eBooks

Wortbildung heute

2008
978-3-8233-7386-5
Gunter Narr Verlag 
Ludwig M. Eichinger
Meike Meliss
Maria José Dominguez Vázquez

Nachdem die Erforschung der Wortbildungsregularitäten des Deutschen in den zentralen Bereichen zu erheblichen Fortschritten und weithin konsensfähigen Ergebnissen geführt hat, wendet sich die Forschung in den letzten Jahren verstärkt neuen Aspekten zu, wobei textlinguistische und in verschiedener Weise anwendungsorientierte Fragen eine erhebliche Rolle spielen, daneben aber auch andere, häufig theoriespezifischere Herangehensweisen gewählt werden. Wie viele andere Bereiche der Sprachwissenschaft hat sich auch die Wortbildungsforschung mit der neuen Möglichkeit auseinanderzusetzen, elektronische Korpora als empirische Basis zu nutzen. Der Band dokumentiert die Ergebnisse der Tagung zur Wortbildung an der Universität Santiago de Compostela im Sommer 2006, und gerade bei einer transnationalen - und im Gefolge auch germanistisch-hispanistisch transdisziplinären - Tagung liegt es nahe, die typologisch vergleichenden Aspekte zu betonen, die ebenfalls in letzter Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Mit der Schwerpunktsetzung auf den (deutsch-spanischen) Vergleich, auf textuelle und auf am Bereich DaF anwendungsorientierte Fragestellungen ergänzen die im vorliegenden Band dokumentierten Ergebnisse dieser Tagung die derzeit wieder recht lebhafte Diskussion um Fragen der Wortbildung.

Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez (Hrsg.) Wortbildung heute Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 4 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Ulrich Hermann Waßner und Stefan Engelberg Band 44 · 2008 Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez (Hrsg.) Wortbildung heute Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des spanischen Erziehungs- und Wissenschaftsministeriums (Ministerio de Educación y Ciencia: MEC). © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6386-6 Inhalt Einleitung........................................................................................................ 7 Hans Altmann: Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung........................................................................ 17 Irmhild Barz: Englisches in der deutschen Wortbildung .............................. 39 José-Antonio Calañas Continente: Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik: Rahmenbedingungen für eine lexikologischlexikografische Aufgabenstellung ................................................................ 61 Mireia Calvet Creizet: Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich ......................... 75 María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez: DERIV@: A Linguistic Database for Spanish Word Formation.................................... 91 María José Domínguez Vázquez: Textsorten und Wortbildung im Vergleich: Spanische und deutsche Packungsbeilagen............................... 105 Brigitte Eggelte: Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zur Systematisierung ihrer syntaktischen Konsequenzen ........................... 131 Ludwig M. Eichinger: Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten: Komposition und Verwandtes in deutschen und spanischen Nominalphrasen .......................................................................................... 143 Martina Emsel: Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik ................................................................................ 167 Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk: Fremdes in der deutschen Wortbildung? Wortbildungsprodukte und -prozesse in der Lernersprache ................................................................................... 181 Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann: Wortbildung und Ad-hoc-Komposita: Typen, Implikationen und ihre möglichen Übersetzungen ins Spanische...................................................................... 195 Djamel Eddine Lachachi: Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung ......................................................................... 213 Meike Meliss: Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung für technische Produkte im Vergleich: Deutsch-Spanisch.......................... 231 Inhalt 6 Hans Schemann: Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................................................................ 257 Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun: Zwischen Wortbildung und Syntax: Die ‘Wortigkeit’ von Partikelverben/ Präverbfügungen in sprachvergleichender Perspektive .......................................................... 271 Maria Thurmair: rüber, rein, rum & co: die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung ........................................................................... 311 Maria Wirf Naro: Über das Zerpflücken von Komposita. Semantische Beziehungen im komplexen Wort .............................................................. 337 Ludwig M. Eichinger: Was sollte man über die Wortbildung des Deutschen wissen (wenn man sich in Spanien mit der deutschen Sprache beschäftigt)? Zusammenfassung des Rundtischgesprächs ............ 353 Einleitung In dem vorliegenden Band werden die Ergebnisse einer Tagung mit dem Thema „Wortbildung heute: Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache“, dokumentiert, die vom 8. bis 10. Juni 2006 an der Universität von Santiago de Compostela stattfand. Sie wurde von Mitgliedern der Forschungsgruppe „Textos e contextos alemáns: sincronía e diacronía“ (TECASID) der philologischen Fakultät der Universität Santiago de Compostela (USC) zusammen mit dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) organisiert. 1 Mit der Tagung sollten zwei Akzente in der Wortbildungsforschung gesetzt werden. Zum einen sollten die Chancen der internationalen Besetzung genutzt werden, um typologischen und anwendungsorientierten Fragestellungen nachzugehen, wie sie sich in Sonderheit in der Gegenüberstellung der deutschen und der spanischen Verhältnisse ergeben. Zum anderen sollten damit bestehende Vernetzungen verstärkt bzw. neue Vernetzungen geschaffen werden, die für die weitere Forschung nutzbar gemacht werden können. Von daher erklärt sich auch die im Titel angesprochene Fokussierung auf „Tendenzen und Kontraste“. Beide Termini lassen sich im Hinblick auf den erwarteten theoretischen wie empirischen Nutzen interpretieren, und diese Verschränkung soll andeuten, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Nachdem die Erforschung der Wortbildungsregularitäten des Deutschen in den zentralen Bereichen zu erheblichen Fortschritten und weithin konsensfähigen Ergebnissen geführt hat, 2 wendet sich die Forschung in den letzten Jahren verstärkt neuen Aspekten zu, wobei textlinguistische und in verschiedener Weise anwendungsorientierte Fragen 3 eine erhebliche Rolle spielen, daneben 1 Die Veranstalter danken den Institutionen, die durch ihre Unterstützung und Förderung die Durchführung der Tagung möglich gemacht haben: Universidad de Santiago de Compostela ( USC : 14/ 06/ 2006/ 450), Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG ), Deutscher Akademischer Austauschdienst ( DAAD ), Ministerio de Educación y Ciencia ( MEC: HUM 2005-25432- E/ FILO ), Xunta de Galicia: Consellería de Innovación e Industria ( IN 811A2006/ 61-0), Xunta de Galicia: Consellería de Educación (26/ 10/ 2006). 2 Diese schlagen sich zum Beispiel in dem von Irmhild Barz verfassten Wortbildungsteil der Duden-Grammatik (Duden 2005) nieder, aber auch in verschiedenen einführenden Werken, z.B. Altmann/ Kemmerling-Schöps (2005); Donalies (2004, 2005, 2007); Lohde (2006). 3 Vgl. z.B. Barz/ Schröder/ Hämmer/ Poethe (2007); Eichinger (2000); Lawrenz (2006); Schlienz (2004). Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez 8 aber auch andere, häufig theoriespezifischere Herangehensweisen gewählt werden 4 . Wie viele andere Bereiche der Sprachwissenschaft hat sich auch die Wortbildungsforschung mit der neuen Möglichkeit auseinanderzusetzen, elektronische Korpora als empirische Basis zu nutzen. 5 Zudem liegt es gerade bei einer transnationalen - und im Gefolge auch germanistisch-hispanistisch transdisziplinären - Tagung nahe, die typologisch vergleichenden Aspekte zu betonen, die ebenfalls in letzter Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Mit der Schwerpunktsetzung auf den (deutsch-spanischen) Vergleich, auf textuelle und auf am Bereich DaF ausgerichtete anwendungsorientierte Fragestellungen ergänzen die im vorliegenden Band dokumentierten Ergebnisse dieser Tagung die derzeit wieder recht lebhafte Diskussion um Fragen der Wortbildung. 6 Wenn man daran anschließend die Beiträge dieses Bandes nach ihrer generellen Orientierung einordnen möchte, kann man drei Schwerpunkte erkennen: a) Theoretische Aspekte In sechs Beiträgen werden Probleme der Abgrenzung der Wortbildung zu verwandten Erscheinungen in Syntax, Phraseologie und Morphologie bzw. Abgrenzungsprobleme innerhalb der Wortbildung thematisiert. Eggelte, Thurmair und Schlotthauer/ Zifonun diskutieren anhand der Präfix-/ Partikelverben die Analogie bzw. Differenz von Wortbildungs- und syntaktischen Strukturen. Schemann problematisiert die Abgrenzung zwischen Komposition und Phraseologie. Der Unterscheidung von Derivation und Flexion ist der Beitrag von Calvet gewidmet, der wortbildungsinternen Abgrenzung von Affigierung und Komposition der von Lachachi. Kognitive Fragestellungen stehen bei zwei Beiträgen im Vordergrund, bei dem von Emsel, in dem ein funktional orientiertes Beschreibungsmodell für denominale Verben vorgeschlagen wird, und dem von Wirf, der die Rezeption von Komposita zum Thema hat. 4 Siehe z.B. Motsch (2004); Siebert (1999). 5 Vgl. z.B. die Wortbildungseinträge im Modul „Fragen und Antworten“ der Internet-Grammatik „Grammis“ des IDS (Internet: http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ pls/ public/ fragen.ansicht , Stand: Oktober 2007). 6 So fand in den letzten Jahren eine ganze Reihe entsprechender Tagungen statt, z.B. „Sprachliche Kategorien und die Wortbildung“ - 8. Tagung der Wortbildungskommision beim Internationalen Slawistenkomitee, 13.11.-18.11.2005, Berlin; „Morphologie und Digitale Welt“, 07.07.-09.07.2006, Berlin/ Greifswald; „Verbale Wortbildung“ - Agrégations- Kolloquium, 01.-02.12.2006, Université de Nancy (siehe Kauffer/ Métrich (Hg.) 2007). Einleitung 9 Viele Beiträge enthalten kontrastive Aspekte (Domínguez, Gierden/ Hofmann, Meliss), thematisch wird ihr typologischer Charakter bei Eichinger und Schlotthauer/ Zifonun behandelt. b) „Neue“ Wortbildungsprozesse und ihre (textuelle) Einbindung Altmann stellt in modernen Texten geläufige Bildungsmuster vor, die der gängigen Analyse erhebliche Probleme bereiten. Barz diskutiert am Beispiel aus dem Englischen kommender Bildungstypen den nichtautochthonen Rand der deutschen Wortbildung. Der Einfluss von textuellen und Textsorten-Bedingungen auf die Produktivität von bestimmten Wortbildungsmustern wird in den Beiträgen von Domínguez und Meliss aufgezeigt. c) Anwendung Die Verknüpfung von Wortbildung und angewandter Linguistik wird in den Beiträgen von Fernández/ Strunk, Gierden/ Hofmann und Calañas hergestellt. In den ersten beiden Beiträgen geht es um eine Anwendung für den DaF-Bereich und die Übersetzungswissenschaft. Calañas stellt eine mögliche lexikografische Umsetzung dar. Hier kann man auch den Beitrag von Díaz/ Mas einordnen, in dem die Möglichkeiten der Korpusnutzung behandelt werden. Nach dieser an generellen Schwerpunktsetzungen orientierten Einordnung soll im Folgenden der Inhalt der einzelnen Beiträge - alphabetisch nach Autorennamen - kurz skizziert werden: Hans Altmann beschäftigt sich in seinem Beitrag Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung mit komplexen Wortneubildungen, die sich den gängigen Wortbildungstypen kaum zuordnen lassen. Er geht von Belegen aus, die überwiegend aus Warenverkehr und Warenproduktion stammen und im Internet und einschlägigen Druckerzeugnissen erhoben wurden, und systematisiert die registrierten Wortneubildungen nach formalen Kriterien. Der Beitrag von Irmhild Barz Englisches in der deutschen Wortbildung zeigt das Wortbildungspotenzial aus dem Englischen entlehnter morphologischer und lexikalischer Elemente auf. Solche Wortbildungstransferenzen sind in der Diskussion um die Integration von Entlehnungen bisher nicht Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez 10 systematisch behandelt worden, obwohl sie im allgemeinen Sprachgebrauch von erheblicher Bedeutung sind. Der Beitrag bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und behandelt einige signifikante Beispiele aus diesem sprachlichen Übergangsbereich. Eine Verbindung zwischen Wortbildung und Lexikografie stellt José-Antonio Calañas Continente mit seinem Beitrag Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik: Rahmenbedingungen für eine lexikologischlexikografische Aufgabenstellung her. Es werden verschiedene lexikalische Eigenschaften der Wortklasse Verb als Ausgangspunkt genommen, um das lexikografische Projekt VerbLexGen, welches eine integrierende lexikalische Perspektive verfolgt, zu begründen. Der Beitrag Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich von Mireia Calvet Creizet erklärt Erscheinungen aus dem Bereich der Komposition im Kontext fachsprachlicher lexikalischer Anforderungen. Sie definiert den Wortbildungstyp „Klassenkomposition“, der insbesondere in bestimmten Varietäten des Deutschen eine zentrale Rolle spielt. Die Autorin behandelt einige Funktionen von Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich. Der Gebrauch von Klassenkomposita wird mit terminologisch-konzeptuellen Nominationsbedürfnissen im Rahmen des genannten fachsprachlichen Bereichs parallelisiert. Ein wichtiges Anliegen des Beitrags ist die Debatte um das Flexion-Wortbildung- Abgrenzungsproblem. Die zwei Hispanistinnen María Teresa Díaz und Inmaculada Mas stellen in ihrem englischsprachigen Beitrag DERIV@: A Linguistic Database for Spanish Word Formation vor, welche technologischen Möglichkeiten es u.a. gibt, wortbildungsorientierte Information zusammen mit anderen diachronen und synchronen lexikologischen Daten in der elektronischen Datenbank DERIV@ zu erfassen und für den Benutzer nutzbar zu machen. Eine Verknüpfung von Wortbildung und textsortenspezifischen Fragestellungen präsentiert María José Domínguez Vázquez in ihrem Beitrag Textsorten und Wortbildung im Vergleich: Spanische und deutsche Packungsbeilagen. Sie überprüft in ihrer Studie die Annahme, dass deutschen Wortbildungen (vor allem Substantivkomposita) im Spanischen gewöhnlich Präpositionalphrasen entsprechen, und hinterfragt mögliche Gründe für diese Differenz. Unter einem kontrastiven Blickwinkel wird exemplarisch an der Textsorte „Beipackzettel“ untersucht, welche textsortenbedingten Wortbildungstypen in beiden Einleitung 11 Sprachen vorliegen. Eine darauf basierende systematische Darstellung des morpho-syntaktischen Inventars bietet gleichzeitig die Möglichkeit, durch eine vergleichende Analyse die Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen beiden Sprachen aufzudecken. In ihrem Artikel Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zur Systematisierung ihrer syntaktischen Konsequenzen legt Brigitte Eggelte dar, dass sowohl die Partikelverben als auch die Präfixverben - aufgrund ihrer schemaprägenden wie kategorienmodifizierenden Charakteristik - die Fähigkeit besitzen, eine Modifikation der Basisverben auf semantischer und syntaktischer Ebene zu bewirken und den Ausbau von prädikationsfähigen Einheiten zu fördern. Am Beispiel einiger ausgewählter Partikeln und Präfixe zeigt sie, dass hierbei nicht nur die durch Adverbialität geprägten Partikelverben, sondern auch die Präfixverben einen wichtigen Beitrag dazu leisten, auf satzsemantischer Ebene die Aktionsart gegenüber den Basisverben zu modifizieren. Ausgangspunkt des Beitrages Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten. Komposition und Verwandtes in deutschen und spanischen Nominalphrasen von Ludwig M. Eichinger ist die Auffassung, dass die Kodierungsweisen in den Nominalphrasen des Deutschen und des Spanischen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, um die Leistung von Wortbildung, fester syntaktischer und freier syntaktischer Integration von Information auf dieser Ebene angemessen zu modellieren. Das Deutsche ist in dieser Hinsicht typologisch durch eine Kombination von zentripetalen und zentrifugalen Konstruktionen ausgezeichnet: Nominalphrasen erlauben sowohl rechts wie links des Kerns Erweiterungen. Das ermöglicht eine andere Art der Interaktion zwischen syntaktischen, lexikalischen und morphologischen Arten der Verdichtung als in stärker unidirektional orientierten Sprachen wie dem Spanischen. Die Folgen dieses Unterschieds werden an einem längeren Text diskutiert. Martina Emsel stellt in ihrem Beitrag Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik ein Modell vor, das die Wortbildung mittels einer Beschreibung über semantische Rollen in einen allgemeinen kommunikativen Kontext einbettet, der die einzelsprachlichen Möglichkeiten und ihre Grenzen deutlicher sichtbar macht. In dem vorgeschlagenen Beschreibungsansatz werden denominale Verben als Verbindung von einem abstrakten Prädikat mit genau einer Rolle/ Funktion beschrieben; für die Beschreibung von Komposita sind Kombinationen von Funktionen vorzusehen. Dieses Vorgehen ist nicht auf eine Einzelsprache begrenzt, sondern kann sprachübergrei- Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez 12 fend für semantisch komplexe