dazu angetan, das redressement Frankreichs zu bekräftigen. Dennoch blieb das Empfinden politischer Zerklüftung und einer blockierten Gesellschaft noch lange unterschwellig vorhanden. Auch dies beeinträchtigte in den Augen der munichois ein kraftvolles außenpolitisches Auftreten. Schließlich war Frankreich auf einen europäischen Krieg militärisch schlecht vorbereitet. Der deutschen Aufrüstung der 1930er Jahre hatte es nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Die auf Verteidigung bedachte Militärstrategie, symbolisiert durch die Maginot-Linie, und die ungenügende Ausrüstung der französischen Armee mit modernem Kriegsgerät spiegelten diese Defizite wider. Warnte nicht der Chef der Luftstreitkräfte, General Vuillemin, immer wieder, daß angesichts der deutschen Überzahl die französischen Luftangriffskräfte im Falle einer militärischen Konfrontation in 14 Tagen vernichtet sein würden? 3 Zwar hatte die Regierung Blum ein umfangreiches Wiederaufrüstungsprogramm aufgelegt, doch steckte es 1938 noch in den Kinderschuhen, und eine Forcierung dieser Anstrengungen drohte den mühsamen Prozeß einer finanziellen und wirtschaftlichen Konsolidierung Frankreichs zu beeinträchtigen. Die militärische Option, 3 Zitiert bei Lacaze: L’opinion publique, Anm. 2, S. 28. Marie-Luise Recker 32 darin waren sich die munichois im Herbst 1938 sicher, war gegenwärtig keine scharfe Waffe. Am geschlossensten zeigte sich noch die kommunistische Partei Frankreichs 4 , die eindeutig im Lager der anti-munichois stand. Die Führung des Parti Communiste Français (PCF) orientierte sich hierbei nicht zuletzt an der sowjetischen Außenpolitik und deutete eine Übereinkunft mit dem Dritten Reich in der Sudetenfrage als einen ersten Schritt für ein künftiges Zusammengehen der kapitalistischen und der faschistischen Mächte zu Lasten der UdSSR. Gespalten zeigten sich dagegen die Sozialisten. 5 Teile der SFIO (Section Française de l’Internationale Ouvrière) rund um den Parteichef Léon Blum glaubten nicht, daß man Hitlers Expansionsdrang durch ein Entgegenkommen eindämmen könne, hielten ihn vielmehr für verschlagen und skrupellos, während andere Teile der Partei, Gefolgsleute des Generalsekretärs Paul Faure, für eine nichtmilitärische Lösung der Krise votierten. Ähnlich zerrissen zeigten sich die Gewerkschaften: Die Anhänger der alten CGT (Confédération Générale du Travail) neigten - ganz in der Tradition des revolutionären Syndikalismus - zur Friedenspolitik à la München, während die Anhänger der ehemaligen CGTU (Confédération Générale du Travail Unitaire) aus antifaschistischer Solidarität mit der Sowjetunion für eine Politik des Widerstandes gegen den Faschismus eintraten. Auch im bürgerlichen und rechten Spektrum 6 ging die Kluft zwischen den durs und den mous mitten durch die einzelnen Parteien. Selbst innerhalb des Regierungslagers zeigte sich dieser Zwiespalt. Die Partei von Ministerpräsident Daladier, die Radikalsozialisten, schwankten zwischen den ‚Hardlinern‘ um Erziehungsminister Jean Zay und den ‚Münchenern‘ um Außenminister Georges Bonnet, in der Alliance Democratique standen Justizbzw. Finanzminister Paul Reynaud und Kolonialminister Georges Mandel für feste Entschlossenheit, während Parteichef Pierre-Etienne Flandin Frankreich für zu schwach hielt, um das europäische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, und deshalb keine militärischen Risiken eingehen wollte. 7 Diese mangelnde Übereinstimmung in einer so zentralen Frage unterminierte das Kabinett von innen her und war mitverantwortlich für den Anschein der Schwäche und Unentschlossenheit der französischen Deutschlandpolitik in der Sudetenkrise. Die Gruppierungen rechts der Regierungsparteien schließlich - die Fédération Republicaine um Parteichef Louis Marin, der Parti Social Français mit General de la Roque an der Spitze, der Parti Populaire Français von Jacques Doriot sowie weitere kleinere rechtsextreme Gruppen - 4 Vgl. hierzu ebd., S. 403-437. 5 Vgl. ebd., S. 381-401, 439-444, 450-458. 6 Vgl. ebd., S. 309-349. 7 Wie konfliktreich dieser Dissens in der Deutschlandpolitik innerhalb der Radikalsozialisten war, zeigt die Tatsache, daß Paul Reynaud aus der Partei austrat, nachdem Flandin ein Glückwunschtelegramm an die Unterzeichner des Münchener Abkommens, also auch an Hitler, gesandt hatte. Vgl. Stefan Grüner: Paul Reynaud (1878-1966). Biographische Studien zum Liberalismus in Frankreich, München: Oldenbourg 2001, S. 304. Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 33 ließen ebenfalls in der konkreten Frage, wie Frankreich sich in der Krise um die Tschechoslowakei verhalten solle, keine einheitliche Linie erkennen. Die Frage, wie man sich 8 zu einem deutschen Vorgehen gegen die Tschechoslowakei verhalten solle, hatte sich für den Quai d’Orsay bereits mit dem ‚Anschluß‘ Österreichs im März 1938 gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatten Regierungschef Blum und Außenminister Paul-Boncour dem tschechischen Botschafter gegenüber betont, daß Frankreich zu seinen Bündnisverpflichtungen stehen würde. Mit der Maikrise, als die Regierung in Prag in der unzutreffenden Annahme, ein deutscher Angriff stehe unmittelbar bevor, ihre Armee mobilisiert und dies zu einer Zuspitzung der internationalen Lage geführt hatte, kühlte jedoch das französisch-tschechische Verhältnis merklich ab. Für den neuen Außenminister, Bonnet 9 , war das Vorpreschen der Tschechen ohne Konsultationen mit Paris oder London ein Grund, die Verpflichtungen aus dem Freundschaftsvertrag vom 25. Januar 1924 sowie dem Bündnisvertrag vom 16. Oktober 1925 in Frage zu stellen. Seit der Maikrise schlich sich nicht nur ein Element von Argwohn und Mißtrauen in die französisch-tschechischen Beziehungen ein, auch orientierte sich die Regierung in Paris immer deutlicher an der Politik Londons und deren Kurs eines Appeasement. Während des Sommers 1938 schwankte die französische Politik noch zwischen der Zusicherung, man werde zu seinen Bündnisverpflichtungen stehen, und dem Bemühen, sich mit der britischen Haltung abzustimmen, da Frankreich im militärischen Konfliktfall nur in Kooperation mit London würde handeln können. Mit der Entsendung seines engen Vertrauten, Lord Walter Runciman, nach Prag und seiner Reise nach Berchtesgaden setzte der britische Regierungschef Chamberlain dann eindeutige Signale, daß er gewillt war, die Führung im englisch-französischen Verhältnis zu übernehmen und die Sudetenkrise durch eigene Initiativen beizulegen. Nach einem gemeinsamen Treffen Daladiers und Chamberlains in London am 18. September nach dessen Rückkehr aus Berchtesgaden forderten beide Regierungschefs dann auch in ultimativer Form die Prager Regierung auf, die mehrheitlich deutschsprachigen Gebietsteile des Sudetenlandes an das Dritte Reich abzutreten, und sicherten ihr eine internationale Garantie ihrer neuen Grenzen zu. Dieser Schritt war innerhalb des französischen Kabinetts durchaus umstritten, ja, einige Kollegen Bonnets zogen sogar einen Rücktritt in Erwägung 10 , doch konnte Ministerpräsident Daladier sie von einem sol- 8 Die Politik Frankreichs in der Sudetenkrise ist häufig beschrieben worden. Vgl. hierzu Yvon Lacaze: La France et Munich. Etude d’un processus décisionnel en matière de relations internationales, Bern: Peter Lang 1992; ders.: „Daladier, Bonnet and the decision-making process during the Munich crisis, 1938“, in: Robert Boyce (Hg.): French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London: Routledge 1998, S. 215-233. 9 Vgl. zu Bonnets Haltung in der Sudetenkrise Hans F. Bellstedt: Apaisement oder Krieg. Frankreichs Außenminister Georges Bonnet und die deutsch-französische Erklärung vom 6. Dezember 1938, Bonn: Bouvier 1993, S. 55-60. 10 Vgl. Grüner: Reynaud, Anm. 7, S. 301. Marie-Luise Recker 34 chen Schritt abhalten. Allerdings verhärtete sich die Haltung in London und Paris, als Hitler bei seinem zweiten Zusammentreffen mit Chamberlain in Godesberg neue Forderungen erhob, die über das britisch-französische Ultimatum hinausgingen. Die hektischen diplomatischen Bemühungen um die Überwindung dieses toten Punktes mündeten dann in den Vorschlag einer Viererkonferenz in München, auf der ein Ausweg aus der Krise gesucht werden sollte. Auf dieser Konferenz präsentierte sich Daladier 11 nicht als vehementer Verfechter der territorialen Integrität des tschechischen Staates, sondern folgte mehr oder weniger der Linie, die Chamberlain vorgab. Im Ergebnis einigten sich die vier Regierungschefs darauf, die Sudetengebiete in mehreren Schritten dem Deutschen Reich einzugliedern, wobei eine internationale Kommission diesen Prozeß überwachen und die definitiven Grenzlinien festlegen sollte. Zudem übernahmen England und Frankreich eine Bestandsgarantie für die so verkleinerte Tschechoslowakei, der sich Deutschland und Italien anschließen wollten, sobald die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten geregelt war. Immerhin konnte die französische Delegation sich rühmen, daß die Bestimmungen des Münchener Abkommens weniger weitreichend waren als die von Hitler zuvor präsentierten Forderungen; zudem ließ sich diese Übereinkunft als ein Ausgangspunkt für weitergehende Vereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten interpretieren. Die triumphale Rückkehr des Regierungschefs aus München, als Hunderttausende die Straßen zwischen dem Flughafen Le Bourget und der Innenstadt von Paris säumten, und die sich in Meinungsumfragen 12 manifestierende Zustimmung der Bevölkerung zur außenpolitischen Linie der Regierung sprachen dafür, daß man den richtigen Kurs in der Deutschlandpolitik eingeschlagen hatte. Auch die ostentativen Ovationen, mit denen Daladier am 2. Oktober im Parlament empfangen wurde, und die eindrucksvolle Zustimmung zu seiner außenpolitischen Rede 13 unterstrichen diese Stimmung. Innerhalb der Regierungsfraktionen war es allein Henri de Kérillis, schon in den vergangenen Monaten ein deutlicher Kritiker der französischen Deutschlandpolitik, der sich diesem Enthusiasmus entgegenstellte: L’Allemagne est insatiable, impitoyable devant les faibles, et vous venez de montrer que vous étiez faibles. L’Allemagne ne respecte que les forts. Vous croyez qu’elle va devenir tranquille et pacifique et moi je crois qu’elle va devenir exigeante et terrible. 11 Vgl. zu Daladiers Politik in der Sudetenkrise Elisabeth du Réau: Edouard Daladier, 1884- 1970, Paris: Fayard 1993, S. 270-301. 12 Vgl. hierzu Jean-Baptiste Duroselle: La Décadence 1932-1939, Paris: Imprimerie nationale 1979, S. 355-356. 13 Das Votum betrug 515: 75 Stimmen. Ablehnend votierten 73 Kommunisten, 1 Sozialist und Henri de Kérillis. Vgl. Journal Officiel, Chambre des Députés, Débats parlementaires, séance du 2 octobre 1938. Dort auch das folgende Zitat. Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 35 Dennoch blieb dies für die nächsten Monate eine isolierte, wenig beachtete Stimme. Statt dessen war es vor allem Außenminister Bonnet 14 , der nun zum Motor einer Verständigung mit dem Deutschen Reich wurde. Nach dem Muster der deutsch-englischen Deklaration, die Chamberlain und Hitler am Rande der Münchener Konferenz paraphiert hatten, strebte er ein analoges bilaterales Abkommen zwischen Paris und Berlin an, das beide Regierungen zu Konsultationen, zu gutnachbarlichen Beziehungen und zur Wahrung des europäischen Friedens verpflichten sollte. Anläßlich des Besuchs von Ribbentrop in Paris am 6. und 7. Dezember 1938, dem ersten offiziellen Besuch eines deutschen Außenministers in der französischen Hauptstadt seit 1933, konnte die entsprechende deutsch-französische Erklärung schließlich unterzeichnet werden. Mit ihr hatte die Linie eines apaisement einen Kulminationspunkt erreicht. Hintergrund von Bonnets Deutschlandpolitik war weniger ein illusionäres Bild Hitlers, sondern die Einschätzung, daß angesichts der außenpolitischen Lage Frankreichs kein Weg an einer Verständigung mit Deutschland vorbeiführte. Zwar galt Großbritannien nach wie vor als wichtigster Bündnispartner und militärische Stütze im Fall eines europäischen Krieges, doch hatte Chamberlains Vorpreschen in der Sudetenkrise und der nicht mit seinem Kollegen Daladier abgestimmte Abschluß der deutsch-englischen Deklaration die Gewichtsverteilung zwischen beiden Ländern offenkundig werden lassen. Dies hatte auf französischer Seite zu Verstimmungen geführt. Hier wollte Bonnet durch ein eigenes Abkommen mit Berlin gleichziehen. Zudem mochte eine solche, die deutsch-englische Deklaration imitierende Vereinbarung auch die Beziehungen zu London festigen, blieb - trotz aller Meinungsunterschiede - doch das Verhältnis zu Großbritannien auch nach ‚München‘ der Eckpfeiler der französischen Außenpolitik. Dies galt umso mehr, als sich gleichzeitig die Konflikte zwischen Paris und Rom verschärften. 15 Nicht nur fühlte sich Frankreich durch die Anwesenheit italienischer Truppen in Spanien bedroht, beunruhigender war zu diesem Zeitpunkt noch das Aufbrechen neuer Konfliktfelder. Dies betraf sowohl die Erweiterung des italienischen Kolonialbesitzes in Nordafrika - im Blick des Duce lagen vor allem Tunesien, Djibouti und die Beteiligung an der Administration des Sueskanals - als auch Ansprüche auf französisches Territorium; die Forderungen nach ‚Nizza, Korsika, Tunis‘, ja sogar nach Savoyen, die am 30. November 1938 in der italienischen Kammer der Fasci und der Korporationen laut geworden waren, empfand die französische Öffentlichkeit als bewußte Provokation. Vor diesem Hintergrund war dann 14 Vgl. hierzu vor allem Bellstedt: Apaisement oder Krieg, Anm. 9, S. 33-49, und René Girault: „La politique extérieure française de l’après-Munich (Septembre 1938-Avril 1939)“, in: Hildebrand/ Werner (Hg.): Deutschland und Frankreich, Anm. 2, S. 507-522. 15 Vgl. hierzu Bellstedt: Apaisement oder Krieg, Anm. 9, S. 109-116, sowie Hans-Jürgen Heimsoeth: Der Zusammenbruch der dritten französischen Republik. Frankreich während der ‚Drôle de guerre‘ 1939/ 40, Bonn: Bouvier 1990, S. 67-74. Marie-Luise Recker 36 auch die Furcht nicht abwegig, daß mit dem sich abzeichnenden Ende des Spanischen Bürgerkrieges Italien seinen politischen Einfluß im westlichen Mittelmeer ausdehnen oder gar militärische Stützpunkte dort erlangen könnte. In mancher Hinsicht schien Mussolini zu diesem Zeitpunkt der gewichtigere Widerpart zu sein als Hitler. Ohnehin richtete sich das Interesse Frankreichs in diesen Monaten in verstärktem Maße auf das eigene Kolonialreich. Die französische Außenpolitik müsse in Zukunft „plus impériale qu’européenne“ 16 werden - so das Votum der Verfechter eines repli impérial; Frankreich könne nicht Herz und Kopf des zweitgrößten Kolonialreichs sein und gleichzeitig den Polizisten Europas spielen. Statt dessen solle es anerkennen, daß das Dritte Reich aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Stärke eine aktive Rolle in Ostmitteleuropa beanspruchen könne. Ja, wenn Berlin diese Staaten als Herrschafts- und Vormundschaftsgebiet zugestanden bekam, würde es dort ein Betätigungsfeld finden, welches seine außenpolitische Aggressivität binden und ihm eine konstruktive Aufgabe zuweisen würde. Der Auf- und Ausbau eines solchen ‚mitteleuropäischen‘ Einflußgebiets würde zudem sein Interesse von der Rheingrenze ab- und zur Weichsel und Donau hinwenden, was auch Frankreich in die Lage setzen würde, sich stärker seinen Mittelmeerinteressen und seinem Kolonialreich zu widmen. Der repli impérial war somit eine indirekte Konsequenz der Politik des apaisement. Dennoch: So stringent die hier entwickelte Argumentation sein mochte, so sehr stellten sich doch Fragen nach ihrer moralischen und ihrer politischen Rechtfertigung. Der entscheidende Punkt war, ob sich Hitler zähmen ließ, ob sich das nationalsozialistische Regime seine innenpolitische Aggressivität und seine außenpolitische Expansionsstrategie durch eine Politik des apaisement abkaufen ließ. Hitlers Rede in Saarbrücken nur wenige Tage nach der Münchener Konferenz, in der er die außenpolitische Aktionsfreiheit des Dritten Reiches bekräftigte und sich gegen die Bevormundung durch die ‚englischen Gouvernanten‘ verwahrte, war kein guter Auftakt. Die Art und Weise, wie in Österreich nach dem ‚Anschluß‘ mit brutaler Hand die politischen Gegner verfolgt und inhaftiert, die Juden unter die nationalsozialistische Rassegesetzgebung gezwungen, ausgegrenzt und in die Flucht getrieben wurden sowie generell ein hartes Terrorregime eingerichtet worden war, sprachen gegen jeden Gedanken an eine Mäßigung Hitlers. Die nach Frankreich Geflohenen konnten hiervon beredt Zeugnis ablegen. Der reichsweite Pogrom am 9.-10. November, Höhepunkt einer Welle antisemitischer Gewalttätigkeiten während des Sommers und Herbstes 1938, wies in dieselbe Richtung. Das Bild brennender Synagogen, verwüsteter jüdischer Geschäfte und Einrichtungen, der brutalen Verfolgung, Mißhandlung und Ermordung jüdischer Bürger war nicht dazu angetan, die Hoffnung auf einen außenpolitischen Ausgleich mit dem nationalsozialistischen Deutsch- 16 So Flandin, der wohl prominenteste Befürworter eines repli impérial. Vgl. Lacaze: L’opinion publique, Anm. 2, S. 325-326, ähnlich S. 581. Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 37 land zu bestärken. Ein Anschwellen der Flüchtlingswelle in die westlichen Nachbarländer und nach Übersee war die unmittelbare Folge der rigorosen Judenpolitik, sie legte ebenfalls Zeugnis ab für die Radikalität des Regimes. Aber auch der Blick auf die Tschechoslowakei, das eigentliche Opfer der Münchener Konferenz, brachte keine Erleichterung. Die Demission von Benesch als Präsident der Tschechischen Republik am 5. Oktober 1939 war der Auftakt für innenpolitische Veränderungen dort und die politische Anlehnung des Landes an den mächtigen westlichen Nachbarn. War die Tschechoslowakei bis 1938 ein möglicher Zufluchtsort für Andersdenkende, für politisch Verfolgte und rassisch Diskriminierte gewesen, so konnte sie diese Rolle nun nicht mehr spielen, sondern war selbst Ausgangspunkt von Flucht und Emigration. Hatte sie bisher als Leuchtturm demokratischer Freiheiten und republikanischer Gesinnung in einem autoritärer werdenden Europa gelten können, so hatten die westlichen Demokratien sie durch ihren mangelnden Beistand in München in die Arme des Dritten Reiches getrieben. Dies ließ in der französischen Öffentlichkeit erneut die Frage nach den politisch-moralischen Grundlagen der französischen Außenpolitik aufkommen. Wenn das zentrale Problem der Politik eines apaisement die Frage war, wieweit man den Worten des deutschen Diktators trauen und auf seine innenwie außenpolitische Mäßigung setzen sollte, so beseitigte Hitler alle entsprechenden Hoffnungen mit seinem ‚Griff nach Prag‘ am 15. März 1939. Nicht eine begeisterte Menschenmenge bereitete ihm diesmal einen triumphalen Einzug wie noch in Österreich ein Jahr zuvor, vielmehr erwartete ihn eine stumme, feindselige Öffentlichkeit in der tschechischen Hauptstadt. Das deutsche Vorgehen stellte einen offenen Vertragsbruch dar, die in München gegebene Zusicherung, die Sudetengebiete seien die letzte territoriale Forderung und man werde gemeinsam die nun vereinbarten Grenzen der Tschechoslowakei garantieren, hatte sich als unaufrichtig herausgestellt. Die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren und die Schaffung eines slowakischen Vasallenstaates veränderten die politischen Machtverhältnisse in Ostmitteleuropa nachhaltig. Zugleich meldete Hitler neue Forderungen gegenüber Polen an: die Rückkehr Danzigs zum Reich, die Schaffung einer exterritorialen Eisenbahn- und Straßenverbindung durch den Korridor von Pommern nach Ostpreußen sowie den Beitritt Polens zum Antikomintern- Pakt. Knapp eine Woche nach dem ‚Griff nach Prag‘ ließ Hitler dies in ultimativer Form der polnischen Regierung gegenüber noch einmal bekräftigen. Der ‚Griff nach Prag‘ und die Drohungen gegen Polen 17 veränderten die politische Stimmung in Europa grundlegend. Auch wenn die Politik eines Appeasement, also der Versuch, Deutschland in eine neu auszutarierende politische Ordnung einzubinden, nicht grundsätzlich aufgegeben wurde, so veränderten sich doch die Gewichte zwischen einer Verständigungs- und einer Abschreckungslinie. Daladier hatte ohnehin dem Münchener Abkom- 17 Neben der Zerschlagung der ‚Rest-Tschechei‘ und den Forderungen an Polen gehört in diesen Zusammenhang auch die Abtretung des Memellandes an Deutschland am 23. März 1939. Marie-Luise Recker 38 men nur mit innerer Reserve zugestimmt, die anschließende Annäherung an Deutschland einschließlich der deutsch-französischen Erklärung vom Dezember 1938 war eher das Werk von Außenminister Bonnet als das des Regierungschefs gewesen. Für Daladier ging es in diesen Monaten vor allem darum, den durch ‚München‘ errungenen zeitlichen Aufschub zu nutzen, um Frankreich für künftige Entwicklungen besser vorbereitet zu sehen. In enger Kooperation mit dem neuen Finanzminister, Paul Reynaud, ergriff er bereits ab November 1938 Maßnahmen zur Konsolidierung des Staatshaushaltes und zu einer verstärkten Wiederaufrüstung. Mit dem deutschen Einmarsch in Prag wurde Bonnet de facto beiseite geschoben, und Daladier bestimmte von nun an in stärkerem Maße die Linie der französischen Außenpolitik. Die Antwort der Westmächte 18 auf die Zerschlagung der Tschechoslowakei und auf die Pressionen gegenüber Polen war eine engere Kooperation zwischen Paris und London, die Aufnahme gemeinsamer Generalstabsbesprechungen, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Großbritannien und am 31. März 1939 eine britisch-französische Garantieerklärung für Polen, gefolgt von analogen Zusagen für Rumänien, Griechenland und die Türkei. Ein Front de la paix schien sich zu formen. Zwar bedeuteten diese Abkommen keine Garantie der bestehenden Grenzregelungen, doch hatten sich London und Paris zu militärischen Beistandsmaßnahmen verpflichtet, wenn eine dritte Macht, also mutmaßlich Deutschland, die Unabhängigkeit dieser Staaten bedrohen würde. Indem nicht die territoriale Unversehrtheit dieser Länder, sondern ihre staatliche Substanz garantiert wurde, waren Vereinbarungen über Grenzfragen keineswegs verbaut, sondern Raum für Verhandlungen wurde bewußt offen gelassen. Dennoch war die zentrale Absicht hinter diesen Garantieerklärungen, Hitler von weiteren Aggressionsschritten abzuschrecken und sich selbst auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Die öffentliche Meinung in Frankreich honorierte dies mit einem deutlichen Umschwung zugunsten einer entschiedeneren Haltung gegenüber Hitler. Die unterschwelligen moralischen Bedenken wegen des Münchener Abkommens waren durch den ‚Griff nach Prag‘ deutlich verschärft worden, so daß die aktive Eindämmungspolitik Daladiers auf ein sehr positives Echo stieß. Hatten im Herbst 1938 nach einer Umfrage 19 des Institut francais d’opinion publique 57 % der Befragten das Münchener Abkommen befürwortet (37 % Nein), so antworteten im Frühjahr 1939 auf die Frage, ob Frankreich ein deutsches Vorgehen gegen die Freie Stadt Danzig notfalls auch mit Ge- 18 Vgl. neben der in Anm. 8 zitierten Literatur vor allem Jean-Pierre Azéma: „Die französische Politik am Vorabend des Krieges“, in: Wolfgang Benz/ Hermann Graml (Hg.): Sommer 1939. Die Großmächte und der Europäische Krieg, Stuttgart: Deutsche Verlags- Anstalt 1979, S. 280-313, sowie Jean-Louis Crémieux-Brilhac: „La France devant l’Allemagne et la guerre au début de Septembre 1939“, in: Hildebrand/ Werner (Hg.): Deutschland und Frankreich, Anm. 2, S. 577-616. 19 Zitiert bei Heimsoeth: Zusammenbruch, Anm. 15, S. 50. Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 39 walt verhindern solle, 76 % der Befragten mit Ja, 17 % mit Nein. Die immer wieder zitierte Parole von Marcel Déat 20 in der Zeitung L’Œuvre von Anfang Mai 1939, „Mourir pour Dantzig? “, und seine ablehnende Antwort entsprachen nicht der generellen Stimmung der Öffentlichkeit. Auch wenn die Aussicht auf einen neuen Krieg eher Beklommenheit und Sorge hervorrief, wuchs die Bereitschaft, das Risiko auf sich zu nehmen. Die Kluft zwischen munichois und anti-munichois begann sich zu schließen, die Öffentlichkeit sich hinter die Politik Daladiers zu stellen. Die Garantie für die ostmitteleuropäischen Staaten warf aber auch die Frage auf, welche Rolle die Sowjetunion in der containment-Politik Frankreichs und Großbritanniens spielen sollte. Hitlers Einmarsch in die Tschechoslowakei und seine Pressionen gegenüber Polen legten es nahe, auf Moskau zuzugehen und die Möglichkeit auszuloten, Stalin in ein Bündnis gegen Hitler einzubinden. Die Voraussetzungen für zielgerichtete Verhandlungen mit der Sowjetunion waren jedoch eher prekär. Frankreich war zwar seit 1935 mit Moskau durch einen Beistandsvertrag verbunden, doch stieß dieser nach wie vor innenpolitisch auf große Vorbehalte und hatte nur unter Schwierigkeiten ratifiziert werden können. Auch in Großbritannien gab es massive Bedenken gegen ein Zusammengehen mit der Sowjetunion. Dennoch war es nun Paris, das auf baldige Verhandlungen drängte, war in seinen Augen doch die gesamte Sicherheitskonstruktion in Ostmitteleuropa und die Effektivität der an Polen versprochenen Hilfe fraglich, wenn es nicht gelänge, Stalin in die Abwehrfront einzubeziehen. Die Regierung Daladier 21 bemühte sich kurz nach der Garantieerklärung der Westmächte für Polen, der Sowjetunion einen zweiseitigen Vertrag über Hilfe und Beistand für Rumänien und Polen näher zu bringen. Mit diesem Versuch, auch die UdSSR aktiv in die östliche Defensivsperre einzubeziehen, kehrte sie zu einer der traditionellen Achsen der französischen Diplomatie zurück. Zentrales Motiv der beabsichtigten Annäherung an die Sowjetunion war, Hitler durch die Aussicht auf einen Zweifrontenkrieg abzuschrecken. Allerdings erwiesen sich die nun beginnenden Gespräche als schwierig, da Moskau einen wesentlich weitergehenden Beistandsvertrag favorisierte, London ein so umfassendes Abkommen jedoch ablehnte, und auch Polen selbst deutliche Vorbehalte zeigte, sich von dem mächtigen östlichen Nachbarn abhängig zu machen. Obwohl Frankreich seine Partner nachhaltig drängte, ihre Bedenken zurückzustellen und die politisch-strategischen Vorteile eines solchen Bündnisses anzuerkennen, konnten erst am 12. August 1939 Militärverhandlungen in Moskau aufgenommen werden, die sich jedoch rasch festliefen an der Frage des Durchmarschrechts sowjetischer Streitkräfte durch Polen und Rumänien. In diese Situation platzte dann die Nachricht vom Abschluß des Hitler- Stalin-Paktes am 23. August 1939. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffs- 20 L’Œuvre, 3.5.1939. 21 Vgl. zu den Verhandlungen Duroselle: La Décadence, Anm. 12, S. 416-435. Marie-Luise Recker 40 pakt veränderte die Lage in Europa nachhaltig. Ungeachtet tiefer ideologischer Divergenzen hatten sich die beiden Diktatoren politisch verbündet, um - so Hitler - einem möglichen Zweifrontenkrieg zu entgehen und - so Stalin - den drohenden europäischen Krieg von den eigenen Grenzen entfernt zu halten. Die französische Hoffnung, die Garantien in Ostmitteleuropa durch einen Vertrag mit der UdSSR abstützen zu können, wurde durch Stalins Entscheidung für Hitler zunichte gemacht und damit auch die Chance, dessen Expansionsdrang nach Osten zu bremsen. Statt dessen erhöhte der deutsche Diktator seinen Druck auf Warschau in der Danzig- und in der Korridorsfrage, um so durch die Demonstration der polnischen Intransigenz die Westmächte von ihrem Verbündeten zu entfernen. Der Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes veränderte aber auch die französische Innenpolitik. Insbesondere die Kommunisten gerieten nach Bekanntwerden des Abkommens in die Schußlinie öffentlicher Angriffe. Empörung über den ‚Verrat‘ Stalins, der durch den PCF gedeckt werde, artikulierten vor allem konservative und rechtsextreme Kreise; 22 das Zusammenwirken des ideologischen Gegners, der Sowjetunion, mit dem machtpolitischen Feind Frankreichs, dem Deutschen Reich, erleichterte es diesen Gruppierungen, eine positive Einstellung zum künftigen Krieg zu erlangen. Aber auch bei früheren Anhängern der Volksfront, bei Sozialisten und Gewerkschaftern, erhoben sich kritische Stimmen gegen den Hitler-Stalin-Pakt, so daß auch hier pazifistische Orientierungen an Stärke verloren und der Entschlossenheit wichen, den Kampf der Freiheit gegen Diktatur und hegemoniale Gewalt aufzunehmen. Nun mußten sich noch innerhalb der Regierung die Reihen schließen. Die Einheit des Kabinetts, die sich während der Verhandlungen mit der Sowjetunion bewährt hatte, bekam angesichts der notwendigen Vorbereitungen auf eine militärische Auseinandersetzung wieder Risse. Insbesondere Außenminister Bonnet 23 suchte Möglichkeiten, das französisch-polnische Bündnis zu ‚dehnen‘, also den Zusagen gegenüber Polen zu entkommen, und eine nichtmilitärische Lösung der Danzig-Krise zu erreichen. Dennoch blieb Regierungschef Daladier nach außen hin hart und legte in einer Rundfunkansprache die entschlossene Haltung der Regierung dar, ihren Verpflichtungen nachzukommen und keine Konzessionen auf dem Rücken der Polen zu machen. Zwar unternahm die Regierung weiterhin alle Anstrengungen, den Frieden zu retten, zögerte auch nicht, Polen nachdrücklich zu einem Entgegenkommen gegenüber den deutschen Forderungen zu ermahnen, doch war dies mit den Pressionen auf Prag ein Jahr zuvor nicht zu vergleichen. Wie im September 1938, kam auch nun in letzter Minute ein Vorschlag Mussolinis, auf einer Konferenz eine friedliche Regelung der Krise zu suchen. Für Bonnet und andere ‚Pazifisten‘ eröffnete dieser Vorstoß eine 22 Vgl. zu diesem Meinungsumschwung Azéma: „Die französische Politik“, Anm. 18, S. 298-307. 23 Vgl. Bellstedt: Apaisement oder Krieg, Anm. 9, S. 252-254. Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland 1938-1939 41 willkommene Möglichkeit, ihre Bemühungen um die Abwendung einer militärischen Konfrontation zu intensivieren. Im Ministerrat stießen sie hierbei jedoch auf deutlichen Widerstand: „Il serait plus grave d’accepter que de refuser […]. La leçon de Munich, c’est que la signature d’Hitler ne vaut rien.“ 24 Ohnehin zerschlug sich der italienische Vorstoß rasch am Unwillen Hitlers, sich auf eine solche Konferenz einzulassen, sowie an der Forderung der Westmächte, dieses Mal Polen als gleichwertigen Partner am Konferenztisch zu plazieren. Daladiers entschlossene Haltung in den Tagen vor Frankreichs Kriegseintritt wurde auch durch die Zusicherungen der militärischen Führung unterstützt, daß die Armee bereit und deren Situation in keiner Weise mit derjenigen ein Jahr zuvor vergleichbar sei. Einen Tag nach dem deutschen Angriff auf Polen versicherte er deshalb in der Abgeordnetenkammer 25 , daß auch Frankreich noch immer zu einer politischen Lösung der Krise bereit sei, daß zuvor aber die Kampfhandlungen beendet und die deutschen Truppen hinter die Grenzen zurückgezogen werden müßten. Gleichzeitig bekräftigte er noch einmal die militärischen Verpflichtungen seines Landes gegenüber Polen. Dies sei eine Frage der Ehre. Die Forderung nach Truppenrückzug war dann auch der zentrale Punkt des Ultimatums, das die französische Regierung der deutschen Seite am folgenden Tag übergeben ließ. Als Hitler die darin gesetzte Frist verstreichen ließ, war der nächste Schritt unausweichlich: am 3. September 1939 um 17.00 Uhr befand sich Frankreich mit Deutschland im Kriegszustand. Die Tatsache, daß die Nation (bis auf die Kommunisten) relativ geschlossen hinter diesem Kurs stand, daß sie nach Jahren heftigen Streits um den Umgang mit dem nationalsozialistischen Deutschland sich nun hinter Daladiers Politik scharte, lag nicht zuletzt darin begründet, daß die Illusionen über eine Einbindung Hitlers in ein neues europäisches Gleichgewicht zerstoben waren. So gewichtig und plausibel die Argumente der munichois ein Jahr zuvor gewesen waren, ihre zentralen Thesen hatten sich als verfehlt und illusionär erwiesen und besaßen keine Überzeugungskraft mehr. Hitlers Aktionen hatten ernüchternd gewirkt und zum Umdenken im Lager der Protagonisten eines apaisement geführt. Insbesondere das Bündnis zwischen den beiden Diktatoren vom August 1939 hatte dazu beigetragen, pazifistische Strömungen versanden zu lassen und die Perspektive eines künftigen Waffengangs zu akzeptieren. Frieden um jeden Preis - „la paix à tout prix“ - war noch weniger eine Option als ein Jahr zuvor. 24 So Daladier, zitiert nach: Heimsoeth: Zusammenbruch, Anm. 15, S. 96. 25 Journal Officiel, Chambre des Députés, Débats parlementaires, séance du 2 septembre 1938. Literatur der Krise: Kontexte und Positionen Jean-Pierre Martin Betrachtungen über das ‚München‘ der französischen Schriftsteller […] the intellectuals are more totalitarianminded than the common people. 1 (George Orwell) 1938 ist ganz offensichtlich ein Angelpunkt, will man die komplexen und vielfältigen Beziehungen der französischen Schriftsteller zur politischen Sphäre und die Art und Weise verstehen, wie sie sich in der Zwischenkriegszeit verändern und zuspitzen. Es ist ein Schlüsselmoment, in dem vor aller Augen eine Beschleunigung der Geschichte wahrnehmbar wird, ein Moment, der alle persönlichen Lebenswege mit seiner Geschwindigkeit mitreißt. Die sich entwickelnde Katastrophe zwingt dazu, daß man Haltungen verstärkt oder innere Krisen mehr oder weniger sichtbar macht. Es wird immer schwieriger, sich dem zu entziehen. Die eindeutigen Kehrtwendungen sind selten, denn alle sind ihrem Alter verpflichtet, ihrem Glauben oder ihrer Skepsis, ihren Vorgeschichten (Erster Weltkrieg, Glaubensbekenntnis, Engagement, Rückzug, Desillusion etc. …), aber auch ihren Mythologien und Phantasmen, die durch das historische Bewußtsein mal verstärkt und mal abgeschwächt werden. Ausgehend von der Untersuchung der sichtbarsten Ausdrucksformen auf verlegerischem oder politischem Gebiet, werde ich versuchen, eine Typologie der Haltungen dessen zu erstellen, was in diesem Kaleidoskop die Spezifizität des Schriftstellers ausmacht, gleichgültig, ob er nun auf die Bühne der Geschichte geschleudert wird oder ob er sich, im Gegenteil, von ihr zurückzieht: Was sind die Phantasmen, die obsessionellen Vorstellungen, ja, die Perversionen? 1 Landschaft Ich muß zunächst ein wenig die literarische Landschaft der Zeit beschreiben, ihre historische Gestalt und ihre Tropismen. Die sehr unterschiedlichen Einstellungen der französischen Schriftsteller von 1938-1939 sind nicht zu 1 George Orwell: „Review: The Road to Serfdom by F.A. Hayek, The Mirror of the Past by K. Zilliacus“, in: ders.: The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 3: As I please, 1943-1945, New York: Harcourt 1968, S. 118 (ursprünglich in Observer book review vom 9. April 1944). Jean-Pierre Martin 46 verstehen, wenn man sie nicht vor dem Horizont betrachtet, der ihnen allen gemeinsam ist, nämlich vor dem Hintergrund des französischen Syndroms Proust-Gide-Valéry. Seit dem Beginn des Jahrhunderts meint das in Frankreich die Vorstellung einer starken und prestigeträchtigen Schriftstellerpersönlichkeit sowie eines autonomen literarischen Milieus mit einer starken Tendenz zur littérature pure. In der Zwischenkriegszeit jedoch, und besonders in den 1930er Jahren, kehrt sich die Lage mit der Kraftprobe zwischen einer solchen Pflege der reinen Literatur auf der einen und der Sorge um das Politische auf der anderen Seite allmählich um. Kurz gesagt, die mit der zunehmenden Kriegsgefahr manifest werdende internationale Krise - von der in diesem Band die Rede ist - betrifft direkt die Art und Weise, wie die Literatur im kollektiven Imaginären Frankreichs verortet wird. Die sichtbarsten Zeichen einer zunehmenden Politisierung sind zugegebenermaßen die Parteizugehörigkeiten vieler Autoren - ob zum PCF (Parti communiste français) (Aragon und Nizan, dann Romain Rolland) oder zum PPF (Parti populaire français), der ‚einzigen wirklich faschistischen Partei, die Frankreich jemals hervorgebracht hat‘ 2 (Drieu La Rochelle, aber auch Marcel Jouhandeau, Ramon Fernandez und einige andere). Aber auch unabhängig von Parteizugehörigkeiten werden die Schriftsteller auf verschiedene Weise auf die politische Bühne befördert. Ein erstes Indiz ist das Auftauchen ihrer Namen in sich heftig befehdenden Zeitschriften. Auf der einen, der rechten Seite Candide, die erste politisch-literarische Zeitschrift in Frankreich (1924 vom Verlag Fayard gegründet), Gringoire und Je suis partout (beide 1930 gegründet), auf der anderen, der linken Seite Marianne (seit 1932 vom Verlag Gallimard finanziert) und Vendredi (1936 von Emmanuel Berl gegründet). Diese Zeitschriften sind alles andere als unbedeutend, wie die Auflagenzahlen im November 1936 bezeugen: Gringoire erreicht eine Auflage von 640.000, Candide von 340.000, Marianne von 120.000 und Vendredi von 100.000. 3 Ein weiteres Anzeichen ist selbstverständlich die Zunahme von politischen Schriften und besonders von Pamphleten: Jouhandeaus Le péril juif (1937), Célines Bagatelles pour un massacre (1937) und L’école des cadavres (1938), Gionos Précisions (dieses Buch - das einzige von Giono, das vollständig dem politischen Tagesgeschehen gewidmet ist -, erscheint im Januar 1939 im Verlag Grasset), Drieu la Rochelles Socialisme français und Avec Doriot, die 1934 und 1937 bei Gallimard erschienen sind. Zeitschriften und Bücher sind die Tribünen für die polemische Berufung der Schriftsteller und der intellektuellen Publizisten, auch für ihren Antisemitismus, der zu jeder Zeit wahnhaft, in diesen Jahren aber besonders lautstark ist. 2 Vgl. Jean Plumyène/ Raymond Lassierra: Les fascismes français (1923-1963), Paris: Plon 1963, S. 110. Zitiert in: Joseph Jurt: „L’engagement de Drieu et la structure du champ littéraire de l’entre-deux-guerres“, in: Drieu la Rochelle écrivain et intellectuel, hg. von Marc Dambre, Paris: Presses de la Sorbonne nouvelle 1995, S. 15-38, hier S. 35. 3 Vgl. Régis Debray: Le pouvoir intellectuel en France, Paris: Gallimard 1979, S. 117. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 47 Dennoch steht der Platz, der den Schriftstellern in den großen Zeitschriften eingeräumt wird, nicht im Widerspruch zur dominanten Position der Literatur im kulturellen Feld. In gewisser Weise wird diese Position dadurch sogar verstärkt, wenigstens für den Augenblick. Emmanuel Berl hat das rückblickend in einem Gespräch mit Patrick Modiano bestätigt: Qu’il s’agisse de Marianne ou même de Candide, la littérature était pour ces hebdomadaires la valeur suprême. Elle était presque plus importante que la politique […]. Voilà ce qui fait la différence avec les hebdomadaires actuels, où la littérature ne tient pas une très grande place. Les lecteurs achetaient Marianne pour lire le nouveau roman de Simenon ou de Colette. 4 Oder, so könnte man ergänzen, von Duhamel, Maurois, Morand, Martin du Gard, Giraudoux, James Cain… Kurz gesagt, der ‚Verrat der Intellektuellen‘ („la trahison de clercs“), von dem Julien Benda 1927 gesprochen hatte, um auszudrücken, daß die Intellektuellen unfähig seien, sich über die politischen Leidenschaften zu erheben, dieser Verrat ist weitgehend vollzogen. Es läßt sich eine Art Kontamination des Literarischen durch die Politik und die Ideologie feststellen. Die Aura der Literatur als Freistatt und als gegen die Zeitläufte geschützte Zitadelle wird durch die Faszination, die von den Ideologien ausgeht, in Bedrängnis gebracht. Es ist nicht mehr die Stunde des ‚Vorrangs des Geistigen‘, den Maritain 5 gefordert hatte. Maurice Sachs beschreibt den Generationeneffekt folgendermaßen: „[Cette génération] aime Maurras ou Marx, comme nous aimions Proust ou Gide. Et les idées majeures l’occupent comme nous occupaient des personnages de fiction.“ 6 Die politische Leidenschaft verbindet sich im günstigsten Fall mit der Begeisterung für den Messianismus, im schlimmsten Fall mit der Leidenschaft für die große Zuhörerschaft. Der Idealfall ist die Zugehörigkeit zu einer Partei und die regelmäßige Mitarbeit an einer Zeitung, wie Drieu la Rochelle bestätigt: „[A]vec mes articles, […] je touche toutes les semaines des centaines de milliers de personnes qui ne me liraient jamais si je n’étais pas au parti.“ 7 4 Emmanuel Berl/ Patrick Modiano: Interrogatoire, Paris: Gallimard 1976, S. 67. [Dt.: Ob man Marianne nimmt oder sogar Candide: die Literatur war für diese Wochenzeitschriften der höchste Wert. Sie war beinahe wichtiger als die Politik. <…> Das macht den Unterschied zu den heutigen Wochenzeitschriften aus, in denen die Literatur nicht sehr wichtig ist. Die Leser kauften Marianne, um den neuen Roman von Simenon oder von Colette zu lesen <…>]. 5 Vgl. Jacques Maritain: La primauté du spirituel, Paris: Plon 1927. 6 Maurice Sachs: Le Sabbat, Paris: Gallimard 1979, S. 187. Zitiert in Jurt: „L’engagement de Drieu“, Anm. 2, S. 26. [Dt.: Diese Generation liebt Maurras oder Marx, so wie wir Proust oder Gide liebten. Die großen Ideen beschäftigen sie, so wie uns Romanfiguren beschäftigten]. 7 Pierre Andreu gibt diesen Satz Drieus in seinen Memoiren wieder; vgl. ders.: Le Rouge et le Blanc 1928-1944, Paris: Table ronde 1977, S. 130-131; auch in Pierre Andreu/ Frédéric Grover: Drieu la Rochelle, Paris: Hachette 1979, S. 366. Zitiert in Jurt: „L’engagement de Drieu“, Anm. 2, S. 36. [Dt.: Mit meinen Artikeln erreiche ich jede Woche Hunderttausende von Personen, die mich niemals lesen würden, wenn ich nicht in der Partei wäre]. Jean-Pierre Martin 48 2 Haltungen Die politische Typologie der Schriftsteller von 1938-1939 erweist sich als komplex. Das Spektrum der Haltungen erschöpft sich nicht in den Positionen - für oder gegen das Münchener Abkommen, rechts oder links -, die jemand bekundet. Zunächst, weil die Motivationen so verwickelt sind wie diejenigen, die Proust für die Anhänger und die Gegner von Dreyfus beschreibt. Dann, weil ein Schriftsteller verschiedene, sich widersprechende Haltungen einnehmen kann. Schließlich und vor allem jedoch, weil ein Schriftsteller bis in seine Verirrungen und in sein Engagement hinein ein Schriftsteller bleibt, und damit eine Ausnahmeerscheinung. Man könnte eine erste, ziemlich einfache Unterscheidung treffen. Auf der einen Seite befinden sich die Schriftsteller, die, in unterschiedlichen Abstufungen, politisch engagiert sind, jene, die aktiv in einer Partei sind, die Proselyten, die Propheten und die Prediger, die an den kommunistischen Zeitungen mitarbeiten oder an den reißerischen Zeitungen der extremen Rechten (Gringoire…). Auf der anderen Seite sind die Vertreter der reinen Literatur zu erkennen, für die die Politik ein verachtetes Gebiet bleibt, dem man besser nicht zu nahe kommt. Aus dieser Sicht fände man am einen Ende des Spektrums solche bereits in die Zeitgeschichte verwickelten Gestalten wie Céline, Giono, Bernanos oder Drieu la Rochelle. Am anderen Ende stünde der Sartre der Vorkriegszeit neben Michaux. Wie wir sehen werden, neigen diese Unterscheidungen dazu, zu verschwinden oder sich zumindest zu nuancieren und manchmal zu verwischen. Es ist deshalb sinnvoll, ein wenig impressionistisch zu verfahren, wenn man dem Spektrum die eine oder andere Nuance hinzufügen will. Man sollte auch jeweils die Generationen berücksichtigen: die Reaktion eines Benjamins wie Camus (der 1938 25 Jahre alt ist) kann unter diesem Aspekt nicht auf einer Ebene mit der eines Älteren wie Gide (der zur gleichen Zeit 62 Jahre alt ist) betrachtet werden. Ich möchte jedenfalls die folgenden Kategorien unterscheiden: die Zurückgezogenen, die verhandelnden Vermittler, die Mutanten, die schwankenden Hypersensiblen und die in Hitler Verliebten. Zwischen diesen Kategorien gibt es Konversionen und Übergänge, und natürlich verändern sie sich auch. 2.1 Die Zurückgezogenen Die Zurückgezogenen haben sich für den Bunker entschieden. Für sie kommt es einer Beleidigung gleich, daß die Geschichte nun im Vordergrund steht. In ihren Augen zielt die internationale Krise auf die Literatur selbst, auf ihr Bild und auf ihre Autonomie. Der Zurückgezogene neigt dazu, den drohenden Krieg wie einen gegen ihn persönlich gerichteten Angriff zu betrachten. Sein Gespür für die Katastrophe antizipiert und verinnerlicht ein albtraumhaftes Szenario: eine Bedrohung lastet auch und vielleicht ganz besonders über seinen eigenen Manuskripten, über deren Veröffentlichung, über seinem schriftstellerischen Werden, das, als ausnehmend individuelles, Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 49 durch das herdenähnliche ‚Wir‘ des Konflikts gefährdet ist. Er ahnt außerdem, daß, unter dem Aspekt der literarischen Individualität, die Okkupation bereits begonnen hat: ist die allgemeine Krisenversessenheit nicht schon dabei, mehr als je die Macht und den Kredit der Literatur zu schwächen? Auf seine Art ist der zurückgezogene französische Schriftsteller von 1938 bereits in den Widerstand eingetreten. Dabei praktizieren die Zurückgezogenen durchaus unterschiedliche Arten von Literatur. Ende 1938 bedauert Michaux, der in Paris geblieben ist, daß man ‚nur von Politik und Faschismus‘ („que de politique et de fascisme“) 8 rede. Er würde sich gerne weiter nur auf seiner eigenen Insel aufhalten können. Doch auch Simenon, sein ansonsten sehr andersartiger belgischer Landsmann, würde sich unter den gegebenen Umständen - er wird, wie Michaux, in seiner Eigenschaft als belgischer Staatsbürger Hausarrest erhalten - gerne den Status des ‚homme de lettres‘ bewahren. Im Dezember 1939 schreibt er an Gide: „[…] j’avoue, honteux, que je suis plus anxieux de votre avis que du communiqué.“ 9 Pierre Assouline zeigt in seiner Biographie, daß Simenon auch nach dem 3. September 1939 ein zurückgezogener Schriftsteller bleibt. 10 Gide ist zur selben Zeit ein anderes Beispiel für einen Zurückgezogenen, nämlich den Zurückgezogenen aus Überdruß, der einst ein reiner Literat war (denken wir nur an seine Reaktion auf Bernard Lazare, der ihn während der Affäre um Unterstützung für Dreyfus ersucht hatte: „voilà quelqu’un qui met quelque chose au-dessus de la littérature“), sich dann kurzzeitig engagierte und nun müde ist. Denn Gide ist seines alten Engagements überdrüssig geworden. Nach dem Retour d’URSS und den Retouches hat er die Politik so gut wie aufgegeben. Er sieht sich nun lieber als zurückgenommenen Beobachter und schreibt in diesem Sinne Anfang Oktober 1938 in sein Tagebuch: A quoi bon redire à mon tour ce qu’on lit dans tous les journaux. Ma voix très incertaine ne peut que se perdre en se fondant dans ce concert. S’il me paraît indécent de parler d’autre chose, mieux vaut se taire. Et pourtant le domaine où mon esprit retrouve sa valeur reste inenvahissable; et je n’ai même pas à chercher à le mettre à l’abri. Je n’ai pas à m’y réfugier; c’est tout naturellement que j’y vis, que j’y respire. 11 8 Henri Michaux: Brief an Guiette von Ende 1938 (Privatarchiv); vgl. Jean-Pierre Martin: Henri Michaux, biographie, Paris: Gallimard 2003, S. 310. 9 Brief von Simenon an Gide (Nieul, Dezember 1939). Zitiert in: Georges Simenon/ André Gide: …sans trop de pudeur. Correspondance 1938-1950, hg. von Benoît Denis, Paris: Omnibus 1999, S. 49-51, hier S. 51. [Dt.: ich gebe verschämt zu, daß ich Ihre Meinung mit größerer Sorge erwarte als die Regierungsmitteilung]. 10 Vgl. Pierre Assouline: Simenon, Paris: Gallimard 1996, besonders das Kapitel „S’engager? 1939-1940“ ( S. 373-408). 11 André Gide: Journal 1889-1939, Paris: Gallimard (Pléiade) 1951, S. 1323 (Eintrag vom 7.10.1938). [Dt. nach der Ausgabe André Gide: Tagebuch 1923-1939, hg. von Peter Schnyder. Aus dem Französischen übertragen von Maria Schäfer-Rümelin, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1991 <Gesammelte Werke III. Autobiographisches. Bd. 3>, Jean-Pierre Martin 50 Oder am 30. Oktober 1939: „Les journaux déjà contiennent assez d’aboiements patriotiques. […] je ne veux pas avoir à rougir demain de ce que j’écrirais aujourd’hui.“ 12 Gleichzeitig bewahrt sich Gide jedoch, trotz eines Gefühls der Ohnmacht, aus seinen Jahren des Engagements eine Art moralischen Bewußtseins: „Depuis le 22 septembre, nous avons traversé des jours d’angoisse dont ‚on‘ pourra s’étonner de ne trouver aucun reflet ici. Mais celui-là se tromperait grandement, qui, de mon silence, conclurait à certaine indifférence pour la chose publique.“ 13 Trotz eines Appells in Form eines Briefes von Jef Last, der in den Münchener Verhandlungen eine ‚beschämende Niederlage‘ („défaite honteuse“) sieht, versucht der davon stark beeindruckte Gide seinen Optimismus aufrechtzuerhalten. Er kommentiert in seinem Tagebuch: „L’Allemagne eût-elle cédé devant une attitude plus ferme, ou du moins devant une fermeté moins tardive? Une guerre eût-elle assuré le triomphe de la justice? ou seulement celui de la force brutale? “ 14 Ein weiterer, eigenartiger Fall eines vorübergehend Zurückgezogenen ist Raymond Queneau, der von 1931 bis 1933 Mitglied in Boris Souvarines Cercle communiste démocratique war und an dessen Zeitschrift La Critique sociale mitarbeitete. Wenige Tage vor seiner Einberufung notiert er am 22. August 1939 in seinem Tagebuch: Lectures anglaises, grec, géométrie. Travaillé dans les 10, 12 heures, mais pas de GDP [Gueule de Pierre II, 1941 unter dem Titel Les temps mêlés erschienen]. L’annonce de la signature d’un pacte de non agression germano-russe, le rappel de permissionnaires troublent les populations. Je continue à me refuser à l’emprise de ces incidents, à collaborer au mensonge politique. Que si la guerre éclatait, je trouverais personnellement (vis-à-vis de moi-même; en tant que petit individu) assez drôle qu’il en soit ainsi au moment où, couronnant 6 ans de psychanalyse (6 ans avec interruption), je vais enfin ‚gagner ma vie‘ - et où la S. 697: „Warum soll ich meinerseits wiederholen, was man in allen Zeitungen lesen kann? Meine sehr unsichere Stimme kann, wenn sie sich in dieses Konzert mischt, nur untergehen. Wenn es mir unangebracht erscheint, von etwas anderem zu sprechen, halte ich besser den Mund. Und doch bleibt der Bereich, woraus mein Geist seinen Wert schöpft, uneinnehmbar; und ich brauche ihn nicht einmal abzusichern. Ich muß mich nicht dahin zurückziehen; ganz natürlich lebe, atme ich darin“]. 12 André Gide: Journal 1939-1949, Paris: Gallimard (Pléiade) 1954, S. 11 (Eintrag vom 30.10.1939). [Dt. nach der Ausgabe André Gide: Tagebuch 1939-1949 <…>, hg. von Raimund Theis. Aus dem Französischen übertragen von Maria Schäfer-Rümelin <…>, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1990 <Gesammelte Werke IV. Autobiographisches. Bd. 4>, S. 39-40: „Die Zeitungen enthalten schon genug patriotisches Gezeter. <…> ich will aber morgen nicht über das erröten müssen, was ich heute schreibe“]. 13 Gide: Journal 1889-1939, Anm. 11, S. 1322-1323 (Eintrag vom 7.10.1938). [Dt. nach Gide: Tagebuch 1923-1939, Anm. 11, S. 696: „Seit dem 22. September haben wir angstvolle Tage durchlebt, und ‚man‘ könnte sich wundern, hierin nichts darüber wiederzufinden. Derjenige würde sich aber gewaltig täuschen, der aus meinem Schweigen auf eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚öffentlichen Leben‘ schließen würde“]. 14 Ebd., S. 1323 (Eintrag vom 7.10.1938). [Dt. Ausgabe, ebd., S. 697: „Hätte Deutschland einer festeren Haltung oder wenigstens einer nicht so verspäteten Entschlossenheit nachgegeben? Hätte ein Krieg der Gerechtigkeit den Sieg gebracht? Oder doch nur der brutalen Gewalt? “]. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 51 publication de mon roman [Un rude hiver] dans la NRF peut ressembler à une reconnaissance. Qu’une modeste réussite m’échappe grâce à une guerre, serait assez réjouissant. Il ne faut pas subir le destin comme moutons allant à l’abattoir. Cela manque de dignité. Mais il ne faut pas se laisser corrompre par la fermentation du mensonge. Et tout de même voir la ‚réalité‘. La paix de l’esprit conciliable avec l’état de guerre? Je fais du grec, de la géométrie; je regarde les étoiles; et ne lis guère les journaux. 15 Es ist offensichtlich, daß für Simenon und Michaux auf der einen und Gide und Queneau auf der anderen Seite der Rückzug nicht die gleiche Bedeutung hat. Man müßte sicherlich unterscheiden zwischen demjenigen, dem der Rückzug gewissermaßen angeboren ist (Michaux), demjenigen, der sich aus Skepsis zurückzieht und von spirituellen Krisen geplagt wird, die ihn von der Geschichte und der Politik entfernen (Queneau), und demjenigen, der sich aus Ohnmacht zurückzieht (Gide). Daneben kann der in seinen Bunker zurückgezogene Schriftsteller auch den Napoleon in sich entdecken und sich in die Rolle des großen Strategen hineinphantasieren. Der Kommandant Queneau beispielsweise zimmert sich eine Theorie des Siegs (im Krieg oder bei einer Revolution) zurecht, die auf dem Verrat aufbaut. Der General Michaux vertritt in einem Brief an Paulhan vom 30. Mai 1940 den Nervenkrieg und große parapsychische Manöver: Tu me demandes ce que je pense. La colère pense en nous. Et elle pense juste. Elle pense que le style des alliés est gentil est classique. Mais ils veulent gagner la guerre: 1 haine 2 imagination. Ne parlons pas du courage, puisqu’il est là. […] Si Coblence et quelques autres villes rhénanes ont été détruites, qu’on nous le fasse savoir. Ça nous fera du bien. Quant au 2, remarque que les victoires d’Hitler depuis des années sont des victoires d’un imaginatif sans passion. Lui aussi a dû vaincre ses bureaucrates et commander à ses techniciens. Le mauvais peintre a-t-il plus d’imagination que nous? Quand aurons-nous en ‚affectation spéciale‘ des inventeurs libres avec ingénieur à leurs ordres? Je prétends pouvoir porter trente divisions en Bavière et sur le Rhin sans perdre mille hommes. Wells et quelques autres le pensent aussi, employés convenablement. Qu’on nous laisse faire la 15 Raymond Queneau: Journaux 1914-1965, hg. von Anne Isabelle Queneau, Paris: Gallimard 1996, S. 369. [Dt.: Englische Lektüre, Griechisch, Geometrie. Arbeite zehn bis zwölf Stunden, aber nicht an Gueule de Pierre. Die Bekanntgabe der Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, der Rückruf von Soldaten auf Heimaturlaub beunruhigen die Bevölkerung. Ich verweigere mich weiter dem Zugriff der Ereignisse, weigere mich, an der politischen Lüge teilzuhaben. Ich fände es persönlich (vor mir selbst, als kleines Individuum) ziemlich witzig, wenn, falls der Krieg ausbricht, das genau in dem Moment geschehen sollte, in dem ich, als Krönung von sechs Jahren Psychoanalyse (sechs Jahre mit Unterbrechung), endlich ein geregeltes Einkommen haben werde - und wo die Veröffentlichung meines Romans [Un rude hiver] in der Nouvelle Revue française wie eine Anerkennung aussehen könnte. Wenn mir ein bescheidener Erfolg dank eines Kriegs durch die Lappen ginge, wäre das ziemlich lustig. Man darf das Schicksal nicht erdulden wie die Schafe, die zum Schlachthof gehen. Das ist würdelos. Aber man darf sich nicht von der Gärung der Lüge korrumpieren lassen. Und muß trotzdem die ‚Wirklichkeit‘ sehen. Ist der Frieden des Geistes mit dem Kriegszustand vereinbar? Ich mache Griechisch, Geometrie; ich betrachte die Sterne und lese kaum die Zeitungen]. Jean-Pierre Martin 52 guerre des nerfs aux Allemands et je leur fais 20 millions de névrosés en trois mois. Abandonnera-t-on éternellement aux autres les nouvelles armes? […] Je ne comprends pas cette manière de passéistes. S’il n’y avait que des coalitions de moutons pour éloigner les tigres… 16 Zu den Zurückgezogenen dieser Jahre muß man Sartre rechnen, der damals noch ein Schriftsteller nach dem dominanten Modell ist und sich der reinen Literatur widmet. Sartre, der in seiner Schwerfälligkeit auch durch einen Aufenthalt in Berlin 1933-1934 (nach dem Reichstagsbrand) nicht gestört worden war, trägt drei Feldtaschen mit Manuskripten bei sich, als er am 21. Juni 1940 zum Kriegsgefangenen wird: Das Leben in der Garnison hat er produktiv genutzt. Nach L’âge de raison und L’être et le néant schreibt er von 1941 bis 1944 an Le sursis (Der Aufschub), wo er am Ende des Romans die Rückkehr Daladiers auf dem Flughafen von Le Bourget nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens schildert (denn mit dem Aufschub ist auch ‚München‘ gemeint). Am 16. Mai 1940, sechs Tage nach dem Beginn der deutschen Offensive, bleibt es Sartres größte Sorge, seinen Roman so schnell wie möglich fertigzustellen („finir au plus vite“). Deshalb ist er auch über den Aufschub, den er erhält, nicht unglücklich. An Louise Védrine schreibt er Ende August 1939: „Je ne crois pas vraiment à la guerre.“ 17 2.2 Die verhandelnden Vermittler Die Vermittler meinen noch immer, man könne, zumindest als Großschriftsteller, mit Hitler oder Stalin reden und vor allem auf sie einwirken. Für diese Haltung gibt es in allen Lagern verschiedene Beispiele: Camus, Romain Rolland, Giono, Malraux. Romain Rolland, der mit seinem Eintritt in den PCF 1933 den Pazifismus aufgegeben und sich von Giono und Alain getrennt hat, sendet ein Telegramm an Daladier. Camus schreibt unter dem 16 Henri Michaux: An Jean Paulhan (unpublizierter Brief vom 30.5.1940), IMEC, fonds Paulhan; vgl. dazu Martin: Henri Michaux, Anm. 8, S. 332-333. [Dt.: Du fragst mich, was ich denke. Die Wut denkt in uns. Und sie denkt richtig. Sie denkt, daß der Stil der Alliierten nett und klassisch ist. Aber wenn sie den Krieg gewinnen wollen: 1 Haß 2 Einbildungskraft. Reden wir nicht von Mut, denn der ist vorhanden. <…> Wenn Koblenz und einige andere Städte am Rhein zerstört worden sind, dann soll man uns das mitteilen. Das wird uns gut tun. Was 2 betrifft, bedenke, daß die Siege Hitlers seit Jahren die Siege eines Einfallsreichen ohne Leidenschaft sind. Auch er mußte seine Bürokraten überwinden und seinen Technikern befehlen. Hat der miese Maler mehr Einbildungskraft als wir? Wann werden wir als ‚Spezialabteilung‘ freie Erfinder haben, denen Ingenieure unterstellt werden? Ich behaupte, daß ich dreißig Divisionen nach Bayern und an den Rhein bringen kann, ohne auch nur tausend Mann zu verlieren. Wells und einige andere denken das auch, wenn man sie nur angemessen einsetzt. Man lasse uns einen Nervenkrieg gegen die Deutschen führen, und ich liefere ihnen zwanzig Millionen Nervengeschädigte in drei Monaten. Wird man die neuen Waffen ewig den anderen überlassen? <…> Ich verstehe diese überholte Vorgehensweise nicht. Wenn es nur Koalitionen von Schafen gäbe, um die Tiger fernzuhalten…]. 17 Zitiert in Jean-François Sirinelli: Sartre et Aron, deux intellectuels dans le siècle, Paris: Hachette 1995, S. 147-148. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 53 Pseudonym Vincent Capable am 1. Januar 1939 in Alger Républicain: „Faut-il converser avec Hitler? … Je suis plutôt pour les conversations, à condition qu’elles ne s’arrêtent jamais.“ 18 Giono seinerseits geht so weit, daß er ernsthaft eine Unterredung mit dem deutschen Diktator in Erwägung zieht. 19 Malraux hingegen schlägt Beucler vor, unter größter Geheimhaltung Stalin zu besuchen 20 (er war bereits 1934 mit Gide nach Berlin gereist, um bei Goebbels zugunsten von Dimitrow zu intervenieren). 2.3 Die Mutanten Die Mutanten sind diejenigen, die beginnen, Abstriche am literarischen Priestertum zu machen, die von der Geschichte eingeholt werden und einem Wandel in sich selbst beiwohnen: ‚München, oder: wie die Politik in mein Leben trat‘. Aber es handelt sich meist um eine langsame und geräuschlose Konversion. Sartre, als noch Zurückgezogener, der selbst von seinem ‚Apolitismus, der sich gegen jede Form von Engagement sträubt‘ („apolitisme réfractaire à tout engagement“) 21 spricht, ist auch ein Mutant. Ab 1938 beginnt er vermutlich zu erkennen, wie sehr die Rettung durch die Literatur (das, was er später mit Blick auf Flaubert und Mallarmé als literarisches Engagement bezeichnen wird) eine überholte Utopie ist. Die Politik ist übrigens schon in sein Werk eingedrungen: Er arbeitet gerade an L’enfance d’un chef, wo er anhand der Figur Lucien Fleurier zeigt, wie man zum Antisemiten wird. An Simone de Beauvoir schreibt er außerdem im September 1938 einen außerordentlich politischen Brief, in dem er - anders als der Rest seiner Familie - die Feigheit Frankreichs stark bedauert, dabei aber einen recht heiteren Ton bewahrt: „C’est ici qu’il faudrait peut-être, mon charmant Castor, glisser quelques renseignements sur la situation. […] Victoire d’Hitler sur toute la ligne. […] C’est une véritable victoire du fascisme.“ 22 Später erklärt er gegenüber Michel Contat: „J’étais déchiré entre mon pacifisme individualiste et mon antinazisme.“ 23 Was die Mutationen angeht, die sich als Konversionen ausgeben, sollten wir uns jedoch hüten, den aus dem Rückblick geschriebenen Berichten aufs 18 Zitiert nach Olivier Todd: Camus. Une vie, Paris: Gallimard 1996, S. 196. [Dt.: Soll man mit Hitler reden? … Ich bin eher für Gespräche, unter der Bedingung, daß sie niemals aufhören]. 19 Vgl. die Einleitung von Pierre Citron zu Précisions in Jean Giono: Récits et essais, Paris: Gallimard (Pléiade) 1989, S. 1182-1188. 20 Curtis Cate: Malraux, Paris: Flammarion 1994, S. 339-340. 21 Jean-Paul Sartre: Situations IV, Paris: Gallimard 1964, S. 182. 22 Jean-Paul Sartre: Lettres au Castor et à quelques autres, éd. par Simone de Beauvoir, Bd. 1: 1926-1939, Paris: Gallimard 1990, S. 210-216. [Dt.: An dieser Stelle müßte man vielleicht, mein bezaubernder Castor, ein paar Bemerkungen zur Lage einfließen lassen. <…> Sieg Hitlers auf der ganzen Linie. <…> Das ist ein wahrhaftiger Sieg des Faschismus]. 23 Jean-Paul Sartre: Situations X, Paris: Gallimard 1976, S. 178. [Dt.: Ich war hin- und hergerissen zwischen meinem individualistischen Pazifismus und meinem Antinazismus]. Jean-Pierre Martin 54 Wort zu glauben. Simone de Beauvoir, die im Frühjahr 1939 an L’Invitée arbeitete, spricht in ihren Erinnerungen nur sehr vorsichtig von den Umständen ihrer Konversion: Il n’est pas possible d’assigner un jour, une semaine, ni même un mois à la conversion qui s’opéra alors en moi. Mais il est certain que le printemps 39 marque dans ma vie une coupure. Je renonçai à mon individualisme, à mon antihumanisme. J’appris la solidarité. […] En 1939, mon existence a basculé d’une manière [aussi] radicale: l’histoire m’a saisie pour ne plus me lâcher; d’une part, je m’engageai à fond et à jamais dans la littérature. Une époque se fermait. Cette période que je viens de raconter m’a fait passer de la jeunesse à la maturité. 24 2.4 Die schwankenden Hypersensiblen Bei den schwankenden Hypersensiblen muß man immer damit rechnen, daß sie ihre Meinung innerhalb weniger Monate oder Tage ändern. Gide, der immer in der Lage ist, sich zu empören, ‚der vibriert wie die Membran eines Mikrophons‘ („vibrant comme le disque d’un microphone“) 25 , ist 1940 zunächst begeistert von der ersten Rede Pétains und wenige Tage später empört über die zweite. 26 François Mauriac ist seinerseits von Pétains Reden vom 23. und 25. Juni 1940 zu Tränen gerührt, ändert dann aber bald seine Ansicht und seine Gefühle. Sollte man die Überläufer zu den schwankenden Hypersensiblen rechnen? Jean Cocteau war zunächst Leitartikelschreiber bei Espoir unter der Leitung von Aragon. Er war gegen den Faschismus, gegen Franco, war Verfasser eines Artikels über Guernica, und wird dennoch zum Pétainanhänger, der in den regimetreuen Zeitschriften La Gerbe und Comœdia veröffentlicht, um nach dem Krieg zum Sympathisanten des PCF zu werden. Genau genommen ist Cocteau eine ganz eigene Spezies, so wie auch Montherlant, der spätere Vichy-Anhänger, der sich vor dem Krieg in L’équinoxe de septembre noch als vehementer Gegner des Münchener Abkommens gezeigt hatte. 24 Simone de Beauvoir: La force de l’âge, Paris: Gallimard 1960, S. 409. [Dt. nach Beauvoir: In den besten Jahren. Erinnerungen, Aus dem Französischen von Rolf Soellner, Berlin: Verlag Volk und Welt 1977 <Lizenzausgabe nach der Ausgabe Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961>, S. 416-417: „Ich kann nicht sagen, an welchem Tag, in welcher Woche, nicht einmal, in welchem Monat ich diese Bekehrung durchmachte. Aber es ist sicher, daß das Frühjahr 1939 einen Einschnitt in meinem Leben bedeutete. Ich verzichtete auf meinen Individualismus, auf meinen Antihumanismus. Ich erlernte die Solidarität. <…> 1939 vollzog mein Leben eine ebenso radikale Schwenkung: Die Geschichte griff nach mir und ließ mich nicht mehr los. Andererseits verschrieb ich mich kompromißlos und auf immer der Literatur. Eine Epoche ging zu Ende. In dem Zeitraum, den ich geschildert habe, vollzog ich den Übergang von der Jugend zum reiferen Alter“]. 25 Roger Martin du Gard: Journal II, 1919-1936, hg. von Claude Sicard, Paris: Gallimard 1993, S. 514 (Eintrag vom 24.6.1926). Zitiert nach Michel Winock: Le siècle des intellectuels, Paris: Seuil 1997, S. 223. 26 Gide: Journal 1939-1949, Anm. 12, S. 29. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 55 2.5 Die in Hitler Verliebten Queneau notiert am 25. Juli 1940 in seinem Tagebuch: „Depuis septembre 38, il n’est que trop clair que les Français sont amoureux d’Hitler; et je ne parle pas des traîtres patentés dont quelques-uns sont au pouvoir.“ 27 Französische Schriftsteller, die 1938 wirklich in Hitler verliebt sind, sind sicher eher selten, weniger selten hingegen ist eine verständnisvolle, wenn nicht sogar bewundernde Haltung, die bei einigen entsteht, weil sie Mein Kampf nicht gelesen haben, bei anderen gerade, weil sie es gelesen haben. Gide notiert am 20. Mai 1933 in seinem Tagebuch: „Excellent discours de Hitler au Reichstag. Si le hitlérisme ne s’était jamais fait connaître autrement, il serait mieux que simplement acceptable.“ 28 Giraudoux, der 1939 57 Jahre alt ist und der von Regierungschef Daladier soeben zum Leiter einer eigens eingerichteten Propagandaabteilung („Commissaire général à l’Information“) ernannt worden ist, schreibt in Pleins pouvoirs: „[…] nous sommes pleinement d’accord avec Hitler pour proclamer qu’une politique n’atteint sa forme supérieure que si elle est raciale […].“ 29 Und selbst in der Nouvelle Revue française, noch unter Jean Paulhans Leitung, kann man aus der Feder von Jacques Chardonne lesen: „L’effort de régénération prendra chez l’Allemand la forme de révolte contre le Juif. Cette victoire sur soi-même, opposée à l’esprit juif, est incarnée par Hitler.“ 30 Von Rebatet, Jouhandeau, Céline, Brasillach, Montherlant, Morand, Drieu und anderen ganz zu schweigen… Die Kollaboration hat in mancherlei Hinsicht schon vor der Okkupation begonnen. Bernanos notiert im Blick auf Maurras und einige andere im Oktober 1940 auf seiner brasilianischen Fazenda: „Il y a en France un parti allemand. Je ne dis pas seulement une opinion favorable à l’Allemagne, je dis un parti allemand, je pourrais presque écrire une foi allemande.“ 31 1938 ist die Lage der in Hitler Verliebten allerdings komplizierter. Den rechtsextremen Anhängern des Münchener Abkommens - wie Maurras - stehen die 27 Queneau: Journaux, Anm. 15, S. 490. [Dt.: Seit September 38 ist es nur zu deutlich, daß die Franzosen in Hitler verliebt sind - und ich spreche nicht von den berufsmäßigen Verrätern, von denen einige an der Macht sind]. 28 Gide: Journal 1889-1939, Anm. 11, S. 1169. [Dt. nach Gide: Tagebuch 1923-1939, Anm. 11, S. 521: „Ausgezeichnete Rede Hitlers im Reichstag. Wenn sich der Hitlerismus niemals anders gezeigt hätte, wäre er mehr als nur akzeptabel“]. 29 Jean Giraudoux: Pleins pouvoirs, Paris: Gallimard 1939, S. 76. [Dt.: Wir sind vollkommen einverstanden mit Hitler und erklären, daß eine Politik ihre höchste Form erst erreicht, wenn sie Rassenpolitik ist]. 30 Jacques Chardonne: „Politique“, in: Nouvelle Revue française 305 (Februar 1939), S. 193- 211, hier S. 207. [Dt.: Der Kampf um die Regeneration wird beim Deutschen die Form einer Revolte gegen den Juden annehmen. Dieser dem jüdischen Geist entgegengesetzte Sieg über sich selbst wird von Hitler verkörpert]. 31 Georges Bernanos: Le chemin de la croix des âmes, in: ders.: Essais et écrits de combat, Bd. 2, hg. von Michel Estève, Paris: Gallimard (Pléiade) 1995, S. 264. [Dt.: Es gibt in Frankreich eine deutsche Partei. Ich sage nicht nur: eine deutschlandfreundliche Stimmung, ich sage: eine deutsche Partei, ich könnte beinahe schreiben: einen deutschen Glauben]. Jean-Pierre Martin 56 rechtsextremen Gegner des Abkommens - wie Drieu la Rochelle - gegenüber. 2.5.1 Drieu la Rochelle Für Drieu muß man eine eigene Kategorie, eine zoologische Spezies für ihn allein bilden. Schon 1934 war der anglophile Drieu in Berlin während eines vom Comité d’entente de la jeunesse pour le rapprochement franco-allemand organisierten Besuchs jungen SA- und SS-Männern begegnet. Ein Jahr später wohnte er - am 11. September 1935 - begeistert dem Reichsparteitag in Nürnberg bei: Que d’élan, de force de joie ici. […] Il y a une espèce de volupté virile qui flotte partout, qui n’est pas sexuelle mais très enivrante. Il y a une générosité dans cette foule qui se donne entièrement. Mon cœur tressaille, s’affole. Ah! ce soir je meurs, je meurs de passion. 32 Er sieht 50000 junge Menschen defilieren: „Une tragédie antique: c’était écrasant de beauté.“ 33 An anderer Stelle vergleicht er die Aufmärsche mit dem russischen Ballett. Drieu ist offensichtlich von der Ästhetisierung der Politik fasziniert, die Walter Benjamin als ein entscheidendes Merkmal des Faschismus beschrieben hat. 34 Seine Deutschlandreise führt ihn am 14. September 1935 auch nach Dachau 35 , bevor er mit Empfehlungsschreiben von Malraux und Nizan in die UdSSR weiterreist. Mehr als um Drieu und Hitler geht es dabei aber wohl um Drieu und den französischen Faschismus, um den Selbsthaß des Intellektuellen, der im Volk seinen ‚Führer‘ sucht. Ab 1936 ist Drieu im rechtsextremen PPF aktiv, auf dessen Versammlungen man ihn in Hemdsärmeln neben Parteichef Doriot mit Hosenträgern sieht. Er verfaßt in jenem Jahr eine Propagandabroschüre, Doriot ou la vie d’un ouvrier français, erschienen bei den Éditions populaires françaises, in der er schreibt: Doriot est grand, gros et fort; il sue beaucoup. Il a des lunettes, ce qui est regrettable; mais quand il les retire on voit qu’il sait regarder. […] Quand on le voit, on se dit qu’il y a encore des Français costauds et qui peuvent dominer la situation. 36 32 Zitiert nach Andreu/ Grover: Drieu la Rochelle, Anm. 7, S. 339. [Dt.: Welch ein Elan, welch eine Kraft der Freude hier herrscht. <…> Eine Art männlicher Wollust, die nicht geschlechtlich ist, aber trunken macht, weht überall. Es liegt eine Großzügigkeit in dieser Menge, die sich vollkommen hingibt. Mein Herz erzittert und ist wie von Sinnen. Ach, heute abend sterbe ich, ich sterbe vor Leidenschaft]. 33 Zitiert nach ebd., S. 339. [Dt.: Eine antike Tragödie. Es war von erschlagender Schönheit]. 34 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/ 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 435-469, besonders S. 469. 35 Vgl. Andreu/ Grover: Drieu la Rochelle, Anm. 7, S. 340. 36 Drieu la Rochelle: Avec Doriot, Paris: Gallimard 1937, S. 20. Zitiert nach Jurt: „L’engagement de Drieu“, Anm. 2, S. 35. [Dt.: Doriot ist groß, dick und stark; er schwitzt sehr viel. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 57 Drieu beklagt die Dekadenz, den Verfall eines Landes, in dem ‚der Apéritif jeden Abend vollkommen sicher ist, bis zum Tod‘ („où l’apéro est absolument assuré tous les soirs jusqu’à la mort“). 37 Ihn zieht ein nationaler Sozialismus an, ein sozialistischer Faschismus, der den Weg zum Kommunismus bereitet. Obwohl er fasziniert ist von der Vorstellung eines Europa, das ein einziges großes Sparta wäre, unter der Führung eines religiösen Ordens, einer Naziaristokratie, ist er doch ein Gegner des Münchener Abkommens. Am 14. Oktober 1938 richtet er in L’Émancipation nationale, der Wochenzeitung des PPF, einen offenen Brief an Daladier: „Vous êtes revenu de Munich couvert de honte.“ 38 Und wenig später, am 6. Januar 1939, erklärt er in einem Brief an Doriot seinen Austritt aus dem PPF, da die Partei das Münchener Abkommen befürwortet. 1943 tritt er der Partei allerdings wieder bei. Auf der anderen Seite findet man Bernanos, den Propheten der Niederlage, der das ‚Te Deum der Feiglinge‘ („le Te Deum des lâches“) und die Politik des ‚Friedens um jeden Preis, nämlich um den der Feigheit‘ („la paix à tout prix, c’est-à-dire de la lâcheté“) 39 verspottet, und der verbittert ist über die ‚unwürdige Freude der Franzosen‘, über die ‚feige Erleichterung‘ („la joie ignoble des Français, le lâche soulagement“) 40 . Für den freiwilligen Exilanten Bernanos, der schon vor September 1938 nach Paraguay und dann nach Brasilien ausgewandert war, ist ‚München‘ ein ‚häßliches Datum in der Geschichte unseres Volks‘ („une date hideuse dans l’histoire de notre peuple“). 41 3 Phantasmen Bis jetzt habe ich von den Schriftstellern gesprochen, als ob sie nur Haltungen hätten. Ihr Verhältnis zur Geschichte und zur Politik ist aber immer einzigartig, wesentlich emotional geprägt, phantasmatisch, kannibalisch oder allegorisch. Jeder Schriftsteller macht sich die Konvulsionen der Geschichte zu eigen und schließt sie mit den Idiosynkrasien seiner geistigen Privatmythologie kurz. Jeder betrachtet den Krieg als eine Episode seines eigenen Kampfes. Im Krieg stellt sich jeder einen anderen Krieg vor: seinen eigenen Krieg, in dem sich die Obsessionen eines galoppierenden Verfolgungswahns oder eines inneren Exils fortsetzen und in dem sich der Gegensatz zwischen einem ahistorischen, rein poetischen Imaginären und der Geschichte in allen Köpfen verlängert. Drieus Phantasma scheint sich auf Er trägt eine Brille, was bedauerlich ist, aber wenn er sie abnimmt, sieht man, daß er zu schauen versteht. <…> Wenn man ihn sieht, sagt man sich, daß es noch starke Franzosen gibt, die die Lage in den Griff bekommen können]. 37 Drieu la Rochelle: Journal 1939-1945, Paris: Gallimard 1992, S. 320. 38 Dt.: Sie sind aus München mit Schande bedeckt zurückgekehrt. 39 Georges Bernanos: „Lettre aux Anglais“ [1940], in: ders.: Essais et écrits de combat, Bd. 2, Anm. 31, S. 1-197, hier S. 69 und 166. 40 Ebd., S. 46. 41 Ebd., S. 42. Jean-Pierre Martin 58 diese Weise in der historischen Situation zu erschöpfen und daran zu nähren: „Je ne veux plus vivre que dans l’extrême. Comment ai-je pu patienter de si longs moments? “ 42 Ähnlich verhält es sich mit Gionos Phantasma einer ‚Bauerngefahr‘ („danger paysan“), von der er 1935 spricht. Dieser irrationale Glaube an eine kommende Bauernrevolte, die eine Zeit des ‚Terrors und der kulturellen Zerstörung‘ („terreur et de destruction culturelle“) 43 einleiten werde, ist bei ihm ganz offensichtlich Teil eines literarischen Mythos. So engagiert Drieu und Giono auch anscheinend sein mögen, keiner von beiden gibt jemals das wirklich auf, was man als den unveräußerlichen Körper des Schriftstellers bezeichnen könnte, und der ein apolitischer Körper ist. Beide sehnen sich unausgesetzt nach der Zurückgezogenheit und empfinden Abscheu vor dem Politischen. Es ist deshalb eine Herausforderung und eine andere Form von Abscheu, die von einem geschlossenen, unbeweglichen System der Literatur ausgeht, die sie in die entgegengesetzte Richtung treibt. Drieu schreibt am 3. November 1939 in seinem Tagebuch: Plus de politique. Non, plus de politique. Je me suis parfois dit cela. C’est ce qu’il y a en moi de plus facile. Mais par modestie, sagesse, tact, n’aurais-je pas dû m’en tenir à ma facilité? C’était ce qui risquait de moins rater en moi. 44 Und 1937: „Seulement certains jours la politique est la plus forte.“ 45 Giono seinerseits notiert im Oktober 1938 in seinem Tagebuch: Fini aujourd’hui Précisions sur les événements du mois passé. Quel que soit le bruit que cela fera, ni attaques ni rien ne m’empêcheront de laisser désormais tout le social de côté. Hâte de me sortir de là. Mais enfin, c’était honnête. 46 Drei weitere Beispiele sind Bataille, Sartre und Michaux. In einem Text mit dem Titel „La menace de guerre“ schreibt Bataille: „Le combat est la même chose que la vie. La valeur d’un homme dépend de sa force agressive.“ 47 42 Zitiert nach Andreu/ Grover, Anm. 7, S. 341. [Dt.: Ich will nur noch im Extremen leben. Wie konnte ich mich nur so lange gedulden? ]. 43 Vgl. die Briefe an Gide und an Jean Guéhenno, die Pierre Citron in Giono: Récits et essais, Anm. 19, S. 1052, zitiert. 44 Drieu la Rochelle: Journal 1939-1945, Anm. 37, S. 113. [Dt.: Keine Politik mehr. Nein, keine Politik mehr. Das habe ich mir manchmal gesagt. Das ist das, was mir am leichtesten fällt. Aber hätte ich nicht aus Bescheidenheit, aus Klugheit, aus Feingefühl bei dieser Leichtigkeit bleiben sollen? Das war das, was mir am wenigsten zu mißraten drohte]. 45 Zitiert nach Andreu/ Grover, Anm. 7, S. 387. [Dt.: Bloß an manchen Tagen ist die Politik stärker]. 46 Zitiert nach Pierre Citron, in Giono: Récits et essais, Anm. 19, S. 1188. [Dt.: Ich habe heute Précisions über die Ereignisse des letzten Monats beendet. Welchen Lärm auch immer das verursachen wird, weder Angriffe noch sonst etwas werden mich davon abhalten, das Gesellschaftliche in Zukunft zu vermeiden. Ich möchte da schnell rauskommen. Aber immerhin, es war aufrichtig]. 47 Georges Bataille: „La menace de guerre“, in: Œuvres complètes, Bd. 1: Premiers écrits, 1922-1940, Paris: Gallimard 1970, S. 550-551, hier S. 550 (ursprünglich in: Acéphale, Nr. 5, Juni 1939). [Dt.: Der Kampf ist dasselbe wie das Leben. Der Wert eines Menschen hängt von seiner aggressiven Kraft ab]. Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 59 Und in einem postumen Text gibt er die folgende Übersetzung eines Zitats aus Nietzsches Wille zur Macht wieder: „Les guerres sont pour le moment les plus forts stimulants de l’imagination.“ 48 Der Kriegszustand ist Bataille zufolge also gewissermaßen von der Vorsehung bestimmt. Diese Ansicht findet sich auch in der Erklärung des Collège de Sociologie zur internationalen Krise („Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale“) wieder, die von Bataille gemeinsam mit Roger Caillois und Michel Leiris unterzeichnet und vermutlich von Caillois verfaßt worden ist. In dem Text, der am 1. November 1938 in der Nouvelle Revue française erscheint, heißt es: Le Collège de Sociologie voit son rôle propre dans l’appréciation sans complaisance des réactions psychologiques collectives que l’imminence de la guerre a suscitées […]. Le spectacle donné fut celui du désarroi, immobile et muet, d’un triste abandon à l’événement, c’était l’attitude immanquablement apeurée et consciente de son infériorité d’un peuple qui refuse d’admettre la guerre dans les possibilités de sa politique en face d’une nation qui fonde sur elle la sienne. […] Le Collège de Sociologie regarde l’absence générale de réaction vive devant la guerre comme un signe de dévirilisation de l’homme. 49 Sartre entwirft seinerseits in seinen Carnets aus der Kriegszeit eine Phänomenologie des Kriegszustands, den er als inneren Krieg wahrnimmt („la guerre ne fait pas seulement l’objet de mes pensées, elle en fait aussi l’étoffe“) 50 : 48 Georges Bataille: „Les guerres sont pour le moment les plus forts stimulants de l’imagination“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, Écrits posthumes 1922-1940, Paris: Gallimard, S. 392- 399, hier S. 392. [Dt.: Die Kriege sind im Augenblick die stärksten Stimulantien der Einbildungskraft]. - Bataille zitiert hier den § 69 aus dem 4. Buch der 1936 von Geneviève Bianquis ins Französische übersetzten und als La Volonté de Puissance bei Gallimard publizierten Ausgabe, deren deutsche Vorlage Friedrich Würzbach 1935 veröffentlicht hatte. Würzbachs Ausgabe von Der Wille zur Macht beruhte, wie auch alle anderen Ausgaben mit diesem Titel, auf der ersten deutschen Ausgabe von 1901, die Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast stark manipulierend aus Nachlaßmaterial zusammengestellt hatten. Zur französischen Nietzsche-Rezeption vgl. Jacques Le Rider: Nietzsche in Frankreich. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, München: Wilhelm Fink 1997 (Anmerkung des Übersetzers). 49 Georges Bataille/ Roger Caillois/ Michel Leiris: „Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale“, in: Denis Hollier: Le Collège de Sociologie 1937-1939, Paris: Gallimard 1995, S. 358-363. [Dt.: Das Collège de Sociologie sieht seine eigentliche Rolle in der schonungslosen Beurteilung der kollektiven psychologischen Reaktionen, die der unmittelbar bevorstehende Krieg hervorgerufen hat <…>. Das Schauspiel, das sich bot, war das einer unbeweglichen und stummen Verwirrung, einer traurigen Ergebenheit in das Ereignis. Es war die unweigerlich verängstigte und ihrer Unterlegenheit bewußte Haltung eines Volks, das sich weigert, den Krieg als Möglichkeit seiner Politik zuzulassen, und das angesichts einer Nation, die ihre Politik genau darauf aufbaut. <…> Das Collège de Sociologie betrachtet den allgemeinen Mangel an lebhafter Reaktion im Angesicht des Krieges als ein Zeichen der Entmännlichung des Menschen]. 50 Jean-Paul Sartre: Carnets de la drôle de guerre, Paris: Gallimard 1995, S. 60. [Dt.: Der Krieg ist nicht nur der Gegenstand meiner Gedanken, er ist auch deren Stoff]. Jean-Pierre Martin 60 Qu’est-ce qui a changé en moi depuis le 3 Septembre? Je me suis étonné de ce changement dès le premier jour. Je craignais qu’il ne résultât d’une tension intérieure que je ne pourrais pas toujours continuer. Mais un mois vient de passer sans fatigue, sans cafard. En réalité il n’y a pas tension, c’est-à-dire lutte de moi contre moi, mais changement de ce que je suis. C’est-à-dire que l’état de guerre est devenu mon état naturel. C’est vraiment une preuve et une manifestation de ma liberté, ces métamorphoses. Car personne ne pouvait être moins indifférent que moi à un changement de cette espèce. Personne n’était plus âprement attaché à sa vie. Il y avait certainement en moi de quoi partir désespéré si précisément je n’avais pas changé par rapport à ma vie. C’est-à-dire que ce qui a changé, j’y reviens, c’est mon être-dans-le-monde. Mon caractère est resté le même mais il s’applique à des situations neuves. Le caractère reste inchangé sur un fond de nature modifié. C’est-à-dire que je suis d’autres possibilités. Et je ne puis regretter ma vie passée que comme on regrette des époques anciennes: presque en rêve. 51 Michaux hingegen, der das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe verspürt, schreibt 1938 einen durch die Umstände außergewöhnlich datierten Text, den er „Dragon“ nennt: C’était parce que tout allait si mal, c’était en septembre (1938), c’était le mardi, c’était pour ça que j’étais obligé pour vivre de prendre cette forme si étrange. Ainsi donc je livrai bataille pour moi seul, quand l’Europe hésitait encore, et partis comme dragon, contre les forces mauvaises, contre les paralysies sans nombre qui montaient des événements, par dessus la voix de l’océan des médiocres, dont la gigantesque importance se démasquait soudain (à nouveau) vertigineusement. 52 51 Ebd., S. 61. [Dt. nach der Ausgabe Jean-Paul Sartre: Tagebücher. Les carnets de la drôle de guerre, September 1939-März 1940 <…>, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer und Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 60, Eintrag vom 27.9.1939: „Was sich bei mir seit dem 3. September verändert hat? Ich war über diese Veränderung vom ersten Tag an erstaunt. Ich fürchtete, sie ergäbe sich aus einer inneren Spannung, die ich nicht ständig würde halten können. Doch ein Monat ist ohne Ermüdung, ohne Katzenjammer vorübergegangen. In Wirklichkeit ist da keine Spannung, das heißt Kampf gegen mich selbst, sondern eine Veränderung dessen, was ich bin. Das heißt, daß der Zustand des Krieges mein natürlicher Zustand geworden ist. Das ist wirklich ein Beweis und ein Ausdruck der Freiheit, diese Metamorphosen. Denn niemand konnte einer Veränderung dieser Art weniger gleichgültig gegenüberstehen als ich. Niemand hing stärker am Leben. Gewiß gab es in mir etwas, das mich veranlaßt hätte, verzweifelt in den Krieg zu ziehen, wenn ich mich gegenüber meinem Verhältnis zum Leben nicht verändert hätte. Das heißt, was sich verändert hat - ich komme darauf zurück -, ist mein In-der-Welt-sein. Mein Charakter ist der gleiche geblieben, aber er paßt sich neuen Situationen an. Der Charakter bleibt vor dem Hintergrund modifizierter Natur unverändert. Das heißt, daß ich andere Möglichkeiten bin. Und ich kann mein vergangenes Leben nur bedauern, wie man sehr alte Epochen bedauert: fast im Traum“]. 52 Henri Michaux: Peintures, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, éd. par Raymond Bellour, Paris: Gallimard (Pléiade) 1998, S. 713-714. [Dt.: Es war, weil alles so schlecht lief, es war im September (1938), es war am Dienstag, deshalb war ich, um zu leben, gezwungen, diese merkwürdige Form anzunehmen. So lieferte ich also ganz allein eine Schlacht, als Europa noch zögerte, und ich zog als ein Drache gegen die bösen Kräfte, gegen die Lähmungen ohne Zahl, die von den Ereignissen aufstiegen, über die Stimme Betrachtungen über das ‚München’ der französischen Schriftsteller 61 Die Geschichte scheint voll und ganz in den poetischen Text einzudringen. Sie verinnerlicht sich gewissermaßen. Der Drache ist die Metamorphose des verfolgten Subjekts. Michaux treibt den einsamen Heroismus eines persönlichen Phantasmas bis zum Äußersten, bis zur Ironie. Bald nach ‚München‘ folgt der große Zusammenbruch, die allgemeine Panik, die Niederlage der Schriftsteller. Bald sollte André Billy in einem Artikel des Figaro littéraire (vom 27. Mai 1940) fragen, ob ‚wir nicht die Literatur zu sehr geliebt haben‘ („si nous n’avons pas trop aimé la littérature“). Bald sollte Claudel (ebenfalls im Jahr 1940) seine ‚Ode auf den Marschall Pétain‘ schreiben. Bald sollte Drieu die Leitung der Nouvelle Revue française an Paulhans Stelle übernehmen. Bald sollten Morand, Colette, Mac Orlan und andere in Vichy-Organen wie dem Journal de la Milice oder Combats schreiben. Bald sollte Montherlant, in L’équinoxe de septembre noch ein vehementer Gegner des Münchener Abkommens, in Solstice de juin die Sieger preisen. Bald werden aber auch einige die Literatur ruhen lassen und, wie Romain Gary oder René Char, in der Résistance kämpfen. Obwohl dieser Zusammenbruch einen nicht wieder zu schließenden Einschnitt zu markieren scheint, und trotz der ‚Säuberungen‘ der Nachkriegsjahre, trotz des zur Identifkation von zu verurteilenden intellektuellen Kollaborateuren eingerichteten Comité national des Écrivains (CNE), trotz des hier und da bekundeten Willens - besonders in Sartres Zeitschrift Temps modernes -, die Literatur in direkten Kontakt mit der Geschichte zu bringen, hat die autonome Literatenrepublik, die „République des Lettres“, den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. Zeigt sie sich nicht schon 1953, in Gestalt von Paulhans Glaubensbekenntnis in der neu erscheinenden Nouvelle Revue française wieder, selbst wenn sie nun einen begrenzteren Raum einnimmt als früher? Und scheint sie nicht in diesem beschnittenen Feld wieder wie jenseits der historischen Ereignisse zu leben? Gegenüber Sartre, der so etwas wie eine Position der historischen Schuldigkeit vertritt, verteidigt Paulhan, der im intellektuellen Widerstand gekämpft hatte, erneut die reine Literatur. Paulhan bringt nach dem Krieg all das wieder hervor, was das Programm des Engagements beiseitezufegen begonnen hatte: die Spezifizität des literarischen Feldes, das Erbe und die Tradition der literarischen Individualität, eine Art Widerstand gegen jeden Zugriff von seiten des Zeitgeschehens. Auch Camus und Char scheinen in dieser Angelegenheit nicht wirklich auf Sartres Seite zu sein. Es ist, als hätten Paulhan, Camus und Char hinter einem Satz von Drieu la Rochelle dessen totalitäre Konsequenzen, dessen Widersprüche und Täuschungen, und - schlimmer noch - dessen schreckliche nazistischen oder stalinistischen Versprechen erkannt. Der Satz von Drieu, der ohne weiteres von vielen anderen stammen könnte, lautet: des Ozeans der Mittelmäßigen hinweg, deren riesenhafte Wichtigkeit sich plötzlich (wieder) schwindelerregend enthüllte]. Jean-Pierre Martin 62 C’est le rôle de l’intellectuel […] de se porter au-delà de l’événement, de tenter des chances qui sont des risques, d’essayer les chemins de l’Histoire. Tant pis, s’ils se trompent dans le moment. Ils ont assuré leur mission nécessaire, celle d’être ailleurs qu’est la foule. 53 53 Drieu la Rochelle: Journal, Anm. 37, S. 503. [Dt.: Es ist die Aufgabe des Intellektuellen <…>, sich über die Ereignisse hinauszubegeben, Wagnisse einzugehen, die Wege der Geschichte zu erproben. Wenn sie sich für den Augenblick irren, macht das nichts. Sie haben eine notwendige Mission erfüllt, nämlich da zu sein, wo die Masse nicht ist]. Hélène Baty-Delalande Eine große stille Stimme? Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard, von ‚München’ bis zu Épilogue (1940) Wenn man eine historische Krise, die auf der einen Seite von einer diplomatischen Konferenz, auf der anderen von einer militärischen Niederlage eingegrenzt wird, zum Untersuchungsgegenstand wählt, nähert man sich dem literarischen Faktum scheinbar von außen. Man betrachtet den Schriftsteller dann als Intellektuellen, betont seine außerliterarische Haltung, legt den Schwerpunkt auf die Kontextualisierung der literarischen Werke, unterstellt, daß die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen der Werke vor allem durch das geprägt sind, was sich der Literatur entzieht, und schreibt nachdrücklich die Werke und die Autoren in ihren historischen Zusammenhang ein. Nun steht die historische Definition der Aufgabe der Literatur im Zentrum einer Krise der Moderne während der 1930er Jahre: die Vorstellung einer autonomen, von den historischen Kontingenzen losgelösten Literatur, die sich weder im Schaffensnoch im Bewertungsprozeß auf moralische oder ideologische Forderungen zurückführen läßt, verbindet sich nur schwer mit der Entwicklung eines vielgestaltigen intellektuellen Aktivismus und dem Aufkommen eines Denkens, das sich über das Engagement definiert, auch wenn dieses Denken im wesentlichen außerliterarisch bleibt. In der Zeit zwischen einem der letzten großen Schriftstellerkongresse - dem von Barcelona im August 1938, also kurz vor dem Münchener Abkommen -, und dem nach der französischen Niederlage ab Juli 1940 gegen die angeblich dekadenten Schriftsteller erhobenen Vorwurf, sie seien der Nation schlechte Lehrer (mauvais maîtres) gewesen und verantwortlich für die Niederlage, bleibt die Frage nach der Definition und den Zuständigkeitsgebieten der literarischen Verantwortung zwischen ästhetischer Autonomie und historischer Inanspruchnahme in einer besonders schmerzhaften Spannung offen. Roger Martin du Gard, der seit der Veröffentlichung von L’Été 1914 (1936) als Pazifist bekannt war, zeichnet sich in dieser Periode auf bemerkenswerte Weise durch eine sehr große Zurückhaltung in Sachen Petitionen und Aufrufe aus, während er gleichzeitig ein engagiertes Werk publiziert, das in seiner Verurteilung des Kriegs vollkommen eindeutig ist. Épilogue, der letzte Band des Zyklus der Thibault, wurde zwischen Juli 1937 und Februar 1939 verfaßt und erschien im Januar 1940. Die Geschichte der langen Agonie eines Giftgasopfers, das schließlich nach dem Kriegsende im November 1918 stirbt, hat Martin du Gard nach eigener Aussage vor allem geschrieben, um einen Schlußpunkt unter sein monumentales Werk zu setzen. Der Abstand zwischen dem Schweigen des Schriftstellers, der jegliche Hélène Baty-Delalande 64 intellektuelle Pose ablehnt und der allgemeinen Flut der außerliterarischen Diskurse widersteht, und der abweichenden fiktionalen Stimme, die inmitten der Krise entstanden ist und dann im Krieg erklingt, dieser Abstand ist beachtlich. Im Februar 1940 faßt Martin du Gard in einem Brief an André Chamson seine Haltung folgendermaßen zusammen: Je tiens que pour ceux que, en 14-18, nous appelions ‚les vieux c… de l’arrière‘ (dont je suis maintenant), la dignité la plus élémentaire commande le silence. Il faut avoir conscience de l’infranchissable fossé que la guerre a creusé entre ceux qui la font et ceux qui la regardent faire. Nachdem er so sein Schweigen mit einer Pflicht zur Zurückhaltung gerechtfertigt hat, fügt er hinzu: Je m’avise soudain que cette déclaration de silence va paradoxalement coïncider avec la parution du dernier Thibault, qui paraît cette semaine, et que vous allez recevoir. Mais le paradoxe n’est qu’apparent. D’abord, ce livre est terminé depuis mai 39. Et puis, je n’y parle pas à mon pays en guerre, mais à quelques lecteurs fidèles, amis des Thibault. 1 Dieser Brief zeigt in beispielhafter Weise das Problem der Verbindung zwischen der Haltung des engagierten Intellektuellen in Zeiten der Krise und der Autonomie des literarischen Werks: über die ethische Bewertung des Schweigens und der Zurückhaltung hinaus, wirft er ebenso die Frage nach der spezifischen Zeitgebundenheit des literarischen Werks auf, das eben auch ein historisches Objekt ist, wie nach der unauflöslichen Vermischung von historischer und ästhetischer Tatsache, die sich zwangsläufig ergibt, wenn man zwischen 1938 und 1940 einen historischen Roman veröffentlicht, der an die Schrecken des vergangenen Kriegs erinnert. Martin du Gard beschließt, seine große stille Stimme zweifach, in Form einer betonten Zurückhaltung und eines zeitverschobenen fiktionalen Werks, vernehmen zu lassen. Unter Vermeidung jeglicher Rhetorik wendet er sich an Romanleser - und nicht an mobilisierte Bürger in Kriegszeiten. Ich werde nun zunächst die Bedingungen und die Modulationen dieses pazifistischen Schweigens im Lichte der persönlichen Schriften skizzieren, in denen Roger Martin du Gard die fiktive Figur des Schriftstellers als ohnmächtigen Zuschauers entwirft. Dann werde ich auf die bemerkenswerte Rezeption des Épilogue im Jahr 1940 eingehen, die sich, durch die ‚1940er Brille‘ („lunettes 1940“, der Ausdruck 1 Roger Martin du Gard: Correspondance générale, Bd. 8: 1940-1944, hg. von Bernard Duchatelet, Paris: Gallimard 1997, S. 30-31 (Brief an André Chamson vom 10.2.1940). [Dt.: Ich meine, daß denjenigen, die wir zwischen 14 und 18 die ‚alten Säcke zuhause‘ genannt haben (und zu denen ich jetzt gehöre), die elementarste Würde Schweigen gebietet. Man muß sich des unüberwindlichen Grabens bewußt sein, den der Krieg zwischen denen gräbt, die den Krieg durchmachen und denen, die dabei zusehen. <…> Mir fällt plötzlich auf, daß diese Erklärung für das Schweigen auf paradoxe Weise mit dem Erscheinen des letzten Bands der Thibault zusammenfallen wird, der diese Woche erscheint und den Sie erhalten werden. Aber es ist nur ein scheinbares Paradoxon. Erstens ist das Buch seit Mai 39 fertig. Und außerdem spreche ich darin nicht zu meinem Land im Krieg, sondern zu einigen treuen Lesern, Freunden der Thibault]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 65 stammt von Roger Martin du Gard), auf die historischen und politischen Diskurse konzentriert, die die Romanfiktion durchziehen. Ich werde mit einigen Beispielen für die Antirhetorik schließen, die in diesem Roman am Werk ist, der zwar vor allem ein Roman des Schweigens und der Ohnmacht ist 2 , der aber dennoch den Schnittpunkt verschiedener zersplitterter, zergliederter und zeitverschobener Diskurse bildet, wodurch er auf seine Weise der gebrochenen Stimme des Pazifismus Ausdruck verleiht. 1 Ein abwartender Pazifist Martin du Gard erklärt 1936: „Principe: tout, plutôt que la guerre! Tout, tout! Même le fascisme en Espagne! […] Tout; Hitler, plutôt que la guerre! “ 3 , wenn er auch zugesteht, daß „il y a un camp des justes et un camp des injustes“ 4 . Für ihn und für viele der pazifistischen linken Intellektuellen wirken die Katastrophe von 1914 und die verhängnisvollen Nachkriegsregelungen wie ein ‚Filter, durch den die gesamte Erinnerung wahrgenommen wird‘, um eine Formulierung von Christophe Prochasson zu benutzen. 5 Dieser instinktive Pazifismus führt ihn zu zwei öffentlichen Erklärungen. Als er 1937 den Literaturnobelpreis erhält und als man in allen politischen Lagern glaubt, daß er vor allem als pazifistischer Schriftsteller ausgezeichnet worden sei, beschließt er seine Rede von Stockholm mit dem Blick auf die zunehmenden Gefahren und träumt von der Wirksamkeit des literarischen Werks im Dienste des Friedens: Permettez-moi d’avouer combien il me serait doux de penser que mon œuvre - cette œuvre qui vient d’être couronnée en son nom - peut servir, non seulement la cause des lettres, mais encore la cause de la paix! […] en ce moment exceptionnellement grave que connaît l’humanité, je souhaite - sans vanité, mais de tout mon cœur rongé d’inquiétude - que mes livres sur l’été 1914 soient lus, discutés, et qu’ils rappellent à tous (aux anciens qui l’ont oubliée comme aux jeunes qui l’ignorent, ou la négligent) la pathétique leçon du passé. 6 2 Vgl. Olaf Müller: „‚Cet accord final en mineur‘. Die erstickte Stimme des Pazifismus in Roger Martin du Gards Épilogue (1940)“, in: ders.: Der unmögliche Roman. Antikriegsliteratur in Frankreich zwischen den Weltkriegen, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2006, S. 295- 324. 3 Roger Martin du Gard: Correspondance générale, Bd. 6: 1933-1936, hg. von Pierre Bardel und Maurice Rieuneau, Paris: Gallimard 1990, S. 567 (Brief vom 9.9.1936 an Marcel Lallemand). [Dt.: Prinzip: Alles eher als den Krieg! Alles, alles! Selbst den Faschismus in Spanien! <…> Alles; eher Hitler, als den Krieg! ]. 4 Roger Martin du Gard: Journal, Bd. 2: 1919-1936, hg. von Claude Sicard, Paris: Gallimard 1993, S. 1192 (Eintrag vom 8.8.1936). [Dt.: <…> daß es ein Lager der Gerechten und ein Lager der Ungerechten gibt]. 5 Christophe Prochasson: Les intellectuels, les socialistes et la guerre, Paris: Seuil 1993, S. 240. 6 Zitiert nach Nouvelle Revue française (Januar-Juni 1959), S. 957-960. [Dt.: Gestatten Sie mir, daß ich gestehe, wie angenehm es mir wäre, wenn ich denken könnte, daß mein Werk - dieses Werk, das gerade in seinem Namen ausgezeichnet worden ist - nicht nur der Sache der Literatur, sondern auch der Sache des Friedens dienen kann. <…> in Hélène Baty-Delalande 66 Auch im Sommer 1938 legt er eine Art pazifistisches Glaubensbekenntnis ab, als er eine Botschaft an den Rassemblement universel pour la Paix 7 sendet, die in mehreren radikalpazifistischen Organen sowie in Le Peuple und L’Œuvre 8 vom 14. Juli 1938 veröffentlicht wird. Der Text beginnt mit den Worten: „Je ne suis guère l’homme des ‚messages‘ […]. Si j’ai, cette fois, cédé à l’appel, c’est en raison de la gravité de l’heure et de l’importance que j’attache au RUP“ und liefert die zentrale Aussage des radikalen Pazifismus: „ce qui est diesem außerordentlich schwierigen Augenblick, den die Menschheit durchlebt, wünsche ich mir, ohne Eitelkeit und mit meinem ganzem, von Sorgen geplagten Herzen, daß meine Bücher über den Sommer 1914 gelesen und diskutiert werden und daß sie alle (die Veteranen, die es vergessen haben, wie die Jungen, die sich nicht darum kümmern) an die pathetische Lektion der Vergangenheit erinnern]. 7 Der Rassemblement universel pour la Paix (RUP, Universelle Vereinigung für den Frieden) wurde im September 1936 infolge eines 1935 veröffentlichten Aufrufs von Lord Cecil of Chelwood (Friedensnobelpreis von 1937) und Pierre Cot in Brüssel gegründet und von verschiedenen Organisationen des Front populaire unterstützt. Der RUP hatte anläßlich des Schriftstellerkongresses vom Juli 1938 eine Umfrage wegen der Bombardements der ‚offenen Städte‘ und der Massaker an der Zivilbevölkerung in Spanien und China lanciert. 8 Martin du Gards Text lautet vollständig: „Je ne suis guère l’homme des ‚messages‘ […]. Si j’ai, cette fois, cédé à l’appel, c’est en raison de la gravité de l’heure et de l’importance que j’attache au RUP. Ne prenons pas la tangente. Ce qui est monstrueux, ce n’est pas que des bombardements aériens déciment ‚d’innocentes‘ populations civiles. (Combattants ou non-combattants, la distinction est spécieuse et bien vaine, en un temps où la totalité des nations en lutte se trouve, corps et biens, engagée dans la guerre! Les vieillards, les femmes, les enfants sont-ils des victimes plus ‚innocentes‘ que les fils, les époux, les pères, jetés en première ligne? Et l’hécatombe des non mobilisés de l’arrière est-elle plus ‚inhumaine‘ que celle des jeunes hommes massacrés sur le front? ) Ce qui est monstrueux, c’est la guerre tout court. Même dans les États dont l’effervescence politique et l’idéologie, l’expansion sont en danger de conflit mondial, il n’y a pas un individu sur cinquante qui ne souhaite vivre et travailler dans la paix; pas un qui ne redoute comme la pire des obligations d’avoir à se battre et à tuer. Ce qui est monstrueux, c’est que les peuples, dont l’immense majorité est faite d’hommes pacifiques se soient laissés ramener, en vingt ans, jusqu’au bord de l’abîme; c’est que les peuples aient toléré le sabotage de tous les efforts tentés par quelques-uns pour jeter les bases d’une fédération européenne, promulguer un droit international, organiser un vrai tribunal d’arbitrage, réviser pacifiquement les traités, limiter les armements, réduire le rôle des armées à celui des polices nationales. Ce qui est monstrueux - bien plus que le bombardement des villes ouvertes - c’est la passivité du monde devant la guerre. C’est de voir l’opinion publique traiter froidement de guerre ‚totale‘, de guerre sous-marine, aérienne et chimique; discuter d’un conflit possible comme d’un désastre cosmique indépendant des volontés humaines et pousser l’aberration jusqu’à publier qu’une guerre est un événement social, dont la réalisation dépend, en dernier ressort, du consentement ou du refus des masses mobilisables. Et ce qui est le plus monstrueux encore, c’est que, dans cette Europe unanimement apeurée devant l’approche du cataclysme, l’instinct de conservation ne soit pas assez fort pour provoquer enfin le sursaut libérateur: c’est que les peuples ne parviennent pas à se ressaisir, à s’entendre et à s’associer en dépit de ceux qui les gouvernent, pour créer, contre toute guerre, d’où qu’elle vienne et quels que soient ses prétextes, ce vaste mouvement de défense et de coopération fraternelle qui, seul, peut assurer le salut commun“. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 67 monstrueux, c’est la guerre tout court.