Wortbildungsstrukturen angewendet werden. Durch solch eine vergleichende Analyse wird gleichzeitig der Rahmen für Übersetzungslösungen bzw. terminologische Entsprechungen verschiedener Strukturmuster abgesteckt. Marta Fernández-Villanueva und Oliver Strunk stellen mit ihrem gemeinsamen Beitrag Fremdes in der deutschen Wortbildung? Wortbildungsprodukte und -prozesse in der Lernersprache eine Verbindung zwischen Wortbildung und dem Erlernen und Gebrauch des Deutschen als Fremdsprache her. Eine Analyse der Frequenz von Wortbildungsprodukten im gesprochenen Diskurs von DaF-Lernern im Kontrast zu muttersprachlichen Sprechern ergibt, dass die Nicht-Muttersprachler weniger Wortbildungsprodukte verwenden. Die Belege wurden dem an der Universität Barcelona aufgebauten VARCOM-Korpus entnommen, das ca. 60 Stunden Videoaufnahmen umfasst. Ausgehend von der beobachteten Differenz in der gesprochenen Sprache wird untersucht, inwieweit die Verwendung von Wortbildungsprodukten in gesprochener Sprache asymmetrisch zu den Verhältnissen der geschriebenen Sprache ist und ob sich bei Muttersprachlern eine entsprechende Asymmetrie findet. Der Beitrag Wortbildung und Ad-hoc-Komposita: Typen, Implikationen und ihre möglichen Übersetzungen ins Spanische von Carmen Gierden und Dirk Hofmann beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Bedeutung von Adhoc-Komposita für die Alltagskommunikation, wobei allerdings bei häufigerem Vorkommen solcher Bildungen der Übergang zum Neologismus fließend ist. Die Autoren untersuchen, inwieweit aus Ad-hoc-Bildungen bestimmte Tendenzen in der Entwicklung der Wortbildungsregularitäten im heutigen Deutsch abgeleitet werden können. Es zeigt sich, dass bei Einführung eines neuen Wortes mit dem Wiedererkennungswert stabiler Wortbildungsmodelle gerechnet wird, dass aber die Ermittlung der jeweiligen Bedeutung von kulturell spezifischen Kontexten geleitet wird. Im Anschluss an diese Überlegungen werden - da Ad-hoc-Komposita nicht kodifiziert sind - Strategien der Entschlüsselung der nicht kodifizierten Komposita durch den DaF- Lerner und den Übersetzer angeboten. Eine theoretische Perspektive nimmt Djamel Eddine Lachachi mit seinem Beitrag Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung ein. Der Autor untersucht aus synchroner und diachroner Sicht Veränderungen und Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache bezüglich bestimmter Einleitung 13 Arten der Affigierung und diskutiert unter Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand die formale Abgrenzungsproblematik, die sich zwischen bestimmten Affigierungstendenzen und der Komposition ergibt. Auch in dem Beitrag von Meike Meliss Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung für technische Produkte im Vergleich: Deutsch-Spanisch wird ein Bezug auf neuere lexikalische Entwicklungstendenzen im Bereich der nominalen Komposition genommen. Der Beitrag verfolgt das Ziel, ausgehend von einer weitgefassten, für beide Sprachen akzeptablen Begriffsbestimmung, Konvergenzen und Divergenzen bei der Neuwortbildung für technische Produkte in der Anzeigenwerbung aufzuzeigen. Die Autorin versucht dabei, gewisse gemeinsame, eher als „untypologisch“ zu bezeichnende, komplexe nominale Konstruktionen mit einer allgemeinen sprachlichen Globalisierung zu begründen. Hans Schemann hält in seinem Beitrag Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede an wesentlichen Unterschieden fest, dass die Wortbildungsprodukte hauptsächlich analytisch-relationaler Natur sind, indem sie, von sprachlich bereits vorliegenden Lexemen mit ihren Bedeutungen ausgehend, Bedeutungen „abwandeln“. Die idiomatischen Verbindungen schaffen hingegen eine einheitliche, neue Bedeutung, sind also synthetischer Natur. Ähnlich sind beide Einheiten darin, dass sie einen lexikalischen Komplex aus mehreren „Elementen“ bilden. Wegen gewisser Überlappungen, die bei gängigen Klassifikationen auftreten, ist es notwendig, den Begriff der „Idiomatisierung“ von dem des „idiomatischen Ausdrucks“ klarer abzugrenzen. In dem Beitrag von Susan Schlotthauer und Gisela Zifonun zum Thema Zwischen Wortbildung und Syntax: Die ‘Wortigkeit’ von Partikelverben/ Präverbfügungen in sprachvergleichender Perspektive geht es nicht darum, diesen Verben oder Verbfügungen pauschal einen Ort in einem Kategoriensystem der Wortbildungsformen oder bei den syntaktischen Strukturtypen zuzuweisen. Es wird vielmehr eine Skala der ‘Wortigkeit’ angenommen und durch die Unterscheidung unterschiedlicher Domänen (prosodisches/ phonologisches Wort, morphologisches Wort, syntaktisches Wort) weiter differenziert. Bei der Einbeziehung von Fakten aus dem Vergleich mit den Kontrastsprachen Englisch und Ungarisch zeigt sich, dass sie mit dem Deutschen vergleichbare Konstruktionen aufweisen. Im Verfolg dieses Vergleichs, der auf die Arbeit im IDS- Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ zurückgeht, wird daher besonders der Frage nachgegangen, welche sprachtypologischen Parameter jeweils welchen Einfluss auf die ‘Wortigkeit’ haben. Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez 14 Maria Thurmair beschäftigt sich in dem Beitrag rüber, rein, rum & co: die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung im Wesentlichen mit den so genannten Doppelpartikelverben. Untersucht werden formale und semantische Aspekte dieser Bildungen und die Frage, in welcher Weise die Doppelpartikelverben mit den entsprechenden einfachen Partikelverben zusammenhängen (vgl. hineinsteigen vs. einsteigen). Bei den Bildungen mit r (ran, rauf etc.) wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Bildungen (etwa rankommen, rauflaufen etc.) Verkürzungen der entsprechenden Doppelpartikel-Bildungen mit her (heran, herauf etc.) sind oder einen eigenständigen Bildungstyp repräsentieren. Weiter wird untersucht, ob es regionale bzw. stilistische Unterschiede in Bildung und Gebrauch gibt. Maria Wirf stellt in ihrem Beitrag Über das Zerpflücken von Komposita: Semantische Beziehungen im komplexen Wort fest, dass der Semantik des zusammengesetzten Wortes durch Mittel syntaktischer Paraphrase oder Analyse nicht vollends beizukommen ist. Dem Lexemcharakter von Komposita entsprächen vielmehr kognitiv orientierte Interpretationen, die solche Bildungen mittels eines relativ kleinen Sets von zwischen ihren Bestandteilen gültigen Basisrelationen erklären. Im Hinblick auf das einzelne Kompositum wird diese Erklärung durch eine Deutung in Anlehnung an die interpretative Semantik Rastiers ergänzt. Im Rahmen von Ko- und Kontext kann es unter anderem zur Entstehung neuer afferenter Seme oder zur Annulierung sozial normierter Afferenzen, selbst zur Annulierung inhärenter Seme kommen: Hierin liege der begriffliche Mehrwert des Kompositums gegenüber seiner syntaktischen Fast-Entsprechung. Abschließend dokumentiert Ludwig M. Eichinger die Podiumsdiskussion zum Thema Stellung der Wortbildung in Lehre und Forschung: Methoden und Perspektiven. Zusammenfassend lässt sich aus den hier zusammengestellten Beiträgen schließen, dass die Beschäftigung mit Wortbildungsfragen weder unmodern noch unaktuell ist. Die Wortbildungsforschung stellt sich neuen Herausforderungen und ist bestrebt, dem Lehrer und Lerner die theoretischen Erkenntnisse zur Förderung der Rezeptions- und Produktionsfähigkeit z.B. durch eine anwendungsorientierte Perspektive näher zu bringen. Auch lassen sich Tendenzen aufzeigen, neue technologische Möglichkeiten für die Wortbildungsforschung zu nutzen, die u.a. der Lexikografie zu Gute kommen könnten. Die zunehmende Globalisierung unserer Welt macht sich auch in der Einleitung 15 Internationalisierung unsereres Wortschatzes und letztendlich in den verschiedenen Wortbildungsmechanismen unserer Sprachen bemerkbar und erfordert vor allem neue Techniken zur Verständnissicherung. Die dargebotene Themenvielfalt beweist, dass sich die Beschäftigung mit Wortbildungsfragen immer noch oder wieder lohnt. Wir hoffen daher, mit diesem Sammelband einen Einblick in einige der Bereiche der Wortbildung haben geben zu können, in denen sich u.a. neue Aufgabenbereiche herauskristallisieren. Außerdem wollen wir unsere Bemühungen, durch die Tagung und diesen Sammelband einen Beitrag zur internationalen Wortbildungsdiskussion geleistet zu haben, als Anstoß verstehen, sich auch zukünftig mit weiteren Aspekten, die in diesem Rahmen nur am Rande behandelt werden konnten (z.B. Wortbildung in Verbindung mit Ortografiereform, Stilistik, Varietätenlinguistik, Gesprächsanalyse, Sprachproduktion und -rezeption etc.), genauer zu beschäftigen. Santiago de Compostela / Mannheim, im November 2007 Die Herausgeber Literatur Altmann, Hans/ Kemmerling-Schöps, Silke (2005): Wortbildung fürs Examen: Studien- und Arbeitsbuch. 2., überarb. Aufl. Göttingen. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Hämmer, Karin/ Poethe, Hannelore (2007): Wortbildung - praktisch und integrativ. Ein Arbeitsbuch. 4., überarb. Aufl. Frankfurt a.M. Donalies, Elke (2004): Gut gefringst ist halb gewonnen. Zehn Plädoyers für einen freundlichen und freien Umgang mit der Wortbildung. Mannheim. Donalies, Elke (2005): Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen. Donalies, Elke (2007): Basiswissen Deutsche Wortbildung. München. Duden (2005) = Dudenredaktion (Hg.) (2005): Duden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Kauffer, Maurice/ Métrich, René (Hg.) (2007): Verbale Wortbildung im Spannungsfeld zwischen Wortsemantik, Syntax und Rechtschreibung. (= Eurogermanistik 26). Tübingen. Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / María José Domínguez Vázquez 16 Lawrenz, Birgit (2006): Moderne deutsche Wortbildung. Phrasale Wortbildung im Deutschen: Linguistische Untersuchung und sprachdidaktische Behandlung. Hamburg. Lohde, Michael (2006): Wortbildung des modernen Deutschen. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen. Motsch, Wolfgang (2004): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin/ New York. Schlienz, Michael (2004): Wortbildung und Text. Eine Untersuchung textverknüpfender Wortbildungselemente. Münster. Siebert, Susan (1999): Wortbildung und Grammatik. Syntaktische Restriktionen in der Struktur komplexer Wörter. Tübingen. Hans Altmann Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 1. Einführung Bei der Sammlung und Untersuchung von Wortneubildungen, also von nicht lexikalisierten und nicht usualisierten ad-hoc-Bildungen und Okkasionalismen vor allem im Bereich der Verbrauchsgüter (hier besonders Verkehr, Tourismus, Wellness, Kosmetik, Süßwaren) steht man immer wieder vor dem Problem, dass diese Wortneubildungen nur geschrieben vorliegen, dass es also keine authentischen lautlichen Realisierungen gibt. Für die Interpretation bleibt dem Linguisten wie dem normalen Sprachbenutzer nur die Schriftform, die in der bezüglich Wortneubildungen kreativen Werbung sehr normfern, da nicht an die offiziellen orthografischen Normen (wie auch an die Regeln der Wortbildung) gebunden, ist. 1 Diese Normfernheit ist schon mehrfach in der Literatur thematisiert worden, z.B. bei Stein (1999, 2002), Poethe (2000), Schaeder (1997), Ewald (1997), Barz (1993), Dürscheid (2000), um nur die jüngsten Veröffentlichungen zu nennen. Innerhalb der Werbung werden normwidrige Schreibungen teilweise ganz gezielt als „attention getting devices“ (Lipka 2000, S. 7ff.) verwendet. Diese Funktion kann die regelwidrige Schreibung jedoch nur so lange erfüllen, wie der Normverstoß für den größten Teil des angezielten Publikums erkennbar ist. Informelle Informantenbefragungen ergaben, dass z.B. Verstöße gegen die Regeln der Bindestrichsetzung sowie der &-Setzung praktisch von niemandem erkannt wurden; unerlaubte Getrenntschreibung (Spatien-Setzung; vgl. Jacobs 2005) wurde von wenigen Informanten erkannt; höhere Trefferquoten ergaben sich bei Total- und Binnengroßschreibung, doch ist hier zu vermerken, dass ein Großteil der Befragten das entsprechende Verbot nicht formulieren konnte. Nun könnte man danach fragen, warum das so ist. Ginge es nur um die Formulierung einer orthografischen Regel, so könnte man bei Informanten in schulnahem Alter von einem Versagen des Rechtschreib- 1 So antwortete die DB AG dem Autor auf seine Vorhaltungen wegen normferner Schreibungen wie BahnCard sinngemäß, dass die Bahn nunmehr keine Behörde, sondern eine Aktiengesellschaft und als solche nicht an die Regeln der deutschen Rechtschreibung gebunden sei. Hans Altmann 18 unterrichts ausgehen. In weitaus den meisten Fällen wird der Verstoß aber auch intuitiv nicht erkannt. Das unterscheidet möglicherweise die Befragten nicht von den Autoren der entsprechenden Wortneubildungen. Dafür spricht die Tatsache, dass mitunter auf einer Warenverpackung richtige und falsche Schreibung nebeneinander zu finden sind, z.B. bei der oft mit großen Buchstaben geschriebenen Warenbezeichnung auf der Vorderseite der Ware die Bestandteile untereinander zentriert ohne Trenn- oder Bindestrich (möglicherweise allein wegen des optischen Eindrucks), in der kleingedruckten Produktbeschreibung auf der Rückseite aber dann zusammengeschrieben oder mit Bindestrich. Dies verweist auf die Verfügbarkeit der grafischen Gestaltung (und daraus folgend auf die Geringschätzung orthografischer Normen). Das ist oft auf die Verunsicherung durch die Diskussionen um die Orthografiereform zurückgeführt worden. Tatsächlich aber setzte diese Diskussion erst in den neunziger Jahren ein, die massenhaften Abweichungen von den orthografischen Normen in Druckwerken aber schon ca. 10 Jahre früher, wie detaillierte Analysen z.B. der Süddeutschen Zeitung für die automatische Spracherkennung 2 ergaben. Meines Erachtens ist die Ursache die beginnende Verwendung des Computers im Herstellungsprozess zunächst von Zeitungen, später von Druckerzeugnissen aller Art. Der Computer erlaubt es Norm- Dilettanten, Druckvorlagen oder Ausdrucke selbst herzustellen, ohne dass Norm-Professionelle wie Lektoren, Korrektoren und Setzer diese Druckerzeugnisse noch kontrollieren. In jüngster Zeit kommen noch Rechtschreibprogramme, Silbentrennprogramme etc. hinzu, deren Output ungewöhnlich fehlerbelastet ist, wie jeder Betreuer von Abschlussarbeiten an Universitäten aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann. Man sehe sich auch die zahllosen Fehltrennungen in Zeitungen wie dem Münchner Merkur an. 3 - Auch als wissenschaftlicher Autor ist man mit dieser Situation konfrontiert und weiß, dass man ihr nicht gewachsen ist. Die deutsche Orthografie ist nichts für Dilettanten, und seien sie auch Hochschul-Germanisten. - Diese Situation bietet aber auch eine Chance: Viele Autoren orientieren sich nicht mehr an konkreten Regeln, sondern an einem recht vagen Regelgefühl, und dahinter könnte sich eine interessante Regelhaftigkeit verbergen. 2 Mündl. Mitteilung U. Ziegenhain. 3 Es sei hier nur angemerkt, dass zuverlässige Silbentrennprogramme seit langem existieren. So hat der Verf. bereits 1986 eine Dissertation der TU München mitbetreut, deren Gegenstand ein solches Programm war (Barthelmes 1986). Es erzeugte bei einer Million Trennungen nur 2-3 (kaum erkennbare) Fehltrennungen. Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 19 Mir geht es hier nur am Rand um die Normproblematik, aber ein kurzer Überblick über die auftretenden Erscheinungen ist doch notwendig. Die Beispiele werden hier jeweils in der bzw. einer der belegten Schreibform(en) geboten; nicht gerade selten erscheinen dieselben Wortneubildungen ja, wie oben bereits erwähnt, in mehreren Schreibungen, teilweise sogar am gleichen Gegenstand, z.B. unterschiedliche Schreibungen in Produktname, Produktbeschreibung und Produktinformation (vgl. dazu Kemmerling 2001, S. 181). Die in diesem Aufsatz verwendeten Belege wurden nicht zielgerichtet für den Zweck dieses Aufsatzes gesammelt, sondern sind quasi Abfallprodukt der systematischen Erfassung von Wortneubildungen in verschiedenen Sachgebieten wie Kosmetik, Tourismus und unterschiedlichen Warengruppen. Die Quellen sind bei Printmedien jeweils direkt am Beleg angegeben; bei Funden auf Homepages (es wurden nur deutsche Internetseiten verwendet) ist jeweils nur ein Stichwort angegeben, die zugehörige URL findet sich in einer Liste am Ende des Literaturverzeichnisses. 2. Orthografische Auffälligkeiten bei komplexen Wortneubildungen 2.1 Zusammenschreibung Sie ist normkonform bei Wortneubildungen aller Art, nicht normkonform bei syntaktischen Strukturen. Die wahrscheinlichste Position des lexikalischen Wortbildungsakzents (es gibt manchmal zwei und mehr mögliche Positionen) wird durch Unterstreichung des Vokals der betreffenden Silbe markiert. Bärenrunde (Outdoor Spezial, 5/ 2005, S. 9), Dachsurfbrettträger (Vaneo), Relinggrundträger (Vaneo), Dachskiträger (Vaneo), Großkatzensprung (Stern, 10.3.2005, S. 120), Dachzeltbusrundreise (extra-tour, Sept./ Okt. 2005, S. 65). Überzeugende Beispiele für die Zusammenschreibung syntaktischer Strukturen fanden sich in der Umgebung von Wortneubildungen nicht. 2.2 Bindestrichschreibung Sie ist normkonform bei sehr komplizierten und schwer zu segmentierenden Wortbildungen, bei nichtnativen Bestandteilen und damit bei Wortneubildungen generell, soweit sie auf nicht-lexikalisierte Bestandteile zurückgreifen (siehe Rechtschreib-Duden 2006, S. 1180, § 44/ 46). Hans Altmann 20 Mondphasen-Dampfsauna (Schrot&Korn Mai 2005, S. 77), Blond-Expertin (Paul-Mitchell), Intensiv-Creme (Olaz), (Beauty-)Geheimnis (Olaz), Pinguin- Parade (Geo Saison Melbourne & Victoria 1/ 2005, S. 12), ‘Sumpf-Etappe’ (Outdoor Spezial, 5/ 2005, S. 11), Multikulti-Metropole (Geo Saison, 1/ 2005, S. 21), Surfboard-Express (Focus, 9.8.2004, S. 89). Bei derartigen Beispielen gibt es eigentlich keine Analyseprobleme. Ein Blend wie Königs-Seerenade [Bad Reichenhall] wäre z.B. ohne Bindestrich kaum als Blend erkennbar und noch weniger in seinen Bestandteilen interpretierbar. 2.3 Zusammenschreibung + Binnengroßschreibung Diese Kombination ist nicht normkonform (vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1183, Abschn. D), aber grafische Blends wären anders kaum markierbar, siehe: „FahrtFinder 2006“ (extra tour, 2/ 2005, S. 39), ZugSpitzen (S Takt Service, Jan./ Febr. 2005, S. 6) (grafischer Blend), MitEinAnderWoche ( ÖBB Wedelweiss, Winter 2004/ 05, S. 11). 2.4 Totalgroßschreibung + Bindestrichschreibung Auch diese Kombination ist nicht normkonform. Sie kennzeichnet aber offenbar sehr zuverlässig Neosemantismen wie DAUER-WELLE (Focus 9.8.04, S. 1) (nicht etwa eine bestimmte Frisur, sondern eine sehr beständige Welle, die für Surfer nutzbar ist), RIESEN-Geschichte (Storck) (nicht etwa eine Geschichte von Riesen, sondern eine riesige Geschichte). 2.5 Getrenntschreibung mit Blank/ Spatium Sie ist bei Wortbildungsprodukten (abgesehen von Partikelverben; vgl. Jacobs 2005, Abschn. 4.1.4.2) nicht normkonform, tritt aber durchaus bei eindeutigen Determinativkomposita auf, typischerweise bei nichtnativen (englischen) Bestandteilen, so dass man entsprechende Beispiele nicht einfach als syntaktische Strukturen aussortieren kann: Compact Van (Vaneo), Frühlingsmandel Spezialität (Aldi-Werbeprospekt, Beilage der SZ vom 26.02.2005), Edelstahl Einstiegsleisten (Vaneo), Nachtgel / Nacht-Gel / Nacht Gel (Jade) (beachte Schreibvarianten beim gleichen Gegenstand). Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 21 2.6 Getrenntschreibung mit Blank/ Spatium einerseits und Bindestrichschreibung andererseits Make-Up Unterlage (Hairshop), Super Phyto-Vitalizing Factor (Shiseido). Auch hier ergibt sich wieder das Problem der Trennung von syntaktischen Strukturen. 2.7 Verwendung des Zeichens „&“ (Ligatur „et“) Das amtliche Regelwerk nimmt dazu nicht Stellung. Die Duden-Empfehlung (Rechtschreib-Duden 2006, S. 107) lautet aber: „Das ET-Zeichen & ist gleichbedeutend mit ‘und’, darf aber nur bei Firmenbezeichnungen angewendet werden.“ Es wird bei Wortneubildungen oft nicht normkonform angewendet, ist aber auch nicht typisch für Wortneubildungen. In vielen Fällen handelt es sich dabei nicht um Wortbildungen, sondern um syntaktische Koordinationen in komplexen Nominationen, insbesondere dann, wenn die Koordination Letztglied ist; fast immer ist dann das „&“ von Spatien eingerahmt. Pick up! Choco & Milch (Bahlsen), Bahlsen La Viva Frucht & Milch (Bahlsen), MULTI EFFECT EYESHADOW WET & DRY , LIPGLOSS TWIST & TASTE , PERFECT EYES EYELINER & EYESHADOW 2IN1 , PERFECT TEINT POWDER & MAKE UP 2IN1 , X-TREME LAST & SHINE AQUA PEARL , PERFECT CREAMY & CARE , PERFECT CREAMY & CARE ALUMINIUMS (alle Manhattan). Ist die Koordination Vorderglied, dann handelt es sich um eine Zusammenrückung innerhalb eines Determinativkompositums; in diesem Fall finden sich meist keine Spatien vor und nach dem „&“. Bett&Bike-Häuser (extra tour, 2/ 2005, S. 15), Fitness-&Wellnesspaket inclusive (FerienSupermarkt.tv bei 5-Live vom 22.06.2005), Mix&Travel-Suche (Stern, 23/ 2005, S. 95), Mozart City&Culture-Angebot (extra/ tour, Juli/ August 2005, S. 24). 2.8 Sehr komplexe Wortneubildungen Oft mit einer Kombinationen der unterschiedlichsten Abweichungen. Position des Wortbildungsakzents und Segmentierung sind in den meisten Beispielen unklar. Rikscha-Mobil-Service ( BUGA 05 München Prospekt) (vgl. Automobil, Papamobil), Live-Internet-Blitzhochzeit (mydays), Paar-Massage-Abend (mydays), Fahrradinnenraumträger (Vaneo), Bio-Blockhaus-Sauna (Urlaub1), Hans Altmann 22 Bio-Release-Kopfmassage (Posthotel), Dolomiten-Family-Hit-Pauschale (Urlaub2), Mega-Frühbucher-Bonus ( GTI German Travel Int. Werbeplakat, 17.11.2005, Bahnbereich), Mega-Kinder-Festpreis ( GTI German Travel Int. Werbeplakat, 17.11.2005, Bahnbereich), Online-Buchungs-Assistentin Holly Day (Start1) (Pauschalreisen im Internet), Outdoor Kinder-Fun-Park (Prospekt für Familienurlaub, Winter 2005/ 06, S. 9), Premium-Frühbucherrabatte (Urlaub3), Augen Make-up Entferner Balsam (oder Lotion) (Nivea), Oil Control Waschgel (Nivea). Nun kann man für die Schriftform und ihre Aussagekraft hinsichtlich des gemeinten Wortbildungstyps (und der zugehörigen lautlichen Merkmale wie Position des Wortbildungsakzents) nur wiederholen, was Schaeder bereits 1997 formuliert hat: Dem Dilemma, die jeweils geltende Orthographie durch Modelle der Wortbildung und Modelle der Wortbildung durch die jeweils geltende Orthographie zu begründen, läßt sich nur entkommen, wenn man von dem vorherrschenden Postulat einer 1: 1-Beziehung und der daraus nicht selten gefolgerten Gleichsetzung von Univerbierung und Komposition Abstand nimmt. Univerbierung kann, muß aber nicht notwendig zu Zusammenschreibung führen. (Schaeder 1997, S. 295). Dabei würde ich für den vorliegenden Zweck „Univerbierung“ durch „Wort(neu)bildung“ ersetzen und zudem nicht auf Komposition beschränken. Klare Schlüsse ließen sich also aus der Schreibung nur dann ziehen, - wenn es klare Regeln hinsichtlich der Schreibung der einzelnen Wortbildungstypen gäbe und diese die einzelnen Wortbildungstypen eindeutig kennzeichnen würden, also tendenziell keine Ambiguitätsfälle zulassen würden; und - wenn die Sprachbenutzer (mindestens in diesem Fall) diese Regeln kennen und fehlerfrei anwenden würden. Die orthografischen Normen beziehen sich aber nur ganz selten auf Wortbildungstypen (z.B. im Rechtschreib-Duden 2006, S. 1178, Abschn. C), und zwar mit gutem Grund: Weil man nämlich die Kenntnis und Unterscheidung der Wortbildungstypen beim normalen Schreiber nicht voraussetzen kann (und vielleicht auch nicht die Kenntnis der orthografischen Normen). Es bleibt also nur der Weg, die auftretenden, z.T. regelwidrigen Schreibungen systematisch zu erfassen und auf Ansätze zur Systematisierung zu überprüfen; sie könnten ja sogar intuitiv plausibler sein als die orthografischen Regeln: Vielleicht gibt es ja auch, wie Primus (1993 und 1997) und andere annehmen, eine Normintuition. Dann könnte man aus der Schreibung eines Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 23 möglichen Wortbildungsprodukts vorsichtige Schlüsse auf den Status als Wortbildungsprodukt (oder einer syntaktischen Struktur) sowie auf den gemeinten Wortbildungstyp ziehen. Natürlich kann/ muss man für die Lösung dieser Aufgaben auch den Ko- und Kontext heranziehen und die daraus folgende semantische Intuition, aus der sich ggf. eine bestimmte Wortstruktur folgern ließe. Aber das ignoriere ich für den vorliegenden Zweck weitgehend, um mich auf einige wenige Fälle zu konzentrieren, in denen Strukturambiguitäten möglich erscheinen, die z.B. nur durch Kenntnis der Position des Wortbildungsakzents aufgelöst werden könnten. Aber dafür gibt es in der Schreibung i.d.R. keine Hinweise. - Übrigens habe ich kein Beispiel dafür gefunden, dass ein Ausdruck, der eindeutig als komplexe syntaktische Struktur gemeint und erkennbar ist, zusammengeschrieben wurde (abgesehen natürlich von den bekannten Problemzonen bei den Partikelverben). Im Folgenden werde ich aus der Vielzahl der möglichen Konstellationen nur einige wenige exemplarische Fälle herauslösen, bei denen die Gestaltung der schriftlichen Form eines Wortbildungsprodukts Hinweise auf die gemeinte Struktur geben könnte. 3. Numerale als Erstglied, geschrieben als Ziffer mit Bindestrich oder als Zahlwort (zusammengeschrieben) 30 er-Multipack (Ferrero1), 10 er-Stangen (Ferrero2); Zweitakter, Viertakter, 10-Teiler / 10 Teiler / 10Teiler, 16-Ventiler. Bei den Beispielen 30 er-Multipack und 10 er-Stangen folgt auf eine Ziffer mit oder ohne Spatium (nur die Schreibung ohne Spatium ist regelkonform; vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1180, § 42) ein er und dann mit Bindestrich angeschlossen ein einfaches oder komplexes Substantiv. Die Ziffernschreibung könnte mit einer schon über 30 Jahre nicht mehr im Rechtschreib- Duden enthaltenen Regel zusammenhängen, nach der einsilbige Zahlwörter (eins bis zwölf) in Buchstaben, mehrsilbige Zahlwörter in Ziffern zu schreiben sind. 4 Das recht ungewöhnliche Adjektivsuffix (siehe auch Fuhrhop 2003 zu den Stadtadjektiven auf -er) muss irgendwie daran angeschlossen werden, nach meiner Beobachtung wohl nie mit einem Bindestrich (wie generell bei Suffixen). Auffällig ist dann der Anschluss des Substantivs mit einem Bindestrich, der üblicherweise eine wortinterne Grenze anzeigt. Das legt die Interpretation beider Beispiele als Wortbildungsprodukte mit einem 4 Hinweis O. Rezec. Hans Altmann 24 Wortbildungsakzent auf dem Numerale nahe. Tatsächlich aber ist es plausibler, das erste Beispiel als Syntagma aus pränominalem -er-Adj.Attribut und nominalem Kern zu analysieren, wobei der Normalakzent des Syntagmas auf Mulzu platzieren ist (vg. Straubinger Weißbier, Potsdamer Bürgermeister). Das zweite Beispiel könnte analog analysiert werden, ist aber plausibler als Determinativkompositum mit dem Wortbildungsakzent auf zeh- (abhängig von der Semantik des jeweiligen Substantivs). Bei den Beispielen der zweiten Reihe, bei denen es sich um längst lexikalisierte Wortbildungen handelt, tritt eine derartige Ambiguität nicht auf: Zweitakter, Viertakter, 10-Teiler, 16-Ventiler. (Zur Schreibung vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1179, § 40 (3)). Zwar findet sich wieder die Regel über die Ziffern- oder Buchstabenschreibung der initialen Numerale sowie bei der Ziffernschreibweise der Bindestrich an der Grenze zum Substantiv. Aber in allen Fällen liegt der Wortbildungsakzent auf dem Numerale, es ist also nur die Interpretation als Zusammenbildung möglich, da weder die Komponenten a+b noch b+c frei vorkommen (einer der beiden Zusammenbildungstypen mit einer NP-ähnlichen Struktur bei den Konstituenten a+b, gefolgt von einem -er-Suffix; vgl. auch Lawrenz 1997). 4. Kopulativkomposita als Erstglied eines Determinativkompositiums Bei Kopulativkomposita findet sich eigentlich so gut wie immer Bindestrich- Schreibung, so dass man schon fast zweifeln muss, ob ein Kopulativkompositum vorliegt, wenn dieses Merkmal fehlt. 4.1 Nur Bindestriche - kopulative Interpretation wahrscheinlich Bildet ein Kopulativkompositum das Erstglied eines substantivischen Determinativkompositums, so wird diese Struktur normalerweise mit Bindestrich zwischen allen Bestandteilen geschrieben (vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1180, § 44ff.): Citro-Cola-Geschmack (Ahoj), Edelstein-Licht-Pyramide (Start2), Schiebe- Hebe-Dach elektrisch (Vaneo), Schwarz-Pink-Design (discount24). Das einzige Problem bei der Interpretation ist die Frage, ob eine kopulative Interpretation bei den Erstgliedern im Hinblick auf deren Semantik möglich ist. Bei schwarz-pinkist das ziemlich eindeutig, bei den übrigen Beispielen Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 25 denkbar, zumindest bei Citro-Colaaber auch eine determinative Interpretation. Und natürlich können auch Determinativkomposita - durchaus normgerecht sogar - mit Bindestrich geschrieben werden, so dass ein Rückschluss von der Schreibung auf den Wortbildungstyp (und umgekehrt) nicht möglich ist. - Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass Beispiele mit Zusammenschreibung zwischen den Konstituenten b und c bei gleicher Wortbildungsstruktur durchaus vorkommen: Fitness-Wellnesspaket inclusive (Ferien Supermarkt.tv bei 5-Live vom 22.06.2005). Vielleicht ist diese Schreibung auf die Intuition zurückzuführen, dass das Verhältnis zwischen a und b einerseits anders ist als das zwischen b und c andererseits. Aber natürlich signalisiert die Zusammenschreibung ein engeres Verhältnis zwischen b und c als der Bindestrich zwischen a und b - und das ist irreführend. 4.2 Nur Bindestriche - kopulative Interpretation problematisch Wesentlich schwieriger sind Beispiele wie die folgenden zu analysieren: Blätter-Krokant-Eier (Aldi-Werbeprospekt, Beilage der SZ vom 26.02.2005), Butter-Mandel-Karamell (Kraft). Beide Beispiele kann man wie die unter 4.1 als Determinativkomposita mit einem kopulativen Erstglied interpretieren. In diesem Fall würde das jeweils zweite Teilwort (Krokant und Mandel) den Hauptakzent erhalten; allerdings sind Schwierigkeiten zu konstatieren, wenn man Blätter und Krokant bzw. Butter und Mandel als Kohyponyme interpretieren soll (semantische Bedingung für Kopulativkomposita). Der Kotext weist in diesem Fall aber aus, dass beide Wortbildungsprodukte Geschmacksrichtungen von Schokolade bezeichnen, möglicherweise basierend auf bestimmten Zutaten (was aber kaum möglich ist, denn was hätten Eier in Schokolade verloren; aber das könnte man auch von der entsprechenden Geschmacksrichtung denken). Dies könnte man interpretieren als Lückenbildung, wobei Schokolade oder auch Geschmack als Determinatum zu interpretieren ist, die vorausgehenden dreiteiligen Ausdrücke aber als Kopulativkomposita (die allerdings auch frei auftreten könnten). Der Wortbildungsakzent liegt in jedem Fall auf dem letzten Substantiv des Kopulativkompositums. 4.3 Spatium zwischen Kopulativkompositum und Determinatum Die Probleme vermehren sich noch, wenn bei einem parallel gebauten Beispiel gegen die Norm (vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1180, §§ 44ff.) der Bindestrich zwischen Kopulativkompositum und dem Determinatum Hans Altmann 26 fehlt - mit einer gewissen Plausibilität, weil die Relation innerhalb eines Kopulativkompositums grundsätzlich von anderer Art ist als zwischen diesem und dem Determinatum. Die Gewinner haben außerdem Zutritt zu dem neuen Energie-Kräuter- Edelstein Bäderparadies (Schrot & Korn, Mai 2005, S. 77). Bleibt das Problem, die ersten drei Substantive als Kohyponyme zu interpretieren - möglicherweise als (gemeinsame) Ingredienzien eines Bads. 5. Determinativkomposita mit Zusammenrückungen als Erstglied 5.1 Mit Durchkoppelungsbindestrich/ Erstglied aus NP und PP-Attribut Relativ viele Ambiguitätskonstellationen ergeben sich bei Zusammenrückungen. Ihre Bestandteile werden i.d.R. mit Durchkoppelungsbindestrichen verbunden (vgl. Rechtschreib-Duden 2006, S. 1180, § 44), solange sie nicht usualisiert sind; danach werden sie meist zusammengeschrieben. Zug-zum-Flug-Service ( TUI ), Alpen-im-Meer-Gefühl (Stern, 10.3.2005, S. 134). Das Erstglied hat dabei die Struktur NP + PP-Attribut. Lage des Wortbildungsakzents und Zuweisung des Wortbildungstyps sind damit unproblematisch. 5.2 Mit Spatien; Wortbildungsstruktur oder Syntagma? Das ändert sich aber bei den folgenden Beispielen sofort: Double Action Waschgel/ Washgel (Nivea), Multi-Power Pflegecreme (Biotherm). Für nichtnative Bestandteile ist die Getrenntschreibung durchaus nicht selten, offenbar in Anlehnung an das Englische; es kommt aber auch der Bindestrich vor, der deutlicher auf eine Wortbildungsstruktur verweist. Im ersten Fall könnte sowohl ein Wortbildungsprodukt wie unter 5.1 vorliegen als auch eine syntaktische Struktur aus einer NP aus pränominalem Adj.Attr., nominalem Kern und postnominalem Substantiv-Attribut, das allerdings den Phrasenakzent bekommt. Beim zweiten Beispiel verbietet sich die Interpretation als Syntagma weitgehend, der Wortbildungsakzent liegt in jedem Fall auf dem Zweitelement Power, beim Syntagma auf dem postnominalen N-Attr. Die semantischen Bedingungen sind allerdings für die erwähnte syntaktische Struktur nicht leicht zu erfüllen: Die NP müsste als eine Art Markenbezeichnung wie im Fall von VW Käfer, Mercedes Kompressor interpretiert werden. Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 27 5.3 Durchkoppelungsbindestrich, kombiniert mit Spatium Die Interpretation als Wortbildungsprodukt ist auch die einzige Möglichkeit bei einem Wort-Ungetüm (vgl. Lawrenz 1996; Meibauer 2003) wie 271-Liter-Super-Energiespar-Oldtimer Kühlschrank (Privileg) trotz des fehlenden Bindestrichs vor Kühlschrank. Ein Problem bleibt allerdings die (wahrscheinliche) Zuordnung des Wortbildungsakzents auf -gie-, die man wohl auf einen Phrasenakzent auf 271-Liter-Super-Energiesparzurückführen muss. Dabei handelt es sich um das Determinans zum Determinatum Oldtimer Kühlschrank. Eine andere Interpretation denn als nominales Determinativkompositum ist nicht plausibel, obwohl man für das Fehlen des Bindestrichs bzw. der Zusammenschreibung keinen überzeugenden Grund angeben kann. Bleibt das Problem der Binnenstruktur des Determinans. Superkönnte Steigerungsausdruck zu der Basis Energiespar-Oldtimer Kühlschrank sein. 271-Literist intern eine NP aus dem nominalen Kern Liter und dem pränominalen Numerale-Attribut 271-. Die NP insgesamt kann kein pränominales Attribut zum Rest des Ausdrucks sein. Sie muss also wohl selber Determinans zum Rest sein. 5.4 Spatien und Bindestriche, Kombination mit englischen Bestandteilen Die Probleme potenzieren sich bei Belegen wie den folgenden durch die Kombination mehrerer Wörter und durch das Fehlen von Zusammenschreibung oder Bindestrich (mit einer Ausnahme). Das würde normalerweise auf ein Syntagma deuten, nicht jedoch bei englischen Bestandteilen. Das erste Beispiel ist dafür sehr typisch. Die englischen Bestandteile stehen unverbunden, die deutschen Bestandteile werden mit Bindestrich verbunden. Das zweite Beispiel weist nur englische Bestandteile auf, typischerweise unverbunden, abgesehen von einem Rufzeichen ohne Spatium danach. Young Wash Off! Wasch-Gel (Nivea), GIRL'S PARTY NIGHT! LIPSTICK (Manhattan). Hier gibt es mehrere mögliche Interpretationen, zwischen denen man aber aus Mangel an Daten und Unklarheit über die Zuordnung zum deutschen oder englischen Sprachsystem aufgrund der Mischung deutscher und englischer Bestandteile nicht mehr entscheiden kann. Young und GIRL'S PARTY können als Attribute verstanden werden, der folgende Ausdruck als Determinativkompositum, wobei wiederum Wash Off! als Zusammenrückung Hans Altmann 28 (eines Imperativsatzes) interpretiert werden kann. In beiden Fällen könnte aber auch Wasch-Gel und LIPSTICK oder NIGHT! LIPSTICK als postnominales Attribut (also Syntagma) mit dem Phrasenakzent verstanden werden, wenn der jeweils vorausgehende Ausdruck als eine Art „Marke“ (Firmen-, Produktlinien-Bezeichnung) interpretiert werden könnte. Zusätzlich könnten aber auch beide Ausdrücke insgesamt als Determinativkomposita, eventuell mit Zusammenrückungen als Erstbestandteile, verstanden werden. 