“ 9 Mit seinen starken Anklängen an Romain Rollands Aufruf von 1932 10 ist der Text dem Stil der Erklärungen des Radikalpazifismus verpflichtet, besonders indem er sich weigert, Abstufungen zwischen den Kriegsgreueln zu erkennen, zwischen der Gewalt, die Zivilisten angetan wird und derjenigen, die sich die Kombattanten gegenseitig zufügen. Dieser engagierte Aufruf drückt offensichtlich die tiefsten Überzeugungen seines Autors aus, auch wenn die ursprüngliche Bestimmung unklar bleibt: vom halbvertraulichen Brief an den relativ unbedeutenden RUP zur Veröffentlichung auf der Titelseite der vielgelesenen Tageszeitung L’Œuvre ist es ein weiter Schritt. Doch lassen die Ereignisse von München paradoxerweise die Betrachtungen über die Bombardements der offenen Städte und die Passivität der Bevölkerung bald als überholt erscheinen. Diese beiden öffentlichen Stellungnahmen bleiben Einzelfälle. Bis zum Ende des Krieges schweigt der Schriftsteller trotz unausgesetzter Anfragen, und macht sich, wenn auch nicht ohne Verbitterung, beständig lustig über den risikolosen Aktionismus einiger seiner Standesgenossen. Man muß deshalb in seinem Tagebuch und in seiner Korrespondenz nach den Spuren eines nie verleugneten pazifistischen Engagements suchen, das von dem schneidenden Gefühl der Isolierung und eines zunehmenden Anachronismus angesichts des Geschichtsverlaufs begleitet ist. Im September 1938 bleibt Martin du Gard seinem radikalen Pazifismus treu und lehnt die ideologischen und ethischen Argumente seiner Freunde ab, wobei er sich besonders über Stellungnahmen in Esprit und in der NRF aufregt. Er ist zunächst überzeugt, daß England und Frankreich Deutschland den Krieg erklären würden, falls Hitler die Tschechoslowakei angreifen sollte, und befürchtet - als er sich die Ursprungsszene von 1914 in Erinnerung ruft - ein ‚allgemeines Massaker‘ („massacre général“): man würde ohne zu zögern in den Krieg ziehen, um den Faschismus zu besiegen („on partirait, sans trop rechigner, pour ‚abattre le fascisme‘“), ohne zu bedenken, daß der Krieg den Faschismus allerorts vorbereitet („la guerre prépare le fascisme partout“) 11 . Da er an den absoluten Willen seitens der französischen und der englischen Regierung glaubt, bis zum Schlimmsten nachzugeben, um das kriegerische ‚Abenteuer’ zu vermeiden („volonté absolue de capituler jusqu’au pire pour éviter l’aventure“), hofft er noch auf eine allgemeine Übereinkunft („règlement général“), was ihm um so leichter fällt, als er ‚von der tschechischen Sache nie viel gehalten hat’ („la cause tchèque m’a toujours paru mauvaise“) 12 , und da er meint, die Ansprüche Hitlers seien nichts als das Resultat der Härte des Versailler Vertrages und der Behandlung, die man 9 Dt.: Ich bin kein Mann der ‚Botschaften‘ […]. Wenn ich dieses Mal dem Aufruf nachgekommen bin, dann wegen der Schwere der Stunde und der Bedeutung, die ich dem RUP beimesse. […] monströs ist der Krieg an sich. 10 Vgl. das Ende des Zitats in Anm. 8. 11 Roger Martin du Gard: Journal, Bd. 3: 1937-1949, hg. von Claude Sicard, Paris: Gallimard 1993, S. 167-168 (Eintrag vom 7.9.1938). 12 Ebd., S. 169 (Eintrag vom 25.9.1938). Hélène Baty-Delalande 68 Deutschland bis 1930 angetan habe („dureté du traité de Versailles et du traitement infligé à l’Allemagne jusqu’en 1930“) 13 . Das entspricht dem Ideal des Friedens durch Recht, wie es die pazifistischen Ligen vor 1914 vertraten. Martin du Gard blendet die Frage nach dem Charakter des Hitlerregimes aus und betrachtet die Krise ausschließlich unter dem Aspekt einer internationalen Einigung zwischen Nationen guten Willens, womit er eine vielen radikalen Pazifisten eigene Blindheit beweist: „La raison se refuse à concevoir une guerre qui se déclencherait après que tout l’essentiel des exigences de l’agresseur a été accordé…“ 14 . Nach der Münchener Konferenz ist seine Erleichterung durchmischt mit Zukunftsängsten. Sorgen machen ihm der aus seiner Sicht zunehmend die Öffentlichkeit beherrschende ‚ansteckende Komplex der patriotischen Erniedrigung‘ („complexe contagieux d’‚humiliation’ patriotique“ 15 ) und der Mangel an diplomatischen Perspektiven, die die kollektive Zukunft sichern könnten. Die wachsende Kriegsgefahr überschattet schließlich alle anderen politischen Besorgnisse und wird so unerträglich, daß Martin du Gard im Januar 1939 beschließt, Europa zu verlassen: L’Europe, même sans guerre, vit sous la menace. Elle est troublée pour longtemps. Je me sens incompétent, impuissant à y porter le moindre remède. Je m’use à souffrir en vain des massacres espagnols, des massacres juifs. Un besoin éperdu d’oublier toute cette horreur à laquelle je ne puis rien. 16 Er verbringt schließlich die Zeit von März bis Dezember 1939 auf den Antillen. Bis zur Kriegserklärung ist er glücklich, daß er - gut informiert, aber weit entfernt - der vergifteten Atmosphäre („ambiance empoisonnée“ 17 ) entkommen ist und sich der allgemeinen Angst entziehen kann. Ein Tagebucheintrag drückt die Fragwürdigkeit dieses Rückzugs aus, der einer allgemeinen Geschichtsverweigerung sehr nahe kommt, indem er in einem untypisch abgehackten Stil den unvorstellbaren Abstand zwischen gleichzeitigen Realitäten beschreibt: Batailles sanglantes dans les rues de Madrid entre les communistes et le nouveau gouvernement assiégé. Guerre civile au sein de la guerre civile. Bombes, jugements sommaires, fusillades, tortures. Évocation particulièrement atroce, ce matin, sur ce calme pont ensoleillé, entre le ciel et l’eau. Impression si forte du factice 13 Ebd., S. 172 (Eintrag vom 27.9.1938). 14 Ebd., S. 175 (Brief an Maurice Martin du Gard vom 28.9.1938). [Dt.: Der Verstand weigert sich, sich einen Krieg vorzustellen, der ausgelöst würde, nachdem den Forderungen des Aggressors in den wichtigsten Punkten nachgegeben worden wäre]. 15 Ebd., S. 180 (Eintrag vom 17.10.1939). 16 Ebd., S. 201 (Eintrag vom 27.1.1939). [Dt.: Europa lebt auch ohne Krieg in ständiger Bedrohung. Es ist auf lange Zeit erschüttert. Ich fühle mich inkompetent, ohnmächtig, auch nur die geringste Erleichterung beizutragen. Ich reibe mich nutzlos dabei auf, an den Massakern in Spanien, an den Massakern an den Juden zu leiden. Ein verzweifeltes Bedürfnis, diese ganzen Schrecken, an denen ich nichts ändern kann, zu vergessen]. 17 Ebd., S. 237 (Eintrag vom 24.4.1939). Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 69 criminel de ces luttes fratricides, de l’absurde malentendu qui empêche les hommes de suivre leur vraie destinée pacifique. 18 Im August 1939 träumt Roger Martin du Gard angesichts der „régression“, die mit dem Triumph der Kirche und der Rehabilitierung der Action française und des Imperialismus einhergeht, davon, definitiv ins Exil zu gehen: „toute lutte est vaine“, schreibt er, „la seule attitude raisonnable est le repli sur soi, et la recherche d’un équilibre, d’un bonheur, d’une activité tout à fait individuels“ 19 . Der Kriegsausbruch, die folgende Besatzung Frankreichs und das Vichy-Regime bestätigen in den Augen des Schriftstellers nur noch das - wie er hofft: vorübergehende - Scheitern der „vraie civilisation humaine“. Im September 1939 rechtfertigt er seinen Rückzug zum ersten Mal, nicht als eine Flucht und auch nicht als Aufgeben im Angesicht des Triumphs von allem, was er rundweg ablehnt, sondern als den Ausdruck einer genau definierten Verantwortungslosigkeit: Je me sens totalement irresponsable de ce qui arrive, je n’ai pas la plus petite part de responsabilité dans le monde actuel. J’ai le droit de m’en détourner, de m’en écarter comme d’une léproserie. C’est en menant les événements à l’encontre de ce que j’ai désiré, soutenu, qu’on en est arrivé là. Je ne puis me sentir solidaire de ce monde où je n’ai plus qu’à finir de vivre, à l’écart, désespéré, submergé par le triomphe de l’inhumanité et de l’absurde. 20 Diese Verantwortungslosigkeit ist keine egoistische oder gar skandalöse Haltung, sondern ein Zustand, der zugleich der Figur der verfolgten Unschuld wie auch der der mißachteten Kassandra ähnelt. Sie drückt sich in einer eigentümlichen Stellung aus, die durch einen illusionslosen Blick auf die Vergangenheit und fehlenden Optimismus für die Zukunft motiviert ist, und dabei etwas von freiwilligem Rückzug und Rückbesinnung auf sich selbst hat, von Desolidarisierung, wenn man so will. Es ist in jedem Fall der 18 Ebd., S. 211 (Eintrag vom 9.3.1939). [Dt.: Blutige Schlachten in den Straßen von Madrid zwischen den Kommunisten und der neuen Regierung, die belagert wird. Ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg. Bomben, Standgerichte, Erschießungen, Folter. Daran zu denken ist heute morgen besonders schrecklich, auf dieser ruhigen Brücke im Sonnenschein, zwischen dem Himmel und dem Wasser. Der starke Eindruck einer kriminellen Künstlichkeit dieser brudermörderischen Kämpfe, eines absurden Mißverständnisses, das die Menschen daran hindert, ihrem wirklichen friedlichen Schicksal zu folgen]. 19 Ebd., S. 263 (Brief an Christiane vom 1.8.1939). [Dt.: jeglicher Kampf ist vergebens, <…> die einzige vernünftige Haltung ist der Rückzug auf sich selbst, die Suche nach einem Gleichgewicht, einem Glück, einer Tätigkeit, die vollkommen individuell sind]. 20 Ebd., S. 274 (Brief an Christiane vom 30.8.1939). [Dt.: Ich fühle mich vollkommen ohne Verantwortung für das, was geschieht, ich habe nicht den kleinsten Teil von Verantwortlichkeit in der heutigen Welt. Ich habe das Recht, mich von ihr abzuwenden, sie zu ignorieren, mich von ihr fernzuhalten wie von einer Aussätzigenstation. Man ist in diese Lage geraten, weil man die Ereignisse in das Gegenteil dessen getrieben hat, was ich gewünscht, was ich unterstützt habe. Ich kann mich mit einer Welt nicht mehr solidarisch fühlen, in der ich nur noch aufhören kann zu leben, abgeschieden, verzweifelt, erdrückt vom Triumph der Unmenschlichkeit und des Absurden]. Hélène Baty-Delalande 70 letzte Ausdruck eines präzise verstandenen politischen Individualismus. 21 Der ohnmächtige und stumme Wächter zieht sich in seinen Elfenbeinturm zurück und kehrt erst im Dezember gezwungenermaßen nach Frankreich zurück. Diese reservierte Haltung, die man auch als Flucht bezeichnen könnte, paßt sicher zur Figur des Antiintellektuellen, die Martin du Gard im allgemeinen gibt. Sie erklärt sich darüber hinaus aber auch aus seiner Überzeugung, daß der Pazifismus mittlerweile historisch unwirksam geworden ist, weil er in den dreißiger Jahren, die Martin du Gard vom Kult der Ideologien bestimmt scheinen, angesichts der dringenden politischen Fragen allgemein als eine illusorische und lächerliche Utopie beurteilt wird. Auch wenn er den Positionen des radikalen Pazifismus sehr nahe steht, definiert er seinen eigenen Pazifismus daher vor allem als einen individuellen Anspruch, der sich durch keine anderen Werte beeinträchtigen läßt. So erklärt er gegenüber Gide: Mais vous ne voyez donc pas que c’est toujours avec une idée de foi qu’on fait marcher les hommes, qu’elle s’appelle religion, communisme ou bon droit. Pour moi, je ne fais aucune différence entre une guerre de conquête et une guerre de religion, ce que j’ai en horreur, c’est la guerre telle qu’elle soit; c’est moi le pacifiste intégral, et pas vous. 22 Ohne Unterschied verurteilt er jeden Kampf für ein anderes Ideal als den Frieden als Fanatismus, was auch - mehr noch als die Erinnerungen an den „bourrage de crâne“, die Propaganda des Ersten Weltkriegs - sein Mißtrauen gegenüber den ethischen Argumenten der Gegner ‚Münchens’ erklärt. Er zieht eine unüberwindliche Trennlinie zwischen der Generation der zivilisierten Männer, die die Ideale des Friedens und der Aussöhnung miteinander teilen, und den neuen, fanatisierten Generationen, die zum Kampf entschlossen sind, weil sie siegen wollen. Man kann sich fragen, ob der Schriftsteller das radikal Neue an den historischen Ereignissen erfaßt und die unauflösliche Verbindung von Ethik und Ideologie als Spezifikum der 21 In einer rückblickenden Anmerkung vom 15.12.1940 geht Martin du Gard noch einmal auf seine Ansichten von 1939 ein und bedauert seine bellizistischen Kompromisse, die bedingt gewesen seien durch die auf Ärger und Enttäuschung über die Brutalität der deutschen Eroberung beruhende Propaganda („la propagande d’indignation et de déception provoquées par les brutalités de la conquête allemande“), und gegründet auf der falschen Vorstellung, daß der Krieg diesmal gerecht gewesen sei. Er beklagt dieses Umfallen auf die Linie der Mehrheitsmeinung vor allem, weil er darin einen wirklichen Verrat an sich selbst sieht: „Ce n’est pas la première fois que j’ai à regretter ces sortes de trahisons vis-à-vis de moi-même.“ Ebd., S. 366-367. 22 Nach Aussage der „Petite Dame“, Maria van Rysselberghe, hat Martin du Gard sich in dieser Form im März 1932 gegenüber André Gide geäußert. Vgl. Les Cahiers de la Petite Dame (8). Cahiers André Gide 5 (1974), S. 230-231. [Dt.: Aber sehen Sie denn nicht, daß man die Menschen immer mit einer Glaubensidee zum Marschieren bringt, ob sie nun Religion heißt oder Kommunismus oder das gute Recht? Ich jedenfalls mache keinen Unterschied zwischen einem Eroberungskrieg und einem Religionskrieg, was ich verabscheue, das ist der Krieg in jeder Form. Ich bin hier der radikale Pazifist, nicht Sie]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 71 Politik erkannt hat. Der stille Pazifismus von Martin du Gard erklärt sich deshalb nicht nur im Zusammenhang der kollektiven Verblendung, die die Folge der traumatischen Erfahrung des vorigen Krieges war, sondern auch als intensives Gefühl der Isolation angesichts einer Zivilisation, die in ideologische Kämpfe abgleitet, und in der die Stimme eines pazifistischen Individualisten nicht mehr zu vernehmen ist. Um so besser läßt sich die Verärgerung begreifen, die ihm die hochideologische Aufnahme seines Romans bereitet: keineswegs damit zufrieden, als Pazifist, Antipatriot oder Defaitist erkannt zu werden, sieht er darin nur einen weiteren Beweis für die Ausbreitung des Parteigeists, selbst in der Literatur. 2 Die „lunettes 1940“ Kurz nach dem Erscheinen seines Romans schreibt Martin du Gard an die „Petite Dame“, Maria van Rysselberghe: Je m’étonne (naïvement? ) que personne ne soit capable de lire ce livre comme un récit de 1918, comme un dernier chapitre des Thibault, et que tout le monde, sans exception, ait sur le nez, boulonnées, des lunettes 1940… Et juge, d’abord, en partisan. 23 Er betont immer wieder, daß Épilogue, wie es der Titel bereits sage, die Vollendung der Thibault darstelle und vollkommen losgelöst sei vom historischen Kontext seiner Abfassung und seiner Publikation. Er habe sich darauf beschränkt, darin eine vergangene historische Wirklichkeit darzustellen, ohne irgendwelche Hintergedanken an eine eventuelle polemische Wirkung. Das Werk, das schon im Februar 1939 so gut wie abgeschlossen war, habe nichts mit dem Kriegsausbruch zu tun. Dennoch gibt er selbst zu, daß das Schreiben in Krisenzeiten zumindest die ästhetische Qualität des Buchs beeinflußt hat - eines Buchs, das unter widrigen Umständen entstand, zu oft unterbrochen werden mußte („[il] a été écrit dans de fâcheuses circonstances; trop souvent interrompu“) und größtenteils mit großer Willensanstrengung während der Panik vom September 1938 geschrieben wurde: „Une grande partie a été écrite, à force de volonté, pendant la panique de septembre.“ 24 Das späte Publikationsdatum, Januar 1940, ist einer Reihe von Verzögerungen geschuldet, die sich zum größten Teil dem Widerstand von Paulhan und Schlumberger verdanken, die versuchen, Gallimard davon abzubringen, einen Roman zu veröffentlichen, der ihrer Meinung nach einem „acte antipatriotique“ gleichkäme. Der Roman werde deshalb unweigerlich der Zensur zum Opfer fallen und könne darüber hinaus das Leben von 23 Martin du Gard: Journal, Bd. 3, Anm. 11, S. 326 (Brief an Maria van Rysselberghe vom 8.3.1940). [Dt.: Ich wundere mich (naiverweise? ), daß niemand in der Lage ist, dieses Buch als eine Erzählung von 1918 zu lesen, als ein letztes Kapitel der Thibault, und daß alle, ohne Ausnahme, die 1940er Brille auf die Nase geschraubt haben… und vor allem parteiisch urteilen]. 24 Ebd., S. 244 (Brief an Maria van Rysselberghe vom 25.5.1939). Hélène Baty-Delalande 72 Gallimards Söhnen gefährden, die sich zu diesem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft befanden. Martin du Gard faßt seine Lage folgendermaßen zusammen: Il y a déjà beaucoup de bruit et d’intrigues autour de cette publication. Certains, et parmi mes meilleurs amis, ont fait une campagne farouche pour empêcher Gallimard de me publier. Il y a, à Paris, parmi nos contemporains, pas mal de vieillards qui ont bouffé du lion depuis septembre, et qui me font un crime de vouloir publier, en pleine guerre, un livre qui raconte l’agonie d’un gazé. 25 Daß die Zensur im Dezember 1939 anstandslos die Publikationserlaubnis erteilt, erklärt sich vor allem aus der institutionellen Anerkennung, die mit dem Nobelpreis einhergeht, und vermutlich auch durch die diskrete Unterstützung durch Informationsminister Jean Giraudoux. Martin du Gards Roman kann in Gänze erscheinen, während gleichzeitig Gilles von Drieu La Rochelle sehr stark beschnitten wird. Auch als der Streit um seinen Roman größere Ausmaße annimmt, vertritt Martin du Gard unbeirrt seinen Standpunkt und weigert sich, einen aktuellen Bezug zwischen der Zeitgeschichte und der Fiktion, die sein Roman entfaltet, anzuerkennen, obwohl dieser Bezug für alle seine Leser offensichtlich ist. Er spielt Unverständnis vor, als einige Leser ihn auf den ungünstigen Zeitpunkt der Publikation ansprechen, wie zum Beispiel Duhamel, der ihm schreibt: Était-il indiqué de publier ce livre en ce moment? J’ai lu une partie de la presse. Elle est partagée. Je le conçois. Si nous sommes finalement sauvés, on dira: ‚La France était si forte qu’elle pouvait se permettre tout, même cette publication.‘ Si nous sommes perdus - et nous le serons tous, en même temps et terriblement - tu feras ton examen de conscience. Je ne crois pas, comme tel ou tel, que tu as choisi, expressément, cette heure pour publier ce livre-là. Je pense que le livre était prêt et que tu t’en es délivré. Pouvais-tu attendre deux ans? Le voulais-tu? Je n’en sais rien. Mais la question peut te tourmenter, aujourd’hui et plus tard. 26 25 Ebd., S. 311 (Brief an Marcel de Coppet vom 2.1.1940). [Dt.: Es gibt bereits viel Lärm und Intrigen um diese Veröffentlichung. Einige, und darunter einige meiner besten Freunde, haben eine wütende Kampagne geführt, um Gallimard davon abzuhalten, mein Buch zu veröffentlichen. Es gibt in Paris unter unseren Zeitgenossen viele Greise, denen seit September Riesenkräfte erwachsen sind, und die es mir als ein Verbrechen anrechnen, daß ich mitten im Krieg ein Buch publizieren möchte, das das Sterben eines Gasvergifteten beschreibt]. 26 Roger Martin du Gard/ Georges Duhamel: Témoins d’un temps troublé. Correspondance 1919-1958, hg. von Arlette Lafay, Paris: Minard 1987, S. 318-319 (Brief von Duhamel vom 21.3.1940). [Dt.: War es wirklich angebracht, das Buch gerade jetzt zu veröffentlichen? Ich habe einen Teil der Presse gelesen. Die Meinungen sind geteilt. Das wundert mich nicht. Wenn wir am Ende alle gerettet werden, wird man sagen: ‚Frankreich war so stark, daß es sich alles erlauben konnte, selbst dieses Buch‘. Wenn wir untergehen - und zwar alle gemeinsam, zur selben Zeit und auf ganz schreckliche Weise -, dann wirst Du selbst Dein Gewissen prüfen. Ich glaube nicht, wie manche anderen, daß Du absichtlich diesen Zeitpunkt für die Veröffentlichung dieses Buchs gewählt hast. Ich glaube, daß das Buch fertig war und daß Du es Dir vom Hals geschafft hast. Hättest Du noch zwei Jahre warten können? Hättest Du es gewollt? Ich weiß es nicht. Aber die Frage kann Dich noch quälen, heute und später]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 73 Der Schriftsteller ist demnach für seine Werke genauso verantwortlich wie für eine antipatriotische Handlung. Für Duhamel überwiegt der kontingente historische Charakter des Werks in Krisenzeiten gegenüber seinem überzeitlichen und autonomen Wert. Demgegenüber sind die Reaktionen auf Seiten der Pazifisten enthusiastisch: die Anhänger des Münchener Abkommens finden in der Lektüre dieses ‚Epilogs‘ einer vergangenen Epoche noch einmal einen Widerklang ihrer enttäuschten Hoffnungen. Es scheint, daß die Romanstimme, und damit die Stimme des Autors des Été 1914, eine wohltuende Alternative zum patriotischen Ton bietet, den viele als belastend empfinden. 27 Der Roman hat keine so scharfe Kritik erfahren, wie sie der Bedrohung entsprochen hätte, die er angeblich darstellte. Als man im Streit um die „mauvais maîtres“ - die falschen Lehrer der Nation - die für die französische Niederlage im Mai 1940 Verantwortlichen auszumachen versucht, ist das Werk aber Auslöser für grundsätzliche Überlegungen über das Verhältnis von Zeitgeschichte und Fiktion, über die Bedeutung der politischen Diskurse im Roman und über die Verantwortung des Romanautors. Besonders das Verhältnis der politischen - und vor allem pazifistischen - Diskurse im Roman zur zeitgenössischen Krise beschäftigt die Rezensenten. 28 Durch die ‚1940er Brille‘ zu sehen heißt nicht nur, daß man den Roman als ein zeithistorisches Zeugnis liest, als einen Bericht oder einen Rückblick. Es heißt vor allem, daß man eine ephemere Konstellation betont, die den Roman die wichtigen Fragen der aktuellen Krise in übertragener Weise verdeutlichen läßt. Nur wenige Rezensenten nehmen eine vermittelnde Position ein und betrachten den Text als ein heuristisches Dispositiv, das es erlaubt, in einem Wechselspiel zwischen den Repräsentationen der Diegese und denen des Lesers von 1940 die entscheidenden Verbindungen der Vergangenheit mit der gegenwärtigen Krise zu erkennen. Auf diese Weise kann der Leser eine tiefere Wahrheit hervorbringen, die historischen Kontingenzen überwinden und auf eine metaphysische Ebene gelangen. Ohne ein ideologisches Urteil zu fällen, schreibt Malraux daher in diesem Sinn an Martin du Gard: „L’enjeu était considérable, mais vous l’avez gagné. Tels quels, avec leurs parties vivantes et leurs parties mortes, Les Thibault seront 27 Jeanne und Michel Alexandre schreiben in diesem Sinn: „14 était tout le poids de votre vouloir et de votre puissance lancé contre la guerre menaçante. Épilogue, c’est cela encore, mais combien plus! L’esprit refusant l’accompli, dernier recours et jugement dernier“ und bezeichnen den Roman als „prodigieux rétablissement de la raison [qui] va rendre le courage de penser“. Unveröffentlichter Brief vom 20.2.1940, BNF, Fonds RMG, Bd. 66, f. 2. Vgl. zu den Reaktionen der pazifistischen Leser des Épilogue auch Nicolas Offenstadt: „‚Hardi! Martin, continue…‘. Roger Martin du Gard, le pacifisme et les pacifistes“, in: Cahiers Roger Martin du Gard 4 (1989), S. 121-135. 28 Für eine vollständige Untersuchung der Rezeption des Épilogue vgl. Hélène Baty- Delalande: „La première réception critique d’Épilogue de Roger Martin du Gard“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 1 (2007), S. 121-179. Hélène Baty-Delalande 74 un des quelques témoins de cette époque.“ 29 Für die meisten Leser von 1940 jedoch ist der Roman vor allem ein diskursives Ereignis, das sich in die Aktualität einschreibt und an ihr teilhat. Er wird somit ein zu entschlüsselnder Diskurs, dessen Zeitgebundenheit bei der Lektüre zu berücksichtigen ist. Dabei rückt seine ideologische und vor allem seine ethische Schlüssigkeit in den Vordergrund. Insbesondere der Zeitpunkt der Publikation ist für diese aktualisierende Haltung von Bedeutung, da sie nach einer Stellungnahme des Autors zur gegenwärtigen Situation sucht. Dadurch verrät sich eine äußerst geringe Distanz zwischen den Rezensenten und dem gelesenen Text, sowohl auf der Seite der begeisterten Zustimmung als auch auf der der empörten Ablehnung. Die enthusiastischen Pazifisten, genau wie die schärfsten Gegner des Romans, befragen den Text vor allem auf seine Entsprechungen zur Zeitgeschichte. Die unmittelbare Anwendung auf die Gegenwart der im Roman repräsentierten Diskurse, besonders derjenigen Antoines und Rumelles’ über die Lage im Frühjahr 1918, ist sehr häufig zu beobachten. So liest man in der Rezension der Cahiers du Sud: Personne en tout cas, aujourd’hui, ne lira ce dernier volume sans faire les plus précises applications à la guerre actuelle et à la paix de demain (la trêve et la paix finale en 1918 dans la conversation avec Rumelles, p. 74-75; ou encore l’espérance wilsonienne dans tout le journal d’Antoine, la noble et lucide réaction d’Antoine devant certaines formes du nationalisme, etc.). 30 Antoines im Roman geäußerte Hoffnungen, seine Urteile über den zu Ende gehenden (Ersten Welt-)Krieg und über den nahenden Frieden erscheinen dem Rezensenten im Jahr 1940 wie eine Erinnerung an vergangene Ideale, aber er nimmt diese Erinnerung als den Versuch wahr, den historisch völlig gescheiterten Pazifismus erneut durchzusetzen. Das fiktive Tagebuch wird nicht als ein Zeugnis der Vergangenheit gelesen, sondern als ein wieder zeitgemäßes Glaubensbekenntnis. Diese aktualisierende Lektüre, die vom literarischen Charakter des Texts absieht, findet sich auch bei den Gegnern des Romans. Sorgfältig ausgewählte Ausschnitte aus Rumelles’ oder Antoines Äußerungen werden ausführlich als Stellungnahmen zitiert und kommentiert, für die der Autor selbst verantwortlich zeichne. Einige Rezensenten beschränken sich darauf, 29 Unveröffentlichter Brief von André Malraux an Martin du Gard, April 1940, BNF, Fonds RMG, Bd. 117 (in Auszügen abgedruckt im Katalog zu der Martin du Gard gewidmeten Ausstellung der Bibliothèque nationale von 1982, Nr. 483, S. 124). [Dt.: Die Schwierigkeiten waren beträchtlich, aber Sie haben sie gemeistert. In ihrer jetzigen Form, mit ihren lebendigen und ihren toten Teilen, werden die Thibault eines der wenigen Zeugnisse unserer Epoche sein]. 30 Robert Kanters in Les Cahiers du Sud, Februar 1940, S. 433-435. [Dt.: Niemand wird heute jedenfalls diesen letzten Band lesen, ohne die engsten Verbindungen zum gegenwärtigen Krieg und zum Frieden von morgen herzustellen (der Waffenstillstand und der schließliche Frieden von 1918 im Gespräch mit Rumelles, S. 74-75; oder die Hoffnungen auf Wilsons Programm im gesamten Tagebuch von Antoine, Antoines edle und hellsichtige Reaktion auf gewisse Formen des Nationalismus etc.)]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 75 die Unhaltbarkeit dieser Äußerungen im Angesicht der Gegenwart zu betonen. Sie bestreiten damit wohlgemerkt die Legitimität einer Aussage, die in der Fiktion vor zwanzig Jahren gemacht worden ist und die gerade aufgrund des gewählten fiktiven Rahmens für sich beanspruchen darf, die Ereignisse der Zwischenkriegszeit noch nicht zu berücksichtigen und schlicht an die Fehlurteile der Vergangenheit zu erinnern. Ein Beispiel sind die Nouvelles littéraires, deren Rezension im allgemeinen positiv, wenn auch durch ideologische Vorbehalte gefärbt ist, ein anderes ist die Revue universelle, die Zeitschrift der Action française, die den Autor des Épilogue der Lüge und der Feigheit zeiht. Der Rezensent der Nouvelles littéraires gesteht zu, daß Antoines Denkweise weit verbreitet sei, um sie dann aber sofort im Zusammenhang der Pazifismusproblematik zu beurteilen und der Tendenz der ‚revolutionären Pazifisten‘ („pacifistes révolutionnaires“ 31 ) zuzuordnen. Diese Denkweise wird zunächst für die Irrtümer verantwortlich gemacht, die zum gegenwärtigen Krieg - der als ein Echo dieser eitlen Leidenschaften („écho de ces vaines ferveurs“ 32 ) bezeichnet wird - geführt hätten, um dann grundlegend anhand von nachträglichen historischen Argumenten und ideologischen Einwänden widerlegt zu werden. Ein Zitat aus Antoines Ausführungen - „[l]’infime minorité de ceux qui ont intérêt à fomenter les guerres…“ 33 - kommentiert der Rezensent folgendermaßen: Mais la Russie, qui a fait une politique pacifiste, s’est jetée sur la Finlande, se jettera peut-être demain sur la Suède ou sur la Roumanie. […] Il faut accepter que l’amour de la paix n’est pas tel que les grands peuples puissent l’admettre comme but final de leur action: il y a une vitalité latente chez les nations fortes qui les pousse éternellement à lutter et à durer, et le navrant exemple du Danemark et de la Suède n’est pas de ceux qui encouragent les pacifistes. 34 Der Rezensent gibt dann den Pazifisten, deren Archetyp Antoine sei, die Schuld am gegenwärtigen Krieg: „Si nous n’avions pas eu en 1918 les candeurs que nous rappelle M. Martin du Gard, nous aurions peut-être forgé une autre paix en 1919 et la guerre ne serait pas revenue aussi vite.“ 35 Er widerspricht also grundsätzlich den begeisterten Interpretationen der pazifistischen Leser und hält, ohne sich zu den tatsächlichen Absichten des Autors 31 Edmond Jaloux in Les Nouvelles Littéraires, 20. April 1940, S. 3, und 27. April 1940, S. 3. 32 Ebd. 33 Ebd. [Dt.: <d>ie winzige Minderheit jener, die ein Interesse daran hat, Kriege anzuzetteln]. 34 Ebd. [Dt.: Aber Rußland, das eine pazifistische Politik betrieben hat, hat sich auf Finnland gestürzt und wird sich vielleicht morgen auf Schweden oder Rumänien stürzen. <…> Man muß akzeptieren, daß die Liebe zum Frieden nichts ist, was die großen Völker als den Endzweck ihrer Handlungen annehmen könnten: es gibt eine latente Vitalität der starken Nationen, die sie ewig antreibt zu kämpfen und fortzudauern, und das betrübliche Beispiel Dänemarks und Schwedens ist nicht dazu angetan, die Pazifisten zu ermutigen]. 35 Ebd. [Dt.: Wenn wir 1918 nicht die Blauäugigkeit gehabt hätten, an die uns Herr Martin du Gard erinnert, hätten wir 1919 vielleicht einen anderen Frieden geschmiedet und der Krieg wäre nicht so schnell wiedergekehrt]. Hélène Baty-Delalande 76 zu äußern, Romanaussagen wie die genannte vor allem als negatives Beispiel fest: als Darstellung jener Illusionen der Vergangenheit, die den Pazifisten von 1940 als Warnung dienen sollten. Der rechtsextreme Rezensent der Revue universelle setzt noch zu einem wesentlich heftigeren Angriff gegen dieses ‚üble Buch‘ („méchant livre“) an, das nichts als Schaden anrichten könne („ne peut faire que du mal“). 36 Er widerlegt insgesamt und im einzelnen zahlreiche lange Zitate aus Épilogue, um die ideologischen Manipulationen seines Autors zu beweisen. Dem Argument der historischen Wahrheit Antoines und seiner Ideen hält er entgegen, daß es unangebracht und sogar schädlich sei, diese vorzuführen: Si les idées d’Antoine sont seulement les idées d’Antoine, et non pas des outils de propagande, il n’était pas nécessaire de les exhumer, au temps où nous sommes, et d’encourir pour la deuxième fois le soupçon de vouloir troubler les âmes françaises, amollir les volontés, et fixer, pour la prochaine paix, ce programme de paix blanche qui, de 1960 à 1970, ferait renaître une guerre nouvelle. 37 Die ethische Kritik stützt sich somit auf eine ideologische Kritik, die auf Argumenten gründet, die sie als historische Wahrheiten ausgibt: da die historische Wahrheit wesenhaft und nicht kontingent ist, dürfen die Illusionen von 1918 nicht als die Wahrheit von 1918 dargestellt werden, sondern nur als ewige Irrtümer! Eine solche Argumentation läuft notwendig auf eine Anklage hinaus, die in der Tat folgt: Insidieusement, Épilogue est un acte de propagande. L’effort suprême du pacifisme des renoncements, qui plaide que ce n’est pas lui qui a permis le redressement de l’Allemagne, et ramène la hideuse guerre; et qui veut que les sottises recommencent. Le pacifiste R. Martin du Gard a trouvé un biais, par le rétrospectif, pour faire le panégyrique du wilsonisme, et même d’un hyper-wilsonisme qui nous rendrait esclaves d’ici peu. […] Épilogue est le prologue d’une nouvelle campagne pour brouiller les certitudes les plus éclatantes… 38 Ob nun Pseudochronik oder fiktives Zeugnis, das Werk wird als Betrug entlarvt: wenn er auch nicht so weit geht, den Roman schlicht als übertragene Darstellung der gegenwärtigen Situation zu bezeichnen, kritisiert der 36 Robert Kemp in La Revue universelle, 1. März 1940, S. 365-370. 37 Ebd. [Dt.: Wenn Antoines Ideen nur die Ideen von Antoine sind, und nicht Propagandawerkzeuge, dann war es nicht nötig, sie in unserer Zeit auszugraben und sich zum zweiten Mal dem Verdacht auszusetzen, die französischen Gemüter beunruhigen und die Willenskräfte schwächen zu wollen, und für den nächsten Frieden dieses Programm eines kalten Friedens zu entwerfen, das zwischen 1960 und 1970 den nächsten Krieg ausbrechen lassen würde]. 38 Ebd. [Dt.: Auf hinterhältige Weise ist Épilogue ein Stück Propaganda. Die höchste Leistung des Verzichtspazifismus, der behauptet, daß nicht er es gewesen sei, der es Deutschland erlaubt hat, sich wieder aufzurichten, und der den schrecklichen Krieg wiederbringt, und der will, daß die Dummheiten wieder anfangen. Der Pazifist R. Martin du Gard hat durch die Retrospektive ein Mittel gefunden, um das Loblied des Wilsonismus zu singen, eines Hyper-Wilsonismus, der uns bald zu Sklaven machen würde. <…> Épilogue ist der Prolog zu einer erneuten Kampagne, um die eindeutigsten Gewißheiten zu verunklaren…]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 77 Rezensent doch, daß Martin du Gard eine Geschichte nachschreibt, die gewichtige Konsequenzen für die Gegenwart gehabt hat. Historiographischer und ideologischer Anspruch sind eng verbunden, wobei eine allgemeine Begriffsverwirrung hinsichtlich der Chronologie (Erzählzeit, Zeit der Niederschrift, Lektürezeit) und der Gattungen (Fiktion/ Geschichte, Person/ Autor) herrscht. Die romaneske Darstellung wird zum ideologischen Diskurs, dem man fast präskriptiven Charakter unterstellt. Ob die Rezensenten nun die Ideen kritisieren, die im Roman dargestellt werden, oder ob sie gegen den in der Fiktion enthaltenen politischen Diskurs polemisieren, sie bemühen sich in jedem Fall darum, einen Sinn zu entschlüsseln, der sich als Erklärung oder als Beispiel für die erneute Krise auf die Gegenwart beziehen läßt. Die Kritiker versuchen, den Status der literarischen Äußerung zu definieren und betonen die Verantwortung des Schriftstellers: er ist verantwortlich für seinen Text, für die Publikation des Romans, für die von seinen Figuren vertretenen Standpunkte und für die möglicherweise schädlichen Auswirkungen, die sein Roman auf die Kampfmoral der Franzosen haben kann. Sie heben besonders die Zeitumstände der Niederschrift hervor und spielen die Bedeutung des literarischen Kontexts der Äußerung herunter. Einzelne Textpassagen werden als besonders wichtig dargestellt, während gleichzeitig die Gattung und der besondere Status des Épilogue als letzter Roman der Serie der Thibault ausgeblendet werden. Auch wenn diese aktualisierende Rezeption, die moralisierend und ideologisch verfährt, als vollkommen unangemessen und - wie Martin du Gard meint - parteiisch erscheinen kann und zudem wohl am literarischen Charakter des Texts, seinen ironischen Effekten und an der Werkarchitektur vorbeigeht, so ist sie dennoch äußerst bezeichnend für die „lunettes 1940“, in deren Perspektive beliebig herausgegriffene Zitate dazu dienen, die Verantwortung des Autors hervorzuheben. Darin trifft die ideologische Rezeption jedoch in der Tat eine Eigenheit des Épilogue: dieser Roman des Schweigens, dieses allmähliche Verlöschen der Stimme des durch das sterbende Gasopfer vertretenen Pazifismus, ist durchzogen von provozierenden Äußerungen über den Krieg und die Politik, die man durchaus auch einzeln zur Kenntnis nehmen kann. 3 Eine pazifistische Antirhetorik In Épilogue wird die Möglichkeit eines wirksamen pazifistischen Diskurses gleich zweifach verneint: zum einen durch die Gesamtstruktur des Romans, der den langsamen Erstickungstod mit dem illusorischen Entstehen von Wilsons Frieden überblendet und so auf grausame Weise das Mißverhältnis zwischen dem Todeskampf und dem Wiederaufbau hervorhebt; zum anderen durch die ironische Verschachtelung von unvollendeten Äußerungen und abgebrochenen Geständnissen, in denen sich die Hemmungen ausdrücken, sich auszusprechen, wie in diesen Worten eines Kriegsinvaliden: Hélène Baty-Delalande 78 Il faut avoir attaqué, et attaqué comme fantassin pour comprendre… Combien sommes-nous, à l’arrière, qui savons ce que c’est? Ceux qui en sont revenus, combien sont-ils? Et ceux-là, pourquoi en parleraient-ils? Ils ne peuvent, ils ne veulent rien dire. Ils savent qu’on ne pourrait pas les comprendre. 39 Das fragmentarische Sprechen über den Krieg, das sich nicht zu einer expliziten pazifistischen Rhetorik fügen läßt, gibt auf indirekte Weise die Grenzen dieses Sprechens zu erkennen, ohne jemals das Ideal in Frage zu stellen, dem der Autor weiter verpflichtet ist: Zwischen dem Schweigen und dem diskursiven Engagement entwirft er eine pazifistische Antirhetorik, die sich gegen die Rhetorik im allgemeinen und besonders gegen die pazifistische Rhetorik richtet. Das bleierne Schweigen dieses Romans, der jegliches Zugeständnis an den konventionellen Kriegsroman verweigert, wird allerdings punktuell von ironischen Spitzen durchbrochen, die die zu erwartenden Klischees über die Kriegspropaganda, die Ohnmacht der Regierungen und die Rolle der Vereinigten Staaten bedienen. In der Übertreibung, die dabei eingesetzt wird, läßt sich jedoch die Ironie erkennen. So wird beispielsweise ein klassisches Thema des pazifistischen Romans, nämlich die systematische Verbreitung von Fehlinformationen durch die Regierungen, im Gespräch zwischen Antoine und dem Diplomaten Rumelles in komischer Weise begrifflich wiederholt und gesteigert, bis innerhalb von zwei Seiten aus dem „bourrage de crânes“ (wörtlich „Schädelstopfen“, also Kriegspropaganda) die „transmission arrangée des faits“ (die arrangierte Übermittlung der Tatsachen), der „mensonge organisé“ (die organisierte Lüge), das „bien mentir“ (gutes Lügen), der „mensonge utile“ (die nützliche Lüge) und schließlich der „mensonge salutaire“ (die heilsame Lüge) geworden ist. Diese spielerische lexikalische Variation ist eingestreut in ein Gespräch über die Bombardements der deutschen Zivilbevölkerung durch die Alliierten und über die bewußt in Kauf genommenen Massaker am Chemin des Dames - einem der emblematischen Schauplätze des Ersten Weltkriegs -, wodurch ein Effekt zwischen tragischer Ironie und reinem Hohn entsteht, der der üblichen pazifistischen Rhetorik fremd ist. Anstatt mimetisch die skandalösen Äußerungen des Diplomaten zu reproduzieren, erzeugt die lexikalische Verschiebung eine fast schon komische Distanz, die jeglichen Anspruch auf staatsmännische Würde in der Rede des Diplomaten von innen heraus zersetzt. Der übertriebene Gebrauch von Allgemeinplätzen, die zudem noch metaphorisch über- 39 Zitate aus Épilogue nach der Ausgabe Roger Martin du Gard: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Gallimard 1955, hier S. 828. [Deutsche Fassung nach der Ausgabe Roger Martin du Gard: Sommer 1914 und Epilog, Hamburg/ Wien: Paul Zsolnay 1956, hier S. 817-818: „Man muß einen Angriff mitgemacht haben und man muß ihn als Infanterist mitgemacht haben, um zu verstehen, was das heißt […]. Im Grunde genommen, wie viele von uns im Hinterland wissen eigentlich, wie die Sache aussieht? Wie viele sind eigentlich davongekommen? Um warum sollten diese darüber sprechen? Sie können ja nichts sagen und sie wollen gar nicht sprechen. Sie wissen ja, man kann sie gar nicht verstehen“]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 79 frachtet formuliert werden, ist ein weiteres Merkmal dieses stilistischen Spiels: Gouverner en temps de guerre, c’est quelque chose comme piloter un navire qui fait eau de toutes parts: il s’agit d’improviser, d’heure en heure, des trucs pour aveugler les voies d’eau les plus menaçantes; on vit dans une atmosphère de naufrage; à peine si on a, de temps à autre, le loisir de faire le point, de regarder la carte, d’indiquer une vague direction… M. Clemenceau fait comme les autres: il subit les événements, et, quand il le peut, il les exploite. Je le vois d’assez près, au poste où je suis. Curieux phénomène… 40 Es geht nicht so sehr darum, durch die mimetische Darstellung Clemenceau für sein unverantwortliches Handeln anzuklagen, sondern die Hohlheit der Rede selbst ironisch vorzuführen, die von ihrem eigenen Schwung mitgerissen wird und dabei doch vollkommen sinnentleert bleibt. Zu nennen wäre auch die pseudomimetische Rede des Diplomaten über die „billevesées“, das ‚aufgeblasene Geschwätz‘ des amerikanischen Präsidenten Wilson, in der sich in aberwitziger Weise die Klischees über das amerikanische ‚Volk von gutmütigen großen Kindern‘ häufen und in der die bombastische Rhetorik Rumelles wiederum durch eine feine Ironie unterlaufen wird, die dem Text eine derart provozierende Polyphonie verleiht, daß diese Passage vom amerikanischen Übersetzer unterdrückt wurde. 41 Eine andere, überraschendere Form, vorgegebene Diskurse im Roman umzulenken, die von der Kritik von 1940 nicht bemerkt wurde, ist die Art, wie Martin du Gard Äußerungen Wilsons nachschreibend verfremdet, so daß sie nicht dem pazifistischen Diskurs der 1930er Jahre, sondern eher dem Vokabular der Pazifisten von vor 1914 entsprechen. Wilsons Reden werden nie wörtlich wiedergegeben, sondern tauchen nur in Anspielungen oder Zusammenfassungen von Antoine auf, was ihm erlaubt, die Rede lexikalisch anders zu nuancieren. Während Wilsons Rede vom Juli 1918 ein moralisierendes Register zieht („honneur“, „promesses et conventions religieusement observées“, „égoïsme“, „châtiment“, „noble fondement du respect mutuel des droits“) 42 , finden sich bei Antoine die lapidaren Formeln der Ligen für 40 Ebd., S. 805. [Dt. Ausgabe S. 794: „In Kriegszeiten regieren ist ungefähr dasselbe wie ein Schiff steuern, das in allen Fugen leck ist: man muß von Minute zu Minute improvisieren, um die bedrohlichsten Löcher zu verstopfen. Wir leben wie bei einem Schiffbruch; man hat kaum hie und da Zeit festzustellen, wo man ist, die Karte anzusehen und die Richtung anzugeben, in der man weiterfahren soll… Herr Clemenceau tut, was die anderen tun: er ist ein Opfer der Ereignisse und nützt sie aus, wenn er kann. Ich sehe das aus nächster Nähe, auf dem Posten, auf dem ich stehe. Ein seltsames Phänomen…“]. 41 Zu Martin du Gards Auseinandersetzung mit seinem amerikanischen Übersetzer vgl. Olaf Müller: „Les ‚guerriers appliqués‘ et la parole de paix de Roger Martin du Gard dans l’Épilogue (1940)“, in: Sylvie Caucanas/ Rémy Cazals/ Nicolas Offenstadt (Hg.): Paroles de paix en temps de guerre, Toulouse: Privat 2006, S. 307-317, besonders S. 308. 42 Es handelt sich bei diesen Zitaten um Auszüge aus der französischen Fassung von Wilsons Rede an Washingtons Grab am Mount Vernon vom 4. Juli 1918, die im Zusammenhang lauten: „Le consentement de toutes les nations à se laisser guider dans leur Hélène Baty-Delalande 80 den Frieden durch das Recht (Ligues de la paix par le droit) aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der „accord entre tous les États sur un code de droit international, aux lois duquel ils s’engageront tous à se soumettre“ 43 spiegelt eher die Wunschvorstellungen der europäischen Friedensfreunde des 19. Jahrhunderts wider, als die von Briand inspirierten Illusionen, die sich nach 1914 verbreiteten. Dieses Spiel mit Echos und Anklängen kann leicht darüber hinwegtäuschen, daß Martin du Gard hier den Prozeß einer allmählichen Desillusionierung beschreibt, und nicht bloß versucht, auf verfremdete Weise den Wettlauf zum Krieg der 1930er Jahre darzustellen. Dadurch entgeht er auch der konventionellen pazifistischen Rhetorik, mit der ihn die Rezensenten von 1940 gerade in Verbindung bringen wollen. Bemerkenswert ist schließlich auch, daß es Martin du Gard dennoch gelingt, die Botschaft an den Rassemblement universel pour la paix (RUP) fragmentarisch, aber deutlich erkennbar wiederzuverwenden. Einzelne Passagen daraus werden im Laufe eines ansonsten vollkommen unauffälligen Gesprächs verschiedenen Romanfiguren im Rahmen eines Abendessens im Familienkreis in den Mund gelegt, bei dem auch eine Szene mit einer stillenden Mutter nicht fehlen darf. Das Gespräch wird ausgelöst durch die Nachricht vom Tod eines Kleinkinds während eines deutschen Bombenangriffs auf Paris, was eine Debatte über die ‚teutonische Barbarei‘ hervorruft. Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage nach der Grausamkeit des Kriegs im allgemeinen, sowohl für Zivilisten als auch für Soldaten. Auf die schon provokante Frage aus der Botschaft von 1938 an den RUP („Les vieillards, les femmes, les enfants sont-ils des victimes plus ‚innocentes‘ que les fils, les époux, les pères, jetés en première ligne? “ 44 ) antwortet in der im Jahr 1918 angesiedelten Fiktion eine Überlegung Antoines: „Le massacre des innocentes populations civiles vous paraît-il vraiment beaucoup plus inhumain, beaucoup plus immoral, beaucoup plus monstrueux, que celui des jeunes soldats qu’on envoie en première ligne? “ 45 Die einzelnen Sätze der Botschaft an den RUP sind im Roman auf Antoine und Jenny verteilt und von Momenten des Schweigens oder prosaischen Alltagsdetails wie dem Zurechtrücken einer Gabel oder dem Umwerfen eines Bechers unterbrochen. conduite à l’égard les unes des autres par les mêmes principes d’honneur, de respect pour la loi commune, qui déjà régissent les rapports entre individus dans tous les États modernes. Ainsi toutes promesses et conventions seraient religieusement observées, toute injustice inspirée par l’égoïsme recevrait son châtiment, on inaugurerait le règne de la confiance mutuelle établie sur le noble fondement du respect mutuel des droits.“ Messages, discours, documents diplomatiques relatifs à la guerre mondiale, Paris: Bossard 1919, Bd. 2, S. 290. 43 Martin du Gard: Épilogue, Anm. 39, S. 924. [Dt. Ausgabe S. 916: „Einigung zwischen allen Staaten über einen Kodex des Internationalen Rechts, dessen Vorschriften sich zu unterwerfen sie sich alle verpflichten“]. 44 Vgl. Anm. 8. 45 Martin du Gard: Épilogue, Anm. 39, S. 872. [Dt. Ausgabe S. 860-861: „Sie halten es wirklich für unmoralischer, für ungeheuerlicher, die unschuldige Zivilbevölkerung niederzumetzeln, als junge Soldaten in die Feuerlinie zu schicken? “]. Pazifismus und umgelenkte Diskurse bei Roger Martin du Gard 81 Sie erhalten durch diese Mischung aus affektierter Feierlichkeit und fiktionaler Abschwächung einen eigenen Klang. Die rhythmische Struktur des Texts von 1938 mit dem anaphorischen Einsatz des „Ce qui est monstrueux, c’est… “ wird beibehalten, bis hin zu Antoines Schlußfolgerung, in der die Botschaft des Manifests deutlich wird: „Ce qui est monstrueux, c’est la guerre tout court.“ 46 Die Abfassung der beiden Texte, des Manifests und des Romans, verlief parallel, aber die jeweilige Wirkung ist eine grundlegend andere. Während Martin du Gard mit seiner Botschaft an den RUP die Rolle des pazifistischen Intellektuellen einnimmt, der an das Verantwortungsbewußtsein der Völker appelliert und sich über die Staatsbarbarei empört, verleiht er den Fragmenten seiner Botschaft im Roman einen völlig anderen Status, indem er sie in eine indirekte, vermeintlich chorale rhetorische Anlage einbettet, in der sie durch die Nüchternheit des Kontexts und die Auflösung der pazifistischen Ideologie in der fiktionalen, vom Schweigen beherrschten Welt gebrochen werden. Diese drei Beispiele dafür, wie die zu erwartenden Redeweisen durch die fiktionale Gegenrhetorik umgelenkt werden, passen nicht in das Bild einer klaren pazifistischen Ausrichtung des Romans. Sie zeigen vielmehr, wie jeder etablierte Diskurs verändert wird, sobald er sich zu einem Refrain oder Schlagwort zu verfestigen beginnt, und lassen für diesen gesamten Roman des Schweigens Zweifel an der Bedeutung der in ihm verwendeten Wörter aufkommen. Da diese Wörter unweigerlich Träger von Ideologemen sind, versucht der pazifistische Schriftsteller, ihnen in den Sprachspielen der Fiktion zu widerstehen, und sei es auf Kosten der pazifistischen Rhetorik. Abschließend möchte ich noch einmal auf die pazifistische Stimme Martin du Gards zurückkommen, die in den persönlichen Schriften zurückhaltend - wenn auch für einige Leser von 1940 immer noch zu aufdringlich - bleibt, um sich im Roman aufzulösen, zu verkleiden und ironisch zu werden. Dazu bietet sich die Romanfigur Jean-Pauls an, des 1915 geborenen Sohns von Jacques Thibault, in der die drei erwähnten Aspekte zusammenlaufen. Antoine schreibt in seinem Tagebuch von 1918, mit dem Blick auf das ferne Jahr 1940: „Jean-Paul, je me demande quelles seront tes idées sur la guerre, plus tard, quand tu auras vingt-cinq ans. Tu vivras sans doute dans une Europe reconstruite, pacifiée…“ 47 . Jean-Pauls Präsenz im Épilogue, die die einzige sichtbare Verbindung der Romanhandlung mit 1940 bildet, führt viele Leser zu der Frage, wie er sich wohl 1940 tatsächlich politisch entschieden hätte: Jean Paulhan schlägt die Action française 48 vor, die Pazifisten 46 Ebd., S. 871-872. [Dt. Ausgabe S. 861: „<…> der Krieg an sich ist ungeheuerlich“]. 47 Ebd., S. 980. [Dt. Ausgabe S. 974: „Jean-Paul, ich frage mich, was du einmal über den Krieg denken wirst, später, im Jahr 1940, wenn du fünfundzwanzig Jahre alt bist. Du lebst dann gewiß in einem Europa, das wieder aufgebaut und befriedet ist“]. 48 „Je suis plus embarrassé par le Journal d’Antoine: si tendancieux, appelant si impérieusement la réplique que le jeune neveu, je le crains, sera d’Action française à vingt ans. Tant pis.“ Unveröffentlichter Brief von Jean Paulhan an Martin du Gard vom 12.12.1940, BNF, Fonds RMG, Bd. 66, f. 42-43. [Dt.: Ich bin mehr in Verlegenheit wegen Hélène Baty-Delalande 82 schwanken zwischen Kriegsdienstverweigerung und dem Dienst als Soldat an der Seite seiner Mitbürger. Besonders erstaunlich ist aber, daß sich Martin du Gard die Mühe macht, diese Fragen privat zu beantworten. So schreibt er an einen jungen mobilisierten Soldaten: Songez qu’en cet hiver 40, Jean-Paul, qui aurait vingt-cinq ans, comme vous peutêtre, serait à côté de vous, luttant, avec la sombre résignation sensée d’un pacifiste, pour que l’avenir du monde ne sombre pas dans l’horreur, pour que l’homme de demain ait un autre destin que celui que notre génération absurde vous a fait. 49 Die pazifistische Stimme ist nie so deutlich zu vernehmen wie außerhalb der Fiktion, in den persönlichen Mitteilungen an Empfänger mit den gleichen Überzeugungen, und selbst da bleibt sie zweideutig, weil sie zugleich Ermutigung und Entsagen beinhaltet. Martin du Gard hat schon lange den Glauben an eine rhetorische Form in der Fiktion aufgegeben, die der Sache des Friedens dienen könnte. Er setzt hingegen seine ganze Hoffnung auf eine Rhetorik der Fiktion, die auf der Kraft der monumentalen Konstruktion beruht, auf dem Effekt des Widerklangs zwischen den Romanfiguren und darauf, daß die brisanten Diskurse auf kleine, explosive Textinseln im Roman verstreut werden. des Tagebuchs von Antoine: es ist so tendenziös und verlangt so unbedingt nach einer Gegenantwort, daß der junge Neffe, wie ich fürchte, mit zwanzig Jahren der Action française angehören wird. Aber sei’s drum]. 49 Martin du Gard: Correspondance générale, Bd. 8, Anm. 1, S. 63 (Brief an René Thomas- Coèle vom 10.3.1940). [Dt.: Denken Sie sich Jean-Paul, der in diesem Winter 1940 fünfundzwanzig Jahre alt wäre - so alt wie Sie vielleicht -, an Ihrer Seite, wo er mit der finsteren, vernünftigen Ergebenheit des Pazifisten kämpft, damit die Zukunft der Welt nicht im Grauen endet, damit der Mensch von morgen ein anderes Schicksal kennen wird als dasjenige, das unsere absurde Generation Ihnen bereitet hat]. Dominique Perrin Eine „dämonische Version“ des Parzifal. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq J’ai longtemps pensé qu’il importait, à notre époque surtout, d’écrire comme on se jette à l’eau. (Julien Gracq, 1969) 1 Der Name Julien Gracq ist mittlerweile in der intellektuellen Welt Frankreichs eine wichtige Referenz. In Zeitungen und Zeitschriften sind Gracq und sein Werk überaus präsent; ihnen wurde eine große Anzahl akademischer Publikationen gewidmet. Dabei bringt der Prozeß der Erhebung Gracqs in das kollektive Bewußtsein der Nation einen von der Gracq-Forschung gerechtfertigten, ja maßgeblich beeinflußten Mythos ans Licht: den Mythos einer ebenso heiteren wie reflektierten und autonomen Berufung als Schriftsteller, einer gewissermaßen schicksalhaften Bestimmung eines Mannes, der den von kollektiven und individuellen Kontingenzen befreiten Weg eines kreativ Schaffenden gesucht und gefunden hat. Der Autor von Le Rivage des Syrtes, der sich früh aus der Literaturszene zurückgezogen hatte und bereits zu Lebzeiten durch die Aufnahme in die angesehene Buchreihe der Bibliothèque de la Pléiade zum modernen Klassiker 2 erhoben worden war, wird dabei - auf mehr oder weniger explizite Weise und in verschiedenen Schattierungen - zu einem großen ‚außerhalb seiner Zeit‘ stehenden Schriftsteller erklärt. Dennoch gibt es einen Moment, in dem ein Mann Julien Gracq erfindet, und dieser Moment ist gleich in mehrfacher Hinsicht Teil der Geschichte. Das Buch, von dem aus diese Erfindung ihren Ausgang nimmt, verläßt im Dezember 1938 die Druckpressen und wird im Januar 1939 in das Angebot des Verlegers José Corti aufgenommen. Sein Autor ist Louis Poirier, ein knapp 30jähriger Geschichtslehrer, agrégé im Fach Geographie und aktives Mitglied der kommunistischen Partei. Jede Erstpublikation positioniert ihren Verfasser in besonderer Weise im kollektiven Raum seiner Zeit. Der Blick auf die 1930er Jahre bestätigt die Stichhaltigkeit einer solchen Aussage. Im Verlauf dieser Periode machen 1 Julien Gracq: „Sur Jean Paulhan“ (1969), in: ders.: Appendices (Témoignages), Œuvres complètes, hg. von Bernhild Boie, Bd. 2, Paris: Gallimard (Pléiade) 1995, S. 1163. [Dt.: Ich war lange Zeit der Ansicht, daß es wichtig sei - gerade in einer Epoche wie unserer - so zu schreiben, wie man ins Wasser springt]. 2 Vgl. die Aufnahme seiner Werke in die französische Klassikerausgabe Gallimards, die Bibliothèque de la Pléiade: Julien Gracq: Œuvres complètes, Bd. 1 (1989) und Bd. 2 (1995), hg. von Bernhild Boie. Dominique Perrin 84 einige deutsche und deutschsprachige Schriftsteller die Literatur zu einem Ort des Denkens und der politischen Mobilisierung, der in einem direkten Verhältnis zu einer politischen Situation steht, die den Begriff der Humanität auf moralischer wie auf sonstiger intellektueller Ebene in Frage stellt. Ihre Bemühungen darum, die Tragweite der sich überschlagenden historischen Ereignisse zu beschreiben und zu analysieren, sind eng mit dem Roman und weiteren publizistischen Medien verbunden. Auf französischer Seite ist der Grad an politischer Anteilnahme sehr variabel, wohl aber, selbst bei den hellsichtigen und aufgeschlossenen unter den französischen Intellektuellen - ganz anderer Art. Die Anfänge des Existentialismus mit Jean-Paul Sartres La nausée (1938) und die weniger markanten Anfänge des nouveau roman mit Nathalie Sarrautes Tropismes (1939) mögen in der Retrospektive als zwei emblematische Fälle innerhalb einer keineswegs einheitlichen Verlagslandschaft erscheinen können. Was Louis Poirier mit Sartre und Sarraute verbindet ist, daß auch er am Ende der 1930er Jahre erstmals in das literarische Feld eingreift, also zu einer Zeit, die in Frankreich zunächst als Wendejahre (années tournantes) bezeichnet wurde, und später dann als Höhepunkt im Verlauf der sogenannten montée des périls, der sich immer eindringlicher ankündigenden Kriegsgefahr. Nun reklamiert Julien Gracq in Au château d’Argol, einem Kurzroman, der bis 1945 sein einziges Werk bleiben sollte, drei Monate nach dem Münchener Abkommen die Autonomie der romanesken Welt gegenüber der zeitgenössischen Realität oder der diskursiven Ordnung des Denkens. Au château d’Argol ist gekennzeichnet durch seinen emphatischen Stil, den unrealistischen Charakter der darin konstruierten Romanwelt und ihrer Figuren sowie die Suche nach künstlerischen Bezugspunkten. Der „Avis au lecteur“, der dem Text vorangestellt ist, ruft drei gemeinsam vorgestellte Quellen des Werks auf: den Surrealismus, den Parzifal von Wagner und den am Ende des 18. Jahrhunderts in England entstandenen roman noir. Wie sind der Geschichts- und Geographielehrer Louis Poirier, der jeden zweiten Abend für die kommunistische Partei aktiv ist, und jener bereits ‚hochmütige‘ Julien Gracq zusammenzubringen, dessen Schreiben sich von vornherein so offenkundig in der Form einer inaktuellen Prosa präsentiert? Die Antwort auf diese Frage ist von den Autoren des Dictionnaire des intellectuels français offengelassen worden. Sie nutzen eine bemerkenswerte doppelte Verneinung, um den Autor von Au château d’Argol zu charakterisieren. Er sei angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts ‚nicht gleichgültig‘ geblieben: „[…] il n’a pas été indifférent à l’histoire du siècle.“ 3 Davon ausgehend möchte ich 3 Vgl. Dictionnaire des intellectuels français, hg. von Michel Winock und Jacques Julliard, Paris: Seuil 1996, S. 551-553. Im französischen Original enthält der von Jean-Louis Tissier verfaßte Artikel folgende biographische Skizze: „GRACQ (Julien) [Louis Poirier]. Né en 1910. Depuis la publication d’Au château d’Argol en janvier 1939, le nom de ‚Julien Gracq‘, pseudonyme de Louis Poirier, est associé à une œuvre littéraire de haute tenue et à l’attitude singulière de son auteur dans la vie des lettres françaises. Julien Gracq est souvent considéré comme un classique qui, depuis La Littérature à 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 85 in der Folge zwei mögliche Interpretationen der Reihe von Handlungen und Entscheidungen vorschlagen, mit denen die Geburt der als nicht-klassifizierbar geltenden Figur Julien Gracq rekonstruiert werden kann. Seit seinem Erscheinen wird Au château d’Argol einer ambivalenten literarischen Kategorie überlassen: der ahistorischen Phantastik im Roman. Daher soll zuerst analysiert werden, auf welche faktischen Elemente sich eine solche Lektüre stützen kann. Ihre Schwächen sollen kurz angesprochen werden. Zum zweiten werde ich mich mit einer zweiten Interpretationsmöglichkeit beschäftigen, die sich auf eine von Gracq selbst im Rückblick betonte Reihe ‚subjektiver‘ Elemente stützt. Im Anschluß soll gezeigt werden, inwiefern das erste Buch von Gracq - das im Sommer 1937 begonnen und im Januar 1939 publiziert wurde - sehr wohl als Reaktion auf die politische Situation verstanden werden kann, die das Münchener Abkommen festschreibt. Die zuerst angesprochene Interpretation ist mit bemerkenswerter Kontinuität die vorherrschende, und das vom Jahr 1939 an, als die unmittelbaren Reaktionen der Literaturkritik sich auf nichts als das Werk selbst beziehen konnten, bis heute, da die Kommentatoren nicht nur ein inzwischen imposantes Gesamtwerk Gracqs überblicken können, sondern auch über eine große Menge an Informationen über seinen Autor verfügen. Gemäß ihrem Anspruch auf ein einheitliches Interpretationsmodell berücksichtigt diese Interpretation die Leitlinien der Biographie Gracqs, die textuellen Besonderheiten von Au château d’Argol und die frühe Rezeptionsgeschichte des Textes. Louis Poirier wird 1910 im Département Maine-et-Loire geboren und besucht ab 1930 die École Normale Supérieure in Paris. Er wählt mit der Geographie eine noch junge Disziplin und entdeckt ungefähr zum gleichen Zeitpunkt den Surrealismus, Wagner und wahrscheinlich auch schon Nietzsche. Diese Referenzen stellen fortan die drei großen Pole seiner dezidiert germanophilen Bildung dar. Zwischen 1934 und 1936 beginnt er, an der Schule das Fach Geschichte zu unterrichten, worunter in Frankreich auch die Geographie fällt. Während dieser Periode, in der er vor allem in Nantes arbeitet, beginnt die einzige Periode politischen Engagements in seinem Leben, die zweieinhalb Jahre später mit seinem endgültigen Rückzug aus der Politik endet. Louis Poirier wird am Ende des Jahres 1936 Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), aus der er nach der l’estomac (1950), a pris ses distances avec une certaine vie littéraire et intellectuelle parisienne. Si Gracq a affirmé maintes fois les droits imprescriptibles de la littérature et de la poésie vis-à-vis de l’idéologie ou du débat politique, il n’a pas été indifférent à l’histoire du siècle, citoyen engagé avant la guerre, mobilisé et prisonnier pendant celleci, il est resté un témoin attentif, intervenant quand des principes ou des personnes ont paru menacés ou remis en cause. […] C’est La Littérature à l’estomac, publié dans la revue Empédocle (janvier 1950) avec le soutien d’A. Camus, qui marque, sous la forme du pamphlet, l’incursion mordante et momentanée de Gracq dans le débat intellectuel de l’époque. Si le pamphlet semble renvoyer dos à dos les auteurs marqués politiquement […], il est surtout, après ces escarmouches initiales, une attaque des thèses de l’existentialisme, qui engage la littérature dans le débat politique et social […]“. Dominique Perrin 86 Nachricht vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 wieder austritt. Neben den genannten Beschäftigungen verbringt er das Jahr 1937 damit, Russisch zu lernen, da er eine Dissertation über die Morphologie der Krim plant. Im Sommer 1937 besitzt er jedoch noch immer kein Visum für die Sowjetunion und bittet daher um einen Posten im höheren Schuldienst. In diesem Sommer beginnt er mit dem Schreiben. Nachdem mehrere Umstände zusammengekommen sind, findet der in dieser Zeit entstehende Roman Au château d’Argol einen Verleger, der von dem Werk ausgesprochen angetan ist: Es handelt sich um den beinahe mittellosen José Corti. Dieser bietet im Herbst 1938 an, den Text mit Hilfe des Autors zu veröffentlichen. 4 Schließlich begründet das Jahr 1939 auch noch das Verhältnis gegenseitiger Hochachtung zwischen dem neugeborenen Schriftsteller Gracq und dem Hauptvertreter der surrealistischen Bewegung, André Breton, der Au château d’Argol kurz nach seiner Publikation mit großem Enthusiasmus liest. Den Brief, den Gracq daraufhin von Breton erhält, betrachtet er als einen Gesellenbrief. 5 Für den größten Teil der Gracq-Forschung ist die aus diesem biographischen Aperçu zu ziehende Bilanz eindeutig. Sie erkennt zwischen den Jahren 1936 bis 1939 die Herausbildung einer wegweisenden Konfiguration, die sich in einigen Stichworten zusammenfassen läßt: Julien Gracq lehrt das Jahr über an der Schule, schreibt seine Romane in den Sommerferien, steht dem politischen Engagement skeptisch gegenüber und hält sich bald auch von allen öffentlichen Auftritten fern. Einige entscheidende Elemente binden dieses Verständnis von Gracqs Zuwendung zur literarischen Praxis an die Geschichte des Surrealismus, der sich bekanntermaßen 1939 vom Kommunismus abgewandt hatte: Zu diesem Zeitpunkt behaupten die Repräsentanten der Bewegung mehr als je zuvor den Vorrang des poetischen Impulses vor der doktrinären Orthodoxie und der diskursiven Logik. Die skizzierte Sichtweise auf Au château d’Argol wird also auf den ersten Blick von allen zur Verfügung stehenden Informationen bestätigt: Mit der Publikation des Kurzromans scheint eine kurze und anekdotische Periode des Engagements der langen und fruchtbaren Karriere des Schriftstellers Platz zu machen. Mit anderen Worten: Gracq scheint sich der Literatur zuzuwenden, indem er der Politik, der kollektiven Krise, und das heißt auch: der sozialen Aktualität, den Rücken kehrt. Diese biographische Lesart basiert vor allem auf einer naheliegenden Interpretation von Au château d’Argol: Das erste Werk Gracqs vermeidet jegliche Referenz auf die zeitgenössische Realität, ja jede Form des Naturalismus. Es lotet vielmehr - auf gleichermaßen emphatische wie elliptische Weise - die Ambivalenz im Verhältnis dreier Figuren aus, deren 4 Vgl. José Corti: Souvenirs désordonnés (…-1965), Paris: 10/ 18 1983, S. 38-46, und Julien Gracq: Entretien avec Jean Carrière (1986), in: ders.: Œuvres complètes, Anm. 1, Bd. 2, S. 1231-1273, hier S. 1253 (Appendices: Entretiens). 5 Gracq spricht von einem „brevet de qualification“, in: Gracq: Carnets du grand chemin (1992), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 941-1112, hier S. 1025. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 87 Genie und Talent als überdimensioniert bezeichnet werden können. 6 Albert ist der Herold des spekulativen Denkens, Herminien ist der Meister der menschlichen Intrigen; Heide ist die Inkarnation des Eros, weiblich, verliebt und revolutionär. In der Literaturkritik ist die Meinung verbreitet, daß der Schauplatz dieses huis-clos - des geschlossenen Spiels zwischen den Figuren - als ein vierter Protagonist angesehen werden kann. Es handelt sich dabei um eine mythisierte Gegend der Bretagne bzw. um ein geheimnisvolles Schloß, das vom Ozean und einem dichten Wald umgeben ist. Die dem Ort innewohnende Tendenz zur Entwirklichung kann auch in Hinsicht auf die Zeit festgestellt werden. Die Erzählung spielt zwar auf eine endemische politische Aufregung auf dem europäischen Kontinent an, widmet aber der Frage ihrer eigenen Verankerung in der Geschichte nur eine sehr vage Aufmerksamkeit. Die Handlung der Erzählung kann ungefähr so zusammengefaßt werden: Die beiden männlichen Figuren rivalisieren miteinander bis hin zur Zerstörung der Frau; miteinander allein gelassen, leben sie ihr aus gegenseitiger Anziehung und Abstoßung bestehendes Verhältnis aus, und zwar erneut bis zum Tod. Die Geschichte dieser sich inmitten der Aura des Schlosses von Argol entwickelnden Beziehungen ist in zehn Kapitel aufgeteilt, deren Titel in der Reihenfolge folgendermaßen lauten: „Argol“, „Le Cimetière“, „Heide“, „Herminien“, „Le Bain“, „La Chapelle des abîmes“, „La Forêt“, „L’Allée“, „La Chambre“, „La Mort“. 7 Gracq hat seiner Erzählung das bereits erwähnte, nachträglich beigefügte Vorwort mit dem Titel „Avis au lecteur“ vorangestellt, das ohne nähere Angaben auf das Jahr 1938 datiert ist. Darin weist er ausdrücklich auf drei Referenzen oder Quellen seines Schreibens hin. Zum ersten nennt er den Surrealismus, der ‚die einzige‘ literarische Schule („école littéraire“) der Nachkriegszeit sei, die „les délices épuisées du paradis toujours enfantin des explorateurs“ 8 wiederbelebt habe. Danach stellt er das Werk Wagners aus der Sicht des Surrealismus vor. Dort, wo der Surrealismus die „puissance transfigurante, l’efficacité de foudre de certaines apparitions“ 9 erkannt habe, habe Wagner das „ [ problème ] du salut, ou, plus concrètement […] celui du sauveur, ou du damnateur“ 10 ans Tageslicht gebracht. Dabei weist der Ver- 6 Der Roman wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Julien Gracq: Au château d’Argol, Paris: José Corti 1938 (das Buch ist im Dezember 1938 gedruckt worden, de facto aber erst im Januar 1939 im Handel erschienen). Bei der Übersetzung von Passagen aus dem Roman ins Deutsche wurde auf folgende Ausgabe zurückgegriffen: Julien Gracq: Auf Schloss Argol, übersetzt von Eva-Maria Thimme, Berlin: Ed. Sirene 1987. 7 Dt.: „Argol“, „Der Friedhof“, „Heide“, „Herminien“, „Das Bad“, „Die Kapelle über den Abgründen“, „Der Wald“, „Die Allee“, „Das Zimmer“, „Der Tod“. 8 Gracq: Au château d’Argol, Anm. 6, S. 7 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 5: „<…> die versiegten Wonnen des immer kindlichen Paradieses der Entdecker wiederbelebt habe“]. 9 Ebd., S. 7 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 5: „<…> die verwandelnde Kraft, die blitzartige Wirksamkeit gewisser Erscheinungen <…>“]. 10 Ebd., S. 8 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 6: „<…> <das Problem> des Heils, oder genauer noch des Erlösers oder des Verdammers“]. Dominique Perrin 88 fasser des Vorworts die christliche Interpretation der letzten Oper Wagners ausdrücklich zurück. 11 Seinen eigenen Roman präsentiert er dann als eine „version démoniaque - et par là parfaitement autorisée - [de Parsifal]“ 12 . Um sich schließlich in Beziehung zur Tradition des roman noir zu setzen, der im England des 18. Jahrhunderts entstand, kommt der „Avis au lecteur“ auf die emotive Kraft der Kindheit zu sprechen: Puissent ici être mobilisées les puissantes merveilles des Mystères d’Udolphe, du château d’Otrante, et de la maison Usher pour communiquer à ces faibles syllabes un peu de la force d’envoûtement qu’ont gardée leurs chaînes, leurs fantômes, et leurs cercueils: l’auteur ne fera que leur rendre un hommage à dessein explicite pour l’enchantement qu’elles ont toujours inépuisablement versé sur lui. 13 Der erste Roman Gracqs gehört also einem gänzlich über die Kunst und Literatur vermittelten Universum an. Nicht nur seine Diegese, sondern auch der Prozeß seiner Produktion und Rezeption wird als ein von der geschichtlichen Entwicklung unabhängiger verstanden. In der Konsequenz dieses Gedankens wird Au château d’Argol seit nunmehr über 60 Jahren - mit der Ausnahme zweier kleinerer Artikel 14 - auf eine Art und Weise präsentiert und untersucht, die den Zeitpunkt seiner Publikation nicht näher berücksichtigt. 11 Vgl. ebd., S. 8 („Avis au lecteur“): „L’œuvre de Wagner se clôt sur un testament poétique que Nietzsche a eu le grand tort de jeter trop légèrement en pâture aux chrétiens, prenant ainsi la grave responsabilité d’égarer les critiques vers un ordre de recherches si visiblement superficiel que la gêne violente que l’on éprouve à entendre encore aujourd’hui parler de ‚l’acquiescement du maître au mystère chrétien de la rédemption‘, alors que l’œuvre de Wagner a toujours si nettement tendu à élargir davantage les orbes de sa recherche souterraine ou, plus exactement, infernale, à elle seule finirait par nous donner à entendre que Parsifal signifie tout autre chose que l’ignominie de l’extrêmeonction sur un cadavre d’ailleurs encore trop sensiblement récalcitrant“. 12 Ebd., S. 8-9 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 7: „<…> eine dämonische Version - und als solche vollständig berechtigt - des Meisterwerks (= Parzifal)“]. 13 Ebd., S. 11 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 9: „Möchte es hier doch gelungen sein, die mächtigen Wunder der Geheimnisse von Udolpho, des Schlosses von Otranto und des Hauses von Usher zu mobilisieren, um diesen schwachen Silben ein wenig von der Zauberkraft mitzuteilen, die ihre Ketten, ihre Gespenster und ihre Särge bewahrt haben: der Verfasser wird nichts anderes tun, als ihnen ausdrücklich zu huldigen für die Bezauberung, die sie immer unerschöpflich über ihn ausgegossen haben“]. 14 Vgl. den entlegen publizierten Artikel von Jean Balcou: „Au château d’Argol, roman anhistorique? “, in: Cahiers du CERF XX e 1 (1985): L’inscription de l’histoire dans quelques romans contemporains français (1930-40), S. 127-145, in dem ein historischer Problematisierungsversuch unternommen wird. Vgl. auch den Schluß von Pierre- François Kaempf: „‚Un mancenillier à l’ombre mortelle‘ - Julien Gracq à l’ombre de Parsifal, ou la présence démoniaque dans Au château d’Argol“, in: Roman 20-50 16 (décembre 1993), S. 155-164, hier S. 163-164: „De 1938 à 1948, l’obsession wagnérienne de Julien Gracq s’est faite cauchemar - comme s’il voulait nous dire que l’histoire fait irruption dans le monde des mythes anciens, rendant désormais impossible le rêve wagnérien de rédemption […]“. Für eine kommentierte Bibliographie der Rezeption von Au château d’Argol bis ins Jahr 1976 vgl. Friedrich Hetzer: Les débuts narratifs de Julien Gracq: 1938-1945, München: Minerva-Publikation Saur 1980. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 89 Es kann ergänzt werden, daß sich diese ahistorische - und manchmal auch antihistorische - Argumentation auf die frühe Rezeption des Romans berufen kann. Während Au château d’Argol in jüngerer Zeit regelmäßig neu aufgelegt wird, verkaufte sich die erste Auflage des auf Kosten des Autors zusammen mit dem Förderer der Éditions surréalistes 15 publizierten Buchs zunächst ausgesprochen schlecht. Allerdings empfiehlt André Breton das Werk kurz nach seinem Erscheinen dem Literaturjournalisten Edmond Jaloux, der den verschiedenen Spielarten romantischen Schreibens aufgeschlossen gegenüber steht. Daraufhin schreibt Jaloux fünf Artikel voller Lob für den Text, die zweifellos dazu beitragen, Au château d’Argol zumindest unter Literaturkritikern bekannt zu machen. Insgesamt erhält der Roman etwa 20 in der Regel elogenhafte Rezensionen, in denen auffälligerweise keine auf die historische Aktualität bezogene Betrachtungsweise enthalten ist. Die Herausgeberin der Pléiade-Ausgabe des Werks, Bernhild Boie, faßt diese ersten Reaktionen auf den Roman wie folgt zusammen: […] le fait le plus remarquable est le ton proprement inspiré d’une bonne partie de la critique. Le roman n’est pas jugé, au sens ordinaire du terme, mais révélé […]. [ Il est traité ] comme une œuvre initiatique et donc destinée à un public d’élection. 16 Nimmt man den Standpunkt der angesprochenen Rezensionen ein, dann verlangt der bestimmende Ton des „Avis au lecteur“ die Trennung des Publikums in jene Leser, die ‚draußen‘ bleiben, und jene Gesellschaft der happy few, die in der Lage ist, ein dermaßen von Referenzen gesättigtes Schreiben wie das von Gracq zu goutieren. Im übrigen erfordert die Entwicklung und Ausbildung des neuen Schriftstellers einen kurzen Blick auf die Situation der künstlerischen Bewegung, in die er sich einfügt. Die Rezeption von Au château d’Argol kann nämlich zeigen, wie wenig der Surrealismus im Jahr 1939 als Bewegung anerkannt und verbreitet wird, die sich mit der Zeitgeschichte und der Politik auseinandersetzt. Die Mehrzahl der Artikel begnügt sich damit, die offenkundige Linientreue des Werks zu einem Arsenal von inzwischen etablierten surrealistischen Themen und Referenzen zu konstatieren. 17 In der Periode des nahenden Zweiten Welt- 15 Vgl. erneut Corti: Souvenirs désordonnés, Anm. 4, S. 38-46. 16 Bernhild Boie: Notice d’Au château d’Argol, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 1, Anm. 2, S. 1143-1144. [Dt.: Am bemerkenswertesten ist der weihevolle Ton eines großen Teils der Kritiken. Der Roman wird nicht im üblichen Sinn besprochen, sondern offenbart <…>. <Er wird> als ein initiatorisches Werk <angesehen>, das sich an ein auserlesenes Publikum wendet]. 17 Vgl. Thierry Maulniers Rezension in Combat (Juli 1939): „[…] dans un décor sorti d’une nouvelle d’Edgar Poe, [ le récit ] se déroule devant nous en images saisissantes, où l’auteur, qui manie avec une étonnante maîtrise tous les matériaux utilisables mis à la disposition de la création littéraire par le surréalisme, parvient à donner à la réalité la force de présence de l’hallucination.“ Zitiert nach: Bernhild Boie: Accueil d’Au château d’Argol, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 1, Anm. 2, S. 1142. Dominique Perrin 90 kriegs repräsentiert das Werk Julien Gracqs also in der Summe eine Literatur, die von jeglicher Geschichte, die nicht rein literarisch wäre, unberührt ist. Dies ist die erste, gewiß nur in ihren Grundzügen verdeutlichte Lektüreachse des Romans. Ihre Überzeugungskraft liegt vor allem darin, daß sie sich als eine Synthese aus einigen zentralen Gegebenheiten dessen darstellt, was über den Eintritt Gracqs in die Schriftstellerei tatsächlich bekannt ist. Formuliert man aber ihre impliziten Voraussetzungen aus, dann wird schnell deutlich, wie wenig belastbar sie letztlich ist. Zunächst erscheint es methodisch problematisch, Gracqs ‚Berufung zum Schriftsteller‘ zu naturalisieren, wenn dieses Vorgehen offenkundig vor allem dazu dient, Gracqs politisches Engagement ausblenden zu können. Genauer gesagt ist es problematisch, da reduktionistisch, das Erscheinungsdatum von Au château d’Argol für nebensächlich zu halten - zumal dann, wenn man sich klarmacht, daß das betreffende Jahr 1939 nach seinesgleichen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sucht. Freilich wäre es auch wenig überzeugend, ‚1939‘ als eine für sich selbst sprechende Offensichtlichkeit zu betrachten. Angesichts der Tatsache, daß sich Louis Poirier zu diesem Zeitpunkt vor allem für die Geomorphologie interessierte, griffe auch ein solcher Interpretationsansatz zu kurz. Schließlich kann auch angesichts der Tatsache, daß die politischen und literarischen Aktivitäten Poiriers zwei Jahre lang nebeneinander bestehen konnten, die Behauptung nicht überzeugen, das Erscheinungsdatum von Au château d’Argol stelle einen Moment des Bruchs dar, der Poiriers Hinwendung zur Literatur erklären könne. In einem bemerkenswerten Kommentar zu ihrer Gesamtausgabe der Werke Gracqs formuliert Bernhild Boie praktisch nebenbei und mit einer üblich gewordenen Lückenhaftigkeit die impliziten Voraussetzungen aus, die beinahe die Gesamtheit der Rezeption Gracqs bestimmen: Pour Gracq, le temps de l’incubation littéraire, les années de préparation à l’écriture sont, de façon quasi exclusive, des années de lecture, d’entrée en possession d’un univers romanesque. […] Du coup, les débuts littéraires se feront sous le signe de cette envie de lire qui bascule un beau jour en envie d’écrire. 18 Man könnte ironisch einwenden, daß eine solche Trennung des Romans von seiner historischen Dimension es erlaubt, einen Abgrund von anthropologischen Rätseln zu überspringen. In jedem Fall bleibt festzuhalten, daß man im Fall Gracqs sehr wohl Einzelheiten kennt, die Licht in den Schatten der frühen Jahre des Schriftstellers bringen können. Passend zur sonstigen interpretatorischen Willkür, unterschlägt der antihistorische common sense der Gracq-Rezeption eine einzigartige Quelle: 18 Bernhild Boie: Notice d’En lisant en écrivant, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 1480 (Hervorhebung D.P.). [Dt.: Für Gracq war die Zeit der literarischen Inkubation, waren die Jahre der Vorbereitung auf das literarische Schreiben, beinahe ausschließlich Jahre der Lektüre, der Aneignung eines romanesken Universums. <…> Eines lieben Tages wird das literarische Debut mit einem Schlag dadurch eingeleitet, daß die Lust am Lesen in eine Lust am Schreiben umschlägt]. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 91 die Aussagen des Schriftstellers über sich selbst. Zieht man diese zu Rate, wird schnell fragwürdig, ob sich das Bild der über die zeitgenössische Krise erhabenen ästhetischen Autonomie des schöpferischen Individuums - mit seiner Mischung aus in moralische und psychologische Bereiche reichender stoischer Größe und aristokratischer Gleichgültigkeit - aufrechterhalten läßt. In den 1992 publizierten Carnets du grand chemin finden sich zwei autobiographische Fragmente, die das Ende der 1930er Jahre zum Gegenstand haben. In jedem von ihnen wird die Evokation des persönlichen Lebenswegs an das kollektive Klima der Zeit gebunden, in die er eingelassen ist. Was dabei vor allem in Erinnerung gerufen wird, ist so etwas wie die Atmosphäre dieser Periode: Je militais sans ménager ma peine - ce qui semblait peu du goût du proviseur -, mobilisé un soir sur deux par les tournées des cellules, les meetings, les collectes de vêtements pour l’Espagne, le journal du parti - La Bretagne - que j’avais à mettre en pages chaque jeudi matin, mais la conviction déjà n’était plus présente qu’à moitié: j’avais terminé pendant les deux premiers mois de mon séjour à Quimper Au château d’Argol, et l’incompatibilité foncière de ces deux ordres d’occupation commençait à me sauter aux yeux: il y avait eu, avec ce livre inattendu, le surgissement au grand jour des ruminations d’un for intérieur qui tenait dès maintenant à peu près toute la place, et où il était clair que les disciplines d’esprit d’un parti n’étaient jamais entrées, n’entreraient jamais. La guerre approchante montait peu à peu à l’horizon, inexorable, déjà on vivait dans son air pesant, riche en azote; les marches militaires que la musique du 137 e exécutait chaque semaine au bord de l’Odet dans le kiosque municipal ne rythmaient plus seulement la badauderie ennuyée du dimanche provincial: quand elles m’arrivaient par la fenêtre ouverte de ma chambre de l’hôtel du Parc, elles provoquaient au cœur un petit pincement. L’heure n’était pas aux longs projets ni aux lointains espoirs. 19 Gracq behauptet wiederholt, daß die meisten seiner Zeitgenossen das Unausweichliche der kriegerischen Krise geahnt haben. Nun aber zum zweiten autobiographischen Fragment: 19 Gracq: Carnets du grand chemin, Anm. 5, S. 1023-1024. [Dt.: Ich scheute für meinen politischen Aktivismus keine Mühen - offenbar sehr zum Mißfallen des Schulleiters -; ich war jeden zweiten Abend unterwegs, besuchte die einzelnen Zellen, war auf Meetings, sammelte Kleidung für Spanien, besorgte jeden Donnerstagvormittag den Seitenumbruch der Parteizeitung La Bretagne, aber ich war nur noch halbherzig bei der Sache: Ich hatte während der ersten beiden Monate meines Aufenthalts in Quimper Au château d’Argol vollendet, und die grundsätzliche Unvereinbarkeit beider Arten der Beschäftigung sprang allmählich ins Auge. Mit diesem unerwarteten Buch gelangten die versunkenen Gedanken aus meinem Innersten ans Tageslicht, einem Innersten, das von nun an beinahe alles ausfüllte, und in das die geistige Disziplin einer Partei nie eingedrungen war und nie eindringen würde. Der Krieg zeichnete sich nach und nach unerbittlich am Horizont ab, man lebte bereits in seiner drückenden, stickstoffreichen Atmosphäre. Die Militärmärsche, die das 137. Regiment wöchentlich im städtischen Pavillon am Ufer des Odet vortrug, waren schon nicht mehr nur Anlaß zur gelangweilten Gafferei an einem Sonntag in der Provinz. Wenn sie durch das offene Fenster meines Zimmers im Hôtel du Parc zu mir drangen, bekam ich Herzstechen. Es war nicht mehr die Zeit für große Projekte und die Hoffnungen reichten nicht mehr weit in die Zukunft]. Dominique Perrin 92 Si j’essaie de cerner le climat singulier qui fut celui de ces deux années [ 1937-1939, à Quimper ] , il me semble qu’il était celui d’un sursis presque distrait, où ce qui allait orienter ma vie […] installait sans tapage sa masse et son poids et se mettait en place, mais où toutes les perspectives, à courte distance, venaient butter contre un point d’interrogation majeur. Je comprenais que je pourrais écrire […]. La politique s’éloignait, elle tombait de moi plutôt ainsi qu’une branche sèche, tout comme j’avais cessé à quatorze ans d’écrire des vers lamartiniens, et cessé à dixhuit ans, ou plutôt en vérité peu à peu oublié d’aller à la messe. Je pressentais que l’Université ne me serait jamais qu’un gagne-pain commode, peu exigeant. Mais ce qui aurait dû être un départ et un élan restait suspendu; les comptes étaient arrêtés ou en voie de l’être, le bilan différé. 20 In dieser Passage evoziert Gracq an zwei Stellen seine Aktivitäten in der kommunistischen Partei nach dem Ende des Jahres 1936 und seine zunehmende Distanzierung von der Partei im Jahr 1938. 21 Die Memoiren Jean Bruhats, seines Kollegen in Nantes und kommunistischen Freunds, bestätigen diese Chronologie im übrigen: Louis Poirier tritt der Partei im Verlauf des Jahres 1936 bei. Sicherlich spricht Gracq von der inneren Distanz, die er nach diesem Zeitpunkt gleich in mehrerer Hinsicht verspürt habe. Dennoch bleibt bestehen, daß sein politisches Engagement beharrlich und diszipliniert ist - und zwar bis zum Donnerschlag des Hitler-Stalin-Pakts im August 1939. Unter den verschiedenen Überzeugungen, die Gracq in den wenigen Fragmenten und Interviews über seine Aktivitäten im Nachhinein hervorhebt, dominiert der Wille, sich am Kampf gegen die Ausweitung der Faschismen zu beteiligen. 22 Auch dies wird durch eine Quelle bestätigt. In dem kurzen, aber bemerkenswert präzisen Portrait des damaligen kommunisti- 20 Ebd., S. 1025-1026. [Dt.: Wenn ich versuche, das besondere Klima zu fassen, das in diesen zwei Jahren <zwischen 1937-1939, im bretonischen Quimper> herrschte, dann kommt es mir wie eine Zeit eines geradezu zerstreuten Aufschubs vor, in der sich jenes, was mein Leben bestimmen sollte <…>, unauffällig einstellte und an Masse und Gewicht gewann, aber in der alle Aussichten recht schnell fragwürdig wurden. Mir war klar, daß ich schreiben könnte <…>. Die Politik entfernte sich, sie fiel von mir geradezu wie ein trockener Ast ab, so wie ich mit 14 Jahren aufgehört hatte, Verse nach Art von Lamartine zu schreiben, oder so wie ich mit 18 Jahren aufgehört hatte (oder besser, mehr und mehr vergessen hatte), zur Messe zu gehen. Ich ahnte bereits, daß die Universität für mich niemals etwas anderes als ein bequemer, anspruchsloser Lebensunterhalt sein würde. Was dagegen Aufbruch und Begeisterung hätte sein sollen, blieb vorläufig in der Schwebe. Die Konten waren geschlossen worden oder waren dabei, geschlossen zu werden, die Erstellung einer Bilanz aber war verschoben worden]. 21 Die wichtigsten autobiographischen Texte finden sich in den bereits zitierten Carnets du grand chemin, ebd., besonders S. 1011-1013, S. 1023-1026 und S. 1035. Für die Interviews vgl. die transkribierten Gespräche in: Régis Debray: Bonjour M. Gracq, in: ders.: Par amour de l’art - une éducation intellectuelle, Paris: Gallimard 1997, S. 444-507, und in: Jean Pelletier: Julien Gracq, Paris: Éd. du Chêne/ Hachette Livre 2001, S. 150-163 (Kap. 8: „Un écrivain dans son siècle“). 22 Pelletier: Julien Gracq, Anm. 21, S. 154. Der Autor transkribiert den folgenden Gedankenaustausch mit Gracq: „Il tisse par bribes les souvenirs qui constituent son engagement d’alors, ‚ces années étaient difficiles, on avait le sentiment que le monde allait basculer, c’est aujourd’hui difficile à imaginer. D’où mon engagement, mon adhésion au PC, qui était le fait du sentiment imminent du danger que représentait le fascisme‘“. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 93 schen Funktionärs Jean Bruhat erscheint Louis Poirier in der Tat als sehr aktives Mitglied des in Nantes wirkenden Amsterdam-Pleyel-Komitees, das heißt einer unter kommunistischer Leitung stehenden, antifaschistischen Organisation. 23 Tatsächlich scheint der Siegeszug des Hitlerschen Faschismus für den politisch aktiven Louis Poirier zu dieser Zeit Anlaß größter Besorgnis gewesen zu sein - gleiches gilt allerdings auch für den Schriftsteller Julien Gracq. Im Jahr 1980 fügt der 70jährige Gracq in die Sektion Littérature et histoire einer noch heute recht bekannten Textsammlung mit dem Titel En lisant en écrivant ein autobiographisches Fragment ein, das in mehrfacher Hinsicht interessant ist. 24 Auf unerwartete Art und Weise - unerwartet in einem solchen, an erster Stelle dem 19. Jahrhundert gewidmeten Werk - bezeichnet Gracq in einer sehr bildhaften Sprache den langen Albtraum der 1930er Jahre als den einzigen Einfluß, der in seinen Augen sein gesamtes Werk geprägt hat: […] j’avais vingt ans quand l’ombre du mancenillier commença de s’allonger sur nous: c’est cette année-là que le nazisme explosa et projeta d’un coup cent-dix députés au Reichstag; la signification du fait - c’est bien rare - fut comprise et évaluée sur-le-champ, et son aura immédiatement perceptible à presque tout le monde. La montée de l’orage dura neuf ans, un orage si intolérablement lent à crever, tellement pesant, tellement livide à la fois et tellement sombre, que les cervelles s’hébétaient animalement et qu’on pressentait qu’une telle nuée d’apocalypse ne pouvait plus se résoudre en grêle, mais seulement en pluie de sang et en pluie de crapauds. Puisqu’on parle (avec raison) d’influences qui s’exercent sur les écrivains - on a écrit là-dessus sur moi comme sur les autres - je propose celle-là; il arrive qu’en cette matière la seule chose qu’on ne voie pas est celle qui crève les yeux. 25 23 „Vers 1935, un agrégé d’histoire, ancien normalien, a été nommé au lycée de Nantes, dont d’ailleurs il avait été l’élève. […] Un temps après son arrivée à Nantes, il a adhéré au Parti communiste auquel, avec une extraordinaire modestie, il a rendu de grands services. Il a été le très actif responsable du comité nantais Amsterdam-Pleyel. Il s’appelait Louis Poirier. Effectuant son service comme sous-lieutenant au prytanée de La Flèche, il avait, malgré les invitations des autorités, refusé d’assurer son cours en civil, répondant que, remplaçant Pierre George qui avait été sanctionné, il se considérait en service commandé. Poirier est plus connu sous le nom de Julien Gracq. Bien qu’il fût devenu l’habitué de notre foyer, ainsi que notre ami, nous ignorions totalement alors qu’il ‚écrivait‘, tant était grande sa réserve. Spécialiste de géographie, voire de morphologie, il projetait de faire une thèse sur les fleuves russes. À cet effet, il prit un congé d’un an pour apprendre le russe. N’ayant pas obtenu son visa, il reprit un poste de professeur à Quimper et resta au Parti communiste jusqu’à la signature du traité germano-soviétique. Il le quitta alors avec la même discrétion tranquille que lorsqu’il y avait adhéré.“ Jean Bruhat: Il n’est jamais trop tard (souvenirs), Paris: Albin Michel 1983, S. 68-69 („De Nantes au Front populaire“). 24 Das Fragment kann auf den Herbst 1973 datiert werden. Vgl. dazu Bernhild Boie: Notice d’En lisant en écrivant, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 1505. 25 Gracq: En lisant en écrivant, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 710-711 [Dt.: <…> ich war zwanzig Jahre alt, als sich der Schatten des Manzanillo-Baumes über uns zu legen begann: in diesem Jahr brach der Nazismus hervor und schleuderte auf einen Dominique Perrin 94 Das Bild des Manzanillo-Baums - eines mythologischen Baums, dessen Schatten vergiftet sein soll 26 - gehört zu den rekurrenten ‚starken‘ Bildern Gracqs. Gracq assoziiert es gewöhnlich mit der Musik Wagners. In dem zitierten Fragment kommt der Schriftsteller jedoch auf sein Verhältnis zum eigenen Schreiben zu sprechen. Er bindet dabei die Gesamtheit seines Romanwerks an eine Erfahrung traumatischer Art. Dieses Trauma korrespondiert sicherlich nicht mit einem spezifischen historischen oder biographischen Ereignis; es ist vielmehr an die Wahrnehmung einer über ein Jahrzehnt sich steigernden kollektiven Anspannung gebunden. Die unauslösch- Schlag 110 Abgeordnete in den Reichstag; die Bedeutung dieser Tatsache wurde - was sehr selten passiert - sogleich verstanden und bewertet, und ihre Aura war beinahe für jeden unmittelbar wahrnehmbar. Das Heranziehen des Gewitters dauerte neun Jahre, ein sich dermaßen langsam entladenes Gewitter, ein dermaßen bedrückendes, gleichsam totenbleiches und düsteres Gewitter, daß die Gehirne auf tierische Weise abstumpften und daß man eine Ahnung davon bekam, daß sich eine solche apokalyptische Wolke nicht mehr in einem Hagelsturm lösen würde, sondern nur noch in einem Regen von Blut und Fröschen. Da man (mit Recht) von Einflüssen spricht, die auf Schriftsteller einwirken - über mich ist darüber genauso viel geschrieben worden wie über andere - schlage ich den folgenden Einfluß vor; es kommt vor, daß das einzige, was man in dieser Angelegenheit nicht sieht, das ist, was ins Auge springt]. Die ersten Zeilen des Fragments lauten folgendermaßen: „Joachim Fest: Hitler. Le seul mot vraiment expressif (mais il l’est! ) qu’il cite du Führer est celui qu’il a prononcé en 1941, à la veille de l’invasion de la Russie: ‚Il me semble que je vais pousser une porte sur une pièce obscure et encore jamais vue, sans savoir ce que je vais trouver derrière.‘ La lecture de ces deux tomes compacts ressuscite tout à coup si brutalement l’ancien cauchemar que je n’ai pu me résoudre à sortir ce soir pour aller au théâtre, comme j’en étais convenu; je suis resté rencoigné chez moi, l’esprit flasque et frileux comme un linge mouillé, le cerveau assiégé du volettement des larves et des lémures“. Meines Erachtens haben sich nur wenige Autoren mit dieser Erklärung Gracqs auseinandergesetzt, darunter Bernhild Boie, die die Bedeutung der zitierten Passagen in ihren Anmerkungen zu Gracqs Werk Rivage des Syrtes kurz anspricht. Vgl. Boie: Notice du Rivage des Syrtes, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 1, Anm. 2, S. 1333, und dies.: Notice du Balcon en forêt, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 1278. Boie weist jedoch nur auf den ersten Teil der von mir zitierten Passage hin. In anderem Zusammenhang zitiert Hubert Haddad [Julien Gracq: La forme d’une vie, Begles: Le Castor Astral 1986] nur den zweiten Teil der Aussage, was ihn zu einem die Tragweite des Gesamtzitats verkennenden Kommentar verführt. Jean Balcou schließlich kommentiert den ersten Teil der Passage in der Konklusion seines bereits angesprochenen Artikels (Anm. 14). Dieser gehaltvolle Beitrag ist vor allem deskriptiver Natur. Nach einem Problematisierungsversuch schlägt Balcou am Ende jedoch eine ebenso konventionelle wie ambivalente Interpretation vor: die letzten Absätze des Beitrags, die dem Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte gewidmet sind, greifen auf ein abstraktes und spekulatives Register zurück, das den im vorliegenden Artikel in Erinnerung gerufenen autobiographischen Zeugnissen Gracqs gerade fehlt. Michel Murat wiederum zitiert einige Abschnitte des ersten und zweiten Absatzes. Murat: L’Enchanteur réticent (1991), Paris: Corti 2004, S. 28 und S. 297. Gérard Cogez schließlich beschäftigt sich eingehender mit dem ersten Teil der zitierten Passage. Cogez: Julien Gracq, Le rivage des Syrtes, Paris: Presses universitaires de France 1995, S. 16-20. 26 Hippomane mancinella, frz. mancenillier, im tropischen Amerika beheimateter giftiger Baum, der zur Familie der Wolfsmilchgewächse gehört und beim Menschen schwere innere und äußere Schädigungen verursachen kann (Anm. des Übersetzers). 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 95 liche historische Erfahrung ist für Gracq also nicht die des Krieges, sondern die wesentlich länger andauernde eines allmählichen Abgleitens der kollektiven Realitäten in das Albtraumhafte, wobei man sich aus seiner Sicht nach und nach an das Unerträgliche gewöhnte. So zeichnete sich der Aufstieg des Nationalsozialismus, wie in der Passage angedeutet, schon bei den Wahlen des Jahres 1930 ab - Louis Poirier konnte ihn im übrigen auf einprägsame Weise bereits bei seiner Begegnung mit fanatisierten deutschen Studenten während eines Austauschprogramms in Budapest im Jahr 1931 feststellen. 27 In der Perspektive, die Gracq hier knapp aber eindringlich nachzeichnet, erschiene das Münchener Abkommen nicht als Bruch, sondern als Bestätigung. Bei der einzigen Gelegenheit, bei der er erneut auf das Thema des Nationalsozialismus zu sprechen kommt, erklärt er hinsichtlich der für ihn sehr prägenden 1930er Jahre insgesamt, man habe den Eindruck gehabt, langsam von einem Dach herabzugleiten: „On avait l’impression de glisser sur la pente d’un toit.“ 28 Mithilfe eines weiteren, allerdings sehr andersartigen Dokuments kann die Referenz auf den Surrealismus in Au château d’Argol und, damit verbunden, auf den roman noir erläutert und präzisiert werden. Es handelt sich um einen wenig bekannten Text, den Gracq als Vorwort für die 1947 erschienene Neuauflage der Chants de Maldoror Lautréamonts verfaßte. Sein Titel ist programmatisch: Lautréamont toujours (dt.: Lautréamont und kein Ende). Hinsichtlich des von Breton und Aragon gefeierten Meisterwerks poetischer Gewalt („chef-d’œuvre de violence poétique“) verteidigt Gracq die folgende These: „Les Chants de Maldoror ne sont pas un éclair tombé d’un ciel serein. Ils sont le torrent d’aveux corrosifs alimenté par trois siècles de mauvaise conscience littéraire.“ 29 Die Gesellschaftsdiagnose der Surrealisten noch radikalisierend 30 , zeichnet Gracq im weiteren das Bild einer westlichen Zivilisation 27 Vgl. die Erinnerungen von Henri Queffélec: „Les années de jeunesse, Julien Gracq“, in: L’Herne (1972), S. 354-362 (besonders S. 357). 28 Im französischen Original steht das Zitat in folgendem Zusammenhang: „J’ai été très marqué par la période des années trente: la naissance et le développement d’une catastrophe, avec l’arrivée de Hitler au pouvoir. On a vu l’orage grandir, pendant dix ans. C’est le seul cas où l’instinct populaire a pressenti que l’histoire se remettait en route. Quand, en 1930, il y a eu cent-vingt députés nazis au Reichstag, les gens ont compris qu’il se passait quelque chose. On avait l’impression de glisser sur la pente d’un toit. C’était très étrange.“ Zitiert nach: Debray: Bonjour M. Gracq, Anm. 21, S. 485. 29 Julien Gracq: Lautréamont toujours (1947), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Anm. 2, S. 882-901 (ursprünglich in Préférences, 1961). [Dt. nach der Ausgabe Julien Gracq: Lautréamont und kein Ende, in: ders.: Entdeckungen. Essays zu Literatur und Kritik, übersetzt von Liselotte Eder und Michael Fengler, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1965, S. 96-119, hier S. 106: „Die Gesänge des Maldoror sind kein Blitz aus heiterem Himmel. Sie stellen eine Flut ätzender Enthüllungen dar, die ein drei Jahrhunderte währendes schlechtes Gewissen in der Literatur nährte“]. 30 André Breton wird nach dem Krieg erklären, daß sich die surrealistische Bewegung die Analysen von Lautréamont toujours vollkommen zu eigen mache: „[…] le surréalisme fait intégralement sienne son attitude, telle qu’elle se dégage de sa préface de 1947 aux Chants de Maldoror […] aussi bien que de son pamphlet La littérature à l’estomac […].“ Dominique Perrin 96 nach - gedacht ist freilich vor allem an Frankreich -, die auf einer von jeder Ökonomie der Triebe abgegrenzten Vernunftutopie beruht. Diese Zivilisation werde von zyklischen Erschütterungen heimgesucht. So erscheinen „le XVII e siècle de Port-Royal, de Fénelon et de Mme Guyon“ und „le XIX e siècle du faux romantisme français et du romantisme infiniment plus troublant de l’Allemagne“ 31 als Symptome eines allgemeinen Krisenzustands der westlichen Welt. Das verborgene Drama („drame larvé“) der französischen Literatur sei seit drei Jahrhunderten das Drama des „irrationnel malheureux“ und „irrationnel honteux“. 32 Für Gracq ist diese Konstellation auf lange, ja bereits auf mittlere Frist explosiv. Daher mißt er schließlich auch dem ‚plötzlichen‘ Auftauchen des Comte de Lautréamont in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine solch große Bedeutung zu. Nun ist es sicherlich vor allem den Surrealisten zu verdanken, daß sich die Literaturkritik der Chants de Maldoror von jenem pseudo-kritischen Paradigma befreit hat, das dazu beigetragen hatte, daß das Werk Lautréamonts fälschlicherweise als literarische Manifestation des reinen, einfachen und individuellen Wahnsinns betrachtet worden war. In diesen Zusammenhang gestellt, erhält Gracqs Erklärungsansatz seine analytische Schärfe zum einen aus der Historisierung, der er alle kulturellen Gegenstände unterzieht, und zum anderen aus seinem Versuch, aus dieser Kulturgeschichte die Mittel zur Analyse der Gegenwart zu gewinnen. Die zentralen Passagen in Lautréamont toujours sind dem gewidmet, was Gracq „le phénomène de l’hitlérisme“ nennt, und dem dringenden Bedarf, jegliches Denken daran zu messen. Er wirft dabei auf konfrontative Art und Weise die Frage nach der analytischen Durchdringung der jüngeren Geschichte auf: Les causes économiques sont mises, bien entendu, en évidence, mais sont fort loin d’épuiser le phénomène dans sa violence et sa singularité. […] La marge d’indétermination, où se font jour de purs phénomènes affectifs et ‚irrationnels‘ s’il en fut, apparaît ici trop débordante. […] C’est le problème immense du passage du substrat économique à un état de conscience moteur que pose l’hitlérisme avec une acuité et une urgence que, il faut bien le dire, l’on n’avait jamais soupçonnées jusque-là. 33 Zitiert nach: Bernhild Boie: Notes des Carnets du grand chemin, in: Gracq: Œuvres complètes, Bd. 2, Anm. 1, S. 1652 (ursprünglich in Entretien avec Yves Péres, in: La Liberté du Morbihan vom 10.10.1952). 31 Gracq: Lautréamont toujours, Anm. 29, S. 885. [Dt. Ausgabe S. 99: „das 17. Jahrhundert von Port-Royal, des Fénelon und der Madame Guyon <…> das 19. Jahrhundert der falschen französischen Romantik und der weitaus aufwühlenderen deutschen“]. 32 Ebd., S. 884-885. [Dt. Ausgabe S. 99-100: „<…> das Drama seiner Literatur (= der französischen Literatur) <…> (ist) das Drama des unglücklichen, des schimpflichen Irrationalen“]. 33 Ebd., S. 886-889. [Dt.: Auf die wirtschaftlichen Ursachen wird natürlich hingewiesen, aber das Phänomen <des Hitlerismus> in seiner Gewalttätigkeit und Eigenart erschöpft sich darin nicht. <…> Der Spielraum an Unbestimmtheit, in dem rein affektive und ‚irrationale‘ Phänomene - in ihrer reinsten Ausprägung - zum Durchbruch kommen, scheint hier zu groß. Mit einer Schärfe und Dringlichkeit, von denen man, das muß 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 97 Indem er eine Parallele zwischen Les Chants de Maldoror und dem Nationalsozialismus zieht, vergleicht Gracq implizit zwei eruptive Formen der im modernen Europa über Jahrhunderte komprimierten ‚dunklen Kräfte‘ („forces obscures“). Während der Nationalsozialismus den tragischen Übergang zur kollektiven Handlung veranschaulicht, ist das Werk Lautréamonts das Medium einer unbedingten Gewalt („violence inconditionnée“). Nachdem er „le poète de l’âge de raison“ als „bouc émissaire honteux délégué […] à la catharsis collective de l’irrationnel“ definiert hat, kommt der Verfasser des Vorworts dann auf den berühmten Gedanken Lautréamonts zu sprechen: „La poésie doit être faite par tous. Non par un.“ 34 Dazu merkt er an: „[…] revendication qui révèle chez [ Lautréamont ] le sens aigu de la nécessité d’une conquête de l’irrationnel, dépouillé de ses tabous et oripeaux sacrés; conquête faite en commun et parallèle à l’affranchissement social collectif.“ 35 Er nimmt sich aus diesem historischen tableau also nicht heraus, sondern evoziert im weiteren seine eigene Schulerfahrung, die ihn sensibel und empfänglich für die Chants de Maldoror gemacht habe. Der wohl gesagt werden, bis dahin keine Ahnung hatte, stellt der Hitlerismus das Problem des Übergangs vom wirtschaftlichen Substrat zum Bewußtsein als Antriebsmechanismus dar; die dt. Ausgabe übersetzt ungenau]. 34 Ebd., S. 885. [Dt. Ausgabe S. 100: „<Nachdem er> den Dichter im Zeitalter der Vernunft <als einen> verschämten Sündenbock <definiert hat, dem> die kollektive Katharsis des Irrationalen übertragen wird <, kommt der Verfasser des Vorworts auf den berühmten Gedanken Lautréamonts zu sprechen: > ‚Dichtung muß von allen geschaffen werden. Nicht von einem‘“]. 