5.5 Nur Bindestriche, eindeutige Zusammenrückung als Erstglied Keine Zweifel über den Charakter als Zusammenrückung bestehen bei folgendem Beispiel: Lust-und-Laune-alles-drin-Service (Feriengut). Das Problem ist hier die Zuordnung einer syntaktischen Struktur, die zugrunde liegen könnte. Lust und Laune ist eine koordinierte NP, alles drin ein reduzierter Kopulasatz, aber was könnte die verbindende Gesamtstruktur sein? Dennoch klingt das Wortbildungsprodukt plausibel. 5.6 Kombination mehrerer grafischer Mittel Im Prinzip dieselben Probleme ergeben sich bei Beispielen wie 2 in 1 Reinigungsmilch & Gesichtswasser (Nivea), 1,2,3-Pflegeprogramm (Biotherm), also die Frage nach der möglichen syntaktischen Struktur von 2 in 1 und 1,2,3-. Beide Beispiele können als Determinativkomposita interpretiert werden mit dem Hauptakzent auf dem komplexen Determinans 2 in 1 bzw. 1,2,3-. Sie können aber auch als Syntagma mit postnominalem Attribut (und dem Phrasenakzent darauf) verstanden werden, wenn man 2 in 1 und 1,2,3als „Marken- oder Produktlinienbezeichnungen“ im weitesten Sinn versteht. Dass im ersten Fall ein Spatium vorhanden ist, deutet eher auf eine syntaktische Struktur, der Bindestrich im zweiten Beleg und das Fehlen von Spatien zwischen den Ziffern deutet eher auf eine Wortbildungsstruktur, aber das könnte auch zur „Marke“ gehören. Hinzuweisen bleibt auf die regelwidrige Verwendung des „&“-Zeichens, das eigentlich nur in Firmennamen verwendet werden dürfte; aber diese „Regel“ ist nicht in der „amtlichen Regelung“ enthalten. Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 29 6. NP-Koordinationen als Erstglied Bei koordinationsähnlichen Strukturen als Erstbestandteilen von Determinativkomposita findet man einen gleitenden Übergang von syntaktischen Strukturen zu Wortbildungsstrukturen, ohne dass man eindeutige Reflexe in der Schreibung diagnostizieren könnte. 6.1 Mit Bindestrich und Spatien Fitness-&Wellnesspaket inclusive (FerienSupermarkt.tv bei 5-Live), Garten- und Weinroute (ebookers). Im ersten Fall deutet die Folge von Bindestrich und „&“ auf eine elliptische koordinierte NP, wobei jedes der Konjunkte Erstbestandteil eines Determinativkompositums ist. Das inclusive ist ein postnominales unflektiertes Adjektivattribut, das den Phrasenakzent erhält. Das Fehlen von Spatien könnte aber auch auf eine Wortbildungsstruktur hindeuten, also eine Zusammenrückung einer N-Koordination als Determinans zu -paket. Beim zweiten Beispiel deuten der Bindestrich nach Garten- und die durch Spatien abgesetzte Konjunktion auf eine elliptische koordinierte NP, wobei jedes der Konjunkte Erstbestandteil eines Determinativkompositums ist. 6.2 Mit Durchkoppelungsbindestrich Diese Strukturzuweisung verbietet sich bei Sonne-Wind-und-Meer-Insel ( TV Karstadt, 18/ 2005, S. 111). Der Durchkoppelungsbindestrich kennzeichnet ziemlich eindeutig das Wortbildungsprodukt Zusammenrückung aus einer Koordination von 3 Substantiva als Erstglied eines Determinativkompositums. 6.3 Kombination unterschiedlicher grafischer Mittel Beim nächsten Beispiel lässt die Mischung der widersprüchlichen grafischen Mittel (Zusammenschreibung, Binnengroßschreibung, „&“ und Bindestrichschreibung) MozartCity&Culture-Angebot (extra-tour, Juli/ August 2005, S. 24) eine eindeutige Strukturzuordnung nicht zu. Am wahrscheinlichsten ist aber wohl eine Wortbildungsstruktur wie bei 6.2. Hans Altmann 30 6.4 Kombination aus Kopulativ- und Determinativkompositum Beim folgenden Beispiel Mutter-Tochter-Wohlfühltage (extra-tour, Sept.-Okt. 2005, S. 44) deutet der Durchkoppelungsbindestrich auf eine Wortbildungsstruktur aus Kopulativkompositum und Determinativkompositum. 6.5 Durchkoppelungsbindestrich; Übergang zu Reduplikation Bei der folgenden, völlig parallel erscheinenden Wortbildung liegt allerdings Reduplikation beim Erstglied vor. Bussi-Bussi-Bürger. 6.6 Durchkoppelungsbindestrich; Übergang zu Zusammenrückung Eine Wortbildungsstruktur haben wir wohl auch mit Haus-Haus-Gepäck- PLUS -Service ( ÖBB Wedelweiss, Winter 2004/ 05, S. 4) vor uns, aber hier stellt sich wieder die Frage nach der zugrundeliegenden syntaktischen Struktur des Determinans: Das PLUS bildet in der Basis ein postnominales Attribut mit unklarer Kategorie, aber für das Haus-Hausgibt es keine plausible Strukturzuweisung; eine Ellipse (von Haus zu Haus mit direktionaler Semantik) würde ich hier nur ungern annehmen. Unklar ist auch, ob man Gepäck dem Ausdruck Haus-Haus- oder dem postnominalen Attribut PLUS zuordnen soll. Die relativ klaren Akzentintuitionen, nämlich ein erster Akzent auf dem zweiten Haus, ein stärkerer Akzent auf PLUS, sprechen dagegen, den Ausdruck Gepäck dem Haus-Hauszuzuordnen (also als nominalen NP-Kern) oder dem PLUS; vielmehr scheint es ein Determinatum zu Haus-Hauszu sein. Das Wortbildungsprodukt Haus-Haus-Gepäck bildet zusammen mit dem postnominalen Attribut PLUS eine Zusammenrückung, und diese das Determinans zum Determinatum Service. 7. PP als Erstglied Die Basis der Zusammenrückung im Erstglied eines Determinativkompositums kann auch eine Art PP sein, häufig unter Verwendung von Anti und After, die beide in den Herkunftssprachen die Funktion einer Präposition haben, allerdings nicht in der deutschen Syntax. Dennoch muss man wohl die folgenden Wortneubildungen so klassifizieren: Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 31 Anti-Aging Sonnschutzspray (ciao), Anti-Oxidations-Schutz (Biotherm), Anti Falten Pflege vs. Anti-Falten-Pflege (Biotherm), Anti-Falten-Effekt (beautynet), After Shave Frische Balsam (Nivea). Der wahrscheinliche Wortbildungsakzent auf dem Zweitelement würde ebenfalls dafür sprechen. Interessanterweise wäre neben einer Strukturanalyse als Determinativkompositum auch eine Wertung als Syntagma (PP mit nachgestelltem nominalem Attribut) denkbar; der fehlende Bindestrich könnte darauf hindeuten, zusätzlich die Tatsache, dass es Anti-Aging- und Anti- Falten-Kosmetikreihen verschiedener Firmen gibt. In diesem Fall müsste das postnominale N-Attribut einen Starkakzent erhalten. Im zweiten Fall sprechen Bindestrich und Fugenelement gegen eine solche Deutung. 8. VP oder Teile davon als Erstglied Einen relativ neuen Typ bilden Determinativkomposita mit der Zusammenrückung einer VP oder von Teilen davon als Erstglied. Dabei ignoriere ich weitgehend die zahlreichen Beispiele mit nichtnativen Anteilen wegen der zusätzlichen Probleme bei ihrer Analyse. 8.1 Mit Zusammenschreibung Die folgenden Beispiele lassen meines Erachtens keinen Raum für Ambiguität: HERZENSCHNELLERSCHLAGENLASSENANGEBOT (Berger's Reisen, Berg am Laim-Str. München, 02.07.2005), SEHRZUFRIEDENGRINSEPREIS (ebd.), FA- MILIENFREUDESPRINGEPREIS (ebd.). Es handelt sich jeweils um Determinativkomposita mit einem Simplex- Determinatum und einer VP-Zusammenrückung als Determinans. Beim dritten Beleg würde man allerdings intuitiv dem Ausdruck FAMILIENdie Subjektrolle zuordnen: die Familien springen (vor) Freude. Es lässt sich aber auch eine Paraphrase unter Einbeziehung von PREIS denken, in der FAMILIEN- Akk.Obj. ist: Preis, der die Familien (vor) Freude springen (lässt). 8.2 Mit Durchkoppelungsbindestrich Die folgenden Beispiele würden auch eine Interpretation als S-Zusammenrückung ermöglichen (das erste zusätzlich als Determinativkompositum, wenn man Chek-in der Kategorie Substantiv zuordnet): Familien-Check-in-Schalter (Berlin), „Rundum-Verwöhn-Dich-Biohalbpension“ (Schrot & Korn, Mai 2005, S. 28). Hans Altmann 32 9. NP-Syntagmen (Ambiguität zu Wortbildungsprodukten) 9.1 Mit postnominalem N-Attribut Bestimmte NP-Strukturen, die z.T. aufgrund der Nominationsfunktion als Wortbildungsprodukte eingestuft wurden (Naumann 2000; Ortner/ Ortner 1984, S. 36; Piller 2000, S. 59; Meineke 1991, S. 37, 71; „invertierte Determinationsstruktur“; exozentrisch-endozentrisch), würde ich meist als Syntagmen werten: Pocket Coffee Multibox (Ferrero3), Milch-Schnitte Einer Pack (Ferrero4), Leibniz Checo, Leibniz Vollkorn, Leibniz Minis, Leibniz Zoo (Bahlsen). Für sie ist typisch, dass das Erstglied von einer Firmenbezeichnung gebildet wird. Das Letztglied werte ich wieder als postnominales N-Attribut, das als letztes lexikalisches Element des NP-Syntagmas den normalen Phrasenakzent erhält. Die Getrenntschreibung ohne Bindestrich passt zu dieser Interpretation. 9.2 Postnominales N-Attribut: Ambiguitätsfälle Die folgenden Beispiele würden ebenfalls unter dieses Schema passen, doch könnte die Totalgroßschreibung des Erstglieds auf einen Akzent darauf deuten: FRESH Spray (Biotherm), FRESH Zerstäuber (Nivea). Tatsächlich ist aber FRESH die „Marke“ einer Kosmetikserie, die Großschreibung spricht also nicht gegen den Akzent auf dem Letztglied. Das Erstglied ist aber nicht auf eine Firmen- oder Produktbezeichnung festgelegt, wie die folgenden Beispiele zeigen: Pflegedusche Fitness (Nivea), Rasiergel Frische (Nivea), Sitzheizung Vordersitze (Vaneo), Vorrüstung CD -Wechsler (Vaneo). 9.3 Postnominales N-Attribut: weitere Ambiguitätsfälle Gar nicht mehr so eindeutig sind hingegen die folgenden sehr komplexen Beispiele: AQUA COOL Zerstäuber (Nivea), AQUA COOL Roll-on (Nivea), LIPGLOSS TWIST & TASTE (Manhattan), Augen Make-Up Entferner Lotion (Nivea). In allen Fällen könnte (bei den angegebenen Akzentpositionen) ein Determinativkompositum vorliegen (am wahrscheinlichsten beim letzten Beispiel), mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit auch ein Syntagma. Bei Berücksichtigung der Schreibung käme man vielleicht zu der Deutung, dass die Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 33 Totalgroßschreibung eine „brand mark“ kennzeichnet, die normale Schreibung das klassifikatorische postnominale Attribut (mit dem Phrasenakzent). Das Spatium dazwischen begünstigt die Interpretation als Syntagma. Bleibt die Frage, warum AQUA COOL als Produktname/ Serienname nicht zusammengeschrieben wird. Tatsächlich finden sich bei der Suche mit Google auch solche Varianten. 9.4 Mögliche Fälle von Zusammenbildung Zum Schluss noch der Fall einer Zusammenbildung allein aus einer VP, kombiniert mit einem Substantivierungssuffix (vgl. auch Lawrenz 1997). Die Beispiele wirken sehr ungewöhnlich, sind aber wohl möglich: Auto-lieber-Stehenlasser, Tankstellen-links-liegen-Lasserin, Am-Stau-Vorbeifahrerin (alle Belege S-Bahn Berg am Laim, München, 13.6.2005). Interessant ist hierbei, wie der Konflikt zwischen den verschiedenen Strukturaspekten in der Schreibung gelöst wurde. Verb plus Nominalisierungssuffix bilden zwar eine Art Substantiv, aber dieses ist (isoliert) nicht akzeptabel; trotzdem wird es jeweils groß geschrieben, was den Eindruck vermittelt, dass es sich um ein mögliches Substantiv handelt. Der Durchkoppelungsbindestrich passt zum Bildungstyp ebenso wie zum Status als Okkasionalismus. 10. Fazit Zusammenfassend kann man also sagen, dass man auf die semantische Intuition (z.B. Nominationsfunktion) bei der Strukturzuordnung nicht vertrauen kann, da nicht nur Wortbildungsprodukte, sondern auch bestimmte Syntagmen eine Nominationsfunktion haben. Ebensowenig kann man sich auf die jeweils angebotene Verschriftlichung verlassen. Doch wird, trotz der scheinbar chaotischen Lösungen, immer wieder eine gewisse Regelhaftigkeit sichtbar, die bis zu einem gewissen Grad doch ein Indiz, wenn auch nicht einen Beweis bildet. 11. Literatur 11.1 Wissenschaftliche Literatur Barthelmes, Heinz (1986): Ein Algorithmus zur automatischen graphischen Worttrennung im Deutschen. Masch. phil. Diss. TU München. Barz, Irmhild (1993): Graphische Varianten bei der substantivischen Komposition. In: Deutsch als Fremdsprache 30, S. 167-172. Hans Altmann 34 Dürscheid, Christa (2000): Verschriftungstendenzen jenseits der Rechtschreibreform. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 28, S. 237-247. Ewald, Petra (1997): Is' wat? SparGeld! Graphostilistika als sekundäre und primäre Stilelemente. In: Keßler, Christine/ Sommerfeldt, Karl-Erich (Hg.): Sprachsystem - Text - Stil. Frankfurt a.M., S. 49-60. Fuhrhop, Nanna (2003): ‘Berliner’ Luft und ‘Potsdamer’ Bürgermeister. Zur Grammatik der Stadtadjektive. In: Linguistische Berichte 193, S. 91-108. Jacobs, Joachim (2005): Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch. Berlin/ New York. Kemmerling, Silke (2001): Produktive Wortbildungstypen in der Werbesprache. Eine Untersuchung substantivischer Neuprägungen in der Verbrauchsgüterwerbung. Masch. phil. Diss. u. Korpusband. München. Lawrenz, Birgit (1996): Der Zwischen-den-Mahlzeiten-Imbiß und der Herren-der- Welt-Größenwahn: Aspekte der Struktur und Bildungsweise von Phrasenkomposita im Deutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 24, S. 1-15. Lawrenz, Birgit (1997): Zu-Spät-Kommer und Dumme-Fragen-Steller im Mann-von- Welt-Look: Phrasenkomposition und Phrasenderivation im Deutschunterricht. In: Wirkendes Wort 47, S. 112-136. Lipka, Leonhard (2000): English (and general) word-formation - the state of the art in 1999. In: Reitz/ Rieuwerts (Hg.), S. 5-20. Meibauer, Jörg (2003): Phrasenkomposita zwischen Wortsyntax und Lexikon. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 22, 2, S. 153-188. Meineke, Eckard (1991): Springlebendige Tradition. Kern und Grenzen des Kompositums. In: Sprachwissenschaft 16, S. 27-88. Naumann, Bernd (2000): Einführung in die Wortbildungslehre des Deutschen. 3., neubearb. Aufl. Tübingen. Ortner, Hanspeter/ Ortner, Lorelies (1984): Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Tübingen. Piller, Ingrid (2000): Developments in the formation of brand names. In: Reitz/ Rieuwerts (Hg.), S. 53-62. Poethe, Hannelore (2000): Wortbildung und Orthographie. In: Muttersprache 110, S. 37-51. Primus, Beatrice (1993): Sprachnorm und Sprachregularität: das Komma im Deutschen. In: Deutsche Sprache 3, S. 244-263. Primus, Beatrice (1997): 5.8 Satzbegriffe und Interpunktion. In: Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius, Dieter/ Sitta, Horst (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen, S. 463-488. Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 35 Rechtschreib-Duden (2006) = Duden (2006): Duden. Bd. 1: Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Hrsg. v. d. Dudenredaktion auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. [Hier wird überwiegend die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung S. 1162-1216 zitiert: zur Schreibung von Zusammensetzungen: B. Getrennt- und Zusammenschreibung. S. 1172-1178, § 33-39; C. Schreibung mit Bindestrich. S. 1178-1183, § 40-52]. Reitz, Bernhard/ Rieuwerts, Sigrid (Hg.) (2000): Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings of the 22nd Conference of the German Association of University Teachers of English. Trier. Schaeder, Burkhard (1997): Wortbildung und Orthographie: Getrennt- und Zusammenschreibung. In: Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne (Hg.): Nominationsforschung im Deutschen. Frankfurt a.M., S. 285-296. Stein, Stephan (1999): Majuskeln im WortInnern: Ein neuer graphostilistischer Trend für die Schreibung von Komposita in der Werbesprache. In: Muttersprache 109, S. 261-278. Stein, Stephan (2002): Guten Talk. Canon Sie schon dieses Angebot? Formen, persuasives Potenzial und textsemantische Funktionen graphostilistischer Variation in Werbetexten. In: Pohl, Inge (Hg.): Semantische Aspekte öffentlicher Kommunikation. Frankfurt a.M., S. 383-411. 11.2 Internet 11.2.1 Touristische Homepages Bad Reichenhall = www.bad-reichenhall.de/ static/ index.shtml? rahmen $ programme 5 (Stand: Mai 2007). Berlin = www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/ archiv/ bin/ dump.fcgi / 2000/ 1118/ reise/ 0005 (Stand: Juni 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). ebookers = www.ebookersfrance.com/ produits/ templates/ de_tmpl_hol $ idays.asp? id_prod=4811&desti=&type=18&startrow= (Stand: Mai 2007). Feriengut = www.feriengut-boehmhof.de/ aktuell/ pausch.htm (Stand: Mai 2007). Posthotel = www.posthotel.at/ typo3/ St_Barth.16.0.html (Stand: Mai 2007). Start1 = www.start.de/ S: PtVOSN: d4LAptNNrss8B9NNNUAM/ start/ view/ pa $ uschal/ subhome/ pauschalreisen_indes.shtml (Stand: Mai 2007). 5 Bei der Wiedergabe von Internetadressen kennzeichnet das Trennzeichen $ am Zeilenende einen layoutbedingten Umbruch, der nicht Bestandteil der Adresse ist. Bindestriche, die Bestandteil der Internetadresse sind, werden als „normale“ Minuszeichen („-“) wiedergegeben. Sie sind auch dann einzugeben, wenn sie am Zeilenende stehen. Hans Altmann 36 Start2 = www.start.de/ s: ptvosn: d4lapt (Stand: Mai 2007). TUI = www.tui.de/ TUI/ Reisen (Stand: Juni 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). Urlaub1 = www.urlaub.de/ wellness-duett.0.html (Stand: Mai 2007). Urlaub2 = www.urlaub.de/ lienzer-dolomiten-2.0.html (Stand: Mai 2007). Urlaub3 = www.urlaub.de/ fruehbucherrabatt.0.html (Stand: Mai 2007). 