35 Im französischen Original lautet die Passage, in die diese Aussage eingebettet ist: „Le cheveu long et hirsute, marqué à toutes fins utiles (il s’agit de l’isoler soigneusement, d’en faire jusque dans sa mise extérieure et sa mansarde un ‚asocial‘, un être en marge, un original aseptisé contre la contagion) de tous les attributs du ridicule bourgeois, le poète de l’âge de raison est le bouc émissaire honteux délégué avec des quolibets à la catharsis collective de l’irrationnel. Contre cette camisole de force que les mœurs bourgeoises passent au poète sous le nom ambigu (il sacre, mais surtout il isole) de ‚génie‘, s’élèvera un jour la revendication inflexible de Lautréamont: ‚La poésie doit être faite par tous. Non par un‘, revendication qui révèle chez lui le sens aigu de la nécessité d’une conquête de l’irrationnel, dépouillé de ses tabous et oripeaux sacrés; conquête faite en commun et parallèle à l’affranchissement social collectif.“ Ebd., S. 885-886 [für die im Text zitierte Passage, vgl. die dt. Ausgabe S. 100: „<Eine> Forderung, die bei <Lautréamont> einen deutlich ausgeprägten Sinn dafür verrät, daß das Irrationale seiner Tabus und seines sakralen Tands entledigt werden und erobert werden muß; daß es gemeinschaftlich und parallel zur sozialen, kollektiven Befreiung erobert werden muß“]. Vgl. auch den folgenden Abschnitt: „Entre ces deux définitions également et conjointement valables: ‚l’homme animal raisonnable‘ et ‚l’homme, ce rêveur définitif‘, il ne s’agit pas de trouver un compromis. Pas davantage de provoquer leur collision pour une déflagration finale dont nous sommes capables maintenant d’évaluer les incidences sur un plan terriblement concret. Il ne s’agit plus de l’espoir vain, sur lequel ont dormi trois siècles (d’un sommeil traversé de crises somnambuliques), d’une réduction définitive de l’irrationnel par le rationnel, mais de l’introduction d’un terme nouveau qui les absorbe l’un et l’autre - terme nouveau qui sera aussi un homme nouveau, et dont on doit tenir fermement à l’avance qu’il est destiné à s’insérer à son tour, et nulle part ailleurs que dans la série historique.“ Ebd., S. 888-889. Dominique Perrin 98 aufmerksame Leser erkennt in solchen Aussagen auch deutliche Anklänge an Au château d’Argol. Die zentralen Seiten von Lautréamont toujours sind der historischen Bedeutung des roman noir gewidmet, der eine der wichtigsten Bezugsgattungen für Au château d’Argol darstellt. Nachdem er ausgeführt hat, daß Lautréamont ein bis zur Parodie gehendes Pastiche der Tradition des roman noir bietet, verkündet Gracq, daß man es dabei mit einem fragwürdigen, aber höchst lehrreichen Vergleichsmaßstab zu tun habe. Er charakterisiert die Funktion dieser literarischen Form folgendermaßen: La fonction historique essentielle du roman noir nous apparaît […] d’accompagner à la manière d’un symptôme immédiat, avant même tout ébranlement politique, les premiers craquements d’une croûte figée depuis deux siècles. Les peurs ancestrales reviennent, des silhouettes inquiétantes grouillent dans les profondeurs, toute une vie embryonnaire, où l’œil n’avait plus accès, cherche à se faire jour. Cependant […] il s’agit d’un monde que l’on observe par la fenêtre […] d’un œil encore aisément distrait. Toute une part de la vie mentale - quoique ‚reconnue‘ - reste volontairement exilée dans les limbes. Avec Lautréamont, la perspective se renverse. 36 Gracq wird sein Interesse an der englischen gothic novel später relativieren. Dennoch erscheint der roman noir als die entscheidende Referenz seines ersten Romans, und zwar vor allem deshalb, da darin insbesondere die außerliterarische, oder besser: ‚mehr als literarische‘ Tragweite des Schreibens zur Geltung kommen kann. Der am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung entstandene Schauerroman drängt sich Louis Poirier also als literarische Form auf, in der die Jahre 1937 bis 1939 - die für ihn den Höhepunkt einer Periode markieren, in der die Wirklichkeit aus den Angeln gehoben wurde - am ehesten dargestellt werden können. Daher schreibt der „Avis au lecteur“ von Au château d’Argol dem von der gothic novel verbreiteten Schrecken insgesamt die Rolle eines Warnsignals („signal avertisseur“) 37 zu. „J’ai mis beaucoup de moi dans ce livre“, hat Gracq 1969 in einem Radiointerview über Au château d’Argol gesagt. 38 Im gleichen Interview kommt er auch auf das nachträglich eingefügte und bewußt schneidend formulierte Vorwort seines Kurzromans zu sprechen. Dabei bezieht er sich auf Edgar Allan Poe, der sich durch das Schreiben von seinen Obsessionen befreit habe 36 Ebd., S. 891-892. [Dt. Ausgabe S. 107-109: „Die eigentliche historische Leistung des roman noir ist also anscheinend, daß er nach Art eines unmittelbaren Symptoms, noch vor jeder politischen Erschütterung, die ersten Sprünge einer seit zwei Jahrhunderten erstarrten Eisschicht begleitet. Die Ängste der Vorväter breiten sich wieder aus, beunruhigende Schatten geistern durch die Tiefen, ein völlig embryonaler Lebensbereich, der dem Auge nicht mehr zugänglich war, sucht sich Geltung zu verschaffen. <…> Es handelt sich um eine Welt, die man gleichsam durchs Fenster, mit bequem geteilter Aufmerksamkeit, betrachtet. <…> Ein ganzer Teil des geistigen Lebens - obschon ‚anerkannt‘ - bleibt bewußt in die Außenbezirke verbannt. Mit Lautréamont kehrt sich die Perspektive um“]. 37 Gracq: Au château d’Argol, Anm. 6, S. 10 („Avis au lecteur“) (dt. Ausgabe, S. 8). 38 Gracq: Entretien avec Jean Paget (France-Culture, 1969). Zitiert nach: Bernhild Boie, Notice, Anm. 16, S. 1129. [Dt.: Ich habe viel von mir selbst in dieses Buch gelegt]. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 99 und der hinter der Maske des universalen Denkers, des methodisch vorgehenden Menschen, sein überladenes Unbewußtes („inconscient chargé“ 39 ) versteckt habe. Genauso explizit ist, richtig verstanden, schon der „Avis au lecteur“ des Romans selbst. Darin heißt es: Les circonstances communément entendues comme scabreuses qui entourent l’action de cette nouvelle ne lui sont nullement essentielles. À la réflexion, je pense qu’on ne pourrait les considérer honnêtement que comme le geste instinctif d’une pudeur bien compréhensible. 40 Gracq bewahrt also von vornherein eine gewisse Distanz zu den ‚schlüpfrigen, anstößigen Umständen‘, die seine Erzählung umgeben. Die zentrale Aussage des „Avis au lecteur“ verbindet die Bedeutung und die Berechtigung des eigenen Schreibens mit der translatio, der Übertragung des Parzifals Wagners in den eigenen Roman. Freilich ist sie ebenso suggestiv wie elliptisch und provoziert daher zweifellos eine Reihe von Fragen, die ihre Bedeutung und ihren Status innerhalb der Erzählung betreffen. Dennoch hat sich meines Wissens bislang nur ein Artikel (von 1993) mit diesem Thema beschäftigt. 41 Sein Autor, Pierre-François Kaempf, zeigt darin eindrucksvoll, daß man Au château d’Argol in der Tat als eine ‚Version‘ der Oper Wagners betrachten kann. Gracq sei die Übertragung des Parzifal durch die systematische Dämonisierung des Dekors und der Protagonisten im Roman gelungen. Das Prinzip der Übertragung, nach dem Gracq vorgegangen ist, ist tatsächlich recht einfach: Dort, wo das Drama Wagners eine weiße, dem Gral verbundene Welt einer schwarzen, unheilbringenden Welt entgegensetzt, ist die Romanwelt Argols eine einzige zusammenhängende Welt. Darin gibt es einen einzigen Wald, der eher eine Falle als ein Zufluchtsort ist, und der ein einziges Schloß umgibt, das eher einem chthonischen Gefängnis als einem zum Himmel hin geöffneten Tempel gleicht. Die mit einer revolutionären Aura umgebene Heide ist gleichzeitig Verführerin und Gral: Nacheinander von jedem ihrer Gefährten vergewaltigt, sucht sie schließlich den Gifttod. Albert und Herminien tragen ebenso Züge des jungfräulichen Helden wie des Fischerkönigs und des Geisterbeschwörers. Wenn man der ursprünglichen Einschätzung des Autors folgt und auf die Details und Einzelheiten seiner ‚dümmlichen symbolischen Phantasmagorie‘ („niaise fantasmagorie symbolique“) 42 verzichtet, wird man unweigerlich zu der Feststellung gelangen, daß die Fabel, die sich Louis Poirier am Ende der 1930er Jahre aufdrängt, die schwarze Version eines heiligen Dramas ist, und zwar eines heiligen Dramas, das für ihn die absolute Referenz im Feld des ästhetischen 39 Zitiert nach ebd., S. 1129. 40 Gracq: Au château d’Argol, Anm. 6, S. 9 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 7: „Die im allgemeinen als schlüpfrig verstandenen Umstände, die die Handlung dieser Novelle umgeben, sind für sie keineswegs wesentlich. Wenn man es recht bedenkt, meine ich, daß man sie ehrlicherweise nicht anders auffassen kann denn als unbestimmte Geste einer wohlbegründeten Schamhaftigkeit“]. 41 Vgl. Kaempf: „‚Un mancenillier à l’ombre mortelle‘“, Anm. 14. 42 Gracq: Au château d’Argol, Anm. 6, S. 10 („Avis au lecteur“) (dt. Ausgabe, S. 8). Dominique Perrin 100 Gefühls darstellt - eines Dramas, das aus verschiedenen Tiefenschichten der europäischen Kultur gespeist wurde und das zudem als eine der Lieblingsopern des Wagnerliebhabers Hitler gilt. 43 Wenn man schließlich den Bezug auf den Parzifal noch weiter vereinfacht und sich der Leser an „la vigueur, d’elle-même convaincante, de ‚ce qui est donné‘, […] dans un livre comme dans la vie“ 44 erinnert, dann wird ein Leitmotiv erkennbar, das dem gesamten fiktionalen Werk Gracqs wie ein basso continuo unterliegt: das Thema des Wartens. Au château d’Argol selbst verpflichtet dazu, die Aussagen, die Gracq nach dem Krieg über die Einzigartigkeit der 1930er Jahren machte, ernst zu nehmen und nicht auf einen Versuch retrospektiver Sinngebung zu reduzieren: Et la menace même de l’orage, partout présente dans l’inquiétante immobilité de l’air, dans la couleur fuligineuse du ciel, et dans l’angoisse qui baignait le corps entier et poussait l’âme aux frontières mêmes de la folie, était plus cruelle encore que son prochain déchaînement. 45 Schließlich kann die Darstellung der zweiten Lektüreachse von Au château d’Argol mit einem letzten Typus der autobiographischen Interpretation geschlossen werden, der mit der quasi physiologischen Dimension des Schreibens in Zusammenhang steht. Gracq hat wiederholt darauf hingewiesen, daß er, ohne lange darüber nachgedacht zu haben („sans grande délibération préalable“), zu schreiben begonnen habe. Er habe sich vor allem am stilistischen Gefühl des ‚einheitlichen und ununterbrochenen Fließens‘ orientiert („la coulée unie et sans rupture“). 46 So kann festgehalten werden, daß Gracq als Lehrer und aktiver Kommunist sowie als ein Forscher, der eine Doktorarbeit in der Geomorphologie anfertigen möchte, bis zu dem Zeitpunkt, als ihn eine berufliche Unsicherheit mit existentiellen Folgen zur Niederschrift von Au château d’Argol veranlaßt, keinerlei abstraktes Schreibprojekt verfolgt. In einem der bereits angeführten autobiographischen Fragmente kommt Gracq auf den Moment 43 An dieser Stelle kann an die folgende zentrale Passage aus dem „Avis au lecteur“ von Au château d’Argol, Anm. 6, erinnert werden: „Et si ce mince récit pouvait passer pour n’être qu’une version démoniaque […] [ de Parsifal ] , on pourrait espérer que de cela seul il jaillît quelque lumière même pour les yeux qui ne veulent pas encore voir“. [Dt. Ausgabe S. 6-7: „Und wenn diese schmale Erzählung dafür gelten könnte, nicht mehr darzustellen als eine dämonische Version - und als solche vollständig berechtigt - des Meisterwerks <= Parzifal>, so könnte man hoffen, daß allein von daher ein wenig Licht aufleuchtete sogar für die Augen, die noch nicht sehen wollen“]. 44 Ebd., S. 10 („Avis au lecteur“). [Dt. Ausgabe S. 8: „<…> die Kraft, aus sich selbst heraus überzeugend, dessen, ‚was gegeben ist‘ <…>, im Buch wie im Leben <…>“]. 45 Gracq: Au château d’Argol, Anm. 6, S. 123. [Dt. Ausgabe S. 132-133: „Und die drohenden Anzeichen des Gewitters, überall gegenwärtig in der beunruhigenden Reglosigkeit der Luft, in der rußigen Farbe des Himmels und in der Angst, die den ganzen Körper umgab und die Seele bis an die Grenzen des Wahnsinns trieb, waren grausamer noch als sein bevorstehender Ausbruch“]. 46 Julien Gracq: Lettrines (1967), in: ders.: Œuvres complètes, Anm. 1, Bd. 2, S. 141-245, hier S. 181. 1939: Geburt und Ausbildung von Julien Gracq 101 zu sprechen, in dem er tatsächlich begonnen hat zu schreiben. Er charakterisiert ihn als einen Moment, in dem sein Innerstes ans Tageslicht gelangt sei, genauer: als „le surgissement au grand jour d’un for intérieur qui tenait […] à peu près toute la place“ 47 . Auch die psychologischen Indizien sind bemerkenswert: der Zeitpunkt der Niederschrift des Kurzromans ist geprägt von einer leicht delirierend anmutenden Euphorie, über die der Schriftsteller im Jahr 1981 in der Retrospektive sagt: En réalité, si j’ai été un lecteur plutôt précoce dans mes goûts, j’ai été un écrivain plutôt retardé! J’ai commencé à vingt-sept ans par Au château d’Argol, qui était un livre d’adolescent. Bien sûr, on peut le lire sur un mode parodique. Mais il n’a pas été écrit dans cet éclairage. Il a été écrit avec une sorte d’enthousiasme, qui tenait peut-être en partie à ce que je débouchais tardivement dans la fiction […]. Je ne me refusais rien. 48 Nachdem er schließlich Au château d’Argol vollendet hat, fällt jedenfalls eine Last von Louis Poirier ab. In seinen eigenen Worten von 1992 lebt er fortan sorglos im Schatten der herannahenden Katastrophe: „insoucieux dans l’air lourd, dans l’ombre déjà allongée de la catastrophe“ 49 . Bis zum Krieg wird Julien Gracq nichts mehr schreiben. Die in seinen verschiedenen nachträglichen Erklärungen angedeuteten psychischen Ereignisse während der unmittelbaren Vorkriegszeit erinnern an den Prozeß von Anteilnahme und Triebabfuhr, der in der griechischen Antike Katharsis genannt wurde und den ein Text wie Lautréamont toujours explizit aufruft. In dieser Perspektive betrachtet, ist der Eintritt Gracqs in die Literatur, also seine Geburt als Schriftsteller, nicht durch die Geschichte beeinträchtigt worden, er ist vielmehr direkt aus ihr hervorgegangen. Au château d’Argol ist daher nicht das Produkt eines hypothetischen Ignorierens der europäischen Krise am Ende der 1930er Jahre, sondern er stellt sich als eine ausgearbeitete symbolische Reaktion auf die albtraumartige Entwicklung der kollektiven Geschichte dar. 50 Er ist eine Reaktion, in der sich eine individuelle Spannung 47 Gracq: Carnets du grand chemin, Anm. 5, S. 1023. Vgl. das ausführliche Zitat zu Anm. 19. 48 Gracq: Entretien avec Jean Roudaut, in: ders.: Œuvres complètes, Anm. 1, Bd. 2, S. 1226 (Appendices: Entretiens). [Dt.: Während ich tatsächlich ein in Geschmacksfragen frühreifer Leser war, wurde ich erst mit Verspätung zum Schriftsteller! Ich begann im Alter von 27 Jahren mit Au château d’Argol, dem Buch eines Jugendlichen. Natürlich kann man es als Parodie lesen. Aber es wurde nicht als solche geschrieben. Es wurde mit einer Art Enthusiasmus geschrieben, der vielleicht damit in Zusammenhang steht, daß ich erst spät zum fiktionalen Schreiben kam. <…> Ich verbot mir gar nichts]. 49 Ebd., S. 1026. [Dt.: <lebt er fortan> sorglos in der den Atem raubenden Luft und im bereits langen Schatten der Katastrophe]. 50 Nach der drôle de guerre und dem Blitzkrieg wird Louis Poirier in einem Gefangenenlager in Schlesien interniert. Aufgrund gesundheitlicher Schwierigkeiten wird ihm im Februar 1941 die Rückkehr nach Frankreich ermöglicht, wo er den Rest des Krieges damit verbringt, zu lehren und eine Reihe von Texten zu schreiben, die nach dem Krieg unter dem Titel Liberté grande erscheinen. In seinem Interview mit Régis Debray kommt Gracq auf seine politische Haltung während des Krieges zu sprechen. Darin berichtet er insbesondere, er habe sich trotz seiner ‚antideutschen Einstellung‘ aus verschiedenen Gründen nicht an der Résistance beteiligt. Bonjour M. Gracq, Anm. 21, hier S. 456-457: Dominique Perrin 102 entlädt und dabei einen Prozeß auslöst, der genauso lange andauern wird wie die Karriere des Schriftstellers und Novellisten Julien Gracq, das heißt bis zum Sommer 1968. 51 „[…] Je vivais à Caen avec un dossier politique qui me suivait. Quand mon régiment était parti pour le front, le colonel m’avait laissé au dépôt, tout seul. C’était assez significatif… Plus tard le ministre de l’Instruction publique, Bonnard, m’a révoqué, sur dénonciation. Je ne l’ai su qu’après. Le doyen de l’université de Caen, qui était un homme décidé, n’a pas obtempéré et finalement ça n’a pas eu de suite. Il y a eu un peu de solidarité normalienne, je crois, qui a joué en ma faveur. D’un autre côté, il n’a jamais été question pour moi d’entrer dans une organisation sous influence communiste. L’hostilité des communistes restés staliniens contre ceux qui avaient quitté le Parti en 1939 était totale, comme leur méfiance, et les communistes passaient pour contrôler la plupart des maquis […]“. 51 Das im Sommer 1968 geschriebene Werk Le Roi Cophétua, das in Presqu’île (1970) Eingang findet, ist das letzte fiktionale Werk Gracqs und markiert damit das Ende seiner ersten Schaffenperiode, der eine ‚diskursive‘ Periode folgt, in der Gracq ausschließlich Notizensammlungen und andere generisch unklassifizierbare, essayistische Texte veröffentlicht. Andreas Niederberger Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 1 Einleitende Bemerkungen In seinem Buch Demeure. Maurice Blanchot zeigt Jacques Derrida in einer intensiven Auseinandersetzung mit dem kurzen Prosatext L’instant de ma mort, den Maurice Blanchot 1994 veröffentlichte, wie sehr Blanchot vor allem in seinem Spätwerk die Frage nach der Möglichkeit interessiert, in der Literatur historisches Geschehen zu bezeugen. Blanchots Text erzählt von einer Strafaktion der Nazis gegen die Bewohner eines großen Hauses, auch Schloß 1 genannt, in der der Protagonist, ein Résistance-Kämpfer oder zumindest jemand, der der Résistance nahe steht, nur deshalb der Erschießung entkommt, weil russische Soldaten, die im Dienst der Nazis stehen, ihn als Adligen identifizieren. 2 Derrida situiert Blanchots Text zwischen der Privatheit und Partikularität des (literarischen) Erzählens auf der einen Seite und der Öffentlichkeit und Allgemeinheit sprachlichen Ausdrucks und (geschichts-)wissenschaftlicher Darstellung auf der anderen Seite. 3 Damit stellt sich in einer Analyse des ‚autobiographischen‘ Textes 4 L’instant de ma mort (zunächst und vor allem) die Frage, warum die Darstellung des Ereignisses in dem Text eine Notwendigkeit erhält, die über bloße Erinnerung fünfzig Jahre nach dem Geschehen deutlich hinausgeht. Stilistisch und sprachlich 1 Dieser Hinweis ist nicht ganz irrelevant, da Franz Kafka ohne jeden Zweifel einer der wichtigsten Bezugsautoren für Blanchot ist. Vgl. dazu etwa die Aufsatzsammlung Maurice Blanchot: De Kafka à Kafka, Paris: Gallimard 1981 (dt.: Von Kafka zu Kafka, Frankfurt am Main: Fischer 1993). 2 „Alors commença sans doute pour le jeune homme le tourment de l’injustice. Plus d’extase; le sentiment qu’il n’était vivant que parce que, même aux yeux des Russes, il appartenait à une classe noble.“ Maurice Blanchot: L’instant de ma mort, Paris: Gallimard 2002, S. 14-15 (dt.: „Der Augenblick meines Todes“, in: Jacques Derrida: Ein Zeuge von jeher. Nachruf auf Maurice Blanchot, Berlin: Merve 2003, S. 31-39). 3 Jacques Derrida: Demeure. Maurice Blanchot, Paris: Galilée 1998, S. 32-33 (dt.: Bleibe. Maurice Blanchot, Wien: Passagen 2003). 4 Vgl. zur Frage des ‚realen‘ Hintergrundes der Erzählung Christophe Bident: Maurice Blanchot. Partenaire invisible - Essai biographique, Seyssel: Champ Vallon 1998, S. 581-582. Hinsichtlich einer Autobiographie interessant an dem vorherstehenden Zitat ist, daß der Erzähler das Ereignis der Nicht-Erschießung als Anlaß für die politische Konversion des Protagonisten deutet. Insofern könnte diese Passage als eine Selbstdarstellung Blanchots bzw. seiner politischen Neuorientierung hin zum Kommunismus interpretiert werden. Andreas Niederberger 104 spielt hierbei insbesondere die ‚Neutralität‘ der Sprache Blanchots eine große Rolle, die sich signifikant von der Sprache anderer Erzähler und Erzählungen abhebt. Auch wenn gewöhnlich ein Bruch 5 im Werk und in der Biographie Blanchots nach dem 2. Weltkrieg diagnostiziert wird, so weist die formale Analyse Derridas doch auf einen Grundzug der Literatur Blanchots und der Ansprüche an ‚gute‘ literarische Texte hin, die bereits in den frühen kritischen Essays Blanchots formuliert werden - und nicht erst später, wenn das Thema der Verantwortung gegenüber den toten Opfern der Geschichte offensichtlich im Zentrum der Schriften Blanchots steht. 6 Schon Blanchots erste Publikationen beschäftigen sich mit dem Phänomen der Notwendigkeit im literarischen Text bzw. der Forderung nach einer solchen Notwendigkeit - wobei das, was mit dieser ‚Notwendigkeit‘ gemeint ist, wie sich zeigen wird, ganz verschiedene Bedeutungen hat, verweist die ‚Notwendigkeit‘ doch ebenso auf innerliterarische Ansprüche wie auch auf eine politisch-soziale Zeitdiagnose. Dies führt hinsichtlich einer Untersuchung der literarischen und kritischen Produktion Blanchots in der ‚politischen‘ Krise zwischen 1938 und 1940/ 41 zu einer interessanten Situation: Einerseits weist Blanchot die Ziele, aber auch die Möglichkeit eines ‚Realismus‘ zurück, d.h. die Literatur sollte weder in ihren Darstellungsmitteln, noch in ihren ‚Gegenständen‘ auf die (gegenwärtige) Welt bezogen sein. Literatur kann ihre Notwendigkeit nicht durch die Faktizität einer Bezugswelt gewinnen. Andererseits bringen Blanchots frühe Romane zweifelsohne wesentliche Aspekte des Nihilismus sowie der Entfremdungs- und Totalitarismuserfahrungen seiner Zeit zum Ausdruck und thematisieren diese in teilweise direkt philosophischer Prosa, so daß sie offensichtlich in einem sehr engen Verhältnis zum Weltgeschehen stehen und sich einer Deutung dieses Weltgeschehens annähern, wie sie aus den Überlegungen zu einer ‚konservativen‘ oder ‚nationalen‘ ‚Revolution‘, aber auch etwa der Theorie Georges Batailles und des von ihm wesentlich mitgestalteten Collège de Sociologie bekannt ist. 7 Um diesen vermeintlichen Widerspruch zu erklären, soll hier die folgende These vertreten werden: Die Zurückweisung des (bekannten) Realismus ist der Zurückweisung einer Perspektive geschuldet, in der die Welt als eine solche begriffen wird, die klaren Prinzipien unproblematisch folgt oder folgen könnte. Kein Autor sollte der Kontingenz der Welt mit ihren jeweiligen Funktionsweisen und Grenzen ein Abbild dieser Welt hinzufügen, das sie in ihrer Kontingenz bloß be- 5 Vgl. dazu u.a. Leslie Hill: „La pensée politique“, in: Magazine Littéraire 424 (2003), S. 35- 38. 6 Vgl. zur ‚Neutralität‘ des sprachlich-literarischen Ausdrucks etwa Maurice Blanchot: Le pas au-delà, Paris: Gallimard 1973, S. 101-108. Zur ‚Verantwortung‘ ders.: L’écriture du désastre, Paris: Gallimard 1980, S. 45-47 (dt.: Die Schrift des Desasters, Paderborn/ München: Fink 2005). 7 Vgl. dazu etwa den Bericht über Batailles Vortrag „La structure des démocraties et la crise de septembre 1938“, in: Dennis Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie. 1937-1939, Paris: Gallimard 1995, S. 448-459 sowie insgesamt Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz: UVK 2006. Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 105 stätigt. Stattdessen sollte die Literatur durch die Erzeugung der Notwendigkeit eines Geschehens und der Charaktere in einem Text, die ihr eigen ist, ihre besondere Fähigkeit nutzen, eine solche Notwendigkeit darzustellen und möglicherweise im Verhältnis des Protagonisten zu dem Raum, in dem er sich im Text bewegt, sogar zu thematisieren. Der vermeintliche Widerspruch ist also keiner, sondern die Zurückweisung eines bestimmten, (selbst wenn nur der Ontologie nach) affirmativen Verständnisses des Realismus bei gleichzeitiger Bewahrung seines (möglichen) kritischen Impulses. Um diese These zu begründen, aber auch ihre Grenzen aufzuzeigen, wird zunächst die Forderung nach Notwendigkeit in der Literatur anhand einzelner kritischer Texte Blanchots aus den Jahren 1937 bis 1941 expliziert. Danach zeigt die Untersuchung einiger wesentlicher Aspekte der ersten Auflage des Romans Thomas l’obscur sowie des Romans Aminadab, in welcher Weise die eigenen literarischen Texte Blanchots aus dieser Zeit die Forderung nach Notwendigkeit umsetzen und wie sie auf die gegebene historische Situation bezogen sind. Zuletzt wird in der Form einer kurzen bewertenden Bilanz auf Jean-Paul Sartres Vergleich von Blanchot und Kafka sowie die damit zusammenhängende Frage geblickt, wie die politische und ästhetische Bedeutung Blanchots zu Beginn der vierziger Jahre - und möglicherweise auch seine zunehmende Rezeption in den letzten dreißig Jahren - einzuschätzen ist. 2 Blanchots Literaturkritik zwischen 1937 und 1941 Dieser Artikel wird keine Interpretation der literarischen Produktion und Literaturkritik Blanchots zwischen 1937 und 1941 vorlegen, die eng an seiner Biographie orientiert ist. Dennoch kann eine Erörterung dieser Texte sicherlich nicht ohne einen Verweis auf die ‚Ambivalenzen‘ (um es mit einem viel zu freundlichen Wort auszudrücken) seiner Biographie in dieser Zeit auskommen. Seit dem Beginn der dreißiger Jahre ist Blanchot, trotz seines jungen Alters - er wurde 1907 geboren und wird folglich 1937 gerade einmal dreißig Jahre alt -, eine der zentralen intellektuellen Figuren der extremen Rechten in Frankreich, was ihn z.T. in leitende Funktionen bei diversen Zeitschriften, wie etwa dem Journal des débats, Rempart oder Écoutes, bringt. 8 Selbst wenn sein Schwerpunkt schon in dieser Zeit bei der Literaturkritik liegt, äußert er sich zunächst auch in politischen Artikeln; nach dem Münchener Abkommen gibt es allerdings keine von ihm gezeichneten politischen Artikel mehr. Dies muß jedoch nicht heißen, daß er auch keine mehr verfaßt hat, denn sein Biograph Christophe Bident weist darauf hin, daß viele Leitartikel Blanchot stilistisch nahezu zweifelsfrei zuzuschreiben sind. 9 Blanchots politische Position ist durch einen extremen, teilweise revolutionären Nationalismus und Elitismus gekennzeichnet, was ihn jedoch - anders als 8 Vgl. dazu Bident: Maurice Blanchot, Anm. 4, S. 60-102, 110-113. 9 Ebd., S. 151. Andreas Niederberger 106 den Großteil der französischen extremen Rechten - zu einem Gegner Nazideutschlands und dann vor allem auch der Collaboration werden läßt 10 - und somit die spätere Nähe zur Résistance nicht selbst schon notwendig aus einer politischen Konversion verstehbar macht, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg klar zu beobachten ist. In gewissem Maße ambivalent 11 wird Blanchots Position dadurch, daß er im Unterschied zu vielen Intellektuellen der extremen Rechten (aber durchaus auch in Parallele zu anderen ihrer Vertreter, wie etwa Louis-Ferdinand Céline) dem Surrealismus teilweise nahesteht und vermeintlich ‚dekadente‘ Autoren wie Lautréamont oder Mallarmé sehr hoch und als Vorbilder für jede literarische Produktion schätzt. Die ‚wahre‘ Dekadenz in der französischen Literatur seiner Zeit wird für ihn dagegen vom sogenannten „jeune roman“ repräsentiert, dem er anders als der „jeune poésie“ 12 , die er lobt, vorwirft, entweder seine Inspiration in der banalen Alltäglichkeit zu finden oder das Innenleben der jeweiligen Autoren zur Darstellung zu bringen. 13 Die von ihm indizierte „sorte de crise“ resultiert für Blanchot aus einem „goût puéril de réalisme“, der zu einer rein oberflächlichen und einfachen Aufnahme der Gegebenheiten führt. 14 Der tieferliegende Grund sind für ihn jedoch eine fehlende Vorstellung der „nécessité dans une œuvre de fiction“ und die daraus hervorgehende Strategie, eine solche Notwendigkeit dadurch zu gewinnen, daß die tatsächliche oder eine mögliche Wirklichkeit abgebildet wird. 15 Aus dieser Problematisierung des ‚kindischen Realismus‘ 10 Vgl. ebd., S. 151-166. 11 ‚In gewissem Maße ambivalent‘, da es keine notwendige Verbindung zwischen ästhetischem Avantgardismus und Positionen auf der politischen Linken gibt, wie zahlreiche Avantgardebewegungen der letzten beiden Jahrhunderte, allen voran ein großer Teil der italienischen Futuristen, belegen. Vgl. dazu auch die Studien von Pierre Bourdieu zur politischen Verortung der ästhetischen und intellektuellen Avantgarden u.a. in Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil 1992 (dt.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999). 12 Vgl. dazu Maurice Blanchot: „Réflexions sur la jeune poésie“, in: ders.: Faux pas, Paris: Gallimard 1971, S. 149-153 (ursprünglich in: Journal des débats, 27.5.1942, S. 3). 13 „Aucun écart dans ces livres doucement chargés de se relier à la société banale et au monde habituel des choses. Tout romancier naissant croyait se trouver inéluctablement devant la tâche de se raconter lui-même ou de raconter l’histoire d’un personnage emprunté à la vie courante.“ Maurice Blanchot: „Le jeune roman“, in: ders.: Faux pas, Anm. 12, S. 209-212, hier S. 209 (ursprünglich in Journal des débats, 15.5.1941, S. 3). Die Kritik am Psychologismus in der Literatur kennzeichnet bereits Blanchots frühe Texte; vgl. dazu etwa das überraschende Lob der (häufig als herausragender Ausdruck der stream-of-consciousness-Literatur begriffenen) Romane Virginia Woolfs: „Cette extraordinaire aventure n’a été possible que parce que Virginia Woolf a imaginé une fiction d’où toute psychologie est exclue.“ Maurice Blanchot: „Le temps et le roman“, in: ders.: Faux pas, Anm. 12, S. 282-286, hier S. 283 (ursprünglich als „Les vagues, par Virginia Woolf“, in: L’insurgé 38 [29.9.1937], S. 5). 14 Blanchot: „Le jeune roman“, ebd. 15 „[…] ont encouragé le romancier à faire le sacrifice de toute force d’imagination et de toute volonté de création extravagantes. […] En second lieu, l’imitation de la société ou, Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 107 folgert Blanchot jedoch keine formalistische oder ästhetizistische Konzeption eines l’art pour l’art, sondern er fordert eine Art der Notwendigkeit, die sich aus der Semantik des Romans ergeben soll. Die Figuren, die im Roman auftreten, sollen sich aufgrund der darin präsentierten Zusammenhänge und Gegebenheiten notwendig derart verhalten und entwickeln, wie sie es tun. 16 Ziel ist es also, eine „loi littéraire“ 17 zu finden, die einerseits dem literarischen Werk seine Notwendigkeit und Geschlossenheit sichert und andererseits den Plot und die Art der Figuren im Roman bestimmt. Dem literarischen Scheitern an dieser Erfordernis korrespondiert dabei in Blanchots Augen - und dies verweist dann doch, und mindert somit die Ambivalenz, auf einen elitistischen Heroismus, wie er sich eher bei der politischen Rechten als der Linken findet - das Scheitern im (politischen) Leben selbst. Denn auch hier gelingt es seiner Ansicht nach nicht, dem einzelnen und dem kollektiven Leben eine eigene Notwendigkeit oder ein eigenes Gesetz zu geben, sondern vermeintliche Notwendigkeit wird in der Bezugnahme auf andere und anderes gesucht. In dieser Parallele zum Leben steckt jedoch, wie sich gleich zeigen wird, noch keine Behauptung der tatsächlichen Realisierbarkeit eines (möglicherweise kollektiven) ‚Gesetzes‘. Literatur soll dementsprechend für Blanchot ‚rein‘ und ‚stolz‘ sein, was heißt, daß sie in sich selbst ruht und ihre Rechtfertigung hat. 18 Eine Annäherung an eine solche Literatur findet sich in Blanchots Wahrnehmung aber nicht nur bei einem formalen Avantgardisten wie Lautréamont 19 , sondern auch beim vermeintlichen Hauptvertreter des Realismus Honoré de Balzac. Für ihn bildet Balzac nämlich die Wirklichkeit in keiner Weise ab, sondern er comme l’on dit, de la vie a constitué pour le romancier un excellent moyen d’introduire une certaine nécessité dans une œuvre de fiction. Comment sauver du hasard un ouvrage dont les phrases se suivent sans rigueur, où presque tous les mots pourraient être remplacés par d’autres sans dommage, qui n’est qu’une combinaison de détails et d’épisodes assemblés fortuitement? Il n’est que trop naturel que l’écrivain se donne à lui-même cette réponse: mon roman […] bénéficie d’une certaine nécessité dans la mesure où il apparaît comme le récit d’événements qui ont eu lieu ou qui auraient pu avoir lieu.“ Ebd., S. 210. 16 „Alors que le propre de l’œuvre véritable est de créer un monde où les êtres que nous sommes et les faits qui nous composent atteignent une nécessité et même une fatalité que la vie ne leur donne généralement pas […].“ Ebd. 17 Ebd., S. 211. 18 „Il n’est pas besoin de dire que l’esprit d’invention et l’effort de rupture supposent une recherche terriblement exigeante de la nécessité, un éloignement de tout arbitraire, une conscience implacable, pour rejeter toute image ou toute création non justifiée, en un mot un contrôle et une domination extrêmes. C’est là, semble-t-il, le véritable enseignement de notre tradition. Elle nous permet de rêver à quelque écrivain, symbole de pureté et d’orgueil, qui serait pour le roman ce que Mallarmé a été pour la poésie et d’entrevoir l’œuvre dont celui-ci voulait faire l’équivalent de l’absolu.“ Ebd., S. 212. 19 „[…] l’une des plus grandes beautés de Maldoror vient de cet effort caché vers une sorte de livre pur, de roman idéal et modèle, d’œuvre digne du nom de roman et pourtant privée de toutes les conventions ordinaires et de toutes les facilités de la tradition.“ Maurice Blanchot: „Lautréamont“, in: ders.: Faux pas, Anm. 12, S. 197-202, hier S. 197 (ursprünglich in Revue française des idées et des œuvres 1 [1940], S. 67-72). Andreas Niederberger 108 ‚präpariert‘ gewissermaßen in einem ersten analytischen Schritt ‚allgemeine Ideen‘ aus den sozialen Verhältnissen heraus, in denen er sich befindet, um dann in einem zweiten Schritt in seiner eigenen Vorstellung eine Welt zu ersinnen, die in strenger Weise von diesen Ideen bestimmt bzw. gar durch sie determiniert ist: Il apparaît donc que Balzac n’a pu atteindre le monde de sa fiction qu’en le pensant, qu’il a trouvé dans des idées générales le principe d’animation d’une œuvre essentiellement concrète. C’est là un fait auquel on ne saurait trop réfléchir. Il est extraordinaire de voir comment certains personnages de Balzac, en obéissant de la manière la plus stricte à la loi abstraite qu’ils portent en eux, expriment une existence d’une fureur et d’une puissance extrêmes. La passion mécanique qui les mène ne cesse de dépendre de la forme qu’elle traduit, mais cette passion crée le monde contre lequel elle se heurte et, bien que tout y soit calculé, que les autres passions contre lesquelles elle lutte manifestent la même rigueur de fatalité mécanique, c’est un champ illimité de hasards tragiques et de péripéties imprévisibles qui s’impose à l’esprit qui le contemple. 20 Der Ausgang bei einem allgemeinen Gesetz oder bei Prinzipien erzeugt also keinen Zusammenhang oder sozialen Raum, der klar geordnet und für alle transparent ist, sondern er bringt Figuren hervor, die notwendigerweise so handeln, wie sie handeln, dabei aber auf eine Welt stoßen bzw. damit eine Welt erzeugen, in der ihr Scheitern und ihr Konflikt mit anderen unausweichlich ist. Der Autor des ‚wahren‘ Romans hat folglich nicht die Aufgabe, in der Weise einer rationalistischen Deduktion à la Descartes oder Pascal eine perfekte Welt zur Erscheinung zu bringen. Er sollte vielmehr danach streben, die Paradoxien und verheerenden bzw. katastrophalen oder zumindest widersprüchlichen Implikationen einer allgemeinen Befolgung des entsprechenden Gesetzes bzw. der Prinzipien aufzuzeigen, die durchaus der Wirklichkeit entnommen sein sollten. 21 Für Blanchot liegt die kritische 20 Maurice Blanchot: „L’art du roman chez Balzac“, in: ders.: Faux pas, Anm. 12, S. 203- 208, hier S. 205-206 (ursprünglich in Journal des débats, 21.-22. 7. 1941, S. 3). [Dt.: Es scheint so, daß Balzac die Welt seiner Fiktion nur denkend erreichen konnte, daß er das Prinzip des Antriebs eines wesentlich konkreten Werks in allgemeinen Ideen fand. Dies ist eine Tatsache, über die man nicht lange genug nachdenken kann. Es ist schon sehr bemerkenswert, wie bestimmte Figuren Balzacs, indem sie auf strikteste Weise einem abstrakten Gesetz folgen, das sie in sich tragen, eine von extremer Wut und Kraft geprägte Existenz ausdrücken. Die mechanische Leidenschaft, die sie leitet, bleibt von der Form abhängig, die sie übersetzt, aber diese Leidenschaft schafft die Welt, an der sie sich stößt, und, obwohl alles darin kalkuliert ist, obwohl die anderen Leidenschaften, gegen die sie ankämpft, die gleiche Strenge mechanischer Unabwendbarkeit aufweisen, ist diese Welt ein unbegrenztes Feld tragischer Zufälle und unvorsehbarer Peripetien, das sich dem es betrachtenden Geist aufzwingt]. 21 „L’idée fixe qui est la marque de tant de héros balzaciens est, dans un certain sens, la marque de la création balzacienne. L’idée s’empare de cette immense possibilité d’expressions qu’est l’esprit de Balzac; elle leur impose ses exigences inépuisables; elle tire d’elles une suite de conséquences qui, se développant sans fin, avec un mouvement de plus en plus contrarié par l’enchevêtrement même de ses propres déductions, finissent par éclater dans un drame d’une puissance effrayante où ne subsiste que la Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 109 Leistung eines ‚Realismus‘ à la Balzac also weniger in der unmittelbaren Darstellung sozialer Mißstände oder der Grausamkeit bestimmter Verhaltensweisen, sondern darin, daß aufgezeigt wird, welche möglichen Implikationen und Konsequenzen Prinzipien haben, denen Personen z.T. unreflektiert folgen bzw. die sie auch bewußt für richtig und unproblematisch halten. Blanchot verweist hiermit indirekt auch auf seine eigene frühe Erzählung „L’idylle“, in der in abstraktem und formalem Erzählmodus anhand eines vermeintlich idealen Hospizes mit seiner Sorge um den Gast das Umschlagen des Prinzips der Gastlichkeit in Folter dargestellt wird. 22 Die Literatur hat also ihre eigenen Gesetze („ses lois propres“ 23 ), aber diese ‚literarischen‘ Gesetze erlauben gerade eine Analyse der Gesetze und Prinzipien, die die Wirklichkeit bestimmen (sollten), die tiefer reicht, als es jede direkte Auseinandersetzung mit der oberflächlichen oder sichtbaren Erscheinung der Wirklichkeit kann. Denn sie bringt Eigenschaften der Wirklichkeit zum Ausdruck, die den Akteuren ansonsten zumeist verborgen bleiben und sie daher in Handlungsverhältnisse treiben, in denen sie selbst weder verstehen, warum sie so handeln, wie sie handeln, noch dementsprechend in der Lage sind, Kontrolle über diese Wirklichkeit auszuüben. Blanchots ‚Literaturkritik‘ will also letztlich auch eine Zeitdiagnose sein, nämlich die Diagnose einer Zeit, in der den Handelnden die Bedingungen ihres Handelns entzogen sind - und zwar aus prinzipiellen Gründen. Der Krieg kann also als unausweichlich erscheinen, wenn nachweisbar ist, daß die handlungsleitenden Prinzipien notwendig zur Krise und Katastrophe führen; zugleich ist jedoch die hegelmarxistische Aufhebung der Situation in einer Aneignung des ‚Reichs der Notwendigkeit‘ in einem ‚Reich der Freiheit‘ - zumindest in der Perspektive der literarischen Charaktere - verbaut. Die Einsicht in die Implikationen und Konsequenzen einer Struktur der Notwendigkeit eröffnet also zwar die Möglichkeit einer Bezugnahme auf sie, nicht aber ihre Meisterung. Genau diese Einsicht wird noch deutlicher, blickt man auf Blanchots erste beiden Romane. 3 Thomas l’obscur oder die Unmöglichkeit, sich das Gesetz des Raumes anzueignen Blanchots erste beiden Romane Thomas l’obscur und Aminadab stellen in gewissem Maße den Versuch dar, dem Modell des ‚reinen‘ Romans zu folgen, das die kritischen Schriften entwerfen. Sie gehen aber auch zumindest in einer wesentlichen Hinsicht darüber hinaus. Denn sie sind, wie es Michel conception hallucinatoire d’un esprit qui impose son rêve comme la seule réalité authentique.“ Ebd., S. 206. 22 Der Text „L’idylle“ findet sich in Maurice Blanchot: Après coup précédé par Le ressassement éternel, Paris: Minuit 1983, S. 9-56. 23 Maurice Blanchot: „L’ange du bizarre“, in: ders.: Faux pas, Anm. 12, S. 254-259, hier S. 257 (ursprünglich in Journal des débats, 7.10.1941, S. 3). Andreas Niederberger 110 Foucault in einem Aufsatz 1966 genannt hat, dadurch gekennzeichnet, daß sie eine „pensée du dehors“ 24 , ein Denken des ‚Draußen‘ zum Ausdruck bringen, mit dem Blanchot nicht nur die individuellen oder allgemeinen Konsequenzen einer Prinzipienbefolgung thematisiert, sondern auch noch die Wahrnehmung einer solchen ‚prinzipiierten‘ Welt durch jemanden, der ihr primär ausgesetzt ist. 25 Die Prinzipien erscheinen nämlich in den beiden Romanen inkarniert in einer ‚natürlichen‘ oder ‚sozialen‘ Welt, in die der Protagonist, der in beiden Romanen Thomas heißt, geworfen ist, ohne sie als seine eigene aneignen oder auch nur seine Teilhabe an dieser Welt nachvollziehen zu können. Es entwickelt sich ein Wunsch nach ‚Flucht‘ vor dieser jeweiligen Welt bzw. ein Streben, dorthin vorzudringen, wo die Prinzipien gesetzt und aufrechterhalten werden - Erfahrungsweisen der Wirklichkeit und Umgangsweisen mit ihr, denen wenige Jahre später Jean-Paul Sartre in seinem Buch L’être et le néant 26 philosophische Dignität verleiht. Frühere Thematisierungen lassen sich natürlich auch schon bei Martin Heidegger und Emmanuel Levinas finden, deren Schriften Blanchot, ebenso wie den ersten Roman Sartres, La nausée 27 , gut kennt und schätzt. Blanchots erster Roman Thomas l’obscur erscheint 1941. Nach Auskunft von Blanchot selbst hat er daran, durch diverse Krisen am Weiterschreiben gehindert, von 1932 bis 1940 geschrieben. Diese erste Fassung des Romans wurde erst kürzlich - also nach dem Tod Blanchots im Jahre 2003 - wieder veröffentlicht, wogegen ansonsten lange Zeit nur eine vom Autor ‚überarbeitete‘, d.h. vor allem wesentlich gekürzte zweite Fassung verfügbar war, die 1950 erstmalig erschien. 28 Der vermeintlich ‚unlesbare‘ Roman berichtet, im von Derrida analysierten und stilistisch wahrscheinlich vor allem auf Kafka 29 zurückgehenden neutre, über den Aufenthalt des Protagonisten Tho- 24 Michel Foucault: „La pensée du dehors“, in: ders.: Dits et écrits I. 1954-1969, Paris: Gallimard 1994, S. 518-539 (dt.: „Das Denken des Außen“, in: Schriften Band 1. 1954- 1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 670-697). 25 Vgl. hierzu auch Jean-Paul Sartres Beschreibung von Blanchots Romanen als der Darstellung der Verpflichtung, in der Welt zu sein, durch die Perspektive einer Figur, die dieser Welt äußerlich gegenübersteht, als ‚Phantom‘ der Transzendenz in der Immanenz, in: Jean-Paul Sartre: „Aminadab ou Du fantastique considéré comme un langage“, in: ders.: Situations I. Essais critiques, Paris: Gallimard 1947, S. 113-132, hier S. 126-127. 26 Vgl. Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard 1943, S. 265-482 (dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993). 27 Jean-Paul Sartre: La nausée, Paris: Gallimard 1938 (dt.: Der Ekel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987). 28 Vgl. dazu auch die Einleitung von Pierre Madaule zur Neuauflage der ersten Fassung des Romans Pierre Madaule: „Retour d’épave“, in: Maurice Blanchot: Thomas l’obscur. Première Version, 1941, Paris: Gallimard 2005, S. 9-19. Cf. insgesamt zum Verhältnis der beiden Fassungen Rainer Stillers: Maurice Blanchot: Thomas l’obscur. Erst- und Zweitfassung als Paradigmen des Gesamtwerks, Frankfurt am Main u.a.: Lang 1979. 29 Zur frühen Auseinandersetzung Blanchots mit Kafka vgl. Blanchot: De Kafka à Kafka, Anm. 1, S. 11-93. Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 111 mas möglicherweise in einem Sanatorium 30 , möglicherweise aber auch in einem Hotel in einer Großstadt, wobei das Verhältnis Thomas’ zu seinem eigenen Körper sowie zu den beiden Frauen Anne und Irène im Zentrum steht. Thomas nimmt selbst seinen Körper als ‚objektive‘ Wirklichkeit wahr, die ihm fremd ist und ihn beständig ‚fremdbestimmt‘, weshalb er auf verschiedene Weise versucht, die Lebendigkeit bzw. den Tod überhaupt, aber insbesondere natürlich Lebendigkeit oder Tod der eigenen Person, zu erfahren, und solcherart den Körper zumindest in extremen Situationen zu etwas eigenem zu machen. So beginnt der Roman mit einer Szene, in der jemand möglicherweise ertrinkt, ohne daß letztlich klar zu entscheiden ist, ob der Vorgang ‚wirklich geschieht‘ oder bloß von Thomas imaginiert wird, und ob Thomas selbst oder jemand anderes die ertrinkende Person ist. 31 Selbst in den Extremsituationen ist also die Erfahrung dieser Situationen als solche, die die eigene Existenz berühren oder bedrohen, nicht (unmittelbar) gegeben. Zwischen den beiden Frauen Anne und Irène, die vielleicht auch nur zwei Facetten einer Person 32 sind, und Thomas entwickelt sich (teilweise sich in der Zeit des Romans überlappend, aber nicht in der Form eines Dreiecksverhältnisses) eine Art Liebesbeziehung. In dieser bleibt jedoch nicht nur das jeweilige weibliche Gegenüber Thomas fremd und äußerlich, sondern auch er selbst bleibt für die Frauen ‚dunkel‘ und eine Oberfläche ohne Tiefe, d.h. ohne Geschichte und ohne umfassende Personalität, so daß etwa Anne in einem Kapitel eine Geschichte für Thomas erfindet, um sich zu ihm als einer ‚vollen‘ Person verhalten zu können. 33 Die Beziehungen enden mit dem Tod bzw. Selbstmord oder dem Verschwinden der Frauen. In erster Hinsicht sieht es so aus, als habe dieser Roman nur wenig mit der sozialen und politischen Realität der dreißiger und beginnenden vierziger Jahre zu tun. Politische Ereignisse und Institutionen scheinen völlig abwesend zu sein, und selbst wenn sich zumindest ein Teil seiner Geschehnisse in einer anonymen Großstadt 34 abspielt, so vermittelt der Text den Eindruck, als sei dieser urbane Kontext in keiner Hinsicht für das Handeln und Wahrnehmen des Protagonisten und seiner Bezugspersonen entscheidend. Folglich ist es auch nicht überraschend, wenn erste Reaktionen auf den Roman von einem ‚Gesang in einer luftleeren Welt‘ oder einer ‚endlosen 30 Dies legen Parallelen zu Thomas Manns Zauberberg nahe, die Blanchot vor allem in der zweiten Fassung des Romans herausstreicht, die nach eigenem Bekunden „n’ajoute rien, mais […] ôte beaucoup“. Maurice Blanchot: Thomas l’obscur, Paris: Gallimard 1950, S. 7 (dt.: Thomas der Dunkle, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987). 31 Blanchot: Thomas l’obscur. Première Version, 1941, Anm. 28, S. 23-29. 32 Vgl. dazu etwa die folgende Passage: „Elle savait que les palpitations dont les médecins voulaient la soulager provenaient du cœur d’Irène ajouté de temps en temps au sien. Une lourde maternité l’obligeait à porter deux vies. Son enfant, le seul enfant qu’elle eût pu avoir de Thomas, c’était cette démente qui à chaque pensée ajoutait une ombre cruelle et qui la faisait errer à travers la ville comme un être au nom détruit.“ Ebd., S. 266. 33 Ebd., S. 99-129. 34 Vgl. ebd., S. 194-195 oder S. 242-243. Andreas Niederberger 112 Suche in einem halbdunklen Morgengrauen‘ sprechen. 35 Dem steht allerdings entgegen, daß Blanchot seine drei ersten Romane insgesamt als solche bezeichnet hat, die sich mit der ‚dunklen Zeit‘ (wobei er sich möglicherweise auch auf Heideggers Aufnahme von Hölderlins „Weltnacht“ bezieht) 36 beschäftigen, und daß er vor allem den Titel von Thomas l’obscur in Widmungen um ein Motto von Gérard de Nerval ergänzt: „Des voix disaient: l’Univers est dans la nuit.“ 37 Diese Selbstverortungen weisen darauf hin, daß zumindest Blanchot selbst den Roman durchaus als zeitdiagnostische Leistung versteht - wobei natürlich ‚zeitdiagnostisch‘ nicht zu eng als eine Bestimmung der Verhältnisse und Ereignisse verstanden werden darf, die im aktuellen historischen Augenblick gegeben sind. Der Roman oszilliert zwischen Literatur und Philosophie, zwischen Erzählung und phänomenologischer Analyse der Leib- und Welterfahrung. Phänomenologische Analyse heißt hierbei, daß im Medium des literarischen Textes die Eigengesetzlichkeit der Welt und ihrer Komponenten - und d.h. natürlich auch des Leibes insofern er Körper in der Welt ist - dargestellt und in ihrer ‚Uneigentlichkeit‘ aus der Perspektive des je einzelnen erleuchtet werden. Die ‚Dunkelheit‘ der Welt beschreibt die Opazität eines Geschehens, dem der einzelne ausgeliefert ist, ohne es als seine eigene Leistung begreifen zu können. ‚Eigenheit‘ kommt überhaupt nur in der Revolte, der Verweigerung (refus) 38 der Welt zum Ausdruck - ein Topos, der Blanchot nicht nur wenig später mit einem Denker aporetischer Souveränität wie Georges Bataille verbinden wird, sondern der bereits seinen ‚revolutionären Nationalismus‘ der dreißiger Jahre kennzeichnet. 39 Während er dem deutschen Nationalsozialismus vorwirft, die Nation als ‚mystische Apotheose‘ auferstehen zu lassen, sie also so zu verstehen, als rage sie aus der Vorgeschichte in die Gegenwart hinein und trage letztere, soll sie in ihrem ‚richtigeren‘ Verständnis die Überwindung der Gegebenheiten und die Setzung eines neuen Anfangs bedeuten. Jean-Paul Sartre schlägt für Blanchots Romane das treffende Bild einer „révolte des moyens contre les fins“ 40 vor. Der vermeintliche Nihilismus Thomas’, seine Verweigerung, eine Geschichte zu inkarnieren und darüber 35 Marcel Arland: „Chronique des romans“, in: La Nouvelle Revue française 335 (1942), S. 91-97, hier S. 94. Vgl. dazu auch den Vorwurf der kollaborationistischen Literaturkritik, daß es sich bei Thomas l’obscur um einen „roman juif“ handele, vgl. mit Zitaten Michaël Holland: „Qui est l’Aminadab de Blanchot? “, in: Revue des Sciences Humaines 253 (1999), S. 21-42, hier S. 24. 36 Vgl. dazu etwa Martin Heidegger: „Wozu Dichter? “, in: ders.: Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 6. Aufl. 1980, S. 265-316 (die erste Fassung des Textes stammt aus dem Jahr 1926) oder das Motiv der Dunkelheit in ders.: Hölderlin und das Wesen der Dichtung, München: Langen/ Müller 1937. 37 Vgl. dazu Bident: Maurice Blanchot, Anm. 4, S. 154. [Dt.: Stimmen sagten: Das Universum ist in der Nacht]. 38 Vgl. zum Topos der Verweigerung Blanchot: L’écriture du désastre, Anm. 6, S. 33-34. 39 Vgl. hierzu und zum folgenden Hill: „La pensée politique“, Anm. 5, S. 35-36. 40 Vgl. Sartre: „Aminadab“, Anm. 25, S. 119. [Dt.: Revolte der Mittel gegen die Zwecke]. Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 113 in einem bereits präetablierten Verhältnis zur Welt und den anderen Menschen zu stehen, stellt sich aus einer solchen Interpretationsperspektive als unverzichtbare Voraussetzung für die Fähigkeit dar, Neues zu setzen. Thomas begreift sich als reines Dasein (Heidegger), das die Seinsmodi der Vorhandenheit (bloße Dinglichkeit und Präsenz in der Welt) und Zuhandenheit (Einordnung in einen Gebrauchszusammenhang) verweigert. 41 Blanchot präsentiert auf diese Weise zwar keine ‚politische‘ Diagnose oder Perspektive der Zeit, wie sie möglicherweise von einem ‚sozialkritischen‘ Autor zu erwarten wäre. Er verleiht aber schon in diesem ersten Roman den Spannungen oder sogar Aporien, die für jenen Teil der französischen politischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein charakteristisch sind, der sich auf Heideggers Sozialontologie bezieht (wobei an Jean-Luc Nancy 42 , an Philippe Lacoue-Labarthe 43 , aber auch an den früheren Althusser-Schüler Jacques Rancière 44 , möglicherweise sogar an Althusser selbst mit seinem ‚aleatorischen Materialismus‘ 45 zu denken ist), einen ersten starken Ausdruck: Antihegelianisch wird festgehalten, daß an die ‚Äußerlichkeit‘ der Welt nicht ohne Weiteres angeschlossen werden kann, denn sie läßt sich nicht als Leistung derjenigen auf den Begriff bringen, die sich in ihr bewegen. Zugleich ist aber auch eine neue Konstruktion nicht möglich, da diese sich sofort wieder entziehen würde. Es bleibt nur eine Perpetuierung des Aufbegehrens, des neuen Setzens - und die Perspektive einer Gemeinschaft, die sich in ein Verhältnis zu jeder Art von Gesetz bringt, in dem dieses beständig auf seine Geltung hin befragt werden kann und faktisch auch wird. 46 Die Darstellung und Untersuchung der Frage, warum es solche Gemeinschaften gewöhnlich nicht gibt bzw. wie sie auszusehen hätten, um möglich zu sein, findet sich in Blanchots zweitem Roman Aminadab. 41 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 16. Aufl. 1986, S. 41-45, 66- 72. 42 Vgl. etwa Jean-Luc Nancy: Être singulier pluriel, Paris: Galilée 1996 (dt.: Singulär plural sein, Berlin: Diaphanes 2004). 43 Vgl. etwa Philippe Lacoue-Labarthe: La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique, Paris: Bourgois 1998 (dt.: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart: Schwarz 1990). 44 Vgl. etwa Jacques Rancière: La mésentente. Politique et Philosophie, Paris: Galilée 1995 (dt.: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002). 45 Vgl. etwa Louis Althusser: „Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre“, in: ders.: Écrits philosophiques et politiques, Bd. 1, Paris: Stock/ IMEC 1994, S. 553-594. 46 Zu einer grundsätzlichen Problematisierung dieser Engführung von politischem Denken und ontologischer Perspektive vgl. Andreas Niederberger: „Aufteilung(en) unter Gleichen - Zur Theorie der demokratischen Konstitution der Welt bei Jacques Rancière“, in: Oliver Flügel/ Reinhard Heil/ Andreas Hetzel (Hg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 129-145 sowie ders.: „Ontologie als Praxis oder Praxis statt Ontologie? Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Praxisphilosophie und ‚praktisch-pragmatischer‘ Wende der Philosophie”, in: Georg W. Bertram/ Stefan Blank/ Christophe Laudou/ David Lauer (Hg.): Intersubjectivité et pratique. Contributions à l’étude des pragmatismes dans la philosophie contemporaine, Paris: L’Harmattan 2005, S. 191-208. Andreas Niederberger 114 4 Aminadab oder der Streit mit dem Gesetz Während Thomas l’obscur, wie gezeigt, im wesentlichen die Beziehungen des Individuums zu seiner Umwelt thematisiert, also auf einer sehr allgemeinen ontologischen Ebene operiert, wählt der zweite Roman Blanchots, Aminadab, der 1942 erstmalig erschien, wie auch der nachfolgende Roman Le très-haut, der 1948 publiziert wurde und von dem hier nicht die Rede sein soll, auch wenn erst er die gemeinsame Logik der drei Romane umfassend erhellt, von Beginn an ein soziales Setting. Stellten in Thomas l’obscur die Dinglichkeit der Welt und die Körperlichkeit das Problem dar, die Entfremdung des Ich durch den Raum als solchen also, so ist es in Aminadab die Undurchschau- und möglicherweise sogar Unverstehbarkeit einer normativen Struktur, die dennoch und zwar in einer Weise, die in der Perspektive des Protagonisten zu kritisieren ist, das Bewegen und Interagieren im ‚öffentlichen Raum‘ bestimmt. Der Hauptcharakter in Aminadab 47 heißt, wie zuvor bereits gesagt, wiederum Thomas, das Setting ist aber nun explizit ein Dorf, in das Thomas zum ersten Mal kommt und in dem er recht schnell, vermeintlich dem Anruf (appel) einer Frau folgend, ein größeres Haus betritt. Von diesem Haus stellt sich bald heraus, daß es eine Art Hotel ist, das allerdings auch in einigen Aspekten einem Gefängnis gleicht. Thomas gibt sich nicht mit den Annehmlichkeiten seiner Situation in dem ‚Hotel‘ zufrieden, die es durchaus gibt, und er zeigt sich auch unbeeindruckt von diversen Drohungen und Behinderungen, denen er ausgesetzt wird. Er nimmt eine Untersuchung auf, mit der er herausfinden will, wer dieses ‚Hotel‘ nach welchen Prinzipien steuert sowie ob und warum alle den entsprechenden Regeln folgen. Dabei wird ihm in wachsendem Maße klar, daß die normative Struktur oder das Gesetz, die das ‚Hotel‘ bestimmen, niemandem wirklich klar sind und daß es letztlich auch keinen Grund gibt anzunehmen, daß es eine solche Struktur oder ein Gesetz, das möglicherweise mit Zwang durchgesetzt wird, überhaupt gibt. Die Bewohner des ‚Hotels‘ binden sich stattdessen kontingenterweise an die Annahme des Bestehens einer solchen Struktur oder eines Gesetzes und zwingen sich auf dieser Grundlage selbst und wechselseitig, zum Teil sogar mit Gewalt, zur Bewahrung der Struktur oder zur Einhaltung des Gesetzes, ohne dies in irgendeiner Weise durch die Notwendigkeit der 47 Über den Namen im Titel des Romans gibt es viele Spekulationen, aber zwei Dinge haben zweifelsohne in seine Wahl hineingespielt: einerseits die Tatsache, daß einer der Brüder von Emmanuel Levinas, der in Litauen von den Nazis erschossen wurde, Aminadab hieß (vgl. u.a. Fabrice Pliskin: „Blanchot l’obscur“, in: Le Nouvel Observateur, 24.2.2003), und andererseits die Prominenz der dämonischen Figur des Aminadab in den Gedichten von Johannes vom Kreuz, die zu Beginn der vierziger Jahre in Frankreich sehr populär waren und mit denen sich auch Blanchot beschäftigt hat (vgl. Holland: „Qui est l’Aminadab de Blanchot“, Anm. 35, S. 24-34). Vgl. zur Problematik des katholischen Hintergrundes der Romane Blanchots die Diskussion der Interpretation Sartres im Schlußabschnitt dieses Artikels. Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 115 Struktur oder des Gesetzes rechtfertigen zu können. 48 Die Untersuchung führt jedoch nicht zur ‚Erhellung‘ der Kontingenz der Verhältnisse, sondern der Tag wird immer mehr zur Nacht, so daß Thomas schließlich im völligen Dunkel endet und sich genötigt sieht, alleine das Haus zu verlassen. Der Roman endet mit einem Verweis auf das Ungenügen der Rede und des Denkens angesichts der Bedingungen des Handelns. 49 Aminadab stellt die Logik eines totalitären 50 , einige würden heute sagen: biopolitischen Zusammenhangs dar, in dem die klassische Form der Herrschaft durch eine Regierung durch eine umfassende Selbstregierung der Beherrschten ergänzt oder möglicherweise sogar ersetzt wird. 51 Eine offizielle Autorität gibt es in dem ‚Hotel‘ nie und selbst die Bediensteten kennen solche Autoritäten persönlich nicht, sondern exekutieren allein die Regeln, von deren Geltung sie ausgehen. Ein solcher Totalitarismus ist also nicht durch den mehr oder minder direkten und omnipräsenten Einsatz von Zwangsmitteln gekennzeichnet, sondern durch die gemeinsame Unterwerfung unter Regeln bzw. ein Gesetz, zu denen man sich selbst jeder Stellungnahme enthält. Es gibt kein Außen, von dem her die Totalität des Zusammenhangs aufgebrochen werden könnte; die titelgebende Figur Aminadab wird als Wärter einer „grande porte“ wahrgenommen, die nach außen führt, in ein Außen allerdings, dem - so die Wahrnehmung - jede Ordnung fehlt, so daß es kein Ort ist, der als Alternative taugen könnte. 52 Die paradoxe 48 Die Unmöglichkeit einer solchen Rechtfertigung wird durch die eindrucksvolle Darstellung der Stille in dem ‚Hotel‘ unterstrichen: „Thomas regarda le couple tristement. Il ne dépendait que de lui de serrer aussi dans ses bras cette belle et froide demeure qui se dressait dans le ciel et qui était maintenant plus près de lui qu’elle ne l’avait jamais été. Il y régnait comme toujours un grand silence, mais cette fois le silence était tranquille et bienveillant; rien qu’en la regardant, on éprouvait une extraordinaire impression de délivrance.“ Maurice Blanchot: Aminadab, Paris: Gallimard 1942, S. 289. 49 „Qui êtes vous? dit-il de sa voix tranquille et convaincue, et c’était comme si cette question allait lui permettre de tout tirer au clair.“ Ebd., S. 290. 50 Vgl. dazu auch die kurze Besprechung des Romans von David-Gil Uhrig in: Magazine Littéraire 424 (2003), S. 48. 51 Vgl. hierzu die Studien zur Gouvernementalität und zur Biopolitik, die Michel Foucault durchgeführt hat: Michel Foucault: Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France 1977-1978, Paris: Gallimard/ Seuil 2004 (dt.: Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004) sowie ders.: Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France 1978-1979, Paris: Gallimard/ Seuil 2004 (dt.: Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004). 52 „Vous ne sauriez imaginer comme le contraste avec la vie de la maison est surprenant. Ce sont deux genres d’existence si opposés que l’un peut se comparer à la vie, l’autre étant à peine plus désirable que la mort. Là-bas, les locataires cessent de dépendre du règlement dont la puissance, déjà affaiblie dès qu’on approche de la grande porte, est tout à fait suspendue lorsqu’on a franchi le seuil. Cette grande porte, contrairement à son nom, n’est qu’une barrière faite de quelques morceaux de bois et d’un peu de treillage. Mais c’est contre elle que vient se briser la force des coutumes, et l’imagination des locataires la voit comme une immense porte cochère, flanquée de part et d’autre de Andreas Niederberger 116 Situation am Ende des Romans muß als Ausdruck der wesentlichen Einsicht Blanchots verstanden werden, daß der bloße kritische, diskursive Aufweis einer kontingenten Selbstunterwerfung mit all ihren Implikationen kein hinreichender Grund für deren Aufhebung ist. Zu sehr offeriert eine solche Unterwerfung - trotz aller Einschränkungen - eine Verbindlichkeit und einen Ruhepol, der der Existenz ansonsten fehlen würde. Der Roman Aminadab radikalisiert also zweifelsohne die politische Diagnose, die sich bereits in den literaturkritischen Schriften Blanchots abzeichnete: Die Notwendigkeit, der die zeitgenössische Existenz folgt, ist bloß eine vermeintliche, aber gerade daher eine umso verheerendere. Denn aufgrund der fehlenden Auseinandersetzung mit demjenigen bzw. der expliziten Setzung desjenigen, was notwendig sein sollte, verkehrt sich jede ‚Notwendigkeit‘ in die Aufrechterhaltung von Verhältnissen, in denen die Frage nach der Notwendigkeit gerade nicht gestellt werden kann. In einer interessanten Verkehrung der Situation in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz 53 und in Vorwegnahme der Thesen Giorgio Agambens 54 - die in den letzten Jahren viel diskutiert wurden und sich für eine andere Interpretation der Kafka-Parabel aussprechen, als sie sich etwa in der wirkmächtigen Deutung von Jacques Derrida 55 findet, den sie zur Verteidigung der Notwendigkeit von Recht und Gesetz geführt hat - kommt Thomas (und mit ihm möglicherweise auch Blanchot) zur Einsicht, daß das vermeintlich solide Gesetz ein bloß imaginäres und eine letztlich totalitäre und totalisierende Leistung der Bewohner des ‚Hotels‘ selbst ist und sie zu einer todesähnlichen Existenz führt. Auch wenn somit die Auseinandersetzung mit der Zeit immer noch äußerst abstrakt bleibt, so nimmt Blanchot doch eine wesentliche ‚Politisierung‘ des Romans im Vergleich mit Thomas l’obscur vor. Die politische Verortung bzw. Perspektive bleibt jedoch auch in Aminadab offen, so daß zwar festzuhalten ist, daß die Romane Einspruch gegen eine Logik des ‚Sachzwangs‘ einlegen, daß damit aber noch nichts darüber ausgesagt ist, welche Alternative zu einer solchen Logik besteht. tours et de pont-levis et gardée par un homme qu’ils appellent Aminadab.“ Blanchot: Aminadab, Anm. 48, S. 270-271. 53 Die Aufnahme von Motiven und Elementen aus Kafkas Parabel ist offensichtlich - selbst wenn Blanchot selbst vermeintlich bestritten hat, zu diesem Zeitpunkt Texte Kafkas bereits gelesen zu haben. Vgl. die Anmerkung bei Sartre: „Aminadab“, Anm. 25, S. 114, und die Bezeichnung von Thomas als eines „homme de la campagne“ (bei Kafka ist es der „Mann vom Lande“, der sich vor dem Gesetz findet, vgl. Franz Kafka: „Vor dem Gesetz“, in: ders., Erzählungen, Frankfurt am Main: Fischer 1983, S. 120-121). Dennoch operiert Blanchot grundsätzlich mit einer Verkehrung des Settings, denn Thomas findet sich ja nicht ‚vor‘ dem Gesetz, sondern gewissermaßen ‚im‘ Gesetz und Aminadab ist nicht der Wächter des Tors ‚in‘ das Gesetz, sondern aus ihm heraus. 54 Vgl. dazu auch die Argumentation bei Giorgio Agamben: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin: Einaudi 1995, S. 57-71 (dt.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002). 55 Vgl. dazu Jacques Derrida: „Préjugés. Devant la Loi“, in: ders. u.a.: La faculté de juger, Paris: Minuit 1985, S. 87-139 (dt.: Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien: Passagen 1992). Maurice Blanchot zwischen Literatur der Krise und Krise der Literatur 117 5 Schlußbemerkungen Der Durchgang durch die frühen literaturkritischen Schriften Blanchots sowie seine ersten beiden Romane Thomas l’obscur und Aminadab hat drei ‚Stellungnahmen‘ dieses Autors zur Zeit aufgewiesen: Erstens kritisiert Blanchot die fehlende Notwendigkeit in der Literatur und in der Existenz und stellt dem eine ‚reine‘ Literatur entgegen, die es jedoch gerade vermag, die Implikationen und Probleme von Notwendigkeit in der Wirklichkeit zu thematisieren. Zweitens entwirft der ‚Romanheld‘ Thomas einen Charakter der Verweigerung sozialer und natürlicher Gegebenheiten, womit sich allein die Überwindung der pragmatischen Hinnahme einer historisch-sozialen Situation und die ‚Gründung‘ der Existenz auf ‚souveräne Selbstschöpfung‘ im Sinne Batailles als ‚legitim‘ abzeichnen. Drittens führt die Problematisierung der kontingenten Selbstbindung an das Gesetz zunächst in Aminadab, dann zugespitzt auf politische Verhältnisse im engeren Sinn in Le très-haut zu einer Bestimmung des Totalitarismus als einer kollektiven Existenzweise und nicht einer speziellen und explizit aufrecht erhaltenen Herrschaftsform. Jean-Paul Sartre, der heute gerne mit seinem Begriff der „littérature engagée“ 56 als aus theoretischen und politischen Gründen inakzeptabler Widerpart zu Blanchots Literaturverständnis angeführt wird, hat bereits Mitte der vierziger Jahre die Frage aufgeworfen, wie die politische und ästhetische Bedeutung Blanchots einzuschätzen ist und d.h. vor allem, in welchem Verhältnis seine Texte zur kritischen, aber vor allem literarischen Thematisierung einer ‚entfremdeten‘ und mechanischen Welt stehen, wie sie sich in Sartres Auffassung insbesondere bei Kafka findet. Bei aller Parallelisierung von Kafka und Blanchot, von der ja bereits mit Blick auf die beiden Romane Blanchots die Rede war, kommt Sartre letztlich zu einem vernichtenden Urteil, denn in seinen Augen reduziert Blanchot die bei Kafka erlebten Themen („thèmes vécus“ 57 ) auf die Ebene literarischer Konventionen und nimmt ihnen solcherart ihren kritischen Stachel, ja Sartre ist sogar überzeugt, daß Blanchot den Stil Kafkas zum literarischen Ausdruck religiöser Allegorien nutzt. 58 Interessanterweise wendet Sartre in diesem Zusammenhang auch Blanchots eigenen Notwendigkeitsbegriff gegen Blanchot selbst, 56 Vgl. dazu Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? , Paris: Gallimard 1948 (dt.: Was ist Literatur? , Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981). 57 „Et ce léger décalage entre le signe et le signifié fait passer les thèmes vécus de Kafka au rang de conventions littéraires. Par la faute de M. Blanchot, il y a maintenant un poncif du fantastique ‚à la Kafka‘, comme il y a un poncif des châteaux hantés et des monstres en mou de veau. Et je sais que l’art vit de conventions, mais au moins faut-il savoir les choisir. Sur une transcendance teintée de maurrassisme, le fantastique fait l’effet d’être plaqué.“ Sartre: „Aminadab“, Anm. 25, S. 130. 58 „En de nombreux passages, les explications se font si insistantes que l’histoire prend nettement l’allure d’une allégorie. […] Remplacez, dans ce passage, le mot de ‚personnel‘ par celui de ‚Dieu‘, le mot de ‚service‘ par celui de ‚providence‘, vous aurez un exposé parfaitement intelligible d’un certain aspect du sentiment religieux.“ Ebd., S. 130-131. Andreas Niederberger 118 indem er ihm vorhält, die Notwendigkeit nicht wie Kafka im Roman selbst zu finden, sondern ihn als Ausdruck einer (religiösen) Idee zu verfassen 59 - nicht Sartre wäre in dieser Perspektive der ‚engagierte‘ Autor, sondern Blanchot! Diese Einschätzung mag zu stark von Sartres politischer Bewertung Blanchots abhängen, denn er glaubt nicht, daß Blanchot sich tatsächlich aus der Nähe der Action française und ihres katholischen Vordenkers Charles Maurras gelöst hat. Sie macht aber m.E. auf jeden Fall zu Recht darauf aufmerksam, daß der Versuch, eine Thematisierung politischer und sozialer Kontexte dadurch ‚tiefer‘ oder ‚komplexer‘ zu machen, daß sie ‚ontologischer‘ ansetzt und eine ‚offene‘ Form zwischen Literatur, Philosophie und Sozialwissenschaft sucht, vor großen Schwierigkeiten steht. Derridas richtige Betonung der Bedeutung des neutre bei Blanchot kann so auch darauf hinweisen, daß Blanchot möglicherweise Ideen eine Notwendigkeit zu verleihen versucht, die diese Notwendigkeit nicht haben und auch nicht haben sollten. 59 „Chez Kafka, en effet, les accidents s’enchaînent selon les nécessités de l’intrigue: dans Le Procès, par exemple, nous ne perdons pas de vue un seul instant que K. lutte pour son honorabilité, pour sa vie. Mais pour quoi donc Thomas lutte-t-il? “ Ebd., S. 131. Olaf Müller Ignazio Silone und Siegfried Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog Die Untersuchung der kommunikativen Netzwerke, in denen deutsche Exilanten und französische Intellektuelle nach 1933 in produktiven Kontakt treten konnten, gehört zu den wichtigsten konzeptionellen Anliegen des deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekts, dessen erste Resultate der vorliegende Band versammelt. 1 Ich möchte im Folgenden eine Exilverbindung untersuchen, die die deutsch-französische Perspektive noch erweitert, da es sich bei dem rund um das Münchener Abkommen angesiedelten Austausch zwischen Ignazio Silone und Siegfried Kracauer um den über Paris verlaufenden Kontakt zwischen einem italienischen Intellektuellen im Schweizer Exil und einem zunächst nach Frankreich emigrierten deutschen Intellektuellen handelt. Erstaunlich ist, daß in den bislang bekannten autobiographischen Äußerungen keiner der beiden Autoren diesen Austausch und die daraus entstandene, bis zu Kracauers Lebensende währende Freundschaft erwähnt. 2 Das ist um so auffälliger, als gleich der Beginn dieser Bekanntschaft im Zeichen eines Themenkomplexes stand, auf den sowohl Kracauer als auch Silone in der Zeit um das Münchener Abkommen große intellektuelle Energie verwandten, nämlich im Zeichen der Frage nach dem Anteil von Propaganda und Massenmanipulation an der Entstehung der europäischen Totalitarismen. Kracauer sollte sich bekanntlich mit diesem Thema in mehreren großen Untersuchungen noch bis in die 1950er Jahre beschäftigen, und auch sein nach wie vor bekanntestes Werk, die Studie zum Film der Weimarer Republik, die er 1947 im amerikanischen Exil als From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film 3 veröffent- 1 Die Anregung, die Kontakte der Exilanten mit ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld innerhalb solcher Netzwerke gründlicher in den Blick zu nehmen, findet sich bereits bei Bernhard Spies: „Exilliteratur - ein abgeschlossenes Kapitel? “, in: Exilforschung 14 (1996), S. 11-30. Bislang sind aber nur wenige Resultate in dieser Richtung zu verzeichnen. 2 Silone hat über seine „Begegnung mit Deutschen“, vor allem während der Zeit des Schweizer Exils, berichtet, vgl. Gratulatio für Joseph Caspar Witsch zum 60. Geburtstag am 17. Juli 1966, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1966, S. 269-273. Er nennt dort namentlich Alfred Kurella, Willi Münzenberg, Otto Unger, Eugen Schönhaar, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Klaus Mann, Thomas Mann, Robert Musil, Bertolt Brecht, Bernard von Brentano, Rudolf Hilferding, Harro Schulze-Boysen und dessen Frau Libertas Haas- Heye - aber nicht Kracauer. 3 Zuerst erschienen bei Princeton University Press. Für die New Yorker Columbia University erarbeitete Kracauer mit Paul L. Berkman auf der Grundlage von Interviews mit Flüchtlingen aus dem Ostblock neun Jahre später eine Untersuchung über die Olaf Müller 120 lichte, ist im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Verhältnis von ‚Masse und Propaganda‘ entstanden, die Kracauer 1938 und 1939 ausführlich mit Silone diskutierte. In Silones Werk haben diese Überlegungen ihren prominentesten Ausdruck in seiner im November 1938 erschienenen Schule der Diktatoren erhalten, die dem Austausch mit Kracauer wichtige Anregungen verdankt. Dem Schweigen der beiden Autoren zu diesem Austausch entsprechen die Leerstellen in der bisherigen Kracauer- und Silone- Forschung. In der wissenschaftlichen Literatur zu Kracauer findet sich praktisch nichts über Silone, 4 und umgekehrt taucht der Name Kracauer noch in der neuesten Literatur zu Silone nirgends auf. 5 Zumindest für die Zeit von 1938 bis 1939 sollen die folgenden Seiten einige erste Anhaltspunkte liefern und den Kontext dieses deutsch-französisch-italienischen Exildialogs über Faschismus und Propaganda zur Zeit des Münchener Abkommens skizzieren. 1 Silone und Die Zukunft, November 1938 Die erste Nummer der Wochenzeitschrift Die Zukunft, des Organs der Union Franco-Allemande, erschien zwei Wochen nach dem Münchener Abkommen, am 12. Oktober 1938. Die Zeitschrift war Ausdruck des Programms der Deutschen Freiheitspartei und damit des Versuchs, eine zugleich antikommunistische und antifaschistische Volksfront zu bilden, die französische und Wirkung sowjetischer Propaganda: Satellite Mentality. Political Attitudes and Propaganda Susceptibilities of Non-Communists in Hungary, Poland and Czechoslovakia. A Report of the Bureau of Applied Social Research, Columbia University, New York: Frederick A. Praeger 1956. 4 Ingrid Belke und Irina Renz erwähnen in ihrer Kracauer-Chronologie zumindest einen Aufenthalt des Ehepaars Kracauer in Rom Ende September 1966, wenige Wochen vor Kracauers Tod (26.11.1966), bei dem die beiden auch Ignazio und Darina Silone besucht haben; vgl. Siegfried Kracauer 1889-1966, bearbeitet von Ingrid Belke und Irina Renz (Marbacher Magazin 47, 1988), S. 123. Aus den Jahren davor sind private Korrespondenzen zwischen den Familien überliefert, die ebenfalls eine enge Vertrautheit zwischen den Kracauers und den Silones erkennen lassen; vgl. auch einen Brief Kracauers vom 10.6.1962 aus New York an Ernst Bloch: „Voriges Jahr im wirklich überfüllten Rom hatten wir wunderbar ruhige Zeiten mit den Silones.“ Ernst Bloch: Briefe 1903-1975, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 396. Einen knappen Hinweis auf die „engen persönlichen Beziehungen“ gibt Momme Brodersen: „‚…ganz verschiedene Welten‘. Siegfried Kracauer in Italien“, in: Juni. Magazin für Literatur und Politik 25 (1996), S. 9-29, hier S. 10; Silone spielt in dem Aufsatz, der sich vor allem Kracauers frühen Italienaufenthalten von 1912 und 1924 widmet, ansonsten jedoch keine Rolle. 5 Selbst grundlegende neuere Arbeiten wie die von Deborah Holmes: Ignazio Silone in Exile. Writing and Antifascism in Switzerland 1929-1944, Aldershot/ Burlington: Ashgate 2005, oder von Raffaella Castagnola Rossini: Incontri di spiriti liberi. Amicizie, relazioni professionali e iniziative editoriali di Silone in Svizzera, Manduria u.a.: Piero Lacaita Editore 2004, die sich ausschließlich der Zeit von Silones Schweizer Exil widmen, schenken dem Kontakt mit Kracauer keine Aufmerksamkeit. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 121 deutsche Intellektuelle vereinen sollte. 6 Unter der Leitung des Herausgebers Willi Münzenberg und des Chefredakteurs Arthur Koestler finden sich in der Zeitschrift so unterschiedliche Namen wie Julien Benda, Jean Cassou, Georges Duhamel, Emmanuel Mounier oder Edmond Vermeil auf französischer und Alfred Döblin, der größte Teil der Familie Mann, René Schickele, Oskar Maria Graf, Fritz von Unruh oder Walter Mehring auf deutscher Seite versammelt, um nur die bekanntesten unter ihnen zu nennen. Die Verwirrung, in der sich die meisten dieser Autoren nach München befanden, wird ersichtlich in einer Reihe von Artikeln für und gegen das Abkommen, die darauf schließen lassen, daß es dazu zunächst noch keine klare redaktionelle Linie gab. Während in der ersten Nummer der ehemalige italienische Außenminister Carlo Sforza unter dem Titel „München - und was nun? “ dem Abkommen durchaus positive Seiten abgewinnen konnte und noch hoffte, daß Europas Unabhängigkeit und Freiheit gerettet werden können, falls der tschechoslowakische Staat sich trotz des Verlustes der tausendjährigen Grenzen Böhmens wieder ein normales Leben aufbauen und seine Unabhängigkeit neu festigen kann, 7 machte bereits in der zweiten Nummer vom 21. Oktober 1938 ein nicht gezeichneter Artikel anhand einer Collage von Zitaten aus Hitlers Mein Kampf deutlich, daß das Abkommen den Krieg nicht verhindern, sondern ihn im Gegenteil herbeiführen werde, da die westlichen Mächte damit - aus Hitlers Weltsicht betrachtet - ihre Schwäche und Dekadenz bekundet hätten. 8 Einen Monat später fanden die Leser der Zukunft einen weiteren Text, der sich als Kommentar zu München lesen ließ, der sich dem Problem aber auf vollkommen andere Weise näherte. Es handelte sich um einen Auszug aus einem soeben erschienenen Buch mit dem Titel Die Schule der Diktatoren, das einen amerikanischen Politiker namens „Döbbl Juh“ präsentiert, der in Europa aus erster Hand lernen möchte, wie man eine Diktatur errichtet. „Döbbl Juh“ bereist Europa in Begleitung seines Geheimsekretärs, wissenschaftlichen Beraters und Begründers der „Neo-Soziologie“, des Professors Pickup, der ihm bei der Errichtung einer faschistischen Diktatur in den Vereinigten Staaten behilflich sein soll. In Zürich treffen die beiden einen italienischen Exilanten namens Thomas der Zyniker, der ihnen die europäischen Diktaturen in ihren großen historischen und soziologischen Zusammenhängen erklärt. Am Ende ihres Gesprächs, das die 324 Seiten des Buchs umfaßt, 6 Vgl. zur Zukunft auch die Beiträge von Albrecht Betz und Wolfgang Schopf im vorliegenden Band. 7 Carlo Sforza: „München - und was nun? “, in: Die Zukunft 1 (12.10.1938), S. 13. Alle Zitate aus der Zukunft entstammen dem Nachdruck Die Zukunft. Organ der Deutsch-Französischen Union. Hg. von Willi Münzenberg. Mit einer Einleitung von Arthur Koestler. Paris, Oktober 1938-Mai 1940, Vaduz: Topos 1987, mit der jeweiligen Heft- und der Gesamtseitenzahl. 8 „Adolf Hitler und die Hintergründe der Münchener Besprechungen“, in: Die Zukunft 2 (21.10.1938), S. 2/ 18. Olaf Müller 122 verabschieden sich die beiden Amerikaner zufrieden, und Mister W. hofft, Thomas bald in Amerika begrüßen zu dürfen. Im Ausschnitt, den Die Zukunft veröffentlicht, erklärt der zynische Exilant den beiden Amerikanern die positiven Seiten der aktuellen Krise. Die Krise werde voraussichtlich eine Reihe von Kriegen und sonstigen Katastrophen provozieren, aus denen sich zwangsläufig die Gelegenheit für einen faschistischen Staatsstreich ergeben werde: Sündigen Sie nie durch Hochmut! Glauben Sie nie, daß die Aufgabe eines faschistischen Führers die sei, den Faschismus aus dem Nichts zu schaffen. Vertrauen Sie hauptsächlich auf die Schwäche und Zerfahrenheit der alten Parteien, auf ihre Unfähigkeit, die Krise der Zivilisation, in die die Menschheit eingetreten zu sein scheint, zu überwinden. Vergessen Sie nicht, daß wir aller Wahrscheinlichkeit nach am Beginn einer langen Reihe von Kriegen, Revolutionen, Gegenrevolutionen und wirtschaftlichen Katastrophen stehen. Haben Sie darum keine Eile. Vertrauen Sie auf die immer mögliche Barbarisierung der Menscheit und verlieren Sie nicht den Mut! 9 Ignazio Silone, der Verfasser dieses satirischen Gesprächs, war 1938 kein Unbekannter. Bis 1931 war Silone (der 1900 als Secondino Tranquilli geboren wurde) hoher Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), zu deren Gründungsmitgliedern er 1921 gehört hatte. Nachdem der PCI von der faschistischen italienischen Regierung 1925 verboten worden war, setzte Silone seine Aktivitäten vor allem im Ausland fort, indem er die internationalen Kontakte der nunmehr illegalen Partei auf Reisen zwischen Italien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Spanien und Rußland organisierte. Das jahrelange Leben im Untergrund hatte seine Gesundheit so stark angegriffen, daß er im Herbst 1929 einen Sanatoriumsaufenthalt in Davos antreten mußte, den er zur Arbeit an seinem ersten Roman, Fontamara, nutzte. Damit begann ein Distanzierungsprozeß von der kommunistischen Partei, der 1931 zum Bruch und zum Ausschluß Silones wegen dessen Opposition gegen die stalinistische Wende führte. 10 Im Februar 1932 wurde er von der Schweiz offiziell als politischer Flüchtling anerkannt. 11 Fontamara war 1933 in deutscher Übersetzung in Zürich erschienen und wurde schnell zu einem europaweiten Erfolg. Eine italienische Fassung erschien noch im selben Jahr in einem Verlag der italienischen Exilgemeinde in Paris, 12 eine französische wurde 1934 zunächst in fünf Folgen in der wich- 9 Vorabdruck aus Ignazio Silones Schule der Diktatoren, in: Die Zukunft 6 (18.11.1938), S. 8/ 72. In der Buchfassung (Zürich/ New York: Europa Verlag 1938) S. 141. 10 Für Einzelheiten zu Silones Parteiausschluß vgl. Ferdinando Ormea: Le origini dello stalinismo nel PCI. Storia della ‚svolta‘ comunista negli anni Trenta, Milano: Feltrinelli 1978, S. 258-284, sowie Antonio Gasbarrini/ Annibale Gentile: Ignazio Silone comunista 1921- 1931, L’Aquila: Angelus Novus Edizioni 1989, S. 240-243. 11 Elisa Signori: „Ignazio Silone nell’esilio svizzero“, in: Nuova Antologia (Okt.-Dez. 1979), S. 92-118, hier S. 118. Die zur Zeit gründlichste Darstellung von Silones literarischer Produktion im Kontext der Schweizer Exilantenmilieus bietet Holmes: Silone in Exile, Anm. 5. 12 Paris: Nuove Edizioni Italiane 1933. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 123 tigen Literaturzeitschrift Europe abgedruckt und dann in Buchform im Pariser Verlag Rieder veröffentlicht. Andere Publikationen aus Silones Schweizer Exilzeit, wie der Novellenband Die Reise nach Paris 13 oder die politische Studie Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung 14 , erschienen jedoch nur in deutschen Fassungen und wurden erst sechzig Jahre später auch einem italienischen Publikum zugänglich gemacht. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens sind diese Texte also vor allem literarische Phänomene für ein germanophones Publikum in der Schweiz und in Frankreich. Wie selbstverständlich Silones Produktion von den Zeitgenossen zur deutschen Exilliteratur gerechnet wurde, illustriert eine Episode, die Deborah Holmes referiert: Als Silone 1936 dem Herausgeber der in Moskau erscheinenden deutschen Exilzeitschrift Das Wort einen Beitrag über die italienische Literatur anbot, antwortete ihm Willi Bredel, der die Zeitschrift gemeinsam mit Brecht und Feuchtwanger leitete, daß man sich von ihm eher einen Artikel über aktuelle Probleme der deutschen Literatur wünsche und er deshalb doch über seinen eigenen Roman Brot und Wein schreiben solle, der 1936 in Zürich erschienen war. 15 Einen ähnlichen Fall stellt Die Schule der Diktatoren dar, die Silone Anfang 1938 geschrieben hatte und die im November 1938 erschienen war. Nach der wiederum in Zürich verlegten deutschen Version gab es zwar 1938 noch eine bei Harper in New York publizierte englische Fassung, 16 doch war diese für ein europäisches Lesepublikum weitgehend unerreichbar, so daß die Schule zur Zeit der Debatte um das Münchener Abkommen in Europa nur einem des Deutschen mächtigen Publikum zugänglich war. Da Untersuchungen zu Silones Werk bislang meist anhand der italienischen Fassungen dieser Texte erfolgt sind, obwohl bekannt ist, daß Silone diese erst in den 1950er und 1960er Jahren erschienenen Versionen alle noch einmal überarbeitet und ihrer unmittelbar auf die 1930er Jahre verweisenden Zeitbezüge entkleidet hat, 17 scheint es mir sinnvoll, eine erneute Lektüre dieser Texte im literarischen Kommunikationszusammenhang ihres ersten Erscheinens zu unternehmen. 18 Der politische Inhalt und die sprachliche Gestalt der Erstfassungen haben dazu beigetragen, daß diesen kommunika- 13 Zürich: Oprecht und Helbling 1934. 14 Zürich: Europa Verlag 1934. 15 Holmes: Silone in Exile, Anm. 5, S. 4. 16 The School for Dictators, translated by Gwenda David and Eric Mosbacher, New York: Harper and Brothers 1938. 17 Für einen Vergleich der deutschen Erstfassung von Fontamara mit der italienischen Ausgabe vgl. Brian Moloney: „Nettie Sutro’s German Translation of Silone’s Fontamara“, in: Modern Language Review 91 (1996) S. 878-885. 18 Auf die Bedeutung von Silones Kontakten mit dem deutschsprachigen Exil für die europäische Verbreitung seiner Schriften hat bislang, so weit ich sehe, vor Deborah Holmes nur Klaus Voigt systematisch aufmerksam gemacht; vgl. ders.: „Ignazio Silone e la stampa tedesca dell’esilio“, in: L’emigrazione socialista nella lotta contro il fascismo, Firenze: Sansoni 1982, S. 105-136. Silone hat selbst im Rückblick die Bedeutung dieser Kontakte hervorgehoben; vgl. ders.: „Begegnung mit Deutschen“, Anm. 2. Olaf Müller 124 tiven Zusammenhang - neben dem germanophonen Publikum in der Schweiz - vor allem die Autoren des deutschsprachigen Exils bilden. 19 2 Der ‚Fall Silone‘ Um den Weg Silones vom hohen Funktionär der Komintern zum Beiträger für Münzenbergs Zukunft zu skizzieren, muß ich knapp auf die Phase in seiner Biographie eingehen, die seit Mitte der 1990er Jahre Gegenstand einer besonders in Italien äußerst medienwirksamen Debatte ist. Seit Dario Biocca und Mauro Canali damals begonnen haben, Silone als einen der wichtigsten Spione zu bezichtigen, die die faschistische Polizei im kommunistischen Führungsapparat besessen habe, haben sich die Medien in Italien und im Ausland immer wieder zu dem Fall geäußert, meist jedoch, indem sie die sensationellen Behauptungen von Biocca und Canali weitgehend ungeprüft übernommen haben. Um was geht es in dieser Debatte? 1996 war im Staatsarchiv in Rom ein Dokument von 1937 entdeckt worden, in dem die OVRA (Opera di Vigilanza e Repressione Antifascista), die politische Polizei des faschistischen Italien, in einem Bericht an Mussolini eine dreiseitige biographische Skizze des Kommunisten „Tranquilli Secondino - conosciuto con lo pseudonimo di Silone Ignazio“ 20 geliefert hatte, in der u.a. mitgeteilt wurde, daß Silone, um seinem in Italien inhaftierten Bruder zu helfen, so getan habe, als bereue er seine antifaschistische Haltung, und daß er aus dem Ausland freiwillig allgemeine Informationen über die Aktivitäten der Exilanten an die politische Polizei gesandt habe. 21 Die politische Polizei selbst datiert diese Informantentätigkeit auf die Zeit zwischen der Inhaftierung von Silones Bruder Romolo Tranquilli im Frühjahr 1928 und dessen Tod im Gefängnis im Herbst 1932. Ausgehend von dieser Information haben Biocca und Canali begonnen, Unmengen von anonymen Spitzelberichten aus dem Ausland an die faschistische Polizei Silone zuzuschreiben. Ein erstes Buch, in dem sie ihre teilweise sehr abenteuerlich kon- 19 Einen Großteil der archivalischen Arbeiten zu dieser Untersuchung konnte ich im Jahr 2004 im Rahmen eines Forschungsstipendiums der Maison des Sciences de l’Homme/ EHESS, Paris, durchführen, wofür an dieser Stelle noch einmal gedankt sei. 20 Dt.: Tranquilli Secondino, bekannt unter dem Pseudonym Silone Ignazio. 21 Vgl. das Faksimile des Berichts bei Giuseppe Tamburrano: Il ‚caso’ Silone. Appendice di Gianna Granati, Torino: UTET 2006, S. 110-112, hier S. 111. Im Original lautet die Formulierung: „[…] diede a vedere di essersi pentito del suo atteggiamento antifascista e tentò qualche riavvicinamento con le Autorità italiane mandando, disinteressatamente, delle informazioni generiche circa l’attività di fuorusciti. Ciò fece nell’intento di giovare al fratello il quale peraltro, colpito da morbo gravissimo, morì il 20 ottobre del 1932 nell’infermeria del penitenziario di Procida“. [Dt.: <…> gab vor, er bereue seine antifaschistische Haltung und versuchte eine Annäherung an die italienischen Autoritäten, indem er ohne Gegenleistung allgemeine Informationen über die Aktivitäten der Exilanten sandte. Dies tat er in der Absicht, seinem Bruder zu helfen, der übrigens an den Folgen einer schweren Erkrankung am 20. Oktober 1932 in der Krankenstation des Gefängnisses von Procida starb]. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 125 struierte Geschichte präsentierten, erschien 2000 und sorgte für großes mediales Aufsehen. 22 Eine Gegendarstellung von Giuseppe Tamburrano, in der 2001 aufgrund des nochmals gesichteten Archivmaterials zahlreiche Inkongruenzen und manipulierte Zitate in Bioccas und Canalis Buch nachgewiesen wurden, und in der vor allem noch einmal betont wurde, daß die Anklage gegen Silone auf anonymen Schreiben aufgebaut ist, von denen ihm keines mit Sicherheit zugeordnet werden kann und von denen teilweise sogar feststeht, daß sie nicht von Silone stammen können, erregte wesentlich weniger Aufmerksamkeit. 23 2005 legte Dario Biocca dann eine wiederum stark mediatisierte Biographie Silones vor, die fast ausschließlich um die Spitzelaktivitäten herum konstruiert ist und diese nun sogar im Jahr 1919 beginnen lassen will, ohne dafür mehr als unbelegte Hypothesen anzubieten. 24 Nach einer erneuten Kritik an Bioccas Thesen, die Tamburrano 2006 vorgelegt hat, scheint mir zur Faktenlage und vor allem zur mangelnden Belastbarkeit der Beweise gegen Silone alles gesagt zu sein. 25 Eines der Dokumente, die Tamburrano nun als Faksimile abdruckt, interessiert in unserem Zusammenhang weniger wegen der Silone entlastenden Formulierungen, über die Tamburrano sich in seinem Buch eingehend äußert, sondern wegen der Beschreibung von Silones internationalem Publikum, die hier im Oktober 1937 aus der Perspektive eines übergroßer Sympathien für den Exilanten sicher unverdächtigen faschistischen Polizeibeamten in Rom erfolgt: Più che il valore intrinseco dei suoi scritti e dei suoi romanzi la pubblicità che ad essi hanno fatto i giornali di sinistra e quelli in lingua italiana che pubblicano i fuorusciti ha fatto acquistare al ‚Silone’ una larga notorietà specialmente nelle masse straniere antifasciste - consentendogli così guadagni che gli permettono di vivere alla meno peggio. 26 In der Tat war Silone seit dem Erfolg seiner Romane Fontamara (1933) und Brot und Wein (1936) einer der bekanntesten italienischen Literaten im Exil. Seinen Bruch mit dem PCI und dem stalinistischen Kommunismus, der anfangs relativ unbemerkt geblieben war, hatte Silone 1936 in einem offenen Brief an die Redaktion der bereits genannten Moskauer Exilzeitschrift Das Wort in aufsehenerregender Weise publik gemacht. Die Vorgeschichte zu diesem offenen Brief zeigt Silone wiederum als eine wichtige Referenz des 22 Dario Biocca/ Mauro Canali: L’informatore. Silone, i comunisti e la polizia, Milano: Luni Editrice 2000. 23 Giuseppe Tamburrano: Processo a Silone. La disavventura di un povero cristiano, Roma: Lacaita 2001. 24 Dario Biocca: Silone. La doppia vita di un italiano, Milano: Rizzoli 2005. 25 Tamburrano: Il ‚caso’ Silone, Anm. 21. 26 Ebd., S. 110-112, hier S. 111. [Dt.: Mehr als der eigentliche Wert seiner Schriften und seiner Romane, hat die Reklame, die die linken Zeitungen und die Zeitungen, die die Exilanten in italienischer Sprache veröffentlichen, dafür gemacht haben, ‚Silone’ eine weitreichende Berühmtheit verschafft, besonders bei den antifaschistischen Massen im Ausland, die ihm Einnahmen erlaubt, die ihm eine bescheidene Existenz ermöglichen]. Olaf Müller 126 deutschsprachigen Exils. Der über Dänemark und die Tschechoslowakei aus Deutschland in die Sowjetunion geflohene kommunistische Schriftsteller Ernst Ottwalt hatte am 5. Juli 1936 einen langen Brief an Silone geschrieben, in dem er sich verwundert über die zögerliche Haltung des antifaschistischen Protagonisten Pietro Spina in Silones Roman Brot und Wein geäußert hatte. Er teilte Silone mit, er habe Willi Bredel gebeten, seinen eigenen Brief an Silone und Silones Antwort darauf, um die er abschließend bat, in Das Wort abdrucken zu dürfen. Am 22. Juli schrieb die Redaktion von Das Wort in dieser Angelegenheit noch einmal direkt an Silone und bat ihn dringend um Zusendung einer Reaktion auf Ottwalts Brief. Nachdem im August 1936 die ersten Moskauer Prozesse bekannt geworden waren, kam für Silone eine Zusammenarbeit mit den deutschen Exilanten in Moskau nicht mehr in Frage. 27 Am 24. September 1936 druckte die Baseler Arbeiter Zeitung seinen „Brief nach Moskau“ ab, in dem Silone sich nicht nur weigerte, dem Wort auch nur den geringsten Beitrag zu liefern, sondern vor allem die mit den Moskauer Prozessen begonnene Politik der ‚Säuberungen‘ kritisierte. Die Prozesse zu kritisieren, sei ein Akt „antifaschistischer Aufrichtigkeit“, und denjenigen, die die ‚Säuberungen‘ zu rechtfertigen versuchten, warf er vor, sie seien dabei, zu „roten Faschisten“ zu werden. 28 Es ist also nur folgerich- 27 Vgl. den Kommentar von Bruno Falcetto in Ignazio Silone: Romanzi e saggi, Bd. 1: 1927- 1944, hg. von Bruno Falcetto, Milano: Arnoldo Mondadori 1998, S. 1557-1558. 28 Ignazio Silone: „Brief nach Moskau“, zuerst in: Arbeiter Zeitung, Basel, 24.9.1936; auch die deutsche Exilpresse druckte den Text ab, so z.B. die in Paris erscheinende Sozialistische Warte am 1.10.1936, S. 409-411, und - unter dem Titel „Ich bin kein roter Faschist! “ - die in Prag erscheinende Unser Wort 15 (Oktober 1936), S. 2; vgl. Silone: Romanzi e saggi, Anm. 27, S. 1557, sowie Voigt: „Ignazio Silone e la stampa tedesca“, Anm. 18; ich zitiere den deutschen Text nach dem Wiederabdruck in: europäische ideen 9 (1975), S. 37-39, Zitate S. 39. Silone hatte den Brief an Das Wort auf Französisch verfaßt und dann übersetzen lassen; vgl. den Originaltext nach dem Daktyloskript vom 30.8.1936 in Silone: Romanzi e saggi, Anm. 27, S. 1264-1268, wo es u.a. heißt [alles sic]: „J’ai déjà reçu la lettre de M. Ernst Ottwalt et j’ai aussi rédigé ma réponse, mais je m’abstiens de vous l’envoyer car je ne peux plus admettre que mon nom paraisse sur vos pages comme celui d’un collaborateur même occasionel. Après les récents événements russes, qui révèlent même aux aveugles la maturation d’une situation toute nouvelle, cela m’est strictement impossible. […] Vous prétendez être solidaires de cette attitude de résistance antifasciste, et, même, dans cette lutte, vous revendiquez un rôle de guide et d’avant-garde. Mais, puisque vous êtes solidaires de ce qui se passe actuellement en Russie, puisque vous approuvez que des oppositeurs soient déportés par simple mesure administrative et soient processés sans être mis en connaissance des dossiers judiciaires qui les concernent, sans être mis en condition de prouver leur innocence par des témoins et des avocats vraiment indépendants et qui n’aient à craindre aucune sorte de représailles; - quelle valeur gardent toutes vos protéstations contre la police et les tribunaux fascistes? quelle sincérité vos tirades grandiloquentes sur les droits élémentair de l’homme, sur la dignité de l’homme et sur la défense de la culture? quel validité morale votre soi-disant humanisme? Seulement par des sophismes et des misérables jeux de mots vous pouvez nier que les procès qui ont lieu actuellement en Russie ne soient pas de véritables assassinats collectifs de tous ceux qui ne partagent pas la ligne politique dominante, assassinats qu’on se complait d’exercer sous des formes judiciaires caricaturales et macabres. […] Avec cette lettre, que je me propose de rendre publique, Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 127 tig, daß sich Silones Name 1938 in der Zukunft findet, deren Ziel die Vereinigung aller Stimmen, mit Ausnahme der der Kommunisten, gegen Nazideutschland war. Wie läßt sich nun die Stimme, die Silone in der Schule der Diktatoren vernehmen ließ, charakterisieren, und welche Rolle spielt sie in den deutsch-französischen Debatten nach ‚München‘? 3 Silone und Kracauer Mit der Einrichtung des Archivio Silone in der Fondazione Filippo Turati in Florenz im Jahr 1997 wurden gebündelt und in großem Umfang Dokumente zugänglich, die den Kontext von Silones literarischen Aktivitäten der 1930er Jahre erhellen. In unserem Zusammenhang interessieren dabei besonders die oben skizzierten Kontakte Silones zu deutschen Exilanten. Einer der wichtigsten deutschen Gesprächspartner Silones zur Zeit des Münchener Abkommens war Siegfried Kracauer, dessen Analysen des Faschismus Silone bereits im Manuskript kannte und für seine Schule der Diktatoren verwendete, wie aus dem bislang unbeachtet gebliebenen Briefwechsel zwischen Kracauer und Silone hervorgeht. 29 Der Abdruck von Auszügen aus der Schule der Diktatoren in der Zukunft zeigt, daß sich Silones politische Satire, obwohl die Redaktion bereits vor dem Münchener Abkommen abgeschlossen war, 30 dennoch als Kommentar zur Lage ‚nach München‘ lesen ließ. Allerdings hatte die Appeasementpolitik den Antifaschisten auch vor dem Herbst 1938 bereits genügend Anlaß zur Verzweiflung geliefert, so daß aus deren Perspektive ‚München‘ eher eine Bestätigung als eine Wende war. In der Schule der Diktatoren hatte Silone die Haltung der Demokratien gegenüber den faschistischen Staaten bereits treffend beschrieben: j’ai le sentiment d’accomplir un acte de sincérité […]. Ce n’est pas un acte de solidarité envers telle ou telle autre fraction révolutionnaire russe que j’ai voulu accomplir; c’est plutôt un acte nécessaire de cohérence antifasciste. Si je me taisais maintenant, je n’aurais plus le courage d’écrire une seule ligne contre les dictatures fascistes. Je suis en effet convaincu, […] que pour pouvoir résister contre le fascisme […] [nous avons besoin - OM] d’une toute autre manière de considérer la vie et les hommes. Sans ‚cette autre manière de considérer la vie et les hommes‘, nous mêmes, chers amis, deviendrions des fascistes. Je veux dire, des fascistes rouges. Or, je devais vous dire, que je me refuse de devenir un fasciste, et, même, un fasciste rouge“. 29 Ich danke der Fondazione Filippo Turati, Florenz, für die Erlaubnis, aus dem Briefwechsel Silone-Kracauer zitieren zu dürfen, und dem Deutschen Literaturarchiv (DLA), Marbach, das mir freundlicherweise Kopien der Briefe zur Verfügung gestellt hat. 30 Das genaue Datum ist nicht bekannt, dürfte aber vermutlich Ende März liegen. Noch im Februar 1938 schrieb Silone an Rudolf Jakob Humm, daß das Manuskript noch nicht so weit fortgeschritten sei, daß man sich bereits an einen Übersetzer wenden könne; vgl. Holmes: Silone in Exile, Anm. 5, S. 162. Anfang März signalisiert er dann in einem Schreiben an Kracauer vom 8.3.1938 (s.u., Anm. 37), daß er voraussichtlich noch zwei bis drei Wochen an der Schule arbeiten werde. Olaf Müller 128 Die Meisterleistung der demokratischen Regierungskunst scheint heutzutage darin zu bestehen, daß man Ohrfeigen einsteckt, um den Fußtritten zu entgehen, das geringere Übel geduldig erträgt, immer neue Kompromisse ausklügelt, um die Gegensätze zu mildern und das Unversöhnliche zu versöhnen. Die Gegner der Demokratie machen sich das alles zunutze und werden immer frecher […]. 31 Wie sich aus dem Briefwechsel mit Kracauer ab Februar 1938 erkennen läßt, hatte Silone seine Analyse der Diktaturen in der Schule im Dialog mit Kracauer geschrieben und aus Kracauers gleichzeitigen Arbeiten über „Masse und Propaganda“ zitiert, die Kracauer für die New Yorker New School of Social Research, also für das exilierte Frankfurter Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer, schreiben sollte. 32 Der Anstoß für den brieflichen Austausch über die wechselseitigen Faschismusanalysen ging offensichtlich von Kracauer aus, was um so bemerkenswerter ist, als der von ständigen Finanznöten bedrängte deutsche Exilant in Paris ansonsten praktisch keine Kontakte pflegte, die nicht der unmittelbaren ökonomischen Absicherung dienten. 33 Kracauer antwortete im Februar 1938 auf eine Postkarte, die ihm Silone aus Le Cannet an der Côte d’Azur geschrieben und in der er ein gemeinsames Treffen in Paris im März vorgeschlagen hatte. 34 Kracauer reagierte umgehend mit einem Brief, nachdem er sich von einem anderen prominenten Exkommunisten und mittlerweile Stalingegner, Boris Souvarine, 35 Silones Urlaubsadresse hatte geben lassen, und bat den Italiener: 31 Silone: Schule, Anm. 9, S. 122. 32 Der Auftrag für den Aufsatz über „Masse und Propaganda“ war aus der Sicht Horkheimers wohl von Anfang an vor allem als eine Art Stipendium für Kracauer gedacht. So hatte er bereits im Januar 1937 in einem Brief an Kracauer, in dem er diesem für einen Ausatz über das Propagandathema 6000 Francs in vier Monatsraten in Aussicht stellte, abschließend geschrieben: „Sollte es sich am Ende der vier Monate herausstellen, daß der Aufsatz, der auf jeden Fall für uns wertvoll sein wird, für die Zwecke der Zeitschrift nicht geeignet ist, so fügen wir ihn dann eben, wie manche andere wichtige Arbeit, unserem Archiv ein.“ Zitiert nach: Kracauer 1889-1966, Anm. 4, S. 84. 33 Albrecht Betz sagt über Kracauer in der Pariser Zeit, er habe „eher zu eigenbrötlerischer Abkapselung als zur Verbindung mit Kollegen, die ebenfalls ihrer Lebensbasis beraubt sind“, geneigt (Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München: Edition Text und Kritik 1986, S. 84). Claudia Krebs (Siegfried Kracauer et la France, Saint-Denis: Éditions Suger 1998, S. 163-164) kommt zu einem ähnlichen Fazit: „Il vit très retiré, n’appartient à aucun des groupes antifascistes de Paris, ne participe à aucune manifestation, et ne signe aucun appel. Cette crainte qu’il a pour la simple survie fait de ces années en France les plus difficiles de sa vie“. 34 Postkarte von Silone aus Le Cannet, Alpes-Maritimes, an Kracauer, 7.2.1938, DLA Marbach. 35 Souvarine hatte zu den Gründungsmitgliedern der KPDSU gehört und bewegte sich nach Lenins Tod im Umfeld Trotzkis. In Frankreich hatte er 1930 einen Cercle communiste démocratique gebildet, dem u.a. auch Georges Bataille und Raymond Queneau angehörten. Beide schrieben auch für Souvarines Zeitschrift La Critique sociale; vgl. den Nachdruck Paris: Éditions de la Différence 1983, sowie Jean Piel: „Georges Bataille et Raymond Queneau pendant les années 30-40“, in: Georges Bataille et Raymond Queneau 1930-1940 (Ausstellungskatalog Billom, Puy-de-Dôme 1982), S. 3-9. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 129 […] wollen Sie noch in Le Cannet das (deutsche) Manuskript meiner bis auf 20 Seiten fertiggestellten Arbeit über die totalitäre Propaganda lesen? Das Manuskript beträgt gegen 140 Schreibmaschinenseiten. Ich habe Sie viel darin zitiert und wäre natürlich froh, wenn Sie die Arbeit, die, wie ich glaube, die erste Konstruktion der tot[alitären] Propaganda und des dazugehörigen Regimes ist, zur Kenntnis nähmen. 36 Die Zitate, von denen Kracauer spricht, bezogen sich auf Silones erwähntes, nur in deutscher Fassung vorliegendes Werk Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung von 1934. Silone antwortete Anfang März, sagte, daß er sich auf die Lektüre freue und kündigte seinerseits an, daß er Kracauer bald bei einem Parisbesuch das Manuskript seiner Schule der Diktatoren überreichen werde: „Moi-même, je suis assez avancé dans mon École des dictateurs et j’espère en 2 ou 3 semaines de finir. Une première partie, je l’ai donnée déjà à traduire et j’espère, lorsque je viendrai à Paris, de vous prier de lire l’ensemble.“ 37 In seiner Antwort vom 10. März 1938 teilte Kracauer Silone mit, er habe soeben das Manuskript seiner Propaganda-Arbeit per Einschreiben in Richtung Zürich gesandt. In einem Ausblick auf den Schluß des Aufsatzes, der noch zu schreiben sei, gibt Kracauer auch eine Prognose zur Entwicklung der politischen Lage in Europa ab, die bereits erkennen läßt, warum für den Analytiker der faschistischen Massenmanipulation die aggressive deutsche Außenpolitik, die zum Münchener Abkommen führen sollte, bloß eine Bestätigung darstellen konnte, keine Überraschung mit krisenhaften Folgen. Es fehlten nun nur noch die letzten zwanzig Seiten an seinem Manuskript, in denen er noch zeigen wolle, so läßt er Silone wissen, dass sich die totalitäre Propaganda im Laufe ihrer Entwicklung zwangsläufig in lauter Widersprüche verwickelt und daher genötigt ist: 1) immer formaler zu werden, das heisst, mehr und mehr mit Rhythmen und Schocks zu arbeiten; 2) immer stärker den Akzent auf die imperialistische Aussenpolitik zu legen. Wie am Anfang so steht auch am Ende die Katastrophe. 38 So wie die Propaganda des italienischen Faschismus bereits den Krieg in Äthiopien ausgelöst hatte, so mußte auch die deutsche Propaganda „zwangsläufig“ zu ständig erneuerten Aggressionen führen. Der in dieser Logik ebenfalls erwartbare ‚Anschluß‘ Österreichs findet im Briefwechsel zwischen den beiden Exilanten im März und April 1938 denn auch nicht die geringste Erwähnung. 39 In seiner Antwort vom 29. März bedankte sich Si- 36 Kracauer an Silone, Paris, 11.2.1938, DLA Marbach. 37 Silone an Kracauer, Brief aus Zürich vom 8.3.1938, DLA Marbach. [Dt.: Ich bin meinerseits in meiner Schule der Diktatoren recht weit fortgeschritten und hoffe, daß ich in zwei oder drei Wochen schließen kann. Einen ersten Teil habe ich bereits zum Übersetzen gegeben, und ich hoffe, daß ich Sie, wenn ich nach Paris komme, bitten kann, das ganze Werk zu lesen]. 38 Kracauer an Silone, Brief aus Paris vom 10.3.1938, DLA Marbach. 39 Die analytische Fähigkeit, die weitere Entwicklung als Folge von sich steigernden Aggressionen vorherzusehen, bedeutete natürlich nicht, daß die einzelnen Ereignisse Olaf Müller 130 lone zunächst für die für ihn schmeichelhaften Zitate aus dem Fascismus- Buch, die er in Kracauers Manuskript gefunden hatte und sagte, er habe seinerseits einige zentrale Passagen aus Kracauers Text für seine kurz vor dem Abschluß stehende Schule der Diktatoren übernommen: [J]e viens de mettre à la poste, sous forme de manuscrit recommandé, votre ouvrage sur la propagande totalitaire. Je vous suis très reconnaissant de l’avoir pu lire. J’ai trouvé là un nouveau exemple de votre intelligence claire, exacte et mésurée [sic]. J’ose à peine vous dire combien je me sent [! ] flatté du fait que mon ‚Fascismus’ a pu vous être utile. Dans L’École des dictateurs j’ai repris et développées quelques idées du ‚Fascismus’, mais j’ai aussi exposé des points de vue qui feront crier les ‚marxistes’. Ne pouvant pas tout citer, j’ai repris de votre ouvrage trois passages (sur la propagande, sur la terreur et sur les rapports entre fascisme et guerre). 40 In seinem Dankschreiben vom 12. April sagt Kracauer zuversichtlich über das Verhältnis der beiden parallel entstehenden Faschismusanalysen: „Sicherlich werden unsere Arbeiten gut ineinandergreifen.“ 41 Er äußert jedoch Bedenken gegen Silones Absicht, mit Nennung des Autornamens aus dem Propagandamanuskript zu zitieren, da aus Gründen der Vorsicht der Abdruck in der Zeitschrift für Sozialforschung anonym erfolgen sollte. Kracauer möchte deshalb die genaue Form der geplanten Zitate mündlich mit Silone bei dessen nächstem Parisbesuch klären. 42 Für den Sommer 1938 und für die Zeit des Münchener Abkommens ist der Briefwechsel nur lückenhaft erhalten, 43 und das erste längere Schreiben nicht jeweils als starke Schocks wahrgenommen werden konnten. Kracauers Erschütterung nach dem ‚Anschluß’ Österreichs ist zumindest überliefert; vgl. Kracauer 1889- 1966, Anm. 4, S. 92. 40 Silone an Kracauer, Brief aus Zürich vom 29.3.1938, DLA Marbach. [Dt.: <I>ch habe gerade Ihr Werk über die totalitäre Propaganda als Einschreiben auf die Post gegeben. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß ich es lesen durfte. Ich habe darin ein erneutes Beispiel für Ihre klare, genaue und abgewogene Klugheit gefunden. Ich wage es kaum, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich wegen der Tatsache geschmeichelt gefühlt habe, daß Ihnen mein Fascismus nützlich gewesen ist. In der Schule der Diktatoren habe ich einige Ideen aus dem Fascismus wiederaufgenommen und weiterentwickelt, aber ich habe auch einige Ansichten vorgetragen, die die ‚Marxisten‘ zum Schreien bringen werden. Da ich nicht alles zitieren konnte, habe ich aus Ihrem Werk drei Passagen übernommen (über die Propaganda, über den Terror und über das Verhältnis zwischen Faschismus und Krieg)]. 41 Kracauer an Silone, Brief aus Paris vom 12.4.1938, DLA Marbach. 42 „Lassen Sie mich Ihnen auch für Ihre Absicht danken, drei Stellen aus meinem Manuskript zu zitieren: ich bitte Sie nur darum, dies ohne Angabe meines Namens zu tun, da die in der Zeitschrift für Sozialforschung zunächst beabsichtigte Veröffentlichung aus dem Manuskript aus den triftigsten Gründen anonym erfolgen wird. Vielleicht können wir gelegentlich Ihres Hierseins die passendste Form, in der Sie mich zitieren, mündlich festlegen.“ Kracauer an Silone, ebd., Hervorhebungen im Original. 43 Zumindest ein Brief Kracauers vom Herbst 1938 ist nicht erhalten, wie sich aus einer Postkarte Silones vom 5. November 1938 schließen läßt, in der er sich für einen Brief Kracauers bedankt („[…] j’ai reçu votre aimable lettre en montagne et je pense de vous répondre longuement“), der angesichts der sonstigen Geschwindigkeit des Briefwech- Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 131 Kracauers nach der Veröffentlichung der Schule der Diktatoren datiert vom 16. Januar 1939. Kracauers Propaganda-Artikel war wegen massiver redaktioneller Eingriffe seitens der Zeitschrift für Sozialforschung nicht erschienen, 44 so daß nun nur noch über den Umweg der Schule der Diktatoren die dort übernommenen, aber nicht namentlich gekennzeichneten Passagen an die Öffentlichkeit gelangt waren. Um so interessanter sind Kracauers Bemerkungen über Silones Buch, in denen er auf die Stellen eingeht, die aus seiner Sicht Parallelen zu seinen eigenen Analysen aufweisen: Ihre so freundschaftliche Widmung ist mir das Zeichen einer Solidarität, die ich bei der Lektüre Ihres Buches stark empfand. Es war mir eine wichtige Bestätigung, daraus zu erfahren, dass Ihre entscheidenden Feststellungen über die totalitären Diktaturen mit jenen übereinstimmen, die ich in der ‚Propaganda’-Arbeit getroffen habe. Auch Sie rücken den nihilistischen Machtwillen ins Zentrum, zeigen, soweit es die Form Ihres Buches zulässt, seine Verankerungen in der gesellschaftlichen Situation, und umreissen, wie ich, die Sphäre der fascistischen Pseudo-Wirklichkeit, die vom Ersatz lebt, in der noch das vergossene Blut Ersatz ist. An der Gültigkeit dieser Erkenntnisse wird nicht zu rütteln sein. 45 4 Deutsch-italienische Exillektüren der Schule der Diktatoren Der Auszug aus der Schule der Diktatoren, den die Zukunft am 18.11.1938 veröffentlichte, war nur ein Moment in einer bemerkenswerten Reihe von Reaktionen auf Silones Satire in der internationalen Exilpresse, sei es in Form von Auszügen, sei es in mehr oder weniger ausführlichen Rezensionen. 46 Die von Thomas Mann und Konrad Falke im Verlag Oprecht in Zürich herausgegebene Zeitschrift Mass und Wert hatte bereits in der Ausgabe von Mai/ Juni 1938, also noch vor dem Erscheinen der Buchausgabe, einen Auszug aus der Schule publiziert, was sich leicht damit erklären läßt, daß sels nicht der vom April 1938 sein kann. Die in der Postkarte angekündigte ‚lange Antwort‘, auf die Kracauer mit seinem Schreiben vom 16.1.1939 reagiert, ist ebensowenig erhalten. 44 Im Juni 1938 hatte Adorno in einem Brief an Benjamin darüber berichtet: „Von Kracauer ist buchstäblich kein Satz außer den Hitlerzitaten erhalten geblieben. Er ahnt noch nicht, was ihm bevorsteht, und so muß ich Sie auch hier um Diskretion bitten.“ Adorno an Benjamin, 8.6.1939, hier nach: In steter Freundschaft. Leo Löwenthal-Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1921-1966, hg. von Peter-Erwin Jansen und Christian Schmidt, Springe: Zu Klampen 2003, S. 91. Für eine knappe Darstellung der Affaire um Kracauers Propaganda-Aufsatz und von Adornos Obstruktionspolitik dabei vgl. Momme Brodersen: Siegfried Kracauer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 112-118. 45 Kracauer an Silone, Brief aus Paris vom 16.1.1939, DLA Marbach. 46 Die deutschen Reaktionen hat Klaus Voigt in seinem grundlegenden Beitrag (vgl. Anm. 18) umfassend dokumentiert und analysiert. Für die Schule weist er acht deutsche Exilorgane nach, die Auszüge, und sieben, die Rezensionen publizieren; vgl. ebd., S. 133-136. Einen Überblick über die Reaktionen in der anglophonen Presse bietet Luce d’Eramo: L’opera di Ignazio Silone. Saggio critico e guida bibliografica [1971], Milano: Arnoldo Mondadori 6. Aufl. 1976, S. 180-186. Olaf Müller 132 der Verleger der Zeitschrift auch der von Silones Buch war. 47 Die Pariser Tageszeitung hatte im April 1938 in einem Beitrag von Siegfried Marck unter dem Titel „Zur Geschichtsphilosophie der Epoche“ in einer Sammelrezension der Hefte 4 und 5 von Mass und Wert ebenfalls auf diese „Satire von Silone“ hingewiesen. In der New Republic hatte Giuseppe Antonio Borgese, Thomas Manns späterer Schwiegersohn, der Schule am 14.12.1938 eine lange Besprechung gewidmet, in der er, wie mehrere andere Rezensenten, Silone vorwarf, er biete zu wenig positive Gegenentwürfe und beschränke sich darauf, seinen ‚schönen‘, aber undefinierten Glauben an einen ‚liberalen Sozialismus‘ zu verbreiten („Silone unchangeably clings to his beautiful faith in Liberal Socialism“), während für die Leser in der Situation nach München, in der Mussolini und Hitler in ihrem ‚Machiavellismus‘ andauernd bestätigt würden, konkretere Rezepte wünschenswert seien, u.a. um amerikanische Diktatorenaspiranten daran zu hindern, in den USA die europäischen Lehren anzuwenden und Mussolinis ‚Marsch auf Rom‘ zu imitieren: Any reader is anxious to know how we can evade the law of a Machiavellian world in which Mussolini and Hitler are right; what we must think and do if we want to prevent Mr. W’s march on Washington. 48 Als Antwort auf diese dringenden Fragen habe Silone nur einen „sketchy return to a pre-Leninist Marxism“ 49 zu bieten, und der latente Machiavellismus der Argumentaton lasse eigentlich nur den zynischen Schluß zu, daß Hitler und Mussolini alles richtig gemacht hätten. Eine „Lesson for Democracy“ sei das Buch aber dennoch, weil Thomas der Zyniker gegen Ende für einen Moment aus der Rolle falle als er gesteht, daß er trotz der momentan erdrückend erscheinenden Übermacht der faschistischen Staaten von der Kraft der „richtigeren Argumente“ überzeugt sei. Als ihm Professor Pickup deswegen Wundergläubigkeit vorhält, gesteht Thomas, daß er „überhaupt nur an Wunder glaube“. 50 Als ein solches ‚Wunder‘, als „the most penetrating beam of light in all the book“, erscheint Borgese deshalb die seines Erachtens einzige Passage, in der Thomas die positiven Grundlagen des Antifaschismus formuliere: „Den Begriff der persönlichen Freiheit und der Au- 47 Zu Oprecht und den antifaschistischen Exilanten in der Schweiz vgl. neben den Ausführungen bei Holmes: Silone in Exile, Anm. 5, die Studie von Peter Stahlberger: Der Züricher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration 1933-1945, Zürich: Europa-Verlag 1970, sowie Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz, Frankfurt am Main: Röderberg 1981 (Lizenzausgabe der Ausgabe Leipzig: Reclam 1981) und Jeanne Lätt: Refuge et écriture. Les écrivains allemands réfugiés en Suisse, 1933-1945. Préface de Monique Laederach, Neuchâtel: Université de Neuchâtel 2003 (Cahiers de l’Institut d’Histoire 7). 48 Giuseppe Antonio Borgese: „A Lesson for Democracy“, in: The New Republic, 14.12.1938, S. 178-179. 49 Ebd., S. 179. 50 Ebd.: „Thomas […] drops altogether out of the role of Doubting Thomas when he confesses that he only believes ‚in miracles‘“; vgl. in der deutschen Ausgabe der Schule, Anm. 9, S. 293. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 133 tonomie des Gewissens lernt man bekanntlich nicht über den Verstand“. 51 Borgese sieht hierin die notwendige Basis, um den Antifaschismus aus seiner rein reaktiven Haltung zu einem erneuerten demokratischen Selbstverständnis zu führen und kommentiert: This sentence contains a seed, namely, a call for a new basic statement of democracy. Otherwise the days of anti-fascism are numbered, as always were the days of negative and controversial attitudes, angry at other people’s idols but unable to build their own temples. 52 Uneingeschränkt begeistert äußern sich hingegen noch im Frühjahr 1939 so unterschiedliche Exilorgane wie das in Buenos Aires erscheinende Andere Deutschland oder die in Paris erscheinende Stimme der italienischen Antifaschisten, Giustizia e Libertà. In Das andere Deutschland hieß es in einer Sammelrezension zu Der Fascismus, Fontamara, Die Reise nach Paris, Brot und Wein und Die Schule der Diktatoren, Silone sei „ein grosser Dichter, vielleicht sogar der grösste der antifaschistischen Emigration“ 53 . Thomas Mann wäre über einen solchen Satz vielleicht nur mäßig amüsiert gewesen, er zeigt aber noch einmal, wie selbstverständlich Silones Werk zur Lektüre des deutschsprachigen Exils gehörte. 54 Giustizia e Libertà mußte seinen Lesern die Schule der Diktatoren mit der Einschränkung vorstellen, daß das Buch bislang nur in deutscher und englischer Ausgabe vorliege. Es lohne aber die Lektüre dennoch ganz besonders, da es wichtige Einsichten in die Lebensbedingungen im Exil enthalte: „Il libro, pieno di osservazioni di dettaglio vivissime, dovrebbe passare in tutte le mani dell’emigrazione.” 55 51 Silone: Schule, Anm. 9, S. 286. 52 Borgese: „A Lesson for Democracy“, Anm. 48, S. 179. 53 Das andere Deutschland, Jg. 2, H. 12, 1.4.1939, S. 6. 54 Thomas Mann selbst war gleichfalls ein im Wortsinne leidenschaftlicher Leser der Werke Silones, dem er nach Auskunft seines Tagebuchs 1937 in Zürich auch häufig begegnet war. Am 4.8.1937 notierte er nach der Lektüre von Brot und Wein sogar: „Liebe zu Silones Buch. Das Gute, Rechte und Wahre ist in der Welt, ein Trost angesichts alles elenden Geschehens.“ Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main: Fischer 1980, S. 85-86. ‚Liebe‘ und ‚Sympathie‘ sind überhaupt die Emotionen, die in Manns Notizen zu Silone dominieren. Bereits am 17.7.1937 heißt es: „Beendete gestern Nacht Silones Fontamara, ein schönes Buch, sympathisch wie Weniges. Übereinstimmung des Mord-, Lügen- und Foltergeistes in den Diktatur- Ländern - übernationale Zeit-Erscheinung, uniform, unwillkürlich“ (ebd., S. 78); und am 3.8.1937: „Liebevolle Lektüre von Brot und Wein“ (ebd., S. 85); 6.9.1937: „Zum Abendessen Silone, der, französisch-deutsch, sehr amüsant und sympathisch-komödiantisch sprach und erzählte“ (ebd., S. 99); 5.11.1937: „Zu Tisch die Giehse und der sympathische Silone, der über Borgese zu schreiben versprach“ (ebd., S. 126); 8.12.1937: „Zum Mittagessen Silone. Interessante politische Unterhaltung mit ihm beim Kaffee“ (ebd., S. 139). 55 Gianfranchi [Pseudonym von Franco Venturi] in Giustizia e Libertà, 28.4.1939, S. 3. [Dt.: Das Buch, das voll von lebendigen Detailbeobachtungen ist, sollte durch alle Hände der Emigration gehen]. Über Silones Anmerkungen zu den Kommunikationsschwierigkeiten der Exilanten heißt es außerdem ebd.: „Silone parla spesso, in questo suo libro Olaf Müller 134 5 Krise und Mythos nach ‚München‘ Das Kapitel von Silones Schule, dem der oben zitierte Auszug in der Zukunft vom 18.11.1938 entnommen war, heißt „Über die faschistische Mythologie, ihre Nebel, ihre Fetische und Idole, und über die moderne Technik der Massensuggestion und Unterwerfung“. 56 Gegen die in jenem Zitat erwähnte „Krise der Zivilisation“, die sich nach der Prognose des zynischen Thomas über kurz oder lang zu einer „langen Reihe von Kriegen, Revolutionen, Gegenrevolutionen und wirtschaftlichen Katastrophen“ auswachsen werde, biete die faschistische Ideologie „eben kein konkretes Programm, sondern ein mythologisches Nebelgebilde, das in nationalen und rassischen Symbolen einen Niederschlag“ 57 finde. Das sei der Grund für den „Sieg der faschistischen Mystik über den sozialistischen ‚Materialismus‘“, denn dadurch habe der Faschismus die scheinbare Beseitigung einer ganzen Reihe von vitalen Problemen bewerkstelligt […], für die der Sozialismus schlecht und recht der Exponent war. Diese Probleme wurden durch inhaltlose Phrasen und ‚Seelenzustände‘ ersetzt. Sie waren jedoch nicht vom Himmel gefallen, diese Probleme […]. Eben deshalb bleiben sie an der Wurzel der allgemeinen Krise unserer Epoche bestehen und beeinflussen wieder den Faschismus, da die einzige gründliche Beseitigung der Probleme darin besteht, daß man sie löst, anstatt daß man sie verschleiert. 58 Silone bewegt sich mit diesen Ausführungen sehr nah an dem, was von Kracauers Aufsatz über Masse und Propaganda aus einem Exposé von Ende 1936 bekannt ist. Auch Kracauer spricht ausführlich von einer „fascistischen Scheinlösung“, bei der die „Massen […] unter Beibehaltung des kapitalistischen Systems reintegriert werden“ sollen. 59 Bei Silone besteht diese ‚Scheinlösung‘ in den durch die faschistische Propaganda bereitgestellten „Sinnbilder[n] einer längst entschwundenen Epoche“, hinter die die vom Sozialismus enttäuschten „Massen […] flüchten“ und in welchen sie die gesellschaftlichen Widersprüche auf eine ‚symbolische’ Weise aufgehoben finden, die Menschen auf eine ‚symbolische’ Weise verbrüdert und den kapitalistischen Profit auf eine ‚symbolische’ Weise beseitigt. 60 Die Tatsache, „daß die Sozialisten, die zu sehr nur den Klassenkampf und die praktische Politik allein sahen, durch den wilden Einbruch des Faschis- dell’isolamento del fuoruscito, della sua chiarezza nel giudicare fenomeni che altri non possono intendere. Anzi il suo elogio storico, dell’esiliato politico da Machiavelli a Lenin, passando attraverso Hobbes e Marx, è una delle più intelligenti e interessanti pagine del suo libro. Silone ha, così, perfetta coscienza delle difficoltà che ci sono nel parlare a stranieri, sa quale diversità di punto di vista, di mentalità ostacoli o renda impossibile il dialogo che egli ha voluto scrivere”. 56 Silone: Schule, Anm. 9, S. 127-170. 57 Ebd., S. 129. 58 Ebd., S. 130. 59 Kracauer 1889-1966, Anm. 4, S. 85-90, hier S. 87. 60 Alle Zitatfragmente aus Silone: Schule, Anm. 9, S. 132. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 135 mus überrascht wurden“, 61 ist in der Analyse des zynischen Thomas vor allem darin begründet, daß der Linken das Gespür für die mythischen Dimensionen der Propaganda des Faschismus gefehlt habe: „[S]ie begriffen weder die Ursachen noch die Wirkungen seiner Parolen und seiner so seltsamen und ungebräuchlichen Symbole“. 62 Daraus leitet Thomas der Zyniker jedoch nicht ab, daß nun auch der Antifaschismus einer politischen Mythologie bedürfe. In der Reihe der Autoren, die sich in ihren Reflexionen über den Erfolg des Faschismus in den 1930er Jahren mit dem Mythos auseinandersetzten, gehört Silone, wie auch Kracauer, zu denjenigen, die den propagandistischen Gebrauch mythologischer Versatzstücke analysieren, daraus aber nicht den Schluß ziehen, daß nur eine Überbietung der faschistischen Mythologeme die Demokratien vor dem Untergang retten könne. Es handele sich um ein Problem mangelnder Erkenntnis und Einsicht, wie das Beispiel der Sozialisten zeige, nicht um einen Mangel an lebendigen Mythen in den demokratischen Gesellschaften. Die gegenläufige Position vertraten in verschiedenen Ausprägungen die Teilnehmer des im vorliegenden Band bereits mehrfach erwähnten Collège de Sociologie, denen die Reaktion der westlichen Demokratien auf das Münchener Abkommen bekanntlich als ein „signe de dévirilisation de l’homme“ erschienen war. 63 Von einer gesellschaftlichen Wiederbelebung des Mythos und seiner Korrelate (geheime Gesellschaften, Errichtung einer sakralen Sphäre mit rituellen Opfern) versprach man sich im Umfeld von Bataille und Caillois im Umkehrschluß eine ‚Revirilisierung‘ und die Schaffung eines „lien vital entre les hommes“, wie es die Erklärung des Collège de Sociologie vom 1.11.1938 formuliert hatte. Das Collège sollte in der Krise zu einem gesellschaftlichen ‚Energiezentrum‘, zu einem „foyer d’énergie“ werden, dem man sich anschließen möge, wenn man von den folgenden Motiven dazu gedrängt werde: […] la prise de conscience de l’absolu mensonge des formes politiques actuelles et la nécessité de reconstituer par le principe un mode d’existence collective qui ne tienne compte d’aucune limitation et qui permette d’avoir un peu de tenue quand la mort menace. 64 Eine religionshistorische Formulierung, der im Umfeld des Collège de Sociologie uneingeschränkt zugestimmt wurde, hatte diese Position in Georges Dumézils Mythes et dieux des Germains von 1939 gefunden, der mit aus- 61 Ebd., S. 130. 62 Ebd. 63 „Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale“, zuerst in der Nouvelle Revue française vom 1.11.1938, hier nach Denis Hollier: Le Collège de Sociologie 1937-1939, Paris: Gallimard 1995, S. 362; vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Jean- Pierre Martin, Jean-Yves Debreuille und Friedrich Wolfzettel. 64 Ebd., S. 362-363. [Dt.: <gedrängt von der> absoluten Lüge der gegenwärtigen politischen Formen und von der Notwendigkeit, von Grund auf eine kollektive Existenzweise wiederzuerlangen, die keine geographischen oder sozialen Beschränkungen beachtet und die es erlaubt, ein wenig Haltung zu bewahren, wenn man vom Tod bedroht ist]. Olaf Müller 136 drücklichen Parallelen zu Nazideutschland eine ‚mythisierte‘ Gesellschaft beschrieb, in der Hitler die Stelle Odins übernommen hatte. 65 René Guastalla, der im Rahmen des Collège am 10. Januar 1939 über den Entstehungszusammenhang von Mythos und Literatur gesprochen hatte, 66 drückte diese Zustimmung zu Dumézils Buch am 16. Juni 1939 in einer Rezension für die Nouvelle Revue française aus: L’auteur est un historien des religions et c’est bien des anciens Germains d’avant Charlemagne, d’avant le christianisme qu’il parle. Mais je ne crains pas d’affirmer qu’aucun livre sur l’Allemagne actuelle n’explique mieux, aucun ne fait plus aller avant que celui-ci. 67 Guastalla hatte in seinem Vortrag über das Verhältnis von Mythos und Literatur an Überlegungen von Caillois angeschlossen, der sich in seinem 1938 erschienenen Buch Le mythe et l’homme über die Vorzüge der „puissance morale de contrainte“ - der moralischen Zwangskraft - des Mythos ausgelassen hatte, 68 und hatte in Übereinstimmung mit Caillois die Überlegenheit des gesellschaftlich bindenden Mythos gepriesen gegenüber der bloß ästhe- 65 Georges Dumézil: Mythes et dieux des Germains. Essai d’interprétation comparative, Paris: Leroux 1939; dort z.B. S. 156: „Le troisième Reich n’a pas eu à créer ses mythes fondamentaux: peut-être au contraire est-ce la mythologie germanique, ressuscitée au XIX e siècle, qui a donné sa forme, son esprit, ses institutions à une Allemagne que des malheurs sans précédent rendaient merveilleusement malléable; peut-être est-ce parce qu’il avait d’abord souffert dans des tranchées que hantait le fantôme de Siegfried qu’Adolf Hitler a pu concevoir, forger, pratiquer une Souveraineté telle qu’aucun chef germain n’en a connue depuis le règne fabuleux d’Odin.“ Über Dumézils forcierte Aktualisierungen in seinen Arbeiten der späten 1930er Jahre vgl. Bruce Lincoln: „Rewriting the German War God: Georges Dumézil, Politics and Scholarship in the Late 1930s“, in: History of Religions 37 (1998), S. 187-208, speziell zu Dumézils mythenhistorischen Reaktionen auf München S. 205-206. 66 Vgl. Hollier: Collège, Anm. 63, S. 460-493. 67 Hier zitiert nach ebd., S. 464. [Dt.: Der Verfasser ist Religionshistoriker, und er spricht wirklich über die alten Germanen aus der Zeit vor Karl dem Großen. Aber ich scheue mich nicht zu behaupten, daß kein Buch das gegenwärtige Deutschland besser erklärt, und daß keines weiter vordringt als dieses]. 68 Roger Caillois: Le mythe et l’homme [1938], Paris: Gallimard 1972, S. 154. Caillois hatte dort im Zusammenhang über die verschiedenen Formen, wie Kunst/ Literatur auf der einen und Mythos auf der anderen Seite mit dem Publikum kommunizieren, gesagt: „[L]a communication entre l’œuvre et le public n’est jamais affaire que de sympathies personnelles ou d’affinités de tendances - affaire de goût, affaire de style. Le verdict définitif révèle ainsi toujours de l’individu, non que la société n’influe pas, mais elle propose sans contraindre. Le mythe, au contraire, appartient par définition au collectif, justifie, soutient et inspire l’existence et l’activité d’une communauté, d’un peuple, d’un corps de métier ou d’une société secrète. Exemple concret de la conduite à tenir et précédent, au sens judiciaire du terme, dans le domaine fort étendu alors de la culpabilité sacrée, il se trouve, du fait même, revêtu, aux yeux du groupe, d’autorité et de force coercitive. On peut aller plus loin dans cette opposition et affirmer que c’est précisément quand le mythe perd sa puissance morale de contrainte, qu’il devient littérature et objet de jouissance esthétique. C’est l’instant où Ovide écrit Les Metamorphoses.“ Guastalla sieht diesen Moment sogar schon im antiken Griechenland, wo nur noch die Tragödie Reste des Mythos und seiner Funktionen bewahre. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 137 tisches Vergnügen bereitenden Literatur, die in den liberalen westlichen Demokratien dominiere, und diese, so die mehr oder weniger implizite Botschaft, ‚entmännliche‘. 69 Exilanten wie Kracauer und Silone, aber auch Joseph Roth mit seiner Kritik am „Mythos von der deutschen Seele“, 70 die den Faschismus nicht nur als theoretisches Problem oder aus der Touristenperspektive kannten, waren gegenüber solchen Versuchen, den Mythos aufzuwerten, offensichtlich skeptisch. Schon 1936 hatte sich Kracauer in einer vermutlich für die Zeitschrift Vendredi verfaßten, dann aber wohl nicht publizierten Rezension von Silones Brot und Wein bemüht, die pathetischen Momente des Romans gegen den Verdacht in Schutz zu nehmen, Silone betreibe eine sprachliche „Verherrlichung mythischer Gewalten“: Dank der hellen, von Grund auf erfahrenen Humanität Silones ist sein Buch zur Dichtung gediehen. Schon seit langem hat die Sprache nicht mehr ein Pathos erreicht, das so wie seines mit Wirklichkeit gesättigt wäre. Diese Sprache ist das genaue Gegenteil der D’Annunzios. Statt die Passion als solche gutzuheißen, entzaubert sie, gerade umgekehrt, die blinde Passion. Und ihre Gehobenheit entspringt nicht der ästhetischen Verherrlichung mythischer Gewalten, sondern Erkenntnissen, die eine bessere Art menschlichen Zusammenlebens betreffen. 71 ‚Entzauberung‘ des Faschismus und seiner Propaganda anstatt Remythisierung der Demokratien, so ließe sich das Kracauer und Silone gemeinsame Programm beschreiben. Kracauers Bemerkung vom April 1938, Silones Faschismusanalyse in der entstehenden Schule der Diktatoren und seine eigene in dem geplanten Propagandaaufsatz würden „gut ineinandergreifen“, 72 zeigt, daß ihm diese intellektuelle Verwandtschaft über Exilländergrenzen hinweg genau bewußt war. 69 Anstatt weiterer Zitate verweise ich auf die Darstellung bei Hollier: Collège, Anm. 63, S. 467-472, der unter dem Titel „Mythomanie“ die französische Debatte über die gesellschaftlichen Dimensionen des Mythos nach ‚München‘ nachzeichnet. 70 Vgl. den Beitrag von Brita Eckert im vorliegenden Band. 71 Typoskript vom 3.12.1936, zitiert nach: Siegfried Kracauer: Aufsätze 1932-1965, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (=Schriften, Bd. 5.3, hg. von Inka Mülder-Bach), S. 297- 299, hier S. 299. Wenn Kracauers Datierung des Typoskripts stimmt, ist diese Rezension zeitgleich mit dem Exposé zum Aufsatz über „Masse und Propaganda“ entstanden. 72 Vgl. oben, Anm. 41. Olaf Müller 138 Anhang Siegfried Kracauer an Ignazio Silone, Paris, 16. Januar 1939 73 Lieber Herr Silone, ich habe ein ganz schlechtes Gewissen Ihnen gegenüber. Selbstverständlich wollte ich Ihnen gleich nach Empfang Ihrer „Schule der Diktatoren“, die ich sofort las, für das Buch und die schöne Widmung danken, mit der ich mich so freute. Aber ich hatte Ihnen auch ausführlicher dazu schreiben wollen, und eben dieser Vorsatz wurde durch äussere Umstände vereitelt. Infolge des antisemitischen Terrors, der damals in Deutschland ausbrach, musste ich alle Hebel in Bewegung setzen, um die Übersiedlung meiner Mutter und Tante, die beide noch in Frankfurt a/ Main leben, zu betreiben; mehr noch: ich musste eine grosse Aktion einleiten, damit die beiden alten Frauen, wenn es überhaupt gelingt, sie hierher zu bringen, ein bescheidenes Auskommen finden. Nicht so, als ob ich schon reüssiert hätte; immerhin habe ich nun sämtliche Schritte getan, die nur irgend möglich waren und so bleibt mir einstweilen nichts übrig als abzuwarten. Wochen und Wochen sind draufgegangen, in denen ich nicht dazu | 2 | kam, mich um meine eigene Situation zu kümmern, die mehr als desperat ist; geschweige denn, meine Arbeiten zu fördern. Zweifellos werden Sie es mir verzeihen, wenn ich Ihnen aus diesen Gründen erst heute schreibe. Ihre so freundschaftliche Widmung ist mir das Zeichen einer Solidarität, die ich bei der Lektüre Ihres Buches stark empfand. Es war mir eine wichtige Bestätigung, daraus zu erfahren, dass Ihre entscheidenden Feststellungen über die totalitären Diktaturen mit jenen übereinstimmen, die ich in der „Propaganda“-Arbeit getroffen habe. Auch Sie rücken den nihilistischen Machtwillen ins Zentrum, zeigen, soweit es die Form Ihres Buches zulässt, seine Verankerungen in der gesellschaftlichen Situation, und umreissen, wie ich, die Sphäre der fascistischen Pseudo-Wirklichkeit, die vom Ersatz lebt, in der noch das vergossene Blut Ersatz ist. An der Gültigkeit dieser Erkenntnisse wird nicht zu rütteln sein. Was mich persönlich besonders interessierte, ist der Canevas, auf den die genannten Erkenntnisse eingetragen sind. Ich meine Ihr positives Verhältnis zur richtigen Demokratie. Wenn Sie von dieser | 3 | reden, exemplifizieren Sie wiederholt an der Schweiz, und es scheint mir - auch nach dem Zitat der Grabrede des Perikles zu schliessen -, als ob Ihnen als die humanste Form sozialen Zusammenlebens ein mittleres, noch überschaubares Gemeinwesen vorschwebte, das von den Menschen wirklich noch sinnlich und wie ein Teil ihres eigenen Selbstes aufgefasst werden kann. Daraus spricht eine von mir tief bejahte Abneigung gegen den Imperialismus, gegen die Abstraktheit der 73 Nach der Kopie im Kracauer-Nachlaß, DLA Marbach. © Siegfried Kracauer 1939. Alle Rechte vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Silone und Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog 139 zu grossen Gebiete und gegen alle babylonischen Türme. Nicht minder liegt dieser Konzeption ein Begriff des Menschen zugrunde, der mir sehr gemäss ist. Zum Unterschied von den utopischen Denkern und Schwärmern, die sans façon die unbegrenzte Wandlungsfähigkeit des Menschen behaupten - mich hat von jeher ein tiefes Misstrauen gegen diese Utopisten erfüllt - sehen Sie den Menschen als ein sehr bedingtes, sehr schwer in Fluss zu bringendes Wesen an und rechnen vor allem mit dem, was ist. Seine Wandlung, wenn Sie denn diese ins Auge fassen, müsste sämtliche Schichten, die bewussten und die unbewussten, ergreifen, um faktisch | 4 | eine Wandlung zu sein. Die Linksintellektuellen, die nur deshalb immer die Utopie als Massstab anlegen, weil sie nirgends sonstwo realiter existieren, werden Sie als einen „Skeptiker“ verlästern; mit welchem Wort sie „reaktionär“ usw. associieren. Mir ist dergleichen widerfahren. Aber ich glaube, es ist besser, nicht von der Utopie auszugehen, sondern in der Realität zu bleiben, in der sich ja hie und da Spuren der Utopie zeigen mögen. Wem es wirklich um die Menschen zu tun ist, muss sich jedenfalls so verhalten wie Sie. Lassen Sie mich im übrigen kurz sein. Ich finde die Art, in der Ihr Thomas den künftigen Diktator instruiert, sehr witzig und nützlich, und Mr. Döbbl Juh selber scheint mir von jener vulgären Direktheit, die ihm als Diktator Chancen gibt. Der Spass mit den Tautologien Pickups charakterisiert ein weites Gebiet der modernen Soziologie. Die unverbindliche Form des Dialogs ist oft zu entzückenden Formulierungen ausgenutzt; dort etwa, wo Sie das Verhältnis des fascistischen Redners zu einem vom Schlag Gambettas mit dem Verhältnis von Al Jolson zu Caruso gleichsetzen. 74 Wenn ich noch eine | 5 | kleine Kritik anfügen darf, so habe ich den Eindruck, als ob das freilich schwierige Formproblem, die Notwendigkeit, sich zu explizieren, mit der Notwendigkeit, typische Formen einen echten Dialog führen zu lassen, nicht ganz gelöst worden sei … Ich bin ungeheuer gespannt auf das Echo, das sie finden; nicht zuletzt darauf, welche Missverständnisse Ihnen zustossen werden. Meine Propaganda-Arbeit ist leider noch nicht gedruckt. Die „Zeitschrift für Sozialforschung“ schickte mir eine gekürzte Bearbeitung zu, die ich ablehnte, weil sie meinen Text durchgängig veränderte; man hat mir jetzt dort für irgendwann den Abdruck eines Fragments in Aussicht gestellt. Und einen Verlag für die ganze Arbeit habe ich bisher weder hier noch anderswo 74 Vgl. das Kapitel „Über die faschistische Mythologie, ihre Nebel, ihre Fetische und Idole, und über die moderne Technik der Massensuggestion- und Unterwerfung“ in Silone: Schule, Anm. 9, S. 159, wo Thomas der Zyniker dem Amerikaner erklärt: „Es gibt nämlich eine besondere faschistische Redekunst, die aber in der Gegenwart der Massen unendlich viel wirksamer ist als die alte, an Tenöre angelehnte Redekunst der Gambetta, Jaurès, Lassalle, Enrico Ferri, Lloyd George. Es ist dieselbe Überlegenheit wie die eines Al Jolson über Caruso. Die faschistische Beredsamkeit wird durch die Technik der faschistischen Propaganda verstärkt, aber ich fürchte, es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich vor Amerikanern über Propaganda reden…“. Olaf Müller 140 gefunden. Schade, sehr schade … Zur Zeit bereite ich ein mir von Allert de Lange bestelltes Buch über den Film vor; noch fehlt mir viel Material. Besteht Aussicht, dass Sie bald einmal nach Paris kommen? Mit einem Wort von | 6 | Ihnen würde ich mich sehr freuen. Und nochmals Dank für Ihr so wichtiges Buch. Mit herzlichen Grüssen Ihr S. Kracauer NB. Der von Ihnen zitierte Satz Seite 194, Zeile 15 von oben: „Masse muss…“ ist, glaube ich, nicht von Hitler, sondern von dem entsetzlichen Ernst Kriegk. Pardon! 75 75 In seinen Ausführungen über den ideologisch flexiblen Charakter der faschistischen Parteien und deren schwankenden Status zwischen ‚Bewegung‘ und Partei sagt Thomas der Zyniker an der genannten Stelle im Zusammenhang: „Obschon in Deutschland der Nationalsozialismus von Anfang an den Charakter einer organisierten Partei hatte, zog Hitler es vor, ihn eine ‚Bewegung‘ zu nennen, weil dieses Wort auf eine marschierende, aktive Masse schließen lassen sollte, die fähig wäre, die Kader der alten Parteien zu sprengen. ‚Masse muß flüssig werden, wenn sie gestaltet werden soll‘, schrieb dieser verfehlte Künstler mit einer Wendung, die der plastischen Kunst entlehnt war.“ Silone: Schule, Anm. 9, S. 194. Philippe Olivera Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940. Grundlagen für einen Vergleich mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs Das Urteil des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Schweizer Herkunft Albert Schinz (1870-1943) über die literarische Entwicklung in Frankreich in den Jahren 1938 und 1940 ist typisch für die vorherrschende Einschätzung der Auswirkungen, die die internationale politische Krise auf das literarische Leben dieser Periode hatte. In einem Überblicksartikel, den Schinz jährlich für das Modern Language Journal schrieb, heißt es für das Jahr 1938: „Les préoccupations politiques ont pris le pas sur les préoccupations littéraires, comme il était bien naturel que cela fut“ 1 . Und für das Jahr 1940 schrieb er: „[D]e bonne heure, l’activité littéraire reprit a un tempo rapide [et] elle continua ainsi jusqu’à la veille même du jour où Paris était occupé“ 2 . Das kritische Panorama der literarischen Ereignisse eines Jahres stützt sich ganz einfach auf den politischen Kontext, um sich dann über dessen Einfluß auf das literarische Leben auszulassen. Ein solcher Rückgriff auf das politische Zeitgeschehen, um daraus das literarische abzuleiten, hat an sich nichts Überraschendes, aber es kommt hier auf den durchaus repräsentativen Kontrast in Schinz’ Urteilen über die beiden Jahrgänge an. Während man für 1938, als Frankreich sich noch im Frieden befindet, allgemein dazu neigt, die Politisierung des literarischen Lebens überzubewerten, herrscht für 1940, als sich das Land im Krieg befindet, die Meinung vor, der krisenhafte Kontext habe nur beschränkte Auswirkungen. Es handelt sich hierbei nur um ein mögliches Beispiel zur Illustration einer anhaltenden Tendenz, die im übrigen weit über das literarische Feld hinausgeht, und die darin besteht, die Bedeutung des Bruchs zu minimieren, der mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg erfolgt: Die innenpolitische und internationale Krise ist nach dieser Ansicht schon vor 1939 weithin greifbar und die drôle de guerre ist kein wirklicher Krieg. Diese Sicht auf die ‚Krisenjahre‘ vor der Invasion und der Besetzung möchte ich im folgenden anhand eines besonderen Indikators, nämlich anhand des Buchmarkts, überprüfen. 1 Albert Schinz: „L’année littéraire Mil Neuf Cent Trente-Huit“, in: Modern Language Journal 23 (März 1939), S. 418-427, hier S. 418. [Dt.: Die politischen Ereignisse haben, wie es ganz natürlich war, die literarischen Ereignisse überholt]. 2 Albert Schinz: „L’année littéraire Mil Neuf Cent Quarante“, in: Modern Language Journal 25 (März 1941), S. 446-455, hier S. 446. [Dt.: Die literarischen Aktivitäten haben früh mit einem raschen Tempo wieder eingesetzt, das sie bis kurz vor der Besetzung von Paris durchgehalten haben]. Philippe Olivera 142 Mein Beitrag zielt also auf das, was man üblicherweise als den ‚Kontext‘ des literarischen Lebens bezeichnet, und er soll aus dieser Perspektive zu den gemeinsamen Überlegungen beitragen, die sich im vorliegenden Band auf den Zeitraum zwischen dem Münchener Abkommen und der französischen Niederlage richten. Eine Möglichkeit, nach dem Kontext zu fragen, mit dem die Schriftsteller sich auseinanderzusetzen haben, ist der Blick auf ihre ‚Meinung‘ zu den Ereignissen. Diese Vorgehensweise erlaubt mehr als nur einen kritischen Impressionismus und kann sich mittlerweile auf eine beachtliche Reihe von historischen Arbeiten für diesen Zeitraum stützen. 3 Der Zugang über die ‚öffentliche Meinung‘ stellt im übrigen das wichtigste historische Interpretationsschema für die Zeit von 1938 bis 1940 dar und verleiht dem Zeitraum eine Einheit, die die Tendenz verstärkt, den Kriegseintritt als einen bloß schwachen Bruch zu betrachten. Hinsichtlich der Periode vor und nach September 1939 stellt man so die gleiche beherrschende Frage in den Mittelpunkt, nämlich die nach der rätselhaften diplomatischen und militärischen Apathie, die angeblich vollkommen auf die bevorstehende Niederlage ausgerichtet gewesen sei. Für das besondere Gebiet der intellektuellen und literarischen Milieus fügt sich auch die vor einiger Zeit abgeschlossene Dissertation von Pierre-Frédéric Charpentier (Les intellectuels français de la Drôle de Guerre à la Défaite, 1939-1940) 4 in diesen allgemeinen Interpretationsrahmen ein, indem sie den Blick vor allem auf die Meinung und die öffentlichen Stellungnahmen der Intellektuellen im Angesicht der internationalen Krisen richtet. Die bevorzugten Quellen für Untersuchungen über die ‚Meinung‘ sind seit langem die Massenmedien. Es gibt kaum eine Periode der französischen Geschichte, für die man so intensiv Zeitungen, Zeitschriften oder sogar die Radioprogramme ausgewertet hat. Die persönlichen Aufzeichnungen von Schriftstellern (Notizbücher, Tagebücher, Briefwechsel etc.), die für diese Zeit besonders zahlreich vorliegen und dank ihrer häufigen Veröffentlichung leicht greifbar sind, stellen, neben den Massenmedien, eine weitere naheliegende Quelle dar, um eine Geschichte der Jahre 1938-1940 zu schreiben, die die ‚öffentliche Meinung‘ in den Mittelpunkt stellt. Die Arbeit von Gisèle Sapiro 5 , die einen längeren Zeitraum in den Blick nimmt und sich auf Pierre Bourdieus Konzept des literarischen Feldes stützt, geht einen vollkommen anderen Weg und stützt sich auf die Untersuchung der sozialen und der symbolischen Strukturen des literarischen Betriebs. Meine Analyse, die sich auf die sehr präzise Frage nach den Verhältnissen auf dem Verlagsmarkt während der Jahre von 1938 bis 1940 konzentriert, benutzt eher diese letzteren Untersuchungskriterien und betrachtet die spezielle soziale Logik, die im literarischen Feld wirksam ist. Im Unterschied 3 Um nur zwei wichtige Studien zu nennen: Jean-Louis Crémieux-Brilhac: Les Français de l’an 40, 2 Bde., Paris: Gallimard 1990, sowie Yvon Lacaze: L’opinion publique française et la crise de Munich, Bern u.a.: Peter Lang 1991. 4 Thèse d’histoire bei Pascal Ory, Universität Paris I, 3 Bde., 2005. 5 Gisèle Sapiro: La Guerre des écrivains, 1940-1953, Paris: Fayard 1999. Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940 143 zur anschließenden Periode der Okkupation, die Pascal Fouché 6 eingehend untersucht hat, ist das Verlagswesen der Jahre 1938 bis 1940 wesentlich weniger erforscht worden als die Presse oder die Medien desselben Zeitraums. Auch wenn das Verlagswesen deutlich weniger empfindlich auf das Tagesgeschehen reagiert, ist es doch ein entscheidendes Element jeglicher intellektueller Aktivität und seine Untersuchung deshalb unerläßlich für eine Analyse der Schreibpraktiken. Im Rahmen dieses kurzen Beitrags werde ich bloß einige Anhaltspunkte geben und einige konkrete Fragen beantworten: welche Auswirkung haben die internationalen Krisen und dann die drôle de guerre auf die verlegerischen Aktivitäten insgesamt? Wie weit bedeutet der Kriegseintritt auf diesem Gebiet einen Bruch? Um diese Fragen zu beantworten, habe ich zwei methodische Vorentscheidungen getroffen. Die erste besteht darin, daß ich mich auf eine Quelle stütze, die es erlaubt, einen Überblick über den Buchmarkt zu gewinnen: Die Werbeanzeigen in der Bibliographie de la France bieten dafür ein Mittel, das es erlaubt, die Gesamtheit der im Buchhandel angebotenen Titel zu erfassen. Diese Anzeigen lassen - besser als die Gesamtliste der gedruckten und zur Pflichtablieferung bestimmten Werke - den Zustand des Markts erkennen. Über die qualitativen Informationen zu den angebotenen Werken hinaus (der Preis, das Format, die Reihe, der Werbeslogan, der Hinweis auf andere Titel etc.), erlauben sie eine quantitative Erfassung, mit deren Hilfe man die Fehlschlüsse eines ‚Panoramas‘ vermeiden kann, das sich auf einige Titel stützt, die man für repräsentativ hält. 7 Der Vergleich der Zahl der Anzeigenseiten und der der angezeigten Titel in den verschiedenen Sparten erlaubt es, die Entwicklung des Markts und das Ausmaß der Brüche, von denen er betroffen ist, genau zu erfassen. Die zweite methodische Vorentscheidung ist die für den auf dieselbe Quelle der Werbeanzeigen in der Bibliographie de la France gestützten Vergleich zwischen den Reaktionen auf den Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Ich ziehe dazu eine Untersuchung über die Entwicklung des Buchmarkts zwischen 1914 und 1918 heran, die ich an anderer Stelle unternommen habe. 8 Dieser Rückbezug des Kriegseintritts vom September 1939 auf sein Pendant von 1914 ist besonders wichtig, weil er es erlaubt, so weit wie möglich den Effekt des noch größeren Schocks zu neutralisieren, mit dem die Niederlage vom Juni 1940 den Eindruck vom September 1939 überlagert hat. Man sollte die Periode der sogenannten drôle de guerre nicht 6 Pascal Fouché: L’édition française sous l’Occupation, 1940-1944, 2 Bde., Paris: Bibliothèque de littérature française contemporaine de l’Université de Paris 7 1987. 7 Für eine eingehendere Darstellung dieser Quelle und der Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen, vgl. Philippe Olivera: „Qu’est-ce que la littérature générale? La culture lettrée au prisme du marché du livre de la première moitié du XX e siècle“, in: Revue de synthèse 1-2 (2007), S. 27-49. 8 Vgl. Philippe Olivera: „Culture en guerre, culture d’exception? Essai de mesure des formes de l’imprimé du temps de guerre“, in: La Grande Guerre. Pratiques et expériences, hg. von Rémy Cazals, Emmanuelle Picard und Denis Rolland, Toulouse: Privat 2005, S. 189-199. Philippe Olivera 144 nur als eine einfache Parenthese betrachten, die der Okkupation vorangeht. Der Vergleich von Gleichem mit Gleichem, also zwischen 1914 und 1939, ist deshalb auch eine notwendige Erinnerung an die eigentlich selbstverständliche Tatsache, daß in dem Moment, als Frankreich in den Zweiten Weltkrieg eintrat, nichts darauf hindeutete, daß der Vergleich mit der Zeit des Ersten Weltkriegs bald unmöglich werden würde. 1 Bis September 1939: eine Verlagslandschaft in Friedenszeiten Der erste Schluß, den man aus der Untersuchung einer Quelle wie den Anzeigen der Bibliographie de la France zwischen 1938 und 1940 ziehen muß, ist, daß der Kriegseintritt einen weitreichenden Bruch bedeutet, der sehr klar zwei verschiedene Phasen der verlegerischen Aktivitäten voneinander trennt: eine Verlagslandschaft im Frieden vor September 1939, die sich nicht erheblich von der Verlagslandschaft der gesamten Zwischenkriegszeit, ja nicht einmal von der der Zeit vor 1914 unterscheidet, und auf der anderen Seite, ab September 1939, eine Verlagslandschaft im Krieg, die weitgehend mit der Verlagslandschaft der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs vergleichbar ist. Betrachtet man die allgemeine Situation des Buchmarkts, ergibt sich aus der Untersuchung des Monats Oktober 1938 in der Bibliographie de la France überhaupt kein Unterschied im Vergleich zum Oktober 1937, und auch nicht im Vergleich zum Oktober 1913 (vgl. Tabelle 1 im Anhang). Man hat schon oft festgestellt, daß die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein eine Periode geringer struktureller Veränderungen im Verlagswesen war. 9 In den Grundzügen unterscheidet sich die Verlagslandschaft Ende der 1930er Jahre kaum von jener der letzten Jahre der Belle Époque. Zwar nimmt die monatliche Seitenzahl der Anzeigen, die die Verlage in der Bibliographie de la France abdrucken lassen, zwischen 1913 und 1938 im Verhältnis ein wenig ab, aber dabei handelt es sich bloß um einen begrenzten Effekt der Wirtschaftskrise, die sich auf die Werbeausgaben auswirkt. 10 Mißt man die Anzahl der Titel, sinkt die Produktion wesentlich weniger (im Oktober 1913 werden insgesamt 217 Titel angekündigt, darunter 51 Romane, 1938 sind es immer noch 205 Titel, darunter 53 Romane) und die allgemeinen Merkmale des Markts bleiben unverändert. 9 Vgl. Jean-Yves Mollier: „Les mutations de l’espace éditorial français du XVIII e au XX e siècle“, in: Actes de la recherche en sciences sociales 126-127 (März 1999), S. 29-38, und Élisabeth Parinet: Une histoire de l’édition à l’époque contemporaine, XIX e -XX e siècle, Paris: Seuil 2004, S. 317-318. 10 Nach einem regelmäßigen Anstieg der Anzeigenseitenzahl während der 1920er Jahre, der 1930 in einer Seitenzahl von 7000 gipfelt, gehen die Zahlen im Lauf der 1930er Jahre wieder zurück und pendeln sich bei 4000 Anzeigenseiten pro Jahr ein. Auch der Anstieg der Kategorie der in Sammelanzeigen angekündigten Bücher (mehr als sechs Titel auf einer Seite) zwischen 1913 und 1937-1938 (vgl. Tabelle 1 im Anhang) muß zum Teil als eine Auswirkung der reduzierten Werbeetats betrachtet werden. Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940 145 Auch der Anteil der wichtigsten Sparten des Buchmarkts ändert sich vergleichsweise nur wenig von einer Vorkriegszeit zur nächsten: ein Drittel des Gesamtanteils entfällt auf Werbeanzeigen für spezialisierte Verlagsprodukte (Bücher für den praktischen Bedarf, Schulbücher, Jugendbücher, Fachliteratur usw.), zwei Drittel auf die literarische Produktion (literarisch im weitesten Sinne des Wortes). Hiervon entfallen 40% auf die ‚allgemeine Literatur‘ („littérature générale“) der Bände, die in Duodez- oder Oktavformat publiziert werden und die die angesehenste Sparte des Buchmarkts darstellen. Diese Sparte berührt am unmittelbarsten denjenigen Teil der Bevölkerung, den man als ‚Schriftsteller‘ bezeichnet. 11 Es gibt zwar einige wahrnehmbare Entwicklungen, wie beispielsweise den Abwärtstrend jener Sparten, die für ihre Verbreitung weniger als andere auf den Buchhandel angewiesen sind (also Wörterbücher und Almanache, Schulbücher, sogenannte ‚populäre‘ Reihen), oder wie die Entwicklung von Spezialsparten wie dem Jugendbuch, oder auch wie den Niedergang der Zeitschriften… Aber insgesamt findet man 1913 die gleiche Verlagslandschaft vor wie am Ende der 1930er Jahre. Wie wir sehen werden, ist der Gegensatz zur Kriegszeit deshalb um so deutlicher. Das einzige Element, das man möglicherweise mit dem Kontext der internationalen politischen Krise vom Ende der 1930er Jahre in Verbindung bringen könnte, ist die relative Zunahme von Broschüren auf dem Buchmarkt im Oktober 1938 (2,3% der Anzeigen gegenüber weniger als 1% im Oktober 1913 oder im Oktober 1937). 12 Im 19. Jahrhundert war die Broschüre das Instrument par excellence, mit dem die Verleger auf krisenhafte politische Kontexte reagierten, von der Französischen Revolution über die Revolution von 1848 bis zur Dreyfus-Affäre. Im 20. Jahrhundert ist das wesentlich weniger der Fall, und die Broschüre verschwindet nach dem Ersten Weltkrieg fast vollständig aus den Verlagskatalogen. 13 Der Rückgriff auf diese Publikationsform kann 1938 also als eine Reaktion auf die zunehmende politische Spannung betrachtet werden. Das gilt zum Beispiel für die berühmte Reihe „Tracts“, die der Gallimard-Verlag nach dem Erfolg von Gides Retour d’URSS lanciert, aber man könnte auch die Reihe „Préoccupations de notre temps“ des Rieder-Verlags nennen, oder die Reihe „Vivre libre“, die der Grasset-Verlag im November 1939 mit Jean Gionos Lettre aux paysans sur la 11 Vgl. zur ‚littérature générale‘ und ihren kanonischen Formen Philippe Olivera: „Qu’estce que la littérature générale“, Anm. 7. In derselben Kategorie der ‚literarischen Verlagsprodukte‘(„édition lettré“) habe ich alle Arten von Druckerzeugnissen versammelt, die, ungeachtet ihrer formalen Besonderheiten, dieselben Autoren - oder zumindest einen Teil davon - betrafen. 12 Ich muß betonen, daß hier nur von Broschüren die Rede ist, die auf dem üblichen Weg über das Buchhandelsnetz vertrieben werden, auf das die Anzeigen in der Bibliographie de la France abzielen. Nicht gemeint sind Propagandabroschüren von politischen Parteien oder Interessengruppen, die auf anderen Wegen verteilt werden und die fast nie die ‚Schriftsteller‘ betreffen. 13 Vgl. Philippe Olivera: La Politique lettrée. Les essais politiques en France (1919-1932), thèse d’histoire bei Christophe Charle, Universität Paris 1, 2001, Kapitel 3. Philippe Olivera 146 pauvreté et la paix eröffnet. 14 Der Vorteil des globalen Ansatzes, den ich in der vorliegenden Studie anwende, besteht auch darin, daß sich zeigen läßt, wie begrenzt dieses Phänomen dennoch mit seinen bloß 2,3% des gesamten Werbeaufwands bleibt. Das erste Ergebnis dieser Untersuchung ist also sehr einfach, aber doch grundlegend: angesichts der häufigen Versuchung, die Effekte des Kontexts, besonders des politischen Kontexts, zu überschätzen, erinnert es uns daran, daß das professionelle Umfeld, in dem die Schriftsteller arbeiten, bis zur Kriegserklärung weitgehend stabil bleibt. Das heißt natürlich nicht, daß das Verlagswesen für den politischen Kontext unempfindlich bleibt, aber daß doch dieser Einfluß immer relativiert werden muß. Innerhalb des stabilen Rahmens, den das Verlagswesen in Friedenszeiten bietet, können jedoch Druckerzeugnisse des gleichen Formats und des gleichen Typs in unterschiedlicher Weise von einem krisenhaften Kontext betroffen werden. Nachdem ich bislang den Buchmarkt im weitesten Sinne betrachtet habe, muß ich nun den Bildausschnitt verkleinern und mich der Sparte genauer zuwenden, die am ehesten mit der Tätigkeit der Intellektuellen in Verbindung gebracht wird, der der ‚allgemeinen Literatur‘ („littérature générale“). Dabei stellt sich die Frage, in welcher Weise die Krise vom Ende der 1930er Jahre sich auf die praktizierten und publizierten Genres ausgewirkt hat (vgl. die Tabelle 2 im Anhang). Läßt sich innerhalb einer einheitlichen Gruppe von Werken, die in gleicher Form (betrachtet man Format und Preis) in denselben Reihen und bei denselben Verlagen veröffentlicht werden, beobachten, daß ein Genre ein anderes verdrängt? Nehmen beispielsweise Bücher zum Tagesgeschehen auf Kosten der anderen einen größeren Platz ein? Auch bei diesen Fragen hilft der globale Ansatz, voreilige Schlüsse zu vermeiden. Sieht man sich nur die Kategorie der Bücher zur Zeitgeschichte und zum aktuellen Tagesgeschehen an (die ich gemeinsam erfasse, weil sie auch in der Anordnung innerhalb der Verlagskataloge und innerhalb der Reihen, wie auch in der zeitgenössischen Kritik sehr häufig vermischt werden) 15 , so nimmt diese anscheinend wirklich gegen Ende der 1930er Jahre einen sehr viel größeren Raum ein als vor dem Ersten Weltkrieg: Es werden fast doppelt so viele Titel in dieser Kategorie veröffentlicht (28 gegenüber 15). Aber dieser Anstieg läßt sich nicht bloß als Effekt einer ‚Politisierung‘ oder einer größeren Aufmerksamkeit für das aktuelle Tagesgeschehen analysieren, da er auch auf Kosten der Titel zur allgemeinen Geschichte (die sich mit früheren Epochen beschäftigt; hier ist das Verhältnis 19 zu 36) und auf Kosten der im eigentlichen Sinne politi- 14 Diese kurzen Texte umfassen in der Regel nicht mehr als 100 Seiten und kosten etwa 6 bis 7 Francs, also die Hälfte des Preises für ein normales Duodezformat. 15 Zu den Schwierigkeiten, Geschichte, Zeitgeschehen und Politik innerhalb der Produktion der ‚allgemeinen Literatur‘ auseinanderzuhalten, erlaube ich mir, auf Philippe Olivera: La Politique lettrée, Anm. 13, sowie auf ders.: „De l’édition ‚politique et littéraire‘. Les formes de la politique lettrée de la Belle Époque à l’entre-deux-guerres“, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 21 (2003), S. 127-151, zu verweisen. Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940 147 schen Titel geht (die sich durch das erklärte politische Engagement ihres Autors oder des Verlags auszeichnen; hier ist das Verhältnis 3 zu 19). Diese Entwicklung ist zudem keineswegs ein spezifisches Phänomen der späten 1930er Jahre. Die Zunahme an Titeln zur Zeitgeschichte und zum aktuellen Tagesgeschehen ist das Ergebnis eines Prozesses, der über die gesamte Zwischenkriegszeit verläuft und sich in zahlreichen neuen Reihen mit ‚Zeitzeugenberichten‘ oder ‚Dokumenten‘ zur Gegenwart ausdrückt, während sich im gleichen Zeitraum wirklich wissenschaftliche oder wirklich politische Publikationen zunehmend aus der ‚allgemeinen Literatur‘ verabschieden. Betrachtet man die Gesamtanteile, dann nimmt der Bereich ‚Geschichte-Zeitgeschehen‘ zwischen 1913 und dem Ende der 1930er Jahre sogar eher ab. Man kann also festhalten, daß die innen- und außenpolitischen Spannungen, die das Ende der dreißiger Jahre prägen, bis zum Kriegsausbruch kaum Auswirkungen auf die Gesamtlage des Buchmarkts haben. Für die Verlage reduziert sich das ‚aktuelle Geschehen‘ jedoch bei weitem nicht auf die Buchkategorie mit diesem Namen. Ein weiterer Vorzug einer Quelle wie der in der Bibliographie de la France veröffentlichten Werbeanzeigen liegt darin, daß man daran ablesen kann, wie die Verlage das aktuelle Geschehen einsetzen, um ihre Bücher dem Publikum zu präsentieren. 16 Wertet man die Anzeigen aus dem Zeitraum zwischen ‚München‘ und der Kriegserklärung aus, gewinnt man den Eindruck, daß das aktuelle Geschehen alles beherrscht. Aber auch in diesem Fall muß man genau unterscheiden: auf der einen Seite die Bücher über das aktuelle Geschehen, auf der anderen die Werbesprache der Verlage, die das aktuelle Geschehen benutzt. Um beim Beispiel ‚München‘ zu bleiben: Die Werke, die sich ausdrücklich mit dem Ereignis beschäftigen (soweit sie über den Buchhandel vertrieben worden sind), sind relativ wenige. Anfang Oktober erscheint eine Broschüre des Abgeordneten Jean Montigny, ein wenig später vollbringt der Grasset-Verlag den Kraftakt, noch nicht einmal einen Monat nach dem Ereignis das Buch Histoire secrète de la capitulation de Munich (Die geheime Geschichte der Kapitulation von München) von Alfred Fabre-Luce auf den Markt zu bringen. Ende Oktober wird bei den Éditions Sociales Internationales De la fausse paix de Versailles à la trahison de Munich (Vom falschen Frieden von Versailles zum Verrat von München) von Maurice Thorez angekündigt. Im November sind drei Titel zum Thema zu verzeichnen: L’Équinoxe de septembre von Henry de Montherlant, eine Broschüre der Tageszeitung Le Temps und eine Sondernummer des Crapouillot, der Zeitschrift der Kriegsveteranen des Ersten Weltkriegs. Bis zum April 1939 gibt es nur acht weitere Titel, die einen direkten Bezug zum Thema ‚München‘ haben, darunter die Chronique de Septembre von Paul Nizan. 17 Eine derartige Aufzählung kann leicht den Eindruck erwecken, es handele sich um ein signifikantes Phäno- 16 Vgl. dazu Philippe Olivera: „Le temps des livres et le temps des médias. Enquête sur la construction de l’actualité du livre (France, 1923)“, in: Temporalités 5 (2006). 17 Vgl. dazu den Beitrag von Martine Boyer-Weinmann im vorliegenden Band. Philippe Olivera 148 men, aber es ist im Vergleich weniger bedeutsam als beispielsweise die Reaktion der Verlage auf ein Ereignis wie den Tod Clemenceaus im Jahr 1930. Während es also im Grunde nur wenige Titel gibt, die sich ausdrücklich mit der Krise von München beschäftigen - die Reaktionszeiten der Verlage können nicht die der Tageszeitungen sein -, so sind andererseits die Werbeanzeigen voll mit Anspielungen auf die Krise. Entweder versuchen die Verlage, das Argument der Aktualität zu benutzen, um ein Buch zu verkaufen, das ganz allgemein die internationalen Beziehungen oder Hitlerdeutschland zum Gegenstand hat, oder sie erinnern auf diese Weise an manchmal bedeutend ältere Titel mit der Begründung, daß sie zum Verständnis der Gegenwart beitrügen. Ein Beispiel von vielen ist eine Doppelseite vom 21. Oktober 1938, auf der Gallimard unter der Überschrift „Allemagne“ aus aktuellem Anlaß eine Neuauflage von Gilbert Keith Chestertons La Barbarie de Berlin von 1915 (im Original zuerst 1914 als The Barbarism of Berlin) bewirbt („la plus éblouissante des prophéties“ - eine überaus verblüffende Prophezeiung), ebenso wie einige ‚neuere Publikationen‘, besonders in der Reihe „Tracts“, wie zum Beispiel das Journal d’Allemagne von Denis de Rougemont 18 oder L’Allemand von Jacques Rivière, der seit 1919 bei jeder deutsch-französischen Krise wieder hervorgeholt wurde. Desweiteren finden sich auf dieser Doppelseite Anzeigen für Titel über die internationalen Beziehungen oder über den Ersten Weltkrieg. Dieser Werbediskurs ist nicht außergewöhnlich, und man sollte darin nicht nur eine Reklamemaßnahme sehen. Es handelt sich vielmehr um den Ausdruck einer verbreiteten und tiefer gehenden Vorstellung von der öffentlichen ‚Debatte‘ und vom Beitrag des Buchs zu dieser ‚Debatte‘. Wenn hier das aktuelle Tagesgeschehen hervorgehoben wird - und zwar viel mehr das internationale als das innenpolitische -, dann, um das sehr weit verbreitete Vorurteil zu bedienen, daß Bücher Werkzeuge seien, um die Epoche zu ‚verstehen‘. Die Krise von München ist unter diesem Aspekt nur ein Ereignis unter vielen anderen Ereignissen, die regelmäßig vergleichbare Diskurse produzieren. Bevor man also auf eine besondere Sensibilität der intellektuellen Produktion gegenüber einer bestimmten Periode schließt, sollte man sich vor Augen halten, daß dieser Bezug zum aktuellen Tagesgeschehen immer hergestellt wird, um Aufmerksamkeit für die auf den Markt gebrachten Titel zu erzielen und ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie ursprünglich meist nicht hatten. Ein weiteres Beispiel sind die zahlreichen Titel, die 1938 und 1939 den Gaskrieg thematisieren, die aber dennoch nicht auf eine für diese Jahre spezifische Angst schließen lassen, da der Gaskrieg ein Gegenstand ist, dem sich die Verlage schon seit dem Ende der 1920er Jahre regelmäßig widmen. Aus all diesen Gründen muß man sich die Proportionen vergegenwärtigen, wenn man sich diesem besonderen Zeitraum zuwendet, der ‚München‘ vom Kriegsausbruch trennt, und den man sich üblicherweise als auch von den Zeitgenossen so wahrgenommene Vorkriegsphase vorstellt. Aus 18 Vgl. dazu den Beitrag von Friedrich Wolfzettel im vorliegenden Band. Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940 149 dem Abstand, den die Untersuchung der Verlagspraktiken über einen längeren Zeitraum einzunehmen erlaubt, kann man feststellen: Vor September 1939 ist der Rahmen der intellektuellen Aktivitäten, den die Verlagswelt bildet - ungeachtet aller Anzeichen der Politisierung, die sich aus den Stellungnahmen der Intellektuellen in Zeitschriften oder Tageszeitungen ablesen lassen -, nur marginal von der internationalen politischen Krise betroffen. Der Kontrast zur Zeit nach dem Kriegseintritt ist deshalb nur um so auffälliger. 2 September 1939-Mai 1940: das Verlagswesen in Kriegszeiten Um die Auswirkungen des Kriegseintritts auf das Verlagswesen zu messen, ist ein Vergleich unerläßlich. Während die erste Teilmobilmachung von 1938 fast gar keine Auswirkungen auf die verlegerischen Aktivitäten hatte - der Verlag Plon verschob, „par suite des circonstances“, die Auslieferung eines Buchs um eine Woche, Hachette warnte die Buchhändler, daß die neuen Schulbücher eventuell mit Verspätung eintreffen würden -, 19 nahm sich die Situation im September 1939 vollkommen anders aus. Alle Verlage setzten ihre Anzeigen für Neuveröffentlichungen aus und kündigten den Buchhändlern bloß an, daß sie trotz der Mobilmachung weiter liefern würden. Während die Verlage unter normalen Umständen jede Woche zwischen 50 und 100 Seiten Werbeanzeigen in der Bibliographie de la France einrücken lassen, gab es am 1. September 1939 nur noch zehn Seiten und eine Woche später zwanzig Seiten. Vom 15. September bis zur deutschen Invasion erschien die Bibliographie de la France dann nur noch alle zwei Wochen. Dem Einbruch im Anzeigenwesen entsprach das fast vollständige Aussetzen der Neuveröffentlichungen. Vergleicht man nun Punkt für Punkt die Anfänge der beiden Weltkriege, sieht man einerseits, daß der Kriegseintritt jeweils erhebliche Veränderungen auf dem Buchmarkt nach sich zieht, daß diese Veränderungen aber andererseits 1939 weniger radikal sind als 1914. In beiden Fällen, 1914 wie 1939, ist die explosionsartige Zunahme älterer Titel, die in den Anzeigen noch einmal in Erinnerung gerufen werden (vgl. Tabelle 1 im Anhang), das Zeichen einer identischen Erwartungshaltung: abgesehen von den materiellen Schwierigkeiten, die die Mobilmachung den Verlagen verursacht, bedeutet der Kriegseintritt auch, daß die gesamte neuere und geplante Produktion davon bedroht ist, als unzeitgemäß zu erscheinen. Die älteren Bücher, an die der Buchhandel und damit die Leser in den Anzeigen erinnert werden, sind das Resultat einer Auswahl aus den Katalogen, die darauf zielt, die ‚prophetischsten‘ Titel zu finden und dem zu entsprechen, was die Verlage für die kommende geistige Verfassung der Bevölkerung halten. Zwar nimmt die Produktion insgesamt drastisch ab, aber am stärksten ist 19 Vgl. Bibliographie de la France vom 7. und vom 21. Oktober 1938. Philippe Olivera 150 von der neuen Lage sowohl 1914 wie auch 1939 das im weiteren Sinn literarische Programm betroffen. Im Oktober 1914, also im dritten Kriegsmonat, umfaßt das Gesamtvolumen der Anzeigen in der Bibliographie de la France nur noch ein Neuntel im Vergleich zum Vorjahr (46 gegenüber 372 Anzeigenseiten), während es im Oktober 1939, im zweiten Kriegsmonat, ‚nur‘ um den Teiler 3,2 reduziert ist. Dieser Unterschied bleibt auch im weiteren Verlauf des Kriegs bestehen: im Oktober 1915 (14. Kriegsmonat) betrug der Anzeigenumfang ein Viertel im Vergleich zur Vorkriegszeit, während er im April 1940 (7. Kriegsmonat) ‚nur‘ um die Hälfte abgenommen hatte (vgl. Tabelle 1). Betrachtet man als weiteren Indikator die Gesamtzahl der in der Kategorie ‚allgemeine Literatur‘ publizierten Titel, wird der Unterschied noch deutlicher, da diese Kategorie im Oktober 1914 vollkommen verschwunden ist (mit Ausnahme der älteren Titel, an die erinnert wird), während im Oktober 1939 noch etwa dreißig neue Titel erscheinen (vgl. Tabelle 2). 20 Auch das ist aber nur noch ein Siebtel der Produktion des Vergleichsmonats Oktober 1938. Diese vergleichsweise geringere Störung des Buchmarkts zu Beginn des Zweiten Weltkriegs läßt sich damit erklären, daß die Verlage sicherlich vorbereitet waren, da sie zum einen das Beispiel von 1914 vor Augen hatten und zum anderen der Kriegsausbruch weniger überraschend kam; man denke nur daran, daß die Zensur bereits ab dem 27. August 1939 wirksam war, und daß mit dem Commissariat général à l’information unter Jean Giraudoux’ Leitung bereits seit Juli 1939 eine Behörde existierte, die als eine Art Propagandaministerium sämtliche Medien auf den Krieg vorzubereiten hatte. Ganz allgemein werden die Strukturen der intellektuellen und literarischen Kommunikation 1939 weniger in Mitleidenschaft gezogen als 1914. Während 25 Jahre zuvor die großen Zeitschriften ihr Erscheinen eingestellt hatten, konnten sie 1939 weiter erscheinen (nur der Mercure de France kündigt an, daß er von einer zweiwöchentlichen auf eine monatliche Erscheinungsweise umstellt). Die Literaturpreise, die während der ersten Jahre des Ersten Weltkriegs nicht verliehen worden waren, werden im Dezember 1939 wie üblich vergeben, und auch die Akademiewahlen, die zwischen 1914 und 1918 ausgesetzt worden waren, werden 1939 abgehalten. Diese Daten werden meist genannt, wenn man illustrieren will, daß das literarische Leben während der drôle de guerre nahezu normal weiterlief. Sie müssen jedoch angesichts der erheblichen Verlangsamung der Verlagsaktivitäten relativiert werden: Für die Schriftsteller und die Autoren im allgemeinen - selbst für diejenigen, die nicht eingezogen worden sind -, sind die Publikationsmöglichkeiten ab September 1939 sehr eingeschränkt, und dies um so mehr, als das Verlagsangebot sich mit dem Kriegsbeginn grundlegend verändert. Auch hier gilt wieder, daß das Phänomen sich 1914 wesentlich deutlicher beobachten läßt als 1939 (vgl. Tabelle 1). Mit dem Beginn des 20 Aus diesem Grund fehlt in Tabelle 2 auch die Spalte für Oktober 1914, da in diesem Monat nur zwei Titel erscheinen, die man der ‚allgemeinen Literatur‘ zurechnen könnte. Die französische Verlagslandschaft und die Krisen der Jahre 1938-1940 151 Ersten Weltkriegs war eine regelrechte Ersatzliteratur entstanden, die auf die Kriegssituation zugeschnitten war und spezifische Formate verwendete. Während die herkömmlichen Duodez- und Oktavbände der ‚allgemeinen Literatur‘ verschwanden, übernahmen in Faszikeln verlegte ‚Geschichten‘ des Kriegs und Broschüren zum aktuellen Tagesgeschehen vorübergehend deren Stelle. 21 Für 1939 läßt sich nichts Vergleichbares beobachten, und auch die Abteilung der ‚allgemeinen Literatur‘ behauptet sich besser. Nach den ersten Kriegsmonaten läßt sich dann die gleiche Tendenz beobachten, die jeweils eine Rückkehr zu den traditionellen Größenverhältnissen auf dem Markt mit sich bringt. Die literarische Produktion im weitesten Sinne und besonders die ‚allgemeine Literatur‘ nehmen wieder die dominante Stellung ein, die sie in Friedenszeiten innehatten (wenn man auch berücksichtigen muß, daß die Gesamtproduktion erheblich abnimmt). Auch innerhalb der Kategorie der ‚allgemeinen Literatur‘ stellen sich die üblichen Größenverhältnisse wieder ein, allerdings verlieren die klassischen literarischen Gattungen (besonders der Roman) ihre dominante Stellung zugunsten der Gattungen, die sich dem Zeitgeschehen widmen (vgl. Tabelle 2). Aus der Perspektive, die die Untersuchung der Werbeanzeigen in der Bibliographie de la France bietet, läßt sich also zwischen den beiden Kriegsanfängen kein bedeutender Unterschied feststellen. 3 Schlußbemerkungen Diese kurze Untersuchung sollte nichts anderes leisten, als auf eine einfache Frage anhand einer einzigartigen Quelle eine Antwort zu geben: Stellt der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg einen erheblichen Bruch in einem für die äußeren Bedingungen intellektueller Arbeit so wichtigen Gebiet wie dem des Verlagswesens dar? Selbst wenn dieser Bruch weniger radikal erscheinen mag als der von 1914, so ist er doch deutlich spürbar. Damit sollte auch die Vorstellung relativiert werden, die Zeit zwischen dem Münchener Abkommen und der militärischen Niederlage bilde einen großen Zusammenhang. Dasselbe gilt für die Vorstellung einer Kontinuität des intellektuellen Kontexts vor und nach der Kriegserklärung. Aus der Sicht des Buchmarkts ist es jedenfalls falsch, wenn man sagt, die drôle de guerre sei eigentlich kein Krieg. Die vorliegende Untersuchung ist aber auch ein Plädoyer dafür, sich beim Vergleich der Kriegsanfänge von 1914 und 1939 auf andere Parameter zu stützen als auf die bloße Betrachtung der ‚Meinung‘ der Schriftsteller und der Intellektuellen. Der Gegensatz zwischen der ‚Union sacrée’ von 1914 und den Meinungsverschiedenheiten von 1939 ist unbestritten, aber das sollte nicht die einzige Vergleichsgröße sein, die man für diese beiden Epochen heranzieht. So sehr man für den Ersten Weltkrieg der Versuchung 21 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Philippe Olivera: La Politique lettrée, Anm. 13, und ders.: „Culture en guerre, culture d’exception? “, Anm. 8. Philippe Olivera 152 widerstehen muß, im Sinne eines Kriegsexotismus überall die patriotischsten Ausdrucksformen der intellektuellen Produktion als besonders epochentypisch zu betrachten, so sehr sollte man sich umgekehrt davor hüten, immer nur die am wenigsten kriegstypischen Aspekte der drôle de guerre zu betonen und diese Phase als eine bloße Verlängerung der Krise der 1930er Jahre zu betrachten. Der Blick auf die strukturellen Faktoren der intellektuellen und literarischen Aktivität zwischen September 1939 und Mai 1940 kann dann dazu beitragen, die Gemeinsamkeiten, die die beiden Kriege miteinander verbinden, neu zu bewerten. Zumindest ist dies das Ergebnis einer Analyse des Buchmarkts. Damit möchte ich abschließend die Gefahr betonen, die darin besteht, daß man sich für die Geschichte des Literaturbetriebs auf die Untersuchung einiger großer Schriftsteller konzentriert (ob sie nun ‚groß‘ aus der Sicht ihrer Zeitgenossen oder aus der der Nachwelt sind). Keine Aufzählung, so lang sie auch sein mag, hat die Qualität eines Beweises, und es wäre immer möglich, eine Reihe von Büchern oder von Stellungnahmen zu zitieren, die zeigen würden, daß zur Zeit des Münchener Abkommens die literarischen Milieus schon den Krieg antizipieren, oder, mit einer anderen Reihe von Titeln, daß im Gegenteil dieselben Milieus bis zum militärischen Zusammenbruch vom Mai 1940 beinahe in Friedensverhältnissen leben. In der Tat kann der äußere Anschein auf dem hier untersuchten Gebiet leicht täuschen: Wenn 1914 die fast vollständige Unterbrechung des literarischen und intellektuellen Betriebs den Eindruck nahelegt, daß der Kriegseintritt einen erheblichen Bruch bedeutet, dann kann die Tatsache, daß das Phänomen 1939 etwas weniger deutlich ist, für diejenigen, für die sich der Literaturbetrieb auf eine berühmte Zeitschrift oder ein paar Autorennamen reduziert, den Eindruck entstehen lassen, daß fast alles nahtlos weiterläuft. Ein umfassenderer Indikator, wie es die Werbeanzeigen der Verlage sind, erlaubt es dagegen, das Ausmaß der Erschütterung zu ermessen, die der Eintritt in den Krieg auslöst. Die Tatsache, daß diese Erschütterung als begrenzt erscheint, wenn man sie mit derjenigen vergleicht, die die Niederlage vom Mai 1940 verursacht - die Bibliographie de la France stellt ihr Erscheinen bis zum Oktober 1940 vollständig ein -, ändert daran überhaupt nichts. Anhang Tabelle 1: Der Buchmarkt im Spiegel der Anzeigen in der Bibliographie de la France (Stichprobenerhebung) Okt. 1913 Okt. 1937 Okt. 1938 Okt. 1914 Okt. 1939 Okt. 1915 April 1940 Gesamtseitenzahl der Anzeigen pro Monat 372 S. 273 S. 290 S. 40 S. 90 S. 98 S. 142 S. % % % % % % % Sammelanzeigen 1,4 4,6 2,4 0 8,6 7,3 3,5 Erinnerung an bereits erschienene Titel 4,1 5,4 3,6 34,6 34,6 5,4 10,1 Ausländische Verlage 1,2 1,3 0,5 5 0 4,1 0 Karten und Bilder 0,9 0,4 0 10,8 0,37 5,1 2,8 Bücher für den praktischen Bedarf 1,8 4,1 2,8 0,5 8,5 3,7 2,8 Jugendbuch 1,1 4,2 2,2 0 0 0 2,1 Schulbuch 8,5 4,8 4,3 1,3 5,2 2 0,9 Verschied. (Wörterbücher, Almanache etc.) 7,2 2,9 3,2 5 3,9 2,6 3 (Fortsetzung: ) Okt. 1913 Okt. 1937 Okt. 1938 Okt. 1914 Okt. 1939 Okt. 1915 April 1940 Fachliteratur, davon: 11,1 12,5 19 12,6 11,2 11,1 10,3 Recht 4,4 4,8 8,1 8,1 2,9 2 4,9 Medizin 4,5 4,4 5,5 2 1,1 4,3 5,4 Naturwissenschaft und Technik 2,1 3,3 5,3 2,5 7,2 4,7 0 Literarische Publikationen, davon: 62,6 57,1 61,7 31,25 27,7 70 72,9 Allgemeine Literatur („Littérature générale“) (Duodez- und Oktavformate) 38,9 43,3 43 0 20 41,2 46,6 Broschüren 0,8 0,6 2,3 6,25 0 11,6 3,2 Zeitschriften 3,8 1,4 0,7 6,25 1,1 4,4 4 Bildbände/ bibliophile Ausgaben 10,1 8,4 12 0 4,4 2,3 10,8 ‚populäre’ Reihen 7,1 3,4 3,7 0 2,2 8,7 8,3 Faszikel 1,9 0 0 18,75 0 1,8 0 Tabelle 2: Die Gattungen der ‚allgemeinen Literatur‘ („littérature générale“) in den Anzeigen der Bibliographie de la France (Stichprobenerhebung) Okt. 1913 Okt. 1937 Okt. 1938 Okt. 1939 April 1940 N = 219 N = 187 N = 205 N = 29 N = 83 Literatur, davon: 70 (32%) 47 (25%) 70 (34%) 9 (31%) 15 (18%) Roman 51 41 53 5 10 Poesie 10 0 5 0 0 Theater 2 1 0 0 2 Literatur (andere Gattungen) 7 5 12 4 3 Klassiker 5 (2,3%) 10 (5,3%) 8 (3,9%) 2 (6,9%) 8 (9,6%) Literaturgeschichte und -kritik 23 (10,5%) 8 (4,3%) 22 (10,7%) 1 (3,4%) 6 (7,2%) Reiseliteratur 14 (6,4%) 3 (1,6%) 9 (4,4%) 1 (3,4%) 5 (6%) Geschichte - Tagesgeschehen, davon: 70 (32%) 43 (23%) 50 (24%) 6 (21%) 32 (39%) Allgemeine Geschichte 36 14 19 3 10 Zeitgeschichte und aktuelles Tagesgesch. 15 27 28 3 22 Politik 19 2 3 0 0 (Fortsetzung: ) Okt. 1913 Okt. 1937 Okt. 1938 Okt. 1939 April 1940 Sozialwiss., gelehrte Literatur 6 (2,7%) 25 (13,4%) 28 (13,7%) 4 (13,8%) 7 (8,4%) Philosophie 3 (1,4%) 8 (4,3%) 3 (1,5%) 3 (10,3%) 4 (4,8%) Kunst 6 (2,7%) 3 (1,6%) 0 0 0 Religion 9 (4,2%) 29 (15,5%) 7 (3,4%) 0 4 (4,8%) Naturwissenschaften 7 (3,2%) 2 (1,1%) 1 (0,5%) 1 (3,4%) 0 Militärische Angelegenheiten 2 (0,9%) 1 (0,5%) 5 (2,4%) 0 1 (1,2%) Andere 4 (1,8%) 8 (4,3%) 2 (1%) 2 (6,9%) 1 (1,2%) Echos der Krise in Literatur, Publizistik und Wissenschaft Frank Estelmann Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption: Von der Publizistik zur Romanliteratur des Exils Die zwischen dem Münchener Abkommen Ende September 1938 und dem Kriegsbeginn knapp ein Jahr später liegende Periode kann nicht durch die bloße Aneinanderreihung außen- und innenpolitischer Daten erfaßt werden. In ihr werden Kämpfe ausgetragen, die auf besondere, ebenso vorausdeutende wie erprobte und ebenso individuelle wie kollektive Aktivismus- und Trägheitsmuster verweisen: Programme, Koalitionen, Strategien, Obsessionen, Utopien, Wahrnehmungsmuster und auch Formen der Zeitbetrachtung und der literarischen Praxis, denen im Zusammenhang des deutsch-französischen Literaturverhältnisses in der unmittelbaren Vorkriegszeit dieser Beitrag gewidmet ist. Während in Frankreich die Verbindung zwischen der politischen Geschichte und der Intellektuellengeschichte in dieser Periode schon länger Interesse geweckt hat und speziell ‚München’ und seinen Folgen besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht worden ist, 1 steht die deutschsprachige Exilforschung in diesem Bereich noch am Anfang. Dort ist die ‚Scharnierperiode’ zwischen Krise und Krieg zwar behandelt und im historischen Zusammenhang der Jahre 1933 bis 1945 zur Geltung gebracht worden, selten wurden dabei aber intellektuellengeschichtliche Aspekte berücksichtigt - mit wenigen Ausnahmen wie den Studien von Albrecht Betz 2 oder Boris Schilmar. 3 Komparatistische und interkulturelle Fragestellungen haben bislang kaum eine Rolle gespielt, was auch für die Formen gilt, in denen auf die Zeitgeschichte publizistisch reagiert wurde und die in die Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung einwirkten, wie der offene Brief, der Leitartikel beispielsweise in der Exilpresse, der autobiographische oder zeitge- 1 Vgl. Jean-François Sirinelli: Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XX e siècle [ 1990 ] , Paris: Gallimard 1996, S. 182-214; Michel Winock: ‚Esprit’. Des intellectuels dans la cité (1930-1950) [ 1975 ] , Paris: Seuil 1996, S. 177-204; ders.: Le siècle des intellectuels, nouv. éd., Paris: Seuil 1999, S. 390-426; Jean-Pierre Azéma/ François Bédarida (Hg.): La France des années noires. 1. De la défaite à Vichy [1993], éd. nouv., Paris: Seuil 2000, S. 15- 40; Jean-Pierre Azéma: „Munich“, in: ders./ François Bédarida (Hg.): 1938-1948: Les années de tourmente. De Munich à Prague. Dictionnaire critique, Paris: Flammarion 1995, S. 855-864. 2 Vgl. Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München: Edition Text + Kritik 1986. 3 Boris Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil: 1933-1945, München: Oldenbourg 2004. Frank Estelmann 160 schichtliche Essay und auch der Roman oder andere im engen Sinne literarische Genres. 1 Die Rezeption ‚Münchens’ in der deutschsprachigen Exilpublizistik (Heinrich Mann und Thomas Mann) Zu den einheitsstiftenden Merkmalen in den Reaktionen deutschsprachiger Emigranten auf das Münchener Abkommen gehört die Rede vom ‚Schock Münchens’ und dem ‚Verrat’ der westlichen Demokratien an der Tschechoslowakei, die nur in wenigen publizistisch verwerteten Texten der Vorkriegsmonate fehlt, sofern sie die Zeitgeschichte zum Gegenstand haben. Die meisten Exilanten - in Frankreich und anderswo - lehnten die mit der Überschrift der Nichtinterventionspolitik versehene diplomatische Position der Regierungen Englands und Frankreichs gegenüber Nazideutschland grundsätzlich ab. Entsprechend schnell ist das Credo der Exilpublizistik resümiert: Mit Hitler darf und kann man nicht ohne verheerende Folgen für die Demokratien über die Zukunft Europas verhandeln. 4 Exemplarisch für diese Haltung sind zwei ähnliche Stellungnahmen, die Thomas Mann und Heinrich Mann im Oktober 1938 noch im Eindruck der Ereignisse und unter dem gleichen Titel verfaßten und publizierten: „This Peace“ bzw. „Dieser Friede“ 5 von Thomas Mann, der als Einleitung des in jenem Monat erschienenen Essaybands Achtung, Europa! konzipiert ist, und der zuerst in der Toulouser Zeitung La Dépêche publizierte Beitrag „Cette paix“ 6 von Heinrich Mann. Beide Autoren, die für das ‚andere Deutschland’ die Stimme erhoben, bekundeten mit ihren gegen die Appeasementpolitik gerichteten Texten ihre Sympathie für die Tschechoslowakei, die ihnen 1936 die Staatsbürgerschaft verliehen hatte. 7 Beide kamen zu dem gleichen Schluß, daß nämlich der in München ausgehandelte Friede keiner war, vielmehr ein beschämender Akt der Mutlosigkeit und ein aufgeschobener Krieg, eine „Untat aus entsittlichter und lügenhaft-überflüssiger Friedens- 4 Vgl. dazu die Beiträge von Albrecht Betz und Wolfgang Schopf im vorliegenden Band, und auch: Ingrid Lederer: „Munich et le pacte germano-soviétique dans la presse des émigrés“, in: Gilbert Badia u. a.: Les barbelés de l’exil. Études sur l’émigration allemande et autrichienne (1938-1940), Grenoble: Presses universitaires de Grenoble 1979, S. 97-136. 5 Vgl. Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks. Ein Vorwort“, in: ders.: Essays, Bd. 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 11-27. Hierbei handelt es sich um einen Nachdruck von „This Peace“ bzw. „Dieser Friede“, den ‚München’-Kommentar Thomas Manns, der - im Oktober 1938 in Princeton verfaßt - zuerst im November 1938 in einer Buchausgabe in englischer und deutscher Sprache erschien. 6 Heinrich Mann: „München“ (Erstdruck unter dem Titel „Cette paix“ in: La Dépêche [Toulouse], 14.10.1938), in: ders.: Mut. Essays, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 55-59. Der Essayband Mut erschien Anfang 1939 bei den Éditions du 10 Mai. 7 Vgl. dazu zuletzt Hans Bach: „Nachwort“, in: Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, Frankfurt am Main: S. Fischer 2005, S. 334-364. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 161 liebe“ 8 , so Thomas Mann. Solche Aussagen implizieren schon, daß die persönlichen Beziehungen beider Autoren zur Tschechoslowakei und zu ihrem Präsidenten Benesch keine hinreichende Erklärung für ihre Einschätzung der allgemeinen politischen Situation nach ‚München’ geben können. Für die Beantwortung der Frage, warum in ihrer Sicht die Sudetenfrage eine „europäische Krise“ 9 großen Ausmaßes auslöste, muß weiter ausgeholt werden und dabei ein Blick auf die genannten und die ungenannten Voraussetzungen geworfen werden, unter denen deutschsprachige Emigranten ihren politischen Kampf gegen Hitler in der unmittelbaren Vorkriegszeit führten. Zu diesen Voraussetzungen gehört an erster Stelle ein in der Exilpresse kursierender Irrglaube: der Glaube an die Schwäche des Hitlerregimes, der schon in Hermann Budzislawskis meinungsbildendem Leitartikel „München und die Folgen“ in Die Neue Weltbühne von Anfang Oktober 1938 anzutreffen war, in dem die Verhandlungssituation in München folgendermaßen charakterisiert wurde: „Die Kräfte waren ungleich verteilt, Hitler musste scheitern.“ 10 Im Anschluß an diese Äußerung Budzislawskis war auch für Heinrich Mann und Thomas Mann in München eine gute Gelegenheit vertan worden, Hitler in die Schranken zu weisen. Ersterer merkte in seinem genannten Artikel zum wiederholten Male über Hitlers Regime an: „In Wirklichkeit steht es um seine Stärke nicht weniger fragwürdig als um seine Vernunft, und nur durch allgemeine Übereinkunft erscheint es stark.“ 11 Thomas Mann behauptete erneut: „Hitler wurde nicht erlaubt, den Fascismus zu ruinieren: ohne ‚Gewalt’ erhielt er alles, wofür Gewalt anzuwenden sein Untergang gewesen wäre.“ 12 Beide Autoren unterstellten, Hitler habe in ‚München’ aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln müssen - „[z]ehn kriegsstarke Regimenter, die wirklich schießen, hätten ein giftiges, aber feiges Reptil in sein Loch zurückgejagt“ 13 , hatte Heinrich Mann schon im April 1938 behauptet -, wobei gar nicht erst in den Blick kam, daß Hitler mit dem ‚Anschluß’ Österreichs und der Münchener Konferenz „eine stürmisch wachsende, schließlich enthusiastische Zustimmung aus der deutschen Ge- 8 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 11. 9 Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main: S. Fischer 1980, S. 285 (Eintrag vom 14.9.1938): „Die europäische Krise, die in Deutschland als rein deutsch-tschechisch hingestellt wird“ etc. 10 Hermann Budzislawski: „München und die Folgen“, in: Die neue Weltbühne 40 (6. Oktober 1938), S. 1241-1250. 11 Heinrich Mann: „München“, Anm. 6, S. 58. 12 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 24. Schon zuvor hatte er Hitler in „Bruder Hitler“ als „Erpressungspazifisten“ bezeichnet, „dessen Rolle am ersten Tage eines wirklichen Krieges ausgespielt wäre“. Thomas Mann: Achtung, Europa! Essays 1933-1938, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 305-312, hier S. 311. Entsprechend hatte er am 19. September 1938 auch in seinem Tagebuch notiert: „Es ist eine unfaßliche Geschlagenheit der Gehirne. Man will den Krieg nicht - er würde nicht kommen, wenn man Hitler die Stirn böte. Er könnte ihn nicht führen, es wäre sein Ende“. Thomas Mann: Tagebücher, Anm. 9, S. 289-290. 13 Heinrich Mann: „Mut“ (Erstdruck in: Deutsches Volksecho, New York, 9. April 1938), in: ders.: Mut. Essays, Anm. 6, S. 32-34, hier S. 34. Frank Estelmann 162 sellschaft“ erfuhr und seine innenwie außenpolitische Macht gerade mit ‚München’ ihren Gipfelpunkt erreichte. 14 Bei beiden Autoren wird nun die Fehleinschätzung der Situation innerhalb Deutschlands noch durch pessimistisch verformte außenpolitische Erklärungsmuster für die Appeasementpolitik der Demokratien ‚gestützt’. So betonte Heinrich Mann nicht nur, diese Politik sei eine „Folge fortwährender, unverdienter Zugeständnisse“ an Hitler, er führte das Münchener Abkommen zudem auf das Bedürfnis der Nachahmung Hitlers zurück: „München entspringt der Sehnsucht, zu sein wie er [= Hitler - F.E.].“ 15 Thomas Mann wiederum ließ sich von der Forderung von Budzislawskis bereits angeführtem Leitartikel dazu verleiten, die „neue Situation illusionslos zu betrachten“ und als „Verschiebung der Kräfteverhältnisse“ zwischen dem ‚Reich’ und den Demokratien zu deuten, 16 wenn er in „Dieser Friede“ ‚München’ als eine großes Unheil ankündigende Allianz zwischen dem Faschismus und den Demokratien begriff: Das Geschehen […] hat zuviel innere Folgerichtigkeit, es wurzelt zu tief in einem halb unbewußten, aber entschlossenen - unserer Überzeugung nach unglücklichen und verderblichen - europäischen Gesamtwillen, dessen klassisch-hypokritische Funktionäre die englischen Staatsmänner waren, als daß man es nicht für europäisch-konstituierend halten müßte auf Jahrzehnte hinaus. 17 England und Frankreich hätten, so Thomas Mann, mit dem Münchener Abkommen bloß den allerorts herrschenden „bolschewistische[n] cauchemar, die Angst vor dem Sozialismus und vor Rußland“ bekämpft und damit dafür gesorgt, daß sich Hitlers Machtergreifung von 1933 „nach knapp sechs Jahren in kontinentalem Maßstab wiederholt“ 18 . Gewiß konnte der Publizist Thomas Mann Ende 1938 nicht wissen, daß es zu einer solchen Wendung der europäischen Geschichte, die er vorschnell als „Fascisierung des Kontinents“ 19 ausmalte, nicht kommen sollte. Knapp ein Jahr später erklärten die Demokratien Frankreich und Großbritannien Nazideutschland den Krieg und stellten damit rückwirkend unter Beweis, daß es, obwohl Emmanuel Mounier im Dezember 1938 von einer „situation 14 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München: C. H. Beck 2. Aufl. 2003, S. 675 (auch S. 843-846). 15 Heinrich Mann: „München“, Anm. 6, S. 55 und S. 58. 16 Budzislawski: „München und die Folgen“, Anm. 10, S. 1241. Im Zusammenhang lautet das Zitat: „Dass der Klügere nachgibt, ereignet sich schon im bürgerlichen Alltag meist nur bei den Nebenfragen unseres Lebens, nicht aber dann, wenn es um die Grundlagen der Existenz geht. Dass jedoch der Stärkere nachgibt, behauptet nicht einmal das Sprichwort. Da dies gegen alle Regel dennoch geschehen ist, haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben, und es ist unsere Aufgabe, die neue Situation illusionslos zu betrachten“. 17 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 11. 18 Ebd., S. 18 und S. 21. 19 Ebd., S. 16 und S. 26. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 163 préfasciste“ 20 sprach, zu keiner Faschisierung des Landes gekommen war. Schon unter den Prämissen der Vorkriegsmonate besaßen Reaktionen auf ‚München’ wie die von Heinrich Mann oder Thomas Mann jedoch einen von vornherein nur eingeschränkten diagnostischen Wert. Sicherlich zeichnete sich aus der Sicht der bürgerlichen Emigranten mit ‚München’ eine bedenkliche Beziehung von Faschismus und bürgerlicher Lebensform ab, die sie selbst 1933 noch für unmöglich gehalten hatten und als deren Konsequenz auf europäischer Ebene ihnen die Appeasementpolitik erschien. 21 Unstreitig ist auch, daß sich der desillusionierte Gestus ihrer Stellungnahmen aus dem Bewußtsein realen Scheiterns erläutern läßt - die Sudetenkrise fiel mit dem Mißlingen auch der letzten Bemühungen Heinrich Manns um ein Wiederaufleben der Volksfront zusammen. Der Vorwurf, die exildeutschen Antworten auf das Verhandlungsergebnis in München negierten die geschichtliche Faktizität, wäre daher überzogen. Dennoch wurden die Gründe für die eigene Wirkungslosigkeit auf eine dermaßen polemische Art und Weise bei den westlichen Demokratien gesucht, daß dabei die Analyse der den antifaschistischen Kräften gemeinsam zur Verfügung stehenden Optionen Schaden nehmen mußte. Selbst angesichts des Verlusts der Tschechoslowakei, in einer Zeit des drohenden Verlusts Spaniens und noch im Eindruck des ‚Anschlusses’ Österreichs behaupteten die Exilanten, London und Paris hätten die Gefährlichkeit Hitlers und des Faschismus für den Weltfrieden, auf die sie jahrelang hingewiesen hatten, nicht verstanden. Dies war eine agitatorische, keine analytische Position. Entsprechend reihten sich nach ‚München’ effektvoll hyperbolisch formulierte Selbstporträts entmutigter Emigranten aneinander. Thomas Manns „Dieser Friede“ ist geprägt von der „Marter“ der Erkenntnis, „daß wir, die Deutschen der inneren und äußeren Emigration, Europa, zu dem wir uns bekannt hatten und das wir moralisch hinter uns zu haben glaubten, in Wirklichkeit nicht hinter uns hatten“ 22 . Viele Exilanten - etwa jene Autoren, die Louis Aragon in seinem Editorial zur Sonderausgabe der Zeitschrift Commune zum deutschen Humanismus als „l’espoir et l’hymne de l’avenir“ 23 bezeichnete, wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger oder Bertolt Brecht - gaben sich zwischen Herbst 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Autoren zu erkennen, die jahrelang ‚in den Sand’ geschrieben zu haben glaubten. Feuchtwanger hatte seit längerem aus einer kommunistischen Haltung heraus die „drückende[n] Atmosphäre einer verfälschten Demokratie und eines heuchlerischen Humanismus“ angeklagt und öffentlich bedauert, daß man es in der „Klarheit und Entschiedenheit“ vermissen lassenden „westlichen Zivilisation“ nicht 20 Emmanuel Mounier: „Les deux sources du préfascisme“, in: Europe (décembre 1938), S. 322-326, hier S. 323. 21 Vgl. dazu Thomas Koebner: Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, München: Edition Text + Kritik 1992, besonders S. 214. 22 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 14. 23 Louis Aragon: „Reconnaissance à l’Allemagne“, in: Commune (février 1939), S. 142-150, hier S. 149. [Dt.: Hoffnung und Hymne der Zukunft]. Frank Estelmann 164 mehr wage, „sich gegen den andrängenden Barbarismus mit der Faust zu wehren oder auch nur mit starken Worten“ 24 . „Wenn heute ein Shakespeare käme oder ein Dante und die glühendsten Verse über die Barbarei der Nazis schriebe“, bemerkt entsprechend Sepp Trautwein, einer der ohnmächtigen Helden des im Juli 1939 in Südfrankreich abgeschlossenen Romans Exil von Feuchtwanger, „wenn ein Swift oder Voltaire seinen bittersten Hohn über ihren Mangel an Urteil und Geschmack ausgösse, wenn ein Beaumarchais oder Victor Hugo die schwungvollsten Aufsätze darüber schriebe, es würde nichts ändern“ 25 . Bertolt Brecht wiederum zeigte in seinen Svendborger Gedichten einen Verbannten, dessen vernichtete Dichtung dem Vergessen anheim zu fallen droht, 26 während Joseph Roth in Paris verbittert notierte: „Ich weiß, daß ich in der Wüste schreibe - und daß wir alle in die Wüste rufen! …“ 27 Um einen weiteren an der Seine weilenden Intellektuellen zu erwähnen: Auch der Germanist Hans Mayer merkte in seiner Korrespondenz mit Max Horkheimer „unsere entsetzliche Ohnmacht gegenüber all den dummen Illusionen“ an, „all den Fehlern und Irrtümern, die wir nun schon so lange denunzieren, ohne daß man auf uns hört“ 28 . Dabei wies das Selbstporträt als ‚Kassandra’, als nicht erhörte Warnerin - „[w]ir sind da, um zu warnen; […]“ 29 heißt es beipielsweise im Vorwort von Heinrich Manns im Februar 1939 publizierter Essaysammlung Mut -, Züge einer sich gegen die offen drohende Niederlage immunisierenden Verteidigungshaltung auf, die in der Vorkriegszeit zu den wenigen noch verbleibenden Aktivitätsmustern der deutschsprachigen Emigranten gehörte. Die unausgewogene und auf realitätsfernen Prämissen beruhende Kritik ‚Münchens’ und die sich gegen das reale Scheitern immunisierende kollektive Selbstdarstellung als Wächter über das europäische humanistische Erbe können ineinandergeblendet werden. 24 Diese Passage aus Feuchtwangers Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde (1937) wird zitiert und erläutert in: Betz: Exil und Engagement, Anm. 2, S. 132-134. Zum Verhältnis Feuchtwangers zur Appeasementpolitik und zur Frage, inwiefern dieses Verhältnis einen Schlüssel für sein Verhältnis zur Sowjetunion bereitstellte, vgl. Karl Kröhnke: Lion Feuchtwanger - Der Ästhet in der Sowjetunion. Ein Buch nicht nur für seine Freunde, Stuttgart: Metzler 1991, S. 162-218. 25 Lion Feuchtwanger: Exil. Roman [1940], Berlin: Aufbau 2002, S. 36. 26 Vgl. Bertolt Brecht: „Besuch bei den verbannten Dichtern“, in: ders.: Werke, Bd. 12: Gedichte 2 (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a.), Berlin und Weimar/ Frankfurt am Main: Aufbau/ Suhrkamp 1988, S. 35. 27 Joseph Roth: „Das Unsagbare“ (Manuskript von 1938), in: ders.: Die Filiale der Hölle auf Erden. Schriften aus der Emigration, hg. von Helmut Peschina, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, S. 154. Vgl. dazu auch den vorliegenden Beitrag von Brita Eckert. 28 Hans Mayer an Max Horkheimer (Paris, 28.10.1938), in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 16: Briefwechsel 1937-1940, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 502-503. 29 Heinrich Mann: „Mut! “ (Erstdruck unter dem Titel „Unser Wort“ in: Deutsche Volks- Zeitung. Paris-Prag-Kopenhagen, 19. Februar 1939), in: ders.: Mut. Essays, Anm. 6, S. 11- 13, hier S. 12. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 165 Diesem europäischen Erbe setzte Heinrich Mann in seiner um das Leben des französischen Königs Henri IV entworfenen Romanfolge, deren zweiten und letzten Band er im August 1938 abschloss und im November 1938 publizierte, ein literarisches Denkmal mit utopischem Appellcharakter. Es rief den militanten Humanisten der Renaissance als historisches Vorbild des Kampfes gegen die fanatischen Glaubenskrieger und Dunkelmänner aller Epochen an. In der romanesken Rekonstruktion des späten 16. Jahrhunderts war der europäisch gesinnte, wirklich friedensstiftende und aufrichtig dem Toleranzgedanken verpflichtete ‚Große Plan’ 30 eines Völkerbundes enthalten und gegen die bedrohliche Gegenwart des Faschismus formuliert worden. 31 Nun ist oft betont worden, daß die Heranziehung eines solchen historischen Vergleichs speziell in diesem historischen Roman zum Verständnis der Gegenwart hilfreich war. 32 Der mit aktueller Absicht in den Henri IV-Romanen vorgebrachte Europagedanke ist dennoch zu hinterfragen, nicht nur, weil er mit den publizistischen Positionen des Autors gegen ‚München’ korrespondierte, die auch im erst vor einigen Jahren editierten Essay Zur Zeit Winston Churchills zu finden sind, in dem es beispielsweise heißt: Nur der Begriff des zusammenhängenden Erdteils hat die Wirklichkeit für sich. Die Nichteinmischung aber gilt nicht. 33 Auch muß reflektiert werden, warum die Frage danach, welcher für Europa Handelnde in der Zeit um ‚München’, also nach dem realen Scheitern des Völkerbundes der Zwischenkriegszeit, überhaupt ‚Wirklichkeit’ beanspruchen konnte, nicht gestellt wird. Boris Schilmar hat jüngst betont, daß der Europagedanke zwar einer langen Denktradition der Europe pensée entsprach, aber 1938 über keine politische Alternative mehr zur Europe vécue des Faschismus verfügte und keine institutionelle Absicherung außerhalb der in ‚München’ verhandelnden Nationen mehr besaß. 34 Dieses Dilemma zu verhindern, sollte konstitutiv für die Überlegungen zur kollektiven Sicherheit in der europäischen Neuordnung nach 1945 werden. 35 Die komplexe außenpolitische Situation im Herbst 1938, für die Frankreich und 30 Vgl. Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, hg. von Peter Paul Schneider, Frankfurt am Main: Fischer 2. Aufl. 2002, S. 811-936 (letzter Romanteil). 31 Der zeitgeschichtliche Subtext der beiden Romane und ihr ‚Volksfrontcharakter’ ist traditionell Bestandteil der Exilliteraturforschung. Vgl. beispielsweise Wolf Jöckel: Heinrich Manns ‚Henri Quatre’ als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Worms: Georg Heintz 1977. 32 Vgl. z.B. Manfred Hahn: „Heinrich Manns Henri Quatre: Antifaschistische Romankunst im französischen Exil“, in: Dieter Schiller u.a.: Exil in Frankreich, Leipzig: Reclam 1981 (Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945; Bd. 7), S. 464-510, oder Hans- Albert Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Deutsche Literatur im Exil 1933-1945, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer/ Athenäum 1974, S. 214-245. 33 Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, Frankfurt am Main: S. Fischer 2005, S. 221 (geschrieben von März bis Mai 1941). 34 Vgl. Schilmar: Der Europadiskurs, Anm. 3, z.B. S. 1-5. 35 Ebd. Frank Estelmann 166 England allenfalls mitverantwortlich waren, blieb jedoch in der gegen die Politik der westlichen Demokratien gerichteten Reaktion Heinrich Manns auf die Münchener Ereignisse unberücksichtigt. Hatte aber nicht auch Henri IV ein Bündnis mit seinen Feinden, den Guise, schließen müssen, um seinen ‚Großen Plan’ in die Wirklichkeit umsetzen zu können? Warum sollte der deutsche Emigrant Daladier für etwas attackieren, was der Romancier dem französischen König zugestand? Ganz augenscheinlich unberücksichtigt blieb bei Heinrich Mann und auch bei Thomas Mann die fehlende technische und moralische Kriegsbereitschaft der englischen und französischen Bevölkerungen im Herbst 1938, von der sie über die Tagespresse unmittelbar Kenntnis hatten. Nicht nur die Spaltung der französischen Öffentlichkeit während der Sudetenkrise und die Rolle der rechten, für eine ‚Verständigung’ mit Nazideutschland plädierenden Opposition zur Regierung Daladiers, sondern auch die von den französischen Gewerkschaften betriebene Vorbereitung großer Streiks angesichts der Erhöhung der Arbeitszeit in der Militärindustrie seit August 1938 - Streiks, die Polizei und Militär im November 1938 dann zerschlugen -, hätte dies aber als einen der zentralen Momente der offiziellen Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler aufwerfen müssen. 36 Als sich im Laufe des Winters 1938/ 1939 mit der öffentlichen Meinung in Frankreich auch die französische Außenpolitik gegen die Politik des apaisement wendete, 37 war klar, daß die zudem noch unter dem Druck der sie bewußt hintergehenden Hitlerschen Außenpolitik stehende Außenpolitik Daladiers die Option einer Einmischung in militärischer Hinsicht gar nicht ausgeschlossen hatte, wie ihr unterstellt worden war. Im Gegenteil: Schon im September 1938 konnte nicht verborgen geblieben sein, daß die französische Regierung auch aufgrund ihres Wissens um die militärische Stärke Nazideutschlands auf Zeit spielte. Die ausschließlich mit der Entgegenstellung von egoistischer, kurzfristig orientierter Appeasementpolitik auf der einen und europäisch und historisch weitsichtig orientierter Einmischungspolitik auf der anderen Seite geführte publizistische Debatte der deutschsprachigen Exilanten gegen die Regierungen in London und Paris beruhte unter den Bedingungen der Wochen und Monate nach dem Münchener Abkommen auf naiven Prämissen. Dazu kommt, daß in den öffentlichen Stellungnahmen zu ‚München’ regelrechte Tabus formuliert wurden. Dazu gehört die Forderung, auf jede Verhandlung mit Hitler zu verzichten, wie sie beispielsweise Thomas Mann erhob: 36 Vgl. dazu die einschlägige Studie von Yvon Lacaze: L’opinion publique française et la crise de Munich, Bern: Peter Lang 1991. 37 Vgl. zum Meinungswandel in der französischen Öffentlichkeit den Beitrag Marie-Luise Reckers im vorliegenden Band. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 167 Die ‚Einmischung’ blieb aus. Wir sahen mit Staunen, daß man mit diesem Regime und seinem unsäglichen, meist offen kriminellen Personal verkehrte, als handele es sich um einen Staat wie einen anderen; […]. 38 Im Hintergrund der Tabuisierung des Verhandlungsweges steht die Diabolisierung Hitlers, die Alfred Kantorowicz - der wie Lion Feuchtwanger in den 1930ern lange Jahre im südfranzösischen Exil in Sanary-sur-Mer gelebt hatte - noch in seiner nach dem Krieg publizierten Autobiographie dazu brachte, in der Retrospektive den Münchener „Teufelspakt“ 39 anzuprangern. Hitler als Postfiguration des Mephistoteles und Chamberlain und Daladier als Nachahmer des Heinrich Faust? Leitbilder politischen Handelns waren aus dem faustischen Bild eines kosmischen Kampfes von Gott und Teufel, das Geschichte aus einer letztlich unauflösbaren Spannung zwischen Heil und Verderben verstehen muß, wohl nicht zu gewinnen. Dies gilt schon für Klaus Manns Mephisto (1936), einen Roman, der das Teufelscredo in Emigrantenkreisen etabliert hatte, und in dem die Machtübernahme der Nazis unter der Überschrift „Der Pakt mit dem Teufel“ geschildert wird. 40 In Mephisto herrscht gleichwohl noch die optimistische Aussicht auf den baldigen Zusammenbruch des Nationalsozialismus, 41 schließlich können sich weder die kollaborierenden Künstler wie Hendrik Höfgen (alias Gustaf Gründgens) noch die nazistischen Überzeugungstäter der ersten Stunde wie Hans Miklas oder der Bühnenportier Knurr auf lange Zeit mit den groteskbrutalen Aufführungen der Trias Hitler-Goebbels-Göring identifizieren, von der sie sich am Ende des Romans verraten fühlen. 42 Dagegen mußte in der entmutigenden zeitgeschichtlichen Situation des Jahres 1938, in der Walter Benjamin das Beben eines bereits „zusammenbrechenden Erdteils“ 43 konstatierte, deutlich werden, daß der kosmischen Metapher zufolge Rettung erst nach der Apokalypse kommen konnte, also auch nach der Verwirklichung des bereits am Ende von Mephisto entworfenen Schreckensszenarios von Hitlers Griff nach Österreich und der Tschechoslowakei. 44 So taugten der faustische Anachronismus und die damit in Verbindung stehende Diagnose einer Endzeit der Menschheit nicht als säkulares, gegen die Appeasementpolitik gerichtetes publizistisches Instrument. Auf die politische Handlungsebene übertragen, stützten sie angesichts ‚Münchens’ bloß die zu hinterfra- 38 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 15. 39 Alfred Kantorowicz: Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten, Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 17. 40 Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 225-267 (Kapitel 7), hier S. 225. 41 Vgl. dazu beispielsweise Elke Kerker: Weltbürgertum - Exil - Heimatlosigkeit. Die Entwicklung der politischen Dimension im Werk Klaus Manns von 1924-1936, Meisenheim am Glan: Anton Hain 1977, S. 117-151. 42 Vgl. Klaus Mann: Mephisto, Anm. 40, S. 289-293 und S. 321-322. 43 Walter Benjamin: An Theodor W. und Gretel Adorno (Brief vom 28.8.1938, Skovsbostrand), in: ders.: Gesammelte Briefe, Bd. 6: 1938-1940, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 156. 44 Vgl. Klaus Mann: Mephisto, Anm. 40, S. 367. Frank Estelmann 168 gende Behauptung, die Politik mit dem Bösen sei selbst bereits böse. So mußte in der Tat unklar bleiben, warum in aller Welt das Gute dem Bösen in ‚München’ in der Figur der westlichen Demokratien hätte einen Dienst erweisen wollen. Stehen blieb dann tatsächlich nur ein Katastrophendiskurs, der sowohl Hitler als Verderber Europas im Sinne eines reduktionistischen Intentionalismus eine geradezu fasziniert konstatierte Konsequenz unterstellte - „dieses Regime [hat] von allem Anfang an die Katastrophe in sich getragen“ heißt es bei Thomas Mann, der sich bald an die Arbeit am Doktor Faustus machen sollte 45 - als auch der in ‚München’ gipfelnden Appeasementpolitik eine ihrem Ziel der wenn auch temporären Friedenswahrung entgegengesetzte Intention. Während in Frankreich in den Vorkriegsmonaten laut über Bündnisfall und Präventivkrieg nachgedacht wurde, machten die Emigranten für die Außenpolitik Englands und Frankreichs den Antibolschewismus in den demokratischen Machtzentren verantwortlich. Allgemeine Zweifel an der Sudetenfrage als geeignetem Kriegsgrund gegen Nazideutschland blieben in den Debatten in der deutschsprachigen Exilpresse, einem „System von Minderheitenkommunikation“ 46 , außen vor. Sie wurden allenfalls privat geäußert, so wie in Max Horkheimers Korrespondenz, in der es u.a. heißt: „Der Schlachtruf für die Demokratie, mit dem die Länder gegen Deutschland ins Feld gezogen wären, erschien angesichts Deutschlands Forderung des Selbstbestimmungsrechts für die Sudetendeutschen jedenfalls nicht glücklich.“ 47 Demgegenüber sahen Emigranten wie Klaus Mann in der Minderheitenfrage nichts als ein Schlagwort der Propaganda Hitlers und eine „willkommene Rechtfertigung für den Angriff auf die Tschechoslowaki“ 48 . Horkheimer wiederum telegraphierte lakonisch am 12. September 1938 an den in Frankreich in einem Krankenhaus liegenden Erich Fromm, der wiederholt aus Europa angefragt hatte, wie unmittelbar die Kriegsgefahr sei: „Much time for real recovery.“ 49 Drei Wochen später bat er den Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Paris darum, ihm Bilder über den Aus- 45 Thomas Mann: „Die Höhe des Augenblicks“, Anm. 5, S. 23. Im Doktor Faustus spielt der Gedanke, daß die Nazis „eine ursprünglich biedere, rechtlich gesinnte, nur allzu gelehrige, nur allzu gern aus der Theorie lebende Menschenart in die Schule des Bösen nahmen! “ bekanntlich eine wichtige Rolle. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main: Fischer 34. Aufl. 2003, hier S. 635. Vgl. dazu u.a. Helmut Jendreiek: Thomas Mann. Der demokratische Roman, Düsseldorf: Bageln 1977, S. 442-463. 46 Sigrid Schneider: „Mit dem Wort als Waffe. Deutschsprachige Publizistik im Exil“, in: Edith Böhne/ Wolfgang Motzkau-Valeton (Hg.): Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945, Gerlingen: Lambert Schneider 1992, S. 97-124, hier S. 124. 47 Max Horkheimer: An Adolph Lowe (Brief vom 25.11.1938), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Anm. 28, S. 514. 48 Klaus Mann: „Das Reich und die deutschen Minderheiten“ (Ansprache vor dem Empire Club of Canada, Toronto, am 9.2.1939), in: ders.: Zweimal Deutschland. Aufsätze, Reden, Kritiken 1938-1942, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 59-70, hier S. 62. 49 Horkheimer: An Erich Fromm (12.9.1938), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Anm. 28, S. 481. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 169 gang des Münchener Abkommens glücklich weinender Menschen - „ein ästhetisches Phänomen ersten Ranges“ 50 - zuzusenden. Generell war Horkheimer sogar der Ansicht, daß sich mit dem Münchener Abkommen „nichts geändert“ habe: „‚In Deutschland nichts Neues’, müßten die Berichterstatter schreiben, wenn am Tage bloß fünfzig Juden erschlagen werden.“ 51 Diese Aussage fiel in die Zeit nach den Judenpogromen in Deutschland von Anfang November 1938, die in Frankreich deutlich wahrgenommen wurden und dort z.B. zum Gesinnungswandel von Simone de Beauvoir führten, die ursprünglich eine Befürworterin ‚Münchens’ war, aber angesichts des Naziterrors in Österreich und Böhmen, des Wissens um die Existenz des Lagers in Dachau und eben der ihr bekannten Augenzeugenberichte von der ‚Kristallnacht’ ihre Meinung im Verlaufe des Winters 1938/ 39 änderte. 52 2 Franz Werfels Reaktion auf ‚München’ in Ce Soir und die französischen Diskussionen Die genannten exildeutschen Reaktionen auf das Münchener Abkommen seien noch um eine weitere Stimme ergänzt, die gerade für die Literaturbeziehungen zwischen deutsch- und französischsprachigen Autoren in der behandelten Periode - und zweifellos auch zum Verständnis ihrer Krise - wichtig ist. Die von Louis Aragon geleitete kommunistische Tageszeitung Ce Soir veröffentlichte am Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens, also am 30. September 1938, den Artikel „Bohême, mon pays“ des aus Böhmen stammenden und sich nach dem ‚Anschluß’ seit Juni 1938 im Pariser Exil befindenden Franz Werfel. Der Artikel gibt sich als letzte Warnung vor den Konsequenzen der Nichtinterventionspolitik der demokratischen Westmächte gegenüber Nazideutschland zu erkennen. Er sieht in der Weltmachtpolitik Hitlers, wie sie sich in der Frage der Sudetendeutschen zeige, eine Gefahr für die großen europäischen Nationen wie Frankreich, deren historischer Sieg von 1918 bereits nur mehr Geschichte sei. Gelinge Hitler, der sich als Mensch der Vorsehung empfinde, nun auch noch mit der Duldung der die Vernunft verkörpernden und doch plötzlich erblindet wirkenden Demokratien der Griff nach der Tschechoslowakei, so Werfel, dann seien die Karten für die weitere Geschichte des Jahrhunderts unglücklich verteilt: „[…] les jeux du siècle seront faits: et, sans fondement réel, les puissants, les vainqueurs auront été réduits à l’impuissance par un impuissant.“ 53 Wie Heinrich Mann und Thomas Mann, die in kaum einer Sache seit 50 Horkheimer: An Hans Klaus Brill, Paris (13.10.1938), ebd., S. 501. 51 Horkheimer: An Adolph Lowe (25.11.1938), ebd., S. 514. 52 Vgl. dazu ihre Autobiographie: Simone de Beauvoir: La force de l’âge, Paris: Gallimard 1960, S. 406. Vgl. dazu den Beitrag von Jean-Pierre Martin im vorliegenden Band. 53 Franz Werfel: „Bohême, mon pays“, in: Ce Soir (30.9.1938), S. 6. [Dt.: <…> das Spiel wird aus sein für dieses Jahrhundert: und, ohne realen Grund, werden die Mächtigen, die Sieger, von einem Machtlosen zur Machtlosigkeit verurteilt worden sein]. Frank Estelmann 170 den Lübecker Tagen so ähnlich dachten wie in ihrer Ablehnung ‚Münchens’, unterstellte auch Werfel der Appeasementpolitik der Demokratien eine resignative Haltung, die das Schlimmste überhaupt erst produziere: einen stetig an Stärke gewinnenden Hitler. Vielleicht bleibe, so Werfel allerdings weiter, noch eine Gelegenheit, das Gegenteil zu bewirken: La raison humaine, incarnée par les démocraties, abdique devant un phénomène terrifiant, qui n’est invincible que de leur résignation. Ne convient-il point, alors, de considérer comme surhumaine une volonté qui frappe d’aveuglement et de faiblesse la raison humaine, pour que s’ouvre un âge où elle n’aura plus de place? Ou lui reste-t-il encore un seul instant, le dernier, pour fournir la preuve du contraire? 54 Am Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens mußte diese ‚letzte’ Gelegenheit, Hitler Einhalt zu gebieten, freilich bereits verwirkt sein. Werfel kommentierte ‚München’ auch als „Höhepunkt des Grauens und der Schmach! “ 55 und verfolgte die Anfang Oktober 1938 vollzogene Annexion des Sudetenlandes durch deutsche Truppen mit einer Reihe von Essays weiter, in denen er weiterhin die Souveränität der Tschechoslowakei betonte. Aus der Sicht der deutsch-französischen Beziehungen in Frankreich zeigt Werfels in Ce Soir veröffentlichter Artikel, dem ein von Paul Nizan 56 verfaßter und ebenfalls die Politik des Appeasement hinterfragender Leitartikel vorangeht, daß die deutschsprachigen Emigranten ihre öffentliche Opposition gegen die Regierungen in Paris und London in den ersten Monaten nach ‚München’ mit den geschlossen gegen die offizielle Linie der französischen Diplomatie eingestellten Kommunisten Frankreichs führten. 57 Freilich sprach auch Emmanuel Mounier in der Zeitschrift Esprit von einem schändlichen Frieden („paix ignominieuse“) und der Abdankung Frankreichs („démission de la France“), 58 und Julien Benda diagnostizierte in der Novemberausgabe 1938 der Nouvelle Revue française einen in Frankreich herr- 54 Ebd. [Dt.: Die menschliche Vernunft, die in den Demokratien verkörpert ist, dankt angesichts eines schauerlichen Phänomens ab, das nur aufgrund der eigenen Resignation unbesiegbar ist. Wäre es dann nicht angemessen, einen Willen als übermenschlich zu bezeichnen, dem es gelingt, die menschliche Vernunft mit Blindheit zu schlagen und in die Ohnmacht zu treiben, und der damit ein Zeitalter eröffnet, in der diese Vernunft keinen Platz mehr hat? Oder bleibt ihr noch eine einzige Möglichkeit, die letzte, um den Beweis des Gegenteils anzutreten? ]. 55 Zitiert nach Peter Stefan Jungk: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt am Main: S. Fischer 1987, S. 258. 56 Vgl. zu Nizan und der Chronique de septembre den nachfolgenden Beitrag von Martine Boyer-Weinmann. 57 Vgl. Jean-Pierre Azéma: „La France de Daladier“, in: Azéma/ Bédarida (Hg.): La France des années noires, Anm. 1, S. 15-39, hier S. 19. 58 Emmanuel Mounier: „Lendemains d’une trahison“, in: Esprit 73 (octobre 1938), S. 1-15, hier S. 3 und S. 5. Vgl. dazu Winock: ‚Esprit’, Anm. 1. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 171 schenden Friedensfetischismus („fétichisme de la paix“), 59 der es jedem Lager schwer mache, das nicht vor Hitler kapitulieren wolle. Auch weitere nicht-kommunistische Autoren waren als ‚München’-kritische Publizisten bekannt, z.B. der Romancier Georges Duhamel, der in ‚München’ ein ‚diplomatisches Sedan’ („Sedan diplomatique“) und einen aufgeschobenen Krieg sah, 60 und der meinte, Hitlers brutale Gewalt habe sich der zögernden Schwäche („faiblesse hésitante“) der Demokratien in einem ‚weißen Krieg’ („guerre blanche“), also ohne Waffengewalt, bemächtigt. 61 Auch Henry de Montherlant rief in seinen im November 1938 unter dem Titel Équinoxe de septembre publizierten Tagebuchnotizen des Monats September die friedliebenden Landsleute dazu auf, nicht wie Chamberlain („notre Marx Brother de la paix“ 62 ) vom Frieden zu sprechen, sondern ihn Hitler aufzuzwingen: Il ne s’agit pas de proclamer qu’on aime la paix. Il s’agit d’être assez fort pour imposer la paix à ceux qui veulent la guerre. 63 Zu den nicht-kommunistischen Gegnern ‚Münchens’ gehörte auch Georges Bernanos, der Renegat der französischen Rechten, der in dem im brasilianischen Exil verfaßten und Anfang 1939 publizierten Essayband Scandale de la vérité den „diktat de Munich“ als eine makabre Farce („farce macabre“) bezeichnete, gegen die sich das von deutschen Voyous im Wald vergewaltigte schlafende Frankreich nicht gewehrt habe. 64 Tonangebend unter den französischen anti-munichois waren jedoch kommunistische Publizisten wie Louis Aragon oder Paul Nizan, beide prominente Mitglieder des PCF, die die offizielle Linie ihrer Partei, die als einzige geschlossen gegen ‚München’ gestimmt hatte, hinter sich wußten. Aragon kritisierte in seinem regelmäßig in Ce Soir publizierten Feuilleton „Un jour du monde“ eindeutig den in seinen Augen zu teuer erkauften Münchener Frieden, der mehr einem Krieg gleiche: „Une paix ne s’achète pas à n’importe quel prix: et craignons d’apprendre que le prix déjà exorbitant que nous la faisons payer à la Tchécoslovaquie ne soit pas le prix véritable.“ 65 Im 59 Julien Benda: „Les démocraties bourgeoises devant l’Allemagne“, in: NRF 302 (November 1938), S. 761-771, hier S. 768n. Der Artikel ist eine Stellungnahme zum Münchener Abkommen. 60 Vgl. Georges Duhamel: Mémorial de la Guerre blanche, 1938, Paris: Mercure de France 3. Aufl. 1939, S. 58. 61 Ebd., S. 60. 62 Ebd., S. 99. [Dt.: unser Marx-Brother des Friedens]. 63 Henry de Montherlant: „L’Équinoxe de septembre (septembre 1938)“, in: ders.: L’Équinoxe de septembre suivi de Le Solstice de juin et de Mémoire (texte inédit), Paris: Gallimard 1976, S. 58-110, hier S. 80. [Dt.: Es geht nicht darum zu erklären, daß man den Frieden liebt. Es geht darum, ausreichend stark zu sein, um den Frieden denjenigen aufzuzwingen, die den Krieg wollen]. 64 Georges Bernanos: Scandale de la vérité, in: ders.: Essais et écrits de combat, Bd. 1, éd. par Yves Bridel, Jacques Chabot et Joseph Jurt, sous la direction de Michel Estève, Paris: Gallimard (Pléiade) 1971, S. 579-613, hier S. 610. 65 Louis Aragon: „Un jour du monde, le 29 septembre“, in: Ce Soir (1.10.1938), S. 2. [Dt.: Einen Frieden kauft man nicht für jeden Preis: und wir müssen wohl leider noch lernen, Frank Estelmann 172 November 1938 legte er nach: ‚München’ habe „la ‚Grande Illusion’ d’une paix“ geweckt, „chaque jour plus précaire, chaque jour plus douteuse, chaque jour plus armée“ 66 . Im Laufe des Winters 1938/ 1939 radikalisierte er diese Einschätzung noch einmal, z.B. in seinem Leitartikel für die Februarausgabe der Zeitschrift Commune, in dem er offen nationalistisch zum Haß gegen Nazideutschland aufrief: „[…] il est nécessaire aux Français de se durcir, et de savoir même être injustes, et de haïr, pour être aptes à résister.“ 67 Auch das Beispiel von Maurice Thorez, dem Präsidenten des PCF, ist bedeutsam. Thorez hielt Anfang Oktober seine weithin bekannten Reden gegen „la nouvelle Sainte-Alliance“ der vier Großmächte und gegen „la honteuse capitulation de Munich [qui] constitue une victoire, lourde de conséquences, du fascisme international, de Hitler et de Mussolini, sur la volonté pacifique des peuples; sur les notions de justice et de liberté qui sont à la base des démocraties, et sur le mouvement ouvrier international.“ 68 Es kann also festgehalten werden, daß die Reaktionen auf ‚München’ von bürgerlichen Autoren wie Werfel, Heinrich Mann und Thomas Mann praktisch im gleichen Wortlaut erfolgten wie die des Präsidenten der französischen kommunistischen Partei, was ein wichtiges Indiz für die scharfe Bruchkante war, die im Verhältnis zwischen den Emigranten auf der einen Seite und den Regierungen der Aufnahmeländer auf der anderen Seite nach ‚München’ entstanden war. Ausschlaggebend für eine neuerliche Annäherung der Positionen war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt im August 1939. 69 Mit dem „Schakal im Kreml“ 70 , als den Heinrich Mann nun Stalin bezeichnete, hatte sich nun auch die Sowjetunion die ‚Schande’ der Nichtinterventionspolitik gegenüber Hitler zuschulden kommen lassen. So gewannen spätestens mit Kriegsbeginn die Demokratien als Partner des ‚anderen Deutschland’ wieder an Bedeutung, wobei sich im Verhältnis zu England schnell erwies, wie wenig definitiv der Bruch tatsächlich gewesen war. Heinrich Manns bereits angeführter Essay Zur Zeit von Winston Churchill unterstreicht sinnfällig, wie einer der schärfsten Kritiker der Appease- daß der bereits exorbitant hohe Preis, den wir die Tschechoslowakei zahlen lassen, noch nicht der eigentliche Preis ist]. 66 Louis Aragon: „Un jour du monde, le 9 novembre 1938“, in: Ce Soir (11.11.1938), S. 2. [Dt.: <…> die große Illusion eines Friedens, täglich prekärer, täglich zweifelhafter, täglicher bewaffneter]. 67 Vgl. Aragon: „Reconnaissance à l’Allemagne“, Anm. 23. [Dt.: Die Franzosen müssen lernen, Härte zu zeigen, sogar ungerecht zu sein und zu hassen, um Widerstand leisten zu können]. 68 Après la trahison de Munich. Rapport de Maurice Thorez. Secrétaire général du Parti communiste français à l’assemblée d’information du Vel’ d’Hiv’, le 7 octobre 1938, Paris: La Brochure Populaire (Mensuel) 22 (octobre 1938), S. 3. [Dt.: <gegen> die schandvolle Kapitulation von München, <die> ein Sieg mit schweren Folgen des internationalen Faschismus, Hitlers und Mussolinis, über den Friedenswillen der Völker ist, über die Begriffe von Gerechtigkeit und Freiheit, die die Basis des Demokratie sind, und über die internationale Arbeiterbewegung]. 69 Vgl. dazu erneut den Beitrag von Albrecht Betz im vorliegenden Band. 70 Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, Anm. 33, S. 119. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 173 mentpolitik auf pro-englischen Kurs einschwenkte, sobald sich die politischen Vorzeichen veränderten. Mit Churchill war all das, was über das England Chamberlains gesagt worden war, vergessen. Die Position Englands galt nun wieder als „moralisch ungebrochen“ 71 . Frankreich dagegen wurde auch nach Kriegseintritt nicht auf vergleichbare Weise rehabilitiert. 72 Im Fall der grande nation vertiefte die Internierung der deutschsprachigen Emigranten in französischen Lagern - und nicht erst nach dem Waffenstillstandsabkommen und unter Pétain - die in den ersten empörten Reaktionen auf die Pariser Nichtinterventionspolitik sichtbar gemachte Konfliktlinie noch weiter. Lion Feuchtwangers bereits im US-amerikanischen Exil publizierte Abrechnung mit Frankreich, Der Teufel in Frankreich, ist das wohl bekannteste Dokument eines zuerst über die Beschwichtigungspolitik enttäuschten frankophilen Intellektuellen, für den Frankreich mit der „dumme[n], ärgerliche[n] Komödie“ der „Internierung so vieler Leute, die sich einwandfrei als erbitterte Gegner der Nazis erwiesen hatten“, seinen moralischen Kredit verspielt hatte. 73 3 Von der Publizistik des Exils zur Romanliteratur der Vorkriegsmonate (Hans Habe, Lion Feuchtwanger und Franz Werfel) Die dargestellte, das Münchener Abkommen als Verrat anprangernde publizististische Position läßt sich in der im engeren Sinne literarischen Praxis deutschsprachiger Emigranten quasi unverändert wiederfinden. In diesem Zusammenhang ist ein Werk von Hans Habe, Zu spät? Ein Liebesroman mit politischem Hintergrund, besonders aufschlußreich. Nach Auskunft des Autors im Winter und Frühjahr 1939 verfaßt - „im Moment der tiefsten Erniedrigung Europas“ 74 - und im weiteren Verlauf des Jahres publiziert, beschreibt der dokumentarisch angelegte Liebesroman Habes vor dem Hintergrund der entscheidenden zwei Wochen im September 1938 „die tragische Verwirrung im Privatleben [der Romanfiguren] als unabwendbare Folge der steten Ungewissheit über Krieg und Frieden“ 75 . Habe (d.i. János Békessy) war Korrespondent des Prager Tagblatts beim Völkerbund gewesen und 1939 nach Frankreich emigriert. Nachdem er sich bei Kriegsbeginn freiwillig zur französischen Armee meldete, floh er schließlich aus einem französischen Internierungslager in die USA. Sein Roman, der reich an Schauplätzen und 71 Ebd., S. 20. 72 Vgl. Wulf Koepke: „Das Frankreichbild des Exils und die Niederlage von 1940“, in: Helmut F. Pfanner (Hg.): Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine literarische Antwort/ World War II and the Exiles. A Literary Response, Bonn: Bouvier 1991, S. 53-61. 73 Lion Feuchtwanger: Der Teufel in Frankreich, Tagebuch 1940, Briefe, Berlin: Aufbau 2. Aufl. 2005, S. 45. 74 Hans Habe: Zu spät? Ein Liebesroman mit politischem Hintergrund [1939], New York: Europa Verlag 1940, unpaginiertes Vorwort. 75 Ebd. Frank Estelmann 174 ebenso reich an sentimentaler und politischer Unordnung ist, endet zunächst im Selbstmord der zwischen dem nazitreuen Gatten und dem gewissenstreuen deutschen Ingenieur Anton von Römer hin- und hergerissenen Protagonistin Vera Hagenauer im Genfer See nahe Coppet, einem Sinnbild für die kosmopolitisch orientierte europäische Romantik, die ebenfalls unterzugehen droht. 76 Von Römer läuft danach zur französischen Armee über: „Ich weiß heute, wo der Feind steht“ 77 , meint er in einem kathartischen Moment, in dem er angesichts des Münchener Abkommens, an dessen Entstehung er beteiligt gewesen war, den Nazis den Krieg erklärt - endlich im Frieden mit sich selbst. Von diesem sicherlich plakativen Beispiel ausgehend, kann die Tendenz zum Zeitroman als eine charakteristische Entwicklung im von exildeutschen Autoren gestalteten literarischen Feld am Ende der 1930er Jahre hervorgehoben werden. Diese bereits seit längerem erprobte publizistische Waffe im Kampf gegen den Faschismus wurde nun, „in den Monaten, die wir uns gewöhnen müssen, die letzten Vorkriegsmonate zu nennen“ 78 , wie Habe schrieb, an die Bedürfnisse des publizistischen Kampfes gegen die Gegner der Emigranten angepaßt. Zu diesem Kampf bekannte sich auch der bereits angesprochene Roman Exil Lion Feuchtwangers, 79 von dem ein ins Französische übersetzter Ausschnitt im Februar als Vorabdruck in Commune erschienen war und der eine jener Streitschriften darstellt, mit denen die Emigranten ihren doppelten Kampf gegen den Nationalsozialismus und die demokratische Appeasementpolitik mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln führten. In zahlreiche Emigrantenschicksale gebrochen, die die „Ganzheit des Exils, seine innere Wahrheit“ veranschaulichen sollen, rahmt Exil die politische Aufgabe der Kunst mit desillusionierten Aussagen über den in der Exilpresse geführten Kampf gegen Nazideutschland ein. 80 Dabei ist die Einsicht in die Vergeblichkeit des eigenen Bemühens zunächst eine publizistische Waffe des ideologischen Feindes, etwa Erich Wieseners, des regimetreuen Paris-Korrespondenten der „Westdeutschen Zeitung“, der folgendes meint: Schreiben hat wirklich nur dann Sinn, wenn man ein Herr, das heißt, wenn man mit der Macht verbündet ist. Aber für die eingestürzte Demokratie, für das bankrotte Völkerrecht schreiben, wie die Heilbrunn und Trautwein es tun, das heißt in den Sand schreiben. 81 76 Vgl. Gisela Berglund: Deutsche Opposition gegen Hitler in Presse und Roman des Exils: eine Darstellung und ein Vergleich mit der historischen Wirklichkeit, Stockholm: Almqvist och Wiksell 1972, S. 232-239. 77 Habe: Zu spät? , Anm. 74, S. 626. 78 Ebd., unpaginiertes Vorwort. 79 Für dessen Entstehungsbedingungen vgl. z.B. Berglund: Deutsche Opposition, Anm. 76, S. 161-167. 80 Feuchtwanger: Exil. Roman, Anm. 25, S. 149. 81 Ebd., S. 115. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 175 Aber auch die Emigranten selbst bestätigen den Eindruck des eigenen Bankrotts, so wie der Gräzist Ringseis, der über die politisch Verantwortlichen der Appeasementpolitik anmerkt: „‚Man kann sich’, sagte er gelegentlich, ‚auch gegen anderes als gegen den Gesang von Sirenen Wachs in die Ohren stopfen.’“ 82 In der Entlarvung des ‚tauben’ Appeasementgeistes, der den Emigranten in den Aufnahmeländern entgegenprallte, läßt Feuchtwangers Werk sehr deutliche Bezüge auf die Debatten um ‚München’ erkennen. 83 Es dient explizit dazu, wie der Romancier in seinem kurz nach Kriegsausbruch verfaßten Nachwort anmerkte, den Nachgeborenen eine ihnen ansonsten unverständliche, von der Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler geprägte zeitgeschichtliche Situation am Ende der 1930er Jahre verständlich zu machen, die die Romanfigur Sepp Trautwein, so wie Feuchtwanger selbst es tat, als „scheußliche Übergangszeit“ und „jämmerliche[n] Wartesaal“ 84 bezeichnet: […] es wird diesen Späteren unverständlich sein, wie wir ein solches Leben so lange ertragen konnten, sie werden nicht begreifen, warum wir so lange zuwarteten, ehe wir die einzig vernünftige Schlussfolgerung zogen, die nämlich, der Herrschaft der Gewalt und des Widersinns unsererseits mittels Gewalt ein Ende zu setzen und an ihrer Statt eine vernünftige Ordnung herzustellen. 85 Zu den ‚München’-kritischen Zeitromanen, die sich als Prolepse auf die Katastrophe des ‚Untergangs einer Generation’ (Feuchtwanger) 86 darstellen, gehört auch Der veruntreute Himmel. Geschichte einer Magd von Franz Werfel. Darin wird die Geschichte von Teta Linek, einer alten und frommen Dienerin, erzählt, die nach dem ‚Anschluß’ Österreichs im März 1938 von der reichen und antifaschistischen Familie getrennt wird, die sie beschäftigt, und daraufhin eine Pilgerfahrt nach Rom unternimmt. Nachdem sie eine Audienz beim todkranken Papst Pius XI erhalten hat (der im Februar 1939 starb), stirbt sie dort arm in einem Krankenhaus. Der Schluß dieses erfolgreichen Romans, den Werfel im Mai und Juni 1939 verfaßte, enthält nicht nur eine der bekannten Apologien des Katholizismus Werfels, sondern auch eine schneidende Kritik an der Appeasementpolitik, die mit der zuvor dargelegten publizistischen Position des Autors übereinstimmt. So erklärt der junge Beichtvater von Teta, der nach dem ‚Anschluß’ nach Frankreich fliehen mußte, in einem Gespräch über Religion und Zeitgeschichte: 82 Ebd., S. 284. 83 Vgl. dazu z.B. Doris Rothmund: Lion Feuchtwanger und Frankreich: Exilerfahrung und deutsch-jüdisches Selbstverständnis, Frankfurt am Main u.a.: Lang 1990, S. 215-298. 84 Feuchtwanger: Exil. Roman, Anm. 25, S. 758. 85 Feuchtwanger: „Nachwort“ (Sanary/ Var, Oktober 1939), in: ebd., S. 851-855, hier S. 851. 86 Vgl. ebd., S. 596. Frank Estelmann 176 Ich sag’s noch einmal, sie [= die kosmische Verdummung des Menschen - F.E.] ist der absolute Urgrund all unseres Elends. Es gibt noch immer Narren, die meinen, man könne den Flecktyphus mit Aspirin heilen, weil es das Fieber heruntersetzt. 87 Diese einfache Feststellung beinhaltet in kondensierter Form die Botschaft des gegen den Geist des Appeasement in Frankreich kämpfenden Journalisten Werfel: Der Nationalsozialismus wird metaphorisch als Krankheit charakterisiert, die naive Menschen mit völlig unangemessenen und hinfälligen Mitteln heilen möchten. Die Vertreter der Appeasementpolitik, die dabei in den Sinn kommen, erscheinen als wahnsinnige Narren, die Aspirin gegen den Flecktyphus des Nationalsozialismus verabreichen - was das unter den französischen anti-munichois kursierende Porträt von Chamberlain variiert, wie es sich etwa bei Georges Duhamel findet, also das Porträt eines „parfait honnête homme qui a rencontré un tigre sur le chemin de la jungle et qui s’efforce de lui tenir un langage évangélique“ 88 . Von solchen Politikern, so lautet die Diagnose des Romanautors Werfel, wird die Welt ins Verderben geführt. Auch in diesem Fall ist der Zeitroman das literarische Sprachrohr einer zuvor publizistisch geäußerten politischen Position. 89 4 Klaus Manns Roman Der Vulkan: eine Abrechnung mit Appeasementgeist und Frankreich Ähnliches ist auch in Bezug auf Klaus Mann festzustellen. Auch er stellte seine Arbeit nachdrücklich in den Dienst des Kampfes gegen den Appeasementgeist, den auch er, wie sein Tagebuch des Septembers 1938 zeigt, im bereits von anderen Autoren bekannten desillusionierten Tonfall ablehnte. So evozierte er die ihn deprimierende „kalte Opferung“ der Tschechoslowakei, sprach den „chantage à la guerre“ Hitlers an, hinter dem „nichts“ stehe; auch er war der Überzeugung, daß die „großen Demokratien“ keine Angst mehr vor Hitler hätten, „sie haben Angst vor seinem Sturz“, und verwies dabei ebenso wie Thomas Mann auf den „‚Kreuzzug’ gegen Moskau“ als „letzte[n] Hintergedanke[n]“ der Appeasementpolitik. 90 Einige Zeit später, 87 Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd, Gütersloh: Bertelsmann 1959, S. 252-253. 88 Duhamel: Mémorial, Anm. 60, S. 119-120. [Dt.: <das Porträt eines> absolut aufrichtigen Mannes, der im Dschungel einem Tiger begegnet und ihn mit dem Evangelium in Schach halten will]. 89 Vgl. die anders gewichteten Interpretationen von Endre Kiss [‚…an einem fremden Tisch in einem fremden Land…’. Franz Werfels dreifacher Hiobsroman Der veruntreute Himmel, in: Karlheinz Auckenthaler (Hg.): Franz Werfel: Neue Aspekte seines Werkes, Szeged: Jate 1992, S. 153-160] und von Annette Schmollinger [‚Intra muros et extra’. Deutsche Literatur im Exil und in der Inneren Emigration. Ein exemplarischer Vergleich, Heidelberg: Winter 1999, S. 185-214]. 90 Klaus Mann: Tagebücher 1938 bis 1939, hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München: Edition Spangenberg 1990, S. 62-64 (Eintrag vom 22.9.1938), S. 64 (29.9.1938) sowie S. 65 (30.9.1938). Vgl. dazu neben den oben zitierten Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 177 als er bereits in die USA übergesiedelt war, beklagte er in seinem Tagebuch, wie „grauenhaft geschwind“ 91 alles ging. Neben solchen diaristischen Äußerungen machen auch Klaus Manns publizistische Antworten auf das, was er privat als „unheilvolle[n] Vierer-Konferenz in München“ 92 bezeichnete, deutlich, wie sehr er der Kommunikationsgemeinschaft des ‚anderen Deutschland’ in der Zeit um das Münchener Abkommen angehörte. Deren Debatten haben in seinem essayistischen und literarischen Spätwerk tiefe Spuren hinterlassen. Für Klaus Mann hatte André Gide unter den zeitgenössischen Literaten besonderes Gewicht. 93 1943 widmete Mann dem Vorbild eine literaturkritische Monographie, André Gide und die Krise des modernen Denkens, deren neuntes Kapitel, das unter dem Titel „Das Débâcle“ steht, in meinem Zusammenhang besondere Erwähnung verdient, da er darin u.a. versuchte, eine Erklärung für das Schweigen Gides während der Sudetenkrise des Jahres 1938 zu geben. Kurz zum Hintergrund: Gide war in seinem kurz darauf abgebrochenen Tagebuch in der Woche vor dem Abkommen in München komplett verstummt, um dann am 7. Oktober 1938, also eine Woche nach dem Abkommen, über sein ungewöhnlich langes Schweigen anzumerken, daß es nicht auf die Gleichgültigkeit gegenüber den zeitgeschichtlichen Ereignissen zurückzuführen sei - diese hätten ihn vielmehr intellektuell vollkommen in Anspruch genommen -, sondern darauf, daß seine wohl zu naive und optimistische private Überzeugung, der zufolge das Münchener Abkommen zunächst als die vernünftigste Lösung der Krise erschien, sogleich von einem Brief Jef Lasts erschüttert worden sei. 94 Nun reagierten die Aussagen Gides auf die Debatten über Sinn und Zweck der Appeasementpolitik, wie sie im Herbst 1938 in der französischen Öffentlichkeit geführt wurden. 95 Gides unmittelbare Reaktion des Schweigens in der Sudetenkrise, wie sie sein im Mai 1939 publiziertes Tagebuch zu erkennen gibt, war gleichwohl Ausdruck des ratlosen désengagement einer der zentralen Persönlichkeiten der französischen Intellektuellengeschichte der 1930er Jahre angesichts des unmittelbar drohenden Kriegs. Als einen solchen Rückzug aus der Öffentlichkeit verstand es jedenfalls Klaus Mann, der sich erinnerte, daß Gide noch 1937 die Ansicht geteilt hatte, die „Zivilisation“ sei vor Passagen aus Thomas Manns Schriften auch die oft gleichlautenden Einträge in: Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939, Anm. 9, besonders vom 29.9.1938 und 30.9.1938. 91 Klaus Mann: Tagebücher 1938 bis 1939, ebd., S. 91 (Eintrag vom 15.3.1939). 92 Ebd., S. 64 (Eintrag vom 29.9.1938). 93 Vgl. neben dem in Anm. 96 angeführten Gide-Essay von 1943 auch folgenden Artikel: Klaus Mann: „Die Wirkung Frankreichs“ (Erstdruck unter dem Titel „Influences françaises“ in: Cahiers du Sud, Marseille [November 1938]), in: ders.: Zweimal Deutschland, Anm. 48, S. 28-38. Vgl. Axel Plathe: Klaus Mann und André Gide: zur Wirkungsgeschichte französischer Literatur in Deutschland, Bonn: Bouvier 1987. 94 Vgl. André Gide: Journal, 1889-1939, Paris: Gallimard (Pléiade) 1951, S. 1322-1323. 95 Vgl. dazu Jean-Pierre Martins Beitrag im vorliegenden Band. Frank Estelmann 178 der sie bedrohenden „allgemeinen, unteilbaren, totalen Krise“ 96 unbedingt zu schützen. Gides Verhalten in den zwei Wochen um ‚München’ gab Klaus Mann doppelt zu denken: als individuelle Inkonsequenz Gides und als Indiz für das kollektive Versagen der Franzosen. Es warf einen Schatten auf das leuchtende, enthusiastische Bild, das er von der intellektuellen Biographie des Vorbilds ansonsten nachzeichnete: Und doch, es fällt einem zivilisierten Menschen schwer, ja, ist ihm fast unerträglich, die Notwendigkeit oder gar die Wünschbarkeit des bewaffneten Konflikts, des Massenmordes zuzugeben. War Gide ‚für’ den Krieg, in jenen tragischen Septembertagen des Jahres 1938? Ach, wohl kaum… 97 Weitere Anhaltspunkte dafür, daß die Debatten um ‚München’ das Spätwerk Klaus Manns prägten, finden sich in dem zusammen mit Erika Mann schon in Europa begonnenen und im April 1939 in den USA publizierten Essayband Escape to Life (der Autor war im Herbst 1938 nach Übersee emigriert) und in der 1942 veröffentlichten Autobiographie The Turning Point, also in jenen Schriften, die das antifaschistische Programm des ‚anderen Deutschland’ speziell einem US-amerikanischen Publikum unterbreiteten. 98 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der zwischen Februar und April 1939 verfaßte und wenige Wochen vor Kriegsbeginn in Amsterdam publizierte Roman Der Vulkan, der, da er seiner intentionalen Struktur nach gegen die in Europa herrschende „feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis“ 99 gerichtet ist, eine ‚Abrechnungsschrift’ mit Europa ist und dabei die in Exilkreisen in den Vorkriegsmonaten geführten Diskussionen um ‚München’ im Medium des Zeitromans fortschreibt. Balder Olden merkte in seiner Rezension von Der Vulkan in der Ausgabe von Die neue Weltbühne vom August 1939 an, es handele sich um ein Werk, das vor dem Hintergrund des „Krieg[s] in Spanien“ und der „März- und Septemberkrisen“ zeige, wie „die Karre Europa steil abwärts in’s Dunkel“ 96 Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens [1943], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 234. 97 Ebd., S. 245. 98 Vgl. dazu die folgende Aussage aus dem Epilog von Escape to Life: „Wir sind vielfach enttäuscht worden. Der Münchner ‚Friede’ vom September 1938 ist unvergleichlich ärger, als jener ‚Krieg’ es gewesen wäre, den Hitler und Mussolini niemals hätten führen können: der Tag seines Ausbruches wäre der Tag ihres Sturzes geworden. Gerade das wollten die ‚konservativen’ Herren in Paris und London vermeiden - vermeiden um jeden Preis.“ Klaus Mann: Escape to life. Deutsche Kultur im Exil, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2. Aufl. 2001, S. 392. Zum in den USA entstandenen Exilwerk Klaus Manns vgl. z.B. Shelley Frisch: „The Americanization of Klaus Mann“, in: Helmut F. Pfanner (Hg.): Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil - Exile across Cultures, Bonn: Bouvier 1986, S. 72-89, oder Uwe Naumann: „Mit den Waffen des Geistes: Klaus Mann im zweiten Weltkrieg“, in: Pfanner (Hg.): Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten, Anm. 72, S. 209-219. 99 Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten, hg. von Martin Gregor-Dellin, München: Edition Spangenberg 1991, S. 366. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 179 rattere. 100 Behandelt wird in der Tat die Frage, wie es trotz aller Warnungen der Antifaschisten zu der schon von Thomas Mann in „Dieser Friede“ vorhergesagten ‚Machtübernahme’ des Faschismus auf europäischer Ebene kommen konnte. Die vergangenen Jahre von 1933 bis in den eine Zäsur in der Erzählung markierenden Monat September 1938 werden Kapitel für Kapitel anhand einzelner einfühlsam erzählter Flüchtlingsschicksale wieder wachgerufen: besonders die Aktivitäten der internationalen Volksfront, die mit dem Verlust Österreichs, der sich abzeichnenden Niederlage der spanischen Republik und dem Verlust der Tschechoslowakei endeten. Die Niederlage der antifaschistischen Kämpfer wäre im Herbst 1938 bereits besiegelt, würden nicht zwei Instanzen Rettung verheißen: Zum einen die utopisch-metaphysische Instanz des „Engel[s] der Heimatlosen“ 101 , der am Ende der Romanhandlung die in alle Winde verstreuten verzweifelten Emigranten zum Durchhalten ermuntert; zum anderen die innere Emigration innerhalb Nazideutschlands, an die sich als letzten realgeschichtlichen Faktor geklammert wird. In einem dem Roman als Epilog nachgestellten Bekenntnisschreiben, das auf den 1. Januar 1939 datiert ist, erläutert der junge Deutsche Dieter, der die Emigranten am Anfang der Erzählung (also im Jahr 1933) noch des Landesverrats bezichtigt hatte, in aller Ausführlichkeit seine Gründe dafür, nach dem Münchener Abkommen den Entschluß zur Emigration gefaßt zu haben. Die „verpestete Luft“ in Nazideutschland und dessen „kolossale[r] Kadaver“ 102 , der von Gemeinheit und Lüge regiert werde, zeigen Dieter zufolge die realen Grenzen des von ihm selbst anfangs vertretenen Pazifismus auf, der unhaltbar werde, sobald er auf der Gegenseite, der der Nazis, nur als Instrument der Kriegsführung diene. In der Zurückweisung pazifistischer Positionen und in der Hoffnung darauf, die innere Emigration sei nur aus mangelnder Überzeugung bislang nicht gegen die Nazis erfolgreich gewesen, die neben Habes Zu spät? auch Der Vulkan in die Figur eines Überläufers legt, repräsentiert auch dieser Roman die publizistische Position des ‚anderen Deutschland’ gegen ‚München’ auf exemplarische Weise. Wie dort liegt die noch verbleibende Hoffnung eines erfolgreichen antifaschistischen Widerstands nach ‚München’ nicht mehr auf den europäischen Demokratien, die sich in jener „permanentakuten Krise“ befanden, die der Autor in The Turning Point in einem „Der Vulkan 1936-1939“ betitelten Kapitel analysierte. 103 Zu dieser Analyse paßt die Beschreibung der „Krise der großen Worte“ und des Endes der Demo- 100 Balder Olden, [Rez.] „Der Vulkan“, in: Die neue Weltbühne 32 (10. August 1939), S. 1013- 1014. 101 Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, hier z.B. S. 522. 102 Ebd., S. 556. 103 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 17. Aufl. 2005, S. 524 und S. 512. Eine kürzere Version des Werks war 1942 in New York unter dem Titel The Turning Point, Thirty-Five Years in this Century publiziert worden; die angeführte deutsche Ausgabe, 1949 vollendet, erschien erstmals 1952. Frank Estelmann 180 kratie von einer der Hauptfiguren in Der Vulkan, Marcel Poiret, der im spanischen Bürgerkrieg sein Leben lassen wird: Das Neunzehnte Jahrhundert war enorm redselig, durchaus rhetorisch, ins Wort verliebt, ihm vertrauend wie einem Fetisch. Nun ist alles entleert. Die Krise des Zwanzigsten Jahrhunderts - die ich wie eine Krankheit in meinem Leibe spüre - ist die Krise der großen Worte. Die Demokratie ist fertig, weil sie sich an die verbrauchten, großen Worte klammert. Der Faschismus, die neue Barbarei, hat leicht siegen: er köpft Leichen. 104 Bei der Rede von der Demokratie, die angesichts des Faschismus ‚fertig ist’, ist besonders an Frankreich zu denken, von dem sich wiederholt distanziert wird. 105 Wie dies erzählerisch umgesetzt wird, zeigt der Blick auf eine Romanpassage, in der sich ein weiterer gescheiterter Protagonist des antifaschistischen Kampfes, Kikjou, der zuvor im September 1938 vom Engel der Vertriebenen entrückt worden war, ungesehen in einem Café im Pariser Quartier latin wiederfindet. Der Szene, der er dort beiwohnt, zeigt en miniature, in ein Stimmengewirr beinahe gleichlautender Meinungen gesetzt, den Auflösungsprozeß der französischen Dritten Republik inmitten der Sudetenkrise: Das Lokal war voll; übrigens schien das Publikum aufgeregt und nervös. Man besprach die Ereignisse des Tages; erwog auch, was die Zukunft bringen mochte. ‚Gibt es Krieg? ’ - ‚Natürlich! Es wird ja schon mobilisiert! ’ - ‚Und Chamberlain ist nach Berchtesgaden geflogen! ’ - ‚Er ist noch in London, vielleicht wird Hitler ihn nicht empfangen…’ - ‚Lohnt es sich, Krieg zu machen, für diese Sudeten-Deutschen, die niemand kennt? ’ - ‚Les Tchèques c’est pour moi quelque chose comme les Chinois…’ - ‚Die Tschechoslowakei ist unser Bundesgenosse und eine gute Demokratie…’ - ‚Monsieur Benesch ist Jude, deshalb mag er den Führer nicht…’ - ‚Monsieur Benesch soll ein sehr kultivierter, feiner Mann sein…’ - ‚L’honneur de la France…’ - ‚Les avions allemands…’ - ‚Les sales Tchèques…’ - ‚Les sales Boches…’ - ‚Les sales Juifs…’ - ‚Nous autres Français…’ - ‚Je suis pacifiste…’ - ‚J’admire Monsieur Chamberlain…’ - ‚Après tout, Hitler, lui aussi, est un type épouvantable…’ 106 Der Gegenstand dieser Collage aus Kaffeehaus-Dialogen ist die französische Gesellschaft, die durch das gekennzeichnet ist, was die französischen antimunichois mit Duhamel als „Sedan intellectuel“ 107 bezeichneten: die Franzosen, und nicht bloß ihre Führung! , haben angesichts des Nationalsozialismus moralisch und militärisch kampflos kapituliert. Die Collage, die ein schandhaft mit sich selbst beschäftigtes und willkürliche Gründe für die eigene Passivität suchendes Frankreich zeigen soll, rückt die in der grande nation 104 Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, S. 260. 105 Dies war freilich nicht immer so gewesen; vgl. dazu Dieter Strauss/ Dominique Laure Miermont: Klaus Mann et la France: un destin d’exil/ Klaus Mann und Frankreich, Paris: Seghers 2002. 106 Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, S. 534. 107 Vgl. Duhamel: Mémorial, Anm. 60, besonders Kapitel 13: „Du Sedan diplomatique au Sedan intellectuel“ (S. 86-90). Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 181 herrschende öffentliche Meinung, wie sie in der Publizistik des Exils wahrgenommen wurde, ins Unrecht. Dieter, der Repräsentant der inneren Emigration, muß im Epilog verbittert feststellen, daß die Franzosen auf die Nachricht vom Münchener Abkommen die Sektkorken knallen ließen. Auch in Ilja Ehrenburgs 1941/ 1942 publiziertem Roman Der Fall von Paris wird dieses Detail des Champagner-Festes auf den Champs-Elysées unter den Augen des aus München heimkehrenden Daladier besonders hervorgehoben. Noch bevor Jean-Paul Sartre am Ende von Le sursis einen Daladier zeigen wird, der über den euphorischen Empfang, der ihm bei seiner Rückkehr bereitet wird, mit Betroffenheit reagiert, steht die begeisterte Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf ‚München’ schon im Roman Ehrenburgs dafür, wie „Frankreich zu Grabe getragen“ wird. 108 Bei Klaus Mann zeigen sich die Risse im die Gegenwart entlarvenden Bild der Vorkriegsmonate erneut dort, wo behauptet wird, der Verrat der Demokratien habe den Emigranten das Todesurteil gesprochen. Der Schock von ‚München’ wird in ein Bild der westlichen Zivilisation übersetzt, deren „Apokalypse“ in den Worten des Romans als „pittoresk“ erscheint, 109 was eng mit dem Leitmotiv des Vulkans in Zusammenhang steht, der die Situation Europas charakterisieren soll. Sicherlich eignet sich Klaus Manns Roman dieses Motiv, das sich ihm in der Tradition des europäischen Ästhetizismus anbot, mit kritischer Absicht an. 110 Auch schreibt der Autor damit die bereits angesprochene „emphatische[n] Berufung auf das Böse“ 111 in Mephisto fort, indem er die darin skizzierte ‚abgründige Tendenz’ in der Gegenwart nun durch die Gewißheit eines apokalyptischen Vulkanausbruchs ersetzt. Am Anfang von Der Vulkan bemerkt die bis dahin noch hoffnungsfrohe Marion von Kammer, daß sich plötzlich vor ihr ein Vulkanschlund öffnet, der sie verbrennen würde, wenn es ihm gelänge, sie in sich hinein zu ziehen. 112 Diese Szene des Schwindels vor dem tödlichen Abgrund wird später wiederholt. 113 Schließlich wird sie in der folgenden Passage erneut aufgegriffen: Das neue Barbarentum, die Faschisten, die Hunnen - nicht einmal kämpfen müssen sie ! Ohne Kampf läßt man sie siegen ! Sie begegnen keinem Widerstand, keinem Gegner ! … Man läßt das Scheußliche rasen, zerstören, sich austoben - als 108 Vgl. Jean-Paul Sartre: Le sursis [1945], in: ders.: Œuvres romanesques, éd. par Michel Contat et Michel Rybalka, Paris: Gallimard (Pléiade) 1981, S. 1133, sowie Ilja Ehrenburg: Der Fall von Paris, übersetzt von Hans Ruoff, Berlin: Aufbau 1958, Bd. 1, S. 291. 109 Vgl. Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, S. 488. 110 Vgl. dazu Lutz Winckler: „Ästhetizismus und Engagement in den Exilromanen Klaus Manns“, in: Alexander Stephan/ Hans Wagener (Hg.): Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933-1945, Bonn: Bouvier 1985, S. 196-211. 111 Koebner: Unbehauste, Anm. 21, S. 212. 112 Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, S. 168. 113 Ebd., S. 426. Frank Estelmann 182 wäre es eine Naturkatastrophe ! Als lebten wir alle auf einem Vulkan, der Feuer speit ! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft. 114 Der Vulkan als Gleichnis für die über Europa herfallenden faschistischen Horden läßt den Unschuldigen und Verbannten keine andere Wahl, als hilflos seinen Ausbruch, der gleichbedeutend mit ihrem Verderben ist, zu erwarten. Auf dieser Bedeutungsebene des Romans ist die bedrohliche Krise der Vorkriegsmonate, die nicht ausreichend bekämpft worden war, nichts anderes mehr als das Symptom einer neuerlichen, weitaus bedrohlicheren Krise. Marion als „Kassandra“ 115 kann nur noch den eigenen Untergang prophezeihen. In anderen Worten: sich wie die Romanfiguren genötigt zu sehen, in der Krise zu leben, ist selbst bereits katastrophisch, was in der Tat eine der zentralen Aussagen des Erzählers ist: „Das Training zur Katastrophe hat selbst schon katastrophalen Charakter.“ 116 Damit ist allerdings der publizistische Krisendiskurs um ‚München’ in einen ihn verdoppelnden literarischen Katastrophendiskurs überführt, der sich jedem Kompromiß mit der Gegenwart der Vorkriegsmonate versagt, was sinnfälligerweise in einem historischen Moment im Frühjahr und Sommer 1939 niedergeschrieben und publiziert wurde, in dem sich England und Frankreich nach und nach auf die von den Vertretern des ‚anderen Deutschland’ geforderte, unnachgiebige Position gegenüber Nazideutschland einigten. Klaus Mann stellte die Vorkriegsmonate dennoch unter das sepulkrale Bild einer tragischen Gegenwart, deren dénouement der Sieg des Nationalsozialismus sein würde. In der Tat gibt der Engel der Vertriebenen, der intertextuell auf ein Motiv aus André Gides Faux-Monnayeurs zurückgeht, 117 den ohnehin schon Resignierten bloß noch Nachricht von ihrem Untergang - Ziel ist nicht mehr das Siegen im antifaschistischen Kampf, sondern das Überleben. 118 „Hitler schreibt Weltgeschichte mit teuflischerer Brutalität als wir sie zu erdichten vermögen“, merkte Stefan Zweig nach der Lektüre von Der Vulkan in einem Brief an Klaus Mann an: „Er wird Ihnen, wenn nicht gepanzerte Engel niedersteigen, andere als Ihr Engel der Heimatlosen, noch einen zweiten Band schreiben.“ 119 So erscheint die Gegenwart des literarischen Schreibens nach ‚München’ als ein begrenzter Zeitraum, der von den Exilanten und antifaschistischen Kämpfern in Europa als „Gnadenfrist“ 120 zwischen Krise und Tod angesehen wird. Für Klaus Mann läuteten die Ereignisse des September 1938, wie er nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ähnlich wie 114 Ebd., S. 511. 115 Ebd., S. 510. 116 Ebd., S. 489. 117 Vgl. Klaus Mann: André Gide, Anm. 96, S. 180. 118 Vgl. dazu Klaus Mann: Der Vulkan, Anm. 99, S. 516. 119 Stefan Zweig: An Klaus Mann (Brief vom Juli 1939), in: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922-1949, hg. von Martin Gregor-Dellin, München: Edition Spangenberg 1987, S. 385. 120 Klaus Mann: Der Wendepunkt, Anm. 103, S. 509. Der Münchener „Teufelspakt“ und seine Rezeption 183 Feuchtwanger selbst bekundete, ein ‚banges Wartejahr’ ein, das er mit einer enormen publizistischen und literarischen Produktivität füllte: Nach ‚München’ ging es schief und steil hinab. Nach ‚München’ kommt der Abgrund eines Krieges, der eben durch diesen Aufschub, diesen verräterischen Ausverkauf seines moralischen Sinns beinah beraubt erscheint, noch eher er beginnt. Nach ‚München’ kommt der Abgrund. Wünsche beste Nerven! Der Abgrund kommt. Der Abgrund! Wartet nur… Und so wartet man. Das bange Wartejahr hat angefangen. 121 5 Schluß Im Gegensatz zu den französischen Debatten, in denen ‚München’, wie häufig konstatiert wurde, einige Monate lang die öffentliche Meinung polarisierte, waren die exildeutschen Reaktionen auf den Münchener Frieden weniger Zeichen einer Selbstverständigungsdebatte als vom erklärten Willen geprägt, eine publizistische Einheitsfront des ‚anderen Deutschland’ gegen Hitler und die Appeasementpolitik zu bilden. Unter Berücksichtigung verschiedener Textsorten kann eine Homologie zwischen dem Raum der öffentlichen Stellungnahmen gegen ‚München’ und der literarischen Praxis in dieser Periode festgestellt werden. Die literarischen Beispiele, die vorgebracht wurden, erscheinen mir lehrreich in bezug auf die literarische Legitimität zu sein, die dem journalistischen Kampf gegen das Münchener Abkommen in den auf den September 1938 folgenden Monaten verliehen wurde. Denn die analysierten Reaktionen deutschsprachiger Exilanten auf die Zeitgeschichte bestätigen und akzentuieren den literaturgeschichtlichen Befund, daß der autonome literarische Bereich in der Periode des Endes der literarischen Schulen von den Exilanten im Verlauf der 1930er Jahre zugunsten eines politischen Engagements aufgegeben worden war, das an allen publizistischen Fronten geführt werden sollte. Dabei fließen die Intellektuellengeschichte der 1930er Jahre, die Geschichte der Exilpublizistik und die Literaturgeschichte des deutschsprachigen Exils beinahe ineinander. „Man kann sich vor der Politik nicht drücken, wenn die eigene Kunst nicht leiden soll“, meint Trautwein in Feuchtwangers Exil. 122 Damit hat sich auch und gerade in Reaktion auf das Münchener Abkommen im literarischen Feld des ‚anderen Deutschland’ ein Standpunkt durchgesetzt, der die Autoren vor die Notwendigkeit einer Transposition zuvor publizistisch verhandelter Positionen in ihr literarisches Schreiben stellte. Durch die ästhetische Mimikry an den politischen Diskurs der Vorkriegsmonate wurde besonders der Zeitroman zu einem propagandistischen Medium, in dem die potentiell bereits wirksame Katastrophe, die dieses Krisenjahr zwischen September 1938 und September 1939 in sich trug, entweder im letzten Moment abge- 121 Ebd., S. 540-541. 122 Feuchtwanger: Exil. Roman, Anm. 25, S. 14. Frank Estelmann 184 wendet werden konnte (wie in Zu spät? Hans Habes) oder auf entmutigte, alptraumartige Weise vergegenständlicht wurde (wie in Der Vulkan Klaus Manns). In Kauf genommen wurde jeweils, daß sich mögliche Fehleinschätzungen der Äußerungssituation, die in der Tat bereits in der zeitlich unmittelbarer auf die Ereignisse reagierenden journalistischen Rezeption ‚Münchens’ erkennbar sind, direkt in der literarischen Praxis wiederfinden, etwa der Glaube an den inneren Widerstand in Nazideutschland und an die Kapitulation der Demokratien Europas. Martine Boyer-Weinmann Von La Conspiration zur Chronique de septembre: Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 1 Einleitende Bemerkungen Die eng begrenzte Periode, die in diesem Band behandelt wird - sie reicht vom Münchener Abkommen 1938 bis zur Niederlage Frankreichs im Mai 1940 - scheint wie dafür geschaffen, die Laufbahn einer Schlüsselfigur der antifaschistischen Intellektuellenbewegung Frankreichs an dem historischen Zeitpunkt zu erfassen, an dem sie sich ins Tragische wendet: die des Schriftstellers Paul-Yves Nizan. Als treibende Kraft der AEAR (Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires), des Verbandes der revolutionären Schriftsteller und Künstler, und als Organisator des Internationalen Kongresses der Schriftsteller für die Kultur im Jahr 1935 hat Nizan zu diesem Zeitpunkt bereits alle Stufen des kommunistischen Noviziates durchlaufen. Er hatte sich (erfolglos) bei den Parlamentswahlen von 1932 zur Wahl gestellt, hatte eine zeitlang die Buchhandlung der Zeitung Humanité geführt und war intensiv in verschiedenen Redaktionen tätig gewesen: bei der ephemeren Revue Marxiste ebenso wie bei der exklusiven Zeitschrift Bifur, oder bei für ein breiteres Publikum bestimmten Blättern wie Vendredi oder Commune. 1937 war er schließlich Leiter des Ressorts Außenpolitik der unter der Leitung von Louis Aragon stehenden Zeitung Ce Soir geworden. Bis 1938 kann Paul Nizan als ein idealistischer Kämpfer gelten, der im Umfeld und innerhalb des französischen kommunistischen Parteiapparats aufgestiegen ist. Er ist eines der besten Beispiele für jene Politik der ‚ausgestreckten Hand‘, mit der die kommunistische Partei den Intellektuellen in Zeiten der Kriegsgefahr und der Volksfront die Zusammenarbeit angeboten hatte. Die einjährige Reise, die Nizan 1934 und 1935 in die UdSSR führte - er reiste von Moskau bis zu den Steppen Zentralasiens -, markierte in seinem Verhältnis zur kommunistischen Partei allerdings eine gewissermaßen doppeldeutige Übergangsphase. Die zeitgenössischen Leser der Humanité bekamen von der Reise wahrscheinlich nur die obligatorischen Lobeshymnen auf die Wohltaten des in der Sowjetunion verwirklichten Fortschritts mit, die der Reporter Nizan verfaßte. Die Nizan näher stehenden Personen - an erster Stelle seine Ehefrau Henriette, die ihn begleitete und ihre Erfahrungen 186 Martine Boyer-Weinmann in ihren Libres mémoires 1 festhielt - bemerkten etwas ganz anderes: die Verwirrung und das pathologische Schweigen Nizans, seine akute Depression und die metaphysische Besessenheit vom Tod, die sich des linientreuen Parteigängers in der Sowjetunion bemächtigten. Das Ehepaar Nizan erlebte vor Ort die Ermordung Kirows und die ersten Manipulationen der öffentlichen Meinung durch Stalin mit, die am Anfang der düsteren Epoche der Moskauer Prozesse standen. Bei seiner Rückkehr nach Paris machte Nizan eine im Nachhinein sibyllinisch anmutende Bemerkung, die Simone de Beauvoir in ihrer autobiographischen Schrift La Force de l’Âge wiedergibt: „Ça a été un séjour extrêmement corrupteur.“ 2 Ist diese Aussage Nizans als ein Moment retrospektiver Klarsichtigkeit eines Gastes der Sowjetunion zu bewerten, der erst spät entdeckte, daß er getäuscht worden war? Oder ist sie ein zeitgenössisches Indiz für eine bösartige Eingebung, für den Wurmbefall der ersehnten Linientreue eines eigentlich nur Bestätigung suchenden Reisenden? Die Sache bleibt historisch unentscheidbar, aber die zweite Hypothese entspricht eher der Haltung des Experten in Fragen der Demystifizierung, die Nizan seit seinem Werk Aden Arabie (1931) gerne einnahm. Bis 1938 hielt Nizan jedenfalls seine inneren Zweifel mit größter Vorsicht zurück. 1938 gehört er zum kommunistischen Olymp und wird mit einer Akkreditierung als Journalist belohnt, die es ihm ermöglicht, für die Zeitung Ce Soir über das internationale diplomatische Drama zu berichten, das sich zwischen Genf, Berlin, London, Prag und München im Spätsommer 1938 abspielt. Die Chronique de septembre (Septemberchronik), die er inmitten der Münchener Krise verfaßt, erscheint 1939 und wird nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Juni 1940 als einer der Titel auf der Liste Otto verboten. Nizan analysiert darin Tag für Tag den Kurs in Richtung Abgrund. Dazu bemüht er einen der diplomatischen Depesche vergleichbaren nüchternen Stil und eine Rhetorik, die sich auf die engagierte und interventionistische Forderung nach einer englisch-französisch-sowjetischen Allianz als Gegenfront gegen Hitler festlegt. Von der Richtigkeit dieser Allianz ist der Redakteur Nizan bis zum Ende der im Münchener Abkommen resultierenden Verhandlungen überzeugt. Parallel zu seinem Leben als Aktivist und Journalist beginnt für Nizan im Jahr 1938 - also mit 33 Jahren - seine Karriere als ein anerkannter Romanschriftsteller. Er erhält den Prix Interallié für seinen dritten Roman La Conspiration, einen Generationenroman, der einen politisch-sentimentalen Reifeprozeß erzählt und den Abschied von fiebrigen Jugendträumen thematisiert. Nizan situiert die Romanhandlung in den Jahren 1928 und 1929 und vermischt darin historisches und autobiographisches Material. Die kommuni- 1 Henriette Nizan (in Zusammenarbeit mit Marie-José Jaubert): Libres mémoires, Paris: Robert Laffont 1989, S. 179-180. 2 Simone de Beauvoir: La Force de l’Âge, Paris: Gallimard (Folio) 1986, S. 236. [Dt.: Ein äußerst verderblicher Aufenthalt. - Die von Rolf Soellner besorgte Übersetzung des Werks - In den besten Jahren. Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961, S. 176 - ist an dieser Stelle mißverständlich]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 187 stische Parteiführung findet das Werk etwas bürgerlich, etwas dekadent und düster, nicht eindeutig optimistisch genug, um den Proletariern die Zukunft in ein positives Licht zu tauchen. Sie schätzt es jedoch, daß zum ersten Mal einer der ihren diese literarische Trophäe erhält, die noch dazu mit dem Etikett von Gallimard veredelt ist - dem Verlagshaus, das La Conspiration verlegt. Es gefällt, daß einer wie Nizan in das Vorzimmer einer literarischen Institution vorgedrungen ist, in der Malraux und Gide herrschen. Deren jüngste politische Äußerungen entsprechen zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Positionen von Sympathisanten des Kommunismus. Louis Aragon, der vielleicht ein wenig eifersüchtig auf Nizan ist, jedenfalls aber selbst ein Anwärter auf die Hauptrolle sowohl an der politischen wie der literarischen Front, hüllt sich in den Spalten der Humanité in Schweigen. Der ‚kleine Kamerad‘ Sartre dagegen verfaßt eine begeisterte Besprechung von La Conspiration in der Nouvelle Revue française, in der er den ‚kämpferischen Stil‘ („style de combat“) des Romans lobt. Allerdings fügt er einen seltsam anmutenden Zwischensatz in seine im November 1938 verfaßte Rezension ein. Er betrifft die Rolle des militanten Schriftstellers: „Un communiste peut-il écrire un roman? Je n’en suis pas persuadé: il n’a pas le droit de se faire le complice de ses personnages.“ 3 Sartre formulierte damit einen Vorwurf, der vielleicht sogar doppelt inkonsistent wirken muß: zunächst, da er seinem eigenen Romankonzept widerspricht, dann aber auch, da er der für Nizans Romantechnik charakteristischen Anordnung verschiedener Erzählperspektiven nicht gerecht wird. In den folgenden 18 Monaten, von September 1938 bis zum Tod des Autors am 23. Mai 1940, wird die Entwicklung von Nizans ideologischer und künstlerischer Identität, die sich gerade mitten in ihrem Reifeprozeß befindet, brutal abgeschnitten. Die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts im August 1939, unmittelbar gefolgt von der Invasion Polens durch die UdSSR (und zwar nach einem von Nizan befürchteten Schema), sieht er als Beweis eines doppelten Spiels, angesichts dessen er nicht versteht (oder nicht ausdrücklich verstehen will), warum sich die französische kommunistische Partei (PCF) nicht davon distanziert, es sei denn, die Partei würde dieses Spiel stillschweigend billigen, oder, noch schlimmer, sie wäre darüber informiert gewesen, ohne daß diese Information bis zum kleinen Parteisoldaten Nizan durchgedrungen wäre. 4 Die weitere Geschichte 3 Jean-Paul Sartre: „La conspiration par Paul Nizan“, in: ders.: Situations I. Essais critiques, Paris: Gallimard 1947, S. 25-28, hier S. 28 (ursprünglich in Nouvelle Revue française, November 1938). [Dt.: Kann ein Kommunist einen Roman schreiben? Davon bin ich nicht überzeugt: Er hat nicht das Recht, zum Komplizen seiner Figuren zu werden]. 4 Man lese in diesem Zusammenhang das Vorwort Sartres zu Aden Arabie: „Ses lettres prouvent, au contraire, que la colère le bouleversait. Aujourd’hui, nous connaissons mieux les circonstances, les documents, nous comprenons les motifs de la politique russe: j’incline à penser qu’il fit un coup de tête, qu’il n’eût pas fallu rompre avec ses amis, avec sa vraie vie: s’il eût vécu, j’incline à penser que la Résistance l’eût ramené, comme tant d’autres, dans le rang. Mais ce n’est pas mon affaire: je veux montrer qu’il fut transpercé, frappé au cœur, que ce revirement inattendu lui démasqua sa nudité, le 188 Martine Boyer-Weinmann ist bekannt: Nizans unbändige Wut, seine Kündigung der Mitgliedschaft in der PCF am 25. September 1939, die Ächtung der angeschlagenen, aber nicht zerstörten Partei, und bald darauf die kommunistische Inquisition, die gegen Nizan Gerüchte von Apostasie, Hochverrat und Kollaboration mit den Dienststellen des Innenministeriums verbreitet. Eine ‚Affaire Nizan‘ bricht noch zu Lebzeiten des Autors aus, so daß Nizan selbst noch die Gelegenheit hat, ihrem Rumoren zu lauschen - sie beginnt 1940 mit Maurice Thorez, gewinnt bei der Libération mit den Unterstellungen eines ehemaligen Genossen Nizans, Henri Lefevbre, weiter an Gewicht, und findet in der Feder von Louis Aragon, der Nizan in der Person des Denunzianten Patrice Orfilat porträtiert, Einzug in die erste Version des Romanwerks Les communistes (1947). Da er sich weigert, sich ausmustern zu lassen, wird Nizan als Soldat zweiter Klasse in das 3. Bataillon des 405. Regiments der Pioniere von Romansvillers im Elsaß eingezogen, nur 30 Kilometer von Brumath entfernt, also dem Ort, wo Sartre zur gleichen Zeit seine Carnets de la drôle de guerre zu schreiben beginnt. Eignen sich Zeiten des Müßiggangs für die Literatur? Nizan vertreibt sich in der Tat seine Zeit mit dem Schreiben eines Romans im Stil Stendhals, eines Romans, der das Glück zum Gegenstand haben soll. Wir kennen den Titel des Romans, La Soirée de Somosierra, und wissen sowohl, daß er das Spanien vor dem Bürgerkrieg behandeln soll, als auch, daß Nizan den ersten vollendeten Teil (Amours de septembre) hastig in einem schlammigen Feld in der Gegend von Dünkirchen eingraben wird - nicht weit entfernt von jenem Schloß Cocove, wo ein Querschläger den Autor mitten in der Schlacht um Frankreich, zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges, tödlich treffen wird. Als Augenzeuge, Mitspieler und Opfer der Krise, die im sogenannten lâche soulagement endet - in der ‚feigen Erleichterung‘, mit der die französische Öffentlichkeit die Nachricht vom Münchener Abkommen aufnimmt -, allegorisiert Nizan eine Art zerstörter Zeit: die geistige, moralische und strategische Niederlage der Söhne des Ersten Weltkriegs. Ich möchte im folgenden zeigen, wie ein engagierter Schriftsteller wie Nizan - im Lager, das er gewählt hat, aber auch im Lager, in das ihn die Legende versetzt hat und aus dem sie ihn (mal als Judas, mal als Märtyrer) wieder herausgeholt hat - den kollektiven Zusammenbruch von Gewißheiten verkörpert, die Umkehr von Überzeugungen, die Rochaden auf dem durcheinandergerate- renvoya à son désert, à lui-même.“ Jean-Paul Sartre: „Préface“, in: Paul Nizan: Aden Arabie, Paris: François Maspero 1960, S. 48. [Dt.: Seine Briefe beweisen im Gegenteil, daß ihn die Wut aus der Fassung brachte. Heute kennen wir die Zeitumstände, die Dokumente besser, wir verstehen die Gründe, die die russische Politik hatte: ich neige dazu zu meinen, daß es eine Trotzreaktion war, daß er nicht mit seinen Freunden, mit seinem eigentlichen Leben hätte brechen müssen; wenn er länger gelebt hätte, möchte ich glauben, hätte die Résistance ihn in ihren Reihen gesehen, wie so viele andere. Aber das ist nicht mein Thema: ich möchte zeigen, daß er durchbohrt, im Tiefsten getroffen war, daß diese unerwartete Kehrtwende ihm seine Nacktheit enthüllte, ihn in seine Wüste zurückschickte, zu sich selbst]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 189 nen Schachbrett der Ideologien. Meine Darstellung gliedert sich in drei Teile von ungleicher Länge: einen kurzen Überblick über einen Roman der Krise aus der Retrospektive der unmittelbar folgenden geschichtlichen Ereignisse (also über La Conspiration); eine tiefergehende Analyse eines im Auge des Zyklons verfaßten Augenzeugenberichts (also der Chronique de septembre); schließlich ein Panorama der privaten Korrespondenz des Soldaten Nizan zwischen der drôle de guerre und der Schlacht um Frankreich, insbesondere seiner der Selbstrechtfertigung dienenden Kommentare nach dem ‚Hitler- Stalin-Pakt‘. 2 La Conspiration oder wie man aus der Jugend herausfindet Am Tag nach dem Erhalt des Prix Interallié für den Roman La Conspiration macht Nizan auf Nachfragen von Journalisten keinen Hehl aus seinen entmythologisierenden Absichten und der bitteren Medizin, die er seinen Lesern verabreichen will, an erster Stelle den Sympathisanten seiner eigenen Sache. Interessant an dem Interview ist, daß er als engagierter Schriftsteller darin sein erzählerisches Programm nicht von seiner journalistischen Arbeit trennt: L’idée essentielle de mon livre est dirigée contre les mythologies, surtout les mythologies politiques de la jeunesse. Je crois qu’on ne fait pas convenablement son métier d’écrivain si par une ruse quelconque on fuit la réalité la plus pressante, la plus actuelle; cette réalité est désagréable, alors on écrit des livres désagréables. […] Je crois que le journalisme est un excellent second métier pour un écrivain; on ne peut sous-estimer l’obligation d’être tous les jours dans la réalité, dans l’événement. Tenez, une chose importante encore. Dans une époque bouleversée et bouleversante comme la nôtre, il me semble que la fonction de l’écrivain n’est pas de défendre des thèses, mais de poser de vrais problèmes. Un personnage de roman, en 1938, est beaucoup plus un homme à problèmes qu’un type. 5 Figuren mit Problemen sind in der Tat Legion in diesem Roman, der den schwierigen Übergang ins Mannesalter zeigt - einen Übergang, der vom Reifen der Gefühle und dem Verlust der politischen Illusionen begleitet 5 „Paul Nizan“, in: Les Nouvelles littéraires (3 décembre 1938), S. 6, zitiert nach: Robert S. Thornberry: Les écrits de Paul Nizan (1905-1940), Portrait d’une époque, bibliographie commentée suivie de textes retrouvés, Paris: Honoré Champion 2001, S. 413-415. [Dt.: Die zentrale Idee meines Buchs richtet sich gegen die Mythologien, vor allem gegen die politischen Mythologien der Jugend. Ich glaube, daß man seinen Beruf als Schriftsteller verfehlt hat, wenn man mit irgendwelchen Tricks der dringlichsten und aktuellsten Wirklichkeit entflieht; diese Wirklichkeit ist unangenehm, also sollte man unangenehme Bücher schreiben. <…> Ich glaube, daß der Journalismus ein ausgezeichneter zweiter Beruf für einen Schriftsteller ist; die Verpflichtung, jeden Tag in der Wirklichkeit, im Zeitgeschehen sein zu müssen, kann nicht hoch genug bewertet werden. In einer erschütterten und erschütternden Epoche wie der unseren scheint mir, daß die Funktion des Schriftstellers nicht ist, Thesen zu verteidigen, sondern die wahren Probleme zu formulieren. Eine Romanfigur ist im Jahr 1938 viel eher ein Mensch mit Problemen als ein Typus]. 190 Martine Boyer-Weinmann wird. Der Roman ist am Anfang und am Ende von zwei großen Trauerszenen eingerahmt, so daß die von ihm behandelten kollektiven und individuellen Schicksale doppelt unter das Vorzeichen des Todes gestellt werden. Die Handlung beginnt mit einem historischen Rückblick, der gleichzeitig eine beeindruckend kritische Rekonstruktion der französischen Gesellschaft des Jahres 1924 ist. Es geht um die Überführung der Asche von Jean Jaurès ins Pariser Panthéon. Mit der Arbeiterschaft und den Bürgern auf den Balkonen der Rue Soufflot, mit den Parlamentariern der blauen Kammer 6 und den jungen wütenden Normaliens, die dem Trauerzug mit revolutionären Hoffnungen folgen, leben Nizans eigene Jahre in der École Normale Supérieure (Rue d’Ulm) wieder auf. Am Ende des Romans schließlich nehmen die Kameraden der Romanfigur Bernard Rosenthal an einem Begräbnis teil. Eine illusionäre Liebe wird im Friedhof Père Lachaise zu Grabe getragen. Dies geschieht oberhalb des ‚Mur des Fédérés’, also jener Mauer, an der 1871 147 Kommunarden exekutiert worden waren. Die Kameraden verweilen nach der Zeremonie noch ein wenig länger an diesem symbolischen Ort. Träumerisch verspüren sie außerhalb der biologischen Familie, deren einzelne Bestandteile nicht mitteilbare Leiden erfahren, ein letztes Mal das Gefühl der Solidarität in ihrem längst zerstörten Freundeskreis. Am Anfang von La Conspiration finden sogleich die fünf Protagonisten des Romans Erwähnung; es sind fünf junge Leute, die sich in einem ‚schlimmen Alter‘ befinden: „C’étaient cinq jeunes gens qui avaient tous le mauvais âge, entre vingt et vingt-quatre ans; l’avenir qui les attendait était brouillé comme un désert plein de mirages, de pièges et de vastes solitudes.“ 7 Der Roman vertieft „le vertige des occasions manquées“ 8 , dieses hohle Gefühl verpaßter Gelegenheiten, deren Ausgang die Jugend mit quälenden (Vor)ahnungen vorwegnimmt. Bernard Rosenthal, der verschämte Jude aus den reichen Vierteln, Sohn eines Börsenmaklers, Antoine Bloyé, Philippe Laforgue, Sohn eines Ingenieurs, sowie Jurien und Serge Pluvinage haben eine marxistische Zeitschrift mit dem Titel La Guerre civile (Der Bürgerkrieg) gegründet. Dennoch spüren sie, daß die Zeitschrift zur Kurzlebigkeit verdammt ist. Der Hellsichtigste der Gruppe, Antoine Bloyé, drückt diese Ahnung folgendermaßen aus: „Les revues meurent toujours […], c’est une donnée immédiate de la conscience.“ 9 Die Jugendlichen proklamieren die 6 Als blaue Kammer („chambre bleu horizon“) wird das im November 1919 gewählte französische Parlament bezeichnet. Blau war die Farbe der Uniformen der französischen Soldaten des Ersten Weltkriegs. In den Reihen der die Kammer dominierenden politischen Rechten saßen viele Weltkriegsveteranen (Anmerkung des Übersetzers). 7 Paul Nizan: La Conspiration, Paris: Gallimard (Folio) 1938, S. 12. [Dt. nach der Ausgabe Paul Nizan: Die Verschwörung. Roman, übersetzt von Lothar Baier, Wien: Europaverlag 1994, S. 8: „Es waren fünf junge Leute, alle in dem schlimmen Alter zwischen zwanzig und vierundzwanzig Jahren; die Zukunft, die sie erwartete, war unübersichtlich wie eine Wüste voller Luftspiegelungen, Fallen und unermeßlicher Einsamkeiten“]. 8 Ebd., S. 25-26. 9 Ebd., S. 13. [Dt. Ausgabe S. 8: „‚Zeitschriften gehen immer ein <…>. Das ist eine einfache Erfahrungstatsache‘“]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 191 „nécessité conspirative“ 10 und glauben an - oder tun so, als glaubten sie an - „l’engagement irréversible“ 11 . Sie wollen mit Hammerschlägen philosophieren: „Philosopher à coup de marteaux. Inventer des choses irréparables.“ 12 Rosenthal ist der an Aphorismen und apodiktischen Erklärungen reiche Kopf der Gruppe. Dennoch - und darin liegt Nizans ganze Kraft und grausame Zärtlichkeit bezüglich der Doppelgänger seiner eigenen Jugend - stattet sie der Autor mit der Fähigkeit zur Selbstkritik aus, die sie die Gefahren lyrischer Abstraktion auf tragische Weise erkennen läßt. So vergleichen sie sich mit einem aus hitzigen Junghegelianern bestehenden Doktorklub und geben sich das folgende von Bruno Bauer stammende Epigramm, das im Text auf Deutsch zitiert wird: „Unsere Taten sind Worte bis jetzt und noch lange. Unter die Abstraktion stellt sich die Praxis.“ 13 Da aber 1928 in der Innenpolitik Frankreichs Windstille herrscht, und man 1929, wenige Tage vor dem großen Börsenkrach, bei den Börsenmaklern der Rue Mozart noch gelassen steigende Aktienkurse konstatiert, bedarf es schon eines großen Schlages gegen all das, um sich Eintritt in die Geschichte zu verschaffen. Wie wäre es also mit dem Diebstahl militärischer Geheimnisse und ihrem Verkauf an die kommunistische Partei? Den Protagonisten des Romans kommt der Gedanke, daß es gelingen müßte, einen harmlosen Sympathisanten wie André Simon in die unter der Leitung des Kommandanten Sartre stehende Kaserne von Port Royal einzuschleusen. Der weitere Verlauf der Romanerzählung zeigt dann freilich die Risse in der Taktik und die Spirale der Verdächtigungen, von Verrat und Denunziation, in die die Gruppe der Verschwörer bald gerät. Wer von der Bande (darunter auch noch der Schriftsteller Philippe Régnier und sein Schützling, der Kommunist Carré) hat die Verschwörung verraten und damit den konspirativen Insassen der Kaserne schrecklichen polizeilichen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt? Der Verdacht fällt schnell auf Serge Pluvinage, den Sohn eines Polizisten, der alle Züge eines Verräters aufzuweisen scheint: „Pluvinage est peut-être le seul d’entre eux qui adhère pleinement à son action, mais c’est une action qui ne peut que mal finir, parce qu’il ne se soucie au fond que de vengeance et croit à son destin sans retour d’ironie sur lui-même.“ 14 Nachdem er des Doppelspiels überführt und nach der Parodie eines demokratischen Urteils aus der Gruppe ausgeschlossen wird, erfährt Pluvinage das Ende, das man für ihn 10 Ebd., S. 83. [Dt. Ausgabe S. 70: „<…> die Notwendigkeit, konspirativ zu arbeiten“]. 11 Ebd., S. 80. [Dt. Ausgabe S. 67: „<…> ein Engagement, das sich nicht rückgängig machen läßt“]. 12 Ebd., S. 82. [Dt. Ausgabe S. 68: „Wir müssen mit dem Hammer philosophieren. Etwas aushecken, was sich nicht mehr reparieren läßt“]. 13 Ebd., S. 63. Vgl. die Passage in der deutschen Ausgabe (S. 53) des Romans: „Unsere Taten sind Worte bis jetzt und werden es noch lange bleiben. Unter die Abstraktion stellt sich die Praxis“. 14 Ebd., S. 31. [Dt. Ausgabe S. 24: „Pluvinage ist vielleicht der einzige unter ihnen, der voll und ganz hinter seinen Handlungen steht, aber es ist eine Parteinahme, die nur böse enden kann, weil es ihm im Grunde nur um Rache geht und weil er ohne Selbstironie an seine Berufung glaubt“]. 192 Martine Boyer-Weinmann bestimmt hat: „Il était entièrement sans espoir, il savait que la trahison est irrémédiable comme la mort, et que, comme la mort, elle ne s’efface jamais.“ 15 Was bleibt ihm also anderes übrig, als tatsächlich in die Polizei einzutreten, so wie es ihm der zwielichtige Kommissar Massart nahelegt: „Vois-tu, mon petit Serge, ton père disait toujours qu’il n’y a que les intellectuels pour faire de bons policiers. Il y a du vrai là dedans.“ 16 Warum tritt man in die Polizei ein? Zur Beantwortung dieser Frage entwickelt Massart eine geradezu oberlehrerhafte Argumentation, in der es heißt: „C’est si simple, mon petit Serge. On entre dans la police comme on se suicide. Notre genre de puissance console de la puissance visible qu’on n’a pas et des succès manqués. Un véritable policier est un homme qui a raté une autre vie.“ 17 Als tragischer Antrieb des Verrats stellt sich in einer dichten Szene am Ende des Romans die Erfahrung des Scheiterns, der Mißgunst und der wechselseitigen Rivalität zwischen den ungleichen Altersgenossen heraus. Jedenfalls spricht der Verräter Pluvinage in seinem in Briefform an die ehemaligen Kameraden gerichteten Geständnis ausführlich über all das. Er erklärt, daß er sich mit seinem Eintritt in die PCF seinen skeptischeren oder ironischeren Kameraden überlegen fühlte. Im Grunde sei er sogar nur in die Partei eingetreten, um sich von den anderen zu unterscheiden und Macht über sie zu erlangen - die Macht des Handelns. Nachdem er einmal Spitzel geworden war, sei der Übergang in die Reihen der Polizei eigentlich nur die Fortsetzung einer Erniedrigung gewesen, in der Gleiches mit Gleichem vergolten werde. „Comment sort-on de la jeunesse? “ 18 Philippe Laforgue stellt sich am Ende des Romans diese Frage. Der Roman bietet verschiedene Antworten an: Mit tödlichem Gift (die Lösung Rosenthals), durch Verrat (die Lösung Pluvinages), durch Heirat und Fortpflanzung (das Schicksal, das die Kameraden, die Lehrer in der Provinz werden, wahrscheinlich erwartet) oder durch Krankheit (die Bewährungsprobe, die für Laforgue, ebenso wie für Nizan selbst im übrigen, den Übergang zum Mannesalter markiert)? Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr die autobiographischen Versatzstücke im Roman, vor allem aber die Allgegenwart des bedrückenden Motivs des Verrats im Jahr 1940 und nach der Befreiung Frankreichs ausgebeutet wurden, um die Legende von einem Polizeispitzel Nizan aufzubauen, der sich schon unter dem Deckmantel des Romanschriftstellers verborgen haben soll. In gewisser Weise hat Nizan im Munde der in die Illegalität gegangenen 15 Ebd., S. 254. [Dt. Ausgabe S. 220: „Er war gänzlich ohne Hoffnung, er wußte, daß der Verrat genausowenig heilbar ist wie der Tod und daß er sich wie der Tod niemals auslöschen läßt“]. 16 Ebd., S. 257. [Dt. Ausgabe S. 222: „Schau her, mein kleiner Serge, dein Vater hat immer gesagt, daß nur Intellektuelle gute Polizisten sein können. Daran ist viel Wahres“]. 17 Ebd., S. 260. [Dt. Ausgabe S. 224: „Es ist ganz einfach, mein kleiner Serge. Man tritt in die Polizei ein, so wie man sich umbringt. Unsere Art von Macht tröstet einen darüber hinweg, daß man keine sichtbare Macht hat, und entschädigt für Mißerfolge. Ein richtiger Polizist ist ein Mensch, der in einem anderen Leben gescheitert ist“]. 18 Ebd., S. 301. [Dt. Ausgabe S. 261: „Wie findet man aus der Jugend heraus? “]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 193 Romanfigur Carré jedoch eine überaus präzise Definition jenes kommunistischen Engagements gegeben, dessen Opfer er selbst bald werden sollte: „[…] avec qui puis-je vivre? Je peux vivre avec les communistes. Avec les socialistes non. Les socialistes se réunissent et parlent politique, élections, et après c’est fini, ça ne commande pas leur respiration, leur vie privée, leurs fidélités personnelles, leur idée de la mort, de l’avenir.“ 19 3 Chronique de septembre: ein Beitrag zur ‚Geschichte des Unmittelbaren‘ Trotz seiner die Literaturliebhaber ein wenig abstoßenden Trockenheit scheint das letzte zu Lebzeiten von Nizan veröffentlichte Werk, Chronique de septembre (1939), sehr aktuell geblieben zu sein: Zunächst aufgrund seines Programms einer methodischen Darstellung der Verantwortung des Journalisten bzw. des Reporters in Kriegszeiten; dann aufgrund seines dokumentarischen Charakters und seiner Erzählweise. Die Einleitung, die der Chronique de septembre vorangestellt ist, hat etwas im strengen Sinne Didaktisches und erhellt gleichsam das philosophische Problem des fait historique sowie seiner Dekodierung durch den Journalisten, und die Zwickmühle, in die der Journalist gerät, wenn er zwischen der Pflicht, Informationen zu sammeln, und der Pflicht, die Ereignisse zu erklären, vermitteln muß. Der Ausgangspunkt der Überlegungen sind sämtliche die Vorgehensweise eines Journalisten und eines Historikers betreffenden Unterschiede und Analogien, „toutes les différences et les analogies entre les démarches du journaliste et celles de l’historien“ 20 . Dazu stellt Nizan in der Einleitung - einem Plädoyer in eigener Sache - seine eigenen Motivationen dar und warnt gleichzeitig vor den Bedingungen der (Un)Möglichkeit seiner Schreibsituation, die durch den großen Zeitdruck bei der Bearbeitung und bei der Beurteilung gekennzeichnet sei: Un rédacteur diplomatique est un historien de l’immédiat: il ne saisit jamais le présent qu’au moment même qu’il s’évanouit dans le passé de l’histoire, je veux dire qu’il fait l’histoire de la dernière journée ou de la dernière nuit, et que cette histoire s’interrompt chaque jour pour lui quelques minutes avant l’heure où les formes se bouclent et où les rotatives commencent à tourner […]. 21 19 Ebd., S. 212. [Dt. Ausgabe S. 182: „Mit wem könnte ich leben? Ich kann mit den Kommunisten leben. Nicht mit den Sozialisten. Die Sozialisten versammeln sich und reden über Politik und Wahlen, und dann ist es vorbei, es hat keinen Einfluß auf ihren Atem, ihr Privatleben, ihre menschlichen Beziehungen, ihre Vorstellungen vom Tod und von der Zukunft“]. 20 Paul Nizan: Chronique de septembre, Paris: Gallimard 1939, S. 7 („Introduction“). 21 Ebd. [Dt.: Ein mit dem Bereich der Diplomatie befaßter Redakteur ist ein Historiker des Unmittelbaren: Er erfaßt die Gegenwart immer nur dann, wenn sie sich in der Vergangenheit der Geschichte verliert, was heißen soll, daß er die Geschichte des letzten Tages oder der letzten Nacht schreibt, und daß diese Geschichte jeden Tag einmal für ein paar 194 Martine Boyer-Weinmann Der mit epistemologischen Fragen vertraute Nizan wußte um die Notwendigkeit der Quellenkritik, die die Arbeit des Historikers ebenso wie die des Journalisten auszeichnet. Im Vergleich erweist sich dann allerdings, daß der Journalist über bedeutend weniger Distanz zu den Ereignissen verfügt als der Historiker - ein Handicap, das er nur mit dem kompensieren kann, was Nizan, bevor er weiter ausholt, als Sinn für das Risiko und die Wette („l’esprit de risque et de pari“) 22 bezeichnet. Was ist eine Quelle? Was ist eine ‚historische Tatsache‘? Wie beeinflußt die Erzählung ihren Gegenstand? Diese Fragen stehen im Zentrum von Nizans weiteren Ausführungen. Als reflektierter Berichterstatter nimmt er zu ihrer Beantwortung eine erste grundsätzliche Unterscheidung vor. Sie betrifft die Herkunft der Information: Je nachdem, ob die Information von einer staatlichen oder von einer privaten Nachrichtenagentur stammt, gibt es - auch unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt - unterschiedliche Instrumente, um sie zu bearbeiten: „Les versions données le 28 septembre des mesures décidées par le gouvernement allemand étaient matériellement fausses: […]. Ce genre d’informations traduit ce que les gouvernements souhaitent que le public croie: ce souhait est un événement historique.“ 23 Man kommt nicht umhin, daran zu denken, wie sehr die politisch-ideologische Bildung Nizans, seine mehr oder weniger enge Vertrautheit mit den marxistischen Sprachgepflogenheiten und seine Kenntnis des Propagandastils ihm diese bemerkenswerten Zeilen diktieren. Sie verpflichten den Journalisten jedenfalls auf die kritische Hinterfragung seiner von staatlicher Seite herrührenden Informationen. Um die unausgesprochenen Hintergedanken in den Depeschen privater Nachrichtenagenturen zu erkennen, kommen dem Journalisten dann der Romanschriftsteller und auch der Ethnologe Nizan zu Hilfe. Der Ethnologe spürt in den anonym verfaßten Depeschen die heterogenen Merkmale ihrer Glaubwürdigkeit auf, er widmet sich den autoritären Strukturen und Hierarchien, in die sich die Nachrichtentexte einschreiben und die sie motivieren. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht erwähnenswert, daß Nizan schon 1932 bei seinem einjährigen Aufenthalt in einer kleinen Zelle des PCF in Bourg-en-Bresse eine Art Radiographie einer Kleinstadt angefertigt hatte: die Présentation d’une ville. Die bei dieser Gelegenheit erworbene ethnologische Erfahrung der teilnehmenden Beobachtung kommt der Arbeit des Reporters nun zugute. Dies gilt auch für die Erfahrung als Romanschriftsteller. Ein Romanschriftsteller - hat er auch eine revolutionäre Mission, wie Nizan sie sich in Le Cheval de Troie (1935) gegeben hatte - ist jemand, der ein komplexes dialektisches Verhältnis von persön- Minuten für ihn innehält, und zwar vor jener Stunde, in der die Druckformen vorbereitet und die Druckwalzen in Bewegung gesetzt werden <…>]. 22 Ebd., S. 8. 23 Ebd. [Dt.: Die Berichte, die am 28. September über die von der deutschen Regierung ergriffenen Maßnahmen verbreitet wurden, waren im Kern falsch <…>. Diese Art von Information übersetzt nur das, was die Regierungen wünschen, daß die Öffentlichkeit glaubt: der Wunsch ist ein historisches Ereignis]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 195 lichen und kollektiven Meinungsschwankungen konstruiert und sich für die psychologischen Motive politischer Handlungen interessiert. Im Jahr 1938 erweist sich dies als recht nützliche Kompetenz. Nizan wirft noch eine andere Frage auf: Welchen Tribut muß ein mit der Diplomatie befaßter Redakteur und engagierter Journalist der Gesamtheit der journalistischen Produktion aller politischen Lager (national oder international) zollen, die in andauernder Flut auf ihn einströmt, ihn beeinflußt, ihn informiert oder auch fehlinformiert? Nizan entwickelt dazu eine bemerkenswert scharfsinnige Analyse der Einflußfaktoren Zensur und Selbstzensur, die etwa bei dem Hin und Her zwischen Pressekorrespondenten an der Front und den Leitartikelschreibern im Hinterland eine Rolle spielen: „[…] on ne saurait trop prendre garde aux contradictions qui se manifestent parfois entre la ligne d’un journal et ses informations étrangères.“ 24 An dem, was er selbst an Nachrichten veröffentlicht, zeigt sich der engagierte politische Kämpfer: Nachdem er die Veränderungen kritisiert hat, die die Redaktionsleitung der Temps an den Artikeln seines Kollegen Hubert Beuve-Méry vorgenommen hatte, lobt er die absolute Integrität der Humanité; sie sei die einzige Tageszeitung, die ihre politischen Positionen und ihre Informationen aus dem Ausland genauestens miteinander verbinde („faire correspondre à la rigueur les positions politiques et les informations étrangères“) 25 . Genauso aufschlußreich und von kritischem Geist geprägt ist die von Nizan vorgestellte Analyse des Umgangs mit dem, was Spinoza das Wissen vom Hörensagen nannte, das heißt jene mündlichen Informationen, Klatsch oder Gerüchte, die sich in Redewendungen des diplomatischen Jargons - wie: ‚man glaubt, zu wissen‘, ‚wie wir aus gut informierter Quelle erfahren, ‚autorisierte Kreise teilen mit‘ - niederschlagen. Nizan spricht dem Gerücht keineswegs jegliche Bedeutung ab. Er sieht darin vielmehr den deontologischen Prüfstein des Journalistenberufs. Man müsse die Materialität des Faktums überprüfen, seine sprachliche Zubereitung entschlüsseln, ihm a priori eine verschleiernde Absicht unterstellen und sollte nicht zögern, es für nicht verwertbar zu erklären. Nizan gibt als Beispiel ein für die Befürworter des Münchener Abkommens ungünstiges Gerücht, das er persönlich sogleich als unbrauchbar erkannt habe: Pendant la crise de septembre, on rapportait par exemple à l’auteur de ces lignes que M. Chimery, président du groupe parlementaire radical, disait dans les couloirs de la Chambre: - Comment voulez-vous faire une politique de résistance? savez-vous combien nous avons d’avions en état de vol? Vingt-cinq. Ce propos n’est à la lettre pas croyable: il supposait donc à la fois une critique de sa relation, une critique de celui qui le répétait, et une critique du vraisemblable: était-il vraisemblable que le président d’un parti parlementaire pût affirmer un 24 Ebd., S. 12. [Dt.: Man kann nicht genug auf die Widersprüche achten, die manchmal zwischen der gedruckten Zeile und den aus dem Ausland stammenden Informationen einer Zeitung festzustellen sind]. 25 Ebd. 196 Martine Boyer-Weinmann fait qui était de toute évidence faux? Il eût fallu mesurer la véracité de l’informateur et l’intelligence, les informations de M. Chimery: ces tâches étaient insurmontables; le ‚bruit‘ était inutilisable. 26 Diese Lehrstunde über moralische Skrupel und methodische Genauigkeit ist beachtlich, vor allem seitens eines gegen ‚München’ eingestellten Redakteurs, der lieber schweigt als einen weiteren ‚Beweis‘ für die Verantwortungslosigkeit der Befürworter des Münchener Abkommens polemisch auszubeuten. Nizans Vorwort zur Chronique de septembre enthält eine Hermeneutik des offiziellen Dokuments, sei es die Hermeneutik des Textes eines internationalen Abkommens, eines Vertrags oder einer Vereinbarung usw. Sie ist für den Diplomaten ebenso nützlich wie für den Juristen oder den Historiker, und für ihre Beherrschung sind linguistische Kompetenzen von Vorteil. Ein Linguist weiß, daß der Teufel manchmal in der stets nur annähernd adäquaten Übersetzung steckt - einer Übersetzung, deren Details durchaus einen grundsätzlichen Streit entfachen können. Das folgende Beispiel stammt von Nizan: „Il sera suffisant de méditer sur cette phrase de l’accord de Munich: ‚Les autres territoires à prédominance allemande‘, et de se dire que le texte anglais parle de zones à caractère ‚predominantly german‘. Ce qui est fort différent.“ 27 Schließlich möchte Nizan der breiten Öffentlichkeit ein Stück Zeitgeschichte verständlich machen, dessen großer Unübersichtlichkeit er sich bewußt ist. So sichert er sein Programm zum einen durch einige methodologische Vorsichtsmaßnahmen ab: Er könne nur das sagen, was er wisse, und auch dieses Wissen stehe unter dem Vorbehalt, daß es durch spätere Recherchen in den diplomatischen Archiven revidiert werden könnte. Zum anderen hegt der engagierte Nizan aber durchaus apologetische und polemische Absichten. So geht es ihm zum Beispiel darum, den Bericht zu kritisieren, den der französische Ministerpräsidenten Daladier bei seiner Rückkehr aus München dem französischen Parlament erstattete. Daladier gab darin an, 26 Ebd., S. 14-15. [Dt.: Während der Septemberkrise berichtete man zum Beispiel dem Verfasser dieser Zeilen, daß Herr Chimery, Präsident der radikalen Fraktion, in den Gängen der Abgeordnetenkammer gesagt habe: ‚Wie wollen Sie denn eine Politik des Widerstands praktizieren? Wissen Sie, wie viele einsatzfähige Flugzeuge wir haben? Fünfundzwanzig.‘ Solche Aussagen sind buchstäblich unglaubwürdig: Sie erforderten gleichzeitig eine Kritik ihrer Äußerung, eine Kritik an dem, der sie wiedergab, und eine Kritik ihrer Wahrscheinlichkeit: War es wahrscheinlich, daß der Präsident einer im Parlament vertretenen Partei eine Behauptung aufgestellt hatte, die ganz offensichtlich falsch war? Man hätte die Glaubwürdigkeit des Informanten und die Kenntnisse, die Informationen von Herrn Chimery einschätzen können müssen. Die Probleme waren jedoch unüberwindbar und das ‚Gerücht‘ nicht zu verwerten]. 27 Ebd., S. 16. [Dt.: Es reicht schon, über den folgenden Teilsatz des Münchener Abkommens nachzudenken: ‚Die anderen Gebiete unter deutscher Vorherrschaft‘ (frz.: ‚Les autres territoires à prédominance allemande‘), und sich zu sagen, daß der englische Text von Zonen spricht, die ‚predominantly german‘ seien. Was etwas ganz anderes ist]. ‚Predominantly‘ bedeutet ‚hauptsächlich, wesentlich‘. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 197 dem Intrigenspiel der Geheimdiplomatie ein Ende gesetzt und den Frieden gesichert zu haben. Demgegenüber macht der unbestechliche Nizan einen Unterschied zwischen der offiziellen Version Daladiers und dem (unbekannten) wörtlichen Text der vertraulichen Gespräche: „On ignore en vérité le contenu des entretiens réels entre MM. Chamberlain, Daladier, Hitler et Mussolini: on ne saurait regarder le rapport des quatre négociateurs comme un procès-verbal indiscutable des faits, mais seulement comme un témoignage.“ 28 Nizan macht auf diese Weise das Schauspiel der Schwindeleien und Gegendarstellungen sichtbar, das am Auftakt des Zweiten Weltkriegs steht und sich vor dem Bühnenhintergrund ohnmächtiger Rhetorik, verschlagenen Mißtrauens, mangelnder Vorbereitung und absichtlicher Irreführung immer weiter ausbreitet. Er analysiert diese Entwicklung mit einer Wut, die nur von der Darstellungsform in Zaum gehalten wird, die Nizan sich selbst auferlegt hat. Sein vielstimmiger chronologischer Bericht ist ein dramaturgisches Konzentrat - und ich benutze die Theaterterminologie in diesem Kontext bewußt, da Nizan, so wie es in Tragödien üblich ist, eine Liste mit einem wahren ‚Dramenpersonal‘ erstellt, in der die Hauptpersonen in alphabetischer Reihenfolge neben den Komparsen im Hintergrund und der diplomatischen ‚Kulisse‘ stehen. Darin kommt im übrigen Alexis Léger, alias Saint-John Perse, in der undankbaren Rolle des Generalsekretärs des französischen Außenministeriums vor. Der Text changiert zwischen erklärenden, vorwiegend didaktischen Abschnitten, primär erzählerischen Einschüben sowie diplomatischen und analytischen Teilen, in denen die das Münchener Abkommen ablehnende Haltung des Autors zum Ausdruck kommt. Das trifft insbesondere auf das entscheidende Kapitel mit dem Titel „La résistance et le recul“ (Der Widerstand und das Nachgeben) zu. Es zeigt in aller Deutlichkeit, wie Nizans erzählerische Anklagetechnik beschaffen ist. Der Autor stellt darin ohne falsche Rücksichtnahme die wechselnden Masken und die auf Zeit spielende Nachgiebigkeit von Chamberlain und Daladier bloß: Cette mission de Chamberlain à Godesberg donna précisément au chancelier du Reich l’impression qu’il était le maître de la situation et que ni Londres ni Paris n’envisageaient pour le moment de préciser la résistance. M. Edouard Daladier a déclaré: ‚L’irréparable, c’était l’agression.‘ Il n’y a pas de doute sur ce point. Mais la question est de savoir pourquoi, à dater du retour de M. Chamberlain à Londres, les gouvernements britannique et français ont considéré que l’irréparable ne pouvait être évité que par de nouvelles concessions mais non par des résistances collectives préalables. On est par là conduit à une nouvelle question, celle de savoir si dès le début de la semaine critique, Berlin n’était pas légitimement fondé à croire que la résistance officielle n’était que le paravent 28 Ebd., S. 19. [Dt.: In der Tat kennen wir den Inhalt der wirklichen Gespräche zwischen Chamberlain, Daladier, Hitler und Mussolini nicht: man darf den Bericht der vier Verhandlungsführer nicht als unanfechtbares Protokoll der Tatsachen ansehen, sondern nur als eine Zeugenaussage]. 198 Martine Boyer-Weinmann de concessions assurées. La résistance apparemment définie par les mesures de sécurité françaises, qui coïncident avec le moment de tension maxima des conversations de Godesberg, fléchit précisément au cours des entretiens de Londres, ces entretiens qui ont comporté un tête-à-tête entre MM. Daladier et Chamberlain, sur lequel on est encore moins renseigné que sur le tête-à-tête final de Godesberg. 29 Schlimmer noch: Die beiden Gesprächspartner haben nicht nur nachgegeben, sondern sich gegenseitig die Verantwortung für die aus diesem Nachgeben resultierenden Folgen zugeschoben. Für Nizan ist der Ausschluß der UdSSR und der USA aus den diplomatischen Verhandlungen ein belastbarer Beweis dafür, daß Frankreich und Großbritannien in den Verhandlungen mit Hitler nicht allzu große Streitlust zur Schau stellen wollten: Autrement dit, - et pour résumer l’essentiel de cette analyse, - les gouvernements de Londres et de Paris ne paraissent avoir à aucun moment envisagé sérieusement d’utiliser les éléments de résistance que constituaient la position de l’URSS et de la Petite Entente d’une part, les éléments de résistance et de négociation que constituaient d’autre part les démarches du gouvernement américain. 30 Wie im Anschluß klar wird, ist es für Nizan an der Zeit, dem Münchener Abkommen den Todesstoß zu geben: Ihm zufolge wurde Mussolini deshalb zum Vermittler in der Münchener Krise ernannt, da in Frankreich und in England die Angst vor einer sozialen Bewegung herrschte, die der UdSSR den Vorwand für ein mögliches Einschreiten geliefert hätte. Damit bleibt Nizan seinem kommunistischen Engagement treu und erweist sich gleichzeitig als hellsichtiger Beobachter des betrügerischen Spiels am Verhandlungstisch in München. Er schließt seine Bewertung der aktuellen Krise mit einer ungelösten Frage, die voller politischer und ethischer Konsequenzen 29 Ebd., S. 177. [Dt.: Diese Mission von Chamberlain in Godesberg vermittelte dem Reichskanzler den Eindruck, daß er der Herr der Situation sei, und daß weder London noch Paris vorläufig planten, ihren Widerstand in die Tat umzusetzen. Herr Edouard Daladier hat erklärt: ‚Ein Angriff wäre irreparabel gewesen.‘ Darüber besteht kein Zweifel. Aber die Frage bleibt offen, warum nach der Rückkehr Chamberlains nach London die britischen und französischen Regierungen der Meinung waren, daß das Irreparable nur durch weitere Zugeständnisse vermieden werden konnte, aber nicht durch vorausgehenden kollektiven Widerstand. Damit stößt man auf eine weitere Frage, ob nicht Berlin schon zu Beginn der kritischen Woche berechtigterweise allen Grund zu der Annahme hatte, daß der offizielle Widerstand nur der Deckmantel der bereits zugesicherten Zugeständnisse war. Der Widerstand, der sich offenbar aus den in Frankreich ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen ergab, die mit dem Augenblick der größten Spannung bei den Godesberger Gesprächen zusammenfielen, ließ gerade im Verlauf der Londoner Gespräche nach, bei denen es ein Gespräch unter vier Augen zwischen Daladier und Chamberlain gab, über das man noch weniger weiß als über ihr abschließendes Godesberger Gespräch unter vier Augen]. 30 Ebd., S. 194. [Dt.: Um das wesentliche Ergebnis dieser Analyse in anderen Worten zusammenzufassen, scheinen die Regierungen von London und Paris zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen zu haben, die Elemente des Widerstands zu nutzen, die sich ihnen einerseits durch die Position der UdSSR und der ‚kleinen Entente‘ boten, andererseits durch die Elemente des Widerstands und der Verhandlungsbereitschaft, die die diplomatischen Schritte der amerikanischen Regierung bestimmten]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 199 ist: Hat es eine vorhergehende Absprache mit Hitler gegeben oder nicht? Damit stellt er sich an die Seite Julien Bendas, der in einem von der Nouvelle Revue française (NRF) am 1. November 1938 publizierten Artikel („Lendemains d’une trahison“) in allerdings noch deutlicheren Worten von Verrat spricht. Auch ist Nizan - zumindest für einige Monate - noch auf der politischen Linie von Louis Aragon, der das Münchener Abkommen in der Tageszeitung Ce Soir folgendermaßen kommentiert: „La France vient de subir une dévaluation morale qui lui coûtera encore plus cher que les dévaluations monétaires.“ 31 4 Nachrichten vom ‚getäuschten Mann bei der Armee‘ Nizans Kriegskorrespondenz mit seiner Frau ist in unserem Zusammenhang in wenigstens dreierlei Hinsicht aufschlußreich - in ihr zeigt sich entlang der historischen Entwicklung der drôle de guerre, was ich die drei wichtigsten Gefühlszustände des Schriftstellers nennen würde. Da ist zunächst die blanke Wut, die in der rationalistischen Analyse der Konsequenzen des Münchener Abkommens manifest wird. Dann - und dieser Affekt scheint die Aufgabe zu haben, den ersten zu überdecken, indem er ihn auf die künstlerische Ebene hebt - ist eine paradoxe Euphorie der Freiheit zu beobachten, an der man den großen Einfluß des Stoizismus auf die intellektuelle Bildung Nizans ablesen kann und die darauf beruht, in feindlicher Umgebung schöpferisch tätig sein zu können. Schließlich ist eine radikale Melancholie zu beobachten - und dieses Gefühl scheint in den letzten drei Monaten seines Lebens dominant gewesen zu sein -, die sich mitunter mit dem Humor als der Höflichkeit der Verzweiflung verbindet. Nizan schlüpft für seine Frau, die persönlich unter Druck gesetzt wird, damit sie sich von ihrem Mann distanziert, in die Rolle des Pädagogen und Strategen. Anders als man es erwarten würde, stellt er in seinen Briefen weniger die moralische Schuld des PCF heraus, auch wenn diese Überlegungen natürlich präsent sind, als vielmehr das intellektuelle Versagen der Partei, ihr fehlendes Verständnis der Komplexität der Situation. Gewiß, „les affaires de Pologne constituent une application insoutenable de la realpolitik“ 32 . Dem gewieften Schachspieler, der er im Zivilleben war, geht es aber vor allem darum, sein eigenes Spiel zu verteidigen: 31 Louis Aragon in Ce Soir (3. Oktober 1938). Zitiert nach Jacques Bouillon/ Geneviève Vallette: Munich 1938, l’Histoire par la presse, Paris: Armand Colin 1986, S. 168. [Dt.: Frankreich hat eine moralische Abwertung erfahren, die das Land teurer zu stehen kommen wird als die Währungsabwertungen]. 32 Alle zitierten Auszüge aus Paul Nizans Briefen an Henriette Nizan sind der folgenden Ausgabe entnommen: Paul Nizan intellectuel communiste, écrits et correspondance, 1926- 1940, prés. par Jean-Jacques Brochier, Paris: François Maspero 1967 (cahiers libres 104- 105), hier S. 256 (Brief vom 22. September 1939). [Dt.: Gewiß sind die polnischen Angelegenheiten als eine unerträgliche Verwirklichung realpolitischer Grundsätze anzusehen]. 200 Martine Boyer-Weinmann Tu comprendras pourquoi j’ai donné une certaine publicité à la position que j’avais dû prendre. Aucun doute que ce soit le seul moyen de garantir l’avenir et les dirigeants français se sont conduits comme des imbéciles en ne le comprenant pas. Ils auraient pu prendre ailleurs des leçons d’opportunisme et de stratégie. Ils auraient bien tort de ne pas lire Clausewitz. 