11.2.2 Süßwaren-Homepages Ahoj = www.ahoj-brause.de/ indesx2.php (Stand: Januar 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). Bahlsen = www.bahlsen.de/ root_bahlsen_anim/ root.html (Stand: Mai 2007). Ferrero1 = www.ferrero.de/ ferrero_kuesschen/ default.aspx (Stand: Januar 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). Ferrero2 = www.ferrero.de/ produkte/ giotto/ default.aspx (Stand: Mai 2007). Ferrero3 = www.ferrero.de/ produkte/ pocket_coffee/ default.aspx (Stand: Januar 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). Ferrero4 = www.ferrero.de/ produkte/ milschnitte/ default.aspx (Stand: Januar 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). Kraft = www.kraftfoods.de/ kraft/ page? sileid=kraftprd&locale=ded $ e1&PagecRef=2308&Mid=2300 (Stand: Mai 2007). Storck = www.storck.com/ de/ brand/ riesen/ 10616.php (Stand: März 2005, Seite Mai 2007 nicht mehr online). 11.2.3 Auto-Homepage Vaneo = www.mercedesbenz.de/ content/ germany/ mpc/ mpc_germany_web $ site/ de/ home _ mpc/ mpvs _ and _ camper_vans/ home/ products/ new_ve $ hicles.html (Stand: Mai 2006, Seite Mai 2007 nicht mehr online). 11.2.4 Kosmetik-Homepages beautynet = www.beautynet.de . Biotherm = www.biotherm.de . discount24 = www.discount24.de . Hairshop = www.hairshop-kopfkunst.com . Jade = www.maybelline.de . Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung 37 Manhattan = www.manhattan.de . mydays = www.mydays.de . Nivea = www.nivea.de . Olaz = www.olaz.de . Paul-Mitchell = www.paul-mitchell.de . Shiseido = www.shiseido.de . (Alle Homepages in diesem Abschnitt Stand: Mai 2007.) 11.2.5 Hausgeräte-Homepage Privileg = www.privileg.de / www.shopping.com (Stand: Mai 2007). Irmhild Barz Englisches in der deutschen Wortbildung 1. Vorbemerkung Gegenstand dieses Beitrags ist der gegenwärtige Einfluss des Englischen auf das Deutsche, und zwar speziell auf die Wortbildung des Deutschen. Es wird gefragt, in welchem Maße das Wortbildungssystem englischem Einfluss unterliegt, wie sich dieser Einfluss äußert und wie man die entsprechenden Erscheinungen systematisieren kann. 1 Angeregt werden die folgenden Überlegungen vor allem von der aktuellen Wortschatzentwicklung und deren Erforschung. Munske macht in der jüngsten Fassung seines Wortschatzwandelmodells deutlich, dass zum Wortschatz, bezieht man die Sprachträger und ihr Sprachvermögen ein, grundsätzlich „auch das operative Wissen der Wortbildung“ gehört (Munske 2005, S. 1388). Eine Betrachtung zum Wandel des Wortschatzes hat deshalb auch die Wortbildung zu berücksichtigen. Als wesentliches Kennzeichen aktueller Wortschatzentwicklung gilt die beträchtliche Zunahme lexikalischer Entlehnungen aus dem Englischen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fasst man Entlehnungsprozesse als Auslöser dauerhafter Veränderungen im Wortschatz auf - und an der Berechtigung dieser Annahme zweifelt niemand - kann man folglich erwarten, dass sich auch Wortbildungsregularitäten verändern. Dass die Entlehnungen aus dem Englischen in jüngster Zeit quantitativ zunehmen, belegt überzeugend das Neologismenwörterbuch von 2004 (Herberg/ Kinne/ Steffens). Es registriert immerhin 40% der neuaufgekommenen Lexeme und Bedeutungen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als Übernahmen aus dem Englischen, dazu weitere 20% hybride Bildungen, d.h. komplexe Bildungen mit einer indigenen und einer aus dem Englischen entlehnten Konstituente. Offenbar ist diese Entwicklung ein „nicht zu bremsender Siegeszug“ (Viereck 2004, S. 3325). Man spricht vom „ständigen Zufluss neuer Wörter“ (Munske 2004, S. 166) oder davon, dass „täglich neue [lexikalische Entlehnungen aus dem Englischen] auftauchen“ (Glück 2004, S. 148), und von deren „epidemischer“ Ausbreitung (Eisenberg 2001, S. 186). Auch 1 Für zahlreiche wertvolle Hinweise, insbesondere zum Englischen, danke ich Beate Seidel; für die konstruktive Diskussion einer ersten Fassung des Beitrags Jessica Heimbecher. Irmhild Barz 40 wenn nachgewiesenermaßen nicht alle spontanen Entlehnungen auf Dauer im Deutschen bleiben (Zifonun 2002, S. 3), werden für Deutsch als Fremdsprache schon negative Folgen befürchtet: „Ausländer brauchen englische Sprachkenntnisse, um dieses Deutsch zu lernen“, schreibt ein in den USA im Sprachunterricht tätiger Germanist (Eichhoff 1999, S. 24). Unabhängig davon, ob man einer solchen Zuspitzung beipflichten möchte oder nicht, leitet sich daraus zumindest eine dringende Forschungsaufgabe für die Germanistik ab, nämlich die weitere Analyse des sprachkontaktbedingten gegenwärtigen Sprachzustandes. In der aktuellen kontaktlinguistischen Literatur werden in dem Zusammenhang vor allem systematische multilinguale Untersuchungen im europäischen Rahmen angeregt (Schmitt 2000, S. 1075; Görlach 2000). Einen Anfang in diese Richtung macht das Projekt „Grammatik im europäischen Vergleich“ am Institut für Deutsche Sprache (Donalies 2004; 2005), das ausgewählte Gegebenheiten der Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch vergleichend beschreibt. Hieran knüpft der vorliegende Beitrag an, beschränkt sich jedoch auf das Sprachenpaar Englisch-Deutsch. Basierend auf vorliegenden Handbüchern werden zunächst Gemeinsamkeiten der englischen und deutschen Wortbildung herausgestellt. Im Anschluss daran wird beschrieben, welche Veränderungen sich in der deutschen Wortbildung als Einwirkung englischer Lexik und englischer Wortbildung erklären lassen. Methodische Schwierigkeiten erwachsen dem Vorhaben daraus, dass bei Anglizismen (Terminus nach Bußmann 2002, S. 81) synchron oft nicht zwischen Entlehnung, Fremdwortbildung und Polygenese unterschieden werden kann. Wie Fremdwörter generell können Anglizismen aus dem Englischen transferiert oder erst im Deutschen gebildet sein, ohne dass ihre Form oder ihre Bedeutung Hinweise auf das eine oder andere geben (Müller 2005, S. 203; Viereck 2004, S. 3324). So könnten Babyboom und Snowboardboom durchaus Fremdwortbildungen, also deutsche Eigenbildungen sein, denn sowohl Baby und Snowboard als auch Boom sind im Deutschen geläufig und das Kompositionsmodell existiert ebenfalls in beiden Sprachen. Tatsächlich handelt es sich jedoch bei Babyboom nachweislich um eine Entlehnung, Snowboardboom dagegen könnte sowohl Entlehnung als auch Fremdwortbildung sein. Einschlägige Wörterbücher sind in dieser Frage keine sichere Stütze. Zum einen können sie natürlich nicht alle Wortbildungen verzeich- Englisches in der deutschen Wortbildung 41 nen, zum anderen beurteilen sie die fraglichen Bildungen z.T. auch unterschiedlich, wie sich beispielsweise an einander widersprechenden Angaben zu Test, testen und Tester zeigt. Nach dem Anglizismen-Wörterbuch (AWB 2001, S. 1515-1521) sind die drei Wörter Übernahmen der englischen Wörter test, to test und tester. Nach dem Deutschen Fremdwörterbuch ist das Verb „wohl“ im frühen 20. Jahrhundert aus dem entlehnten Substantiv Test im Deutschen abgeleitet und das Nomen Tester ist eine „unter Einwirkung von gleichbed[eutendem] engl[isch]/ amerikan[ischem] tester aufgekommene subst[antivische] Ableitung“ (DFWB 1981, S. 196). Ursache für die unterschiedlichen Erklärungsmöglichkeiten ist wie bei der Komposition, dass beide Sprachen die Wortbildungsmodelle Konversion ‘Nomen Verb’ (Test testen) und die Derivation ‘Verb + -er’ (testen Tester) mit der Wortbildungsbedeutung ‘Nomina agentis’ kennen und dass die historische Belegsituation offenbar beide Interpretationen erlaubt. Das AWB lässt in unklaren Fällen meist zwei Entstehungswege zu. So wird bei Testfall Teilsubstitution (aus engl. test case) oder Wortbildung im Deutschen aus Test und Fall angegeben (AWB 2001, S. 1518). 2. Gemeinsamkeiten der englischen und der deutschen Wortbildung Die Wortbildungssysteme des Englischen und des Deutschen sind einander sehr ähnlich (Munske 2004, S. 162; zu Unterschieden Burgschmidt 1995, S. 90). Zwei Eigenschaften der beiden Sprachen zeichnen in der Hauptsache dafür verantwortlich: Die eine ist die historische Verwandtschaft. Als germanische Sprachen verfügen Deutsch und Englisch trotz einer 1500 Jahre andauernden Auseinanderentwicklung (Busse/ Solms 2002, S. 105) auch heute noch über grundlegende strukturelle und lexikalische Gemeinsamkeiten. Diese drücken sich in der Wortbildung vor allem in der Übereinstimmung der Wortstrukturen aus, nach Zemb in dem zentripetalen Aufbau ihrer Produkte (Bergmann 1998, S. 177). Die zweite ebenso bedeutsame Eigenschaft ist ein gleichermaßen hoher Anteil griechisch-lateinischer und romanischer Lexik in beiden Sprachen. Diese Lexik sorgt dafür, dass man für die Wortbildung beider Sprachen mittlerweile jeweils zwei komplementäre Subsysteme annimmt, und zwar die indigene Wortbildung einerseits und die so genannte eurolateinische andererseits (Kastovsky 1995; Lipka 1995; Munske 1996). Man meint mit „eurolateinisch“ die Erscheinung, dass viele europäische Sprachen, so auch Deutsch und Englisch, bei der aktuellen Vermehrung Irmhild Barz 42 des bildungs- und wissenschaftssprachlichen Wortschatzes auf griechischlateinisches Sprachgut zurückgreifen. Zum einen übernehmen sie Latinismen aus Sprachräumen, die die Entwicklung in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft maßgeblich bestimmen, und zum anderen prägen sie jeweils eigene Neubildungen mit griechisch-lateinischen Wortbildungselementen. 2 Nach Schmitt (2000, S. 1080) ist das Eurolatein für die westeuropäischen Sprachen „zur entwicklungsbestimmenden Größe“ geworden. Im Englischen ist der Anteil des Eurolateins noch höher als im Deutschen. Als einen wesentlichen Unterschied zwischen indigenem (heimischem) und eurolateinischem Wortbildungssystem nennt Kastovsky (1995, S. 107) für das Englische - und das gilt für das Deutsche ebenso - den morphologischen Status der Wortbildungsmittel. Während in der indigenen Wortbildung bevorzugt Wörter in neue Wortbildungen eingehen, sind es in der Fremdwortbildung gebundene Stämme, die wie auch die fremden Affixe viele Varianten aufweisen. Heimische Mittel bleiben dagegen weitgehend formkonstant. Als weitere Unterschiede kommen Kombinationsrestriktionen und bei der Derivation die substituierende Derivation in der Fremdwortbildung gegenüber der additiven in der heimischen Wortbildung hinzu. Im Deutschen wie im Englischen sind es also die eurolateinische „Überdachung“ (Schmitt 2000, S. 1080) und die historische Verwandtschaft, die für einen hohen Grad an Isonomie (Bergmann 1998) zwischen der Wortbildung der beiden Sprachen oder, mit Habermann (1999, S. 30) gesprochen, für „weitgehend analoge Strukturen“ sorgen. Die Isonomie lässt sich sowohl an den strukturell-morphologischen Bildungsmustern, den Wortbildungsarten, belegen als auch an den an Wortbildungen beteiligten Bildungsmitteln. 2.1 Wortbildungsarten In beiden Sprachen entstehen neue Wortbildungen hauptsächlich durch Komposition, Derivation, Konversion und Kurzwortbildung. Und auch die eher periphere Kontamination ist hier wie da vertreten (Hansen et al. 1985). Ich beschränke mich auf einen knappen exemplarischen Vergleich der Komposition beim Nomen (vgl. Donalies 2004). Die wichtigste und am häufigsten genutzte Kompositionsart beim Nomen ist im Deutschen und auch im Englischen das Determinativkompositum mit nominalem Erstglied (Sonnenschein, bedroom). Auch Verb und Adjektiv 2 Zur Entstehung der Fremdwortbildung (auch: Lehnwortbildung) vgl. Erben (2003, S. 2527). Englisches in der deutschen Wortbildung 43 sind in beiden Sprachen als Erstglied vor Nomina möglich (copyright, Esszimmer, smalltalk, Fremdsprache). Ebenso häufig sind Konfix- und Phrasenkomposita. Konfixe (im Englischen als ‘combining forms’ bezeichnet) kombinieren mit Wörtern und auch mit sich selbst (biochemistry - Biochemie, Iraqgate - Spielothek, biography - Biografie). Konfixstatus haben im Deutschen darüber hinaus entlehnte gebundene Elemente englischer Herkunft wie home-, highin Homebanking, Highlife. Schließlich gelten auch Phrasenkomposita, also solche mit syntaktischen Fügungen in Erstgliedposition (oneto-one system, Geld-zurück-Garantie) als charakteristisch für beide Sprachen. Abgesehen von der Schreibung der Komposita, für die man im Englischen in Bezug auf Getrennt-, Zusammen- und Bindestrichschreibung mehr Spielraum hat, treffen die strukturell-morphologischen und semantischen Merkmale des Kompositums auf entsprechende Wortbildungen beider Sprachen gleichermaßen zu: feste Reihenfolge der unmittelbaren Konstituenten, Rechtsköpfigkeit, potenziell komplexe Konstituenten, so gut wie keine semantischen Restriktionen in Bezug auf die Kombinierbarkeit von Erst- und Zweitglied. Die Kompositionsaktivität von Anglizismen ist im Deutschen in keiner Hinsicht eingeschränkt, im Gegenteil: Nach Yang (1990, S. 139) dominieren quantitativ sogar die Mischkomposita aus deutschen und englischen Konstituenten gegenüber denen aus zwei entlehnten Lexemen. Nur bei der Fugengestaltung treten Besonderheiten auf (Eisenberg 2001, S. 190). Aus diesem Befund ergibt sich, dass für eine Zuordnung anglizistischer Komposita im Deutschen zu den Herkunftsklassen Polygenese, lexikalischer Transfer oder deutsche Eigenbildung weder morphologische noch semantische Indizien erwartet werden können. Allenfalls der Usualisierungsgrad von Anglizismen im Deutschen könnte befragt werden. Tendenziell gilt: Je geläufiger die Anglizismen sind, desto wortbildungsaktiver werden sie. Ein Kompositum aus usuellen Anglizismen ist demnach mit größerer Wahrscheinlichkeit eine deutsche Eigenbildung als eines aus eher seltenen oder ganz jungen Entlehnungen. Sind die unmittelbaren Konstituenten eines Kompositums im Deutschen allerdings nicht selbstständig, kann das Wort zweifelsfrei als Entlehnung qualifiziert werden, z.B. Mainstream, Deadline. Aus der Gleichheit der Wortbildungsart Komposition ergibt sich, dass englische Komposita im Deutschen einen „unauffälligen Auftritt“ auch beim erstmaligen Erscheinen haben, dass Teilsubstitutionen leicht zu bewerkstelligen und dass Eigenbildungen aus zwei entlehnten Konstituenten bzw. Mischbildungen unrestringiert möglich sind. Irmhild Barz 44 2.2 Wortbildungsmittel Wenn unter Wortbildungsmitteln Bausteine aller Art für die Bildung neuer Wörter verstanden werden, dann gehören Wörter, Kombineme sowie syntaktische Fügungen dazu. In beiden Sprachen werden sie für Neubildungen genutzt. Im Folgenden geht es um den Bestand an Kombinemen. Das Kombineminventar im Englischen und Deutschen ist durch eine große Zahl formal und semantisch ähnlicher oder identischer Einheiten gekennzeichnet. Sie sind meist griechisch-lateinischer Herkunft (Munske 2004, S. 162). Vielfach finden sich in beiden Sprachen sogar die gleichen mit diesen Kombinemen gebildeten „eurolateinischen“ Lexeme (Munske 1996, S. 82). Es existieren aber auch jeweils einzelsprachliche Bildungen desselben Wortbildungsmodells. Eine Übersicht über nominale Affixe und Konfixe mit jeweils einer englischen und einer deutschen Wortbildung als Beispiel soll die Übereinstimmungen exemplarisch belegen. 3 2.2.1 Suffixe Suffixe für Geschehensbezeichnungen aus Verben: -ation Transformation Transformation -ment Engagement Engagement -ence/ -ance difference, performance Differenz, Performanz/ Performance -age Passage Passage Suffixe für Personen- und Gerätebezeichnungen: a) aus Verben -er dealer Dealer -or Investor Investor -ent/ -ant student, informant Student, Informant b) aus Nomen -er banker Banker -ist journalist Journalist -ie/ y groupie Groupie 3 Die englischen Beispiele entstammen dem Longman Dictionary of Contemporary English (Longman 2005) sowie den Handbüchern Hansen et al. (1985), Plag (2003) und Schmid (2005); okkasionelle deutsche Beispiele dem WUL . Englisches in der deutschen Wortbildung 45 Suffixe für Zustandsbezeichnungen: a) aus Adjektiven -ity - -ität Reality Realität -ness - -nis Fairness Fairness/ Fairnis b) aus Nomen -ism - -ismus Terrorism Terrorismus -ship - -schaft membership Mitgliedschaft 2.2.2 Präfixe Präfixe mit numerativer Bedeutung (Plag 2003, S. 98ff.): uni- unilateral uniform bi- bilateral Bimetall di- ditransitive Diglossie multi- multipurpose Multitalent polypolysyllabic Polyvalenz semisemifinal Semifinale Präfixe mit lokaler Bedeutung: endo- endocrinology Endoskop epi- epicentral Epigenese inter- intergalactic interkontinental intra- intramuscular intravenös paraparanormal paramilitärisch transtranscontinental Transformation Präfixe mit temporaler Bedeutung: pre- predetermine pränatal post- postmodern postmodern Präfixe mit negierender Bedeutung: a(n)- ahistorical apolitisch de- deselect Desillusion dis- disqualify disqualifizieren, Disharmonie in- inactive inaktiv, inakzeptabel nonnon-member nonverbal ununfair unfair Mit dieser Zusammenstellung ist natürlich nicht behauptet, dass die genannten Affixe im Gebrauchsradius jeweils deckungsgleich seien, denn das ist nicht der Fall. So bildet -er im Deutschen beispielsweise auch Nomina Irmhild Barz 46 actionis (Seufzer, Juchzer, die im Englischen fehlen; Donalies 2005, S. 87). Das Präfix underiviert im Deutschen nur Nomen und Adjektive, im Englischen dagegen auch Verben, da allerdings in reversativer Bedeutung (unpack, undo; zu weiteren Unterschieden Donalies 2005, S. 88). 