33 In mehreren Briefen kommt er im Abstand von einem, dann von zwei Monaten auf dieses Thema zurück, und zwar mit Äußerungen, deren Inhalt ziemlich machiavellistisch anmutet: Ce n’est pas parce que je croyais ‚mal‘ de la part de l’U.R.S.S. son accord avec Berlin que j’ai pris la décision que j’ai prise. C’est précisément parce que j’ai pensé que les communistes français ont manqué du cynisme nécessaire et du pouvoir politique de mensonge qu’il eût fallu pour tirer les bénéfices les plus grands d’une opération diplomatique dangereuse. […] Je ne comprends malheureusement la bonne conscience que chez les vainqueurs et chez les vaincus qui ont tout épuisé de leurs moyens et qui ont bonne conscience quoique vaincus. Tu me demandes ce que tu dois faire. Je ne pense pas que tu aies à leur donner des gages de ton courage et de ton honnêteté: tu n’as aucun compte à leur rendre. […] Les comptes qui seront demandés au retour le seront vraisemblablement à tout le monde. Et puis finalement j’emmerde les poseurs de cas de conscience et je te conseille de faire comme moi. 34 Ein Brief von Ende Oktober 1939 erneuert noch einmal diesen Angriff und enthält zudem die folgende Kampfansage: Ils ont toujours cru à la simplicité des choses, à l’imagerie d’Epinal et aux malices cousues de fil blanc ou de fil rouge. S’il y a une chose dont je sois absolument sûr, c’est de la complication. Tout se passe en calculs à triple ou quadruple développement. Ils en sont restés à l’arithmétique, et ils ne voient pas qu’on est dans l’analyse, et dans les équations à plusieurs inconnues, les fonctions de diverses variables. Par le temps qui court je ne reconnais qu’une vertu, ni le courage, ni la volonté du martyre, ni l’abnégation, ni l’aveuglement, mais seulement la volonté 33 Ebd., hier S. 257 (Brief vom 30. September 1939). [Dt.: Du wirst verstehen, warum ich der Position, die ich vertreten mußte, ein gewisses Forum in der Öffentlichkeit gegeben habe. Es war zweifellos das einzige Mittel, die Zukunft zu sichern, und die französischen Führungskreise haben sich wie Dummköpfe benommen, da sie das nicht verstanden haben. Unterricht in Fragen des Opportunismus und der Strategie hätten sie woanders nehmen können. Sie sollten dringend Clausewitz lesen]. 34 Ebd., S. 261 (Brief vom 22. Oktober 1939). [Dt.: Nicht weil ich das Abkommen der UdSSR mit Berlin für ‚schlecht‘ hielt, habe ich die Entscheidung getroffen, die ich getroffen habe. Ich habe sie getroffen, weil ich der Ansicht war, daß es den französischen Kommunisten am notwendigen Zynismus und an der Lüge als mächtigem politischem Mittel fehlte, die man gebraucht hätte, um den größtmöglichen Vorteil aus der gefährlichen diplomatischen Situation zu ziehen. <…> Für mich ist nun einmal ein gutes Gewissen nur bei den Siegern und bei jenen Besiegten nachvollziehbar, die alle ihre Mittel ausgeschöpft haben, und die ein gutes Gewissen haben, obwohl sie besiegt wurden. Du fragst mich, was du tun sollst. Ich denke nicht, daß du ihnen einen Beweis deines Mutes und deiner Ehrlichkeit schuldig bist: du mußt dich nicht vor ihnen rechtfertigen. <…> Die Rechenschaft, die man einmal verlangen wird, wird man wahrscheinlich von allen verlangen. Und letztlich scheiße ich auf diejenigen, die einem ständig ein schlechtes Gewissen machen wollen, und ich rate dir, das genauso zu machen]. Schreibweisen der Krise bei Paul Nizan 201 de comprendre. Le seul honneur qui nous reste est celui de l’entendement. […] Quand la mystification aura pris fin, nous nous expliquerons. 35 Mit der angesprochenen Täuschung („mystification“) wird Nizan freilich niemals fertig werden. Beim Warten, und weil man sich in der Kaserne zwischen Fußball, Belote- und Bridgepartien die Zeit vertreiben muß, nutzt er das erzwungene Nichtstun als eine geistige Energiequelle. Er ist voller Projekte, plant unter anderem eine Fortsetzung der „Chronique de Septembre (II) faite au point de vue de l’historien et de celui, qui domine ici, de l’homme mystifié des Armées“ 36 . Vor allem aber beschäftigt ihn sein Roman La Soirée de Somosierra. Nizan kommt mit ihm schnell voran und berichtet davon regelmäßig seiner Frau. Die sein kreatives Schaffen thematisierenden Briefe von der Front scheinen unter dem Einfluß von Epiktets Handbüchlein der Moral zu stehen; sie wurden jedenfalls unter verschärften äußeren Bedingungen verfaßt: L’état de guerre est un état de cataclysme naturel: il est surprenant de se dire qu’on n’est jamais plus libre d’avoir une vie privée que dans l’atmosphère des cyclones et des tremblements de terre, c’est-à-dire dans des situations où il n’y a provisoirement ‚rien à faire‘. 37 Auch der Soldat Nizan kommt, wie seine Kameraden, nicht um das herum, was er auf Deutsch die „Nervenproben“ 38 der drôle de guerre nennt. Im Januar 1940 attestiert er sich selbst eine auf drei Monate begrenzte, psychologische Widerstandskraft. Damit prophezeit er unbewußt den eigenen Todeszeitpunkt. Sein Brief vom 9. Januar 1940 dürfte der pessimistischste sein. Darin finden sich die folgenden Sätze: 35 Ebd., S. 262 (Brief vom 24. Oktober 1939). [Dt.: Sie haben die Dinge immer für einfach gehalten, immer an Abziehbilder und an leicht durchschaubare Tricks geglaubt. Wenn es etwas gibt, dessen ich absolut sicher bin, dann ist es die Kompliziertheit. Alles basiert auf Rechnungen dritten oder vierten Grades. Sie aber sind in der Arithmetik verblieben und sehen nicht, daß wir in der Analysis sind, in Gleichungen mit mehreren Unbekannten und Funktionen mit verschiedenen Variablen. In der heutigen Zeit erkenne ich nur eine Tugend an: nicht den Mut oder den Willen zum Märtyrertod, nicht die Opferbereitschaft oder die Blindheit, sondern nur den Willen zum Verstehen. Die einzige Ehre, die uns bleibt, ist die des Verstehens <…>. Wenn die Täuschung zu Ende ist, werden wir ein deutliches Wort miteinander zu sprechen haben]. 36 Ebd., S. 259 (Brief vom 15. Oktober 1939). [Dt.: <…> Chronique de septembre (II), geschrieben aus der Sicht des Historikers und aus der hier vorherrschenden des getäuschten Mannes bei der Armee]. 37 Ebd., S. 257 (Brief vom 30. September 1939). [Dt.: Der Kriegszustand ist eine Naturkatastrophe: Überraschenderweise ist es berechtigt zu sagen, daß man nie freier ist, ein Privatleben zu haben, als inmitten der Zyklone und der Erdbeben, das heißt in Situationen, in denen es vorläufig ‚nichts zu tun‘ gibt]. 38 Ebd., S. 263 (Brief vom 28. Oktober 1939). 202 Martine Boyer-Weinmann J’avais déjà en horreur Kierkegaard et la phénoménologie allemande. À présent que je vis dans un monde heideggerien, mes sentiments se sont encore renforcés. L’Etat-major s’occupe du ‚moral‘ de l’armée, entendant par là les ‚distractions‘ saines comme de bien entendu, mais il ne soupçonne pas qu’il devrait s’occuper de la ‚métaphysique‘ de l’armée et que le moindre paysan sent ses démêlés avec le vide, le mystère et le temps de la même façon que Kafka. 39 Ein ‚Gefühl der Vernichtung‘ erfaßt ihn, und ihm bleibt nur noch ein schrecklich illusionsloser Humor, um auszudrücken, wie wenig die Literatur in solchen schwarzen Stunden hilfreich sein kann: J’ai commencé à rouvrir mes papiers des Amours de Septembre et je pense que je pourrai m’y remettre. Non sans mal. Je ne sais comment font les écrivains, comme Sartre ou Chamson, qui continuent leur fabrication comme s’il ne se passait rien. C’est un fait que les événements me divertissent au sens le plus fort du mot, mais sont à leurs yeux comme n’étant pas. C’est qu’ils doivent croire à l’importance mondiale de leurs écrits et se dire que tout le monde attend avec impatience et angoisse leurs romans. Je ne partage pas ces illusions réconfortantes […]. 40 Vielleicht ist Nizan in solchen Aussagen ungerecht gegenüber seinem ‚kleinen Kameraden‘ Sartre, den er mit Charakterzügen ausstattet, die besser zu einem Autor wie Gide gepaßt hätten. Dennoch spricht er darin etwas an, was als die große Stärke der Literatur bezeichnet werden kann. Die Literatur ist gerade in historischen Krisenzeiten imstande, trostspendende Illusionen zu geben, die nützlich im Sinne Nietzsches sind und auf die Nizan bis zum Ende mit grausamer Hellsichtigkeit vertraute. Vielleicht konnte nur ein so engagierter Schriftsteller wie er die richtigen Worte finden, um zu sagen, daß die Frivolität der Literatur eine (gleichzeitig) bezwingende und lächerliche Notwendigkeit besitzt. 39 Ebd., S. 269 (Brief vom 9. Januar 1940). [Dt.: Kierkegaard und die deutsche Phänomenologie verabscheute ich schon zuvor. Jetzt, da ich in einer Heideggerschen Welt lebe, ist meine Antipathie noch stärker geworden. Der Generalstab kümmert sich um die ‚Moral‘ der Armee und versteht darunter selbstredend gesunde ‚Zerstreuungen‘, aber er ahnt nicht, daß er sich um die ‚Metaphysik‘ der Armee kümmern müßte, und daß der kleinste Bauer seinen Konflikt mit dem Nichts, dem Geheimnis und der Zeit auf die gleiche Weise wie Kafka spürt]. 40 Ebd., S. 280 (Brief vom 28. März 1940). [Dt.: Ich habe angefangen, die Seiten meiner Amours de Septembre wieder aufzuschlagen, und ich denke, daß ich wieder daran arbeiten könnte. Nicht ohne Mühe. Ich weiß nicht, wie es Schriftsteller wie Sartre oder Chamson anstellen, die einfach weiterschreiben als wäre nichts passiert. Es ist eine Tatsache, daß die Ereignisse mich zerstreuen, in der tiefsten Bedeutung des Wortes, aber in ihren Augen existieren sie nicht. Sie müssen wohl von der weltweiten Bedeutung ihrer Schriften überzeugt sein und sich sagen, daß alle mit Ungeduld und Bangen auf ihre Romane warten. Ich teile diese tröstenden Illusionen nicht <…>]. Brita Eckert „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk Thema meines Beitrags ist das publizistische und erzählerische Spätwerk des im Exil in Paris lebenden österreichischen Schriftstellers Joseph Roth als ein Beispiel für die Reaktion deutschsprachiger Exilautoren auf die europäische Krise nach dem Münchener Abkommen, - ein Beispiel, wohl eher untypisch, was die politische Einstellung Roths angeht, in vieler Hinsicht aber doch kennzeichnend für die deutschsprachigen Exilanten. * „[…] ich bin ein Franzose aus dem Osten.“ 1 Diese Worte finden sich in einem Brief Joseph Roths an seinen Kollegen Benno Reifenberg, geschrieben am 1. Oktober 1926 in Odessa. Seit den 1920er Jahren hatte der 1894 im galizischen Brody geborene Roth starke Affinitäten zu Frankreich: von Frühjahr 1925 bis Frühsommer 1926 lebte er als Feuilleton-Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris. Begeistert schrieb er kurz nach der Ankunft an Benno Reifenberg nach Frankfurt: Es drängt mich, Ihnen ‚persönlich‘ zu sagen, daß Paris die Hauptstadt der Welt ist und daß Sie hierher kommen müssen. Wer nicht hier war, ist nur ein halber Mensch und überhaupt kein Europäer. Es ist frei, geistig im edelsten Sinn und ironisch im herrlichsten Pathos. Jeder Chauffeur ist geistreicher, als unsere Schriftsteller. 2 Glaubt man Hermann Kesten, so war Roth, wenn überhaupt, nur in Paris zu Hause. 3 Er muß auch ausgezeichnet Französisch gesprochen haben. Die Ärzte im Hôpital Necker, in dem er am 27. Mai 1939 starb, waren erstaunt über sein „wunderbares Französisch“ 4 . 1 Abgedruckt in: Joseph Roth: Briefe 1911-1939, hg. von Hermann Kesten, Köln/ Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 97-98, hier S. 98. 2 Joseph Roth an Benno Reifenberg (Brief vom 16. Mai 1925, Paris). Abgedruckt in: ebd., S. 45-46, hier S. 45. - In seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“ aus dem Jahre 1927 pries Joseph Roth Paris als Erfinderin der Menschenrechte und somit auch der Emanzipation der Juden. 3 Hermann Kesten: „Der Mensch Joseph Roth“, in: Joseph Roth. Leben und Werk. Ein Gedächtnisbuch, hg. von Hermann Linden, Köln/ Hagen: Kiepenheuer 1949, S. 15-26, hier S. 24. 4 So Dr. Eduard Broczyner in einem Interview zu David Bronsen. Abgedruckt in: David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 597. Brita Eckert 204 Seit seinem Paris-Aufenthalt stand Roth in Verbindung mit französischen Intellektuellen, unter anderen mit dem Literaturkritiker und Übersetzer Félix Bertaux, einem der besten Kenner und Vermittler deutschsprachiger Literatur in Frankreich. 5 Bertaux hat das französische Publikum erstmals 1928 mit dem Schriftsteller Joseph Roth bekannt gemacht, in einer Rezension des Romans Die Flucht ohne Ende in der Nouvelle Revue française. 6 Im gleichen Jahr stellte er ihn in seinem Panorama de la littérature allemande contemporaine vor. 7 Von 1929 an stand Roth auch in freundschaftlicher Beziehung zu Bertaux’ Sohn Pierre, der von 1929 bis 1930 als Lektor an der Humboldt-Universität in Berlin tätig war. Am Tag der nationalsozialistischen Machtübernahme ging Joseph Roth nach Paris ins Exil, das sein Hauptwohnort bis zu seinem Tod im Mai 1939 bleiben sollte. Damals wurde Roth zum österreichischen Legitimisten, er engagierte sich also für die Wiederherstellung der Monarchie der Habsburger als der - wie er meinte - einzigen Möglichkeit, die Annexion Österreichs zu verhindern; nach Otto von Habsburg gehörte Roth zu den „tragenden Säulen der Bewegung und unterstützte sie durch das Prestige seines Namens“ 8 . Neben Romanen und Erzählungen, die meist in den Verlagen Allert de Lange und Querido, Amsterdam, erschienen, publizierte Roth vor allem in der von Leopold Schwarzschild herausgegebenen Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch, daneben auch unter anderem im Pariser Tageblatt/ Pariser Tageszeitung und in politisch so unterschiedlichen Organen wie Willi Münzenbergs Zeitung Die Zukunft und der christlich-konservativen Wochenschrift Der Christliche Ständestaat Dietrich von Hildebrands; 1939 schrieb er eine Artikelserie mit dem bezeichnenden Titel Schwarz-gelbes Tagebuch in der österreichischen Exilzeitschrift Die Österreichische Post. Gelegentlich erschienen auch Artikel Roths in französischen Zeitschriften, so Übersetzungen von Artikeln, die bereits in Exilzeitschriften veröffentlicht worden waren, wie einige Aufsätze in der linken Monatsschrift Europe, und Originalveröffentlichungen wie der große Aufsatz „L’autodafé de l’esprit“ über die Bücherverbrennung in einer Themennummer der Zweimonatsschrift Cahiers Juifs vom Herbst 1933 über „L’apport des juifs d’Allemagne à la civilisation allemande“. 9 5 Vgl. hierzu: Lionel Richard: „Die Roth-Rezeption im Frankreich der Zwischenkriegszeit“, in: Joseph Roth. Interpretation - Kritik - Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposiums 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert, Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 269-278. 6 Félix Bertaux: [Rez.], in: La Nouvelle Revue française 30 (Januar-Juni 1928), S. 562. Bertaux charakterisiert darin den Protagonisten - wie auch diejenigen der späteren Romane Roths - durch Unbefriedigtsein und Desillusionierung. 7 Félix Bertaux: „Joseph Roth“, in: Panoramas des littératures contemporaines, Bd. 5: Littérature allemande, Paris: Kra 1928, S. 289-292 und S. 315. 8 Vgl. Bronsen: Joseph Roth, Anm. 4, S. 485. 9 Joseph Roth: „L’autodafé de l’esprit“, in: Cahiers Juifs 5-6 (September-November 1933), S. 161-169. In deutscher Rückübersetzung von Brita Eckert unter dem Titel „Das Auto- „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 205 Eine wichtige Rolle als Bezugsperson während Roths Pariser Exil spielte die Übersetzerin Blanche Gidon, die von 1934 an (bis 1947) einen Großteil seiner erzählerischen Prosa übersetzte und während des Kriegs seinen Nachlaß in ihrem Keller aufbewahrte. In ihrem Haus in der Rue des Martyrs lernte Roth unter anderen Gabriel Marcel kennen; hier fand das Interview mit Roth statt, das Frédéric Lefèvre in seiner angesehenen Reihe der ‚Gespräche‘ in den Nouvelles Littéraires am 2. Juni 1934 veröffentlichte. 10 Vor allem war es Roths Engagement gegen den Nationalsozialismus, das ihn in Pariser Intellektuellenkreisen bekannt machte. Dabei war er von wachsender Resignation erfüllt, was die Wirkungsmöglichkeiten von Publizistik im Exil betrifft. Einige Zitate mögen dies belegen: In den ersten Jahren seines Exils ist Roths politische Publizistik von einer existentialistischen Haltung eines ‚Trotzalledem‘ geprägt: Ganz ohne Illusionen, was die Wirkungsmöglichkeiten der im Exil lebenden Politiker und Schriftsteller betrifft, hält er dennoch den „unerbittlichen Kampf gegen Deutschland“ für „die Aufgabe des Dichters in dieser unserer Zeit“; so am 12. Dezember 1934 im Pariser Tageblatt. 11 Pessimistischer schreibt er bereits im Jahre 1936: Auf eine Anfrage der Redaktion des Neuen Tage-Buchs im Oktober 1936, ob er nach längerer Pause nicht wieder einen Artikel veröffentlichen wolle, antwortet er in Briefform, daß er nicht mehr imstande sei, Artikel zu schreiben, von denen ich befürchten muß, sie könnten einen Grad von Pessimismus verraten, den vor einem weitern Publikum - und sei es auch noch so sehr der Wahrheit gewachsen - zu äußern nicht angebracht sein kann. Es gibt für mich - um unsern Metier-Ausdruck zu gebrauchen - kein ‚Thema‘, das mir gestatten würde, einen Artikel mit jenem Mindestmaß von Zuversicht zu schließen, dessen eine Äußerung in einer Zeitschrift selbstverständlich bedarf. In diesem offenen Brief, der die Überschrift „Statt eines Artikels“ trägt, schreibt er, daß er nicht glaube, „daß das Wort noch eine unmittelbare ‚aktuelle‘ Kraft“ habe, und unterzeichnet mit der Formel „In trauriger Resignation“. 12 Diese pessimistische Haltung findet sich noch gesteigert in Roths politischer Publizistik nach der Annexion Österreichs. In einem undatierten Manuskript im Nachlaß mit dem Titel „Der Maulkorb für deutsche Schriftsteller“, ein Manuskript, das vermutlich erst nach dem Münchener Abkommen geschrieben wurde, vertritt er die Auffassung, daß es Aufgabe der emi- dafé des Geistes“, abgedruckt in: Joseph Roth: Werke 3. Das journalistische Werk 1929- 1939, hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 494-503. 10 Frédéric Lefèvre: „Une heure avec Joseph Roth“, in: Les Nouvelles Littéraires 607 (2.6.1934), S. 6. In deutscher Rückübersetzung unter dem Titel „Von deutscher Literatur. Eine Stunde mit Joseph Roth“, abgedruckt in: Roth, Werke 3, Anm. 9, S. 1031-1035. Roth erwähnt in diesem Interview biographische Details und macht Aussagen über seine Romankonzeption. 11 Joseph Roth: „Unerbittlicher Kampf. (Antwort auf eine Umfrage)“, in: Pariser Tageblatt 365 (12.12.1934), S. 4. Abgedruckt in: Roth, Werke 3, Anm. 9, S. 559. 12 Joseph Roth: „Statt eines Artikels“, in: Das Neue Tage-Buch, Jg. 4 (1936), Nr. 42 (17.10.), S. 995-997. Abgedruckt in: ebd., hier S. 687 und S. 690. Brita Eckert 206 grierten Schriftsteller sei, „nicht nur die Wahrheit über ihr eigenes Vaterland auszusagen, sondern auch das Gastland, in dem sie Unterkunft gefunden haben, vor dem Feind zu warnen“. In der gegenwärtigen Situation scheine es aber, „daß die Gastländer gar nicht gewarnt sein wollen: […] Also wird uns, den Freunden des Auslands, ein Maulkorb angebunden.“ Angesichts der Unmöglichkeit, vom Gastland gehört zu werden, schließt Roth: Arme deutsche Hunde, die wir sind, werden wir schweigen müssen und keineswegs bellen können, sobald unsere alten deutschen Herren sich gefährlich dem Gastland nähern, das wir zu bewachen die Absicht hatten. Die Tinte ist ebenso vergeblich vergossen wie das Blut. Finden wir uns damit ab, daß die Welt, für die wir einmal zu schreiben gedacht hatten, taub und stupide geworden ist und daß wir nur noch wenig mehr - vielleicht gar nichts in ihr zu suchen haben. 13 Roths eigene Überzeugung, daß ein Artikel ohne die geringste Zuversicht in die Wirkungsmöglichkeiten des Wortes nicht veröffentlicht werden könne, wird durch das Schicksal dieses Artikels bestätigt - er blieb unveröffentlicht bis zum Erscheinen der vierbändigen Werkausgabe Hermann Kestens in den Jahren 1975 und 1976. 14 Hier wird kein Engagement ‚trotz alledem’ mehr propagiert, sondern nur noch das Schweigen thematisiert - Assoziationen an Kurt Tucholskys letzte Eintragung in seinem Sudelbuch, die Zeichnung „Eine Treppe“ mit der Steigerung: „Sprechen - Schreiben - Schweigen“, wohl im Jahr seines Freitods 1935 entstanden 15 , liegen nahe. Wie steht es mit Roths politischer Publizistik und seinem schriftstellerischen Werk in der Zeit nach dem Münchener Abkommen? Bei einem Frankreich so nahestehenden und politisch so engagierten Schriftsteller wie Joseph Roth wäre sogar eine direkte Stellungnahme zum Münchener Abkommen und zum deutsch-französischen Nichtangriffspakt - z.B. ein Artikel in der Exilpresse, eine Briefstelle - zu erwarten gewesen, hat er sich doch auch früher zu aktuellen politischen Ereignissen wie der Bücherverbrennung, dem Konkordat oder dem ‚Berchtesgadener Abkommen‘ geäußert. Dies scheint beim Münchener Abkommen offensichtlich nicht der Fall zu sein. Im Neuen Tage-Buch z.B. bringt Leopold Schwarzschild vom 1. Oktober 1938 an ausführliche Leitartikel und Kommentare, aber keine Äußerung von Joseph Roth, der erst wieder in Heft 49 vom 3. Dezember 1938 zu Wort kommt. Daß ‚München‘ aber dennoch einen Einschnitt für ihn bedeutet, geht aus einer Reaktion hervor, die Soma Morgenstern in seinen Erinnerungen an Joseph Roth überliefert: Danach habe Roth, als er, wohl im Frühjahr 1939, im Café Weber mit dem Antisemitismus französischer Gäste konfrontiert wor- 13 Joseph Roth: „Der Maulkorb für deutsche Schriftsteller“, in: ebd., S. 852-853. 14 Joseph Roth: Werke, 4 Bde., hg. von Hermann Kesten, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975-1976, hier Bd. 4, 1976, S. 323-324. 15 Abgebildet z.B. auf dem Umschlag des Ausstellungskatalogs: Kurt Tucholsky 1935-1975. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Ausstellung und Katalog: Werner Berthold und Mechthild Hahner, Frankfurt am Main: Dt. Bibliothek 1976. „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 207 den war, das Café sofort verlassen und den Freund an dessen Bemerkung nach Eintreffen der Nachricht vom Münchener Abkommen erinnert: ‚Erinnerst dich noch, was du dem Baron Ludwig Hatvany gesagt hast im Café Aux Deux Magots? ‘ Ich konnte mich nicht erinnern, aber wie er hinzufügte: ‚Es war an dem Nachmittag, da die Zeitungen die Nachricht vom Münchener Abkommen brachten, Hatvany fragte dich, was geschehen wird‘, wusste ich es: ‚Hier werden bald direkte Züge Paris - Dachau gehn‘. 16 Darüber hinaus berichtet Morgenstern von einer Begebenheit um den Emigranten Jakob Altmaier, einen sozialdemokratischen Journalisten aus Frankfurt am Main. Altmaier sei unter den Emigranten der einzige gewesen, der „auf die Nachricht von Chamberlains Untat in München an einem Zeitungskiosk auf der Stelle in Ohnmacht fiel“. Roth sei von diesem Fall so beeindruckt gewesen, daß er gleich die Adresse des Spitals polizeilich ermittelte und, von Morgenstern begleitet, mit einem Blumenstrauß Altmaier einen Krankenbesuch abstattete. 17 So liegt die Frage nahe, warum Joseph Roth in seiner Publizistik nicht direkt zum Münchener Abkommen Stellung genommen hat. Verschiedene Gründe dürften zusammen kommen: Von Juli bis Anfang Dezember 1938 veröffentlichte er, wahrscheinlich bedingt durch die Arbeit am Roman Die Kapuzinergruft und die Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Spätherbst, in großen Abständen insgesamt nur sechs Zeitschriften- und Zeitungsartikel. 18 Ein weiterer Grund: Roth war der Überzeugung, daß das NS- Regime nur durch einen Krieg gestürzt werden könne, und hoffte während der Sudetenkrise auf den Ausbruch des Krieges. Wie er am 28. September 1938 an den Verlag de Gemeenschap, Bilthoven, schrieb, rechnete er damit, in einem Tag oder in zwei Tagen „als Offizier der österreichischen Legion“ einrücken zu müssen, dabei seine Selbststilisierung zum österreichischen Offizier aufgreifend. 19 In dieser Hinsicht bedeuteten das Münchener Abkommen und der deutsch-französische Nichtangriffspakt für ihn eine große Enttäuschung, weil sie den Sturz Hitlers hinauszögerten. Der Hauptgrund dürfte aber darin liegen, daß ‚München‘ keine grundlegende Änderung in Roths persönlicher Sicht mehr bewirkt hat, eine Sicht, die immer mehr zu Pessimismus und Resignation tendierte; in dieser Hinsicht dürfte seine Haltung exemplarisch für die vieler Exilautoren sein. 16 Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen, hg. von Ingolf Schulte, Lüneburg: zu Klampen 1994, S. 201. 17 Ebd., S. 226. 18 Am 9.7.1938, 10.9.1938, 12.10.1938, 11.11.1938, 3.12.1938 und im November 1938; vgl. Joseph Roth-Bibliographie. Bearbeitet von Rainer-Joachim Siegel, Morsum/ Sylt: Cicero Presse 1995, Nr. E 1265 bis E 1270, S. 359-360. 19 Joseph Roth an Verlag De Gemeenschap (Brief vom 28. September 1938, Paris). Abgedruckt in: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936-1939, hg. von Theo Bijvoet und Madeleine Rietra, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 171-172, hier S. 171. Brita Eckert 208 Der entscheidende Einschnitt in Roths politischer Auffassung wurde zweifellos bereits durch die Annexion Österreichs vom 11. März 1938 bewirkt, wie auch aus Selbstäußerungen hervorgeht. So schrieb er z.B. am 21. April an den Verlag De Gemeenschap, daß der Untergang seines Vaterlands für ihn „eine seelische Erschütterung“ bedeute, „die selbst der stärkste Wille zur Arbeit nicht überbrücken“ könne. 20 Wenige Wochen vor der Annexion hatte Roth noch Hoffnungen auf die französische Außenpolitik gesetzt, sie abzuwenden. Am 24. Februar 1938 war er im Auftrag der österreichischen Legitimisten, mit Wissen und Einverständnis Otto von Habsburgs, nach Wien gefahren, um mit Schuschnigg in Verbindung zu treten und ihn für einen Staatsstreich zur Rückkehr der Habsburger und somit zur Restitution der Monarchie zu gewinnen. Vor der Abfahrt des Zuges erteilte er seinem Freund Pierre Bertaux, der jetzt Chef de cabinet im französischen Erziehungsministerium und Leiter des französischen Rundfunks in deutscher Sprache bei Radio Strasbourg war, in einem Brief Ratschläge für die französische Außenpolitik hinsichtlich der Haltung zu NS-Deutschland: 3.) Für Frankreich meine Ratschläge: a.) mit Rußland; b.) mit Tschechoslovakei offen zu erklärendes militärisches Bündnis; c.) Eintreten für Österreich, offen. 21 In Wien gelang es Roth lediglich, bei dem Polizeipräsidenten Skubl vorzusprechen, der ihm riet, Österreich umgehend zu verlassen. 22 Nach der Annexion Österreichs, d.h. seit März 1938, sind Joseph Roths Aktivitäten von einer abgrundtiefen Hoffnungslosigkeit bestimmt, die bis zu seinem Tod seine journalistischen und kulturphilosophischen Arbeiten, sein schriftstellerisches Werk - Die Kapuzinergruft und Die Legende vom heiligen Trinker - und seine vor allem Österreich gewidmeten politischen Aktivitäten, z.B. als Vortragsredner, prägt. 23 Spätestens seit der Annexion Österreichs stand auch Roths illusionslose Auffassung von der Haltung der Westmächte zu Hitler, d.h. zur Politik der Nichteinmischung und des Appeasement, fest. Die Klage über die Neutralität bzw. die Non-Intervention der Westmächte - eine politische Sicht - und über die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber den Verbrechen des NS-Regimes - eine moralische Sicht - zieht sich wie ein Leitmotiv durch seine späte Publizistik. In seinem Vortrag „Hommage à l’âme autrichienne“ vom 4. April 1938 z.B. heißt es: 20 Joseph Roth an Verlag De Gemeenschap (Brief vom 21. April 1938, Paris). Abgedruckt in: ebd., S. 139-140, hier S. 140. 21 Joseph Roth an Pierre Bertaux (Brief [24. Februar 1938], Paris-Est, Buffet-Bar). Abgedruckt in: Roth: Briefe 1911-1939, Anm. 1, S. 520. 22 Vgl. hierzu auch: Joseph Roth 1894-1939. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Ausstellung und Katalog: Brita Eckert und Werner Berthold, Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1979, S. 354-364 (Abschnitt „Kampf um Österreich“). 23 Vgl. hierzu auch ebd., S. 364-376 (Abschnitt „Totenmesse“). „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 209 Wir beklagen nicht allein den Sieg der Barbarei, sondern, was noch schlimmer ist, daß diese Barbarei genährt wird von der Neutralität der Zivilisierten oder, im neuesten politischen Jargon gesagt, der Nonintervention, die es vorzieht, anstatt zu handeln, Zeuge zu sein am Tatort, wo sie hingerichtet wird. 24 In einer Glosse in der Pariser Tageszeitung vom 3. Januar 1939, die die Gleichgültigkeit zum Thema hat - in der Überschrift als „Der Feind aller Völker“ bezeichnet -, wird Roth noch deutlicher. In der für ihn typischen Pointierung heißt es: Nichts ist so tierisch wie Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehen im Bereich des Menschlichen. Ein einziger Mensch, dem es egal ist, ob ein Jude geschlagen wird oder nicht, ist schädlicher als die zehn, die den Juden […] mit eigenen Händen schlagen. Verglichen mit der ‚Neutralität‘ ist die Bestialität geradezu eine human zu nennende Eigenschaft. Die Gleichgültigkeit ist der Feind aller Völker; nicht die Juden; nicht einmal der Antisemit: nur der Gleichgültige. 25 Drei Wochen später nimmt Roth unter dem bezeichnenden Titel „Wir mischen uns nicht ein…“ in der Pariser Tageszeitung vom 22.-23. Januar 1939 Stellung zu dem von allen europäischen Großmächten anerkannten Grundsatz der Nichteinmischung in den Spanischen Bürgerkrieg, der jedoch durch die militärische Intervention der Achsenmächte Deutschland und Italien gebrochen wurde. Der Beginn dieses Artikels scheint unmittelbar an die Glosse „Der Feind aller Völker“ anzuschließen: Noch einmal erweist es sich, daß die schäbige Gleichgültigkeit der Welt größer und erschreckender ist als ihre Schlechtigkeit. Aufgefordert und berufen, dem blutigen Stück, das eben in Spanien zu spielen anfing, ein Ende zu bereiten, ergaben sich die europäischen Menschen zuerst willig dem Mißverständnis, sie wären zu einer Generalprobe eingeladen worden. 26 Den Ursachen der Gleichgültigkeit, vor allem in der Haltung Frankreichs zu NS-Deutschland, ging Roth z.B. in dem Artikel „Der Mythos von der deutschen Seele“ nach, der am 12. März 1938 im Neuen Tage-Buch erschien. Eine der Ursachen sieht er - sehr klar - in der Ästhetisierung des Nationalsozialismus, die sowohl vom NS-Regime gewollt als auch von den europäischen Staaten bereitwillig akzeptiert werde. Besonders in Frankreich, für Roth ‚das klassische Land der Vernunft‘, gebe es einen Mythos von der ‚germanischen Seele’: Man hat sich daran gewöhnt, die schändlichen Theaterszenen, die Deutschland von Zeit zu Zeit aufführt, durch jenes Lorgnon zu betrachten, das man in die Wagner-Opern mitnimmt. Der okzidentale Diplomat und Journalist sogar fährt nach Deutschland in der Stimmung etwa, in der ein Theaterbesucher in das Taxi 24 Joseph Roth: „Hommage à l’âme autrichienne“, in: Commune, Jg. 6, Nr. 57 (Mai 1938), S. 1034-1037. In deutscher Fassung, z.T. als Rückübersetzung, unter dem Titel „Huldigung an den Geist Österreichs“ in: Roth: Werke 3, Anm. 9, S. 792-795, hier S. 794. 25 Joseph Roth: „Der Feind aller Völker“, in: Pariser Tageszeitung 883 (3.1.1939), S. 1. Abgedruckt in: ebd., S. 859-861, hier S. 861. 26 Joseph Roth: „Wir mischen uns nicht ein…“, in: Pariser Tageszeitung 900 (22.-23.1.1939), S. 2. Abgedruckt in: ebd., S. 885-887, hier S. 885. Brita Eckert 210 steigt, um sich den ‚Ring des Nibelungen‘ anzuschauen. Dieser äußerst bequeme, ja lässige Snobismus nährt sich von der Mythologie. 27 Die regierenden Deutschen machten sich diese Einstellung zunutze, sowohl in der Innenwie in der Außenpolitik. Und später schreibt Roth im gleichen Artikel: Es ist kein Zweifel, daß ein großer Teil der Gleichgültigkeit, welche die Welt den erschreckenden deutschen Symptomen entgegenbringt, zurückzuführen ist auf den Wagner-Snobismus Europas. Man sieht den gemeinen Mord in einem bengalischen Licht. 28 Ein Gegenbild zur aktuellen Politik Frankreichs entwirft Roth in einem großen Essay über den im November 1929 verstorbenen Staatsmann Georges Clemenceau, den er in den letzten Monaten seines Lebens verfaßte. In der Einleitung, die er als ‚Grabrede‘ verstanden wissen möchte, finden sich Äußerungen, die als direkte Kritik an der Haltung Frankreichs zu NS-Deutschland, d.h. auch am Münchener Abkommen und dem deutsch-französischen Nichtangriffspakt, aufzufassen sind. So bemerkt Roth, daß ihm die Frage, ob er als Nichtfranzose berechtigt sei, eine Totenrede auf Clemenceau zu schreiben, artifiziell erscheine in dem Augenblick, in dem auch die Europäer nicht-französischer Nationalität die Vergänglichkeit des Clemenceauschen Erbes beklagen, ja mehr noch: seine Zerstörung, seine planmäßige Zerstörung. 29 In der Folge zitiert er aus Clemenceaus Erinnerungen Passagen zu den Verträgen von Locarno vom Oktober 1925, die ein Sicherheitssystem in Westeuropa aufrichteten, das Hitler mit dem Einrücken von Truppen in die entmilitarisierte Rheinlandzone im März 1936 für hinfällig erklärte. Nach Roth haben diese Äußerungen Clemenceaus für die Gegenwart und die Zukunft aktuellen Bezug; in der von Roth zitierten Stelle schreibt Clemenceau: Ich wünsche nichts so sehr für mein Vaterland wie den Frieden mit Deutschland. Aber für einen Dauerfrieden müssen beide Parteien eine übereinstimmende Rechtsauffassung und die gleiche Fähigkeit zum guten Willen haben. […] Alle sind sie da, von den Doktrinären Germaniens bis zu seinen Lyrikern, militärisch ausgerichtet, um dem Gewissen der Völker die Parole zu geben… Die Verträge von Locarno bieten lediglich den trügerischen Schein einer Sicherheit: Sie sind Illusionen, geeignet, leichtfertige Gewissen zu mißbrauchen und wachsame einzuschläfern… 30 Parallelen zum Münchener Abkommen und zum deutsch-französischen Nichtangriffspakt liegen nahe. „Und solche Mahnung schlägt man in den 27 Joseph Roth: „Der Mythos von der deutschen Seele“, in: Das Neue Tage-Buch, Jg. 6 (1938), Nr. 11 (12.3.), S. 254-256. In französischer Übersetzung unter dem Titel „Le Mythe de ‚l’âme germanique‘“ in: Europe 183 (15.3.1938), S. 313-318. Abgedruckt in: Roth: Werke 3, Anm. 9, S 788-792, hier S. 789. 28 Ebd., S. 791. 29 Joseph Roth: „Clemenceau“, in: ebd., S. 955-1007, hier S. 955. 30 Ebd., S. 956. „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 211 Wind“, lautet Roths resignatives Resümee. 31 Vollständig veröffentlicht wurde dieser Essay erstmals in der von Hermann Kesten herausgegebenen Werkausgabe von 1975 32 , nachdem in der ersten Werkausgabe von 1956 einige wenige Abschnitte abgedruckt worden waren. Im Zentrum von Roths publizistischen, schriftstellerischen und politischen Aktivitäten seines letzten Lebensjahres steht aber Österreich: Nach der Annexion hat der äußerst verzweifelte Roth regelmäßig an den Versammlungen der monarchistischen Bewegung teilgenommen, aber auch auf Österreich-Kundgebungen anderer politischer und kultureller Exilorganisationen gesprochen. Am 16. März hielt er, nach einer Einleitung von Pierre Bertaux, im französischen Rundfunk eine Rede über die Annexion und zeichnete die Zukunftsperspektive eines freien Österreich. Auch auf der Österreich- Kundgebung des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller am 28. März 1938 sprach er, gefolgt unter anderen von Ludwig Renn und Bruno Frei, - wie auch, zusammen mit Heinrich Mann und Ludwig Renn, auf einer Zusammenkunft zu Ehren Österreichs, die am 4. April vom Bund Revolutionärer Schriftsteller und Künstler (Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires, AEAR) unter dem Vorsitz von Louis Aragon im Théâtre de la Renaissance organisiert wurde. 33 Auch in zahlreichen Zeitschriften-Beiträgen, vor allem im Neuen Tage- Buch, äußerte sich Joseph Roth zum Ende Österreichs. Darin beschwor er Österreich als übernationale Idee von nahezu religiösem Charakter und als Zuflucht der Humanität und Kultur, die ‚Preußen‘ - bei Roth ein Synonym für NS-Deutschland - entgegengesetzt wird. Auch klagte er in seinen Beiträgen die Neutralität bzw. die Politik der Nichteinmischung der anderen europäischen Staaten an, die unfähig waren, Österreich zu erhalten, und gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß auch Europa verloren sei: Bilden Sie sich nicht ein, daß man in dem kommenden Sommer ruhig in der Seine oder in der Rhône schwimmen wird, solange Hitler in der Donau angelt, und bilden Sie sich ja nicht ein, daß er aufhören wird, dort zu angeln, und zwar die ganze Donau entlang bis zum Schwarzen Meer, sagte er z.B. auf der Österreich-Kundgebung am 4. April 1938. 34 Vor allem aber beschäftigte sich Roth mit den Gründen, die das Ende Österreichs herbeigeführt haben: Da er der Überzeugung war, daß die Wiedererrichtung der Monarchie die Annexion abgewendet hätte, benennt er die Faktoren, die sie verhindert haben, darunter den „Ständestaat, viele[r] seiner Stützen und seine[r] paramilitärischen Gebilde“ 35 ; an erster Stelle aber sei der „mensch- 31 Ebd., S. 957. 32 Joseph Roth: Werke, Anm. 14, hier Bd. 3, S. 475-529. 33 Vgl. hierzu u.a.: Joseph Roth 1894-1939, Anm. 22, S. 364-376 (Abschnitt „Totenmesse“); Richard: „Die Roth-Rezeption“, Anm. 5, S. 274. 34 Roth: „Hommage à l’âme autrichienne“, Anm. 24, S. 793. 35 Joseph Roth: „Zu einigen allzu absurden Verdikten…“, in: Das Neue Tage-Buch, Jg. 6 (1938), Nr. 28 (9.7.), S. 666-667. Abgedruckt in: Roth: Werke 3, Anm. 9, S. 816-819, hier S. 817. Brita Eckert 212 lich bedauernswerte, politisch keineswegs zu entschuldigende Kanzler Schuschnigg das hartnäckige Hindernis auf dem Wege Österreichs zur Monarchie“ 36 gewesen. In einem Beitrag „Die Hinrichtung Österreichs“ anläßlich des Jahrestags der Annexion, der am 11. März 1939 in der Pariser Tageszeitung veröffentlicht wurde, bezieht Roth, noch kritischer, auch die Fehler der alten Monarchie mit ein. Hauptursache für den Sturz Österreichs sei die konstitutionell bedingt gewesene Bereitschaft aller Regierungen zu einem offenen oder verhüllten ‚Anschluß‘, vom ersten Tag der Republik an bis zum letzten des Christlichen Ständestaates […]. 37 Die Ursache dieser Bereitschaft wiederum leite sich aus den „Irrtümern der alten Monarchie“ her; sie hätten vor allem darin bestanden, innerhalb eines großen Reiches von sechzehn Nationen die deutschsprachigen Österreicher als eine Art von dominierendem ‚Staatsvolk‘ gelten zu lassen. […] Tatsache ist, daß, je mehr die deutschen Österreicher zu Wilhelm II. tendierten, sich die anderen Völker der Monarchie zu einer staatlichen Selbständigkeit drängten. 38 In der Zeit, in der Roth die meisten dieser Artikel schrieb, arbeitete er auch an seinem Roman Die Kapuzinergruft, der in den letzten Dezembertagen 1938 in dem kleinen holländischen Verlag De Gemeenschap, Bilthoven, erschien. In diesem Roman hat Roth die Ansichten, die er in seinen späten journalistischen Arbeiten thesenhaft formulierte, in ein literarisches Modell eingearbeitet. Am Manuskript hatte Roth bis Mitte August 1938 geschrieben; die ersten Korrekturen lagen Anfang September vor. Er selbst bezeichnete seinen Roman als „eine Fortsetzung des ‚Radetzkymarsch‘ bis zum Ende Österreichs“ 39 , als einen Zeitroman also. 40 Der Ich-Erzähler Franz Ferdinand Trotta, in dessen Schicksal sich der Untergang Österreichs spiegelt, reiht assoziativ seine Erinnerungen aneinander, beginnend vor dem Ersten Weltkrieg, endend am 11. März 1938. Der Name Franz Ferdinand, der Name des in Sarajewo erschossenen Thronfol- 36 Ebd., S. 818. 37 Joseph Roth: „Die Hinrichtung Österreichs“, in: Pariser Tageszeitung 941 (11.3.1939), S. 2. Abgedruckt in: Roth: Werke 3, Anm. 9, S. 922-925, hier S. 922. 38 Ebd., S. 922-924. 39 Joseph Roth an Verlag De Gemeenschap (Brief [23. Mai 1938], Paris). Abgedruckt in: Aber das Leben marschiert weiter, Anm. 19, S. 143-144, hier S. 144. 40 „Joseph Roth erzählt an der Hand privater Schicksale den schrecklichen Niedergang des letzten Winkels mitteleuropäischer Freiheit; die Verschlingung Oesterreichs durch Preußen“, schrieb Roth selbst im Entwurf für eine Verlagsanzeige. Joseph Roth an Verlag De Gemeenschap (Brief vom 5. August 1939, Paris). Abgedruckt in: ebd., S. 152- 154, hier S. 153. „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 213 gers, ist Programm für verhinderte Möglichkeiten, die Monarchie zu erneuern. 41 Enttäuschung und Resignation, die auch Roths späte Artikel kennzeichnen, durchziehen leitmotivisch den Roman. Roths Lebensgefährtin Irmgard Keun spricht hier von einer „zu Eis erstarrte[n] Luft letzter Hoffnungslosigkeit, die noch hinter der Verzweiflung liegt“ 42 . Nach Alfred Doppler geht es in dem Roman „nicht um die nostalgische Verherrlichung eines untergegangenen Reiches […], sondern um eine moralische Abrechnung“ 43 . Im Roman als „moralischer Veranstaltung“ sieht denn auch Doppler das Besondere der Kapuzinergruft und der Exilromane gegenüber den anderen erzählerischen Werken Roths. 44 Die Aufnahme des Romans in der Exilpresse war gespalten. Meist wurde er als schwächerer Nachfolger des Radetzkymarsch empfunden. 45 Die Stimmen der Kollegen reichen von enthusiastischer Zustimmung, etwa bei Franz Theodor Csokor 46 , bis zur Ablehnung 47 , was die politische Einstellung Roths wie auch seine Erzählweise betrifft. Offensichtlich hat Roth Varianten aus veröffentlichten und unveröffentlichten Texten sowie Passagen aus journalistischen Beiträgen herangezogen und in die Erzählung eingearbeitet. Die germanistische Forschung sieht gerade in dieser Montage-Form, die auch den Produktionsbedingungen des Exils geschuldet ist, das Exilspezifische und somit das Angemessene dieses Romans 48 , dessen besonderer Kunstcharakter erst von Hartmut Scheible 49 und Klaus Pauli 50 hervorgehoben wurde. Um so erstaunlicher ist es, daß Roth in seinen letzten Lebensmonaten noch einmal ein formvollendetes erzählerisches Werk gelungen ist - die Erzählung Die Legende vom heiligen Trinker, die er wohl im Februar und März 1939 geschrieben hat. Er selbst war sich dessen bewußt: „Ich habe eine glän- 41 Vgl. hierzu: Alfred Doppler: „Die Kapuzinergruft von Joseph Roth. Österreich im Bewußtsein von Franz Ferdinand Trotta“, in: Joseph Roth. Interpretation - Kritik - Rezeption, Anm. 5, S. 91-98, hier S. 91. 42 Irmgard Keun: Bilder und Gedichte aus der Emigration, Köln: Epoche 1947, S. 18. 43 Doppler: „Die Kapuzinergruft von Joseph Roth“, Anm. 41, S. 91. 44 Ebd., S. 92. 45 Zum Beispiel Hans Natonek: „Joseph Roth“ [Nachruf], in: Die neue Weltbühne, Jg. 35 (1939), Nr. 22 (1.6.), S. 680-683, hier S. 683. 46 Franz Theodor Csokor: „Ein Abschiedswort“, in: Die Österreichische Post, Jg. 1 (1939), Nr. 13-14 (1.7.), S. 3. 47 Zum Beispiel F[ranz] C[arl] Weiskopf: „Totentanz“, in: Die neue Weltbühne, Jg. 35 (1939), Nr. 19 (11.5.), S. 589-593. 48 Doppler: „Die Kapuzinergruft von Joseph Roth“, Anm. 41, S. 92. 49 Hartmut Scheible: Joseph Roth. Mit einem Essay über Gustave Flaubert, Stuttgart: Kohlhammer 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; Bd. 16). 50 Klaus Pauli: Joseph Roth: ‚Die Kapuzinergruft’ und ‚Der stumme Prophet’. Untersuchungen an zwei zeitgeschichtlichen Portraitromanen, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1985 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 692). Brita Eckert 214 zende Legende geschrieben“, bemerkte er z.B. in einem Brief an Walter Landauer am 19. März 1939. 51 Es ist die Geschichte des als Clochard unter den Brücken von Paris lebenden polnischen Emigranten Andreas, der - durch ein Wunder oder wie durch ein Wunder, dies bleibt offen - zu Geld kommt, Arbeit erhält, dadurch seine frühere Identität einschließlich seines Nachnamens wiedererlangt und endlich alles verliert und stirbt. Auch er ist eine der verlorenen Gestalten Roths, vergleichbar etwa Andreas Pum in Die Rebellion (1924), Carl Joseph Trotta im Radetzkymarsch (1932) oder Franz-Ferdinand Trotta in Die Kapuzinergruft (1938). Da es offen bleibt, ob die erzählten ‚wunderbaren‘ Ereignisse metaphysischer Natur sind oder nur vom Zufall regiert werden, erhält die Bezeichnung ‚Legende‘ wie auch das Adjektiv ‚heilig‘ eine ironische Vieldeutigkeit. 52 Die Erzählung erschien 1939 postum im Verlag Allert de Lange, Amsterdam. Schon in den ersten Rezensionen wurde die Gestalt des Andreas als „transfigurierte Selbstdarstellung“ 53 aufgefaßt, vor allem wohl wegen der Identifikation des Erzählers mit der Gestalt des Trinkers am Schluß der Erzählung: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod! “ 54 Die Legende vom heiligen Trinker bezeichnete Roth selbst als sein letztes Werk. Sein Gesundheitszustand hatte sich im Spätherbst 1938, nach seiner Rückkehr aus Amsterdam, zunehmend verschlechtert. Von Todesahnungen erfüllt, bemühte er sich nicht mehr um ein Affidavit, um - wie viele seiner Freunde und Bekannten - aus dem gefährdeten Frankreich in die Vereinigten Staaten weiter emigrieren zu können, obwohl ihn ein amerikanisches Komitee unter Eleanor Roosevelt dazu aufgefordert hatte und auch eine Einladung von Dorothy Thompson vorlag, am Internationalen PEN-Kongreß im Mai 1939 in New York als Ehrengast teilzunehmen. Einstimmig berichten die Freunde, daß es die Nachricht vom Selbstmord Ernst Tollers am 10. Mai 1939 in New York war, die bei Roth den psychischen Schock hervorrief, von dem er nicht mehr genesen sollte. Am 23. Mai brach er im Café Le Tournon zusammen, am 27. Mai verstarb er, ärztlich nur unzurei- 51 Joseph Roth an Verlag Allert de Lange (Walter Landauer) (Brief vom 19. März 1939, Paris). Abgedruckt in: ‚Geschäft ist Geschäft’. Seien Sie mir ‚privat’ nicht böse. Ich brauche Geld. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und den Exilverlagen Allert de Lange und Querido 1933-1939, hg. von Madeleine Rietra, in Verbindung mit Rainer-Joachim Siegel, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 296. 52 Vgl. hierzu: Eintrag „Die Legende vom heiligen Trinker“, in: Hauptwerke der österreichischen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen, hg. von Ernst Fischer, München: Kindler 1997, S. 421-422. 53 So z.B. Hans Natonek: „Vom sterbenden Trinker“, in: Die neue Weltbühne, Jg. 35 (1939), Nr. 32 (10.8.), S. 1013. 54 Joseph Roth: Die Legende vom heiligen Trinker, Amsterdam: Allert de Lange 1939, S. 109. „Toten-Messe“: Zu Joseph Roths publizistischem und erzählerischem Spätwerk 215 chend versorgt, im Hôpital Necker. 55 In den zahlreichen Nachrufen wurde sein Tod oft als „indirekter Selbstmord“ 56 verstanden. Als Hauptursache von Roths ‚Krankheit zum Tode‘ nennt schließlich Alfred Polgar in seinem Nachruf in der Österreichischen Post die von Roth so leidenschaftlich angeklagte Gleichgültigkeit der Welt: Nicht das Exil, nicht das Unrecht, das er duldete und andere erdulden sehen musste, hat Joseph Roth verzweifeln lassen. Was ihm die Aufgabe, weiter zu leben, so unerträglich schwer machte, war der Triumph des Bösen und der Dummheit […], war der Abbau der geistigen und moralischen Werte, denen die zivilisierte Welt in tausendjährigem Bemühen Geltung errungen hatte, war die Raschheit, mit der diese Welt vom Widerspruch zur beflissenen Wurschtigkeit überging, war ihre fortschreitende Vergiftung durch das Sekret der Hakenkreuzspinne. Dass der Himmel all dem gegenüber einen ähnlichen Standpunkt einzunehmen schien wie, in ihrem Bezirk, die großen irdischen Mächte, nämlich den Standpunkt der Non-Intervention, des Zurückweichens, der immer neuen Konzessionen an das Infame - das war es, was den guten Roth, der ohne Gläubigkeit nicht sein konnte, umwarf. 57 55 Vgl. hierzu u.a.: Joseph Roth 1894-1939, Anm. 22, S. 376-387 (Abschnitt „Die Legende vom heiligen Trinker“). 56 Etwa von Irmgard Keun: Bilder und Gedichte, Anm. 42, S. 20. 57 Alfred Polgar: „Joseph Roth“, in: Die Österreichische Post, Jg. 1 (1939), Nr. 13-14 (1.7.), S. 2-3, hier S. 2. Wolfgang Schopf Pariser Echo der Krise: Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils Die exilierten Intellektuellen und Publizisten begegnen dem Münchener Abkommen, dem „unermesslichen Ereignis“ 1 , mit einer Fülle von Erklärungen und Analyseversuchen. Sie geben dabei Auskunft über ein die Fraktionen des Exils übergreifendes Bewußtsein der politischen Situation, aber auch über Frakturen innerhalb der keineswegs homogenen Gruppierung der Emigration; sie zeigen, wenngleich formal an Dritte, ihre Leser, adressiert, wie sie den Versuch einer ideologischen Absicherung der eigenen Position in der zugespitzten Bedrohungslage fortsetzen, oder inwieweit derlei Schutzmechanismen einem gesteigerten Realitätsbezug weichen. Der gesteigerte Realitätsbezug fand im Verlauf vorangegangener Krisen wenig Anhänger; nach der Saar-Abstimmung vom 13. Januar 1935 interpretierten die Exilzeitschriften das historische Ereignis stark gemäß der politischen Ausrichtung der jeweiligen Redaktion; und auch die Besetzung des Rheinlandes im März 1936 oder die Okkupation Österreichs dienten nicht als Anlaß für einen Perspektivenwechsel hin zu mehr Objektivität. Inwieweit die Eskalation im Herbst 1938 und die unmittelbare Kriegsgefahr den medialen Umgang der publizistischen Organe des Exils mit den historischen Ereignissen verändert haben, bildet die Ausgangsfrage der folgenden kleinen Untersuchung. Die journalistischen Reaktionen auf das Münchener Abkommen können hier nicht in repräsentativem Umfang verglichen werden; der Versuch bleibt auf vier ‚meinungsbildende’ Blätter (Das Neue Tage-Buch, Die Neue Weltbühne, Neuer Vorwärts und Pariser Tageszeitung), sowie auf die zeitgleich zum Abkommen neu erschienene Zukunft und die Sondernummer von Der deutsche Schriftsteller vom November 1938 beschränkt. Die Auswahl beginnt mit dem Neuen Tage-Buch vom 24. September 1938. Die Redaktion faßt das Geschehen vom „14. bis 18. September 1938“ zusammen, so der Titel des Artikels über Arthur Neville Chamberlains Besuch bei Hitler auf dem Obersalzberg und die sich abzeichnende Gefolgschaft Edouard Daladiers, und begründet den Verzicht auf einen eigenen Kommentar so: Diejenigen, die das Ereignis für ein Verhängnis halten, können es nur mit einer Härte beurteilen, die keine Askese des Ausdrucks abschwächen kann. Diese Zeitschrift will nicht verhehlen, könnte auch nicht verhehlen, dass sie zu der zweiten Richtung gehört [d. i. zu der der Kritiker - W.S.] […]. Aber eben deshalb fühlt sie 1 „14. bis 18. September 1938“, in: Das Neue Tage-Buch (24. September 1938), S. 921. Wolfgang Schopf 218 sich ausserstande, ihre Gedanken, ihr Urteil hier zu formulieren. Inmitten eines Landes und Volkes, denen sie nicht angehört, und in einem Augenblick, in dem dieses Land und Volk vor äussersten Entscheidungen mit dem Einsatz seines Blutes und Daseins steht, fühlen wir uns zum Schweigen genötigt. Das Neue Tage-Buch bedient sich stattdessen zweier einheimischer Autoritäten, um die Kritik an der französischen Regierungspolitik zu artikulieren. Den Abgeordneten und Journalisten Henri de Kérillis bremsen keinerlei Skrupel vor der Aussprache historischer Wahrheit: er, der auch in der Nationalversammlung gegen das Münchener Abkommen stimmen wird, verurteilt in seinem Artikel das „Versagen Frankreichs“. 2 Dabei fällt seine doppelte Urteilsbegründung, eine moralische und pragmatische, auf. Zum einen geißelt er den Bruch des „Worts“, des „Vertrags“, mit dem Frankreich für die Integrität der Tschechoslowakei gebürgt hatte, und dessen Nichteinlösung wiederum die Integrität Frankreichs beschädige, zum anderen stellt er eine konkrete Prognose über die Folgen des Abkommens jenseits der tschechischen Grenzen: Denn ach, wird dies Schauspiel der Hinfälligkeit, das wir da bieten, diese moralische und materielle Schwächung, die wir nun in einer Welt zu spüren bekommen werden, wo wir mehr isoliert sein werden als je zuvor, - wird dies alles Deutschland nicht ermutigen, den Lauf der Dinge noch zu beschleunigen und sich bei der ersten Gelegenheit auf uns zu stürzen? Alles was wir von seiner seelischen Verfassung kennen, alles, was in ‚Mein Kampf’ steht, muss uns das befürchten lassen. Im zweiten Beitrag zur Sache konstruiert Emile Buré einen Dialog, dessen Stimmen pointiert die diplomatische Eskalation begleiten. 3 Die Struktur des Meinungsaustauschs läßt ein offenes Ergebnis vermuten, doch Buré formuliert seine Position bereits mit der ersten Sequenz: - Es ist eine Erniedrigung, vielleicht sogar die Entehrung, aber wenigstens wird es der Frieden sein! - Nein, es wird nicht der Frieden sein! Der Hitler-Frieden will, dass alles, was je deutsch war, wieder deutsch werde, um dann auch das zu unterjochen, was nie deutsch war. Ob sich Leopold Schwarzschild mit dem Titel seines Leitartikels in der darauffolgenden Ausgabe des Neuen Tage-Buchs auf Burés dezidierten Gebrauch des bestimmten Artikels bezieht, bleibt offen. Er überschreibt seinen Beitrag mit „Ein Frieden“, doch der Einsatz des unbestimmten Artikels deutet nicht auf die Fortsetzung der kritischen Abwägung des Verhandlungsergebnisses hin. Schwarzschilds Deutung steht konträr zu der seiner französischen Kollegen: „Vielleicht wird man über kürzer oder länger einmal sagen, dass in Berchtesgaden - und vor allem in Godesberg - Hitler seinen entscheidenden Fehler begangen und sich den Hals gebrochen hat.“ 4 2 Henri de Kérillis: „Die Preisgabe“, in: Das Neue Tage-Buch (24. September 1938), S. 921- 923. 3 Emile Buré: „Konsequenzen“, in: ebd., S. 923-924. 4 Leopold Schwarzschild: „Ein Frieden“, in: Das Neue Tage-Buch (1. Oktober 1938), S. 939- 942 (auch das Folgende). Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils 219 Hitler sei „zum ersten mal auf eine Mauer gestoßen“, man habe ihm „zum erstenmal mit Gewalt die Verwirklichung dessen verwehrt […], was er eingestandenermassen wollte: die Total-Zertrümmerung des tschechoslowakischen Staates“. Schwarzschild relativiert seine erstaunliche Diagnose, indem er den Eintritt des von ihm konstatierten Erfolges mittels eines Einschubs in die Zukunft verlegt: „- oder, genauer, verwehrt werden wird“. Folglich lautet seine Hoffnung: Worauf es ankommt, ist jetzt, dass die Beute wirklich nur aus Sudetenland, nicht aus der ganzen Tschechoslowakei besteht. Worauf es ankommt, ist, dass der Staat zwar verkleinert, aber noch lebens- und wehrfähig, international garantiert, hinter neuen mächtigen Verteidigungsgürteln seine Existenz und seine Traditionen fortführen kann. Den Neuen Vorwärts kümmern die Befindlichkeiten im Asylland weniger. Die Redaktion des Sozialdemokratischen Wochenblatts hält weiterhin die deutsche Arbeiterschaft für den Adressaten der Zeitung, was sich auch in den rhetorischen Figuren der Berichterstattung zum Münchener Abkommen zeigt: „Hitler belügt das Volk“, so lautet die Schlagzeile am 2. Oktober 1938. Mit „Volk“ versucht der Neue Vorwärts nicht die europäische Bevölkerung auf einen Begriff zu bringen, sondern die innerhalb der Grenzen des Dritten Reichs ansässige. An diese Gesellschaft wandte sich Hitler am 26. September 1938 mit seiner Rede im Sportpalast. Der Neue Vorwärts versucht sich nochmals in Gegenpropaganda: „Was er verschweigt. Das deutsche Volk im Dunkeln“ heißt es im Untertitel des genannten Leitartikels. Der Hauptvorwurf richtet sich gegen die Verschleierung der Kriegstreiberei: Hitler will den Krieg. […] Er will alle strategischen Positionen in der Tschechoslowakei besetzen, er will die tschechoslowakische Republik zerstückeln. Seine Forderungen an die Tschechoslowakei sind die Einleitung des grossen Eroberungskrieges im Osten und Südosten Europas. Der Neue Vorwärts will nicht allein über diese Pläne Hitlers aufklären, er sieht das „Volk“ auch um die Kenntnis der internationalen Konstellation betrogen: Er [Hitler] hat verschwiegen, dass die englische Regierung feierlich erklärt hat, dass eine Gewaltanwendung Deutschlands gegen die Tschechoslowakei England, Frankreich und Russland in den Krieg gegen Deutschland bringen würde. […] Wenn Hitler zur Gewalt greift, wird er gegen eine Koalition der vier stärksten Mächte der Welt stehen. Diesen Krieg wird er verlieren! Auf der gleichen Seite der Ausgabe widerspricht ein anderer Artikel der These von Hitlers Versteckspiel, und damit der Theorie von der Verführung der kenntnislosen deutschen Massen durch ihre politische Führung: Hitler selbst hat ja auch aus seiner Angriffsabsicht nie ein Hehl gemacht, er hat seinen Kriegsplan in ‚Mein Kampf’ bis in die Einzelheiten auseinandergesetzt […]. Jede einzelne der vielen Etappen, vom Austritt aus dem Völkerbund und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht angefangen bis zur Eroberung Oesterreichs und dem Angriff auf die Tschechoslowakei, war stets nur die Vorbereitung Wolfgang Schopf 220 der künftigen. Und das Endziel war die Niederwerfung Frankreichs und die Entmachtung Englands, weil nur dies die Voraussetzung der deutschen Hegemonie über Europa und der ungestörten Herrschaft über den europäischen und den vorderasiatischen Osten sein konnte. 5 Die differenzierteste Analyse unter den ausgewählten Beispielen legt Hermann Budzislawski in der Neuen Weltbühne vor. 6 Er stellt zwingende Fragen: „Dass jedoch der Stärkere nachgibt, behauptet nicht einmal das Sprichwort. Da dies gegen alle Regel dennoch geschehen ist, haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben, und es ist unsere Aufgabe, die neue Situation illusionslos zu betrachten.“ Zu der Betrachtung gehört die des Motivs auf Seiten der britischen und französischen Regierung, ihre Vormachtstellung aufzugeben und zudem gegen ein komplexes System bilateraler Verträge zu verstoßen. Budzislawski erinnert bei seinem Versuch der Beantwortung an eine politische Größe, die bei der „europäischen Umwälzung“ keine sichtbare Rolle spielte: Das Vertragsnetz habe für den Fall des Angriffs auf die Tschechoslowakei die von England unterstützte, gemeinsame Verteidigung durch Frankreich und die Sowjetunion vorgesehen. In dieser Konstellation hätte „die Sowjetunion zu den siegreichen Staaten gehört“, und dies wollte, so Budzislawski, Chamberlain um nahezu jeden Preis vermeiden: Es mußte eine Politik getrieben werden, welche die alten Verträge umging, und es musste ein Weg gefunden werden, Hitler alles auszuhändigen, was er begehrte, ohne dass die Verträge in Kraft traten. […] Die Schenkung sollte verhindern, dass die Bündnisverträge wirksam wurden. Zudem bezieht Budzislawski als einziger unter den Kommentatoren die Exilierten als politische Gruppierung in seine pessimistische Analyse ein: Die deutsche Opposition mag sich aussuchen, ob sie Grund zur Freude oder zur Trauer hat. Sie wollte keinen Krieg, und sie fürchtete, in ein ausgeblutetes, zerstückeltes Deutschland zurückzukehren. Aber sie wollte auch nicht diesen Frieden. Sie sieht, dass der Nationalsozialismus zum ersten Mal die Basis erhält, von der aus die alldeutschen Eroberungspläne realisierbar sind. Einen journalistischen Gegenpol zum Kommentar in der Neuen Weltbühne bildet die mehr auf Berichterstattung ausgerichtete publizistische Begleitung des Münchener Abkommens durch die Pariser Tagszeitung: Sie kolportiert am 30. September noch Einzelheiten zum Geschehen der Konferenz, als handele es sich dabei um ein gelegentliches europäisches Prominententreffen: 7 wer wann mit welchem Verkehrsmittel in München angereist und von welchem Kollegen zuerst begrüßt worden sei; dann weiter: „Die Besprechung der vier Staatsmänner begann mit einer Generaldiskussion über das tschechoslovakische Problem. Reichskanzler Hitler sprach die Erwartung 5 „Sie haben es nicht glauben wollen! “, in: Neuer Vorwärts (2. Oktober 1938). 6 Hermann Budzislawski: „München und die Folgen“, in: Die Neue Weltbühne (6. Oktober 1938). 7 „Günstiger Verlauf der Münchner Verhandlungen“, in: Pariser Tageszeitung (30. September 1938). Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils 221 aus, daß ein schneller Entschluß gefaßt werden würde.“ Am Folgetag findet die Zeitung zu einem angemesseneren Ton: „Friede unter Opfern“ lautet die Schlagzeile, unter der auch der Aufruf des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Sirovy teilabgedruckt wird, in dem dieser die Kapitulation gegenüber der tschechoslowakischen Bevölkerung legitimiert. Die Dokumentation der Ereignisse bildet weiter den Schwerpunkt der Pariser Tageszeitung. Die Zeitung gibt auf der zweiten Seite der Ausgabe den Wortlaut des Münchener Vertrags wieder. 8 Und sie erweitert die deskriptive Perspektive um einen Kommentar, der zu dem Schluß kommt: „Deshalb erblicken wir in der Münchner Konferenz ein rückläufiges Moment für die nationalsozialistische Außenpolitik innerhalb eines Zeitabschnitts, der, als Ganzes gesehen, für Hitler erfolgreich, sogar sehr erfolgreich gewesen ist.“ 9 Die Zukunft, von Willi Münzenberg herausgegeben, spielt eine Sonderrolle: sie nimmt mit der Berichterstattung über das Münchener Abkommen in ihrer ersten Ausgabe ihr politisches und publizistisches Programm auf. Dazu zählt genauso die Kritik an der Appeasementpolitik wie die Beschwörung des Friedenswillens der deutschen Bevölkerung, an die Die Zukunft auf ihrem Titelblatt „Drei Botschaften“ richtet. 10 Diese Botschaften werden formuliert von Politikern aus Großbritannien, Frankreich und Italien (Duff Cooper, Paul Boncour und Carlo Sforza), die bei der Alternative zwischen „Fortsetzung der Kapitulationspolitik“ oder „Bildung einer neuen Front der europäischen Solidarität GEGEN die Unruheherde in Berlin und Rom, MIT den freiheitsliebenden Massen in Deutschland und Italien“ für die zweite Variante plädieren, was bis zur Infragestellung der politischen Stabilität eines europäischen Friedens reicht, der durch Kapitulation auf „Gnade und Ungnade“ 11 erkauft worden sei. Mehr noch, Alexander Schifrin zitiert in seinem Beitrag die Aussage Graf Berchtolds vom 1. August 1914: „Jetzt habe ich meinen Krieg! “ und fährt fort: „Heute kann Hitler sagen: Jetzt habe ich meinen Frieden! […] Die größte Erpressung der Weltgeschichte gelang, die Schwächeren haben den Stärkeren ihren Willen aufgezwungen.“ 12 Die Konsequenz aus den auf die internationalen Zusammenhänge zielenden Artikeln liegt dem Geist des Untertitels der neuen Zeitschrift („Ein neues Deutschland! Ein neues Europa! “) näher, als dies bei Münzenbergs eigenem Text der Fall ist. Münzenberg steht dem traditionellen Deutungsmuster, auf dem Höhepunkt der Krise stehe die revolutionäre Erhebung der deutschen Arbeiter bevor, weiterhin nahe: „Das Schicksal Deutschlands wird nicht in Paris, London und Moskau, sondern in Berlin entschieden. Der entscheidende Anteil dieses Kampfes fällt der deutschen Arbeiterklasse zu“. 13 8 „Das Abkommen von München“, in: Pariser Tageszeitung ( 1. Oktober 1938). 9 „Ein überspielter Sieg. Berchtesgaden, Godesberg und München“, in: Pariser Tageszeitung (1. Oktober 1938). 10 „Europa erwacht“, in: Die Zukunft (12. Oktober 1938), S. 1. 11 Duff Cooper: „Das Volk Englands fühlt…“, in: Die Zukunft (12. Oktober 1938), S. 13. 12 Alexander Schifrin: „Krieg oder Weltkoalition! “, in: ebd., S. 15. 13 Willi Münzenberg: „Zur Bündnispolitik der Arbeiterklasse“, in: ebd., S. 6. Wolfgang Schopf 222 Die genannten publizistischen Reaktionen des Exils zeichnen ein weitgehend realistisches Bild der Situation, obwohl diese Situation jeweils gemäß der bekannten weltanschaulichen Positionen interpretiert wird, von Münzenbergs Revolutionshoffnungen bis zum sozialdemokratischen Volksaufklärungsgestus. Die ‚öffentliche Meinung’ des Exils prägen neben den Zeitschriften stark die Verlautbarungen der exilierten Schriftsteller. Der deutsche Schriftsteller versammelt in seinem Sonderheft vom November 1938 anläßlich des fünften Jubiläums im Exil und des dreißigsten des Bestehens des ursprünglichen Verbandes ca. 70 Beiträge: Kurzprosa und Gedichte, Reportagen und Briefe, Aufrufe und Grußworte. Die literarische Klasse des Exils erscheint hier nahezu vollzählig, von Brecht bis Zweig, was insgesamt die Erwartung einer gemeinsamen Reaktion auf die Krise zuläßt; mehr noch, im Moment der Zuspitzung kann sich zeigen, ob die in den vergangenen fünf Jahren verfolgten Strategien Bestand haben oder einer Revision bedürfen. Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) schickt den Einzelbeiträgen der Autoren eine Art Selbstdarstellung voraus. Sie beginnt mit einem Zitat: 14 Das edelste Vorrecht und das heiligste Amt des Schriftstellers ist dies, seine Nation zu versammeln und mit ihr über ihre wichtigsten Angelegenheiten zu beratschlagen; ganz besonders aber ist dies von jeher das ausschließliche Amt des Schriftstellers gewesen in Deutschland, indem dieses in mehrere abgesonderte Staaten getrennt war, und als ein allgemeines ganzes fast nur durch das Werkzeug des Schriftstellers, durch Sprache und Schrift, zusammengehalten wurde; am eigentlichsten und dringend wird es sein Amt in dieser Zeit, nachdem das letzte äußere Band, das die Deutschen vereinigte, die Reichsverfassung, auch zerrissen ist. Die Passage stammt aus der zwölften Rede von Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation von 1808. 15 Der SDS nimmt im sich anschließenden Artikel Fichtes Kernbegriffe eines idealistischen Nationalismus auf, die schon 1933 zum Rüstzeug des ‚anderen Deutschland’ gehörten und auch jetzt als dessen Mythologeme fortleben: Volkshomogenität, Nation jenseits politischer Organisationsstrukturen, Erbe, jahrhundertelanger Kampf, daraus folgende Sendung, verbreitet vom Schriftsteller in seiner Funktion als Nationalerzieher. Das lautet im Originalton des SDS: So haben wir das Erbe angefasst, das uns die großen unseres Volkes hinterliessen: wir haben es durchpflügt und fruchtbar gemacht, haben es streitbar verteidigt in unserem täglichen Selbsterhaltungskampf […]. Die Zerrissenheit unseres Volkes ist heute schlimmer als eine Absonderung von Volksteilen durch Hoheitsgrenzen. Der Leib unseres Vaterlandes ist von blutigen Striemen zerfetzt […]. Wir haben den Kampf aufgenommen […], das war der Sinn unserer Arbeit in diesen fünf 14 „Unser Volk und seine Schriftsteller“, in: Der deutsche Schriftsteller (November 1938), S. 1-2. 15 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation, Hamburg: Felix Meiner 1978, S. 201. Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils 223 Jahren: wir leben mit und in Deutschland: […] die grossen Ideen, um die unser Volk durch Jahrhunderte gekämpft hat, [sind] nicht untergegangen. F. C. Weiskopf verrät in seinem noch näher zu betrachtenden Beitrag etwas über das Zustandekommen der Sammlung. Er antwortet mit Datum vom 14. September 1938 auf einen Brief, mit dem der SDS offenbar um Zuschriften gebeten hatte. Ein Teil der Texte kann folglich vor dem Münchener Abkommen geschrieben worden sein, doch ein Postskriptum Weiskopfs vom 14. Oktober zeigt, daß die Drucklegung deutlich nach den Münchener Ereignissen erfolgt ist. Die an den SDS als Repräsentationsorgan der exilierten Autoren - so heterogen diese Gruppierung auch ist - zu richtende Frage lautet, wie die Aneignung, Pflege und Verteidigung des literarischen Erbes gegenüber den Nationalsozialisten motiviert und verlaufen ist, wenn in der ersten programmatischen Gemeinschaftspublikation nach dem Münchener Abkommen die „Rede“ Fichtes von 1808 weitergeführt wird, als sei das ambitionierte Projekt, dem NS-Regime mit der Macht des deutschen Geistes von außen wirksam entgegenzutreten, nicht schon vor dem Münchener Abkommen gescheitert, als seien die Illusionen, die sich viele 1933 noch über einen glimpflicheren Verlauf der NS-Herrschaft machten, nicht widerlegt worden, als gäbe es die aktuelle Krise nicht. Die Frage ist mit Nachdruck zu stellen, da eine Überprüfung der Rolle, die sich die Schriftsteller geben und die sie zu erfüllen glauben, nach den bisherigen zeitlich und sachlich eingrenzbaren Schnitten innerhalb der Geschichte des Exils ausgeblieben ist. (Ein weiteres Beispiel bietet der Kongreß zur Verteidigung der Kultur vom Sommer 1935, der ein halbes Jahr nach der Saar-Abstimmung die exilierten Autoren mit Statements versammelte, in denen die Niederlage in der Saar- Abstimmung vom 13. Januar nicht zu einer Überprüfung der bisherigen Strategie geführt hatte und in denen die in Zusammenhang mit dem Fichte- Zitat genannten Schlagworte ebenfalls eingesetzt wurden.) Die polemische Zuspitzung der Frage lautet, ob der Rückbezug auf das als überzeitlich wirksam empfundene Kulturerbe bei den exilierten Schriftstellern hinsichtlich ihres Selbstbildes Krisenresistenz oder Realitätsverlust auslöst. Dezidiert auszuklammern sind dabei jene Autoren, die eine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg als Fortsetzung des bis dahin schriftstellerischen Kampfes mit anderen Mitteln verstehen. Auch ihnen gibt das Heft im November 1938 ein Forum. Die Frage kann an dieser Stelle nur aufgerissen, nicht aber beantwortet werden, wenngleich die Betrachtung der etwa 70 Beiträge des Deutschen Schriftstellers ein vorsichtiges Urteil zuläßt. Von den wenigen rein literarischen Texten abgesehen (meist Lyrik) handeln nahezu alle von der Macht des Wortes, vom Amt des Schriftstellers in widrigen Zeiten, vom geleisteten literarischen Widerstand der letzten fünf Jahre. Vier Autoren erwähnen das Münchener Abkommen beiläufig (Alfred Kurella: „In diesen Tagen, wo die Wolfgang Schopf 224 deutsche Reaktion einen neuen Sieg davongetragen hat“ 16 , Louis Fürnberg: „Uns sudetendeutschen Schriftstellern ist in diesen Tagen ein furchtbares Leid zugefügt worden“ 17 , Balder Olden: „Mit den Mitteln des Krieges sind die gewaltigsten Bastionen derjenigen Mächte, die den ‚Frieden erhalten’ wollen, genommen worden […], [darunter] die Sudeten“ 18 , und Egon Erwin Kisch: „Wir helfen den Freunden, die in der Tschechoslowakei und in Oesterreich vom Griff des Führers bedroht sind“ 19 ), und lediglich einer, F. C. Weiskopf, thematisiert die Realgeschichte und markiert zudem einen Zusammenhang zwischen dem aktuellen Geschehen in der Tschechoslowakei und dem Anspruch der „Freien deutschen Literatur“. In seinem Schreiben vom 14. September 1938 heißt es: Euer Brief erreicht mich in einem Augenblick, da auf dem Gebiet der Tschechoslowakei Henleins PS mit importierten Maschinengewehren und SS-Offizieren den Aufstand nach Francomuster begonnen hat. Dass es hier nicht so kommen wird wie in Spanien, ist heute schon klar. Durchaus unklar ist jedoch, ob im Augenblick, da Ihr diese Zeilen erhaltet, noch jener Zustand andauert, den wir seit Monaten ‚Friede’ zu nennen gewohnt sind. Ihr werdet es mir deshalb nicht übel nehmen, wenn ich zur Frage der freien deutschen Literatur heute nicht das sage, was ich sagen möchte und was auch notwendig wäre zu sagen. Unsere ganze Arbeit in diesen Tagen - Arbeit zur Verteidigung der Tschechoslowakei - ist zugleich Dienst an der freien deutschen Kultur und Ehrenpflicht jedes deutschen Schriftstellers, der dieses Namens wert sein wird. 20 Unter dem Datum des 14. Oktober 1938 lautet Weiskopfs Ergänzung: Es ist wirklich nicht so gekommen wie in Spanien, aber in einem anderen Sinne, als ich es vor einem Monat meinte. Wir wollten kämpfen, aber man hat uns die Waffen entwendet. Wir waren bereit, in vollem Bewußtsein der Schwere und Grässlichkeit einer solchen Entscheidung in den Krieg zu gehen, und man hat uns das Netz eines faulen und schändlichen Friedens (der kein Friede ist) über Kopf und Glieder geworfen. Wir standen zwei Schritte vor dem Sieg, einem Sieg der Kultur über die Barbarei, der Zukunft über die Vergangenheit, der Menschenwürde über die Unmenschlichkeit, und man hat uns und die ganze Menschheit verraten. Es ist schwer, in solcher Lage anderes zu empfinden als Ekel und Bitterkeit, aber Ihr sollt wissen, dass unter diesem Ekel und unter dieser Bitterkeit der Hass sitzt. Weiskopfs Gegenwartsbezug setzt sich von der transhistorischen Weitsicht des SDS-Grußworts deutlich ab. Dort werden „die großen Ideen“ weiter beschworen: „Sie leben in den geheimen Gemeinschaften, deren wohleingebettetes Aderwerk dem Blick und Zugriff der Polypen trotzt […]. Welch eine 16 Alfred Kurella: „Ewige Quellen deutscher Zivilisation“, in: Der deutsche Schriftsteller (November 1938), S. 5. 17 Louis Fürnberg: „Die Heimat geht mit der Wahrheit“, in: ebd., S. 11. 18 Balder Olden: „Zwei Weltkriege“, in: ebd., S. 16. 19 Egon Erwin Kisch: „Antwort an einen Zurückgelassenen“, in: ebd., S. 29. 20 F. C. Weiskopf: „Wir wollten kämpfen“, in: ebd., S. 11. Das Münchener Abkommen in der Publizistik des Exils 225 Aufgabe für den Schriftsteller, diese scheinbare Stummheit eines Volkes in offenen Worten zu interpretieren.“ 21 Mit den „Ideen“ wollen die Autoren an die emanzipatorische Kraft anknüpfen, die dem deutschen Idealismus innewohne, die sich im demokratischen Engagement der Schriftsteller des Vormärz gezeigt habe, die sich in der ersten Nationalversammlung in der Paulskirche manifestiert habe, die den historischen Gehalt der „Macht des Wortes“ darstelle, die es gegen den Nationalsozialismus auszuüben gelte. Das Symptom einer doppelten Zeitverschiebung, das in solchen Verknüpfungen sichtbar wird, bleibt kritisch zu bewerten. Zum einen suggerieren solche Analogien, daß es sich beim deutschen Faschismus um einen Wiederholungsfall, um ein variiertes Kapitel in der Geschichte der ‚deutschen Misere’ handele: Der Terror, die Gleichschaltung, die Vernichtungsenergie des nationalsozialistischen Regimes werden dann nach Maßstäben betrachtet, wie sie innerhalb der politischen Kräfteverhältnisse von Restauration und Vormärz galten. Nur wenige Stimmen erheben Einwände gegen diese Verharmlosung, so etwa Alfred Kerr, der in der „Sammlung“ vom September 1933 bemerkt, es habe sich bei der hundert Jahre zurückliegenden Epoche um eine „im Verhältnis reinliche, im Verhältnis unschmierige Grauenszeit“ 22 gehandelt; oder René Schickele, der in einem Brief an Anette Kolb vom 10. Dezember 1937 den Hauptunterschied zwischen damals und der Gegenwart betont: „Die Totalität war noch nicht erfunden.“ Der zweite Effekt dieser Verschiebung besteht in der Annahme, daß sich die Mittel des Schriftstellers, die zu Heinrich Heines Zeit hätten wirken können, auch noch im Widerstand gegen NS-Deutschland erfolgreich anwenden ließen. „Das Wort als geistige Waffe“ lautet der Titel eines Artikels über Heine von Walter A. Berendsohn aus dem Februar 1945, er bündelt nochmals die Emphase der Schriftsteller, die in Appellen, auf Kongressen, in Manifesten und Artikeln immer wieder zum Ausdruck kommt. Tatsächlich verbuchen die Exilierten einen frühen Erfolg, dessen Zustandekommen an die Spielregeln erinnert, die zwischen dem Intellektuellen und der Öffentlichkeit einerseits und der Staatsmacht andererseits idealerweise herrschen: den des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror und den vom Exil aus medial begleiteten Prozeß Dimitrow contra Göring. Doch bei diesen Beispielen bleibt es, und als es zu der einen Gelegenheit kommt, auf einen Willensbildungsprozeß mit dem Wort als geistige Waffe einzuwirken, eben der Saar-Abstimmung, versagt dieses Mittel; selbst zwei Drittel der angestammten SPD- und KP-Wähler stimmen für die Rückgliederung ins ‚Reich’. Zu den Missverständnissen, die aus dem ahistorischen Rückbezug auf die Geschichte folgen, gehört die Annahme der Trennung von Geist und Macht als weiterhin wirksame deutsche Eigenart, wobei das Wort pauschal 21 „Unser Volk und seine Schriftsteller“, in: ebd., S. 2. 22 Alfred Kerr: „Der Zustand im Deutschen Theater“, in: Die Sammlung (September 1933). Wolfgang Schopf 226 dem Geist zugerechnet wird. Die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts forderten den Staatsapparat mit der Entfesselung einer vierten Gewalt heraus, deren Ausübung mehr zu ihrem Repertoire als zu dem des Apparats gehörte, worauf der Staat defensiv, mit Zensur reagierte. Die Nationalsozialisten kontrollieren die ‚öffentliche Meinung’ nicht besser als dies dem Regime Metternichs gelang, sie prägen sie jedoch in Perfektion durch Massenmedien, die sich auch des Mittels der Schriftsteller bedienen, des Worts - um in Berendsohns Bild zu bleiben - als Waffe des Ungeists, aber auch mit Mitteln, deren Wirksamkeit über die des gedruckten Worts hinausgeht: mit dem Rundfunk, oder mit der ‚seelischen Manipulierung’ durch die Bildsprache des Propagandafilms (so Kracauer). Zugespitzt: Heinrich Mann tritt mit dem frühaufklärerischen Gestus seiner Appelle, würden sie denn die Adressaten in Deutschland erreichen, gegen die Suggestivkraft von Leni Riefenstahls Inszenierungen an. Das ist noch nicht einmal ein ungleicher Kampf. Daß sich gerade die exilierten Schriftsteller, um zu dem SDS-Manifest vom November 1938 und zu Fichtes sprachnationaler Begeisterung von 1808 zurückzukehren, in ihrer aktuellen Situation mit den Begriffen einer Epoche verständigen, in der ‚Volk’ ein demokratisches Subjekt hätte werden können, in der ‚Nation’ die Organisationsform der gesellschaftlichen Weiterentwicklung hätte werden können, in der die Umsetzung des ‚Erbes’ die politische Transformation der Aufklärung hätte bedeuten können, und all dies mit dem Schriftsteller als Motor des Prozesses, läßt sich als Verdrängung der Aussichtslosigkeit verstehen, die Waffen des Geistes erfolgreich zu führen. Bei der Verteidigung von Identität, die in der Exilsituation so bedroht ist wie die physische Existenz, kann derlei helfen, und in dieser Lesart erhält die Vokabel „Selbsterhaltungskampf“ aus dem SDS-Manifest eine faßbare Bedeutung. Mehr, also eine reale Handlungsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder gar in konkreten Krisenmomenten, läßt sich aus dem Rekurs auf das Erbe nicht gewinnen. Dies schon gar nicht, wenn das Erbe unter dem ‚deutschen Volk’, das 1938 keineswegs mehr eine so diffuse Masse wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern eine nationalsozialistisch organisierte ist, ebensowenig gilt wie eine ‚freie deutsche Literatur’. Jean-Yves Debreuille Tanz auf dem Vulkan. Die Nouvelle Revue française vom September 1938 bis zum Juni 1940 Der Titel eines 1938 im Pariser Verlagshaus Adyor erschienenen Buches von Georges Barbarin lautet La Danse sur le volcan (Der Tanz auf dem Vulkan) - das Werk paßt also in die uns beschäftigende Periode. In der Tat zeigt das Titelblatt dieses 195 Seiten, 14 Abbildungen und 10 Illustrationen umfassenden Werks einen gewaltigen Vulkanausbruch. Dennoch kann ich nicht verheimlichen, daß es sich dabei um ein Buch aus dem Bereich der Vulkanologie handelt. Sein Inhalt braucht mich folglich nicht zu interessieren. Mir genügt schon der Hinweis auf die metaphorische Bedeutung seines etwas formelhaften Titels 1 . Er soll mir dazu dienen, die Situation der angesehensten und repräsentativsten literarischen Zeitschrift der Referenzperiode zu charakterisieren. Es war ein Grollen zu hören, Risse wurden sichtbar. Einige machten weiter, als sei nichts passiert. Andere, die Besorgten, verloren sich in Überlegungen und fragten sich, wo die zu beobachtenden Phänomene ihren Ursprung hatten und wohin sie wohl führen würden. Niemand jedoch sah die Plötzlichkeit und die Gewalt des bald darauf folgenden Ausbruchs voraus. Man muß sich zunächst vor Augen halten, was zu diesem Zeitpunkt eine literarische Zeitschrift war: Sie war kein Ort, in dem es allein um Literatur ging, noch weniger allein um die ‚écriture‘, wie man heute sagen würde. In dieser Zeit wurde der Schriftsteller als ein nicht-spezialisierter Denker angesehen - anders als der Philosoph oder der Historiker. Sein Denken sollte alle Bereiche der menschlichen Praxis einschließen. Als Intellektueller war er befugt, zu allem eine autorisierte Meinung zu vertreten, wovon der Begriff des ‚Autors‘ noch eine ungefähre Ahnung vermittelt. 2 Außerdem läßt sich wohl ohne zu übertreiben sagen, daß der ihnen zugesprochene Status als ‚große Autoren‘ auch zur Konstruktion einer nationalen Identität Frankreichs diente. Nicht zufällig herrschte unter den Schriftstellern dieser Zeit, unabhängig davon, welche Meinung sie im einzelnen vertraten, große Einigkeit über ihre gemeinsamen Aufgaben - so verschiedenartige Beispiele wie Paul Valéry, François Mauriac, Louis Aragon oder Jean-Paul Sartre können dafür angeführt werden. 3 Es war Jean Paulhan zu verdanken, daß die 1 Klaus Mann hat diese Metapher 1939 als Titel seines Romans Der Vulkan. Roman unter Emigranten verwendet. 2 ‚Autor‘ und ‚autorisieren‘ leiten sich von Lat. auctoritas her. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang Roland Barthes’ Analyse des Endes der großen Schriftsteller, „détenteurs d’un savoir“, und ihre Ersetzung durch die „sujets d’une pratique“; Jean-Yves Debreuille 228 Nouvelle Revue française (NRF) in den 1930er Jahren der Ort war, an dem sie alle debattieren konnten. Entsprechend finden sich in dieser Zeitschrift alle wichtigen Namen aus dieser Zeit wieder. Die Liste der Beiträger reicht von Charles Maurras bis zu Louis Aragon, also von der extremen Rechten bis zur Kommunistischen Partei. Nun gab es sicherlich im Jahr 1938 linke Zeitschriften (wie Europe) oder rechte Zeitschriften (wie L’Action française), auch waren zweifellos Zeitschriften der künstlerischen Avantgarde (wie Minotaure) zu finden, aber jede von ihnen besetzte eine Art Privatgrundstück, zu dem die politischen Gegner keinen Zutritt hatten, und so war auch ihre jeweilige Leserschaft auf jene beschränkt, die ihre jeweiligen Überzeugungen teilten. Im Fall der NRF lagen die Dinge anders. Sie war ein Diskussionsforum aller und erreichte in der betreffenden Zeit die höchste Auflage in ihrer Geschichte: 1939 wurden 20.000 Exemplare gedruckt. Wer sich für die Folgen der europäischen Krise in den französischen Intellektuellenkreisen interessiert, der wird um die NRF nicht herumkommen. 1 Als ob nichts passiert wäre Es heißt, daß das Tagebuch Ludwig XVI. für den 14. Juli 1789 folgenden Eintrag enthielt: „Rien“ (Nichts). Die Oktoberausgabe der NRF des Jahres 1938 läßt ebenfalls keinerlei Reaktion erkennen. Sicherlich muß dabei ihr Produktionszeitraum berücksichtigt werden: Die Ausgabe ist auf den 1. Oktober datiert und es war deshalb nicht mehr möglich, darin auf das Münchener Abkommen vom 30. September zu reagieren. Immerhin hatte Hitler aber schon am 30. Mai den sogenannten Fall Grün unterschrieben, der die Invasion der Tschechoslowakei für den 1. Oktober vorsah, und seitdem hatten die politischen Spannungen beständig zugenommen, bis dann die Regierung Daladier für den 24. September die Reservisten einberief. Allgemein wurde davon ausgegangen, daß ein Krieg unmittelbar bevorstand, wovon der „lâche soulagement“ (die feige Erleichterung) in der französischen Öffentlichkeit zeugt, der dann unmittelbar auf die Bekanntgabe der Ergebnisse der Münchener Verhandlungen folgte. Nun ist es im Nachhinein sicherlich leicht, Werturteile zu fällen, aber den heutigen Leser muß die Lektüre der zwischen 1938 und 1940 publizierten Bände der NRF in jedem Fall einigermaßen erstaunt zurücklassen. Die Existenz der Zeitschrift verläuft in geregelten Bahnen, ja beinahe ungestört, und zwar selbst für jene Schriftsteller, die in der Folge ihr Interesse am politischen Engagement beweisen oder dieses Engagement später als eine Pflicht ansehen sollten. So in: Roland Barthes: Leçon, Paris: Le Seuil 1978. Dafür gab es sicherlich Vorläufer, deren berühmtester wohl Proust gewesen war: Der Erzähler der Recherche verzweifelt daran, Schriftsteller zu werden; seine Eindrücke seien „toujours liées à un objet particulier dépourvu de valeur intellectuelle et ne se rapportant à aucune vérité abstraite“. Marcel Proust: À la recherche du temps perdu, Bd. 1: Du côté de chez Swann, Paris: Gallimard (éd. Folio) 1988, S. 214 (1 ère partie, „Combray“). Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 229 ist der einzige Beitrag Jean-Paul Sartres aus dieser Zeit ein einschlägiger Artikel in der Februarausgabe 1939 der NRF mit dem Titel „M. François Mauriac et la liberté“ 4 . Sartre beschäftigt sich darin aber mit nichts weiter als den ideologischen Möglichkeiten, die einem allwissenden Erzähler aus der Handhabung seiner Romanfiguren erwachsen. 5 Der angesprochene Mauriac seinerseits macht nicht den Eindruck, als sei er von der Aktualität betroffener gewesen als Sartre. Er denkt in seinem Artikel „Cinquante ans“ 6 (Fünfzig Jahre), den die Ausgabe vom Oktober 1939 abdruckt, nicht über den Kriegsbeginn nach, sondern über den Beginn des Älterwerdens. Was Louis Aragon betrifft, so beginnt dieser Schriftsteller im Januar 1940 in aller Ruhe mit der Veröffentlichung seines Feuilletonromans Voyageurs de l’impériale, der übrigens bis zur letzten Ausgabe der NRF im Juni 1940 fortgesetzt wird und damit gleichsam die verbreitete Ansicht widerlegt, über die kommunistischen Autoren sei nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 eine Art Bann verhängt worden. Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, so könnte ihn Elsa Triolet liefern, die - beginnend im Februar 1940 - eine Chronik in der NRF veröffentlicht, die neben die Chronik des sehr konservativen Henri Pourrat gestellt werden kann. Beide schildern das Leben der Franzosen in der sogenannten drôle de guerre. Während Triolet aber darstellt, wie Paris in der Dunkelheit vor sich hin siecht, zeigt Pourrat Französinnen, die sehnlich ihre auf Fronturlaub befindlichen Männer erwarten, damit diese endlich wieder Holz hacken gehen. Insgesamt gesehen nimmt das Leben aber in der Stadt und auf dem Land seinen Lauf, und nichts unterbricht die Stille. Für die meisten Beiträger der NRF geht der intellektuelle Tanz ohnehin weiter wie zuvor. Paul Valéry veröffentlicht im Juni 1939 ein schönes Gedicht namens „Colloque“ 7 , das auf 1920 datiert ist. Alain beschreibt im August 1939 ein „Déjeuner chez Lapérouse“, ein Essen mit dem genannten Lapérouse und Henri Mondor, und nutzt die Gelegenheit, um in der Dezemberausgabe - also den Umständen entsprechend - eine kleinere Studie über die Weihnachtserzählungen von Dickens zu plazieren. 8 Jules Romains 9 4 Jean-Paul Sartre: „M. François Mauriac et la liberté“, in: Nouvelle Revue française (NRF) 305 (Februar 1939), S. 212-232. 5 Sartre interveniert nochmals kurz in der Ausgabe vom März 1940, um Giraudoux’ Choix des élues zu besprechen. Er attackiert dessen „schizophrénie“ und behauptet, der Autor lebe in einer Welt, die nicht die unsere sei. Aber die wirkliche Welt ist für Sartre allem Anschein nach nicht die des Krieges oder des Nationalsozialismus. Er verbleibt in den Grenzen einer Diskussion über Fragen literarischer Darstellung. Vgl. Jean-Paul Sartre: „M. Jean Giraudoux et la philosophie d’Aristote. À propos de ‚Choix des Elues’“, in: NRF 318 (März 1940), S. 339-354. 6 François Mauriac: „Cinquante ans“, in: NRF 313 (Oktober 1939), S. 535-551. 7 Paul Valéry: „Colloque“, in: NRF 309 (Juni 1939), S. 913-914. 8 Alain: „Le déjeuner chez Lapérouse“, in: NRF 311 (August 1939), S. 234-244, und ders.: „Les ‚Contes de Noël’“, in: NRF 315 (Dezember 1939), S. 817-823. 9 Jules Romains: „Essai de réponse à la plus vaste question“, in: NRF 311 (August 1939), S. 177-196. Jean-Yves Debreuille 230 antwortet im August 1939 auf die Anfrage eines amerikanischen Verlagshauses, indem er sein Credo erläutert, während Paul Claudel 10 in der gleichen Nummer den Straßburger Dom feiert. Und Raymond Queneau publiziert seinen Roman Un rude hiver als Feuilleton in den Oktober- und Novemberausgaben 1939. 11 Gleichzeitig stellt Jean Rostand der Leserschaft seine „Notes d’un biologiste“ 12 vor, während sich Gaston Bachelard mit „Le Bestiaire de Lautréamont“ 13 beschäftigt. Die erstaunlichsten Ausgaben der NRF sind freilich die vom September 1939 und vom April 1940. Sicherlich müssen erneut die bei der Herstellung der Zeitschrift entstandenen Verzögerungen in Betracht gezogen werden. Dennoch: Die erst genannte Nummer erscheint gleich nach Kriegsausbruch und die zweite Nummer zu Beginn der deutschen Offensive, und beide lassen keinerlei Spuren der zeitgeschichtlichen Ereignisse erkennen. Die einzige Verbindung der Septemberausgabe der NRF zu Deutschland ist ein Artikel von Hans Carossa. Carossa erinnert sich darin an eine - notwendigerweise einige Zeit zurückliegende - Begegnung mit Rainer Maria Rilke. 14 Wenn in dieser Ausgabe der NRF überhaupt von Krieg die Rede ist, dann von den „Poèmes guerriers des indiens Papagos“ 15 , also den Kriegsgedichten der Papagos-Indianer. Daneben trifft man auf Alains „Propos“ über die Komödie, die bemalte Skulptur und die Musik als Denken. Und die Ausgabe vom 1. April 1940 enthält unter anderem einen Essay von Jean Giono mit dem Titel „Pour saluer Melville“, eine Erzählung von Jean de Bosschère mit dem Titel „Colombes“ und ein bedeutungsschweres Gedicht von André Mary, das unter dem Titel „La bacchanale du poirier“ steht und also das Bacchanal des Birnbaums besingt. 16 Alle diese in der NRF publizierten Beiträge situieren sich deutlich außerhalb von jeder Aktualität, was selbst für die „Pages d’un neutre“ 17 (Seiten eines Neutralen) von Ramuz gilt, die Fortsetzung der in der vorangegangenen Ausgabe der NRF aufgenommenen Überlegungen. Auf die Frage: „Pourquoi l’Occident se bat-il? “ - wofür kämpft der Okzident? - antwortet Ramuz nicht nur: „pour le droit à la poésie“, also für das Recht auf Poesie, er rechtfertigt zudem seine Position als Bürger der Schweiz. Es gäbe „ceux qui se défendent activement avec les armes et ceux dont la défense n’est encore que 10 Paul Claudel: „La cathédrale de Strasbourg“, in: ebd., S. 223-233. 11 Raymond Queneau: Un rude hiver, in: NRF 313 (Oktober 1939), S. 581-611, sowie: 314 (November 1939), S. 735-768. 12 Jean Rostand: „Notes d’un biologiste“, in: NRF 314 (November 1939), S. 693-698. 13 Gaston Bachelard: „Le Bestiaire de Lautréamont“, in: ebd., S. 711-734. 14 Hans Carossa: „Rencontre avec Rainer Maria Rilke“, in: NRF 312 (September 1939), S. 416-428. 15 F. Auberjonois: „Poèmes guerriers des indiens Papagos“, in: ebd., S. 516-517. 16 Jean Giono: „Pour saluer Melville“, in: NRF 319 (April 1940), S. 433-458; Jean de Bosschère: „Colombes“, in: ebd., S. 475-485; André Mary: „La bacchanale du poirier“, in: ebd., S. 486-491. 17 C.F. Ramuz: „Pages d’un neutre (fin)“, in: ebd., S. 492-500. Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 231 passive“ 18 . Wenn es freilich tatsächlich nur um die Poesie ginge, dann ließe sich über die Wahl der Waffen sicherlich leichter diskutieren… Die letzte Ausgabe der älteren Serie der Zeitschrift schließlich, die vom Juni 1940, beginnt mit einer tiefgründigen Ansprache von Jean Paulhan: „Le silence n’est pas moins dû à nos amis qui se battent dans les flammes, et pour qui, il n’est pas d’autre mot, nous prions.“ 19 Aber die von Paulhan angesprochene Stille wird bald schon wieder vom friedlichen Surren der kleinen literarischen Mechanik übertönt, die für den Rest dieser Ausgabe charakteristisch ist. Es wird so getan, als sei nichts passiert: Zu lesen sind weiterhin „Pour saluer Melville“ und - natürlich - Aragons Les Voyageurs de l’impériale, diesmal mit der Zugabe von „Au pays de la magie“ von Michaux, „Un voyageur solitaire“ von Montherlant und einer „Ridicule et falot“ betitelten Tirade von Claude Mauriac gegen Jean Cocteau… 2 ‚Anti-munichois‘ und Kriegsbefürworter Gerechterweise muß jedoch auf einige Zeilen von Julien Benda in der Ausgabe der NRF vom April 1940 über die Folgen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts hingewiesen werden. Sie sind zwar recht weit nach hinten gesetzt worden - hinter die unerschütterlichen (und unerschütterten) Voyageurs de l’impériale. Doch Benda beklagt darin offen, daß ‚das Verhalten der kommunistischen Partei in diesem Krieg‘ („la conduite du parti dans cette guerre“) nur den Antikommunismus schüre und jede der Arbeiterklasse zugute kommende Sozialreform diskreditiere, und sei sie auch noch so gerecht, „fût-ce la plus juste“ 20 . Benda hat auch als einer der ersten NRF-Autoren die Warnglocken gegen das Münchener Abkommen betätigt. Für den Autor von La trahison des clercs 21 , der ansonsten gegenüber den aktuellen politischen Debatten eine große Distanz bewahrt, ist diese Tatsache allein schon bemerkenswert. Doch damit nicht genug: Benda veröffentlicht in der Ausgabe vom November 1938 einen Artikel mit dem Titel „Les démocraties devant l’Allemagne“, in dem er behauptet, daß die politischen Verantwortlichen in Frankreich Angst gehabt hätten - Angst davor, den Krieg zu verlieren, aber auch Angst davor, ihn zu gewinnen, da die Ansicht vorgeherrscht habe, daß im Falle einer 18 Ebd., S. 499 und S. 500. [Dt.: Jene, die sich aktiv mit den Waffen verteidigen, und jene, deren Verteidigung bislang nur passiv ist]. 19 Jean Paulhan: „L’espoir et le silence“, in: NRF 321 (Juni 1940), S. 721-722, hier S. 722. [Dt.: Die Stille ist nicht weniger unseren Freunden geschuldet, die in den Flammen kämpfen, und für die wir, es gibt kein anderes Wort dafür, beten]. 20 Julien Benda: „Double malfaisance“, in: NRF 319 (April 1940), S. 569. 21 In diesem 1927 publizierten Buch verurteilt Benda die zahlreichen Stellung- und Parteinahmen der Intellektuellen in Bereichen, für die sie nicht kompetent seien oder für die man im Gegenteil eine über den kontingenten Moment hinausblickende Perspektive benötige. Jean-Yves Debreuille 232 Niederlage Hitlers der Kommunismus triumphieren werde. 22 Benda glaubt, die bürgerlichen Demokratien seien an größerer sozialer Gerechtigkeit nicht interessiert. Den Pétainismus bzw. die Vichy-Kollaboration vorausahnend, sieht er eine Ähnlichkeit zwischen der Situation nach ‚München’ und der Situation nach 1870: Aufgrund einer vergleichbaren Resignation müsse man sich schon die Frage stellen, ob Frankreich sein übertriebenes Ruhebedürfnis so weit treiben werde, daß es jedes Regime akzeptiere, das ihm seine Existenz als friedliche und fleißige Nation garantiere. 23 Benda setzt in der Folge regelmäßig nach: Im April 1939 nimmt er sich die Pazifisten vor: „Si vous voulez organiser la paix, il faudra peut-être commencer par ne pas la sauver.“ 24 Und im Februar 1940 verteidigt er eine hellenisch-christliche Moral („morale hellénico-chrétienne“) gegen die Marxisten und die Nietzscheaner, denen er die Action française annähert, die, wie die deutschen Nationalisten, antisemitisch sei. 25 Dem Beispiel Bendas folgend, werden die virulentesten Reden in der NRF von jenen Autoren geschwungen, die man als Neo-Péguysten 26 bezeichnen könnte. Unter ihnen ist André Suarès zu finden, der über eine regelmäßige Tribüne in der Zeitschrift namens „Chronique de Caërdal“ verfügt. Anfangs sind seine Ausführungen noch recht genereller Natur und zielen auf die Schwäche der Demokratien im allgemeinen ab, auch wenn der konkrete Angriffspunkt der Argumentation von vornherein klar ist. Es gebe leider niemanden, stellt Suarès im April 1939 bedauernd fest, der bereit sei, einem Staatschef, welcher mit rednerischem Geifer die Schleusen öffne, durch die Blut über ganz Europa fließen könne, die Zwangsjacke („camisole de force“) überzuziehen, die einzige Uniform, die ihm und seinen Göttern wirklich passe. 27 Mit der Zeit gehen solche Kommentare in einen fremdenfeindlichen Patriotismus über, wobei sicherlich festzuhalten ist, daß eine Bemerkung wie die folgende in den November 1939 fällt, also bereits in die Zeit nach der Kriegserklärung: „Y a-t-il un neutre au monde qui ose tenir la balance égale entre l’infâme Hitler et la Pologne? entre l’ignoble Allemagne, serve de tous les crimes, et l’Occident, France et Angleterre, dressé contre le parjure quotidien et l’universel assassinat.“ „Ignorez-vous encore que les Allemands sont des Mongols? “ 28 Der Kampf gegen den Antisemitismus 22 Julien Benda: „Les démocraties devant l’Allemagne“, in: NRF 302 (November 1938), S. 761-771, hier bes. S. 762-763. 23 Ebd., S. 770. 24 Julien Benda, „Sauver la paix et organiser la paix“, in: NRF 307 (April 1939), S. 721-722, hier S. 722. [Dt.: Wenn Sie den Frieden organisieren wollen, sollten Sie vielleicht damit anfangen, ihn nicht zu retten]. 25 Julien Benda: „La crise de la morale cléricale“, in: NRF 317 (Februar 1940), S. 150-161. 26 Autoren in der Tradition des linksrepublikanischen Patriotismus, den Charles Péguy (1874-1914) gegenüber Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg vertrat (Anmerkung des Übersetzers). 27 André Suarès: „Chronique de Caërdal“, in: NRF 307 (April 1939), S. 666-676, hier S. 668. 28 André Suarès: „Chronique de Caërdal“, in: NRF 314 (November 1939), S. 774-779, hier S. 776-777 und S. 779. [Dt.: Gibt es einen Neutralen in der Welt, der mit Blick auf den Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 233 erscheint auf diese Weise umgehend als ein Kampf zwischen Gott und Teufel: […] ils ont commencé par les Juifs: rien de mieux pour habituer les peuples à haïr, à tuer, à mépriser et à souiller sans scrupule. […] De là, ils sont passés aux catholiques; puis à tous les chrétiens. […] La guerre allemande est entre Jésus et Odin, entre l’esprit et la matière, entre le Bien et le Mal. 29 Einer jüngeren Generation zugehörig, war Armand Petitjean im September 1938 unter den von der Regierung Daladier mobilisierten Soldaten gewesen. Zwei Monate später - im November 1938 - bittet er Gott darum, endlich die Augen zu öffnen angesichts von „quelques centaines de mille, banquiers, parlementaires, politiciens, journalistes et complices: très propres, très seuls, très dégoûtants, qui prétendent parler pour le peuple de la France“ 30 . Petitjean ergreift wiederholt das Wort, und sein wichtigster Beitrag ist wahrscheinlich jener, den er in der Juliausgabe 1939 der NRF unter dem Titel „Péguy et nous“ publiziert. Darin führt er aus, daß der Generationenkonflikt des Jahres 1913 der gleiche sei wie der des Jahres 1939: Parallel zu einer Generation der Besiegten, der Nutznießer der Niederlage, der Pazifisten 31 , habe sich eine neue Generation gebildet, die ihre Möglichkeiten erkenne, die sich ihrer Verantwortung bewußt sei und die als risikobereit gelten könne („ouverte à toutes les possibilités, prête à prendre ses risques et ses responsabilités“) 32 . In die gleiche Richtung geht Georges Bernanos in der Nummer vom Mai 1940. Unter der Überschrift „Nous retournons dans la guerre“ (Wir ziehen wieder in den Krieg) geht er auf der Grundlage des gleichen Vergleichs zweier Vorkriegszeiten ebenfalls streng mit der Dritten Republik ins Gericht. Er wirft Maurras und Briand in einen Topf. Beide inkarnierten gleichermaßen die ‚stets ohnmächtige Drohung und das vergebliche Wort’ („la infamen Hitler und Polen unparteiisch bliebe? Der sich nicht zwischen dem schändlichen Deutschland, dem Sklaven all seiner Verbrechen, und dem Westen, Frankreich und England, entscheiden könne, die sich dem alltäglichen und universellen Morden entgegenstellen? <…> Ist Ihnen nicht klar, daß die Deutschen Mongolen sind? ]. 29 André Suarès: „Chronique de Caërdal“, in: NRF 315 (Dezember 1939), S. 908-912, hier S. 909. [Dt.: Sie haben mit den Juden angefangen: nichts besser als sie, um die Völker an Haß, Tod, Mißtrauen und skrupellose Sudelei zu gewöhnen. <…> Von den Juden sind sie zu den Katholiken übergegangen; dann zu allen Christen. <…> Der deutsche Krieg ist der zwischen Jesus und Odin, zwischen dem Geist und der Materie, zwischen dem Guten und dem Bösen]. 30 Armand Petitjean: „Prière pour les copains“, in: NRF 302 (November 1938), S. 757-760, hier S. 758. [Dt.: <angesichts von> einigen Hunderttausend, Bankiers, Parlamentariern, Politikern und Komplizen, die sehr anständig, sehr allein und sehr ekelerregend im Namen Frankreichs zu reden vorgeben]. 31 In der vorangegangenen Ausgabe hatte Petitjean eine sehr kritische Rezension von Guéhennos Journal d’une ‚révolution’ publiziert: „Pour ma part, je le range au nombre de ceux que l’expérience de la guerre passée a définitivement châtrés dans leurs possibilités d’action publique, ou même dans leur pouvoir de penser utilement pour la Communauté“. Armand Petitjean: [Rezension], in: NRF 309 (Juni 1939), S. 1052-1055, hier S. 1054. 32 Armand Petitjean: „Péguy et nous“, in: NRF 310 (Juli 1939), S. 5-13, hier S. 9. Jean-Yves Debreuille 234 menace toujours impuissante et la parole vaine“), und weiter: „L’important n’est pas d’accélérer ou de retarder le cours des choses, car quel qu’en soit le cours, elles n’écrasent jamais que leurs esclaves: c’est d’aider à maintenir debout un petit nombre d’hommes capables de fierté.“ 33 Standpunkte, die man unter dem Stichwort ‚linke Opposition‘ sammeln könnte, sind in der NRF wesentlich spärlicher gesät. Jean Grenier denkt im Juli 1939 laut über den Pazifismus von Giono auf eine Art und Weise nach, die Sartres Rede vom „embarquement“ vorwegnimmt. Grenier zeigt darin nicht ohne Hintersinn, daß der ‚Bauer von Manosque‘ sich so sehr er auch wolle von den Franzosen und Frankreich distanzieren könne - seine Ländereien und Bäume würden ihm im Fall eines Einmarsches dennoch von den Deutschen weggenommen werden. Er selbst werde, auch ohne es zu wollen, unterworfen, da er in einer „[s]olidarité effroyable qu’il est inutile de nier“ 34 gefangen sei. Der junge Claude Roy hingegen, der in derselben Ausgabe der NRF die letzte Lieferung der Zeitschrift Minotaure rezensiert, wundert sich über die Verrenkungen der Avantgarde, die sich in einer Zeit, in der die Monster nur zu wirkliche Gestalt annehmen, bemühe, sich - in Anlehnung an Rimbauds Chant de guerre parisien - die Seele monströs zu machen („se faire l’âme monstrueuse“): „[…] ce n’est pas de cela, déjà plus de cela qu’il s’agit. Et s’il n’y a plus d’âme? “ 35 Und Pierre-Jean Jouve schließlich veröffentlicht in der Ausgabe vom Februar 1940 ein Gedicht, das den Titel „À la France“ trägt; in ihm findet sich die unmißverständliche Aufforderung: „Aux armes! “ 36 (Zu den Waffen). 3 ‚Munichois‘ und Pazifisten Aber auch die andere Seite bezieht Stellung. So publiziert beispielsweise Jacques Chardonne im Februar 1939 unter dem Titel „Politique“ eine lebhafte Polemik gegen den Kollektivismus. Auch wenn er es nicht offen wagt, die Qualitäten des Regimes zu loben, das in Deutschland als Schutzwall gegen eben diesen Kollektivismus errichtet worden sei - ein paar mildernde Umstände hält er diesem Regime dennoch zugute. Wenn die Franzosen sich von diesem Regime abgestoßen fühlen, so meint Chardonne, dann nur we- 33 Georges Bernanos: „Nous retournons dans la guerre“, in: NRF 320 (Mai 1940), S. 577- 598, hier S. 598. [Dt.: Es ist nicht entscheidend, den Gang der Dinge zu beschleunigen oder zu verlangsamen, denn in welche Richtung auch immer sich die Dinge bewegen, sie werden immer nur ihre Sklaven unter sich begraben: entscheidend ist vielmehr, einer kleinen Zahl von aufrechten Menschen zu helfen, die noch Stolz empfinden können]. 34 Jean Grenier: „Réflexions sur la pauvreté et la paix (à propos de Jean Giono)“, in: NRF 310 (Juli 1939), S. 116-121, hier S. 120. [Dt.: <…> furchtbaren Solidarität, die unleugbar ist <…>]. 35 Claude Roy: [Rezension], in: ebd., S. 156-157, hier S. 157. [Dt.: Darum geht es nicht, darum geht es nicht mehr. Denn was, wenn es keine Seele mehr gäbe? ]. 36 Pierre Jean Jouve: „A la France“, in: NRF 317 (Februar 1940), S. 145-149, hier S. 146. Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 235 gen dessen Grobschlächtigkeit, die aber eine ‚Nuance‘ sei, nicht das Wesentliche, und außerdem müsse man die Vorliebe der Deutschen für Uniformen und Paraden berücksichtigen. 37 Doch selbst abgesehen von solchen Details kann festgehalten werden, daß nach Chardonnes Meinung der im September 1938 allerorts von den Menschenmengen erhobene Schrei nach Frieden ehrlich gemeint gewesen sei: „un cri fut sincère, ce cri des foules qui acclamaient la paix dans tous les pays“ 38 . Im Januar 1940 obliegt die Verteidigung des deutschen Reichs dann Ramon Fernandez. Nachdem er Hitler mit dem Rousseau des gestohlenen Bändchens (aus dem zweiten Buch der Confessions) verglichen hat, stellt er fest, wie mißgünstig es doch sei, den Führer der Deutschen der Kriegstreiberei zu bezichtigen. Denn während Rousseau im Europa seiner Zeit keinen ‚Lebensraum‘ mehr hatte finden können, ist Deutschland so spät zu Europa hinzugestoßen, daß die Welt bereits auf andere verteilt gewesen sei: „L’Allemagne est arrivée trop tard dans une Europe qui s’était déjà distribué le monde. Rousseau est arrivé trop tard dans une Europe bien ajustée où il ne pouvait trouver son espace vital.“ 39 Freilich unterscheiden sich von einem ehrlichen Pazifismus getragene Äußerungen von solchen Theoretisierungsversuchen. Zu nennen wäre zunächst ein im Januar 1939 veröffentlichter Kommentar Jean Gionos, in dem es heißt: „La guerre est inutile, il ne faut rendre aucun culte à ceux qui se consacrent à l’inutile.“ 40 Jean Paulhan hat die Veröffentlichung dieser Zeilen in der NRF akzeptiert, jedoch nicht ohne den Beitrag Gionos mit einer eigenen Anmerkung versehen zu haben: „Si même j’étais pacifiste absolu, je trouverais encore à ces déclarations je ne sais quoi de simpliste et d’irritant, qui sonne faux.“ 41 Soll dies vielleicht bedeuten, daß es einen relativen Pazifismus gäbe, zu dem sich Paulhan hingezogen fühlte, und daß der Fehler der Erklärungen Gionos aus seiner Sicht einzig darin bestünde, nicht den richtigen Ton getroffen zu haben? Exzesse werden von Paulhan in der Tat angefeindet, und so predigt er im März 1939 unter dem Pseudonym Jean Guérin auch gegen das andere Lager, gegen das nämlich von Armand Petitjean, den die NRF wie gesehen ebenfalls zu ihren Beiträgern zählte. Er wünsche, so schreibt Paulhan, dieser Generation - einer Generation „qui n’a été associée à aucun des abus ni des abandons de la victoire“- viel Geduld, Stetig- 37 Jacques Chardonne: „Politique“, in: NRF 305 (Februar 1939), S. 193-211, hier bes. S. 202 und S. 205. 38 Ebd., S. 205. 39 Ramon Fernandez: „La solitude de l’Allemagne“, in: NRF 316 (Januar 1940), S. 106-112, hier S. 112. [Dt.: Deutschland ist zu spät zu einem Europa hinzugestoßen, in dem die Welt bereits verteilt worden war. Rousseau ist zu spät in ein bereits wohlgeordnetes Europa gekommen, in dem er keinen Lebensraum mehr finden konnte]. 40 Jean Giono: „Du pacifisme absolu“, in: NRF 304 (Januar 1939), S. 167. [Dt.: Der Krieg ist nutzlos, es darf um jene, die sich dem Nutzlosen widmen, kein Kult betrieben werden]. 41 J[ean].P[aulhan].: [Anmerkung], ebd., S. 167. [Dt.: Selbst wenn ich absoluter Pazifist wäre, würde ich solchen Erklärungen etwas Simplifizierendes und Irritierendes entnehmen, das falsch klingt]. Jean-Yves Debreuille 236 keit, Erinnerung und Langeweile, genauer: „la patience, la permanence, la mémoire, […] [e]t pourquoi pas l’ennui (s’il est vrai, comme le disait Barrès, qu’il n’y a que les ouvrages ennuyeux qui comptent)“ 42 . Auf den ersten Blick scheint der Verweis an beide Seiten und Paulhans Bedürfnis nach Ausgleich nicht weiter störend - angesichts eines historischen Moments jedoch, in dem es dringend notwendig wäre, Position zu beziehen, wirkt beides bei näherer Betrachtung einigermaßen wirkungslos. Diesen Vorwurf könnte man a posteriori auch den gutgemeinten Beiträgen der in der NRF publizierenden Dichter machen. Jules Supervielle veröffentlicht in der Juliausgabe des Jahres 1939 ein Gedicht mit dem Titel „Des deux côtés des Pyrénées“ 43 (Beiderseits der Pyrenäen), das eine globale Klage über das vom spanischen Bürgerkrieg ausgelöste Unglück anstimmt, ohne dabei für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. In der Novemberausgabe publiziert Paul Éluard dann ein Gedicht, das schnell berühmt werden sollte: „Pour vivre ici“. Er datiert dessen Anfang, „Je fis un feu, l’azur m’ayant abandonné“ 44 , bewußt auf das Jahr 1918 und markiert damit eine Parallele zwischen der Abwendung vom Mallarméschen Idealismus am Anfang des 20. Jahrhunderts und der Abkehr von den surrealistischen Kunstwelten zugunsten einer unmittelbareren und elementareren Dichtung 30 Jahre später. Der Wille, sich angesichts eines Weltkriegs in eine weltferne, poetische Behausung zurückzuziehen, bleibt allerdings bestehen. Das gilt auch für die bereits zitierten „Pages d’un neutre“ von Ramuz, in denen im März 1940 die Autonomie der Dichtung behauptet wird: „[…] le poète ne saurait s’embrigader; la poésie ne s’inspire pas des circonstances, elle les inspire.“ 45 Louis Aragon wiederum beherzigt das von der kommunistischen Partei nach dem sogenannten Hitler-Stalin-Pakt ausgegebene Neutralitätsgebot, wenn er in der Ausgabe vom Dezember 1939 ein offen pazifistisches Gedicht publiziert: „Je suis pas des leurs puisque la chair humaine / N’est pas comme un gâteau qu’on tranche avec le fer.“ 46 Auch er sieht zwischen 42 Jean Guérin (= Jean Paulhan): „Sur les ‚Cahiers’ d’Armand Petitjean“, in: NRF 306 (März 1939), S. 535. [Dt.: <…> die weder mit dem Mißbrauch des Sieges noch mit seiner Aufgabe in Verbindung gestanden hat <…> Geduld, Stetigkeit, Erinnerung <…> und warum nicht auch Langeweile (wenn es stimmt, daß nur die langweiligen Werke zählen, wie Barrès sagte)]. 43 Jules Supervielle: „Des deux côtés des Pyrénées“ (datiert auf Januar 1939), in: NRF 310 (Juli 1939), S. 60-61. 44 Paul Éluard: „Pour vivre ici“, in: NRF 314 (November 1939), S. 673-676, hier S. 673. [Dt.: Ich machte ein Feuer, als das Azur mich verlassen hatte]. 45 C.F. Ramuz: „Pages d’un neutre“, in: NRF 318 (März 1940), S. 289-306. [Dt.: <…> der Dichter kann nicht für ein Regiment rekrutiert werden; die Dichtung wird nicht von den Umständen inspiriert, sondern inspiriert sie]. 46 Louis Aragon: „Le temps des mots croisés“, in: NRF 315 (Dezember 1939), S. 859. [Dt.: Ich gehöre nicht zu ihnen, da das menschliche Fleisch / Nicht wie ein Kuchen ist, den man mit Eisen schneidet]. Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 237 den beiden Weltkriegen eine Parallele, die den Zweiten Weltkrieg von vornherein disqualifiziert: „Nous reprenons vingt ans après nos habitudes.“ 47 Es gibt schließlich gewisse avantgardistische Theorien, die, auch wenn sie an sich keineswegs pazifistisch sind, objektiv demobilisierend sein können. Während der Collège de Sociologie in der Novemberausgabe des Jahres 1938 gegen das Münchener Abkommen Position bezieht, und zwar in einem von Bataille, Leiris und Caillois unterzeichneten Text, greift der letztgenannte Caillois für die Ausgaben von Dezember 1939 und Januar 1940 alleine zur Feder, um die Grundrisse einer „Théorie de la fête“ (Theorie des Festes) zu skizzieren. Dabei verweist er explizit auf den Nürnberger Parteitag der NSDAP, um sich auf den Exzeß als Mittel gegen den Verschleiß zu berufen und um die Rückkehr zu einem ursprünglichen Chaos („chaos primordial“) zu fordern, das es wieder erlauben würde, an die mythischen Ahnen und die ursprünglichen Kräfte („les ancêtres mythiques et les forces originelles“) anzuknüpfen. 48 Eine solche Vorstellung greift auf Batailles Theorie des „sur-fascisme“ (Über-Faschismus) zurück, deren unbestreitbare Verführungskraft für ein im Krieg befindliches Land aber kaum noch nützlich sein konnte. 4 Le démon de la théorie 49 Caillois’ Text fügt sich in eine weit verbreitete Tendenz in der NRF ein, in der schon seit Jahren die hochtrabende Theoriebildung der prosaischeren Erarbeitung von Standpunkten - die in eine präzisere Form der Praxis münden müßte - vorgezogen worden war. Ihr Direktor selbst steht für diese Tendenz ein. In der Ausgabe vom März 1939 setzt Paulhan beispielsweise seinen Namen unter einen Beitrag mit dem Titel „La démocratie fait appel au premier venu“ (die Demokratie wendet sich an den Erstbesten). Paulhan übt darin eine ebenso makellose wie unbarmherzige Kritik an der seit 1920 von Frankreich verfolgten Außenpolitik: Man habe Deutschland erniedrigt und dem Land dennoch erlaubt, wieder zu Kräften zu kommen; den Völkerbund habe man nach außen unterstützt und sich doch nichts aus ihm gemacht; dem republikanischen Spanien habe man heimlich Hilfe zukommen lassen und es doch nicht retten wollen. Paulhan sucht die Schuld dafür bei einer intellektuell überformten politischen Praxis, in der nicht, wie in einer guten Demokratie doch wohl nötig, der Normalbürger die Entscheidungen trifft („en bonne démocratie, c’est au moyen que la décision devrait 47 Aragon: „Vingt ans après“, in: ebd., S. 861. [Dt.: Wir nehmen zwanzig Jahre später unsere Gewohnheiten wieder an]. 48 Roger Caillois: „Théorie de la fête“, in: NRF 315 (Dezember 1939), S. 863-882, und 316 (Januar 1940), S. 49-59. 49 Es sei mir gestattet, diesen Titel von Antoine Compagnon - Le démon de la théorie: littérature et sens commun (Paris 1998) - in anderen Bereichen anzuwenden als in der reinen Literaturtheorie. Jean-Yves Debreuille 238 revenir“), und an einer Lösung, und sei es auch die mittelmäßigste, um jeden Preis festgehalten wird. Eine deutlichere Verurteilung der intellektuellen Elite ist kaum denkbar; da der Autor ihr selbst angehört stellt sich jedoch die Frage, zu was anderem er aufruft, wenn nicht zu ihrer Selbstzerstörung? Auf diese Weise fällt ein brillanter Diskurs mit dem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht zusammen. „Que l’on ne nous empêche pas de penser la guerre, si l’on nous a mal appris à la prévoir“ 50 , fordert Paulhan noch im Oktober 1939. Ihm fehlt offensichtlich noch zu diesem Zeitpunkt die Einsicht, daß es nicht mehr darauf ankommt, ‚den Krieg zu denken’, sondern ihn zu führen. ‚Den Krieg zu denken’ - dazu tendieren viele Intellektuelle. Jean Schlumberger beispielsweise bietet im Dezember 1939 unter dem Titel „Documents sur le patriotisme français“ 51 einen gut dokumentierten Beitrag an, in dem er den französischen Patriotismus bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt. Auf diese ‚Präambel‘ folgt sein Artikel „Pour saluer l’année nouvelle“ (dem neuen Jahr zum Gruß), der aus der gegenwärtigen „explosion d’un monde“ auf die künftige Notwendigkeit einer Neuerfindung Frankreichs schließt; man müsse „refaire une autre France: la vieille, la poussiéreuse, ne pourra plus servir“ 52 . Im kommenden Jahr werden, so heißt es weiter, die Franzosen gleich zweimal gerettet werden müssen, erst vor den anderen, dann vor sich selbst. Dies setzt freilich voraus, daß das Problem mit einem Sieg Frankreichs gelöst werden wird. Ähnlich argumentieren auch die seltsamen, im November 1939 anonym publizierten „Lettres d’Allemagne occupée“ (Briefe aus dem besetzten Deutschland), deren zweiter im übrigen mit einer Leerseite endet, die den Vermerk „page censurée“ (zensierte Seite) trägt. Auch ihre Aussagen mußten in Kriegszeiten als demobilisierend erscheinen: Peut-être arriverons-nous à être les combattants de la paix? […] J’espère que la revue va conserver sa liberté et sa vie, qui deviendront scandaleuses. Pourquoi ne pas discuter maintenant des buts de la guerre et des moyens de la paix? Du principe même de la guerre? C’est pendant qu’il est bon et courageux d’en parler. 53 50 Jean Paulhan: „Retour sur Dix-neuf cent quatorze“, in: NRF 313 (Oktober 1939), S. 529- 532, hier S. 531. [Dt.: Man möge uns nicht daran hindern, den Krieg zu denken, wenn man uns schon schlecht beigebracht hat, ihn vorherzusehen]. 51 Jean Schlumberger: „Documents sur le patriotisme français“, in: NRF 315 (Dezember 1939), S. 913-920. 52 Jean Schlumberger: „Pour saluer l’année nouvelle“, in: NRF 316 (Januar 1940), S. 5-7, hier S. 6. [Dt.: <…> <der aus der gegenwärtigen> Explosion einer Welt <auf die künftige Notwendigkeit einer Neuerfindung Frankreichs schließt; man müsse> ein anderes Frankreich wiederherstellen: das alte, verstaubte wird nicht mehr taugen]. 53 Anonym: „Lettres d’Allemagne occupée“, in: NRF 314 (November 1939), S. 780-781, hier S. 780. [Dt.: Vielleicht können wir zu Kämpfern für den Frieden werden? <…> Ich hoffe, daß die Zeitschrift ihre Freiheit und ihr Leben, die Anstoß erregen werden, konserviert. Warum nicht jetzt über die Ziele des Kriegs und die Mittel zum Frieden diskutieren? Über das Prinzip des Kriegs? Während des Kriegs ist es gut und mutig, über ihn zu sprechen]. Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 239 Eben jener Drieu la Rochelle, der dieses Programm der Kontinuität der Zeitschrift tatsächlich verwirklichen sollte, ergreift in der gleichen Ausgabe der NRF mit einem langen Beitrag das Wort und beweist dabei, daß die nachträgliche Diabolisierung seiner Person zumindest übertrieben ist: Er befand sich anfangs durchaus im Einklang mit bestimmten Tendenzen innerhalb der Zeitschrift. 54 Der Titel seines angesprochenen Beitrags ist bewußt allgemein gehalten: „L’actualité du XX e siècle“ 55 . Für ihn sind die Würfel 1904 in Rußland gefallen, als ein Mann der Linken, Lenin, mit den liberalen und demokratischen Prinzipien brach, um eine Schule des Machiavellismus zu gründen, in der Kommunisten und Faschisten gleichermaßen ausgebildet werden sollten. Während das 19. Jahrhundert, dessen wichtigste Propheten, Nietzsche und Marx, in der Diskreditierung demokratischer Werte übereinstimmten, ein Jahrhundert der Doktrinen gewesen sei, ist das 20. Jahrhundert für Drieu das Jahrhundert der Methoden, in deren Konvergenzpunkt List, Gewalt und brutale Pfiffigkeit („ruse, violence, brutal débrouillage“) 56 stehen. Die durch diese verursachten Schäden an den Demokratien könnten durch demokratische Mittel nicht repariert werden. Eine Lösung könne nur aufgezwungen werden, und zwar durch ein ‚viriles und menschliches‘, die alte heuchlerische und unfähige Politik ersetzendes Genf: „une Genève virile et humaine qui s’articule sur des pensées moins débiles que celles d’un vieux monde politicien hypocrite et incapable“ 57 . Zwischen diesen Theorien Drieus und den Theorien Paulhans liegt sicherlich ein tiefer Graben. Dem Betrachter aber bleibt kaum etwas anderes übrig als darauf hinzuweisen, daß beide der Demokratie nicht zutrauen, Europa einen Weg aus der selbstverschuldeten Krise zu weisen. In dieser Hinsicht treffen sie sich mit dem Fatalismus eines André Suarès; Suarès schreibt in der Januarausgabe 1940 der NRF: „Les peuples vont à la dictature comme au moindre mal. Ils le croient du moins; en quoi ils se trompent: la dictature n’est pas le moindre mal, mais le moindre effort.“ 58 Jenseits des Kriegsthemas geben diese Zeilen 54 Vgl. dazu die Cahiers de la Petite Dame - Cahiers André Gide Nr. 6, Paris: Gallimard 1975, S. 200, in denen ein Redaktionsprojekt angesprochen wird, das Gallimard im Oktober 1940 plante; es sollte unter der Leitung von Drieu, Éluard, Giono, Malraux, Saint- Exupéry und Gide stehen. Gide zögerte offenbar, rang sich aber schließlich den halbherzigen Entschluß ab, sich zwar nicht an dem Komitee zu beteiligen, der ersten Ausgabe der unter der Leitung von Drieu herausgegebenen NRF im Dezember 1940 aber dennoch einen Beitrag zur Verfügung zu stellen. Giono reichte seine „Histoire de Jason“ ein, Éluard seinen „Blason des fleurs et des fruits“ (Februar 1941). Auch Jouhandeau, Montherlant, Chardonne, Arland, Fernandez, Alain, Petitjean und Audiberti setzten ihre Zusammenarbeit mit der Zeitschrift fort. 55 Pierre Drieu la Rochelle: „L’actualité du XX e siècle“, in: NRF 314 (November 1939), S. 782-789. 56 Ebd., S. 787. 57 Ebd., S. 789. 58 André Suarès: „Chronique de Caërdal“, in: NRF 316 (Januar 1940), S. 101-105, hier S. 102. [Dt.: Die Völker sehen die Diktatur als das kleinste Übel an. Das glauben sie zumindest; darin täuschen sie sich: die Diktatur ist nicht das kleinste Übel, sie kostet die wenigste Anstrengung]. Jean-Yves Debreuille 240 einen ersten Erklärungsversuch für die bald folgende massive Unterstützung des Pétainismus. Wenn etwas in den Debatten komplett vernachlässigt wird, dann ist es die Analyse des Aufstiegs der Faschismen. Das Wort Faschismus wird in der NRF nur selten gebraucht, schon gar nicht im Plural. Man hält den Faschismus für ein spezifisch deutsches Phänomen, und es scheint so, als wäre dafür das Bild des Erbfeindes unverändert aus den seit 1870 oder 1914 nicht mehr gelüfteten Dachböden hervorgekramt worden. Aus einer Lektürenotiz vom November 1938 geht beispielsweise hervor, daß der Faschismus für Julien Benda eine Weiterentwicklung des Nietzscheanismus ist. Ebenfalls anläßlich einer Rezension behauptet wiederum Armand Petitjean im Februar 1939, daß Hitler eine ‚Inkarnation des ewigen Germanentums‘ („une incarnation actuelle du germanisme éternel“) 59 sei. Nicht weit von solchen Annahmen einer Wesensgleichheit entfernt sind auch die Anspielungen Claudels auf die ‚rauhen germanischen Rülpser‘ („rauques éructations germaniques“) 60 im März 1939 oder von Cocteau auf den ‚Chef eines plumpen Volkes‘ („chef d’un peuple épais“) 61 im Mai 1939. Eine tiefergehende Analyse liefert da zweifellos Julien Benda in der Juniausgabe 1939 der NRF: Ihm kommt das Verdienst zu, das Problem im Plural zu formulieren. Er spricht von den Staatsmännern der faschistischen Staaten („des chefs d’États fascistes“) 62 und ihrer generellen Ablehnung der Demokratien. Unglücklicherweise werden die Tatsachen das Vertrauen ins Unrecht setzen, das Benda in die Widerstandskraft der Völker setzt - an erster Stelle in die des deutschen Volks, wenn es sich eines nahen Tages mit einem fürchterlichen, von seinem Führer gewollten Krieg („une guerre terrible qu’aura voulue leur chef“) 63 konfrontiert sehen werde. Gemeinsam ist all den angesprochenen Beiträgen, daß der Krieg weit in den Hintergrund gerückt wird, dorthin, wo er nicht als eine unmittelbare Gefahr erscheinen muß und man über ihn in aller Ruhe akademische Reden führen kann. Offenbar haben das Münchener Abkommen und die drôle de guerre die Eventualität einer militärischen Konfrontation in eine weite Ferne gerückt. In dieser Hinsicht ist eine Seite des „Carnet de route d’un officier de liaison“ aufschlußreich, den André Chamson im Februar 1940 publizierte, worin es heißt: De toute évidence, les Allemands voudraient arriver à une suspension d’armes, tacite ou délibérée. […] Le peuple le plus pacifiste et le plus pacifique de la terre, le nôtre, refuse la main qu’on feint de lui tendre. Il accepte la guerre parce qu’il ne veut pas d’une fausse paix, parce qu’il n’a plus confiance dans la paix. 59 Armand Petitjean: [Rezension: ] Journal d’Allemagne, par Denis de Rougemont, in: NRF 305 (Februar 1939), S. 342-345, hier S. 343. 60 Paul Claudel: „Le pape Pie XI“, in: NRF 306 (März 1939), S. 369-370, hier S. 369. 61 Jean Cocteau: „Incendie“, in: NRF 308 (Mai 1939), S. 737-743, hier S. 743. 62 Julien Benda: „Politique personnelle (avril 1939)“, in: NRF 309 (Juni 1939), S. 1070-1071. 63 Ebd., S. 1071. Die Nouvelle Revue française von September 1938 bis Juni 1940 241 Nous savons trop bien ce qu’une mauvaise paix nous réserverait. 64 Mit anderen Worten ist der Krieg auf jeden Fall vermeidbar: die Deutschen wollen den Frieden, die Franzosen sind in ihrer Seele Pazifisten, und selbst wenn man sich schließlich für den Krieg entscheiden sollte, dann in gewisser Weise nur, um den Frieden zu perfektionieren… Aber wer konnte die Blitzniederlage im Mai 1940, den auf ganz Europa ausgeweiteten Krieg, die Vernichtungslager voraussehen? Das Verheerende des Dramas war vielleicht tatsächlich nicht vorher erkennbar. Es überrascht dennoch, daß zum einen zwischen ‚München’ und der Besetzung Frankreichs im Mai 1940 das Leben so weitergehen konnte, wie man es gewohnt war, auch für diejenigen Intellektuellen, deren großes Engagement nach dieser Periode außer Frage steht. Zum anderen fällt auf, daß die wenigen Autoren, die Position bezogen, dies mit einem so großen inneren Abstand taten, daß niemand von ihnen etwas dabei fand, mit jemandem, der die völlig gegenteilige Meinung vertrat, in der gleichen Zeitschrift zu publizieren. Wenn, anders gesagt, die französische Armee im Jahr 1939 nicht bereit für den Krieg war, dann gilt das ebenso für die französischen Intellektuellen. Sie benötigten eine geraume Zeit, um zu verstehen, daß es nicht möglich war, gleichsam allen Seiten zu dienen, daß Position bezogen werden mußte, daß Gegner benannt werden mußten, daß es, anders gesagt, darauf ankam, auf die angenehmen Versammlungen der 3 ème république des lettres zu verzichten. Wenn die deutschen Besatzer Gallimard gestatteten, die NRF im Dezember 1940 wieder erscheinen zu lassen, dann vielleicht weniger deshalb, weil sie auf eine Propaganda in eigener Sache spekulierten (die in der NRF im übrigen auch danach nicht zu finden ist), sondern weil sie verstanden, daß die Schriftsteller und ihre Leser dieses so vertrauten Versammlungsorts bedurften. So findet man in der Zeitschrift beinahe dieselben Mitarbeiter 65 wie vor Dezember 1940. Das Gewissen verschaffte sich erst nach und nach Geltung, in dem Maße, wie sich anderenorts andere Diskurse durchsetzten und die Zensur dies zuließ. Zu nennen wären Zeitschriften wie Poésie von Pierre Seghers, Confluences, Les Cahiers du Sud oder Fontaine. Drieu la Rochelle löschte erst im Juni 1943 die Lichter eines Balls, den inzwischen alle verlassen hatten. Jean Moulin hatte währenddessen am 27. Mai in Paris das erste Treffen des Conseil National de la Résistance geleitet. Und in den folgenden Monaten versammelte sich bei Edith Thomas das Comité national des Ecrivains zone Nord. Von nun an hatten die Intellektuellen andere Möglichkeiten, um sich einzubringen. 64 André Chamson: „D’un carnet de route d’un officier de liaison“, in: NRF 317 (Februar 1940), S. 174-183, hier S. 183. [Dt.: Die Deutschen wollen offensichtlich auf einen (stillschweigend geschlossenen oder ausgehandelten) Waffenstillstand hinaus. <…> Das pazifistischste und friedliebendste Volk der Erde, nämlich das unsere, schlägt die Hand aus, die man ihm hinzuhalten vorgibt. Es akzeptiert den Krieg, weil es keinen falschen Frieden möchte, weil es kein Vertrauen in den Frieden hat. Wir wissen zu gut, was ein schlechter Frieden für uns bereithalten würde]. 65 Vgl. Anm. 54. Friedrich Wolfzettel Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont Bruno Ackermann hat den ersten Band seiner 1996 erschienenen intellektuellen Biographie Denis de Rougemonts mit dem Untertitel Von der Revolte zum Engagement versehen. 1 Der Begriff des Engagements verweist in der Tat auf ein ganzes intellektuelles Umfeld, das Rougemont beispielsweise in jenem Journal de l’Allemagne (1938) vor Augen hatte, das unter anderem das Romanische Seminar in Frankfurt am Main zum Gegenstand hat. 2 Unter ihm als Leitbegriff versammelte sich die junge Generation des Entre-deux-guerres, die angesichts des Verfalls der bürgerlichen Werte und der Krise des Humanismus 3 - und mit dem Aufkommen der Totalitarismen konfrontiert - mit den intellektuellen Spielereien und den literarischen Experimenten ihrer Vorgängergeneration nichts mehr zu tun haben wollte. Die abstrakte Revolte des Dadaismus und Surrealismus war kaum noch gefragt. Die disponibilité und der acte gratuit, den die Caves du Vatican (1914) André Gides propagiert hatten, war ebenso obsolet geworden wie Julien Bendas im Jahr 1927 erfolgte Ächtung der engagierten Intellektuellen mit dem Begriff der „trahison des clercs“ (des Verrats der Intellektuellen). Zieht man Jean-Paul Sartres Konzept des être en situation in Betracht, scheint es, als sei sich die Generation Bendas und Rougemonts der Situationsgebundenheit der Erkenntnis dadurch klargeworden, daß sie ihrer Vorgängergeneration den Prozeß machte und sich mit ihrem Engagement von der von dieser behaupteten Reinheit des Geistes lossagte. Romain Rolland hatte den Intellektuellen im Ersten Weltkrieg bekanntermaßen einen Standpunkt ‚über dem Schlachtgetümmel‘ („au-dessus de la mêlée“) empfohlen. 1 Bruno Ackermann: Denis de Rougemont. Une biographie intellectuelle, Bd. 1: De la révolte à l’engagement. L’intellectuel responsable. Préface de Martine de Rougemont, Genève: Labor et Fides 1996. 2 Denis de Rougemont: Journal d’Allemagne (1935-1936) [1938], in: ders.: Journal d’une époque, 1926-1946, Paris: Gallimard 1968, S. 283-362. Es liegt eine Übersetzung des Werks ins Deutsche vor: Journal aus Deutschland, 1935-1936, übersetzt von Tobias Scheffel, Wien: Paul Zsolnay Verlag 1998 (Neuauflage: Berlin: Aufbau 2001). Auf sie wurde in der Folge für die Übersetzungen der Zitate zurückgegriffen. Zum Aufenthalt Rougemonts am Romanischen Institut der Universität Frankfurt am Main vgl. Frank Estelmann/ Olaf Müller: „Angepaßter Alltag in der Frankfurter Germanistik und Romanistik: Franz Schultz und Erhard Lommatzsch im Nationalsozialismus“, in: Jörn Kobes/ Jan-Otmar Hesse (Hg.): Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Göttingen: Wallstein 2008. 3 Michelin Tison-Braun: La crise de l’humanisme. Le conflit de l’individu et de la société dans la littérature française moderne, 2 Bde., Paris: Nizet 1958-1967. Friedrich Wolfzettel 244 Demgegenüber kann Gaïtan Picon die Generation von 1925-1930 bereits zu Recht als eine ethische Generation („génération éthique“) 4 bezeichnen. Das Engagement war zweifellos bereits am Ende der 1920er Jahre in einem Maße auf der Tagesordnung, daß die Positionsbestimmungen des jungen Jean- Paul Sartre am Vorabend des Zweiten Weltkriegs geradezu verspätet wirken müssen. 5 Auch Denis de Rougemont - beispielsweise in seinem Beitrag zur 1936 publizierten Histoire de la littérature française Albert Thibaudets - war einer von denen, die früh eine neue engagierte Literatur forderten. Diese sollte sich, wie er in einem Artikel von 1937 forderte, von den damals gängigen Romanformen unterscheiden und offen doktrinär und polemisch auftreten: […] ce sera une littérature franchement doctrinaire et polémique. Elle ne parlera pas au hasard des impressions d’un individu, ou de ses obsessions, mais elle gardera sans cesse le souci des bases communes sur lesquelles s’édifie l’ordre nouveau. Engagée dans l’action totale que représente une révolution, elle retrouvera spontanément le secret des grandes œuvres d’art: cette volonté d’affirmer et d’illustrer une conception du monde et de la société à la fois cohérente, libre et commune […]. 6 Das Vorbild einer an einem solchen Gesellschaftsideal orientierten engagierten Literatur ist die berühmte Formel Mallarmés, nach der die Literatur in der Lage sein sollte, „[de] donner un sens plus pur aux mots de la tribu“ 7 . Auf Mallarmé verweisend spricht Rougemont auch davon, daß sich die Größe einer Gemeinschaft („la grandeur d’une communauté“ 8 ) im individu- 4 Gaïtan Picon: Panorama de la nouvelle littérature française, Paris: Gallimard 1960, Kapitel 2. 5 Rougemont hat seine Leser vor terminologischen Mißverständnissen gewarnt: „Il n’est pas inutile de rappeler aujourd’hui que notre engagement signifiait à peu près le contraire de ce qu’il allait devenir, après la guerre, pour une jeunesse dite ‚existentialiste‘ par la niaiserie des échos et des snobs. L’engagement, pour nous, impliquait justement le refus de tout embrigadement, de toute abdiction du risque personnel devant les exigences, préjugés et slogans d’un Parti communiste ou fasciste, voire démocrate.“ Rougemont: „Vers la guerre“, in: ders.: Journal d’une époque, Anm. 2, S. 363-374, hier S. 370-371. Der Autor fügt seinen Erläuterungen im übrigen ein wahrhaftes Manifest hinzu, das unter dem Titel „Trop d’irresponsables s’engagent! Responsabilité des intellectuels“ (ebd., S. 372-374) steht. 6 Denis de Rougemont: „Vers une littérature personnaliste II“, in: À nous la liberté (27 mars 1937); zitiert nach: Bruno Ackermann: Denis de Rougemont, Anm. 1, S. 555. [Dt.: <…> es wird eine offen doktrinäre und polemische Literatur sein. Sie wird nicht wahllos von den Eindrücken eines Individuums sprechen, oder von seinen Obsessionen, sondern sie wird stets die gemeinsame Basis beachten, auf der die neue Ordnung errichtet wird. Als eine in der totalen Handlung einer Revolution engagierte Literatur wird sie spontan das Geheimnis der großen Kunstwerke wiederentdecken: diesen Willen, eine gleichzeitig kohärente, freie und gemeinschaftliche Weltanschauung und Gesellschaftsvorstellung zu bestätigen und zu illustrieren <…>]. 7 Dt.: „[…] den Worten des Stamms einen reineren Sinn zu geben.“ Stéphane Mallarmé: Le tombeau d’Edgar Poe / Das Grab von Edgar Poe (1877), in: ders.: Gedichte, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Gerhard Goebel, Gerlingen: Lambert Schneider 1993, S. 126- 127. 8 Rougemont: „Vers une littérature personnaliste II“, Anm. 6. Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 245 ellen Schicksal zeige. Der Publizist, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Berühmtheit im Pariser Intellektuellenmilieu ist, distanziert sich mit solchen Aussagen von einem verantwortungslosen Individualismus. Er grenzt sich aber auch von der ‚käuflichen‘ bzw. kommerziellen Literatur ab. Jedenfalls kündigen die genannten Aussagen bereits die große Synthese an, die Rougemont im Jahr 1938 mit L’amour et l’Occident vorlegen sollte - einem Werk, das, von den „mot[s] de la tribu“ ausgehend, die gesamte westliche Kulturgeschichte rekonstruiert. Indem sie den Worten ihres ‚Stammes‘ lauschen, mischen sich Literaturkritiker, Historiker und engagierte Künstler in seine Probleme ein, wozu auch gehört, daß sie sich kritisch mit den gesellschaftlichen Mythen auseinandersetzen. Zwar greift Rougemont im Jahr 1937 auf diesen Schlüsselbegriff seines späteren Wirkens noch nicht zurück. Dies sollte jedoch bald geschehen. Es dürfte unstrittig sein, daß der 1906 in Neuchâtel - also in der französischsprachigen Schweiz - geborene Protestant, französische Intellektuelle und intime Kenner der deutschen Kultur im Strudel der Ereignisse der 1930er Jahre, genauer: bis zu seiner Emigration in die USA, vor allem damit beschäftigt war, über die Krise zu schreiben. Als Mitarbeiter der Nouvelle Revue française und weiterer zeitgenössischer Zeitschriften wie Esprit oder Ordre Nouveau verstand der unermüdliche Journalist Rougemont sein Schreiben als Kampfansage an den dekadenten Liberalismus, vor allem aber an dessen Gegenteil, an den totalitären Kollektivismus, der im Begriff war, den Wert der Person anzugreifen. Der Theologie Karl Barths verbunden, die sich ihrerseits auf das Denken Kierkegaards berufen konnte, hatte Rougemont diese existentielle und engagierte Position bereits Mitte der 1930er Jahre in Werken festgehalten, deren Titel programmatischer kaum sein könnten: Politique de la Personne (1934) und Penser avec les mains (1936). Zu erwähnen sind auch seine unter dem Titel „Vers une littérature personnaliste“ publizierten Artikel des Jahres 1937, aus denen bereits eine Passage zitiert wurde. Penser avec les mains wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als die kurze Periode von Rougemonts Anstellung als Französisch-Lektor an der Universität Frankfurt am Main gerade zu Ende gegangen war. Das Werk enthält bereits wesentliche Bestandteile der Erfahrungen, die der Autor im Journal d’Allemagne im Oktober 1938, also kurz nach dem Münchener Abkommen, publizieren wird. Ist der erste Teil von Penser avec les mains noch der Diskussion des Kulturbegriffs gewidmet - oder vielmehr der Diskussion der Probleme der Kultur unter den Vorzeichen dessen, was der Autor die sowjetischen und nationalsozialistischen Maßstäbe („mesures“) nennt -, beschäftigt sich der zweite Teil mit der absoluten Krise, mit der „décomposition des vieilles mesures“, der „crise de l’esprit“ und der „défection de la culture“. 9 Das Resultat seiner Analysen ist katastrophal, und so stellt Rouge- 9 Denis de Rougemont: Penser avec les mains, Paris: Gallimard 1972 (coll. Idées), S. 146 („Préambule“). [Dt.: Zersetzung der alten Maßstäbe, Krise des Geistes, Abtrünnigwerden der Kultur]. Friedrich Wolfzettel 246 mont der Krise eine Art Verstandesethik („une éthique de l’intelligence“) 10 entgegen, deren neuartiger Maßstab durch das bezeichnet wird, was der Autor selbst als ‚brutale Formel‘ 11 bezeichnet: Penser avec les mains (mit den Händen denken). In Zeiten des Front populaire und der sozialen Krise nähert diese Formel bewußt zwei Bereiche oder Funktionen einander an, die, wie Rougemont schreibt, die gesamte gestrige Kultur auseinanderhalten wollte: Denken und Hand. 12 Für den Intellektuellen impliziert sie, daß er seine geistige Arbeit im konkreten Leben der Gemeinschaft verankern soll. Angesichts der Verleumder dieses christlichen Intellektuellen - der noch von Bernard-Henri Lévy in seiner 1981 erschienenen Idéologie française beschuldigt wird, dem französischen Faschismus den Weg geebnet zu haben 13 - kann nicht oft genug betont werden, daß Rougemont in seiner Bereinigung der traditionellen Kulturgeschichtsschreibung das individuelle Moment bzw. die einzelne Person stets aufwertete. So hält er in Penser avec les mains den militanten Anhängern der totalitären Systeme und jenen Intellektuellen, denen es darum geht, ein Absolutheit anstrebendes System („système dans l’absolu“) zu errichten, seinen Opportunismus der Wahrheit („opportunisme de la vérité“) entgegen. 14 Zudem skizziert er angesichts der drohenden, der bereits existierenden Barbarei und der sich bereits seit längerem abzeichnenden historischen Katastrophe eine christliche Philosophie der Freiheit und des personnalisme, die im wahren Zentrum des Menschen („le vrai centre de l’homme“) 15 stehe. Dabei macht Rougemont auf jene Intellektuellen seiner Zeit aufmerksam, mit denen er sich verbunden fühlt. Die Namen reichen von Renouvier und Maritain über Martin Buber, Robert Aron und Jean Wahl bis hin zu den Vertretern des christlichen Existentialismus. In seiner Perspektive repräsentiert die Person als Inkarnation des okzidentalen Maßstabs („incarnation de la mesure occidentale“) das wahre Zentrum der Welt („le vrai centre du monde“). 16 Sie wird als Mittel gegen die totalitäre Dezentrierung des Menschlichen verstanden, und die Aufgabe besteht schlicht darin, alle Politik auf das Zentrum des Menschen, auf seine Person, zurückzuführen. 17 10 Ebd., S. 146. 11 Ebd., S. 147: „Il faut penser avec les mains. - La formule est brutale et je pense qu’elle doit l’être“. 12 Ebd., S. 146 („que toute la culture d’hier s’évertuait à séparer: pensée et main“). 13 Vgl. Bernard-Henri Lévy: L’idéologie française, Paris: Grasset 1981. Der Autor verfolgt die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie bis in das vorsozialistische Denken zurück. Maurice Barrès ist für ihn der erste authentische europäische Nationalsozialist („le premier authentique national-socialiste européen“) (S. 112). 14 Rougemont: Penser avec les mains, Anm. 9, S. 145. 15 Ebd., S. 231. 16 Ebd., S. 230-231. 17 Ebd., S. 231-232 („[à] ramener le centre de toutes choses politiques au centre de l’homme même, à la personne“). Maike Buß hat in ihrer Untersuchung Intellektuelles Selbstverständnis und Totalitarismus. Denis de Rougemont und Max Rychner - zwei Europäer der Zwischenkriegszeit, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005 (Dialoghi/ Dialogues, 8), auf die große Bedeutung der antikonformistischen und antiliberalen, nicht aber nationalistischen Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 247 Die bemerkenswerte Originalität dieses Autors liegt allerdings darin, daß er sich nicht mit der Forderung nach einer neuen personalistischen Ethik begnügt. Dazu ist er sich der historischen Kräfte, die seinem Programm zuwiderlaufen, zu deutlich bewußt. Daher versucht er, dem Phänomen des intellektuellen Totalitarismus verstehend zu begegnen. Eines der mächtigsten Instrumente der Kulturgeschichte, das sich als Gegenspieler seines existentiellen und humanistischen Programms der Rezentrierung der menschlichen Person und ihrer Versöhnung mit sich selbst erweist, ist der Mythos bzw. die unheilvolle Verführungskraft, die im kollektiven Heiligen zu finden ist. Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die zu Recht darauf hingewiesen haben, daß dieser junge Autor dank seines Lektorats in Frankfurt am Main über eine wesentlich direktere Erfahrung des deutschen Nazismus verfügte als seine französischen Freunde. Betrachtet man sich die Beschreibungen seiner Erfahrungen in Deutschland, wird in der Tat schnell klar, daß Rougemont den quasi-religiösen oder mythischen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung rasch erkannte. Er war sich im Klaren, daß es nicht darum gehen konnte, diese oder jene Maßnahme des Hitlerregimes isoliert zu betrachten, sondern daß in diesem Regime alles miteinander verflochten war: „tout se tient dans ce régime“ 18 . So findet sich im Journal d’Allemagne eine Passage, die Denis Hollier als Meisterstück beurteilt, in der Rougemont die heilige Zeremonie („cérémonie sacrée“) beschreibt, mit der die Nazis die Remilitarisierung des Rheinlands im März 1936 feierten. Er kommentiert die Szene mit den Worten: „Ce que j’éprouve à présent, c’est cela qu’on doit appeler l’horreur sacrée“ 19 . In dieser mit religiösem und mythischem Horror gefüllten nationalsozialistischen Inszenierung ist das Erlebnis nicht mehr vom Miterlebnis zu trennen, also von einer aus dem Gemeinschaftserlebnis resultierenden intensiven Teilhabe am kollektiven Schauder. 20 Die gesamte von Rougemont beschriebene Szene offenbart die Mischung aus Faszination und Abstoßung, die der fremde Zeuge verspürt - ein Zeuge wohlgemerkt, der ein Liebhaber und Kenner der Musik Wagners und der deutschen Kultur ist und der sich mit L’amour et l’Occident unter die großen Erforscher des Mythos und des mythischen Denkens einreihen sollte. In dem den Journal d’Allemagne ergänzenden autobiographischen Fragment „Vers la Guerre“ findet sich eine vergleichbare Szene. Rougemont berichtet darin von einem Bewegung für Rougemont aufmerksam gemacht. Rougemont gelingt es schon im Jahr 1932, nichtkonformistische Gruppierungen zusammenzubringen, und zwar Partisanen der Linken wie Paul Nizan oder Henri Lefevbre ebenso wie Repräsentanten der ‚personalistischen Revolution‘ wie Robert Aron oder Emmanuel Mounier und die sogenannte, von Thierry Maulnier repräsentierte Jeune Droite. Davon berichtet der von der Nouvelle Revue française publizierte „Cahier de revendication“ (S. 119). Zum christlichen Personalismus vgl. vor allem Buß, ebd., S. 67-75, und Denis Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie 1937-1939, Paris: Gallimard 1995, S. 404-405. 18 Rougemont: Journal d’Allemagne, Anm. 2, S. 343. 19 Ebd., S. 320. [Dt. Ausgabe S. 60: „Ich empfinde jetzt das, was man wohl heiligen Schrecken nennen muß“]. 20 Vgl. Hollier: Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 406. Friedrich Wolfzettel 248 Opernabend. Er erzählt, wie der berühmte Ruf der Brangäne aus dem Tristan Wagners („Habet acht! Habet acht! - Schon weicht dem Tag - die Nacht“) in ihm als Zuschauer ein Gefühl hervorgerufen habe, das er als das überwältigendste, erhebendste Gefühl, das ihm jemals eine Kunst vermittelt habe, bezeichnet. 21 Zunächst kann angemerkt werden, daß mit der Schlüsselrolle, die der Autor dem Tristan Wagners gibt, eine Aufwertung der Romantik impliziert ist. Denis Hollier hat nicht von ungefähr unterstrichen, wie viel eine Untersuchung wie René Girards Mensonge romantique et vérité romanesque (1953) Rougemont verdankt. 22 Schon dieser hat die Romantik als eine mythische, entpersonalisierende Erfahrung charakterisiert, als „désir à la mort par la passion“, also als einen durch die Leidenschaft kanalisierten Todestrieb; ihr eigentliches Thema, so behauptet Rougemont, sei die Logik des Mythos („la logique du mythe“). 23 Auch in diesem Fall kann das ambivalente Verhältnis gegenüber dem mythischen Denken - das bei Rougemont stets durch die bereits konstatierte Mischung aus Faszination und Abwehr charakterisiert ist - die Originalität seines Schreibens verstehen helfen. Rougemont ist ein Autor, dessen Renommee den Zweiten Weltkrieg überdauert hat. Dennoch wurde er nach 1945 kaum ausreichend gewürdigt, und sein Einfluß ist aus heutiger Sicht wohl eher als untergründig zu bewerten. Es ist daher bemerkenswert, daß ihn sein Interesse am kulturellen Phänomen des Mythos nicht nur von der Vorkriegsphilosophie abhebt, sondern mit den innovativen anthropologischen Strömungen verbindet, deren Einfluß auf die französische Intellektuellengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg als beträchtlich bezeichnet werden kann. In dieser Hinsicht hat Denis Hollier mit seinen Arbeiten über das Collège de Sociologie seinerzeit auf ein in diesem Bereich beinahe in Vergessenheit geratenes Verbindungsglied in der Ideengeschichte Frankreichs aufmerksam gemacht. Das Collège de Sociologie existierte lediglich zwischen Anfang 1937 und Juli 1939. Es war ein kleiner, von Vertretern der Avantgarde initiierter nicht-offizieller Kreis von Gelehrten, der es sich zur Aufgabe machte, die zeitgenössische Krise zu analysieren - und der dieser Krise schließlich selbst zum Opfer fallen sollte. Unter den programmatischen Schriften des Collège sind die auf den Juli 1937 datierte „Déclaration sur la fondation d’un Collège de Sociologie“ und der im Juli 1938 in der Nouvelle Revue française publizierte Artikel „Pour un Collège de Sociologie“ zu nennen. Zu ihnen gehört auch ein Vortrag, den Georges Bataille und Roger Caillois zum Thema der „Sociologie sacrée“ - in anderen Worten: zum Verhältnis von Soziologie und Mythos - bei einer Art Eröffnungstreffen der Gruppe in einem Buchgeschäft in der Pariser rue Gay- Lussac hielten. Zum damaligen Zeitpunkt dominierte in den Universitäten noch die positivistische Soziologie Durkheims, die der Religion nur eine 21 Rougemont: „Vers la guerre“, Anm. 5, S. 366 („l’émotion la plus submergeante-exaltante que j’aie jamais reçue d’un art“). 22 Vgl. Hollier: Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 407. 23 Rougemont: „Arts d’aimer et arts militaires“, in: ebd., hier S. 409 (Vortrag vom 29. November 1938). Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 249 identitätsstiftende Bedeutung zuerkennen wollte und den Mythos auf ein grundsätzlich zu kritisierendes ideologisches Phänomen reduzierte. Ihr entgegen versuchen Bataille und Caillois in ihrem am 2. April 1938 gehaltenen Vortrag, sich mit dem Mythos auf eine Art und Weise auseinanderzusetzen, die seiner sakralen Funktion in menschlichen Gesellschaften gerecht wird. Sie skizzieren den Entwurf einer neuartigen, sich als anthropologische Wissenschaft begreifenden ‚sakralen’ Soziologie der zeitgenössischen Welt, die unter anderem imstande sein sollte, Erklärungen für die aktuelle Krise zu liefern. 24 In einem in der Juliausgabe der Nouvelle Revue française publizierten Programmtext von Caillois heißt es dementsprechend: Il semble que les circonstances actuelles se prêtent très particulièrement à un travail critique ayant pour objet les rapports mutuels de l’être de l’homme et de l’être de la société […]. Ces vingt dernières années auront vu en effet un des plus considérables tumultes intellectuels qu’on puisse imaginer. Rien de durable, rien de solide […]. Mais une extraordinaire et presque inconcevable fermentation: […]. 25 Die Rede von der ‚kritischen Arbeit‘ spielt mit der Doppelbedeutung des Wortes Kritik. Kritik heißt so viel wie krisenhafter, kritischer Zustand und meint hier doch ebenso eine kritische Haltung gegenüber jenem, was das menschliche Dasein und die in dieser Periode gängige individualistische Philosophie an die Bewußtwerdung des Gesellschaftszustands und dessen mythischer Fundamente bindet. Aus Sicht der jungen Intellektuellen des Collège de Sociologie, die allesamt in der Nachkriegszeit Berühmtheit erlangen werden - Georges Bataille, Roger Caillois, Michel Leiris, Pierre Klossowski, um nur die bekanntesten von ihnen zu nennen -, soll die bloß ideologische Kritik am Mythos durch die Berücksichtigung der heiligen Dimension des Individuums, also seiner mythischen und kollektiven Dimension, ersetzt werden. Dem Grundsatz nach waren solche großangelegten Entwürfe Ende der 1930er Jahre nicht mehr neu. Das Feld für sie hatten die auf das individuelle Unbewußte konzentrierten Surrealisten bereits bald nach dem Ersten Weltkrieg bestellt. Im akademischen Bereich waren sie in den universitären Lehren von Durkheim und Marcel Mauss vorzufinden, die sich mit dem kollektiven Unbewußten und der Tiefendimension kollektiver Transgressionsriten beschäftigt hatten - wie beispielsweise dem Fest, dem Krieg oder der Liebe. Zu der Generation der von ihrem Denken beeinflußten jungen 24 Vgl. Georges Bataille/ Roger Caillois: „Sociologie sacrée du monde contemporain“, in: Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 245-251. 25 Roger Caillois: „Introduction“, in: ders./ Georges Bataille/ Michel Leiris: „Pour un Collège de Sociologie“, in: Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 295-301, hier S. 296. [Dt.: Es scheint so, als ob sich die gegenwärtigen Verhältnisse besonders für eine kritische Arbeit eigneten, die die wechselseitigen Verhältnisse des menschlichen Seins und des gesellschaftlichen Seins zum Gegenstand hat <…>. Wir haben in den vergangenen zwanzig Jahren einen der bemerkenswertesten intellektuellen Tumulte erlebt, den man sich vorstellen kann. Nichts ist von Dauer, nichts solide <…>. Aber <es gibt> eine außergewöhnliche und beinahe unmerkliche Gärung: <…>]. Friedrich Wolfzettel 250 Intellektuellen gehörten auch die Teilnehmer am Collège de Sociologie, die das Feld universitärer Wissensproduktion schließlich hinter sich lassen wollten, um die dort aufgeworfenen gesellschaftlichen Fragen zurück in die Gesellschaft zu tragen. Wollte man eine Person hervorheben, müßte wohl Roger Caillois genannt sein, der diesen Ansatz in seinem Buch L’homme et le sacré (1939) so streng verfolgte, daß spätere Werke aus diesem Umfeld - wie Jules Monnerots La poésie moderne et le sacré (1945) - wie ein Abklatsch davon wirken müssen. In diesem Zusammenhang ist jedoch vor allem Denis de Rougemonts Zugehörigkeit zum Collège de Sociologie von Interesse, auch wenn der Autor darin nur einmal - am 29. November 1938 - zum Thema „Sur l’amour et la guerre“ das Wort ergriff. 26 Bei seinem langen Vortrag handelt es sich um das fünfte Kapitel von L’amour et l’Occident, einem Werk, an dem Rougemont zu diesem Zeitpunkt noch arbeitete. Nun hat Jean-Paul Sartre zweifellos Recht damit, wenn er das Vorgehen Rougemonts mit dem von Roger Caillois vergleicht, obwohl er freilich den Nutzen der von beiden vorgebrachten Ansichten erheblich in Zweifel zieht. Sartre zufolge ist in beiden Werken eine Mythisierung des Mythos zu beobachten. 27 Seine Argumentation kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, doch könnte in seinen extremen Vorbehalten gegen das mythische Denken leicht der Einfluß von Georges Sorel und von dessen Warnung vor dem Mythos der Gewalt nachgewiesen werden. 28 Festzuhalten ist jedenfalls, daß sich Rougemont keineswegs des Mythos bedient, um einen neuen Mythos zu schaffen oder um den Mythos selbst zu mythisieren. Er diskutiert vielmehr das Phänomen Mythos und möchte dabei gleichsam die historischen Vorbilder der zeitgenössischen Mythen aufzeigen: in diesem Zusammenhang handelt es sich um die Mythen der Gewalt und des totalen Krieges. So erklärt er in seinem das Münchener Abkommen behandelnden „Post-scriptum 1939“: Le sacré, c’est ce qu’on ne discute pas: Refuser de discuter Hitler, c’est le ‚tabouer‘, c’est le considérer comme l’adversaire sacré. […] En discutant Hitler, je le profane. C’est beaucoup plus dangereux pour son mythe que les vociférations sacrées des antifascistes. 29 26 Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 403, versieht den Vortrag mit dem Titel „Arts d’aimer et arts militaires“. 27 Vgl. Jean-Paul Sartre: Compte-rendu de L’amour et l’Occident de Rougemont, in: ders.: Situations I. Essais critiques, Paris: Gallimard 1947, S. 57-64 (ursprünglich in Europe, Juni 1939). 28 Vgl. dazu die Anmerkungen Denis Holliers in: ders. (Hg.): Le Collège de Sociologie, Anm. 17, S. 467-470; vgl. auch: Helmut Berding: Rationalismus und Mythos. Geschichtsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel, München/ Wien: R. Oldenbourg 1969 (Neunzehntes Jahrhundert, Fritz Thyssen Stiftung). 29 Rougemont: Journal d’Allemagne, Anm. 2, S. 350. [Dt. Ausgabe S. 107: „Das Heilige ist das, über das nicht diskutiert wird: Es abzulehnen, über Hitler zu diskutieren, bedeutet, ihn zu ‚tabuisieren‘, ihn als heiligen Gegner anzusehen. <…> Wenn ich über Hitler diskutiere, so profaniere ich ihn. Das ist für seinen Mythos wesentlich gefährlicher als das heilige Gebrüll der Antifaschisten“]. Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 251 In dieser Passage umschreibt Rougemont auf präzise Weise das zentrale Anliegen seines publizistischen Wirkens: die Profanierung des Mythos. Darüber hinaus deutet er auch die Notwendigkeit der historischen Arbeit an. Und tatsächlich dient in seiner Perspektive das Phänomen des totalen Krieges, also des Mythos vom Krieg, durchaus als ein Schlüssel zum Verständnis der kulturgeschichtlichen Entwicklung: Es leitet nämlich zum Verständnis der Gegenwart durch die Vergangenheit an. Weit entfernt von jeder publizistischen Polemik, versteht sich der Autor als Historiker der zeitgenössischen Krise, die ihm zufolge mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, und zwar deshalb, weil die Politik der Massen, so wie sie seit 1917 praktiziert werde, nichts anderes als die Fortsetzung des totalen Krieges mit anderen Mitteln sei. 30 In dieser Argumentation, die auf die zentrale These von L’amour et l’Occident zurückgreift - die nämlich der Geburt des Mythos des Absoluten und der ‚Liebes-Leidenschaft‘ („amour-passion“) -, erscheint der totale Krieg ebenso wie der totalitäre Staat als letzter Versuch der Mythenbildung um die Leidenschaft. 31 Er ist Ausdruck einer Leidenschaft, die auf den Tod ausgerichtet ist, nicht auf das Leben und die Befriedigung des Verlangens. Der Mythos wird somit als die Überwindung jeglicher realer oder realisierbarer Ziele durch deren mythische Negierung verstanden. Um Rougemont an dieser Stelle folgen zu können, ist es nötig, etwas weiter auszuholen und den von ihm aufgezeigten langen historischen Umweg nachzuschreiten. Dieser führt bis zur Tristansage zurück, die für den Autor nicht nur das Gründungswerk der Literatur des Mittelalters, sondern der gesamten okzidentalen Kulturgeschichte ist. Für Rougemont dient die Liebe in der Tristansage nicht der Triebbefriedigung. Für ihn wird die Triebbefriedigung vielmehr zu einem Werkzeug des Todes umfunktionalisiert. Charakteristisch für den Tristan sei sein Drang zum Absoluten, der unter dem Deckmantel der Leidenschaft die Mentalität des Okzidents unauslöschlich geprägt habe. Da Rougemont auch die deutsche Romantik mit der Erfindung der „amourpassion“ verbindet, kann er zu dem Schluß gelangen, daß der totale Krieg nur die letzte Gestalt einer langen Entwicklung zur ‚Entpersönlichung‘ („dépersonnalisation“) im kollektiven Mythos repräsentiert, oder um es in seinen Worten zu sagen: Le but réel, tacite, fatal, de ces exaltations totalitaires est donc la guerre, qui signifie la mort. Et comme on le voit dans le cas de la passion d’amour, ce but est non seulement nié avec vigueur par les intéressés, mais il est réellement inconscient. Personne n’ose dire: je veux la guerre; non plus que dans l’amour-passion, les 30 Rougemont: „Arts d’aimer“, Anm. 23, S. 442 („la politique des masses, telle qu’on l’a pratiquée depuis 1917 n’est que la continuation de la guerre totale par d’autres moyens“). 31 Ebd., S. 436 („une dernière tentative de mythification de la passion“). Friedrich Wolfzettel 252 amants ne disent: je veux la mort. Seulement, tout ce que l’on fait prépare cette fin. Et tout ce qu’on exalte y trouve son sens réel. 32 In dieser homologischen Konzeption trägt die Vorkriegszeit am Ende der westlichen Geschichte die grandiose Katastrophe des totalitär gewordenen Denkens („la grandiose catastrophe de la pensée devenue totalitaire“ 33 ) bereits seit langem in sich. Denn für Rougemont haben zehn Jahrhunderte nacheinander versucht, den gefährlichen Albtraum des mythischen Absoluten mit Sperren, Notbehelfen und Regeln einzudämmen. Die Poesie der Troubadours ist für ihn im übrigen das beste Beispiel dafür, da sie das in der katharischen Häresie bestehende Verlangen nach Reinheit umgedreht habe. Nun aber, am Ende der in die Gegenwart mündenden kulturgeschichtlichen Entwicklung, hat der Mythos die Oberhand gewonnen und das ‚persönliche‘ Bewußtsein des einzelnen überwältigt. Die von einer konformistisch gewordenen Religion gegen die Katastrophe errichteten Dämme haben sich als zu schwach erwiesen, um der Welle widerstehen zu können, in der sich der Schrecken der heiligen Dimension des Mythos entladen hat. Es ist kein Zufall, daß sich Rougemont lange bei prämodernen Kriegsformen wie der ritterlichen Kriegsführung aufhält. Sie sollen seine These einer Homologie des ritterlichen Krieges und der höfischen Liebe stützen. Ihm zufolge hat es einen Moment des Gleichgewichtsverlusts gegeben, in dem die von der höfischen Liebe kanalisierte Libido in den Dienst des totalitären Staates gestellt wurde. Seitdem ist dieser Staat ein verlängerter Kriegszustand („état de guerre prolongée“), wobei es sich gleichsam um den Beginn der Ära der nomadischen Libido („ère des libidos errantes“) handele, in der sich alle in der gesellschaftlichen Basis unterdrückten Spannungen an der Spitze des Staates ansammelten („toutes les tensions supprimées à la base viennent s’accumuler au sommet“). 34 Es ist leicht nachzuvollziehen, daß diese Metapher Rougemont dazu dient, das Aufkommen des totalen Mythos mit Blick auf die Zeitgeschichte zu beschreiben. So lassen die großen, als Katalysatoren wirkenden geistesgeschichtlichen Bewegungen wie die Tristansage und die dem Autor zufolge aus der katharischen Häresie entstandene höfische Liebe auf den beherrschenden Einfluß des Mythos schließen. Die katastrophenartige Ausbreitung des Mythos ist für Rougemont jedoch lange Zeit durch den Mythos selbst, der die okzidentale Kultur tief geprägt hat, verhindert worden. Auf diese Weise ist der 32 Ebd., S. 443. [Dt.: Das wirkliche, stillschweigend vorausgesetzte und verhängnisvolle Ziel dieser totalitären Exaltationen ist also der Krieg, der den Tod bedeutet. Und wie man es schon im Fall der Liebes-Leidenschaft gesehen hat, wird dieses Ziel von den interessierten Beteiligten nicht nur kräftig geleugnet, sondern es ist tatsächlich unbewußt. Niemand würde es wagen zu sagen: ich will den Krieg; ebensowenig sagen sich die Liebenden in der Liebes-Leidenschaft: ich will den Tod. Nur, daß alles, was getan wird, dieses Ziel vorbereitet. Und daß alles, was verehrt wird, darin seine wirkliche Bedeutung erhält]. 33 Ebd., S. 445. 34 Ebd., S. 442-443. Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 253 Mythos der Leidenschaft und des Absoluten, den der Okzident erfunden hat und den er ständig weiterentwickelt, zu einem seine kulturelle Entwicklung beherrschenden Prinzip geworden - einem Prinzip, ohne das, von Dante bis zu Wagner, keine kulturelle Produktion im Okzident vorstellbar gewesen wäre. Für Rougemont käme es daher einer unmöglichen Aufgabe gleich, die verschiedenen Etappen in diesem kulturgeschichtlichen Prozeß ohne eine gewisse Verbundenheit mit ihnen zu beschreiben - vielleicht ist gar eine offene Faszination für sie nötig, die erst an dem Punkt bedenklich wird, an dem die mythischen Kräfte nicht mehr kanalisiert werden können. Nun gibt es kaum einen enthusiastischeren Hörer von Wagners Tristan als Rougemont selbst. Hat dieser nicht auch angesichts des in den großen Versammlungen der Nationalsozialisten ritualisierten Mythos von der Empfindung des heiligen Schreckens („horreur sacré“) gesprochen? Und hat er nicht ebenso darauf bestanden, daß das Heilige immer mehrdeutig, der Schrecken immer mit der Verlockung verbunden sei? 35 Stehen wir einem unvermeidlichen hermeneutischen Dilemma oder einem double bind gegenüber? Der kritische Beobachter ist von dem Gegenstand fasziniert, dessen ideologische Wirkmacht er bekämpft. Nun wird man eines der großen Bücher des 20. Jahrhunderts zweifellos nicht auf wenigen Seiten erschöpfend behandeln können, dennoch kann man diese bewußt kurzen Anmerkungen zu L’amour et l’Occident nicht abschließen, ohne zumindest den Versuch gemacht zu haben, das Werk mit dem anfangs erwähnten Schreiben über die Krise in Verbindung gebracht zu haben. Was bei der Lektüre neben dem angesprochenen methodologischen Problem sogleich auffällt, ist die enorme Tragweite, die - der Konzeption des Autors folgend - dem Mythos einzuräumen ist. Der Mythos der passion pour la passion, der Leidenschaft um der Leidenschaft willen, entspricht in der Tat einer ganzen Weltanschauung oder Mentalität, die im gleichen intellektuellen Klima gediehen ist, in dem sich auch das Denken Rougemonts entwickelt hat. Überspitzt gesagt, ist er Ausdruck eines selbst wieder totalitären Bedürfnisses danach, alles zu verstehen und auf einheitliche Ursprünge zurückzuführen. Es gibt tatsächlich wenige kulturelle Phänomene - und zwar von den Katharern bis zur Romantik -, die von der grandiosen kulturgeschichtlichen Synthese Rougemonts nicht vereinnahmt würden. Grandios („grandiose“) ist im übrigen das Adjektiv, das der Autor selbst benutzt. Sieht man einmal vom Malraux der Nachkriegszeit ab, scheint die obsessive Form großer Kulturgeschichtsschreibung, die Rougemont praktiziert, einigen deutschen Modellen, wie dem Untergang des Abendlandes Oswald Spenglers, ähnlicher zu sein als der historiographischen Tradition Frankreichs. Dementsprechend wäre es wohl auch nicht falsch, den Einfluß der Wagnerschen Interpretation der Tristansage auf Rougemonts intellektuelles Wirken noch einen Schritt weiter zu verfolgen. Sollte der Mythos des Okzi- 35 Rougemont: Journal d’Allemagne, Anm. 2, S. 350 („le sacré est toujours ambigu, l’horreur toujours liée à l’attirance“); dt. Ausgabe S. 107. Friedrich Wolfzettel 254 dents, wie Rougemont ihn entwirft, letztlich nichts anderes sein als der Tristanmythos Richard Wagners? Ist es ein Zufall, daß die Thesen Rougemonts von einem an Robert Musil und Thomas Mann geschulten deutschen Publikum mit besonderer Sympathie aufgenommen wurden? Bevorzugt man einen solchen Interpretationsansatz, bleibt freilich einiges strittig, wie überhaupt festzustellen ist, daß die Geschichte der von L’amour et l’Occident ausgelösten Kontroversen noch zu schreiben ist. Da es dem Werk um den gesamten Okzident geht, dürfte jedoch auch klar sein, daß die thematischen Kapitel des Werks einige sehr komplexe und den Horizont des Autors durchaus mitunter übersteigende Probleme aufwerfen. Es ist bekannt, daß die sogenannte definitive Ausgabe von L’amour et l’Occident - also die von 1972 36 - in Wahrheit weit davon entfernt ist, als vollständig gelten zu können, und daß Rougemont einen zweiten Band plante. Der ausführliche Anhang des Bandes kann zwar die Fruchtbarkeit der von ihm aufgeworfenen Fragen und vorgestellten Hypothesen nur unterstreichen. Dennoch liegt auf der Hand, daß die Ambivalenz und die Reichhaltigkeit des behandelten Materials jenen seit der Publikation existierenden Kritikern von L’amour et l’Occident in die Karten spielen, die Rougemonts Verdienste um die kulturgeschichtliche Forschung zu leugnen beabsichtigen. Wahrscheinlich hat schon die Breite dieses wahrhaft faustischen Projekts verhindert, daß das Werk in den spezialisierten akademischen Disziplinen wirklich ernsthaft rezipiert wurde. Man denke aber auch daran, daß die summarische Behauptung Rougemonts, die katharische Häresie habe entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Troubadour-Lyrik genommen, tatsächlich sehr problematisch ist. Es ist also sowohl nachvollziehbar als auch beklagenswert, daß viele der vom Autor vorgebrachten Thesen in der aktuellen Forschungsliteratur nicht oder nicht mehr zu finden sind. Die bereits angedeutete Frage nach der Art und Weise, in der das Denken Denis de Rougemonts mit der Vorkriegskrise der späten 1930er Jahre verbunden ist, bleibt davon freilich unberührt. Sicherlich hat Rougemonts Werk nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten an jener Einschlägigkeit verloren, die es in den Krisenjahren besaß. In einem weiter ausgreifenden, ideengeschichtlichen Rahmen betrachtet, bleiben die Thesen Rougemonts dennoch provokativ, obwohl damit gleichsam verstanden ist, daß sie eher eine schwierig zu bestimmende Faszinationskraft ausstrahlen als daß sie in der Lage wären, einen gewichtigen Beitrag zur Mediävistik oder zu den Politikwissenschaften zu leisten. Gerade in dieser Hinsicht ist L’amour et l’Occident ein typisches Produkt jener Zeit der Krise, die Voraussetzung für das mythische Denken gewesen war und den ideologischen Boden bereitstellte, auf dem es sich leicht verbreiten konnte. Als totalisierendes Gedankenmodell ist dieses Denken aus der Re- 36 Denis de Rougemont: L’amour et l’Occident, Paris: Plon 1972. Dieses in der Kindheit und Jugend ‚gelebte‘ Buch des Autors, das er seinem eigenen Bekunden nach in nur vier Monaten niedergeschrieben hat (vgl. dazu den „Avertissement“ von 1938), ist bis zur definitiven Ausgabe also tatsächlich mehr als dreißig Jahre lang überarbeitet worden. Kulturelle Krise und mythisches Schreiben bei Denis de Rougemont 255 flexion über die Totalitarismen entstanden. Und als Reflexion über die Vorläufer der Krise des Okzidents stellt es sich als ein problematischer Versuch dar, das ursprüngliche Böse zu rekonstruieren, das Rougemont zufolge die Kulturgeschichte des Okzidents ermöglicht und eingeläutet hat. Der von seinen Kollegen proklamierten sakralen Soziologie setzte der Schweizer Protestant also auch in gewisser Weise eine sakrale Historiographie entgegen, in der die religiösen Ursprünge des Mythos nicht geleugnet werden. In dieser religiösen Optik macht der Drang nach dem Absoluten, der Tristansage und Katharertum gleichermaßen eigen ist, die auf sie folgende Geschichte zur Geschichte einer Krise bzw. eines Falls. Diese Geschichte mußte zu einer allgemeinen Krise, ja zu jener Katastrophe führen, in der und angesichts derer Rougemont am Ende der 1930er Jahre sein eigenes mythisches Denken entwickelte. Als guter Protestant und Kenner seines Augustinus hat der Autor jedoch den Begriff der felix culpa sicherlich gekannt. Denn betrachtet man einmal distanziert die in L’amour et l’Occident implizite Grundthese, dann ist zu erkennen, daß sie auf der Behauptung beruht, daß die historische Größe des Okzidents im Grunde eine Frucht der Erbsünde ist. Keine Größe ohne Mythos - das scheint die Lektion eines Buches zu sein, das seine Originalität weiterhin gegen aktuelle Denkströmungen und Moden behauptet. In diesem Sinn wäre es wohl verfehlt, das Denken Rougemonts als modern zu bezeichnen. Vielmehr müßte davon gesprochen werden, daß es nur fruchtbar sein und bleiben kann, wenn es gegen die Aktualität stark gemacht wird - dann zeigt sich schnell, daß es nichts von seiner rebellischen oder provokatorischen Kraft verloren hat. Martin Strickmann Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie als politische Intellektuelle am Ende der 1930er Jahre Die begriffliche Verbindung von Atomphysikern und Intellektuellen im Titel dieses Beitrags mag auf den ersten Blick etwas verwundern. Verbindet man mit Atomphysikern doch landläufig die Sphären der Naturwissenschaften und Technik, mit Intellektuellen dagegen eher die antipodischen Sphären der Kultur und des Geistes, der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Physiker, Schriftsteller und Politiker Charles P. Snow prägte 1959 entsprechend den Begriff der two cultures, der ‚zwei Kulturen’ oder Sphären, zwischen denen ein tiefer, unüberwindlicher Graben verlaufe und die sich einander in gegenseitiger Ignoranz, in Schweigen oder Fehden diametral gegenüber stünden: „Literarisch Gebildete auf der einen Seite - auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste Gruppe die Physiker gelten. Zwischen beiden eitle Kluft des Nichtverstehens, manchmal Feindseligkeit und Antipathie, vor allem mangelndes Verständnis.“ 1 Stehen sich also Atomphysiker und Intellektuelle zwangsläufig diametral und unversöhnlich gegenüber? Diese Frage möchte ich verneinen und stattdessen auf die Sozialfigur des Naturwissenschaftler-Intellektuellen, des intellectuel scientifique bzw. im engeren Sinne des (Atom-)Physiker-Intellektuellen rekurrieren. 2 Diese Sozialfigur kann im Übrigen auch einen Beitrag dazu leisten, die Kluft zwischen den ‚zwei Kulturen’ zu schließen oder doch zu verringern, durchaus im Sinne einer third culture gemäß Snow. In den Werken der Intellektuellengeschichtsschreibung im weiteren Sinne herrscht ein starkes Übergewicht an literarischen und geisteswissenschaftlichen Intellektuellen gegenüber den meist eher marginalisierten Naturwissenschaftler-Intellektuellen. 3 Dabei gelten doch nicht nur Schriftstel- 1 Charles P. Snow: The two cultures and the scientific revolution, Cambridge: Cambridge University Press 1959 (dt.: Die zwei Kulturen, Stuttgart: Klett 1967). 2 Michel Pinault: „L’intellectuel scientifique: du savant à l’expert“, in: Jean-François Sirinelli/ Michel Leymarie (Hg.): Où en est l’histoire des intellectuels? , Paris: PUF 2003, S. 229- 254. 3 „L’histoire et la sociologie des intellectuels ont privilégié les ‚littéraires‘ aux dépens des scientifiques“; Frédérique Matonti: „Joliot-Curie et l’engagement politique des scientifiques de son temps“, in: Monique Bordry/ Pierre Radvanyi (Hg.): Œuvre et engagement de Frédéric Joliot-Curie. Actes du colloque d’octobre 2000 au Collège de France, Les Ulis: EDP Sciences 2001, S. 107-120, hier S. 107. Beispielhaft sei hier genannt: Michel Winock: Le siècle des intellectuels, Paris: Seuil 1997 (dt.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003). Martin Strickmann 258 ler, Philosophen, Geisteswissenschaftler und Künstler, die ihr in ihrem Tätigkeitsbereich erworbenes öffentliches Renommee und ‚symbolisches Kapital‘ (Pierre Bourdieu) dazu einsetzen, um sich auch über ihr Fachgebiet hinaus in politischen und gesellschaftlichen Debatten öffentlich zu artikulieren und zu engagieren als Intellektuelle, sondern nicht minder Naturwissenschaftler, darunter Physiker als ihre repräsentativsten Vertreter, denen somit ebenso ein Platz in der Intellektuellengeschichtsschreibung eingeräumt werden sollte. 4 Dieser Beitrag soll also auch ein Narrativ französischer intellectuels scientifiques in die Intellektuellengeschichtsschreibung ergänzend einschreiben. 5 Bestehende Verschiedenheiten sollen hier jedoch nicht ausgeblendet oder nivelliert, sondern es soll für sie sensibilisiert werden: So besitzen etwa (Atom-)Physiker schon allein wegen ihres bisweilen brisanten wissenschaftlich-technischen Expertenwissens zweifellos eine viel größere Involviertheit, Nähe zu und praktische Bedeutung für die jeweilige politische Macht als etwa Schriftsteller oder Philosophen. Ebenso besitzen institutionell verankerte verbeamtete Professoren gewisse Forschungsressourcen und eine andere Verpflichtung als freischaffende Literaten und Künstler, besonders wenn es sich bei letzteren, dem wissenssoziologischen Idealtypus von Karl Mannheim und Alfred Weber folgend, gar um eine ungebundene, kritische ‚sozial freischwebende Intelligenz’ handelt. Methodologisch von Interesse für diese Studie ist das Instrumentarium von Jean-François Sirinelli, der für die Intellektuellengeschichte die drei Leitbegriffe sociabilité, génération und itinéraire prägte. 6 Unter dem Begriff sociabilité versteht er Gruppen- und Milieubildung um Kristallisationspunkte wie etwa Zeitschriften und Verlage unter dem Aspekt interner Bindungsfaktoren und Kohäsionsmechanismen sich formierender, stabiler intellektueller Milieus. Nach dem Konzept der génération intellectuelle ist jede Generation durch ein kollektives événement fondateur als Identität stiftendem Schlüsselereignis bzw. Schlüsselerlebnis nachhaltig geprägt und bildet ein ‚ideologisches System’ in der Hinsicht, daß die Generationsangehörigen aufgrund dieses Ereignisses die gleichen Fragen stellen, aber möglicherweise zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Mit dem Konzept des itinéraire 7 (intellectuel) können Einzel- oder Gruppenbiografien nachgezeichnet werden, die 4 Martin Strickmann: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2004, S. 17, S. 43-45. Vgl. auch: Michel Winock/ Jacques Juillard (Hg.): Dictionnaire des intellectuels français, Paris: Seuil 1996. 5 Vgl. hierzu auch: Martin Strickmann: „Naturwissenschaftler als Intellektuelle - Zur gesellschaftspolitischen Rolle französischer und westdeutscher Atomphysiker in den 1950er-Jahren: Joliot-Curie und Vertreter der Göttinger Achtzehn“, in: Helmuth Trischler/ Mark Walker (Hg.): Physik in Deutschland von 1920 bis 1970. Konzepte, Instrumente und Ressourcen für Forschung im internationalen Vergleich (im Erscheinen). 6 Jean-François Sirinelli: „Le hasard ou la nécessité? Une histoire en chantier: l’histoire des intellectuels“, in: Vingtième siècle 9 (1986), S. 97-108. 7 Dt.: ‚Wanderroute’, Werdegang. Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie 259 den einzelnen Lebensweg im Verhältnis zu gemeinsamen Stationen und ‚Wegkreuzungen’ zu erkennen geben. Inhaltlicher Gegenstand der Untersuchung sind vornehmlich die beiden französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie, ihre politischen Haltungen und Stellungnahmen schwerpunktmäßig gegen Ende der 1930er- Jahre, welche - im Blick auch auf deutsche Physiker-Kollegen - biografisch und historisch hergeleitet und rekontextualisiert werden sollen. Frédéric wurde im Jahre 1900 geboren, Irène im Jahre 1897, so daß beide derselben Generationskohorte und génération intellectuelle angehörten und bereits in der Zwischenkriegszeit als führende Wissenschaftler und Avantgarde der Atomphysik auf dem Höhepunkt ihrer Forschungen standen: So wurden sie bereits 1935 mit dem Nobelpreis für Chemie für ihre bahnbrechende Entdeckung der sogenannten künstlichen Radioaktivität ausgezeichnet, worauf ihr öffentliches internationales Renommee basierte. Frédéric wurde 1937 in der Folge Professor am Pariser Collège de France und Irène Professorin (ohne Lehrstuhl) an der Pariser Faculté des sciences. 8 Bezeichnend ist, daß die führenden französischen Atomphysiker über Generationen eine ‚Familie’ und ein soziokulturelles Milieu philokommunistischer, kommunistischer und pazifistischer Forscher bildeten, angefangen bei Pierre und Marie Curie, Paul Langevin (1872-1946) und Jean Perrin (1870-1942) über Frédéric und Irène Joliot-Curie bis hin zu Hélène Langevin-Joliot (*1927), die die ‚Familientradition’ gar bis in die Gegenwart fortführt. Kristallisationspunkte ihrer sociabilité und itinéraires waren die für ihr Forschungsfeld einschlägigen Pariser Hochschul- und Forschungseinrichtungen sowie linksorientierte - philokommunistische und pazifistische - politische Vereinigungen, die beträchtlich zur sozialen Bindung und Stabilität dieses sich schon früh formierenden Milieus beitrugen. 1934 begann das öffentliche politische Engagement von Frédéric und Irène Joliot-Curie als Intellektuelle: Ebenso wie die Atomphysiker Paul Langevin, Pierre Auger (1899-1993) und Jean Perrin (1870-1942) schlossen sie sich dem Comité de vigilance des intellectuels antifascistes (CVIA) an und unterstützten die Politik des Front populaire. 9 Im selben Jahr trat Joliot-Curie der Section française de l’internationale ouvrière (SFIO) bei. Ihr entschiedenes politisches Engagement für Frauenfragen und Frauenrechte ist das Motiv dafür, daß Irène 1936 das Amt der Unterstaatssekretärin im Forschungsministerium - sous-secrétariat à la recherche scientifique - der Volksfrontregierung von Léon Blum annahm. Damit war sie eine von drei Frauen im Kabinett von Léon Blum, in dem zum ersten Mal Frauen an einer 8 Einschlägige Pariser Archivbestände zu Frédéric und Irène Joliot-Curie, auf denen Teile dieses Beitrages fußen: Archives Musée Curie (AMCP), Centre de ressources historiques, Fonds Irène et Frédéric Joliot-Curie, dossiers I et F; Archives du Collège de France, dossier Joliot-Curie, CDF 16-26. 9 Nicole Racine-Furlaud: „L’engagement de Frédéric Joliot-Curie dans le mouvement antifasciste (1934-1939)“, in: Bordry/ Radvanyi (Hg.): Œuvre et engagement de Frédéric Joliot-Curie, Anm. 3, S. 136-139. Martin Strickmann 260 französischen Regierung beteiligt wurden - dies in einem Frankreich noch ohne Frauenwahlrecht. Zugleich entschied sie sich jedoch dazu, dieses Amt nur für einen kurzen Zeitraum auszuüben, de facto von Mai bis September 1936. 10 Seit 1936 waren Irène und Frédéric im Dissens mit der SFIO wegen der französischen Politik der Nichtintervention im Spanischen Bürgerkrieg. Ähnlich wie Paul Langevin standen sie im CVIA einer Politik des Appeasement im Umgang mit faschistischen Staaten sehr skeptisch gegenüber. Dies zeigte sich besonders deutlich im ‚Scharnierjahr’ 1938 nach dem Münchener Abkommen, welches für Frédérics persönliche politische Entwicklung zwar keine Zäsur, aber dennoch einen bedeutsamen Markstein im Prozeß zunehmender Politisierung, des Engagements und der Orientierung hin zum Kommunismus darstellte: So äußerte er nach ‚München’ in einem Schreiben an Edouard Daladier seine tiefe Besorgnis über die französische Außenpolitik. 11 Sein ausgeprägter Philokommunismus hielt ihn zu diesem Zeitpunkt nicht davon ab, gelegentlich auch ein unabhängiges Urteil gegenüber der französischen Kommunistischen Partei (PCF) zu fällen und damit auch Kritik am Stalinismus in der Sowjetunion zu üben: Nach einem vergleichbaren Schreiben von Albert Einstein an Josef Stalin vom 16. Mai 1938 unterzeichnete auch Frédéric am 15. Juni 1938 gemeinsam mit Irène und Jean Perrin einen von Arthur Koestler initiierten Brief an den Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, Vichinsky, und eine Telegramm-Kopie an Josef Stalin zugunsten des im März 1937 inhaftierten emigrierten kommunistischen Physikers österreichischer Herkunft Alexander Weissberg, welcher erwartungsgemäß unbeantwortet blieb. 12 Dieser Brief wurde 1950 im Prozeß des Schriftstellers und ancien résistant David Rousset gegen die kommunistischen Lettres françaises zitiert. Als Frédéric und Irène gegen Ende August 1939 von der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes erfuhren, unterbrachen sie sofort ihre Urlaubsreise in die Bretagne, um eine angemessene Reaktion auf die für sie schockierende Nachricht vorzubereiten. Gemeinsam mit den eher die Position der antimunichois teilenden Mitgliedern der Union des Intellectuels français (UDIF), deren Präsidentschaft Irène inne hatte, entwickelten sie ein Positionspapier als Appell gegen die ‚Doppelzüngigkeit’ und sowjetische ‚Kehrtwende’, welches, datiert auf den 29. August, am 30. August 1939 auf Seite eins von L’Œuvre und am 1. September in La Lumière in folgendem Wortlaut erschien: Die Unterzeichner, „réprouvant toute duplicité dans les relations internationales, expriment leur stupéfaction devant la volte-face qui a rapproché les dirigeants de l’URSS des dirigeants nazis.“ 13 10 Sonia Zak: Frédéric et Irène Joliot-Curie, Courtry: Causette 2000, S. 175. 11 Vgl. Racine-Furlaud: „L’engagement de Frédéric Joliot-Curie“, Anm. 9, S. 136-139. 12 Michel Pinault: Frédéric Joliot-Curie. Le savant et la politique, Paris: Odile Jacob 2000, S. 87. 13 L’Œuvre, 30.08.1939, S. 1; Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 138-139; Winock: Le siècle des intellectuels, Anm. 3, S. 417. [Dt.: <Die Unterzeichner>, die jede Form der Doppelzüngig- Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie 261 Die Unterzeichner und compagnons de route aus der UDIF, die wiederum zum großen Teil aus der Ligue des droits de l’homme stammten, darunter Irène und Frédéric, Paul Langevin und Jean Perrin „expriment l’ardent espoir qu’au dernier moment la raison prévaudra et la paix sera sauvée.“ 14 Außerdem betonten sie die Notwendigkeit, sich im Namen des Rechtes der Aggression zu widersetzen. Einige Mitglieder des Vorstands der UDIF wie der Historiker Lucien Febvre, der Schriftsteller Léon Frapié und der Physiker Jacques Solomo beteiligten sich jedoch nicht an diesem Appell. In der allgemein herrschenden Unruhe unmittelbar nach Bekanntgabe des Hitler-Stalin-Paktes wurde dieses Manifest einiger eminenter intellectuels scientifiques jedoch kaum wahrgenommen. Enttäuscht und etwas entmutigt, sowohl von der für ihn bitteren Neuigkeit als auch von der mangelnden Resonanz, verzichtete Joliot nun vorübergehend auf ein weiteres politisches Engagement. Stalin und die Sowjetunion waren durch den Nichtangriffspakt Frankreichs Feind und die kommunistische Presse wurde in Frankreich verboten. Aber auch die Gewissenskrise, die der Hitler-Stalin-Pakt bei ihm auslöste, sollte nur ein Intermezzo bzw. eine Episode bleiben, die ihn nicht von seinem weiteren Annäherungsprozeß an den Parti communiste français (PCF) abhalten konnte. Statt sich von einer allgemein im Lande herrschenden Unruhe und Verwirrung, wie er sie nun wahrnahm, und dem Geiste der Abdankung und Aufgabe der französischen Eliten anstecken zu lassen, unterbrach er zwar zeitweilig sein politisches Engagement, konzentrierte sich jedoch um so stärker auf seine Laborarbeit und sein wichtiges wissenschaftliches Atomforschungsprojekt auf dem Weg zu einem ersten französischen Atomreaktor. 15 Unter anderem auch zur Beruhigung seiner alten Mutter äußerte er sich nach Kriegsausbruch in einem Brief vom 3. September 1939 betont optimistisch und kämpferisch: Tu n’as pas à t’inquiéter, j’ai bon espoir que les Allemands abandonneront la partie avant peu. En tout cas c’est à Hitler et aux nazis que nous en voulons et je voudrais bien l’année prochaine pouvoir prendre un repos à l’Arcouest sans interruption. On en a assez! 16 Ähnlich optimistisch, motiviert und entschlossen zeigte er sich in einem Schreiben vom 22. September an seine Mutter: keit in den internationalen Beziehungen ablehnen, verleihen Ihrem Entsetzen über die Kehrtwendung Ausdruck, die die Führer der UdSSR den Führern der Nazis angenähert hat]. 14 L’Œuvre, 30.08.1939, S. 1. [Dt.: <…> verleihen der glühenden Hoffnung Ausdruck, daß im letzten Moment die Vernunft überwiegen und der Frieden gerettet werden wird]. 15 Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 139. 16 Brief von Joliot-Curie an seine Mutter vom 3.9.1939, zitiert nach: Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 139. [Dt.: Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, ich bin guter Hoffnung, daß die Deutschen das Spiel bald aufgeben werden. Jedenfalls geben wir Hitler und den Nazis die Schuld, und im nächsten Jahr würde ich mich in Arcouest gerne ohne Unterbrechung erholen. Es reicht jetzt]. Martin Strickmann 262 Nous travaillons beaucoup à des choses utiles au laboratoire et c’est un grand réconfort en ce moment. J’ai bon espoir pour la suite des événements. Tout dépendra de la façon dont le moral des civils tiendra. Je crois qu’il est préférable d’en finir pour un bon moment que d’être tous les ans secoués par des menaces qui finiraient par nous démoraliser. 17 Im September 1939 als capitaine d’artillerie mobilisiert, wurde er zum Leiter der Groupe I de Recherches scientifiques berufen. Er unterstützte moralisch wie praktisch die Politik der Défense nationale 18 , für die er auch in seinem nunmehr requirierten Labor wissenschaftlich hart zu arbeiten bereit war, wie er am 4. Oktober niederschrieb: Nous avons beaucoup de travail au laboratoire qui est réquisitionné pour les recherches intéressant […] la Défense nationale. J’espère en travaillant oublier la bêtise des hommes. 19 In vergleichbarer Weise äußerte er sich am 14. Januar 1940: On devient philosophe avec cette guerre! J’essaie de ne pas me creuser les méninges pour comprendre et je travaille le mieux que je peux pour la Défense nationale. 20 Die praktische, wissenschaftlich-technische Forschungsarbeit erschien ihm zu diesem Zeitpunkt als die für ihn angemessene Art und Weise, sich zu engagieren. Bevor nun die Wiederaufnahme und Verstärkung seines politischen Engagements während der deutschen Besatzung nachgezeichnet wird, soll an dieser Stelle zunächst noch der Frage nach einer Zusammenarbeit zwischen französischen Atomphysikern wie Joliot-Curie und deutschen Physikern im Pariser Exil in den 1930er Jahren nachgegangen werden. Da die große Mehrheit der aus Nazi-Deutschland vertriebenen deutsch-jüdischen Physiker nach Großbritannien oder in die USA emigrierte, ist in Paris in der Tat kein vergleichbarer Pool an Physiker-Exilanten zu verzeichnen. So finden sich nur sehr vereinzelte und spärliche Spuren in Paris: Der Physiker Walter Elsässer (1904-1991) verbrachte 1935 nur kurze Zeit im Pariser Labor von 17 Brief von Joliot-Curie an seine Mutter vom 22.9.1939, zitiert nach: Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 589. [Dt.: Im Labor arbeiten wir an vielen nützlichen Sachen, und das ist im Moment ein großer Trost. Ich bin für den weiteren Verlauf der Ereignisse guter Hoffnung. Alles wird davon abhängen, ob die Moral der Zivilisten stabil bleibt. Ich glaube, es ist besser, damit endlich für eine lange Zeit Schluß zu machen, als jedes Jahr wieder von Bedrohungen erschüttert zu werden, die uns am Ende demoralisieren würden]. 18 Archives Musée Curie (AMCP), Fonds Irène et Frédéric Joliot-Curie, dossiers F 14-15, Défense nationale, F 91-95, Affaires allemandes et défense nationale. 19 Brief von Joliot-Curie vom 4.10.1939, zitiert nach: Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 139. [Dt.: Wir haben viel Arbeit im Labor, das für die Forschungen, die die nationale Verteidigung betreffen, beschlagnahmt worden ist. Bei der Arbeit hoffe ich, die menschliche Dummheit zu vergessen]. 20 Brief von Joliot-Curie vom 14.1.1939, zitiert nach: ebd. [Dt.: Man wird zum Philosophen bei diesem Krieg! Ich versuche mir nicht, das Gehirn zu zermartern, um zu verstehen, und arbeite so gut ich kann für die nationale Verteidigung]. Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie 263 Joliot-Curie, bevor er in die USA emigrierte. Auch der Physiker Lothar Nordheim weilte nur kurz in Paris. Der Physiker Peter Pringsheim (1881-1963), Bruder von Katia Mann und Schwager von Thomas Mann, arbeitete 1933 bis 1937 als Wissenschaftler und anschließend als professeur agrégé an der Université libre in Brüssel. 21 Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien wurde er 1940 in das französische Internierungslager in Gurs am Rande der Pyrenäen deportiert. Mit hochrangiger Hilfe aus der Politik konnte Thomas Mann jedoch erfolgreich darauf hinwirken, daß Pringsheim im Dezember 1940 wieder aus dem Lager von Gurs entlassen wurde, so daß er anschließend in die USA emigrieren konnte. 22 Auch der Physiker Herbert Jehle ging zunächst als Emigrant nach Brüssel. Eher einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang der Physiker Wolfgang Gentner (1906-1980) dar. 23 Von 1932 bis 1935 arbeitete er als Stipendiat bei Joliot am Institut du Radium in Paris und war damit der erste Deutsche seit dem Ersten Weltkrieg, der am Radium-Institut tätig war. Gentner wies Joliot etwa in die Arbeit mit dem zur Messung von Radioaktivität verwendeten Geiger-Müller-Zählrohr (‚Geiger-Zähler’) ein und freundete sich rasch mit ihm an. 24 Eine Stellungnahme und Reaktion von Wolfgang Gentner auf das Münchener Abkommen von 1938 und die unmittelbar nachfolgende europäische Krise ist jedoch nicht aktenkundig. 1940 gelangte Gentner nach der französischen Niederlage jedoch unter völlig anderen Vorzeichen schließlich als Besatzungs-Offizier, General Schumann begleitend, in das nun besetzte Paris mit dem Auftrag, den Verbleib von einigen Tonnen Uran und schwerem Wasser ausfindig zu machen, das Frankreich auf Initiative von Joliot zur technischen Vorbereitung einer eigenen Atomenergiegewinnung beschafft hatte. 25 Joliot blieb auch nach 1940 weitgehend in seinem Pariser Labor des Collège de France. 26 Die ‚Zusammenarbeit’ zwischen Joliot und Gentner gestaltete sich nun während der Besatzung in der Art, daß Gentner, der Student von einst, von deutschen Stellen in Joliots Labor zum Laborleiter berufen wurde und mit französischen Physikern wie Joliot Befragungen bezüglich des Urans durchzuführen hatte. 27 Deutsche Physiker bauten nun in Joliots 21 Vgl. Valentin Wehefritz: Gefangener zweier Welten. Prof. Dr. phil. Dr. rer. nat. h. c. Peter Pringsheim (1881-1963). Ein deutsches Gelehrtenschicksal im 20. Jahrhundert, Dortmund: Universitätsbibliothek 1999. 22 Ebd. 23 Vgl. Dieter Hoffmann/ Ulrich Schmidt-Rohr (Hg.): Wolfgang Gentner: Festschrift zum 100. Geburtstag, Berlin u.a.: Springer 2006. 24 Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 75-76. 25 Bruno Latour: „Joliot: Geschichte und Physik im Gemenge“, in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 869-904. 26 Archives du Collège de France, dossier Frédéric Joliot-Curie, CDF 16-26. 27 Wolfgang Gentner: Gespräche mit Frédéric Joliot-Curie im besetzten Paris 1940-1942/ Entretiens avec Frédéric Joliot-Curie à Paris occupé 1940-1942, Heidelberg: Max-Planck-Institut für Kernphysik 1980. Martin Strickmann 264 Labor an einem Zyklotron, einem Elementarteilchenbeschleuniger, dessen Zerstörung u.a. die Atomphysiker Wolfgang Riezler und Walther Gerlach 1944 am Ende der Besatzung verhindert haben sollen. 28 Das Institut du Radium wie auch Joliots Labor des Collège de France waren folglich wichtige Kristallisationsorte der sociabilité und (eher ephemeren) Milieubildung französischer und deutscher Atomphysiker, wenngleich unter äußerst unterschiedlichen politischen Vorzeichen und von geringerer sozialer Bindung und Stabilität. Neben dieser ‚Zusammenarbeit’ mit seinem früheren Freund Gentner und dem Verbleib im Labor engagierte sich Joliot jedoch auch aktiv im französischen Widerstand. Unter dem tiefen Eindruck der beträchtlichen Rolle der Kommunisten in der Résistance trat Joliot im Frühjahr 1942 dem Untergrund-PCF bei. 1942 bis 1944 war er im Komitee des im Juni 1941 auf Initiative des Untergrund-PCF gegründeten Front national universitaire und als Präsident des Front national tätig. 29 Er gab eine Untergrundzeitschrift heraus und 1944 wurden in seinem Labor Molotow-Cocktails zur Befreiung von Paris hergestellt. Im Juni 1944 ging er selbst in den Untergrund. Nach öffentlicher Bekanntgabe seines Beitritts zur Kommunistischen Partei schrieb das Partei-Organ L’Humanité pathetisch: „Notre Parti voit ainsi venir à lui les intelligences supérieures, les esprits formés aux méthodes d’analyse les plus rigoureuses.“ 30 Als Joliot bereits 1941 von der Gestapo inhaftiert wurde, gelang es Gentner, seinen Einfluss geltend zu machen, um die Freilassung von Joliot aus dem Gestapo-Gefängnis zu erwirken, was in den frühen Besatzungsjahren 1941 und 1942 in Einzelfällen noch durchaus möglich war. Für diese Verdienste wurde Gentner später vom französischen Staat zum Officier de la Légion d’Honneur ernannt. Auch später war Joliot der KP-Propaganda und märtyrerhaften Selbststilisierung der KP als Widerstands-‚Partei der Erschossenen’ (parti des fusillés) erlegen. Die Erfahrung der französischen Niederlage von 1940, der Occupation und der Résistance (mit) dem PCF waren sein persönliches événement fondateur respektive Schlüsselerlebnis und Schlüsselereignis für sein späteres politisches Engagement, mehr noch als das Münchener Abkommen von 1938. Die markante Zäsur in seinem intellektuellen itinéraire lag also nicht im Jahre 1938, sondern im Zeitraum der Besatzung Frankreichs von 1940 bis 1944. Das politische Engagement und der itinéraire intellectuel von Irène als Physiker-Intellektueller waren dagegen wegen ihrer sehr fragilen Gesundheit aufgrund lange zurückliegender radioaktiver Strahlenschäden zuneh- 28 Gentner: Joliot-Curie, Anm. 27; Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 256-257. 29 AMCP, Fonds Joliot-Curie, F 124; Pinault: Joliot-Curie, Anm. 12, S. 246-251. 30 Marcel Cachin: „Bienvenue à Joliot-Curie! “, in: L’Humanite, 1.9.1944, S. 1. [Dt.: Unsere Partei erlebt den Eintritt von überlegenen Köpfen, von Menschen, die an den strengsten Untersuchungsmethoden geschult sind]. Die französischen Atomphysiker Frédéric und Irène Joliot-Curie 265 mend eingeschränkt. 31 Sie erkrankte während der Besatzung an Tuberkulose und erhielt schließlich die Erlaubnis, sich zusammen mit ihren Kindern für eine Tuberkulosebehandlung in ein Sanatorium in die Schweiz zu begeben. Wolfgang Gentner vermittelte anschließend die länderübergreifende Post zwischen Irène und Frédéric. Als Resultat dieser Untersuchung im Hinblick auf die Fragestellung des vorliegenden Bandes ergibt sich schließlich der negative Befund, daß in den Jahren der ‚europäischen Krise’ 1938 bis 1940 nach dem Münchener Abkommen keine nennenswerte Zusammenarbeit zwischen französischen Atomphysikern und deutschen Atomphysikern im Exil zu verzeichnen ist. Paris war, aus unterschiedlichsten Gründen, zu diesem Zeitpunkt kaum Emigrationsziel deutscher Atomphysiker. Zu einer längeren Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Atomphysikern kam es entweder zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt, so geschehen etwa im Falle von Wolfgang Gentner, der jedoch nicht als Exilant, sondern ganz im Gegenteil in den frühen 1930er Jahren als Studien-Stipendiat und in den frühen 1940er Jahren als militärischer Besatzer im Pariser Labor von Joliot-Curie tätig war. Folglich kann sich auch das Jahr 1938 für eine Zusammenarbeit nicht als Einschnitt erweisen. Das ‚Scharnierjahr’ 1938 mit dem Münchener Abkommen stellte auch für Joliots persönliche politische Entwicklung und sein Engagement als intellectuel scientifique keine Zäsur dar, bildete aber dennoch für ihn als dezidierten antimunichois einen bedeutsamen Markstein in seinem Prozeß zunehmender Politisierung und Orientierung hin zum Kommunismus, vom compagnon de route zum (zunächst Untergrund-) PCF-Mitglied, das sich während der deutschen Besatzung zunehmend entschieden an Aktivitäten der Résistance gegen Nazi-Deutschland beteiligte. 31 Zu Irène als Intellektueller vgl. besonders: AMCP, Fonds Irène et Frédéric Joliot-Curie, dossiers I, 14, 31. „Ich rede mit jedem Patienten anders“ Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson über sein Exil nach 1936 1 Frank Estelmann: Wir möchten uns zunächst bei Frau Dr. Eckert, der Leiterin des Exilarchivs 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main dafür bedanken, daß wir auch heute abend hier sein dürfen, nachdem wir schon den ganzen Nachmittag hier verbracht haben. Wir freuen uns sehr über diese Einladung und über die Kooperation mit Ihnen. Der zweite Dank geht an den S. Fischer Verlag in Person von Roland Spahr, der uns diese Lesung mit Hans Keilson, auf die wir uns sehr freuen, ermöglicht hat. Ich würde vorschlagen, daß wir den Vortrag von Gedichten Hans Keilsons mit einem kleineren Gespräch über eine Zeit verbinden, die uns besonders interessiert, nämlich sein Exil in Holland nach 1936. (an Hans Keilson gewandt) Zunächst einmal, als universitärer Mensch fällt mir natürlich sofort in Ihrer Biographie auf, daß Ihre Promotion sämtliche Altersbegrenzungen sprengt, die im Moment kursieren: als Siebzigjähriger haben Sie Ihre Promotion 1979… Hans Keilson: Da war ich noch sehr jung! (Lachen allerorten) FE: Sie sind mittlerweile - als Jahrgang 1909 - 96 Jahre alt. Die Arbeit, die Sie 1979 an der Universität Amsterdam verteidigt haben, trägt den Titel Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Das ist nach dem Krieg auch Ihr Arbeitsschwerpunkt gewesen, aber ich würde trotzdem zunächst gerne auf die Vorkriegszeit zu sprechen kommen. Sie sind schon sehr früh literarisch tätig gewesen: 1928 erringen Sie beim Schülerwettbewerb des Börsenvereins für den deutschen Buchhandel den dritten Platz mit einem Aufsatz zu Hermann Hesses Demian, und von dem Gewinn, den Sie dafür erhalten, kaufen Sie sich die Dünndruckausgabe der Vorlesungen… HK: …der Vorlesungen Freuds… 1 Dieses öffentliche Gespräch wurde am 24. März 2006 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main im Rahmen des Kongresses „Ecrire la crise. Die Reaktionen französischer Intellektueller und deutschsprachiger Exilanten in Frankreich auf die europäische Krise nach dem Münchener Abkommen (1938-1940)“ geführt. Wir danken dem Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek, besonders Frau Dr. Brita Eckert und Sylvia Asmus, für die Aufzeichnung und Maike Erdmann für die Transkription des Gesprächs. Ein besonderer Dank gilt dem S. Fischer Verlag für die großzügige Unterstützung bei der Einladung Hans Keilsons und für die Genehmigung, Teile seines lyrischen Werks reproduzieren zu dürfen. Die in der Folge angeführten Gedichte sind der folgenden Ausgabe entnommen: Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. Romane und Erzählungen/ Gedichte und Essays, Frankfurt am Main: S. Fischer 2005. „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 268 FE: …der Vorlesungen Freuds, und Sie schreiben, glaube ich, im… HK: …zum Entsetzen der Lehrer (allgemeines Gelächter). Meine Schwester war auch auf dem Gymnasium, und da hat der Lateinlehrer zu ihr gesagt: „Wie kann Ihr Bruder das machen? “ Also, das war eine Katastrophe… FE: Wie wir gleich sehen werden, war es ein prägender Bucherwerb für Sie: Aber Anfang der dreißiger Jahre sind Sie zunächst einmal beim Studieren, und ihr medizinisches Studium verdienen Sie durch Ihre Tätigkeit als Jazzmusiker… HK: I can’t give you anything but love (Lachen allerorten) - baby… FE: Also, die revolutionäre Geste ist noch voll präsent. Sie waren in dieser Zeit, oder kurz danach, Sportlehrer in Berlin, wo Sie auch herkommen, und… HK: Ich habe eine Ausbildung als Sportlehrer! An der Preußischen Hochschule für Leibesübungen in Spandau, bei einem Druckfehler heißt es im Witz bei uns immer Preußischen Hochschule für Liebesübungen (Lachen allerorten). Da war ich zwei Jahre drauf… FE: Also, auf Ihre zweijährige Ausbildung folgte dann eine längere Berufstätigkeit als Sportlehrer. Im Frühjahr 1933 erscheint beim S. Fischer Verlag Ihr erster Roman, Das Leben geht weiter. Sie sind der letzte debütierende jüdische Autor des S. Fischer Verlages vor der Machtübernahme Hitlers. Sie bleiben bis 1936 in Deutschland, in Berlin, und gehen dann unter dem Druck der Nürnberger Gesetze ins Exil nach Holland. Ihre Schwester geht nach Palästina. Zur Zeit Ihrer Emigration sprechen Sie schon Holländisch, schreiben aber, und das ist ein Charakteristikum Ihres ganzen Lebens, Ihre literarischen Essays, Ihre psychoanalytischen Essays, Ihre Gedichte und Ihre Prosa immer auf Deutsch. In der Exilzeit entsteht ein weiterer Roman, Der Tod des Widersachers, der später publiziert wird, den Sie zunächst einmal vergraben müssen, vor der Besetzung der Niederlande… HK: Im Jahr 1943, ja… FE: Nach 1945 graben sie ihn dann wieder aus, die 50 Seiten, die es schon waren, und der fertige Roman wird dann 1958 publiziert… HK: …im Westermann-Verlag, aber machte die Runde durch beinahe alle deutschen Verlage. FE: Es war also schwierig, einen Verleger zu finden? HK: Jaja, das Buch war zu früh, anscheinend, oder die Verleger waren zu spät … (Lachen) FE: 1945 gründen Sie eine ad hoc-Organisation, die sich um die Betreuung von jüdischen Kriegswaisen kümmert. Sie waren schon in Ihrer frühen Exilzeit als Psychiater tätig, und haben dann nach 1945 eine Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht, deswegen, glaube ich, sind Sie vielen - auch Anwesenden hier - vor allem als Psychoanalytiker bekannt. Seit 1951 praktizieren Sie den Beruf, ich glaube, auch heute noch. HK: Ja. FE: Sie schreiben auch weiterhin, Ihre Gedichte sind nach 1936 in holländischen Zeitschriften erschienen, nach dem Krieg erscheinen Sie etwas verstreut, mal hier, mal dort, und im Grunde genommen könnte ich damit jetzt Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 269 auch schon meine kurze Präsentation beschließen, und würde Sie bitten, uns vielleicht eines Ihrer Gedichte vorzutragen. HK: Ja, ich danke Ihnen sehr für diese Einleitung. Die Tagung Exil hier hat verschiedene Reaktionen in mir hervorgerufen. Sie haben gesagt, ich habe über das Trauma gearbeitet. Ich habe ein neues Paradigma entwickelt. Ich werde kein neues Paradigma über Exil entwickeln, das bestimmt nicht, aber es ist mir doch deutlich geworden, daß auch der Begriff ‚Exil‘ verschiedene zeitliche und inhaltliche Amplituden hat. Man geht irgendwo weg und geht irgendwo hin, und das ist nicht, wie wenn man einfach von A nach B geht, da geschieht viel mehr. Genau so wie bei einer Traumatisierung, the manmade disaster, was Menschen einander antun, ist das, was man im Exil erlebt, doch auch viel breiter zu interpretieren. Darum habe ich mich entschlossen, ich hoffe, Sie gestatten es mir, Ihnen das einzige Gedicht vorzulesen, das ich je in Deutschland geschrieben habe, in 1935, und das in der jüdischen Zeitschrift Der Morgen publiziert wurde. Ich lese es nicht vor, weil ich finde, daß es ein besonderes Gedicht ist, aber 1936 kam ich in die Niederlande, und 1937 begann ich auf einmal, deutsche Gedichte zu schreiben, eruptiv, obwohl ich keinen Ehrgeiz hatte. Ich will nicht sagen, daß ich gar keinen Ehrgeiz habe, aber ich hatte keinen Ehrgeiz, deutsche Gedichte zu schreiben. Diese Gedichte kamen zufällig in die Hände einer holländischkatholischen Zeitschrift, De Gemeenschap, von der heute Frau Eckert, sehr zu meiner Freude, erzählt hat, daß sie das letzte Buch von Joseph Roth herausgebracht hat. Die Gemeenschap hat im übrigen acht deutschsprachige Gedichte von mir publiziert, unter einem anderen Namen natürlich. Ich lebte mit meiner Frau zusammen, wir waren nicht regelrecht verheiratet. Sie kam aus einem liberal-katholischen Milieu, wir fielen unter die Nürnberger Gesetze und waren sehr gefährdet. Meine Frau ist nach dem Kriege Jüdin geworden, sie hat zu mir gesagt: „Ich gehe nicht zurück nach Deutschland, aber du darfst die deutsche Sprache nicht verlernen“. Das habe ich bis heute so befolgt. Das Gedicht, das ich 1935 geschrieben habe, heißt „Neuer Psalm“: N EUER P SALM Tot sind sie alle, Gott, die Dich einst lobten, und anderer Stimmen sind gebannt in Schweigen. Ich sehe, daß sich nur die Bäume neigen, wenn Deine Stürme Wurz´ und Erdreich probten. Wirfst keinen Schatten mehr? Bewegen Deine Kräfte gesetzgebietend Lauf an andrem Ort? Schon tragen weißer Vögel Schwärme Mit sich die Wolken auf den Flügeln fort. „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 270 Verborgen ist mir Deiner Schöpfung Anfang, Doch um das Ende trag ich große Sorge. Wie ich mir Mut für jeden Tag nur borge. Der Weg zu Deinem Abend ist so lang. (1933/ 1934) Ich würde sagen, das ist ein herkömmliches Gedicht, das ein Jude 1935 schreibt und das eine jüdische Zeitschrift dann auch veröffentlicht. 1937 schrieb ich eine Anzahl deutscher Gedichte, von denen ich Ihnen nun das erste vorlesen werde. Dieses Gedicht wurde unter einem Pseudonym veröffentlicht: ich hieß Kailand, Alexander Kailand. Es heißt „Wir Juden“: W IR J UDEN … Wir Juden sind auf dieser Welt Ein schmutziger Haufe billiges Geld, von Gott längst abgewertet. Er zieht uns nicht aus dem Verkehr, er wirft uns weg, er ruft uns her, - wir zahlen alle Schulden. So wandern wir im Kreis herum, von Hand zu Hand, den Buckel krumm, uns reibt kein Putztuch helle. Wo wären wir, wo wär die Welt, führt sie ihr Leben ohne Geld, - wer zahlte ihre Schulden? Drum braucht sie uns noch lange Zeit. Doch sie wird rot, wenn ein Jud schreit: Die Welt hat mich geschlagen. Ich wird’s dem Gott schon sagen. (1937/ 1938) Das zweite Gedicht von den insgesamt acht Gedichten, das die Gemeenschap in deutscher Sprache von mir veröffentlicht hat, ist das folgende: Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 271 B ILDNIS EINES F EINDES In deinem Angesicht bin ich die Falte Eingekerbt um deinen Mund, wenn er spricht: du Judenhund. Und du spuckst durch deiner Vorderzähne schwarze Spalte. In deiner Stimme, wenn sie brüllt, bin ich das Zittern, Ängste vor Weltenungewittern, die vom Grund wegreißen und zerstreuen. Deine Hände würgen. Deine Enkel werden es bereuen. Im Schnitt der Augen, wie deine Haare fallen, erkenn ich mich, seh ich die Krallen des Unheils wieder, das ich überwand. Du Tor, du hast dich nicht erkannt. Vom Menschen bist du nur ein Scherben Und malst mich groß als wütenden Moloch, um dich dahinter rasend zu verbergen. Was bleibt dir eigenes noch? Denn deine Stirn ist stets zu klein, um je zu fassen: …ein Tropfen Liebe würzt das Hassen. (1937/ 1939) Das achte Gedicht, das die Gemeenschap veröffentlicht hat, heißt „In memoriam“. Es gelang mir, meine Eltern nach den Novemberpogromen 1938 in Deutschland aus Berlin nach Holland kommen zu lassen. Das ging sogar sehr schnell, ich hatte gute Beziehungen in den Niederlanden, was mir sehr geholfen hat. Und meine Mutter erzählte mir, daß in Berlin an einigen christlichen Kirchen gestanden hätte: „Juden kommt zu uns beten.