2.2.3 Konfixe Auch beim eurolateinischen Konfixbestand gibt es eine große Schnittmenge gleichlautender Einheiten im Englischen und Deutschen. Die Übersicht enthält jeweils neben der englischen Wortbildung und dem entsprechenden deutschen Beispiel in Deutsch eine deutsche Eigenbildung, die die Produktivität des Modells im Deutschen belegen soll. Präkonfixe: astro- Astro-physics Astrophysik Astro-Fernrohr ( WUL ) biobiochemistry Biochemie Bioladen bibliobibliography Bibliografie Bibliobus ( WUL ) electroelectromagnet Elektromagnet Elektroberuf geogeography Geografie Geowissenschaft hydrohydrology Hydrologie Hydro-Bereich ( WUL ) morphomorphology Morphologie Morphoregulator ( WUL ) philophilotheist Philanthrop Philopolitiker retroretro-design Retrodesign Retroabend teletelepathy Telepathie Teledienstleistung Postkonfixe: -cide suicide Suizid Ökozid -cracy democracy Demokratie Filzokratie -graphy bibliography Bibliography Szenografie -itis laryngitis Laryngitis Telefonitis -logy astrology Astrologie Poetologie -phile anglophile Anglophil bildschirmophil ( WUL ) -phobe anglophobe anglophob russophob ( WUL ) -scope telescope Teleskop Horrorskop (Name einer Fernsehsendung) Englisches in der deutschen Wortbildung 47 2.3 Zur Produktivität der Modelle Es gehört zu den überraschenden Beobachtungen beim Vergleich englischer und deutscher Wortneubildungen, dass in beiden Systemen in der Gegenwartssprache weitgehend die gleichen Muster Modellcharakter haben, d.h. besonders produktiv sind (vgl. Hohenhaus 1996, S. 69-142). Das betrifft beim Nomen vor allem die N+N-Komposition im Allgemeinen und auch bestimmte Unterarten der Komposition, und zwar Eigenname + Nomen (ebd., S. 76) und die Phrasenkomposition (Elsen 2004, S. 24; Matussek 1994, S. 65-68) im Besonderen. Es betrifft auch die Derivation mit dem Suffix -er zur Ableitung von Nomina agentis aus Verben sowie die Diminuierung mit dem Suffix -i/ -y/ -ie (im Deutschen) bzw. -ie/ -y (im Englischen). Und es betrifft schließlich viele Modelle der eurolateinischen Wortbildung, die den englischen und deutschen Bildungswortschatz kennzeichnen. 2.4 Fazit des Vergleichs Vor dem Hintergrund der internationalen Dominanz des Englischen scheint die konstatierte Übereinstimmung in den Grundmustern der Wortbildung, in vielen Bildungsmitteln und im Produktivitätsgrad bestimmter Bildungsmodelle eine ideale Voraussetzung für eine Einflussnahme der englischen Wortbildung auf die deutsche zu sein. Gleichwohl erhebt sich die Frage, ob man bei so viel Ähnlichkeit tatsächlich von Einflussnahme ausgehen sollte oder ob nicht Verwandtschaft und eurolateinischer Anteil eher für die Annahme von Parallelentwicklungen in beiden Wortbildungssystemen sprechen. Die Antwort liegt aller Wahrscheinlichkeit nach in einem „Sowohl-als-auch“. Dass neben nicht in Zweifel zu ziehender Parallelentwicklung auch Beeinflussung vorliegt, sehe ich durch zwei Phänomene bestätigt, und zwar zum einen durch die Gewinnung neuer Bildungsmodelle einschließlich neuer Wortbildungsmittel aus dem Englischen und zum anderen durch die Aktivierung tradierter Modelle des Deutschen. Das soll im Folgenden erläutert werden. 3. Einflüsse des Englischen auf die deutsche Wortbildung 3.1 Ausprägung neuer Wortbildungsmodelle Mit der Übernahme morphologisch unveränderter einfacher und komplexer Lexeme aus dem Englischen gewinnt das Deutsche potenzielles Ausgangsmaterial für neue Wortbildungen aller Wortbildungsarten. Anglizismen werden zum einen als unmittelbare Konstituenten für Komposita weiterverwen- Irmhild Barz 48 det. Die entlehnten Einheiten verbinden sich bei der Komposition sowohl miteinander als auch mit indigenen Einheiten (Showmaster, Riesenbaby). Zum anderen sind sie Basen für Derivate (supercool, obercool, Coolheit, Babysitterin) und Konversionen, wobei gerade bei Letzteren oft sowohl Entlehnung von Verb und Nomen als auch Konversion im Deutschen vorliegen kann (Jet - jetten). Genutzt werden für die Wortbildung mit Anglizismen in der Mehrzahl der Fälle Modelle, die im gegenwärtigen Deutsch produktiv sind (vgl. dazu 2.2; Modellbegriff nach Fleischer/ Barz 2007, S. 53ff.). Entlehnte Lexeme bilden aber auch die Grundlage für die Prägung neuer Modelle. Ausgangseinheiten dafür sind in der Hauptsache komplexe Lexeme, die als Muster dafür dienen, „weitere entsprechende Strukturen zu bilden“ (Erben 2006, S. 56). Für diese modellkonstituierenden Prozesse sind die Termini „Reaktivierung“ (Munske 2002, S. 29) und „Morphematisierung“ üblich geworden. Durch Reaktivierung werden aus komplexen lexikalischen Entlehnungen (in der Regel aus sog. Leitwörtern) Segmente, die in der Gebersprache bereits Lexem- oder Morphemstatus haben, als neue Einheiten für die Wortbildung im Deutschen gewonnen. Das sind sowohl Lexeme als auch Kombineme. Die Zuordnung der einzelnen reaktivierten Elemente in die Klassen Lexem oder Kombinem kann, je nachdem ob man das Englische oder Deutsche zugrunde legt, unterschiedlich ausfallen. Während seller z.B. im Englischen ein Lexem ist, muss die Einheit im Deutschen wegen ihrer Linksgebundenheit als Konfix bestimmt werden. Burger hingegen, reaktiviert aus hamburger, hat sich im Deutschen bereits zum freien Lexem entwickelt (GWDS 1999, S. 687). Welche komplexen englischen Wörter als Leitwörter für die Reaktivierung eines Elements fungieren bzw. fungiert haben, sollten diachrone Beleganalysen klären. Der Weg führt aller Wahrscheinlichkeit nach oft über eine hybride Bildung, die durch Teilsubstitution entsteht. Eine Konstituente des englischen komplexen Lexems wird übersetzt, die andere wird transferiert, vgl. non-stop flight Nonstopflug. Die nichtübersetzte Konstituente wird dann reaktiviert, prägt ihrerseits Wortbildungsreihen aus und wird als Lexem geläufig: Non-Stop -Kino, -Programm, -Sitzung, -Revue, -Hygiene, -Parade, -Folk-Konzert, -Dreikampf, -Training (AWB 2001, S. 964ff.). Während das Erstglied nonstop inzwischen auch als freies Lexem im Deutschen vorkommt (im Nonstop, nonstop ‘ohne Halt’, vgl. ebenso no future in Nofuture- Englisches in der deutschen Wortbildung 49 Musik, -Denken, -Generation, -Gerede, -Gesellschaft, -Jahrzehnt, -Stimmung), finden sich andere Erstglieder (vorerst noch) ausschließlich gebunden: vgl. allroundin Allround-Sportsmann, -Erfinder, -Darstellerin, Allroundsekretärin, -handwerker, -entertainer, -talent (AWB 2001, S. 29ff.); freein Free Style, Free-TV, Freecall, Freeconcert; ebenso hard-, home-, high-, fast-, short-. Der Übergang von gebunden zu frei im Deutschen vollzieht sich nicht zwangsläufig, kann aber recht schnell einsetzen. Die Elemente light, top, soft, shop, die Eisenberg (1998, S. 235ff.) noch den gebundenen zuordnet, haben sich inzwischen zu selbstständigen Lexemen entwickelt. Bei einigen wortbildungsaktiven Elementen wie one-man-/ Einman, oneway-/ Einwegist sowohl die Übersetzung als auch die Entlehnung belegt, vgl. One-Man-Betrieb neben Einmannbetrieb. Beide Formen können Reihen ausbilden wie Einwegin Einwegbehälter, -flasche, -spritze, -verpackung neben One-way-ticket/ One-Way-Ticket, One-Way-Möbel (Seiffert 2006, S. 213); Seiffert kann an zahlreichen Belegen zeigen, dass im Deutschen zwar nicht one allein, aber die Verbindung ‘one + englisches Nomen’ wie One-Man-, One-Woman-, One-Hit-, One-Touch-, One-Wayrelativ oft für die Komposition mit indigenem Zweitglied genutzt wird, wobei die Schreibung des englischen Nomens schwankt, z.B. Oneway-Regelung, One-Way- Flieger, One-woman-Unternehmen. Mit indigenen Nomen verbindet sich oneals Kompositionserstglied dagegen so gut wie nicht. Bildungen wie One- Hand-Höhenverstellung oder One-Person-Show, „bei denen das zum Erstglied gehörende Substantiv [...] sowohl im Englischen als auch im Deutschen vorkommt“, könnten aber, wie Seiffert (2006, S. 229) vermutet, als mögliche Leitwörter für entsprechende Analogiebildungen mit reaktiviertem one und deutschem Nomen fungieren, wenngleich auch im Deutschen die englische Aussprache von person und hand zu erwarten ist. Mitunter wird bei Lehnübersetzungen das englische Original im Deutschen nicht heimisch, wie all-purpose für Allzweckin Allzweckhalle, -tuch, -reiniger, -waffe, oder es ist zumindest kaum wortbildungsaktiv wie full-time in Fulltimejob, daneben aber übersetzt Vollzeitbeschäftigte, in Vollzeit, Vollzeitschule (GWDS 1999, S. 4349). Ein Spezialfall der Reaktivierung ist die Morphemgewinnung mit elliptischer Bedeutungsbildung. Als ein jüngeres Beispiel dafür sei -gate genannt, das sich, aus watergate reaktiviert in der Bedeutung ‘politischer Skandal mit Vertuschungsversuchen’, nach der Watergateaffäre 1972 im Englischen in Irmhild Barz 50 Bildungen wie Volgagate (1973), Dallasgate (1975), Koreagate (1976) findet und in dieser Bedeutung auch im Deutschen aktiv geworden ist, wie Waterkantgate, Bimbesgate belegen (Busse 2001, S. 142). Synchron kann in solchen Fällen nicht sicher ausgemacht werden, ob Bedeutungsbildung und Reaktivierung nicht schon - wie bei -gate - im Englischen stattgefunden haben oder ob Polygenese vorliegt. Auch die Veränderung der Distribution entlehnter Morpheme, wie sie sich bei dem englischen Adjektivsuffix -ical vollzogen hat, ist eine Erscheinungsform der Reaktivierung. Das Suffix wird im Deutschen anders als im Englischen nicht für die Bildung von Adjektiven, sondern für die Bildung von Nomen genutzt: Grus-, Märch-, German-, Blues-, Erot-, Kurios-, Rührical (Beispiele aus COSMAS). Durch Reaktivierung kommt es schließlich auch zur Übernahme bzw. Produktivitätssteigerung von meist eurolateinischen Affixen des Englischen. Zu nennen sind ex-, mini-, top-, super- und in jüngster Zeit -ing, wobei sich Ex, Mini, top und super inzwischen auch verselbstständigt haben und im Deutschen sowohl als Wortbildungswie auch als lexikalisches Morphem auftreten. Während der morphologische Status der Erstgenannten im Deutschen weitgehend unstrittig ist, was mehrere Untersuchungen bestätigen (vgl. Müller 2005 (Hg.), S. 19ff.), setzt die Reaktivierung von -ing wohl gegenwärtig erst ein. Folglich gehen die Meinungen zu -ing noch auseinander. Görlach bezweifelt, dass das Suffix eine Integrationschance im Deutschen hat: In German, the pattern is alien (though not phonologically difficult); borrowing is more restricted by the fact that the content of -ing in German is normally expressed by the substantival infinitive (das Babysitten - the historically related -ung derivatives are no longer semantically equivalent). It follows that -ing words are either borrowed and remain the only term available, or that after their analysis into ‘V + -ing’ the native equivalent ‘V + -en’ is preferred for the noun. (Görlach 1999, S. 120). Das DuFWB (2000, S. 614) lemmatisiert -ing dagegen schon als Suffix und nennt das Beispiel Lobbing, möglicherweise gebildet in Analogie zu Mobbing oder als Kontamination aus loben und Mobbing. Der Wörterbucheintrag wäre berechtigt, wenn -ing auch an weiteren indigenen Basen als Suffix aktiv wäre. Erste Korpusanalysen ergeben zunächst nur, dass im Allgemeinwortschatz eine beträchtliche Zahl lexikalischer Entleh- Englisches in der deutschen Wortbildung 51 nungen auf -ing in hoher Frequenz verbreitet ist (Doping, Dumping, Leasing, Meeting, Mobbing, Skating, Splitting, Sponsoring, Stalking, Walking) und dass diese besonders als Kompositionsglied, auch mit indigenen Konstituenten, hochaktiv sind, vgl. Blut-, Kinder-, Wachstumsdoping; Lohn-, Öko-, Preis-, Wertedumping; Auto-, Kultur-, Sozialsponsoring; Ego-, Ehegatten-, Familien-, Frequenzsplitting (Dueber 2006, S. 62). Damit ist jedoch noch nicht erwiesen, dass ein Derivationsmodell auf -ing tatsächlich produktiv ist, denn bisher bleibt die Verbindung von -ing mit indigenen Basen im Allgemeinwortschatz noch die Ausnahme. Bis auf Mieting, das als registrierte Marke für das Langzeitmieten von Autos bekannt ist, neigen die wenigen belegten Okkasionalismen (mit syntaktischen Fügungen als Basis) nicht zur Lexikalisierung. Die Bildungen sind hochgradig auffällig. Sie vermitteln die Konnotationen Modernität und Scherzhaftigkeit, wecken Sympathie und erregen Aufmerksamkeit. Das zeigen Internetbelege wie Über-den-Tellerrand-gucking 4 (zum Thema Studentenaustausch, gefunden auf einer Universitätsseite), Easy Schrubbing (zum Thema Zähneputzen auf der Homepage einer Universitätsklinik; ebd.; weitere Belege bei Donalies 2005, S. 9). Anders zeigt sich die Belegsituation in gruppensprachlichen Texten, insbesondere in der Chatkommunikation Jugendlicher und in umgangssprachlichen Internetforen. Hier finden sich Derivate von indigenen Verben und von syntaktischen Fügungen in großer Zahl: chronisch-pleite-seiing, Dauerzocking, Faulenzing, TV Gucking; Extreme-Treppen-Steiging, Hardcore-Computer- Spieling, Power-Gassigehing (Bezeichnung für Hobbys bzw. Lieblingsbeschäftigungen, angelehnt an die Bedeutung entsprechender lexikalischer Übernahmen wie Inlineskating, Jogging, Rafting, Walking); das viel-zu-vielträuming, das überall-verschwörung-sehing (Selbstcharakteristik einer 18-jährigen Schreiberin). Nicht zuletzt die beabsichtigte Markierung der Sequenzen als Substantiv wegen der im Internet üblichen Kleinschreibung könnte zur Verwendung von -ing anstelle des substantivierten Infinitivs veranlassen. Da es keine phonetischen oder morphologischen Verbindungsrestriktionen für -ing an indigenen Basen zu geben scheint, kann auf längere Sicht durchaus mit einer weiteren gruppensprachlichen und auch varietätenübergreifenden Verbreitung des Suffixes gerechnet werden. 4 Alle Internetbeispiele auf -ing stammen von M. Dueber. Die Schreibung der Wörter entspricht der Originalschreibung in den Internettexten. Irmhild Barz 52 Anders als bei der Reaktivierung wird bei der Morphematisierung (Erben 2006, S. 56) ein morphologisch indifferenter Bestandteil aus dem komplexen Wort ausgegliedert und zu einem Morphem uminterpretiert. Das kann sowohl in der Geberals auch in der Nehmersprache geschehen. Typisches Beispiel ist das in der Literatur ausführlich behandelte und als Konfix fungierende -a/ -oholic, -oholiker (Spielaholic, Infoholic, Onlineaholic, Workoholic, Schokoholic/ -holiker, Shopaholic, Politoholiker, vgl. Eichinger 2000, S. 53). „Kennzeichnend für den Prozess [der Morphematisierung] ist, dass wichtige Teile der Bedeutung des Ursprungwortes in das abgespaltene Element hineinprojiziert werden und dann beim Einsatz in neuen Prägungen zum Tragen kommen.“ (Schmid 2005, S. 170). Als Ursprungsbzw. Leitwort für -a/ -oholic gilt bekanntlich alcoholic/ Alkoholiker. Wie bei -gate liegt auch bei -a/ -oholic elliptische Bedeutungsbildung vor. Weitere durch Morphematisierung gewonnene reihenbildende Elemente sind -tainment (Enter-, Info-, Edu-, Tennis-, Gastro-, Agi-, Provotainment), -ival, -tainer (Beispiele aus COSMAS). 3.2 Steigerung der Produktivität indigener und eurolateinischer Wortbildungsmodelle Die wohl auffälligste Belebung indigener Bildungsmodelle betrifft den verbalen Wortschatz. Durch die große Zahl neuer einfacher entlehnter Verben wie bladen, carven, chatten, dissen, hypen, mailen, mobben, outen, piercen, raften, raven, scrollen, taggen, walken, zappen (aus Herberg/ Kinne/ Steffens 2004) existiert ein großes Angebot an verbalen Basen für die Präfixderivation und für die Partikelverbbildung. Dabei handelt es sich gebersprachlich sowohl um einfache Verben als auch um sog. ‘phrasal verbs’. Entlehnte oder im Deutschen gebildete komplexe Verben wie babysitte(r)n, entertaine(r)n, inline(r)n, soundchecken, wellnessen werden dagegen meist nicht präfigiert oder mit Verbpartikeln erweitert. Einfache englische Verben können bei oder nach der Übernahme im Deutschen mit Präfix, Partikel oder Suffix versehen werden: to deal dealen verdealen (GWDS 1999, S. 4193), to stop stoppen abstoppen, to code codieren. In vielen Fällen dient die Wortbildung semantisch der Intensivierung oder Verdeutlichung der bezeichneten Handlung, wie man an dealen/ verdealen und stoppen/ abstoppen sehen kann. Es soll nun mit Hilfe einer Recherche in Google exemplarisch überprüft werden, welche indigenen Präfixe und Partikeln bevorzugt als Erstglieder an die entlehnten Verben antreten und welche eher inaktiv bleiben. Die Tabel- Englisches in der deutschen Wortbildung 53 len 1 und 2 zeigen an vier Verben, eines davon in zwei formalen Varianten, die Ergebnisse. Die Verbauswahl erfolgt nach formalen (googlen/ googeln), semantischen - checken ist polysem: ‘rempeln’, ‘kontrollieren’, ‘begreifen’- und pragmatischen Aspekten - testen ist frequenter als das speziellere sprayen. Die angegebenen Zahlen sind die absoluten Zahlen der Vorkommensfälle, das Verb checken erzielte z.B. am 1.12.2005 1820000 Treffer, abchecken 154000. Die Suche wurde auf die Seiten „auf Deutsch“ eingeschränkt. Verbpartikel Googlen 1 googeln 2 checken testen sprayen 280 000 390 000 1 820 000 42 700 000 91 800 ab 48 562 154 000 15 300 118 an 59 668 20 600 376 000 2200 auf 3 0 9 14 2230 aus 556 1810 357 000 603 000 48 bei 0 0 1 0 0 durch 580 3750 65 100 58 000 2 hinter 0 0 0 12 0 ein 10 185 594 000 1230 2090 mit 59 88 440 9490 5 nach 2540 2400 8750 892 176 über 1 2 121 28 153 um 21 29 459 1311 180 unter 0 3 2 0 0 vor 51 35 592 503 49 wider 0 0 0 0 0 zu 0 54 0 3 262 Tabelle 1: Google-Recherche googlen/ googeln, checken, sprayen am 1.12.2005; testen am 26.05.2006 Präfix googlen 1 googeln 2 checken testen sprayen 280 000 390 000 1 820 000 42 700 000 91 800 be- 131 459 2 49 615 ent- 14 7 23 0 3 er- 11 500 16 000 0 1290 2 miss- 0 0 0 0 0 ver- 91 91 11 200 93 168 zer- 0 1 1 63 2 Tabelle 2: Google-Recherche googlen/ googeln, checken, sprayen am 1.12.2005; testen am 26.05.2006 Irmhild Barz 54 Welche Schlüsse lassen diese Zahlen zu? a) Die Aktivität der Verbpartikeln an transferierten Verben entspricht der an indigenen Verben. Als besonders inaktiv erscheinen die Verbpartikeln bei, hinter, unter, wider. Auf sie entfallen jeweils weniger als 100 Vorkommensfälle; hochaktiv dagegen sind wie an indigenen Verben ab, an, auf, aus, durch, ein, mit und nach. Die unterschiedlichen Dominanzen bei den einzelnen Verben haben semantische Gründe. So erklärt sich etwa das Vorkommen von an-, auf- und einsprayen zum Ausdruck von ‘räumlicher Kontakt’, der für das Sprayen zum Begriff gehört. Kombinationsrestriktionen, die aus dem Anglizismusstatus erwachsen, scheint es nicht zu geben, wie auch Zifonun (2000, S. 77) beobachtet hat. b) Für die Bildung eines Partikelverbs aus einem entlehnten Verb bedarf es keines ‘phrasal verbs’ im Englischen. So ist beispielsweise austesten eine Lehnbildung nach to test out, zu antesten gibt es jedoch kein englisches Vorbild; ein- und auschecken haben englische Entsprechungen, ab-, durch- und nachchecken nicht. Selbst wenn ein phrasal verb im Englischen belegt ist, kann das deutsche Partikelverb dennoch eine Eigenbildung sein, vor allem dann, wenn eine synonymische Entsprechung mit derselben Verbpartikel geläufig ist (austesten - ausprobieren). Auch Präfixverben entstehen nach synonymischen indigenen Bildungen, vgl. be-, versprayen nach be-, versprühen. c) Bei den Formvarianten googlen/ googeln überwiegen meist die Präfix- und Partikelverben mit der integrierten Variante googeln als Basis, ein Hinweis darauf, dass Wortbildung mit integrierten Formen offenbar leichter vonstatten geht (Ausnahmen sind nach- und vor-). Neben der Präfigierung und der Partikelverbbildung erfährt auch die Wortbildungsart Rückbildung unter englischem Einfluss eine Stützung. Die komplexen -ing-Formen aus dem Englischen haben im Deutschen oft ein komplexes Verb neben sich (Powerwalking powerwalken, Nordicwalking nordicwalken, Windsurfing windsurfen), das durch Rückbildung entstanden ist, vgl. die indigenen Rückbildungen Kopfrechnen kopfrechnen, Lehnbildung lehngebildet, Zwangsräumung zwangsräumen, Schleichwerbung schleichwerben. Diese Wortbildungsart ist auch im Englischen produktiv. Schmid (2005, S. 217) nennt Beispiele wie sunbathing to sunbathe, sightseeing to sightsee. Demnach ist hier ebenfalls einzuräumen, dass verbale Rückbildungen schon im Englischen entstehen und es sich bei den aus englischen Basen rückgebildeten Verben auch um lexikalische Entlehnungen handeln kann. Englisches in der deutschen Wortbildung 55 Dass schließlich mit der Kürzung englischer Verben im Deutschen eine bislang nur sporadisch genutzte Wortbildungsart ausgebaut zu werden scheint, sei hier nur erwähnt. 5 Es geht um Fälle wie inlineskaten inlinen, uploaden uppen, die noch genauer untersucht werden müssen. Auch nominale Wortbildungsmodelle erfahren unter englischem Einfluss eine Aktivierung. Dabei kann schon die bloße Existenz einer bestimmten Art von Anglizismen für die Belebung eines indigenen Modells sorgen, wenn die Entlehnungen strukturell diesem Modell entsprechen. Durch die große Zahl entlehnter nominaler Simplizia wie Job, Boom, Shop, Bluff, Talk, die wortbildungsmorphologisch indigenen deverbalen Konversionen wie Schlaf, Ruf, Ritt entsprechen, steigt offenbar die Produktivität des fraglichen Konversionsmodells im Deutschen, denn es entstehen von indigenen Basen nachweislich vermehrt solche Wortbildungen. So vermutet Peter Eisenberg, dass konvertierte Nomina actionis aus schwachen Verben wie Dreh, Schwenk, Stau, Treff, Kick, die relativ neu sind, Analogiebildungen zu den entsprechenden „Klassen von Anglizismen“ sein könnten (Eisenberg 1998, S. 284). Etwas anders liegt der Fall bei -er-Derivaten von -ieren-Verben. Die oben erwähnte hohe Produktivität der -er-Derivate zur Bezeichnung von Personen und Gegenständen/ Instrumenten in beiden Sprachen, die große Zahl usueller Entlehnungen (oder Eigenbildungen) wie Trainer, Trucker, Dealer, Computer, Toner sowie die Leichtigkeit ihrer Bildung im Deutschen könnten Ursachen dafür sein, dass - nach meinen Beobachtungen neuerdings vermehrt - -er-Derivate von -ieren-Verben vorkommen. Das betrifft auch Stämme, bei denen eher ein anderes Derivat (z.B. mit -ator, -ant/ -ent, -eur) zu erwarten oder mit denen noch eine andere Derivation gebräuchlich ist: Determinierer neben Determinans, Determinator; Adjektivierer, Verbalisierer, Immobilienfinanzierer neben Finanzier (hier allerdings mit semantischem Unterschied; WUL), Interpretierer (WUL), Schuldenregulierer, Reagierer (WUL), Boykottierer neben Boykotteur, Modifizierer neben Modifikator. Hier gewinnt ein indigenes Modell, die -er-Derivation, deutlich an Produktivität. Auch die zunehmende Produktivität der Derivation mit dem Suffix -i zur Bildung von meist informellen Personenbezeichnungen im Deutschen (Schlucki, Knacki, Knasti, Studi, Ersti, Grufti) könnte mit dem englischen 5 Dazu ist eine gesonderte Publikation vorgesehen. Irmhild Barz 56 Muster auf -y/ -ie und der relativ großen Zahl entsprechender Anglizismen zusammenhängen (vgl. Glück/ Sauer 1997, S. 69ff.). Aus dem Englischen sind beispielsweise übernommen Groupie, Hippie, Junkie, Speedy, Teenie/ Teeny, Yuppie, Zombie (ebd., S. 70); im Deutschen mit orthografischen Schwankungen zwischen -i, -ie und -y. Sowohl die Anglizismen als auch die indigenen Derivate verfügen meist über eine hypokoristische, ironische, distanzierende oder auch pejorative Bedeutungsnuance (Köpcke 2002, S. 308). Sowohl im Englischen als auch im Deutschen kann den Derivaten eine Kürzung der Derivationsbasis vorausgehen: cabdriver cabby, Student Studi. Abschließend noch ein Blick auf die eurolateinische Wortbildung des Deutschen. Da sich Fach- und Wissenschaftssprachen bei Neubenennungen mit Vorliebe griechisch-lateinischer Lexik bedienen, nimmt die Zahl entsprechender Wortbildungen im Deutschen ständig zu. Durch den Kontakt zum Englischen erfahren eurolateinische nominale und verbale Wortbildungsreihen insofern einen zusätzlichen kontinuierlichen Ausbau, als die Mehrzahl der Entlehnungen aus dem Englischen ebenfalls griechisch-lateinischer Herkunft ist und sich im Deutschen in den vorhandenen griechisch-lateinisch basierten Fremdwortschatz einpasst. Das geschieht durch phonetisch-phonologische und/ oder morphologische Relatinisierung (Munske 2004, S. 160). In der Verbwortbildung gilt im Deutschen beispielsweise das Suffix -ier(en)/ -isier(en)/ -ifizier(en) als obligatorisches verbstammbildendes Element bei einer nichtheimischen Basis (Fleischer 2005, S. 439). Englischen (eurolateinischen) Verben auf -ate, -ify und -ize/ -ise entsprechen demzufolge im Deutschen Verben mit -ieren/ -isieren/ -ifizieren: motivate - motivieren, identify - identifizieren, trivialize - trivialisieren (Schmid 2005, S. 181). 6 In wenigen Fällen werden auch gebersprachlich suffixlose Verben suffigiert: to boycott boykottieren. Da die Relatinisierung gewissermaßen automatisch erfolgt, wird dieser Teil der Wortschatzvermehrung kaum als englischer Einfluss auf das Deutsche wahrgenommen und in seinem Umfang wohl auch unterschätzt. 4. Schlussbemerkung Die Ähnlichkeit der Wortbildungssysteme des Deutschen und Englischen, die sich aus historischer Verwandtschaft und eurolateinischen Gemeinsamkeiten erklärt, ist verantwortlich dafür, dass der intensive lexikalische Ein- 6 Für die genannten deutschen Verben gilt Französisch als Gebersprache. Englisches in der deutschen Wortbildung 57 fluss des Englischen auch eine systemverändernde Wirkung auf die Wortbildung ausübt. Die entlehnten, gegebenenfalls reaktivierten oder morphematisierten Bildungsmittel werden im Deutschen in tradierten Modellen wortbildungsaktiv oder sie prägen neue Modelle aus. Schließlich wirken die Anglizismen auch indirekt - durch ihre bloße Existenz im Deutschen - als strukturell-semantische Vorbilder für den Ausbau produktiver indigener und eurolateinischer Modelle. Umgekehrt stellen die formal und semantisch weitgehend übereinstimmenden Bildungsmittel eine förderliche Grundlage für den weiteren Ausbau des Lexemtransfers aus dem Englischen ins Deutsche dar, denn sie sorgen für ein gewisses Maß an Vertrautheit völlig neuer entlehnter Wortbildungen im Deutschen und begünstigen deren Verbreitung. 5. Literatur Ahrens, Rüdiger/ Bald, Wolf-Dietrich/ Hüllen, Werner (Hg.) (1995): Handbuch Englisch als Fremdsprache. Berlin. AWB = Anglizismen-Wörterbuch (2001): Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluss des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945. Begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse unter Mitarbeit von Regina Schmude. Bd. 1-3. Berlin/ New York. Bergmann, Rolf (1998): Autonomie und Isonomie der beiden Wortbildungssysteme im Deutschen. In: Sprachwissenschaft 23, S. 167-183. Besch, Werner/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.) (1998; 2000; 2003; 2004): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 4 Teilbde. 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin/ New York. Burgschmidt, Ernst (1995): Wortinhalte und Wortgebrauch im Vergleich zwischen dem Englischen und Deutschen. In: Ahrens/ Bald/ Hüllen (Hg.), S. 89-92. Busse, Ulrich (2001): Typen von Anglizismen: von der heilago geist bis Extremsparing - aufgezeigt anhand ausgewählter lexikographischer Kategorisierungen. In: Stickel (Hg.), S. 131-155. Busse, Ulrich/ Solms, Hans Joachim (2002): Englisch und Deutsch: Die Geschichte zweier ungleicher „Schwestern“. In: Hoberg, Rudolf (Hg.): Deutsch - Englisch - Europäisch. Impulse für eine neue Sprachpolitik. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich, S. 105-138. Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart. COSMAS = http: / / cosmas2.ids-mannheim.de/ (Stand: Mai 2007). Irmhild Barz 58 DFWB = Deutsches Fremdwörterbuch (1913-2004): Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache. Straßburg 1913 (A-K), Berlin 1942 (L-M), Berlin/ New York 1977/ 1978/ 1981/ 1983 (N-Z), 1988 (Quellenverzeichnis), Berlin/ New York 1995-97/ 1999/ 2004 (2. Aufl.: A-Futurismus). Donalies, Elke (2004): Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. Kombinatorische Begriffsbildung. Teil I: Substantivkomposition. (= amades 2/ 04). Mannheim. Donalies, Elke (2005): Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. Kombinatorische Begriffsbildung. Teil II: Explizite Substantivderivation. (= amades 4/ 05). Mannheim. Dueber, Mareike (2006): Englischer Einfluss auf die deutsche Wortbildung am Beispiel diskontinuierlicher Komposita und -ing-Derivaten. Unveröff. Magisterarbeit. Universität Leipzig. DuFWB = Duden (2000): Duden - Das große Fremdwörterbuch. Hrsg. u. bearb. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Eichhoff, Jürgen (1999): Es liegt in unserer Hand. In: Der Sprachdienst 43, S. 21-24. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Eisenberg, Peter (1998): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. Stuttgart/ Weimar. Eisenberg, Peter (2001): Die grammatische Integration von Fremdwörtern. In: Stickel (Hg.), S. 183-209. Elsen, Hilke (2004): Neologismen. Formen und Funktionen neuer Wörter in verschiedenen Varietäten des Deutschen. Tübingen. Erben, Johannes (2003): Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache. In: Besch/ Betten/ Reichmann/ Sonderegger (Hg.), 3. Teilbd., S. 2525-2539. Erben, Johannes (2006): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. Berlin. Fleischer, Wolfgang (2005): Zum Status des Fremdelements -ierin der Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. In: Müller (Hg.), S. 435-445. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (2007): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3., unveränd. Aufl. Tübingen. Glück, Helmut (2004): Wieviel Englisch verträgt das Deutsche? In: Munske (Hg.), S. 141-153. Glück, Helmut/ Sauer, Wolfgang Werner (1997): Gegenwartsdeutsch. Stuttgart/ Weimar. Englisches in der deutschen Wortbildung 59 Görlach, Manfred (1999): Morphological problems of integration. English loanword ending in -er and -ing in selected European languages. In: Carls, Uwe/ Lucko, Peter (Hg.): Form, function and variation in English. Studies in honour of Klaus Hansen. Frankfurt a.M., S. 117-125. Görlach, Manfred (2000): Englisch als neuer Typ von Weltsprache und europäische Nationalsprachen. In: Besch/ Betten/ Reichmann/ Sonderegger (Hg.), 2. Teilbd., S. 1117-1123. GWDS (1999) = Duden (1999): Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Hrsg. v. Wiss. Rat der Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Habermann, Mechthild (1999): Latein - „Muttersprache Europas“. Zum Einfluss des Latein auf den Wortschatz europäischer Sprachen. In: Der Deutschunterricht 3, 99, S. 25-37. Hansen, Barbara/ Hansen, Klaus/ Neubert, Albrecht/ Schentke, Manfred (1985): Englische Lexikologie. Leipzig. Herberg, Dieter/ Kinne, Michael/ Steffens, Doris (2004): Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen. Berlin/ New York. Hohenhaus, Peter (1996): Ad-hoc-Wortbildung. Terminologie, Typologie und Theorie kreativer Wortbildung im Englischen. Frankfurt a.M. Kastovsky, Dieter (1995): Wortbildung. In: Ahrens/ Bald/ Hüllen (Hg.), S. 104-109. Köpcke, Klaus-Michael (2002): Die sogenannte i-Derivation in der deutschen Gegenwartssprache. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 30, S. 293-309. Lipka, Leonhard (1995): Differenzierung des Wortschatzes im Englischen und Deutschen. In: Ahrens/ Bald/ Hüllen (Hg.), S. 83-89. Longman (2005): Longman Dictionary of Contemporary English. 4. Aufl. München. Matussek, Magdalene (1994): Wortneubildung im Text. Hamburg. Müller, Peter O. (2005): Deutsche Fremdwortbildung. Probleme der Analyse und der Kategorisierung. In: Müller (Hg.), S. 199-218. Müller, Peter O. (Hg.) (2005): Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a.M. Munske, Horst Haider (1996): Eurolatein im Deutschen: Überlegungen und Beobachtungen. In: Munske, Horst Haider/ Kirkness, Alan (Hg.): Eurolatein. Das griechische und lateinische Erbe in den europäischen Sprachen. Tübingen, S. 82-105. Munske, Horst Haider (2002): Wortbildungswandel. In: Habermann, Mechthild/ Müller, Peter O./ Munske, Horst Haider (Hg.): Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen, S. 23-40. Irmhild Barz 60 Munske, Horst Haider (2004): Englisches im Deutschen. Analysen zum Anglizismenwörterbuch. In: Munske (Hg.), S. 155-174. Munske, Horst Haider (2005): Wortschatzwandel im Deutschen. In: Cruse, David Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter R. (Hg): Lexikologie/ Lexicology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/ Handbooks of Linguistics and Communication Science 21). Berlin/ New York, S. 1385-1398. Munske, Horst Haider (Hg.) (2004): Deutsch im Kontakt mit germanischen Sprachen. Tübingen. Plag, Ingo (2003): Word-Formation in English. Cambridge, UK . Schmid, Hans-Jörg (2005): Englische Morphologie und Wortbildung. Eine Einführung. Berlin. Schmitt, Christian (2000): Latein und westeuropäische Sprachen. In: Besch/ Betten/ Reichmann/ Sonderegger (Hg.), 2. Teilbd., S. 1061-1084. Seiffert, Anja (2006): Autonomie und Isonomie fremder und indigener Wortbildung am Beispiel ausgewählter numerativer Wortbildungseinheiten. Unveröff. Dissertation. Universität Leipzig. Stickel, Gerhard (Hg.) (2001): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Aktueller lexikalischer Wandel. Berlin/ New York. Viereck, Wolfgang (2004): Britisches Englisch und Amerikanisches Englisch/ Deutsch. In: Besch/ Betten/ Reichmann/ Sonderegger (Hg.); 4. Teilbd., S. 3317- 3330. WUL = www.wortschatz.uni-leipzig.de (Stand: Mai 2007). Yang, Wenliang (1990): Anglizismen im Deutschen. Am Beispiel des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL . Tübingen. Zifonun, Gisela (2000): Grammatische Integration jugendsprachlicher Anglizismen. In: Der Deutschunterricht 4, 2000, S. 69-84. Zifonun, Gisela (2002): Überfremdung des Deutschen: Panikmache oder echte Gefahr? In: Sprachreport 3, 2002, S. 2-9. José-Antonio Calañas Continente Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik: Rahmenbedingungen für eine lexikologisch-lexikografische Aufgabenstellung 1 0. Einführung Es ist allgemein bekannt, dass die relative lexikalische Armut der deutschen Sprache durch eine enorme semantische Vielfalt ausgeglichen wird. Dieser Balance-Akt vollzieht sich hauptsächlich durch wortbildende Verfahren, die sich im Falle der Wortklasse Verb als besonders vielfältig und produktiv erweisen: trennbare und untrennbare Verbzusätze, Komposition, Zusammensetzung, Alternanz von starker und schwacher Konjugation usw. Durch diese Mittel kann ausgehend von einer Basisverbform eine ganze Palette an Verben mit spezifischerer Bedeutung gewonnen werden, durch die eine erstaunliche Präzision in der Bedeutung erzielt werden kann. Es scheint außerdem bewiesen zu sein, dass in Register-unabhängigen Sprachsituationen Verben mit trennbarem Verbzusatz denen ohne Präverb vorgezogen werden (vgl. Coseriu 1972): so wird beispielsweise anfangen im Gegensatz zu beginnen stilneutral benutzt, während letzteres Verb als zu einer gehobeneren Sprachschicht gehörend betrachtet wird. Diese Mechanismen zur Verbproduktion sind derart im Sprachbewusstsein verankert, dass sie mit großer Häufigkeit angewandt werden: es genügt ein Blick auf das lexikogenische Verhalten von verbalen Neubildungen. Wenn ein neues Verb kreiert wird, vererbt es gleich das Inventar an Verbzusätzen, das auch mit dem alten Basisverb verknüpft werden konnte. 2 Demnach ist die Produktivität der verbalen Affigierung semantisch bedingt. In diesem Beitrag wird versucht, aus den oben erwähnten Beobachtungen praktischen Nutzen zu ziehen. Auf der einen Seite wird hier ein Wörterbuchmodell vorgestellt, dessen wesentliche Neuheit darin besteht, dass es 1 Diese Arbeit ist Teil der Forschung im Rahmen des Projekts „Deutsche Verben mit Verbzusatz: Erstellung einer Datenbank zur Entwicklung von lexikalischem Werkzeug Deutsch- Katalanisch-Spanisch“, das von der Valenzianischen Landesregierung mit der Kennnummer GV/ 2007/ 171 finanziert wird. 2 Vgl. hierzu die Verben suchen und die Neubildung googeln (googlen); siehe auch Irmhild Barz (in diesem Band). José-Antonio Calañas Continente 62 auf der Grundlage der Basisverben aufgebaut ist. Unter dem Basisverb findet man alle affigierten Instanzen, so dass auf Anhieb gesehen werden kann, wie sich das Grundverb in Bezug auf Affigierung und sonstige wortbildende Verfahren verhält. Dieses Verblexikon bildet das Gerüst eines umfangreicheren Projekts, das auch hier in seinen Grundzügen präsentiert wird. 1. Theoretische Vorüberlegungen In diesem Abschnitt wird das Szenario für unseren Vorschlag festgelegt, so dass spätere konzeptuelle und methodologische Entscheidungen ausreichende Rechtfertigung erhalten. 