“ Dieser Mitteilung wurde inzwischen von vielen Leuten widersprochen, aber meine Mutter hat sie mir so erzählt - und daraufhin habe ich ein Gedicht geschrieben. Und die Gemeenschap hat das Gedicht im März 1940 mit einem ungeheuren Mut publiziert, anderthalb, zwei Monate, bevor Hitler die Niederlande besetzt hat. Das ist auch einer der Gründe, daß ich es ihnen heute abend vorlese: I N MEMORIAM Du Mensch, vor dem ich mich nicht beugen kann, in Schmerzen seh ich dich am Kreuze hangen, und hangend siehst du meine Schmerzen an. War dies dein Tod, daß ich nicht ohne Bangen Mein Leben wag, von Ängsten rings umfangen? Dein Leiden auch, geweiht des Himmels Ehre, „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 272 verbirgt die Glut, in der ich mich verzehre. Du bist Erlöser dort, wo man dich schon vergißt. All deine Wunder jetzt aufs neue kehre, du meiner Freunde Freund und Herr, du Jesu Christ. Sag deiner Mutter, daß sie tröstend sehe auf Frauen, Männer, Kinder, groß und klein, die über Nacht so jäh ein Leid und Wehe zum Schutz in deinen Tempel trieb hinein. O, laß sie ohne deine Wonnen selig sein. Nimm gnädig auf in deinen starken Armen die deinen, die du prüfest im Erbarmen. Mit meiner Not du ihren Sinn ermißt. Gewalt bricht auf, und Herzen dir erlahmen, du meiner Freunde Freund und Herr, du Jesu Christ. Steh dir so fern und sehe doch mit Schrecken, daß du erneut in Kreuzesqualen ringst. Wer kommt, die Wunden lindernd zu bedecken, wenn du den Tod aus deinen Ängsten singst mit deinem Leib, eh du in ihm vergingst. Für diese Nacht mir deinen Schutz noch lasse, und daß des Vaters Name nicht verblasse, allzeit SEIN Ruhm nur hoch gelobet ist, er dich und mich mit seinem Blick umfasse, du meiner Freunde Freund und Herr, du Jesu Christ. (1939/ 40) (Rührung in der Stimme) Sie merken, daß mich das Gedicht noch heute - sehr berührt. (Längeres Schweigen) Wenn Sie etwas sagen wollen. Bitte. Olaf Müller: Ich hätte eine Frage zu „Bildnis eines Feindes“, das Sie uns vorher vorgelesen haben. Dabei handelt es sich um ein Motiv, das bei Ihnen immer wiederkehrt: der ‚Hasser’ und der ‚Gehasste’, die in einem sehr engen Verhältnis stehen. Man könnte sagen, auch in „Memoriam“ ist das Motiv präsent und es zieht sich ja im Grunde weiter bis zu Ihrem Roman Der Tod des Widersachers… HK: Übrigens ist in München eine Magisterarbeit entstanden, in der gezeigt wird, daß das Gedicht „Bildnis eines Feindes“ die Keimzelle dieses Romans ist - eine Idee, die ich sehr intelligent finde - bitte! OM: Ja, also das war eben die Frage, inwieweit die unauflösliche Verbundenheit von Hasser und Gehasstem vermutlich auch für Ihre psychoanalytische Arbeit eine Grundkonstellation ist. HK: Ja, die Sündenbocktheorie, die basiert eigentlich auch auf dem, was wir in der Psychoanalyse projektive Identifikation nennen. Ist das richtig? Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 273 (an das Publikum gewandt) Ja! (Lachen) Die projektive Identifikation: also daß man in dem Anderen sieht und ihn beschämt, was man in sich selbst nicht wahrhaben will. Das hat mich tatsächlich von Beginn an fasziniert. OM: Ich habe auch eine Frage zu einem Gedicht, von dem ich gar nicht weiß, ob Sie es dabei haben - „Saint Guénolé“. HK: Oh, die Fischersfrau von Guénolé, das habe ich zu Hause gelassen (Lachen) Ach, das hab ich geschrieben, als ich in St. Guénolé war - „Die Fischersfrau von…“ (rezitiert Teile des Gedichts). Mein Gedächtnis was! (Lachen) Ich weiß, daß ich mich ein bißchen aufhalte. Wenn ich es noch irgendwo vorlesen werde, wird das Ihnen zu Ehren sein. (Lachen) OM: Also das Gedicht ist schlicht entstanden, als Sie in St. Guénolé waren? HK: Ja, ich war in St. Guénolé 1937 oder 1938. Ich spreche bloß leider kein Französisch. Aber eine meiner Arbeiten, die über die Traumatisierung, ist in Frankreich erschienen, bei den Presses Universitaires de France. Darauf bin ich sehr stolz. Sie ist auch auf Englisch erschienen. Und jetzt wieder auf Deutsch. (Lachen) Psychosozialverlag in Gießen. Ach wissen Sie, wenn man so alt wird, hat man mit allen Sachen Freude. (Lachen) OM: Ja vielleicht noch der ‚Heine-Ton’ in Ihrem Gedicht „St. Guénolé“. HK: Ja, ich wollte jetzt tatsächlich ein Gedicht lesen, in dem Heine eine Rolle spielt: „Variation“. Ich habe das Gedicht 1943 geschrieben, als ich untergetaucht war: V ARIATION Denk ich an Deutschland in der Nacht - Wie oft hab ich den Vers gelesen Und dessen, der ihn schrieb, gelacht. Er wär mein Bruder nicht gewesen. Ich nicht - ich bin aus andrem Holz, dacht ich, mich kann die Axt nicht kerben, ich trage meinen harten Stolz im Leben hart - hart auch im Sterben? Doch lieg ich jetzt und gar so wund in fremdem Land und scheu das Licht. Es tönt aus meines Kindes Mund ein andrer Klang als mein Gedicht. Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer Flieger herauf zur Phosphorschlacht. Ich lieg auf meinem Lager, schwer, denk ich an Deutschland - in der Nacht. (1944/ 1964) „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 274 Was halten Sie davon? FE: Heinrich Heine ist ja ohnehin eine Ihrer Referenzen. Ich habe in einem Ihrer Essays eine Anekdote gelesen, von Ihrer Schulzeit in Freienwalde - wo sie - vielleicht wollen Sie es selbst erzählen… HK: Erzählen Sie, ich muß hier ein bißchen… (Lachen allerorten). Was haben Sie davon behalten? FE: Sie schreiben irgendwo, mit der Veränderung der Persönlichkeit ändert sich dann auch die Qualität der Erinnerung, deswegen hätte ich es jetzt eigentlich gerne von Ihnen gehört… (Lachen) HK: Ja, also wir hatten einen neuen Deutschlehrer, Geißler hieß der. Der kam aus Berlin. Der war sicherlich sozialdemokratisch, ein reizender Mann, und der sagte zu uns - ich saß in der Prima - wir sollten uns ein Thema wählen und darüber sprechen. Ein Gedichtvortrag oder so… Einer der Schüler hat über Fichtes Reden an die Deutsche Nation gesprochen. Und ich las damals viel Heine, und da ging ich zu ihm hin und sagte: „Ach Herr Geißler, ich würde gerne Die schlesischen Weber lesen.“ Ich hatte natürlich auch die Weber von Hauptmann gelesen und wollte eben gerne Heines Gedicht einmal vortragen: „Ich finde, das ist ein gutes Gedicht“. „Ja, also das tun Sie mal! “ In der Unterprima wurden wir mit „Sie“ angesprochen, ist das heute auch noch so? OM: Doch schon. HK: Ah, gut. Also ich trug das Gedicht vor. Mit weniger Rührung als ich jetzt lese. Und da setzte ich mich wieder hin, und der Herr Geißler sagte zur Klasse: „Also bitteschön, wollen Sie sich dazu äußern.“ Und plötzlich trat der Klassenälteste auf. Wollen Sie seinen Namen wissen? Ich weiß ihn noch! Günther Neuenfeld. Sein Vater hatte einen Laden auf der Bahnhofstraße. Sie sehen mein Gedächtnis… (Lachen) Sachen, die ganz tief zu meinem Leben gehören, die vergesse ich nicht. Jedenfalls stand der auf und sagte: „Die Klasse lehnt es ab, über das Gedicht zu diskutieren, es beschmutzt das eigene Nest! “ Und setzte sich wieder. Und ich war zwei Jahre in ‚Klassenschiß’. Das heißt, niemand sprach mehr mit mir. Ich habe darüber etwas publiziert. Daß die Kinder so darauf reagiert haben - das ist für mich nicht das Problem. Keiner der erwachsenen Lehrer, auch der Rektor nicht, hatte die Zivilcourage, das Problem zu thematisieren und darüber zu reden. Ich meine, das gehört zur Ausbildung, zur Erziehung, das gehört zum Erwachsenwerden auf einem humanistischen Gymnasium. Aber nichts geschah! Der Geißler ist wieder nach Berlin gegangen - und ja… Ich wurde daran erinnert, als ich in Delft untergetaucht war. Ich erinnere mich noch an den Abend, als zum ersten Mal die englischen Flugzeuge kamen, mit Phosphorbomben. MacDonald, der von der Labour Party, hatte völlig abgerüstet in England, und darum ‚München’ und alles andere. England hatte keine Waffen, und anscheinend wußte man das in Deutschland, und man dachte dann: Wir bombardieren Warschau, Belgrad, Rotterdam, Coventry - die haben doch keine Bomben, und uns kann nichts geschehen. Und dann kamen 1943 die Phosphorbomben, und ich muß Ihnen sagen: Der Haß ist bei mir nicht stark entwickelt. Ich konnte mir vorstellen, was es bedeutet, auf Menschen Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 275 Bomben zu schmeißen, auch Phosphorbomben. Es gehört nicht zu meiner Erziehung, das schön zu finden. Und ich kann auch als Arzt begreifen, was für Leid dabei geschieht. (Pause) OM: Weil sie von Phosphorbomben gesprochen haben: Sie waren auch einer der Ersten, wenn ich das richtig gesehen habe, die sich zu den Bombenangriffen auf die deutschen Städte geäußert haben. Man hat ja in den vergangenen Jahren so getan, als sei die ganze Diskussion im Grunde erst mit Sebald wieder aufgetaucht, und behauptet, daß das Bombardement der deutschen Zivilbevölkerung keine Spuren hinterlassen hätte in der deutschen Literatur. Sie haben sich erstaunlich früh dazu geäußert… HK: Ja, aber Sie sehen, nach dem zweiten Weltkrieg: ein Meer von Problemen. Der Vortrag, den Herr Betz anfangs des Kongresses über das Münchener Abkommen gehalten hat, zeigt so deutlich die große Verwirrung, die in ganz Europa herrschte, nicht wahr? Ich habe diese Zeit und dann auch die Kriegszeit in den Niederlanden erlebt, und die Holländer, die veröffentlichen ein Gedicht, das ich geschrieben habe, zwei Monate bevor ihr Land besetzt wird. Das ist ein kaufmännisches Volk, mit einer großen Wirklichkeitserfahrung. Die holländische Verfassung der Staaten-Generaal ist fünfbis sechshundert Jahre alt. Die deutsche Verfassung besteht seit 1871 - ist das richtig? OM: Ja, ganz richtig. Die aktuelle Verfassung ist sogar noch etwas jünger. HK: Ja, aber 1871 ist doch zum ersten Mal ein geeintes Deutschland geschaffen worden. Und ich sage das nur, da man sich in Holland der Wirklichkeit völlig anders annähert. Und ich erinnere mich, daß Fritz Landshoff… sagt Ihnen der was? Der vom Querido-Verlag? Den kannte ich schon sehr gut, bevor er meinen Roman Komödie in moll veröffentlicht hat. Es war damals die Zeit nach ‚München’ und ich sprach oft mit ihm. In Holland herrschte große Verwirrung, und wir dachten: Ach - vielleicht geschieht ja nichts. Man kann ja auch annehmen, daß ein Geschäft nicht durchgeht, daß auch das Kriegsgeschäft nicht durchgeht. So viele Geschäfte gehen nicht durch. Und da sprach ich mit Landshoff - und der konnte auch sehr gut zuhören, der hörte zu, was ich sagte. Ich sagte: „Also wissen Sie, ich glaube…“, und ich benutzte einen holländischen Ausdruck für: „Vielleicht wird es nicht so schlimm.“ Und da antwortete er: „Ja, vielleicht haben Sie recht, aber ich fahre morgen nach London.“ Das habe ich nie vergessen. FE: Dennoch gehören Sie eigentlich zu denen, die von Anfang an gesagt haben: „Es wird Krieg geben! “ Jetzt sagen Sie, Sie hätten die Hoffnung gehabt, daß vielleicht doch noch etwas anderes passiert. Und Sie berichten wiederum in einem Ihrer Werke von einem Gespräch mit einem befreundeten, frankophilen Juristen, der Ihnen irgendwann vor 1938 so in etwa sagt: „Debussy und die Maginot-Linie, die werden den Krieg schon aufhalten, die werden Hitler schon stoppen“. Und Sie antworten sofort: „Nein, das stimmt nicht, der Krieg wird kommen! “ HK: Ja. Ich spreche mit jedem Patienten anders! (Lachen) Sie verstehen was ich meine…? FE: Ja … (Lachen) „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 276 HK: Ich bleibe trotzdem immer derselbe. (Lachen) Dieser Mann, das war der Bruder vom Bürgermeister von Rotterdam und dem späteren Sekretär von Prinz Bernhard. Der war sehr frankophil, und dem mußte ich deutlich machen, daß sein ‚Kulturcharme’ nichts taugte! Denn ich habe Hitler 1933 auf einen Abstand von zwei, zweieinhalb Metern gesehen. Wissen Sie das? Das habe ich beschrieben. OM: Ja, aber sie können das gerne nochmal erzählen! Das haben nicht alle hier gelesen… HK: Ich kam gerade aus dem Jüdischen Institut in Berlin. Ich weiß nicht mehr, wie die Straße heißt, die parallel zu Unter den Linden verläuft? Jedenfalls konnte ich von Unter den Linden in die Wilhelmstraße schauen, in der alle Regierungsgebäude waren. Und da standen viele Menschen, und neugierig, wie ich bin, dachte ich: „Da mußt du hin! “ Ich ging hin. Da standen viele Mütter mit ihren Kindern, auch erwachsene Männer und ein paar Polizisten, Berliner Polizisten, sehr gemütlich: „Sag’ mal, was ist denn hier los? “ „Ja, der Führer kommt, der fährt heute zu den Siemens-Schuckertwerken.“ Das war die erste Rede, die Hitler vor Arbeitern gehalten hat, in den Siemens-Schuckertwerken. „Der muß gleich rauskommen! “ Ich hatte Zeit. Ich stellte mich auch auf, und da kam er dann tatsächlich, stand in seinem Auto neben seinem Chauffeur, in der Uniform der SA-Leute. Wir rannten alle auf den Damm, die Kinder und ich auch. Und die Kinder, die die Versperrung durchbrachen, tanzten vor dem Auto von Hitler. Und Hitler wurde nervös und sagte zu seinem Chauffeur: „Die Kinder! Die Kinder! “ Ich sah, wie er nervös war, wie er ängstlich war. Und später habe ich ihn dann 1935 gesehen, in der Städtischen Oper in Berlin in einer Tristan-Aufführung, die Karl Böhm dirigiert hat. Ich saß mit meiner Frau unten im Parkett, und Karl Böhm beginnt zu dirigieren: Das „Horst-Wessel-Lied“! Meine Frau sagte zu mir: „Ich gehe! “ Und ich sagte: „Du bleibst! “ Und sie ist geblieben. Jetzt kann man darüber streiten, ob man Wagner gern hat oder nicht, und Tristan ist, finde ich, sein größtes Werk. Und von Böhm habe ich wunderbare Aufführungen gehört. Aber daß der dann das „Horst-Wessel-Lied“ davor spielen läßt… OM: Aber die Initiative, Deutschland zu verlassen, ging dann schon von Ihnen aus, oder auch von Ihrer Frau? HK: Die ging von Oskar Loerke aus. Loerke war derjenige, der meinen Roman Das Leben geht weiter annahm. Er rief meine Mutter an, am 10. oder 12. Dezember 1932. Ich kam gerade aus der Klinik, und meine Mutter sagte mir: „Ein Herr Loerke hat angerufen. Und er wird dem Verlag empfehlen, Deinen Roman anzunehmen.“ Und ich sagte: „Ach, das ist sehr schön“. Aber ich stand vor meinem Staatsexamen - das ist immer so bei mir, es gibt immer zwei oder drei Sachen auf einmal. Loerke war reizend. Ich ging zu ihm hin, zusammen mit Suhrkamp, und danach habe ich dann noch verschiedene Dinge am Roman verändert. Und nach einem Jahr sagte Loerke zu mir: „Machen Sie, daß Sie rauskommen! Ich befürchte das Schlimmste! “ Meine Frau ist schon 1935 nach Holland gegangen und hat Quartier gemacht. Sie ist aber wieder zurückgekommen. Und ich bin dann im Oktober 1936 nach Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 277 dem letzten großen Sportfest der jüdischen Schulen in Berlin nach Holland gegangen - ich war drei Jahre Lehrer an einer jüdischen Schule, ich war ja kein Arzt, konnte kein Arzt sein. (Pause) S CHIZOID steuern zahl ich in Holland auf fetter klei nur die fußspur durchzieht noch den sand der Mark und mein herz trauert um Jerusalem splitter treibt man ins fleisch aus festem Holz mir erwächst aus den abfällen des erinnerns ein friedloses dasein alle zeiten schlagen ihre stunden todein todaus ich zähle sie unwägbare mit vergilbten lippen und messe sie aus in der syntax des schweigens ohne fremde akzente wenn ich auf den deichen stehe und die inseln brennen lodern die wasser der kindheit der Oderstrom und der Jordan meines verlangens am abend sitze ich dann und lausche in die apparate netze voller musik ein fischzug der töne aus ost und west ich esse stamppot ich trinke bols - nektar und ambrosia speisen die schwermut der träume wenn ich zur nacht liege meine füße ein anker in den verwüsteten gärten „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 278 meine stirn im gespött der sterne (1966) Dieses Gedicht wurde im Jahr 1947 verfaßt. OM: Sie haben als Arzt dann zunächst im Widerstand praktiziert, oder haben Sie vorher schon in Holland als Arzt arbeiten können? HK: Ja, ich habe illegal mit Kindern gearbeitet. Durch meine Arbeit als Lehrer an jüdischen Schulen - ich habe ja am jüdischen Waisenhaus und an drei Schulen in Berlin Unterricht gegeben - hatte ich natürlich viel Erfahrung mit Kindern. Und als ich dann nach Holland kam und viele Leute kennenlernte, da fragte mich einmal jemand: „Ach, ich habe ein Kind, das hat Probleme. Willst Du dich mal mit ihm unterhalten? “ Und ich antwortete: „Ja, das tu ich“. Und ich habe es getan. Es war für mich natürlich auch eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Meine Frau war Graphologin, eine Schülerin von Max Pulver, dem Schweizer, der Trieb und Verbrechen publiziert hat. Ich habe mit meiner Frau sehr überraschende Dinge erlebt. (Pause) Habe ich das erzählt? Was meine Frau gesagt hat, als ich mit ihr in eine Ausstellung ging und sie die Handschrift von Hitler sah… Wissen Sie das? OM: Ich weiß es, aber erzählen sie ruhig. (Lachen) HK: Ich bin mit ihr ins Kronprinzenpalais in Berlin. Sie sah die Schrift von Hitler und sagte: „Der zündet die Welt an! “ OM: Graphologisches Kurzgutachten. (Lachen) HK: Sie hat öfter solche Sachen gemacht. Sie kannte die Schrift von Freud nicht. Und ich war ein bißchen gemein und habe ihr die Schrift von Freud gezeigt, um einmal zu sehen, was sie dazu sagt. Sie hat dann etwas über das schöne Hineinfühlen und Hineinleben in das Unbewußte eines anderen Menschen gesagt. Wie sie das gesehen hat, weiß ich nicht. Sie hat das in ganz einfachen Worten ausgedrückt. Aber Sie hat ja auch gesagt: „Der zündet die Welt an! “ OM: Haben Sie „Sprachwurzellos“ dabei? HK: Ja. OM: Das wäre nämlich auch noch ein Punkt. Sie hatten kurz angedeutet, daß Sie natürlich als Alltagssprache im Exil sehr bald Niederländisch benutzten, auch als Berufssprache, als Arbeitssprache, aber eben weiter auf Deutsch schrieben, womit Sie, glaube ich, einer der wenigen deutschen Autoren sind, die eben in den Niederlanden geblieben sind. HK: Ja. OM: Ich glaube, die meisten haben dann auf Niederländisch zu schreiben begonnen. HK: Ja. Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 279 S PRACHWURZELLOS um die geheimnisse des konjunktivs - die zeit der bunten bälle - mühte ich mich vergebens an den grachten die neuen freunde grüßend und sie nennen mich mijnheer unter den windseiten der brücken - es war eine hohe flut - beim grünspan der türme im keller das volk der asseln zerbrach die goldene grammatik barbara schrie dames en heren - also lernte ich ihre sprache der himmel darüber hutspot und bols wurzellos ein pfad im gekröse der zeltlager und weiß mich gedemütigt in der wollust verdorrter schriftzeichen (1963) Was finden Sie denn an dem Gedicht, daß Sie danach fragen? OM: Also ich finde, es ist eine sehr unsentimentale Art, eben den sprachlichen Konflikt - auch in der Verarbeitung von technischen Termini - sehr prägnant zusammenzufassen. HK: Barbara ist meine älteste Tochter, die 1941 geboren ist. Sie sprach Holländisch. FE: Sie schreiben in einem Ihrer Essays, daß das Erlernen der holländischen Sprache nicht nur irgendwie wichtig war, sondern überlebenswichtig für Sie. Und Sie kommen auf die Sprachfrage immer wieder zu sprechen. Insbesondere in einem Essay mit einem Titel, den man sich durch den Kopf gehen lassen muß: „Lieber Holland als Heimweh“. Das ist komplizierter, als es auf den ersten Blick wirkt. Also ich dachte -, na ja … (Lachen) HK: Ja, was haben Sie gedacht? „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 280 FE: Ich dachte erst, es soll so etwas heißen wie: Warum bin ich bloß in Holland gelandet? Aber die Aussage stellt die Dinge ja anders da: Lieber Holland als Heimweh, also kein Heimweh in Holland. Was Sie in diesem Essay behaupten oder behandeln, ist eine sehr interessante und aktuelle Frage. Sie sprechen von Akkulturation, genauer von Sprache als Mittel zur Akkulturation. Das Zerbrechen der Syntax in dem Gedicht, das Sie uns vorgelesen haben… HK: …todein - todaus… FE: …das ist das Aufbrechen des Alten, die Zuwendung zum Neuen, zum Gastland, zum Exil, und ja auch zur neuen Sprache. In einem anderen Zusammenhang behandeln Sie nun auch die Geschichte des Verhältnisses von Juden und Christen in Deutschland und sprechen davon, daß die Geschichte der Juden immer nur unter einem jüdisch emanzipatorischen Ansatz behandelt worden sei und daß man im Grunde genommen dazu übergehen müsse - und ich verbinde das jetzt mit Ihrer eigenen Exilerfahrung, weil Sie das, glaube ich, auch tun - nicht nur einfach von Akkulturation zu sprechen, sondern von gegenseitiger Akkulturation. Können Sie uns das ein bißchen erklären? HK: Ja, was die deutsche Umgebung betrifft, würde ich es etwas provokativ so formulieren: Auschwitz ist nicht nur ein Datum der jüdischen Geschichte Deutschlands, es ist ein Datum in der deutschen Geschichte. Das ist die doppelte Akkulturation. (Pause) FE: Konnten sie denn auch in Holland solche Phänomene beobachten? HK: Die Holländer haben ein völlig anderes Verhältnis zur jüdischen Minderheit. Was nicht heißen soll, daß es da nicht auch Antisemiten gibt. FE: Meinen Sie, daß dies geschichtlich begründet ist? HK: Ich bin kein Historiker. Ich bin ein Psychoanalytiker, der sich mit Individuen beschäftigt. Sie fragen mich über geschichtliche Entwicklungen, zu denen ich natürlich meine Privatmeinungen habe, die absolut nicht maßgeblich sind. Also, wenn ich meiner eigenen Berufung folgen sollte, dann müßte ich meine Einfälle erzählen, die ich jetzt habe. Ich sage ja zu meinen Patienten immer: „Erzählen Sie Einfälle. Keine Geschichte oder so. Was fällt Ihnen jetzt ein, auch wenn Sie denken, es hat nichts mit der Situation zu tun? “ So fällt mir jetzt im Augenblick ein Satz, den ich kürzlich in Darmstadt vorgetragen habe, von Merck über Goethes Gedichte. Wenn ich mich nicht irre, hat Merck gesagt: „Goethe soll die Wirklichkeit poetisch gestalten und nicht das Imaginative zur Wirklichkeit machen.“ Daraus entstünde nur dummes Zeug. Und ich habe immer den Eindruck, daß man in Holland, weil man da auch kaufmännisch denkt, ein ganz anderes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. Vielleicht ist es Unsinn, was ich sage. Können Sie das nachfühlen? Ich meine, da braucht man kein Historiker zu sein. Ist es menschlich nachvollziehbar, daß jemand, der ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit hat, nicht das Imaginative - so etwas wie die Rassentheorie - zur Wirklichkeit machen will? „Bananen sind kein arisches Produkt! “, sagte mir meine Frau heute, nicht wahr. Herrlich! (Lachen) „Bananen sind kein arisches Produkt.“ Ich finde, daß man in den Niederlanden - das kann ein Vorteil sein, Ein Gespräch mit dem Autor und Psychoanalytiker Hans Keilson 281 kann aber auch in vielen Dingen ein Nachteil sein - ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. Natürlich geschehen dort auch gewisse Dinge, es ist kein ideales Land. Ideale Länder gibt es auch gar nicht. Aber das Verhältnis zur Wirklichkeit hat dort doch gesunde Momente, die ich in Deutschland damals, als ich da gelebt habe, nicht erlebt habe. Das muß ich doch sagen. (Pause) OM: Sie hatten gesagt, wir dürften und sollten Sie nach allem fragen, außer nach Ihrer Einkommensteuer (Lachen), und daß sich das Publikum auch beteiligen dürfte… HK: Ja, Sie dürfen fragen. OM: Schön, vielleicht könnten Sie erst noch einen Ihrer Texte vorlesen, um den Anwesenden noch einen Moment Zeit zu lassen, über Fragen nachzudenken. Den „Niggun“ wollten sie glaube ich vortragen… HK: Ja, „Zu einem alten Niggun“. Ein Niggun ist ein wortloser oder wenige Worte umspielender oder einen Wortvortrag begleitender, stark rhythmischer Gemeinschaftsgesang, wie er bei den Chassidim üblich ist. Diese Erklärung stammt von Arno Nadel, man findet sie in der Ausgabe seiner häuslichen Sabbatgesänge, die 1937 in Deutschland erschienen sind. Dieses Gedicht habe ich 1937 geschrieben. Peter Huchel hat es in Sinn und Form nach dem Krieg veröffentlicht. Z U EINEM ALTEN N IGGUN Wer einen alten Niggun hört aus Litauen oder Polen, summe ihn zwischen den Zähnen mit und tanze auf nackten Sohlen. Ein uralter Rebbe hat ihn erdacht, als er in Verzückung gefallen. Und alle Chassidim haben gelacht und begannen mitzulallen. Sie summten ihn leise, sie sangen ihn laut, ein Schluchzen tief aus der Kehle. Sie tanzten zusammen wie Bräutigam und Braut, als ob der Tanz sie vermähle: Kutscher, Schuster, Bettelvolk, Gastwirte, Händler und Schneider, die heimlichen Fürsten in Israel und prächtige Hungerleider. Sie blieben zusammen die ganze Nacht, sie schwiegen, sie tanzten, sie sangen und warteten, ob nicht von fern übers Feld Schritte kämen gegangen. Sie warteten lange mit zitternder Seel, wurden müde und traurig ein wenig. Die heimlichen Fürsten in Israel erwarteten ihren König „Ich rede mit jedem Patienten anders“ 282 Der eine hat ihn beim Singen erblickt, als die Stimme ihm überschnappte. Der andere verspürt seinen Atemzug, als die Sohle den Boden trappte. Nie blieb er lange. Der Morgen kam, da war er schon wieder gegangen. Auf einem alten Niggun kann man hinauf und hinab gelangen. Ich hörte ihn einst von einem Kind, aus Litauen oder Polen. Seine Stimme voll Ahnung und Traurigkeit, flackernd wie glimmende Kohlen. In einer Kammer zu Amsterdam, ein Globus stand hoch auf dem Spinde. Mein Auge wanderte hin und her zwischen dem Globus und dem Kinde. (1938/ 1952) Danke. Wenn dann noch Fragen sind. Ja! Frage aus dem Publikum: Sie haben ganz am Anfang von dem gesprochen, was Exil für Sie bedeutet, auch begrifflich bedeutet, und mich würde interessieren, wie Sie das in bezug auf sich selbst empfinden? Also inwiefern Sie sich in Holland tatsächlich im Exil gefühlt haben und wie lange? Oder ob und wie sich das im Laufe der Zeit verändert hat? HK: Ich bin aus Deutschland weggegangen, als mein Leben durch die Rassengesetze gefährdet war, und habe in Holland gelebt als Immigrant, im Exil. Ich habe holländische Bücher und Anthologien herausgegeben. Zwei kleine Bücher, eins über Erasmus und eins über Comenius. Ich habe auch holländische Seemannslieder herausgegeben: Der singende Walfisch, und Liebesgedichte: Der Garten der Liebe. Auch ich habe mich mit der holländischen Sprache und der Literatur ein bißchen beschäftigt, nicht nur rezeptiv, sondern auch gestalterisch. Und darin bin ich zu Hause, nach Hause gekommen. Ich habe meine Wohnung gewechselt, aus Berlin in die Nähe von Amsterdam. Ich fühle mich zu Hause, ich bin zu Hause. Ich schreibe Deutsch und spreche Deutsch - ich gehe in Deutschland nicht zur Wahl. Ich sehe mit meiner Frau die holländischen Nachrichten - die deutschen Nachrichten interessieren mich noch immer. Aber ich bin in Holland zu Hause. Dieser Begriff des Exils kann eine völlig neue Gestalt annehmen. In meiner Traumauntersuchung habe ich mit der dritten traumatischen Sequenz versucht zu beschreiben und zu erklären, wann ein Kind, das schwer traumatisiert ist, das zum Beispiel seine Eltern verloren hat, sich wieder zu Hause fühlen kann, trotz allem schwerem Leid, das es erlebt hat. Ohne zu vergessen, was das Leben gebracht hat. Das ist wichtig: ohne zu vergessen! Vielleicht manchmal auch mit Rührung zu denken, aber doch wurzelfest zu sein. Das ist vielleicht ein guter Ausdruck: Wurzelfest zu sein! Auch in der neuen Umgebung. Genügt Ihnen das? Schön. (Pause) FE: Ja, dann danken wir Ihnen allen für Ihr Kommen. Und Ihnen, Herrn Keilson, danken wir für den schönen Abend! HK: Ich danke Ihnen. (Applaus) Zeittafel Januar 1938 bis September 1940 1 Januar- Februar 1938 Henry de Montherlant leitet bei einer Veranstaltung des Comité-France-Allemagne (Gruppe „Rive gauche“) in Paris den Vortrag des Vertreters des nationalsozialistischen Deutschland, Otto Abetz, mit dem Thema „La jeunesse allemande et le bonheur“ ein. In dem in L’Équinoxe de septembre unter dem Titel „Le parapluie du samouraï“ publizierten Einleitungsreferat verleiht Montherlant seinem Glauben daran Ausdruck, daß ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich unvermeidlich sei und schwört den Ideen der Völkerverständigung und der Verständigung der intellektuellen Eliten ab (11.1.) Ausstellung „Cinq années de régime hitlérien“ auf Initiative des Thälmann-Komitees (Paris, rue de Lancry) (27.1. bis 15.3.) In der Galérie des Beaux-Arts (Paris) findet die Exposition internationale du surréalisme statt, organisiert von André Breton und Paul Éluard. Auf der Ausstellung wird der von Breton und Éluard verfaßte Dictionnaire abrégé du surréalisme verkauft Hitler übernimmt das Kommando über die Wehrmacht (4.2.) Filmabend „Von der Avantgarde zum sozialen Film in Frankreich“; Vortrag von S. Dudow, Filme von Clair, Cavalcanti, Renoir, Vigo (Ende Februar) Hanns Erich Kaminskis Céline en chemise brune, eine Streitschrift gegen den Antisemitismus und Faschismus des Autors Louis- Ferdinand Céline, erscheint bei den Nouvelles Éditions Excelsior (Ende Februar). Célines im Dezember 1937 publiziertes Pamphlet Bagatelles pour un massacre war seit Anfang 1938 in Frankreich kontrovers diskutiert worden und war von der rechten Presse - beispielsweise von Robert Brasillach in L’action française (13.1.) - verteidigt worden. André Gide wird es in einer Rezension in der Aprilausgabe der Nouvelle Revue française (NRF) als zu grotesk bezeichnen, um ernstgenommen zu werden. Die deutsche Übersetzung des Werks wird unter dem Titel Die Judenverschwörung in Frankreich im August 1938 in Dresden erscheinen März 1938 Dritter Moskauer Prozeß (2.3. bis 12.3.) 1 Zusammengestellt von Frank Estelmann und Olaf Müller. Zeittafel 284 ‚Anschluß’ Österreichs an das Deutsche Reich. Zahlreiche österreichische Intellektuelle und Künstler fliehen ins Ausland Joseph Roths Roman Kapuzinergruft, der an den 1932 publizierten Radetzkymarsch anknüpft, entsteht im französischen Exil Publikation von Jean-Paul Sartres La Nausée (7.3.) Der französische Ministerpräsident Camille Chautemps wird gestürzt. Sein Nachfolger wird der Sozialist Léon Blum (10.3. und 13.3.) „Für die Verteidigung der deutschen Kultur gegen den Nationalsozialismus“: Botschaft des SDS an die österreichischen Kollegen (13.3.) In der Tageszeitung Ce soir (20.3.) erscheint der „Appel des intellectuels français devant la menace qui pèse sur notre pays“, unterzeichnet von L. Aragon, G. Bernanos, A. Chamson, Colette, L. Descaves, L. Gillet, J. Guéhenno, A. Malraux, J. Maritain, F. Mauriac, H. de Montherlant, J. Romains und J. Schlumberger. Diesem Aufruf zur „union des Français“ entgegnen am 25.3. Alain, A. Breton, J. Giono und V. Margueritte mit dem „Refus de penser en chœur“, der u.a. in den Feuilles libres de la Quinzaine publiziert wird. In dieser Ausgabe erscheint auch ein u.a. von S. Weil, L. Émery, Jeanne und Michel Alexandre und Madeleine Vernet unterzeichneter Aufruf zur Unterstützung der Appeasementpolitik Veröffentlichung von Au château d’Argol, roman von Julien Gracq Artikel von Franz Werfel in Paneuropa unter dem Titel „Betrachtung über den Krieg von morgen“ April 1938 Konferenz im Théâtre de la Renaissance (Paris) über Österreich, organisiert vom Bund Revolutionärer Schriftsteller und Künstler (AEAR). Beiträge von Heinrich Mann, Rosamund Lehmann, Emil Ludwig, Joseph Roth und Louis Aragon, der sie im Mai in der Zeitschrift Commune u.a. mit einem Gedicht Paul Éluards abdruckt (4.4.) Jean Giono vollendet den im selben Jahr erscheinenden Essayband Le poids du ciel (Ostern 1938) Édouard Daladier löst Léon Blum im Amt des französischen Präsidenten ab und bildet sein Kabinett. Daladier behält das Verteidigungsministerium, Georges Bonnet wird Außenminister (10.4.) Ein Plebiszit legitimiert den ‚Anschluß’ Österreichs an das Deutsche Reich (10.4.) Daladier wird von der Chambre das Vertrauen ausgesprochen (12.4.) Januar 1938 bis September 1940 285 Gründung des „Accueil Français aux Autrichiens“ unter dem Vorsitz von François Mauriac (Mitte April) François Mauriac publiziert in Candide vom 14.4. bis zum 7.7. den Roman Mamôna, der 1939 unter dem definitiven Titel Les Chemins de la mer erscheinen wird Die rechtsradikale Zeitschrift Je suis partout veröffentlicht eine Sondernummer mit dem Titel „Les juifs“. Herausgeber ist Lucien Rebatet (15.4.) Gründung des „Freien Künstlerbundes“ in Paris; Ehrenvorsitzender ist Oskar Kokoschka (20.4.) Konrad Henlein, der Führer der Sudetendeutschen, stellt im Auftrag Hitlers ein Programm mit Autonomieforderungen an die tschechoslowakische Regierung vor (24.4.) Heinrich Mann publiziert in der Zeitung La Dépêche (Toulouse) den Artikel „Une conquête“ (später als „Eine Eroberung“ in die Essaysammlung Mut aufgenommen), eine Reaktion auf den ‚Anschluß’ Österreichs. H. Mann betont die Kurzlebigkeit der Eroberungen des deutschen Reichs und seine militärische Verwundbarkeit (28.4.) Auf einer Konferenz in London erklären der französische Ministerpräsident Daladier und der britische Ministerpräsident Chamberlain, daß die tschechoslowakische Regierung den Sudetendeutschen Zugeständnisse machen müsse (29.4.) Georges Bernanos publiziert Les grands cimetières sous la lune, eine Auseinandersetzung mit dem spanischen Bürgerkrieg, in der die Brutalität der falangistischen Truppen Francos angeprangert wird, die Bernanos 1936 auf Mallorca persönlich miterlebt hatte „Solidarité“: Gedicht von Paul Éluard mit Gravuren u.a. von Picasso und Miró, zugunsten der republikanischen Kämpfer in Spanien Mai 1938 Tschechoslowakische Teilmobilisierung nach deutschen Truppenbewegungen an der Grenze. Ribbentrop dementiert den Truppenaufmarsch, als Frankreich, Großbritannien und Polen protestieren Die Deutsche Volks-Zeitung (Paris-Prag-Kopenhagen) veröffentlicht den Artikel „Ihr alle! “ Heinrich Manns, einen Aufruf an alle Deutschen, den Freiheitskampf voranzutreiben (1.5.) Der Herausgeber der Weltbühne und Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky stirbt während seiner Gefangenschaft in einem Berliner Sanatorium (4.5.) „Fünf Jahre Scheiterhaufen“: Deutsch-französische Kundgebung zum Jahrestag der Bücherverbrennung (veranstaltet vom Zeittafel 286 SDS); Redner: André Wurmser (9.5.) Ossietzky-Kundgebung am Jahrestag der Bücherverbrennung (SDS); Redner: A. Wurmser, J. Roth, M. Georg, E. E. Kisch, B. Frei (10.5.) Heinrich Mann publiziert in Die neue Weltbühne (Prag-Zürich- Paris) den Artikel „Der lebende Tote“ (12.5.), einen Nachruf auf Ossietzky Vortrag: „Die deutsche Emigration vor 100 Jahren“ (SDS) (18.5.) „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ von Bertolt Brecht feiert in Paris (Salle d’Iéna) Premiere; gegeben daraus wird der Zyklus 99 Prozent (21.5.) Teilmobilisierung der tschechoslowakischen Streitkräfte (21.5.) Deutsch-französische Goethe-Kundgebung mit Edmond Vermeil und Ludwig Marcuse (30.5.) Paul Morand publiziert den Essayband L’heure qu’il est Juni 1938 Ödön von Horváth wird auf den Pariser Champs Elysées von einem herabfallenden Ast erschlagen (1.6.). Sein Roman Ein Kind unserer Zeit stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Erscheinen Ignazio Silone: Die Schule der Diktatoren (Vorabdruck eines Auszugs in der Mai-/ Juniausgabe von Mass und Wert) Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Paris (19.6.) Das Juniheft der Zeitschrift Esprit ist der aktuellen internationalen politischen Situation gewidmet Bildung der „Union des Amis de l’Autriche“ Denis de Rougemont vollendet die im März begonnene Studie L’Amour et l’Occident (erscheint 1939) Juli 1938 Georges Bataille veröffentlicht „L’apprenti sorcier“ in der Nouvelle Revue française (Juliausgabe) Paul Valéry veröffentlicht Variétés IV Jean-Paul Sartre beginnt mit der Arbeit am Roman Lucifer, der sieben Jahre später unter dem Titel Les chemins de la liberté erscheinen wird Georges Bernanos emigriert nach Paraguay und von dort aus nach Brasilien (Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1945) „Conférence extraordinaire de l’Association internationale des écrivains pour la défense de la culture“ in Paris; den Vorsitz hat Theodore Dreiser, Redner sind R. Leonhard, A. Seghers, E. Toller (25.7.) Januar 1938 bis September 1940 287 August 1938 Eröffnung eines deutschen Theaters in Paris (im Théâtre de l’Humour, Montmartre). Aufführung von Ibsen: Gespenster (13.8.) Heinrich Mann vollendet in Nizza das Manuskript von Die Vollendung des Königs Henri Quatre (Mitte August) Der französische General Vuillemin, chef d’état-major général der Luftstreiftkräfte, besucht Deutschland, wird von Hitler und Göring empfangen und ist bestürzt über die Kriegsmaschinerie der deutschen Luftwaffe (16. bis 21.8.) Rede Daladiers „Il faut mettre la France au travail“; Aufweichung des Gesetzes, das die 40-Stunden-Woche in Frankreich vorschreibt Beginn der Gespräche zwischen dem tschechischen Präsidenten Bene und der Partei der Sudetendeutschen (28.8.) André Gide beginnt Ende des Monats mit der Arbeit an Et nunc manet in te September 1938 Am 4.9. vollendet Thomas Mann den Aufsatz „Bruder Hitler“. Er emigriert von der Schweiz aus über Paris in die USA. Beginn der Schiffsreise am 17.9. in Boulogne, Ankunft in New York am 25.9. Seit Ende August ist die internationale diplomatische Lage sehr angespannt; verschiedene Gespräche zwischen der englischen Seite (Henderson, Lord Runciman, Chamberlain), Hitler und seiner Diplomatie (darunter die Vertreter der Sudentendeutschen) sowie der Regierung der Tschechoslowakei (Milan Hodza, Edvard Bene ) Am 8.9. erregt ein Artikel in der Londoner Times internationales Aufsehen. In ihm wird angekündigt, England werde Deutschland das Sudetenland überlassen. Das Foreign Office dementiert die Nachricht Vom Ende des Nürnberger Kongresses an (Hitlers Rede am 12.9.) überschlagen sich die Ereignisse. Der englische Premier Chamberlain fliegt am 16.9. nach Berchtesgarden zu einer persönlichen Unterredung mit Hitler, um zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zu kommen. Die französische Diplomatie (Daladier, Bonnet) berät sich mit Chamberlain. Die Koalition beschließt, Druck auf die Tschechoslowakei auszuüben, die deutschen Forderungen der Abtretung des Sudetenlandes zu akzeptieren. Diese weigert sich Öffentliche Kontroverse nach einem Telegramm Romain Rollands, Paul Langevins und Francis Jourdans an den Ministerpräsidenten Daladier mit dem Inhalt: „Nous sommes convaincus nous faire interprètes tous défenseurs de la paix dangereu- Zeittafel 288 sement menacée, en demandant aux gouvernements français et anglais obtenir immédiatement accord puissances démocratiques pour empêcher par union étroite et mesures énergiques attentat perpétré par Hitler contre indépendance et intégrité Tchécoslovaquie et par conséquent paix européenne“ (Anfang des Monats). Alain, Jean Giono und Victor Margueritte, die als radikalpazifistische Verteidiger des Abkommens auftreten, schicken ein Gegentelegramm an Daladier. Die französische Linke ist angesichts der Appeasementpolitik gespalten Versammlung zur Wiederbelebung der Volksfront mit Vertretern der deutschen Opposition, darunter Heinrich Mann (20.9.) Solidaritätserklärung des SDS an die tschechoslowakischen Dichter (22.9.) Franz Werfel schreibt im südfranzösischen Sanary-sur-Mer, wohin er im Juli 1938 emigriert war, den Roman Cella oder die Überwinder. Als Beginn einer Trilogie geplant, bleibt das Werk Fragment September 1938 (Ende) Die europäische Krise spitzt sich zu. Am 25.9. beginnt Frankreich, seine Reservisten zu mobilisieren. In der Nacht vom 28.9. ruft der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt Hitler dazu auf, an einer internationalen Friedenskonferenz teilzunehmen Nach seinem Aufenthalt in Mexiko (Treffen mit Trotzki im Juli 1938), gründet André Breton in Paris die Fédération internationale de l’art révolutionnaire indépendant. Paul Éluard, der sich den Kommunisten angenähert hatte, kritisiert das Unternehmen. Es kommt daraufhin zum Bruch zwischen beiden. Die surrealistische Gruppe publiziert am 27.9. einen Trakt unter dem Titel „Ni de votre guerre Ni de votre paix! “ und situiert sich damit auf Seiten der anti-stalinistischen, anti-nazistischen und revolutionären Linken Stellvertretend für die französische Öffentlichkeit ist ein vom Syndicat national des instituteurs und dem Syndicat national des agents des PTT verfaßter Aufruf. Er trägt den Titel „Nous ne voulons pas la guerre“, erklärt seine Zustimmung zur Appeasementpolitik und ruft dazu auf, weiter den Verhandlungsweg mit Hitler zu suchen. Der Aufruf erhält in den folgenden Tagen 150.000 Unterschriften, darunter die von Alain und Jean Giono Die Tageszeitung Ce soir veröffentlicht in ihrer Ausgabe vom 30.9. einen Artikel Franz Werfels unter dem Titel: „Bohême, mon pays“. Er klagt Hitlers Weltmachtpolitik an und bringt vor, daß sich diese auch gegen die großen europäischen Nationen wie Frankreich richte Januar 1938 bis September 1940 289 In der Nacht zum 30.9. unterzeichnen Chamberlain, Daladier, Hitler und Mussolini das Münchener Abkommen, das die Zerschlagung der 1918 gegründeten Tschechoslowakei vorsieht. Vertreter der Tschechoslowakei sind nicht eingeladen worden Daladier kommentiert das Münchener Abkommen u.a. mit den Worten: „Grâce à la haute compréhension des représentants des grandes puissances occidentales, la guerre a été évitée, et une paix honorable assurée à tous les peuples“ (zitiert nach Ce Soir vom 1.10.) Das Münchener Abkommen wird von weiten Teilen der französischen Bevölkerung mit Erleichterung zur Kenntnis genommen Louis Aragon kritisiert in Ce soir - darin repräsentativ für die kommunistische Partei Frankreichs (PCF) - das Abkommen mit den Worten: „La France vient de subir une dévaluation morale qui coûtera plus cher encore que les dévaluations monétaires“ Die französische Rechte und extreme Rechte orchestrieren in ihren Publikationsorganen (Candide, Je Suis Partout, L’Action française, Le Matin) eine ‚pazifistische‘ Kampagne, die das Abkommen bejubelt. Emmanuel Mounier wird in der Oktoberausgabe der Zeitschrift Esprit kritisch anmerken: „On ne comprendra rien au comportement de cette fraction de la bourgeoisie, si on ne l’entend murmurer à mi-voix: plutôt Hitler que Blum! “ Die deutschen Exilanten, in Frankreich und anderswo, reagieren entsetzt auf die Nachricht vom Münchener Abkommen. Bekannt ist etwa die Stellungnahme, die Thomas Mann im Oktober unter dem Titel „This peace“ publiziert Oktober 1938 Die Wehrmacht marschiert in das Sudetengebiet ein. Beginn der Auflösung der Tschechoslowakei (1.10.) Friedrich Wolf liest aus dem Roman Zwei von der Grenze (SDS) (2.10.) Frankreich ratifiziert das Münchener Abkommen. 535 Deputierte stimmen dafür, 73 kommunistische Deputierte sowie der Nationalist Henri de Kérillis und der Sozialist Jean Bouhey dagegen (4.10.) Rücktritt und Emigration von Bene (5.10.) Rede von Maurice Thorez - dem Generalsekretär des PCF - vor der assemblée d’information du Vel’d’hiv’: „Après la trahison de Munich“ (Ende des Monats bei den Éditions sociales internationales publiziert) (7.10.) Die erste Nummer der Zukunft von Willi Münzenberg erscheint Zeittafel 290 am 12.10. (bis 11.5.1940 wöchentlich) Erste Aufführung von Roger Richebé: Prisons des femmes (nach einer Reportage von Francis Carco) (Paris, 13.10.) Romain Rolland, anfangs noch erleichtert vom Ausgang der Münchener Konferenz, schreibt in L’Humanité vom 14.10.: „La ‚Paix‘ de Munich est une capitulation dégradante“. Rolland schließt das Theaterstück Robespierre ab (das Vorwort ist auf den 26.10. datiert). Ende 1938 publiziert er Valmy (bei den Éditions sociales internationales) Heinrich Mann veröffentlicht in La Dépeche (Toulouse) den Artikel „Cette paix“ (14.10.), den er unter dem Titel „München“ in die Essaysammlung Mut aufnehmen wird. Darin behauptet er, das deutsche Reich hätte die Tschechoslowakei nicht aus eigener Kraft erobern können und wäre ins Verderben gelaufen, hätte das zivilisierte Europa keine Zugeständnisse gemacht Denis de Rougemont publiziert den im Sommer geschriebenen Journal d’Allemagne mit einem Nachwort zum Münchener Abkommen Erscheinen der Histoire secrète de la capitulation de Munich von Alfred Fabre-Luce Veröffentlichung von Thomas Manns Essaysammlung Achtung, Europa! im Bermann-Fischer-Verlag Stockholm Jean Giono publiziert den Essayband Le poids du ciel Alfred Döblin veröffentlicht in Paris Die deutsche Literatur. Ein Dialog zwischen Politik und Kunst Das Oktoberheft der Zeitschrift Esprit ist dem Münchener Abkommen gewidmet. Der Herausgeber, Emmanuel Mounier, betitelt sein Editorial mit „Lendemains d’une trahison“ Elsa Triolet publiziert den Roman Bonsoir, Thérèse (27.10.) Gründung des Deutschen Kulturkartells in Paris November 1938 Paul Reynaud wird zum französischen Finanzminister ernannt (1.11.) Georges Bataille publiziert die „Déclaration du Collège de Sociologie sur la crise internationale“ in der Novemberausgabe der NRF. Der Germanist und Exilant Hans Mayer erinnert sich in Ein Deutscher auf Widerruf an diese Erklärung, die ihn dazu brachte, Kontakt mit Caillois, Bataille und dem Collège de Sociologie aufzunehmen. Aus diesem Kontakt rührt Mayers Vortrag im April 1939 über die deutschen Geheimgesellschaften im 19. Jahrhundert Deutsche Kulturwoche in Paris; Eröffnung der Ausstellung „Freie Deutsche Kunst“ in der Maison de la Culture, rue Januar 1938 bis September 1940 291 d’Anjou, u.a. mit Aragon, Cassou, Durtain, Masereel, Paulhan, Bredel, Feuchtwanger, Kisch, Regler, Roth, Seghers (4.11. bis 19.11.) Publikation von Ignazio Silones Die Schule der Diktatoren in deutscher Sprache Ein polnischer Jude namens Herschel Grynszpan erschießt am 7.11. in der Rue de Lille (Paris) den Legationsrat Ernst vom Rath. Bis zum 10.11. finden daraufhin in Deutschland staatlich organisierte Judenpogrome statt (‚Reichskristallnacht’) Georges Duhamel publiziert am 9.11. im Figaro den Artikel „Du Sedan diplomatique au Sedan intellectuel“. Dieser und weitere Aufsätze Duhamels aus dieser Zeit erscheinen im Januar 1939 unter dem Titel Mémorial de la guerre blanche Ein Gesetz ermöglicht es den französischen Einwanderungsbehörden, Lager für unerwünschte Emigranten einzurichten (12.11.) Uraufführung von Jean Cocteaus Les Parents Terribles in den Pariser Ambassadeurs (14.11.) Deutsch-französische Kundgebung für die freie deutsche Literatur (SDS). Teilnehmer sind Aragon, Bergamín, Bredel, Feuchtwanger, Crémieux, Cassou, Paulhan, Frank, Weiskopf und Werfel (14.11.) Roger Caillois: „L’ambiguïté du sacré“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 15.11.) Lion Feuchtwanger liest aus Exil (SDS) (18.11.) Roger Martin du Gard inszeniert an der Comédie-Française in Paris das Theaterstück Le Père Leleu (Premiere am 21.11.) Vom Stadtrat als skandalös bewertet, zieht es in die Bouffes Parisiens um und wird eines der Erfolgsstücke des Jahres 1939 Publikation von Célines L’école des cadavres (24.11.) Jean Giono beginnt die Arbeit an Deux cavaliers de l’orage (bis Juni 1939 wird er vier Kapitel verfassen) (24.11.) Hermann Kesten liest auf einer Veranstaltung des Bund Freie Presse und Literatur in Paris aus seinem Roman Die Kinder von Gernika (25.11.) Die in Paris erscheinende Zeitschrift Die Zukunft druckt den Beitrag „An Mr. Winston Churchill“ Heinrich Manns (25.11.) (wird später in den Essayband Mut aufgenommen) Denis de Rougemont: „Arts d’aimer et arts militaires“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 29.11.) Henry de Montherlants Essayband Équinoxe de septembre, eine kritische Auseinandersetzung u.a. mit dem Münchener Zeittafel 292 Abkommen, erscheint im November 1938 Der Streik, den die CGT für den 30.11. angesichts der von der Regierung Daladier im August dekretierten Erhöhung der Arbeitsstunden in der Rüstungsindustrie ausruft - eine Erhöhung, die seitdem zu heftigen Kontroversen geführt hatte -, scheitert an der Intervention von Polizei und Militär Im Querido Verlag Amsterdam erscheint Die Vollendung des Königs Henri Quatre von Heinrich Mann. Zwei weitere deutschsprachige Ausgaben erscheinen gleichzeitig in Kiev und New York/ Toronto (Anfang 1939 wird eine in London erscheinende englische Übersetzung des Romans folgen) Jean Giono veröffentlicht die Lettres aux paysans sur la pauvreté et la paix (Vivre libre I) Dezember 1938 Heinrich Mann publiziert in Die neue Weltbühne den Artikel „Die Warnung“ (1.12.), in dem er die europäische Situation analysiert. Er hofft, daß sich die Demokratien trotz einiger Verräter und der faschistischen besitzenden Klasse gegen die Diktaturen wehren werden (wird in Mut aufgenommen) Romain Rolland schreibt in einem Brief vom 5.12. an die Union mondiale de la Culture juive zur ‚Kristallnacht’: „O grande Allemagne, que j’ai aimée - que j’aime encore - je sais que tes fils les meilleurs, les milliers de braves gens, terrorisés, sont écrasés de honte par les forfaits de ces déments et de ces criminels de droit commun, qui se sont emparés de ton gouvernement“ (abgedruckt in der Zeitschrift Commune, Januar 1939) Georges Bonnet und, im Auftrag Hitlers, Ribbentrop, unterzeichnen öffentlich in Paris die „Déclaration franco-allemande“. In ihr sprechen sich beide Seiten für friedliche Beziehungen beider Staaten aus. Hitler erkennt die französischen Grenzen an. In der Sowjetunion wird der Vertrag inoffiziell als Gefährdung für die eigene Sicherheit verstanden (6.12.) Paul Nizan erhält den Prix Interallié für seinen kurz zuvor publizierten Roman La Conspiration (6.12.). Am Tag darauf erhält Henri Troyat den Prix Goncourt für L’Araigne Uraufführung von Henry Montherlants Drama Pasiphaé am Théâtre Pigalle (6.12.) Georges Bataille: „La structure des démocraties et la crise de septembre 1938“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 13.12.) Die Zeitschrift Commune widmet ein Themenheft der tschechoslowakischen Literatur. Prominent darin vertreten ist der Autor Karel Capek, für den u.a. Aragon 1938 den Nobelpreis verlangt hatte In der Dezemberausgabe der Zeitschrift Esprit konstatiert Januar 1938 bis September 1940 293 Emmanuel Mounier für Frankreich eine „situation préfasciste“ Gründung der Zeitschrift Les Volontaires seitens der Union des intellectuels français von Philippe Lamour, Léon Pierre-Quint und Renaud de Jouvenel. Ziel ist die Bekämpfung des Geistes von ‚München’ In der Salle Iéna in Paris wird in Erinnerung an den Autor Ödön von Horváths letztes Schauspiel Glaube, Liebe, Hoffnung ein kleiner Totentanz in fünf Bildern gegeben (in der Inszenierung von Alwin Kronacher) Gründung der „Ligue de l’Autriche vivante“ (u.a. mit Franz Werfel und Joseph Roth) Marcel Carnés L’Hôtel du Nord kommt in die französischen Kinos (19.12) Gründung der „Éditions du 10 mai“ (24.12.) Joseph Roths Roman Die Kapuzinergruft erscheint in den letzten Dezembertagen 1938 im holländischen Verlag De Gemeenschap Paul Éluards und Louis Parrots Übersetzung der „Ode à Salvador Dali“ Federico Garcia Lorcas (31.12.) Januar 1939 Der von Hitler geforderte ‚Anschluß’ Danzigs an das deutsche Reich wird von Polen abgelehnt (6.1.) Nathalie Sarraute: Tropismes (bei Denoël publiziert) Joseph Roth veröffentlicht Die Geschichte von der 1002. Nacht. Vom 15.2 bis 1.5 erscheint seine Artikelserie Schwarz-Gelbes Tagebuch in Die Österreichische Post Gründung der „Liga für das geistige Österreich“ (Franz Werfel, Joseph Roth u.a.) Jean-Richard Bloch: „Réponse d’un pacifique à un soi-disant pacifiste“, in: Commune (Januar 1939) Paul Valéry veröffentlicht Variétés IV (erscheint Anfang 1939) Jean Giono publiziert im Januar 1939 den Essayband Précisions (Vivre libre II), der seine radikalpazifistische Position als Befürworter des Münchener Abkommens dokumentiert Autorenlesung mit Franz Werfel in Paris (SDS, Cercle Autrichien) Dem Dekret vom 12.11.38 entsprechend, eröffnet Frankreich in Rieucros (Ariège) das erste Lager für unerwünschte Ausländer (21.1.) Georges Bataille: „Hitler et l’ordre teutonique“ (Vortrag am Collège de sociologie, 24.1.) Fall Barcelonas im Spanischen Bürgerkrieg (26.1.) Zeittafel 294 Februar 1939 Ende Januar, Anfang Februar: Eine halbe Million spanischer Flüchtlinge kommt über die französische Grenze. Die Angehörigen der Internationalen Brigaden, darunter 600 Deutsche, werden im Lager Gurs interniert Auf einer Konferenz in Paris fordert das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) (W. Pieck, W. Ulbricht, F. Dahlem) die Bildung einer Volksfront gegen das NS-Regime (1.2.) Februar 1939: Themenheft der Zeitschrift Commune (Herausgeber: Louis Aragon, Romain Rolland) über die deutsche Kultur seit der Renaissance, u.a. mit Texten aus Heinrich Manns Henri Quatre, Thomas Manns Lotte in Weimar, Heines und Brechts Schriften sowie einem Auszug aus Feuchtwangers Exil. Das Editorial Aragons beruft sich auf die Erbschaft des deutschen Humanismus und diagnostiziert drei Monate nach dem Abkommen einen Meinungsumschwung in der französischen Öffentlichkeit gegen ‚München’: „La recrudescence des persécutions antisémites en Allemagne et les incroyables exigences du fascisme italien encouragé par Munich ont précipité l’évolution de l’opinion française. En janvier 1939, il est permis de dire que les Français ont compris“ Tod von Papst Pius XI. (10.2.) Parallel zum Erscheinen des Februarhefts von Commune findet eine „Hommage à l’Humanisme allemand“ in der Maison de la Culture statt (P. Nizan, L. Aragon, H. Lefevbre, A. Döblin, H. Kesten, A. Seghers, G. Regler, W. Bredel, E. E. Kisch) (16.2.) Die Zeitschrift Je suis partout veröffentlicht eine Sondernummer mit dem Thema „Les juifs et la France“; Herausgeber ist - wie schon bei der Ausgabe vom April 1938 - Lucien Rebatet (17.2.) Die Deutsche Volks-Zeitung publiziert den Beitrag „Mut! “ (19.2) Heinrich Manns, der als Vorwort des wahrscheinlich im gleichen Monat erschienenen Essaybandes Mut dient, einer Sammlung zeitpolitischer Artikel H. Manns zwischen 1936 und der Gegenwart Filmvorführung von Friedrich Wolfs Professor Mamlock Jean-Paul Sartre publiziert Le Mur. Simone de Beauvoir datiert in ihrer Autobiographie La force de l’âge Sartres erste Heidegger-Lektüren auf Anfang 1939 Sartre polemisiert in der Nouvelle Revue française gegen François Mauriac, der darauf mit dem in den ersten Wochen der Occupation geschriebenen Roman La Pharisienne (1941) antworten wird Mauriac verfaßt Ende Februar 1939 unter dem Eindruck der Niederlage der spanischen Republikaner und des Todes von Januar 1938 bis September 1940 295 Pius XI. den Essayband Les maisons fugitives, eine Meditation über seinen politischen und religiösen Werdegang (der Band wird Ende des Jahres publiziert) Franz Werfel publiziert im Februar 1939 in den Österreichischen Nachrichten (Paris) den Artikel „Von der Bestialität durch die Nationalität zur Humanität“ Klaus Mann schließt die Arbeiten an seinem Roman Der Vulkan ab Roger Martin du Gard schließt die Arbeiten an seinem Roman Épilogue ab (erscheint im Januar 1940) Romain Rolland beteiligt sich im Februar 1939 anläßlich des 70. Geburtstags von M. Gandhi an einem Glückwunschbuch, für das er schreibt: „La doctrine de Nonviolence demande, pour être appliquée à la politique, un climat moral très différent de celui qui règne dans l’Europe d’aujourd’hui“ Flucht Manuel Azañas, des republikanischen Präsidenten Spaniens, nach Frankreich nach dem Verlust Kataloniens an die Franco-Truppen März 1939 Eugenio Pacelli wird unter dem Namen Pius XII. neuer Papst (2.3.) Stalin erklärt die faschistischen Staaten zu Aggressoren im Krieg um die Aufteilung der Welt und verurteilt die Kompromißpolitik des Westens (10.3.) Die Wehrmacht besetzt Prag. Am nächsten Tag wird das „Reichsprotektorat Böhmen-Mähren“ ausgerufen (15.3.-16.3.) Joseph Roth verfaßt Die Legende vom heiligen Trinker, seine letzte größere Arbeit (postum publiziert) (Februar-März) Chamberlain kündigt das Ende der Appeasementpolitik gegenüber Hitler an (17.3.). Er garantiert Rumänien den Beistand (19.3.) Frankreich beruft seinen Botschafter aus Berlin ab (20.3.) Paul Nizan publiziert die Chronique de septembre, eine Analyse des Münchener Abkommens bzw. den - wie er in der Einleitung schreibt - „récit des événements diplomatiques, en particulier de ceux qui concernent spécialement la France et la Grande-Bretagne […]“ (20.3.) Hitler erzwingt die Herausgabe des Memelgebietes von Litauen (23.3.) Frankreich und Großbritannien einigen sich auf gemeinsamen Widerstand gegen jede weitere Aggressionspolitik des Deutschen Reichs (24.3.) Thomas Mann publiziert in Das Neue-Tage-Buch den Beitrag Zeittafel 296 „Bruder Hitler“, den er Anfang September 1938 fertiggestellt hatte, der aber aufgrund der gespannten Lage nach dem Münchener Abkommen nicht in Schweden bei Bermann-Fischer erscheinen konnte (25.3.) (Erstveröffentlichung in englischer Sprache am 3. März) Bildung des Aktionsausschusses deutscher Oppositioneller unter dem Vorsitz von Heinrich Mann Die letzte Nummer der Zeitschrift „Das Wort“ erscheint Anna Seghers ist im März 1938 mit der Arbeit an ihrem im Pariser Exil entstandenen Roman Das siebte Kreuz so weit fortgeschritten, daß Vereinbarungen über einen Vorabdruck getroffen werden können. Die ersten Kapitel erscheinen in der Folge in der Zeitschrift „Internationale Literatur“ (Moskau), bis der sog. ‚Hitler-Stalin-Pakt’ eine Fortsetzung verhindert. Im Dezember 1939 endgültig fertiggestellt, wird der Roman dann erstmals im Herbst 1942 in den USA in englischer Sprache erscheinen Ludwig Marcuse verläßt Frankreich (Ankunft in New York am 8.4.) Pierre Herbart publiziert bei Gallimard den Roman Le Chancre du Niger, mit einem Vorwort von André Gide Chamberlain garantiert Polen den Beistand im Falle einer deutschen Aggression (31.3.) April 1939 Nachdem seine Truppen Madrid besetzt haben, erklärt Franco das Ende des Spanischen Bürgerkriegs. Beginn der Franco- Diktatur (1.4.) Italien überfällt und annektiert am 7.-8. April Albanien US-Präsident Roosevelt fordert von Hitler und Mussolini Nichtangriffsgarantien für 31 europäische Staaten Chamberlain garantiert Griechenland den Beistand Englands (13.4.) Publikation von Klaus und Erika Manns Escape to Life, das auch Rückblicke auf das französische Exil enthält (erscheint in Boston, Mass., am 14.4.) Hans Mayer: „Les rites des associations politiques dans l’Allemagne romantique“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 18.4.) Jean Cocteau vollendet im Périgord „La Fin du Potomak“. Er schreibt weiterhin an „Les Monstres Sacrés“ Der freiwillig ins brasilianische Exil gegangene Georges Bernanos publiziert Scandale de la vérité. Der Essay wird zu einer der bekanntesten Polemiken gegen die Dritte Republik und die Januar 1938 bis September 1940 297 sog. ‚droite munichoise’ (25.4.) Am 28.4. hält Hitler eine Rede, in der er die Annexion Danzigs fordert. Gleichzeitig kündigt er den Nichtangriffspakt mit Polen und das Flottenbegrenzungsabkommen mit Großbritannien auf Mai 1939 Publikation von Le mal d’enfance von Joë Bousquet Roger Caillois: „La fête“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 2.5.) Daladier schreibt am 4.5. in einem Brief an Hitler: „Non au prétendu espace vital“ (Nein zum angeblichen Lebensraum! ) Uraufführung von Jean Giraudoux’ Theaterstück Ondine im Théâtre de l’Athénée (4.5.) Molotow wird sowjetischer Außenminister Am 6.5. erscheint Paul Éluards Gedichtsammlung Chanson complète, die zum Großteil Gedichte des Jahres 1938 beinhaltet André Gide publiziert den Journal 1889-1939 Léon-Paul Fargue veröffentlicht Le piéton de Paris Heinrich Mann publiziert die Essaysammlung Mut Vortrag von Walter Benjamin in Pontigny: „Notes sur les Tableaux parisiens de Baudelaire“ Jean Paulhan: „Le langage sacré“ (Vortrag am Collège de sociologie, 16.5.) Frankreich schließt mit Polen einen geheimen Beistandspakt ab (19.5.) ‚Stahlpakt’ zwischen Deutschland und Italien (22.5.) Großbritannien und Frankreich bieten der Sowjetunion erstmals einen Pakt gegen Hitler an (26.5.) Tod Joseph Roths in Paris (27.5.) Juni 1939 Jacques Decour, Germanist und Chefredakteur von Commune, beginnt seine Rezension von Edmond Vermeils Henri Heine, ses vues sur les révolutions européennes im Juniheft mit den Worten: „La littérature allemande est en exil“ Publikation von Paul Éluards Gedichtband Donner à voir (3.6.) Publikation von Michel Leiris’ L’âge d’homme Im Frühsommer 1939 erscheint Klaus Manns Roman Der Vulkan - eine Reaktion auf die Appeasementpolitik und das Münchener Abkommen - bei Querido in Amsterdam Franz Werfel schreibt zwischen Mai und Juni 1939 Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd (ursprünglich: Der gestohlene Himmel), einen Zeitroman, der noch im gleichen Jahr in Amsterdam produziert und in Stockholm veröffentlicht wird Zeittafel 298 Romain Rolland beginnt im Juni 1939 mit der Verschriftlichung seiner Memoiren Georges Bataille: „La menace de guerre“ (publiziert in: Acéphale) Juli 1939 Georges Bataille/ Roger Caillois/ Michel Leiris: „Le Collège de Sociologie“ (Vortrag am Collège de Sociologie, 4.7.) Gabriel Péri schreibt in der Humanité vom 8.7.: „Le bacille de Munich n’a pas perdu de sa virulence“. Einige Wochen später wird Péri es ablehnen, an gleicher Stelle den ‚Hitler-Stalin-Pakt’ zu kommentieren In Großbritannien rücken die ersten 30.000 Wehrpflichtigen ein (15.7.) Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion einigen sich auf einen Beistandspakt, der auch für die baltischen Staaten gilt (24.7.) Emmanuel Mounier u.a. fordern in der Juliausgabe der Zeitschrift Commune: „Nous n’avons plus à déplorer ou à entériner Munich, mais à sauver Varsovie, Zagreb, Bucarest, Athènes, l’Europe.“ Gleichzeitig kritisiert die radikalpazifistische Zeitschrift Vigilance die „lente fascisation et militarisation du pays“ Otto Abetz, zukünftiger deutscher Botschafter in Paris, wird von Frankreich zur persona non grata erklärt Jean Giraudoux wird zum Generalkommissar für das Nachrichtenwesen ernannt. Er publiziert Pleins Pouvoirs, ein Werk, in dem er sich mit den Folgen des Münchener Abkommens auseinandersetzt: „La crise est venue. Munich nous a montré, une fois pour toutes, que la force de la France ne devait plus lui venir de la faiblesse de ses adversaires“ Private Filmvorführung von André Malraux’ Sierra de Teruel im Kino „Le Paris“ auf den Champs Élysées (in Anwesenheit der spanischen Exilregierung). Diese Verfilmung des Bürgerkriegsromans L’Espoir sollte den Zweck haben, die westlichen Demokratien von ihrer Nichtinterventionspolitik im spanischen Bürgerkrieg abzubringen. Im Mai fertiggestellt, wird Sierra de Teruel nach Kriegsausbruch von der französischen Zensur verboten Ende des Monats: Walter Benjamin beendet in Paris seine Baudelaire-Arbeiten. Er hatte im Sommer/ Herbst 1938 „Das Paris des Second Empire“ verfaßt und an Adorno und Horkheimer nach New York geschickt. Nach Anregungen Adornos nahm er im Februar 1939 die Arbeit neu auf, worauf er im Juli 1939 den Artikel „Über einige Motive bei Baudelaire“ fertigstellte (dieser erschien im Januar 1940 in der Zeitschrift für Sozialforschung) Januar 1938 bis September 1940 299 August 1939 Albert Einstein warnt US-Präsident Roosevelt vor dem Bau einer Atombombe durch die Deutschen (2.8.) Zuspitzung der Danzig-Krise Ribbentrop erklärt seinem italienischen Amtskollegen, daß der Krieg gegen Polen unvermeidlich sei (13.8.) Handelsabkommen der Sowjetunion mit dem Deutschen Reich (19.8.) Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion (‚Hitler-Stalin-Pakt’), der in einem geheimen Zusatzabkommen die Interessegebiete in Osteuropa aufteilt (23.8.) Louis Aragon begrüßt in Ce soir den Nichtangriffspakt in einem Editorial mit dem Titel „Vive la paix! “. Robert Brasillach schreibt daraufhin in Je suis partout vom 25.8.: „S’il y avait un gouvernement, monsieur Aragon aurait été fusillé mercredi matin“. Aragon flüchtet in die Botschaft Chiles, wo er seinen Roman Les voyageurs de l’Impériale vollendet Großbritannien und Polen schließen einen Beistandspakt gegen einen möglichen deutschen Angriff (25.8.) Um den Krieg noch zu verhindern, rufen Roosevelt, Daladier und Papst Pius XII. zum Frieden und zu deutsch-polnischen Verhandlungen auf (26.8.) Repräsentativ für die französische Rechte spricht Alfred Fabre- Luce in Politique étrangère davon, Frankreich solle sich, um den Krieg zu vermeiden, mit Deutschland auf eine Aufteilung von Interessengebieten einigen Ende des Monats werden Ce soir und 158 weitere kommunistische Publikationsorgane von der Regierung Daladier verboten Romain Rolland verläßt die Société des amis de l’URSS und ruft zu ihrer Auflösung auf Im „Manifeste de l’Union des intellectuels français“, das am 30.8. in L’Œuvre erscheint, verleihen die Unterzeichner (Irène Joliot-Curie, P. Langevin, V. Basch, A. Cotton, F. Joliot, H. Laugier, A. Bayet, G. Fournier, É. Bougouin) ihrem Entsetzen über Stalins „volte-face“ Ausdruck, „qui a rapproché les dirigeants de l’URSS des dirigeants nazis, à l’heure où ceux-ci menacent, en même temps que la Pologne, l’indépendance de tous les pays libres“ Aimé Césaire publiziert eine erste Version des poetisch-politischen Manifests Cahier d’un retour au pays natal (vollständig 1947 publiziert) in der Pariser Zeitschrift Volontés Lion Feuchtwanger vollendet den Roman Exil, den dritten Teil Zeittafel 300 der Wartesaal-Trilogie, in Sanary-sur-Mer im August 1939 Ivan Goll verläßt Ende August angesichts der Kriegsgefahr Frankreich und emigriert in die USA Heinrich Mann publiziert den Essay „Die Französische Revolution und Deutschland“ September 1939 Deutscher Überfall auf Polen. Beginn des Zweiten Weltkriegs (1.9.) England und Frankreich erklären Deutschland den Krieg. Die USA, Italien und Spanien erklären sich neutral (3.9.) Winston Churchill wird in das britische Kriegskabinett berufen Die französische Regierung läßt in einer Internierungswelle etwa 20.000 deutsche Männer als feindliche Ausländer internieren (1.9. bis 8.9.) Französische Truppen rücken in das Saarland ein. Die im Beistandspakt mit Polen vereinbarten Offensiven an der deutschen Westfront bleiben jedoch aus (7.9.) Zehn Tage nach der Kriegserklärung Frankreichs an das deutsche Reich erscheint der militant-pazifistische Aufruf „Paix immédiate“ in einer Stückzahl von 100.000 Exemplaren, unterzeichnet u.a. von L. Lecoin, Alain, V. Margueritte, M. Déat, H. Poulaille, H. Jeanson, J. Giono. Er ruft zu einer sofortigen Friedensinitiative auf George Bonnet gibt das Außenministerium zugunsten Daladiers auf (13.9.) Jean-Paul Sartre beginnt mit einem Eintrag unter dem 14.9. in Marmoutier (Bas-Rhin) seine sog. Carnets de la drôle de guerre (fortgeführt bis März 1940). Er war am 2.9. mobilisiert worden Welle von Internierungen deutscher Emigranten in Frankreich. Lion Feuchtwanger und Alfred Kantorowicz kommen am 17.9. erstmals in das Lager von Les Milles (bei Aix-en-Provence) Am 17.9. dringen sowjetische Truppen gemäß eines Geheimprotokolls des Nichtangriffspakts in Polen ein Welle der Empörung über den sowjetischen Einmarsch in Polen. Paul Nizan tritt aus dem PCF aus Thomas Mann: „Das Problem der Freiheit“ (Rede in Stockholm im September 1939, dort auch noch im gleichen Jahr publiziert), eine Auseinandersetzung mit der französischen Julirevolution von 1830 und dem Saint-Simonismus Tod Sigmund Freuds in London (23.9.) Ivan Goll publiziert die Chansons de France in New York Die Regierung Daladier verbietet den PCF (26.9.) Januar 1938 bis September 1940 301 Fall Warschaus (27.9.) In Paris wird eine polnische Exilregierung gebildet, die von den Westmächten anerkannt wird (30.9.) Oktober 1939 Hitler bietet den Westmächten einen Frieden an, der die Revision des Versailler Vertrages vorsieht. Frankreich und Großbritannien lehnen dies ab (6.10.) Die französischen Truppen verlassen die von ihnen besetzten Gebiete des Saarlandes. Es bleibt zunächst beim sog. ‚Sitzkrieg’ (19.10.) Teile Polens werden dem Deutschen Reich angegliedert (26.10.) Roland Dorgelès prägt in einer im Oktober 1939 in Gringoire publizierten Reportage über seinen Besuch an den französischen Vorposten den Begriff der „drôle de guerre“: „Non, la guerre n’est pas drôle, mais c’est tout de même une drôle de guerre“ Louis Aragon verfaßt die ersten Gedichte von Le Crève-cœur. Sie werden im Dezember in der NRF publiziert. Im einzelnen handelt es sich um „Le temps des mots croisés“, „J’attends sa lettre au crépuscule“ und „Vingt ans après“ Der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, der bei Kriegsbeginn im Stade de Colombes (Paris) interniert worden war, kommt Ende Oktober in das Konzentrationslager Le Vernet am Rand der Pyrenäen. Dort verfaßt er das Schauspiel Beaumarchais, oder Die Geburt des Figaro November 1939 François Mauriac, einer der Verteidiger der apaisement-Politik Daladiers, schreibt in sein 1940 veröffentlichtes Journal zum 1.11.: „En cette nuit du 1 er novembre, les morts de la Grande Guerre ont rajeuni de vingt ans. Nous sommes revenus sur nos pas, nous les avons rejoints. Toutes ces années d’oubli n’étaient qu’un songe“ („Nuit des morts 1939“) Die östlichen Teilgebiete Polens werden der Sowjetunion angegliedert (1.11.-2.11.) Die Sowjetunion greift am 30.11. Finnland an Im „Commissariat général à l’Information“ (dessen Leiter Jean Giraudoux ist) arbeiten neben französischen Germanisten Alfred Döblin, Kurt Wolff, Paul Landsberg und Ernst Erich Noth Dezember 1939 Philippe Hériats Les enfants gâtés erhält den Prix Goncourt Publikation von Pierre Drieu la Rochelles Gilles (5.12.). Der Roman ist von der Zensur (Giraudoux) gekürzt worden und wird von Drieu erst im Jahr 1942 - als er im besetzten Frankreich Direktor der Nouvelle Revue française ist - vollständig mit einem Vorwort veröffentlicht Zeittafel 302 Hitler befiehlt die Planung für eine Eroberung Norwegens (14.12.) In der Mündung des Río de la Plata versenkt sich das dt. Panzerschiff Admiral Graf Spee nach Schlachtschäden selbst (17.12.) Georges Bernanos publiziert Nous autres Français, eine Essaysammlung, die seine Ablehnung des Münchener Abkommens erneut dokumentiert (vgl. den im April 1939 publizierten Scandale de la vérité). Das Ende des Werks ist auf den 3.6.1939 datiert Januar 1940 Erste Lieferung der Voyageurs de l’Impériale Louis Aragons in der NRF (bis Juni fortgesetzt) (2.1.) Die Notlandung eines Kurierflugzeugs in Belgien hat zur Folge, daß den Alliierten Teile der sogleich revidierten deutschen Angriffspläne an der Westfront bekannt werden (10.1.) Das französische Parlament entzieht allen kommunistischen Abgeordneten, die sich nicht von der Dritten Internationalen losgesagt haben, ihr Mandat (17.1.) Tod René Schickeles in Vence bei Nizza (31.1.) Im Januar 1940 erscheint Roger Martin du Gards Roman Épilogue (NRF), den die rechte Presse umgehend als defätistisch kritisiert. Der Autor hatte das Werk zwischen Juli 1937 und Februar 1939 verfaßt Februar 1940 Die Sowjetunion und das Deutsche Reich unterzeichnen ein Abkommen, das den Austausch kriegswichtiger Rohstoffe regelt (11.2.) Durchbruch der Roten Armee durch die finnische Verteidigungslinie Maurras, Vertreter der extremen Rechten, spricht von der einmaligen Gelegenheit, der UdSSR nach ihrem Einmarsch in Finnland den Krieg zu erklären: „Il faut sauter dessus“ (L’Action française vom 22.2.). Auch andere Vertreter der extremen Rechten, die sich Hitler gegenüber nachgiebig gezeigt haben, rufen nun zur militärischen Offensive gegen die Sowjetunion auf März 1940 Kapitulation Finnlands und Abschluß eines Friedensvertrags mit der Sowjetunion (12.3.), der den Finnen umfangreiche Gebietsabtretungen auferlegt Summer Wells, ein Abgesandter Roosevelts, reist nach Großbritannien, Frankreich und Deutschland, um über einen Friedensschluß zu verhandeln Daladier tritt zurück, sein Nachfolger wird Paul Reynaud, der bisherige Finanzminister (20.3.) In der Märzausgabe der NRF erscheinen u.a. ein Artikel Sartres Januar 1938 bis September 1940 303 über Giraudoux und der dritte Teil von Aragons Voyageurs de l’Impériale Jean-Paul Sartre: L’Imaginaire Lion Feuchtwanger: Exil (im Querido-Verlag) (März bis August) Londoner Tagung des Obersten Kriegsrates. Frankreich und Großbritannien einigen sich nicht auf eine gemeinsame Kriegsstrategie (28.3.) April 1940 In Paris werden 44 kommunistische Abgeordnete aufgrund ihres Versuchs der Neugründung der kommunistischen Partei zu Gefängnisstrafen von zwei bis fünf Jahren verurteilt (3.4.) Deutsche Truppen marschieren in Dänemark ein, das schnell kapituliert, und besetzen innerhalb kürzester Zeit große Städte in Norwegen. Die Nachricht wird in Frankreich geschockt zur Kenntnis genommen (9.4.) Walter Benjamin verfaßt „Über den Begriff der Geschichte“ Alliierte Truppen landen bei Narvik auf den norwegischen Lofoteninseln (14.4.) April-Juni: Massenfluchten vor den heranrückenden deutschen Truppen nach Südfrankreich Mai 1940 André Bretons Anthologie de l’humour noir ist druckfertig und kann erscheinen (10.5.) (aufgrund der politischen Situation wird dies nicht geschehen) Deutsche Truppen marschieren in die neutralen Länder Niederlande, Belgien und Luxemburg ein. Beginn der letztlich erfolgreichen ‚Operation Sichelschnitt’ (10.5.) Chamberlain tritt als britischer Ministerpräsident ab. Sein Nachfolger wird Winston Churchill Zweite große Welle der Internierungen deutscher Emigranten in Frankreich. Lion Feuchtwanger trifft z.B. am 21.5. zum zweiten Mal in Les Milles ein Nach den Mißerfolgen der französischen Armee wird Pétain neuer Stellvertreter von Ministerpräsident Reynaud (18.5.) Tod Paul Nizans an der Front (23.5.) Schlacht um Dünkirchen. Evakuierung von 300.000 alliierten Soldaten über den Ärmelkanal, um der Einkesselung durch die Wehrmacht zu entgehen, darunter Louis Aragon (ab 26. Mai) Frühjahr 1940: Walter Benjamin arbeitet bis kurz vor seiner Flucht aus Paris am Passagen-Werk Juni 1940 Erneut Umbildung der französischen Regierung; Charles de Gaulle wird in das Kriegsministerium berufen (5.6.) Zeittafel 304 Deutsche Truppen durchstoßen in einer Großoffensive die französischen Verteidigungslinien an der Nordwestfront (5.6.- 6.6.) Italien erklärt Großbritannien und Frankreich den Krieg (10.6.) Die französische Regierung verläßt Paris (10.6.) Einmarsch deutscher Truppen in Paris (14.6.) Ernst Weiß nimmt sich in Paris das Leben (14.6.) US-Präsident Roosevelt lehnt den von der französische Regierung geforderten Kriegseintritt ab (15.6.) In Bordeaux löst Pétain Ministerpräsident Reynaud als Regierungschef ab. Pétain bietet Hitler am folgenden Tag den Waffenstillstand an (16.6.) De Gaulle ruft in einer ersten Radioansprache von London aus zum Widerstand auf (18.6.) J.-P. Sartre gerät, ohne an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben, in Lothringen in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager nach Trier gebracht (21.6.) Französische Kapitulation in Compiègne unterzeichnet (22.6.). §19 sieht vor, daß Frankreich auf Verlangen deutsche Emigranten aus den besetzten Gebieten ausliefern muß Wiedererscheinen der Tageszeitung Paris-Soir unter deutscher Kontrolle (23.6.) Walter Hasenclever nimmt sich im Lager Les Milles das Leben (26.6.) Die britische Regierung erkennt das Nationalkomitee de Gaulles als französische Exilvertretung an (28.6.) Pétain verlegt den Regierungssitz nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Bordeaux über Clermont-Ferrand nach Vichy (29.6.) Lion Feuchtwanger vollendet kurz vor der Emigration in die USA Der Tag wird kommen, den dritten Josephus-Band, der 1945 bei Bermann Fischer in Stockholm veröffentlicht wird Anna Seghers, vor den heranrückenden deutschen Truppen auf der Flucht aus Paris, beginnt in Marseille mit der Arbeit am Roman Transit Juli 1940 Stalin lehnt ein Bündnisangebot Großbritanniens ab (1.7.) Die britische Marine versenkt die französische Algerienflotte bei Mers-el-Kebir (3.7.) Die deutsche Luftwaffe beginnt mit schwerer Bombardierung Südenglands (10.7.) In einer Sitzung der Assemblée nationale erhält Marschall Pétain Januar 1938 bis September 1940 305 die konstitutive Macht. Ende der Dritten Republik (10.7.) Pétain erklärt sich zum Nachfolger des zurückgetretenen französischen Präsidenten (12.7.) Alfred Döblin gelingt die Flucht über Marseille, Port Bou, Madrid und Lissabon in Richtung Los Angeles (30.7.) August 1940 Anfang August 1940: Nach seiner Demobilisierung beginnt Michel Leiris die Arbeit an Biffures (abgeschlossen 1947). In dieser Zeit entsteht wahrscheinlich die Idee des autobiographischen Projekts La règle du jeu, an dem er 35 Jahre lang arbeiten wird Ein französisches Kriegsgericht verurteilt Charles de Gaulle in Abwesenheit zum Tode (2.8.) Die britische Regierung schließt mit de Gaulle und seinen Truppen ein Militärabkommen (8.8.) In Südfrankreich werden Léon Blum, Daladier, Georges Mandel und General Gamelin verhaftet, da man sie für die militärische Niederlage gegen Deutschland verantwortlich macht (8.8.) ‚Adlertag’, Beginn des Großangriffs der Luftwaffe gegen die britischen Inseln, der ohne entscheidenden Erfolg bleibt (13.8.) Pétain ruft den Beginn der nationalen Revolution aus, deren Devise „Travail, Famille, Patrie“ die republikanische Devise „Liberté, Égalité, Fraternité“ ersetzen soll (13.8.) Zum wiederholten Mal findet im besetzten Paris ein Gespräch zwischen Otto Abetz, kurz zuvor zum Botschafter des Deutschen Reichs ernannt, und Pierre Drieu la Rochelle statt. Abetz sichert Drieu seine Unterstützung für den Fall zu, daß dieser eine literarische Zeitschrift gründen wolle (15.8.). Drieu wird die von Dezember 1940 an wieder erscheinende NRF leiten Die Wochenzeitung L’Illustration erscheint wieder (17.8.) Abschaffung des décret-loi Marchandeau, das antisemitische Propaganda in der Presse verboten hatte (27.8.). Am gleichen Tag sucht die deutsche Polizei in französischen Bibliotheken und Buchläden nach Büchern, die auf der sog. ‚Liste Siegfried’ stehen, d.h. als antideutsch gelten September 1940 Die BBC London sendet erstmals das Lied „Radio-Paris ment, Radio-Paris ment, Radio-Paris est allemand“ (zur Melodie von „La cucaracha“, 6.9.) Am 10.9. erscheint in Paris erstmals die Tageszeitung Aujourd’hui, an der u.a. Robert Desnos mitwirkt (bis zum Februar 1944) Schwere Verluste der deutschen Luftwaffe bei der „Battle of Zeittafel 306 Britain“. Scheitern der Invasion von Großbritannien (15.9.) Die Vichy-Regierung im unbesetzten Teil Frankreichs klagt Daladier und dessen Kriegskabinett aufgrund der militärischen Niederlage Frankreichs an (19.9.) Eröffnung des Deutschen Instituts in Paris; sein Leiter ist Karl Epting Franz Werfel gelingt zusammen mit den Feuchtwangers, Golo Mann, Heinrich Mann und Nelly Mann am 12.-13.9. die Flucht über die Pyrenäen; Emigration über Portugal in die USA Die von Marcel Déat geleitete Zeitung L’Œuvre erscheint wieder Louis Aragon publiziert sein berühmtestes Widerstandsgedicht: „Les lilas et les roses“ (in der Tageszeitung Le Figaro am 21. und 28.9.) Walter Benjamins Selbstmord in Port Bou (26.9.) Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern H ÉLÈNE B ATY -D ELALANDE promoviert im Bereich der französischen Literatur an der Université Lumière Lyon 2 zur Frage des Engagements bei Roger Martin du Gard. Sie hat verschiedene Artikel über diesen Autor verfaßt und hat insbesondere zu Fragen der Rezeption, der Stilistik, der Manuskriptforschung, der Poetik und der Repräsentation der Politik in seinen fiktionalen Werken gearbeitet. Zudem hat Hélène Baty-Delalande Artikel über weitere Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie Louis Guilloux, Jean Genet und Jean Rouaud und über das Konzept des Engagements vor Jean-Paul Sartre verfaßt. A LBRECHT B ETZ ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der RWTH Aachen und hat an den Universitäten Paris III, Paris VII und Montréal unterrichtet. Seine Untersuchung Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre (München 1986), ist 1991 in französischer Übersetzung bei Gallimard erschienen und hat den Preis der französischen Nationalversammlung erhalten. Außerdem hat er Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die sich eben bildet (München 1976) publiziert, ein Werk, das ins Englische, Französische, Japanische und Spanische übersetzt wurde. Er ist Herausgeber (gemeinsam mit Richard Faber) von Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder (Würzburg 2004), und (gemeinsam mit Stefan Martens) von Les Intellectuels et l’Occupation. 1940-1944 (Paris 2004). M ARTINE B OYER -W EINMANN ist seit 2006 Maître de conférences für moderne und zeitgenössische Literatur an der Universität Lumière Lyon 2. Sie ist Autorin einer Arbeit über die jüngeren Entwicklungen der biographischen Gattungen - La Relation biographique, erschienen 2005 beim Verlagshaus Champ Vallon - und beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem Verhältnis von Schriftstellern zur Zeitgeschichte, also zu Fragen des Engagements oder seiner Ablehnung, insbesondere im Rahmen kolonialer Konflikte. Sie ist zur Zeit Co-Direktorin einer an der Université Lyon 2 beheimateten Forschergruppe über die Literaturen der Gegenwart: „Passages XX-XXI“. J EAN -Y VES D EBREUILLE , Professor an der Université Lumière Lyon 2, hat sein literaturwissenschaftliches und -kritisches Werk an erster Stelle den poetischen Erneuerungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. So hat er einer im Verlagshaus Nizet erschienenen Studie über Paul Éluard Werke über die École de Rochefort (L’École de Rochefort. Théories et pratiques de la poésie 1941-1961, Presses universitaires de Lyon/ PUL 1998), André Frénaud (beispielsweise Lire Frénaud, PUL 1985, und La voix et le geste: André Frénaud et ses peintres, La Baconnière 2005), Jean Follain (Jean Follain. Un monde peuplé d’attente, Autre Temps 2005) und Jean Tardieu (Lire Tardieu, Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern 308 PUL 1998) folgen lassen. Er ist außerdem der Herausgeber der Gesamtausgaben von Jean Tardieu (Gallimard, collection „Quarto“) und von Luc Bérimont (Le Cherche Midi). B RITA E CKERT , promovierte Historikerin, ist Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main. Sie hat zahlreiche Ausstellungen über die deutschsprachige Emigration nach 1933 organisiert, unter anderen ‚…er teilte mit uns allen das Exil’. Goethebilder der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 (Dt. Nationalbibliothek, 1999- 2000), eine Ausstellung, zu der sie gemeinsam mit Werner Berthold auch das Begleitbuch verfaßt hat. Brita Eckert hat daneben wichtige bibliographische Werke zur Thematik geschrieben (z.B. Nachschlagewerke zur deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Frankfurt am Main 1992) und ist auch als Herausgeberin von Sammelbänden und durch verschiedene Editionen hervorgetreten. F RANK E STELMANN , seit 2007 Akademischer Rat am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Promotion 2004 in Romanischer Philologie mit einer Untersuchung über den französischen Ägyptenreisebericht. Arbeiten zur französischen Romantik, insbesondere zu Joseph Michaud, und zur Geschichte des Orientalismus und der Ägyptophilie im 19. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Exildiskurse in den spanisch- und französischsprachigen Literaturen, mit Schwerpunkten auf der Romantik und auf den späten 1930er Jahren. Sphinx aus Papier. Ägypten im französischen Reisebericht von der Aufklärung bis zum Symbolismus (Heidelberg 2006). J EAN -P IERRE M ARTIN ist seit 1990 Professor für moderne und zeitgenössische französische Literatur an der Université Lumière Lyon 2. Er ist Autor zahlreicher Werke über den Poeten Henri Michaux, darunter Ecritures de soi, expatriations (Corti 1994) und eine Biographie (Gallimard 2003). Unter seinen literaturkritischen Arbeiten können La bande sonore (Paris: Corti 1998) und Le livre des hontes (Paris: Seuil 2006) hervorgehoben werden. Daneben hat er auch autobiographische Erzählungen wie Le Laminoir (Champ Vallon 1995) und Sabots suédois (Fayard 2004) veröffentlicht. Jean-Pierre Martin war zwischen den Jahren 2000 und 2007 Direktor der an der Université Lyon 2 ansässigen Forschergruppe „Lecture et Réception du Texte Contemporain“ zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Er hat Hanns Erich Kaminskis ursprünglich 1938 publizierten Essai Céline en chemise brune neu herausgegeben (Paris 1997). O LAF M ÜLLER , Promotion 2003 mit einer Arbeit zum pazifistischen Roman in Frankreich, 2004 Chercheur associé an der Maison des Sciences de l’Homme, Paris, 2004 bis 2007 Arbeit im Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“, zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeiten zu Kriegserfahrung und Literatur, zu den deutsch-französisch-italienischen Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern 309 Literaturbeziehungen zwischen Spätaufklärung und Romantik, u.a. zu Mme de Staël und Ugo Foscolo. Der unmögliche Roman. Antikriegsliteratur in Frankreich zwischen den Weltkriegen (Frankfurt am Main 2006); Non à la guerre. Anthologie. Poésies du monde. Photographies. Histoire (mit Lionel Ray, Francesca Fabbri und Erhan Turgut, Paris 2006); Ugo Foscolo: Essays über Petrarca (Übersetzung und Kommentar, mit Giuseppe Gazzola, Tübingen 2006). A NDREAS N IEDERBERGER , Promotion in Philosophie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main und derzeit DAAD-Gastdozent an der Northwestern University (Evanston/ USA). Neben der Geschichte der Philosophie sind seine Forschungsschwerpunkte die Demokratietheorie, die politische Philosophie der internationalen Beziehungen sowie die politische Theorie im französischen Poststrukturalismus. Seine jüngsten Publikationen sind u.a. Kontingenz und Vernunft. Grundlagen einer Theorie kommunikativen Handelns im Anschluss an Habermas und Merleau-Ponty (Freiburg/ Brsg. 2007) sowie Politische Philosophie und Dekonstruktion. Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida (hg. gemeinsam mit Markus Wolf, Bielefeld 2007). P HILIPPE O LIVERA , Promotion in Geschichte an der Universität Paris I-Sorbonne, Mitglied der internationalen Forschungsgruppe zum Ersten Weltkrieg CRID 14-18. Er arbeitet über die Geschichte des Buchs und der Intellektuellen in Frankreich im 20. Jahrhundert (1914-1968) und hat u.a. veröffentlicht: „Le sens du jeu: Aragon entre littérature et politique (1958-1968)“, in: Actes de la Recherche en Sciences sociales 111-112 (März 1996); „Catégories génériques et ordre des livres: les conditions d’émergence de l’essai pendant l’entre-deux-guerres“, in: Genèses. Sciences sociales et histoire 47 (Juni 2002); „Qu’est-ce que la littérature générale? La culture lettrée au prisme du marché du livre de la première moitié du XX e siècle“, in: Revue de synthèse 128/ 1- 2 (Juni 2007). Er hat außerdem mitgearbeitet an dem von Nicolas Offenstadt herausgegebenen Sammelband Le Chemin des Dames. De l’événement à la mémoire (Stock 2004). D OMINIQUE P ERRIN wurde an der Universität Lumière Lyon 2 im Bereich der Lettres modernes promoviert. Nach zehn Jahren der Forschung und Lehre in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen unterrichtet sie zur Zeit am Institut Universitaire de Formation des Maîtres de Lyon der Université Lyon I. Ihre Forschungen beschäftigen sich mit der Epistemologie des literarischen Schreibens, und - auf ideengeschichtlicher Ebene - mit der Frage der Aktualität des surrealistischen Erbes. Sie hat ihre Dissertation unter dem Titel Crise collective et écriture romanesque chez Julien Gracq 2007 bei Champion publiziert. M ARIE -L UISE R ECKER , Promotion und Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ist seit 1990 Professorin für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in der britischen Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern 310 Außenpolitik und den deutsch-britischen Beziehungen, der Geschichte des Dritten Reichs sowie der Parteien- und Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. In diesen Bereichen hat sie zahlreiche Publikationen vorgelegt, darunter insbesondere: England und der Donauraum 1919-1929. Probleme einer europäischen Nachkriegsordnung (Stuttgart 1976), Die Außenpolitik des Dritten Reichs 1933-1945 (München 1990), Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (München 2. Aufl. 2005). W OLFGANG S CHOPF , Germanist und Politikwissenschaftler mit den Arbeitsgebieten nationale Identität, Vormärz, Zensur sowie Literatur der Weimarer Republik, des Exils und Nachkriegsdeutschlands. Er ist spezialisiert auf die Erschließung von Archivmaterial unter editorischen und kuratorischen Gesichtspunkten und baut seit 2003 das Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung an der Universität Frankfurt am Main auf. (Gemeinsam mit Keith Holz: ) Im Auge des Exils. Josef Breitenbach und die Freie Deutsche Kultur in Paris 1933 bis 1941 (Berlin 2001; Frz.: Éd. Autrement 2003); (gemeinsam mit Hubert Wolf: ) Die Macht der Zensur: Heinrich Heine auf dem Index (Düsseldorf 2001); (Hg. von: ) Mit Heine, im Exil: Heinrich Heine in der deutschsprachigen Exilpresse 1933-1945 (Frankfurt am Main 1997), (Hg. von: ) Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld (Frankfurt am Main 2003). M ARTIN S TRICKMANN , Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Politikwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und der Sorbonne, Paris IV. 2002 Promotion in Zeitgeschichte an der Universität zu Köln über die französischen Intellektuellen und die deutschfranzösische Verständigung. Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts in Paris und der Schmittmann-Wahlen-Stiftung in Köln. 2004 als Postdoc- Stipendiat in Paris (Maison des Sciences de l’Homme an der Sorbonne). Seit Januar 2005 Postdoc-Stelle im Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München, u.a. mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle: Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurse, Initiativen, Biografien (Frankfurt am Main u.a. 2004). F RIEDRICH W OLFZETTEL , Promotion an der Universität Heidelberg über das Thema „Michel Butor und der Kollektivroman“. Habilitation für Romanische Philologie an der Universität Giessen. Seit 1988 Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen: Geschichte des mittelalterlichen höfischen Romans, Folklore und höfische Literatur in Italien und Frankreich, Mythos und Mythologie (Renaissance-Barock), Geschichte des Reiseberichts, europäischer Roman von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Neuere Publikationen (Auswahl): ‚Da stieg ein Baum’. Zur Poetik des Baumes seit der Romantik (München/ Paderborn 2007), (Hg.): Körperkonzepte im arthurischen Roman (Tübingen 2007), (zusammen mit M. Disselkamp und Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern 311 P. Ihring, Hg.): Das alte Rom und die neue Zeit. Varianten des Rom-Mythos zwischen Petrarca und dem Barock (Tübingen 2006), „La littérarisation de l’horreur”, in: K. Garscha/ B. Gelas/ J.-P. Martin (Hg.): Ecrire après Auschwitz. Mémoires croisées France-Allemagne (Lyon 2006), „Pasolinis Teorema. Theater der Stille im Schnittpunkt der Traditionen“, in: Romanische Forschungen 118 (2006). Zu den Übersetzungen Im Sinne der besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit der Artikel für eine deutsche Leserschaft wurden die im Fließtext anzufindenden französischen Zitate ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzungen finden sich am Ende der Fußnote, die als Nachweis für das Zitat dient. Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von den Übersetzern der jeweiligen Artikel. Gesondert gekennzeichnet wurde lediglich der Rückgriff auf bestehende Übersetzungen. Die im Original französischen Texte von Dominique Perrin, Martine Boyer- Weinmann und Jean-Yves Debreuille wurden von Frank Estelmann ins Deutsche übersetzt (zusammen mit Peter Weinmann im Fall des Textes von Martine Boyer-Weinmann). Die Übersetzung der französischen Texte von Jean-Pierre Martin, Philippe Olivera und Hélène Baty-Delalande ins Deutsche besorgte Olaf Müller. Personenregister Ackermann, Bruno, 243 Agamben, Giorgio, 116 Alain, 52, 229, 230 Althusser, Louis, 113 Altmaier, Jakob, 207 Aragon, Louis, 6, 15, 25, 26, 46, 95, 163, 169, 171, 172, 185, 187, 188, 199, 211, 227, 228, 229, 231, 236 Aron, Raymond, 27, 28 Aron, Robert, 246 Assouline, Pierre, 49 Auger, Pierre, 259 Augustinus, Aurelius, 255 Bachelard, Gaston, 230 Balzac, Honoré de, 107 Barbarin, Georges, 227 Barth, Karl, 245 Bataille, Georges, 8, 15, 58, 59, 104, 112, 135, 237, 248, 249 Bauer, Bruno, 191 Beauvoir, Simone de, 54, 169, 186 Bekessy, Janos. Siehe Habe, Hans Benda, Julien, 14, 15, 47, 121, 170, 231, 232, 240, 243 Bene , Edvard, 37 Benjamin, Walter, 6, 7, 8, 23, 24, 26, 27, 56, 167 Berendsohn, Walter A., 225, 226 Berl, Emmanuel, 46, 47 Bernanos, Georges, 20, 48, 55, 57, 171, 233 Bertaux, Félix, 204 Bertaux, Pierre, 204, 208, 211 Betz, Albrecht, 159 Bident, Christophe, 105 Billy, André, 61 Biocca, Dario, 124, 125 Blanchot, Maurice, 16, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118 Bloch, Marc, 27 Blum, Léon, 31, 32, 33, 259 Boie, Bernhild, 89, 90 Boncour, Paul, 221 Bonnet, Georges, 20, 32, 33, 35, 40 Borgese, Giuseppe Antonio, 132 Bosschère, Jean de, 230 Brasillach, Robert, 15, 26, 55 Brecht, Bertolt, 18, 27, 123, 163, 164, 222 Bredel, Willi, 123, 126 Breton, André, 86, 89, 95 Briand, Aristide, 233 Bruhat, Jean, 92, 93 Buber, Martin, 246 Budzislawski, Hermann, 161, 162, 220 Buré, Emile, 218 Caillois, Roger, 8, 15, 59, 135, 136, 237, 248, 249, 250 Cain, James, 47 Camus, Albert, 48, 52, 61 Canali, Mauro, 124 Capable, Vincent (Pseud.). Siehe Camus, Albert Carossa, Hans, 230 Cassou, Jean, 121 Céline, Louis-Ferdinand, 7, 15, 16, 26, 46, 48, 55, 106 Ceretti, Giulio, 25 Chamberlain, Arthur Neville, 15, 33, 34, 35, 167, 171, 176, 197, 207, 217, 220 Chamson, André, 240 Char, René, 61 Chardonne, Jacques, 20, 55, 234, 235 Charpentier, Pierre-Frédéric, 142 Chesterton, Gilbert Keith, 148 Churchill, Winston, 173 Claudel, Paul, 15, 61, 230, 240 Clemenceau, Georges, 210 Cocteau, Jean, 27, 54, 231 Cocteau, Paul, 240 Personenregister 316 Colette (eigentlich Sidonie- Gabrielle Colette), 61 Contat, Michel, 53 Corti, José, 86 Csokor, Franz Theodor, 213 Curie, Pierre und Marie, 259 Daladier, Edouard, 15, 24, 31, 32, 33, 34, 35, 38, 39, 40, 41, 52, 55, 166, 167, 196, 197, 217, 228, 233 Dante Alighieri, 253 Déat, Marcel, 39 Derrida, Jacques, 103, 104, 110, 116, 118 Dietrich, Josef, 18, 22 Dimitrow, Georgi, 17, 53, 225 Döblin, Alfred, 6, 18, 19, 24, 121 Doriot, Jacques, 32 Drieu La Rochelle, Pierre, 15, 26, 46, 47, 48, 55, 56, 57, 58, 61, 239, 241 Drumont, Edouard, 16 Du Bos, Charles, 29 Duff Cooper, Alfred, 221 Duhamel, Georges, 47, 72, 73, 121, 171, 176, 180 Dumézil, Georges, 135 Durkheim, Emile, 249 Ehrenburg, Ilja, 181 Einstein, Albert, 260 Einstein, Carl, 27 Elsässer, Walter, 262 Éluard, Paul, 236 Fabre-Luce, Alfred, 147 Falke, Konrad, 131 Faure, Paul, 32 Febvre, Lucien, 261 Fernandez, Ramon, 46, 235 Feuchtwanger, Lion, 6, 19, 123, 163, 164, 167, 173, 174, 175, 183 Fichte, Johann Gottlieb, 222, 226 Flandin, Pierre-Etienne, 32 Foucault, Michel, 110 Fouché, Pascal, 143 Franco, Francisco, 13 Frapié, Léon, 261 Frei, Bruno, 211 Fromm, Erich, 168 Fuchs, Albert, 24 Fürnberg, Louis, 224 Gallimard, Gaston, 71 Gary, Romain, 61 Gauchet, Marcel, 13 Gentner, Wolfgang, 263, 264, 265 Gerlach, Walther, 264 Gide, André, 13, 15, 20, 26, 27, 48, 49, 50, 51, 53, 54, 55, 145, 177, 178, 182, 187, 243 Gidon, Blanche, 205 Giono, Jean, 46, 48, 52, 58, 145, 230, 234, 235 Girard, René, 248 Giraudoux, Jean, 15, 16, 24, 47, 55, 72, 150 Goebbels, Joseph, 18, 24, 53 Göring, Hermann, 225 Gracq, Julien (Pseud. von Louis Poirier), 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 98, 99, 100, 101, 102 Graf, Oskar Maria, 18, 19, 121 Grenier, Jean, 234 Gründgens, Gustaf, 167 Guastalla, René, 136 Guéhenno, Jean, 15 Guérin, Jean (Pseud.). Siehe Paulhan, Jean Habe, Hans, 173, 174, 179, 184 Habsburg, Otto von, 204, 208 Hagen, Hans W., 22 Hasenclever, Walter, 27 Heidegger, Martin, 110, 112, 113 Heine, Heinrich, 225 Heß, Rudolf, 18 Hildebrand, Dietrich von, 204 Hitler, Adolf, 13, 17, 18, 19, 22, 30, 34, 35, 36, 37, 40, 52, 161, 167, 219, 235 Hoffmann, Stanley, 13 Hollier, Denis, 247, 248 Horkheimer, Max, 128, 164, 168, 169 Jaloux, Edmond, 75, 89 Jehle, Herbert, 263 Joliot-Curie, Frédéric und Irène, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265 Jouhandeau, Marcel, 16, 46, 55 Jouve, Pierre-Jean, 234 Jouvenel, Bertrand de, 15 Kaempf, Pierre-François, 99 Kafka, Franz, 110, 116, 117 Personenregister 317 Kaminski, Hanns Erich, 7 Kanters, Robert, 74 Kantorowicz, Alfred, 15, 167 Kemp, Robert, 76 Kérillis, Henri de, 34, 218 Kerr, Alfred, 19, 225 Kesten, Hermann, 5, 203, 206 Keun, Irmgard, 213 Kisch, Egon Erwin, 224 Klossowski, Pierre, 249 Koestler, Arthur, 19, 121, 260 Kracauer, Siegfried, 119, 120, 127, 128, 129, 130, 131, 134, 137, 226 Krieck, Ernst, 22 Kurella, Alfred, 223 La Roque, François de (général), 32 Lacoue-Labarthe, Philippe, 113 Landsberg, Paul, 24 Landshoff, Fritz, 5 Langevin, Paul, 259, 260, 261 Langevin-Joliot, Hélène, 259 Lautréamont, Comte de (Pseud. von Isidore Lucien Ducasse), 96, 97, 98, 107 Lazare, Bernard, 49 Lefèvre, Frédéric, 205 Leiris, Michel, 6, 7, 59, 237, 249 Levinas, Emmanuel, 110 Lévy, Bernard-Henri, 246 Ludwig XVI., 228 Mac Orlan, Pierre, 61 Mallarmé, Stéphane, 244 Malraux, André, 15, 26, 52, 53, 56, 73, 187, 253 Mandel, Georges, 32 Mann, Erika, 178 Mann, Heinrich, 6, 7, 8, 18, 19, 21, 23, 24, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 169, 172, 211, 226 Mann, Katia, 263 Mann, Klaus, 167, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 184 Mann, Thomas, 5, 15, 18, 19, 27, 131, 133, 160, 161, 162, 163, 166, 168, 169, 172, 176, 179, 254, 263 Mannheim, Karl, 258 Marcel, Gabriel, 205 Marck, Siegfried, 132 Marin, Louis, 32 Maritain, Jacques, 246 Martin du Gard, Roger, 47, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82 Mary, André, 230 Matisse, Henri, 6 Mauriac, Claude, 231 Mauriac, François, 54, 227, 229 Maurois, André, 47 Maurras, Charles, 55, 118, 228, 233 Mauss, Marcel, 249 Mayer, Hans, 8, 164 Mehring, Walter, 121 Michaux, Henri, 48, 49, 51, 58, 60, 61, 231 Minder, Robert, 24 Mitterand, François, 20 Modiano, Patrick, 47 Mondor, Henri, 229 Monnerot, Jules, 250 Montherlant, Henry de, 54, 55, 61, 147, 171, 231 Montigny, Jean, 147 Morand, Paul, 47, 55, 61 Morgenstern, Soma, 206, 207 Moulin, Jean, 241 Mounier, Emmanuel, 15, 16, 121, 162, 170 Münzenberg, Willi, 19, 26, 121, 204, 221 Musil, Robert, 254 Mussolini, Benito, 13, 17, 36, 40, 198 Nancy, Jean-Luc, 113 Nerval, Gérard de, 112 Nietzsche, Friedrich, 15, 59 Nizan, Henriette, 185 Nizan, Paul, 7, 15, 25, 46, 56, 147, 170, 171, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202 Nordheim, Lothar, 263 Noth, Ernst Erich, 24 Olden, Balder, 178, 224 Ottwalt, Ernst, 126 Paul-Boncour, Joseph, 33 Paulhan, Jean, 55, 61, 71, 81, 227, 231, 235, 236, 237, 238, 239 Pauli, Klaus, 213 Perrin, Irène, 260 Personenregister 318 Perrin, Jean, 259, 260, 261 Pétain, Philippe, 28, 54, 173 Petitjean, Armand, 233, 235, 240 Picon, Gaïtan, 244 Pius XI (Papst), 175 Poe, Edgar Allen, 98 Polgar, Alfred, 215 Pourrat, Henri, 229 Pringsheim, Peter, 263 Prochasson, Christophe, 65 Queneau, Raymond, 50, 51, 55, 230 Ramuz, Charles Ferdinand, 230, 236 Rancière, Jacques, 113 Rebatet, Lucien, 15, 55 Reifenberg, Benno, 203 Renan, Ernest, 27 Renn, Ludwig, 211 Renouvier, Charles, 246 Reynaud, Paul, 32, 38 Ribbentrop, Joachim von, 20, 35 Riefenstahl, Leni, 226 Riezler, Wolfgang, 264 Rimbaud, Arthur, 234 Rivière, Jacques, 148 Rolland, Romain, 15, 46, 52, 67 Romains, Jules, 229 Roosevelt, Eleanor, 214 Rosenberg, Alfred, 18, 21 Rostand, Jean, 230 Roth, Joseph, 137, 164, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213 Rougemont, Denis de, 8, 15, 148, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 250, 251, 252, 253, 254, 255 Rousseau, Jean-Jacques, 235 Rousset, David, 260 Roy, Claude, 234 Runciman, Lord Walter, 33 Sachs, Maurice, 47 Saint-John Perse (Pseud. von Alexis Léger), 197 Sapiro, Gisèle, 142 Sarraute, Nathalie, 84 Sartre, Jean-Paul, 6, 14, 48, 52, 53, 58, 59, 61, 84, 105, 110, 112, 117, 118, 181, 187, 188, 202, 227, 229, 234, 243, 250 Scheible, Hartmut, 213 Schickele, René, 5, 121, 225 Schifrin, Alexander, 221 Schilmar, Boris, 159, 165 Schinz, Albert, 141 Schlumberger, Jean, 71, 238 Schwarzschild, Leopold, 14, 204, 206, 218, 219 Seghers, Anna, 18 Seghers, Pierre, 241 Sforza, Carlo, 121, 221 Silone, Ignazio, 119, 120, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 133, 134, 137 Simenon, Georges, 49, 51 Sirinelli, Jean-François, 258 Snow, Charles P., 257 Solomo, Jacques, 261 Sorel, Charles, 250 Souvarine, Boris, 50, 128 Spengler, Oswald, 253 Sperber, Manès, 19 Stalin, Josef, 13, 17, 39, 40, 52, 53, 172, 186, 260, 261 Suarès, André, 232, 239 Supervielle, Jules, 236 Tamburrano, Giuseppe, 125 Thibaudet, Albert, 244 Thierry-Maulnier (Pseud. von Jacques Talagrand), 15 Thomas, Edith, 241 Thompson, Dorothy, 214 Thorez, Maurice, 147, 172, 188 Toller, Ernst, 214 Tranquilli, Romolo, 124 Tranquilli, Secondino. Siehe Silone, Ignazio Triolet, Elsa, 229 Tucholsky, Kurt, 206 Unruh, Fritz von, 121 Valéry, Paul, 6, 15, 227, 229 Vermeil, Edmond, 121 Vichinsky, Andrei, 260 Wagner, Richard, 84, 88, 94, 99, 248, 253, 254 Wahl, Jean, 246 Weber, Alfred, 258 Weiskopf, Franz Carl, 223, 224 Weiss, Ernst, 27 Weissberg, Alexander, 260 Personenregister 319 Werfel, Franz, 169, 170, 172, 175, 176 Wilson, Woodrow, 79 Wolff, Kurt, 24 Zay, Jean, 32 Zweig, Stefan, 18, 182, 222 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Les études réunies dans ce volume s’intéressent à l’apport créatif des écrivains dits ‹ migrants › à la littérature ‹ française › contemporaine. A partir de concepts post-coloniaux, elles interrogent des textes littéraires de langue française issus d’un contexte migratoire. Elles visent à relever le potentiel créatif inhérent à une situation de contact culturel et analysent les stratégies narratives qui inscrivent la migration dans le texte littéraire. Avec des contributions de : Verena Berger · Christina Bertelmann · Denise Brahimi · Jacques Chevrier · Danielle Dumontet · Doris G. Eibl · Susanne Gehrmann · Myriam Geiser · Mechtild Gilzmer · Fritz Peter Kirsch · Hans-Jürgen Lüsebrink · Claudia Martinek · Ursula Mathis-Moser · Birgit Mertz-Baumgartner · Véronique Porra · Julia Pröll · Monika Schmitz-Emans · Sylvia Schreiber · Mirjam Tautz Ursula Mathis-Moser Birgit Mertz-Baumgartner (Hg.) La littérature ‹française› contemporaine Contact de cultures et créativité édition lendemains, Band 4 2007, 274 Seiten, €[D] 49,00/ Sfr 77,50 ISBN 978-3-8233-6354-5 063507 Auslieferung September 2033 33 14.09.2007 15: 13: 49 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Gisela Febel / Karen Struve Natascha Ueckmann (Hg.) Écritures transculturelles Kulturelle Differenz und Geschlechterffdifferenz im französischsprachigen ff Gegenwartsroman édition lendemains, Band 3 2007, 237 Seiten, €[D] 58,00/ Sfr 91,50 ISBN 978-3-8233-6337-8 Wir leben heute in einer Welt der zunehmenden Differenzen und Vermischungen. Globalisierung und Migration führen auch zu neuen literarischen Bildern der kulturellen Lebenswelten. Der vorliegende Band stellt sich die Frage, in welcher Weise kulturelle Differenz und ff Geschlechterdifferenz miteinander verschränkt sind. Der Gegenwartsroman aus Frankreich und der Frankophonie ist in besonderer Weise von dieser Frage durchdrungen und daher geeignet, eine Vielzahl transkultureller Überschreibungen vorhandener kultureller Konstruktionen und traditioneller Geschlechterdifferenzen in den ff Blick zu nehmen. Mittels neuer Schreib- und Denkweisen wird hier eine innovative und nicht selten subversiv wirkende Poetik der Differenz, écritures transculturelles , formuliert, die die verschiedenen Beiträge des Bandes genauer untersuchen. 063507 Auslieferung September 2031 31 14.09.2007 15: 13: 28 Uhr