1.1 Wortbildung durch Affigierung von Verben: eine Bestandsaufnahme Bereits in den Anfangsstufen der Beschäftigung mit der deutschen Sprache, egal ob zu Lern- oder Forschungszwecken, stellt man fest, dass die aus dem Einsatz der vielfältigen Wortbildungsmechanismen resultierenden Produkte einen erheblichen Anteil des Grundwortschatzes ausmachen. In der Wortklasse Verb lässt sich die höchste Produktivität feststellen: durch Affigierung mit Verbzusätzen kann die verbale Bedeutung aufs Maximum präzisiert werden. Deutschlernenden aus dem romanischen Sprachraum bereitet diese Eigenart Schwierigkeiten, denn im Spanischen z.B. wird die verbale Bedeutung nicht so sehr im Lexem selbst, sondern eher durch Angaben und adverbiale Fügungen präzisiert: der im Sprachgefühl verankerte Automatismus, monolexematische Verben systematisch zu benutzen, führt zu stilistischen Brüchen, denn diese zählen zu einem gehobenen Sprachregister. Spanische Deutschlerner sehen sich also einem stilistischen falschen Freund ausgesetzt. Wie produktiv lexikogenische Mechanismen in der Klasse Verb sind, kann z.B. anhand des Basisverbs schlagen veranschaulicht werden. Dazu haben wir die Verben mit schlagen als Grundwort gesammelt, die in einem Wortschatz für die Grundstufe (Griesbach 1991) enthalten sind, und konnten feststellen, dass insgesamt 34 mögliche Affigierungen in Betracht kommen, darunter drei Verbzusätze, die trennbar und untrennbar sind: Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 63 abschlagen entzweischlagen totschlagen anschlagen erschlagen überschlagen aufschlagen fehlschlagen umschlagen ausschlagen herabschlagen unterschlagen beschlagen herumschlagen verschlagen breitschlagen herunterschlagen vorschlagen dazuschlagen hinschlagen wegschlagen dazwischenschlagen hineinschlagen zerschlagen durchschlagen kaputtschlagen zurückschlagen einschlagen losschlagen zusammenschlagen entgegenschlagen nachschlagen entschlagen niederschlagen Diese Präfixe verändern die Bedeutung des Basisverbs (ab hier Basisbedeutung), sogar die Zugehörigkeit zu einer semantischen Domäne, und verursachen auch Änderungen am syntaktischen Belegungsplan (Valenzreduzierung, Modifikationen in der qualitativen Valenz usw.). Zu den von dem stilistischen falschen Freund bereiteten Schwierigkeiten gesellen sich also auch die Zugehörigkeit zu anderen semantischen Domänen sowie die geänderten syntaktischen Belegungspläne. Es überrascht also nicht, dass DaF-Lerner aus dem romanischen Sprachraum affigierte Verben als Lernproblem empfinden. Seitens einiger DaF-Dozenten und -Germanisten besteht ein gewisses Interesse an einer systematischen Katalogisierung dieser Verben, so dass Lerner wie Dozenten leichter zu einem Überblick über diese Vielfalt gelangen können. Ein solcher Katalog stellt nichts anderes als ein Wörterbuch mit einem speziellen Aufbau dar, zu dem in dem zweiten Teil dieses Beitrags ein konkreter Vorschlag gemacht wird. 1.2 Werkzeug Wörterbuch: Sinn und Zweck Es ist nicht das Ziel dieses Beitrags, über die Wichtigkeit der Rolle von lexikografischen Werken zu berichten: es leuchtet ein, dass der (allerdings richtige) Gebrauch von Wörterbüchern im Prozess des Fremdsprachenlernens unabdingbar ist. Es ist unseres Erachtens interessanter, die Begriffe Wörterbuch und Lexikon gleichzustellen (vgl. Calañas 2002), denn nur so kann der alte Glauben überwunden werden, Lexik sei nichts mehr als ein Ersatzteillager, wo Sprachwissenschaftler die nötigen Teile zum Funktionieren ihrer Theorien abholen können. Unser Vorschlag entspringt der Überlegung, dass José-Antonio Calañas Continente 64 Bedeutung das wichtigste zur Strukturierung einer Sprache dienende Prinzip ist. Im Deutschen, wie übrigens auch im Spanischen, nimmt das Verb auch noch die relevanteste Stellung in der Informationsstruktur ein, denn diese hängt sehr stark, wenn nicht absolut, von ihm ab (Calañas 2002). Im Laufe des gesamten Lernprozesses ändert sich allmählich die Funktion von Wörterbüchern und Lexika, um sich den Bedürfnissen ihrer Benutzer anzupassen. Sprachlerner im Anfängerniveau benötigen zwischensprachliche Äquivalenzen. Mit wachsender Kompetenz in der Fremdsprache nimmt jedoch auch der Bedarf an stilistischer Information im gleichen Maße zu. Der Linguist sucht oft nach Informationen anderer Natur: Valenzverhalten, Satzbauplan usw. Im Hinblick auf das lexikogenische Verhalten von Basisverben wäre für fortgeschrittene Lerner sowie für Sprachforscher von Nutzen, alle Kombinationen eines bestimmten Basisverbs und verschiedener Präfixe auf Anhieb unter einem Eintrag zu finden, denn so können Regularitäten im kombinatorischen Verhalten veranschaulicht werden. Ferner kann man durch die Gegenüberstellung der Übersetzungen in romanische Sprachen die sprachspezifischen Entsprechungen der Mechanismen feststellen, die Sprechern zur Bezeichnung der unterschiedlichen verbalen Bedeutungen in den jeweiligen Sprachen zur Verfügung stehen. 1.3 Darstellung von Bedeutung: Schnittstelle von Syntax und Semantik Unter den zentralen Anliegen der Linguistik findet man in den letzten Jahren die Suche nach effizienteren Wörterbüchern, in denen traditionelle Probleme wie die Zirkularität der Definitionen oder der zu große Umfang minimiert werden. Um diese Phänomene verbannen zu können, muss man Bedeutung extrem präzise mit einem möglichst ökonomischen System repräsentieren können und gerade die Ermittlung eines solchen Repräsentationssystems ist zur Kernfrage in einigen linguistischen Ansätzen geworden. Von unserem Standpunkt aus gesehen soll jedes System zur Darstellung von Bedeutung der dynamischen isomorphischen Beziehung zwischen Semantik und Syntax (Calañas 2002; 2004; 2005) Rechnung tragen. Durch die Formulierung eines Algorithmus, der den Übergang von Semantik zur Syntax sowie den von Syntax zu Semantik kodiert, kann diese Zielsetzung erfüllt werden. Dieser Algorithmus wird durch die lexikalischen Schablonen (LS) repräsentiert. Für eine genauere Beschreibung des Wesens der lexikalischen Schablonen weisen wir auf Mairal (2004) und Calañas (2005) hin, da in diesem Beitrag dieses System nur in seinen Grundzügen dargestellt werden kann. Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 65 LS sind angereicherte semantische Darstellungen der in der Role and Reference Grammar (RRG) vorgeschlagenen logischen Strukturen (vgl. Mairal 2002; 2004). LS beinhalten sämtliche semantische und syntaktische Parameter, durch die jedes derselben lexikalischen Klasse angehörende Prädikat definiert wird. Lexikalische Klassen spiegeln die Ereignisstruktur, die von Verben vermittelt wird, wider. In der folgenden Tabelle werden diese Klassen zusammen mit den entsprechenden logischen Strukturen aufgeführt (nach Cortés/ Mairal 2003): Lexikalische Klasse Logische Struktur ( LS t) Zustand (state) Prädikat' (x) oder (x,y) Aktivität (activity) do' (x, [Prädikat' (x) oder (x,y)]) Vollendung (achievement) INGR Prädikat' (x) oder (x,y), oder INGR do' (x, [Prädikat' (x) oder (x,y)]) Durchführung (accomplishment) BECOME Prädikat' (x) oder (x,y) oder BECOME do' (x, [Prädikat' (x) oder (x,y)]) Aktive Durchführung (active accomplishment) do' (x, [Prädikat 1 ' (x, (y))] & BECOME Prädikat 2 ' (z,x) oder (y) Kausative (causative) CAUSES , wobei , LS t jedweder Art sind Verben werden nach den inneren temporalen Eigenschaften der bezeichneten Handlung einer lexikalischen Klasse zugeordnet. Diese Eigenschaften ergeben sich aus der Kombination dreier Parameter: ± statisch, ± telisch 3 und ± punktuell. Folglich werden lexikalische Klassen so charakterisiert: Lex. Klasse Parameter Beispiele Zustand [+ statisch] [- telisch] [- punktuell] wissen, glauben, haben, lieben Durchführung [- statisch] [+ telisch] [- punktuell] lernen Vollendung [- statisch] [+ telisch] [+ punktuell] explodieren Aktivität [- statisch] [- telisch] [- punktuell] fahren, schieben Was die interne Struktur betrifft, besteht eine LS aus internen, mit griechischen Buchstaben gekennzeichneten und externen, mit lateinischen Buch- 3 Analog zum Englischen telic. Dieser Parameter ist präsent, wenn der Verlauf der vom Verb bezeichneten Handlung in der Zeit beschränkt ist. José-Antonio Calañas Continente 66 staben gekennzeichneten Variablen (vgl. Van Valin/ LaPolla 1997, Kap. 3). Externe Variablen stellen grammatisch relevante Aspekte der Bedeutung, interne idiosynkratische, für jedes Prädikat relevante Züge dar. Das Besondere an diesem Darstellungssystem besteht in der Wirkung der Zusammenarbeit von LS und einem mehr oder weniger einfachen Satz Regeln, die alle für die lexikalische Klasse mögliche morphosyntaktische Strukturen vorhersagen lassen. Im Beispiel (1) zeigen wir die LS der lexikalischen Klasse der Verben, die einen Kontakt durch Einschlag bezeichnen: (1) [[do' (w, [use.tool.( ).in.( ).manner.for.( )' (w, x)] CAUSE [do' (x, [move.toward' (x, y) & INGR be.in.contact.with' (y, x)], = x Diese Repräsentation setzt sich zusammen aus einem Effektor (w), der die Aktion schlagen auf eine betroffene (affected) Instanz (y) mittels (x) durchführt. Anders ausgedrückt liest sich Beispiel (1) so: ein Effektor (w) benutzt ein Instrument auf eine Art und Weise und mit einer bestimmten Absicht und verursacht dabei eine solche Aktivität, dass sich das Instrument zur betroffenen Instanz (y) bewegt und x in Berührung mit y kommt. Diese Repräsentation steht für alle Verben in dieser Klasse, man müsste nur die Variablen ersetzen, um die einzelnen Mitglieder der lexikalischen Klasse zu definieren: (2) hämmern: [[do' (w, [use.tool.(Hammer).in.( ).manner.for.( )' (w, x)] CAUSE [do' (x, [move.toward' (x, y) & INGR be.in.contact.with' (y, x)], = x Ein wichtiges Merkmal der Metasprache ist ihre hohe Wirtschaftlichkeit, so dass einer maschinellen Verarbeitung nichts im Wege steht. Außerdem ist diese Darstellung - trotz des Englischen in der Kodierung der jeweiligen LS - mehrsprachiger Natur, denn nur die Variablen sind durch konkrete Prädikate zu ersetzen. 1.4 Zwischenbilanz Da die Beziehung zwischen Lexik und Syntax nicht arbiträr, sondern ikonisch motiviert ist, scheint die Ermittlung eines verbindenden Algorithmus angebracht zu sein, um zu einem leistungsstarken System zur Darstellung lexikalischen Wissens zu gelangen. Im nächsten Abschnitt wird ein möglicher Anwendungsbereich der Bedeutungsrepräsentation anhand LS gezeigt: Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 67 die Erstellung einer nach lexikogenischen Kriterien aufgebauten verbalen Datenbank, die multifunktional und für die maschinelle Verarbeitung von Sprache geeignet ist. 2. Das Projekt VerbLexGen Die in der Abschnitt 1 dieses Artikels angeführten Gedanken führen uns zu der Idee, die Produktivität der lexikogenischen Verfahren, die bei Verben angewandt werden können, für unsere Zwecke arbeiten zu lassen. Mit diesem Projekt möchten wir ein neuartiges Konzept zur Erstellung von Lexika vorstellen. Dieses Lexikon ist als Werkzeug für die Arbeit von Linguisten und Sprachlernern und -lehrern gedacht. Der Aufbau folgt lexikogenischen Kriterien und die Art, in der die Information präsentiert wird, erleichtert die vergleichende Betrachtung von Sprachen. 2.1 Ziele Das Projekt VerbLexGen stellt sich als Aufgabe, ein lexikografisches Produkt zu entwickeln, das Nutzen von den integrierenden theoretischen Ansätzen in der lexikologischen Forschung - von dem Syntax-Semantik verbindenden Algorithmus - zieht und gleichzeitig praktisches Material zum Vergleich von wortbildenden Verfahren innerhalb der Wortklasse Verb zur Verfügung stellt. Konkrete Ziele des Projekts sind: a) Erstellung eines nach Basisverben geordneten Lexikons deutscher Verben mit Verbzusatz. Dieser Aufbau ermöglicht, die an dem Einsatz der Verbzusätze implizierten Regularitäten syntaktischer, semantischer und pragmatischer Natur festzuhalten sowie die voraussichtliche Vorhersehbarkeit dieser Verbindungen zu bestätigen. b) Umwandlung dieses einsprachigen Lexikons in ein dreisprachiges (deutschkatalanisch-spanisch) Verbwörterbuch. Damit wird die Erstellung eines Katalogs anvisiert, in dem diejenigen Verfahren festgehalten werden, die bei der Übertragung bzw. Erschaffung von verbaler Bedeutung in den drei betroffenen Sprachen aktiv sind. c) Die Definitionen im Wörterbuch werden um die entsprechenden LS ergänzt. Die Umsetzung in die Praxis unserer eigenen Suche nach dem Ausdruck des verbindenden Algorithmus zwischen Syntax und Semantik ist damit gewährleistet und der Weg zu einer maschinellen Verarbeitung der lexikalischen Datenbank frei gemacht. José-Antonio Calañas Continente 68 2.2 Arbeitsmethodik Um eine Wiederverwendbarkeit der Daten zu garantieren, wird die gesamte Information zu den Verben in eine eigens dafür implementierte Datenbank eingegeben. Die so genannte Eingabemaske wird mittels marktüblicher Software (MS-Access, FileMakerPro o.Ä.) erstellt, so dass die gesamte Anwendung auch unter den gängigen Betriebssystemen läuft. Im Verlauf der Arbeit wird in Erwägung gezogen, ob andere (PHP-basierte) Anwendungen für den Online-Gebrauch geeigneter sind. Es ist uns auch sehr wichtig, Suchmasken zu definieren, anhand derer der Benutzer seine eigenen Suchkriterien eingeben kann. In der ersten Phase werden wir einige Grundsuchen definieren, die im Laufe der Arbeit weiter verfeinert werden können. Als Suchkriterien für diese Arbeit kommen folgende in Frage: a) Suche nach Verbzusatz: Da die semantische Leistung der Präverbien besonders relevant ist, wird diese voraussichtlich die meistbenutzte sein. b) Suche nach Basisverb: Diese Suchmaske wird das gesamte wortbildende Potenzial eines einfachen Verbs anzeigen. Ein „Papierwörterbuch“ würde diese Art der Auflistung als Layout aufweisen. c) Sonstige Kriterien: Unter diese Rubrik fallen Kriterien wie die Trennbzw. Untrennbarkeit der Verben, der Satzbauplan, stilistische bzw. dialektale Varianten usw. In der Anfangsphase wird mit dem Grundwortschatz gearbeitet. In einer späteren Phase, nachdem der Betrieb der Computeranwendung ausreichend getestet ist, wird dann der Bestand auf das gesamte Lexikon erweitert. Wie bereits gesagt, wird die Datenbank zunächst einsprachig arbeiten, dann dreisprachig. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, in späteren Phasen weitere Sprachen einzubauen: Englisch und Französisch sind auf jeden Fall geplant. Das System wird so konzipiert, dass die Anzahl der zu erfassenden Einzelsprachen nur von der Technik und nicht von dem eigentlichen Aufbau eingeschränkt wird. 2.3 Aufbau der Datenbank Das System VerbLexGen basiert auf zwei Grundtabellen pro Sprache, die von einer Datenbank-Software (in diesem Fall FileMaker Pro 6) verwaltet werden. In einer der Tabellen sind alle Verbzusätze so erfasst, dass es für Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 69 jede Bedeutung bzw. jeden Beitrag zur Verbbedeutung einen separaten Eintrag gibt. Auf diese Art wird die Polysemie der verbalen Affixe aufgelöst und die elektronische Weiterverarbeitung vereinfacht. Abb. 1: VerbLexGen 1, Ansicht Verbzusatz Wichtiger ist jedoch die eigentliche Verbtabelle. In ihr werden alle Kombinationen mit einem gegebenen Basisverb sowie die Basis- und die aus der Verbindung mit dem Verbzusatz resultierende Bedeutung erfasst. Dazu kommen die Entsprechungen in Spanisch, Katalanisch usw. mit dem Ziel, in einer späteren Phase eine Gegenüberstellung der Möglichkeiten zu erstellen, die in jeder Einzelsprache zur Bildung neuer Verben zur Verfügung stehen. In den folgenden Abschnitten wird eine Stichprobe präsentiert. Auch LS, lexikalische Klasse und andere semantische Merkmale, die für eine eventuelle Weiterverarbeitung der semantischen Daten von Nutzen sein können, werden hier festgehalten. 2.4 Beispiel schlagen Zur Veranschaulichung unseren Vorschlags haben wir die *schlagen-Verben genommen. In erster Linie wird das Inventar an zusammengesetzten Verben gesammelt, dann werden einige der Informationen präsentiert, die eine solche Datenbank ermöglicht. José-Antonio Calañas Continente 70 2.4.1 Formenbestand schlagen: abschlagen, anschlagen, aufschlagen, ausschlagen, beschlagen, breitschlagen, dazuschlagen, dazwischenschlagen, durchschlagen, einschlagen, entgegenschlagen, entschlagen, entzweischlagen, erschlagen, fehlschlagen, herabschlagen, herumschlagen, herunterschlagen, hinschlagen, hineinschlagen, kaputtschlagen, losschlagen, nachschlagen, niederschlagen, totschlagen, überschlagen, umschlagen, unterschlagen, verschlagen, vorschlagen, wegschlagen, zerschlagen, zurückschlagen, zusammenschlagen. 2.4.2 Datenbankeintrag Basisverb: schlagen a. einen Schlag (1 a) versetzen; mit Schlägen traktieren, prügeln (1 a): jmdn. heftig, nur leicht, mit der Hand, mit einem Stock s.; er ist als Kind viel [von seinen Eltern] geschlagen worden; <auch o. Akk.-Obj.: > er schlägt immer gleich. (DUW) Die Tabelle 1 (siehe Anhang) muss selbstverständlich um die LS ergänzt werden, die eine maschinelle Verarbeitung ermöglichen. Aus den hier präsentierten Daten kann entnommen werden, dass die Bedeutung des Basisverbs um wenige Züge geändert wird: der vom Basisverb bezeichnete Ereignistyp wird - in diesem Beispiel - nuanciert und zwar grundsätzlich durch die Zusätze direktiv und resultativ. Verben mit übertragener Bedeutung verweisen zum Teil auf etymologisch begründete Denotationen, die im Laufe der Sprachgeschichte aus dem allgemeinen Sprachbewusstsein verschwunden sind. Auch der Zugang zu morphologischer und syntaktischer Information wird von dieser Tabelle aus zugänglich sein; das ist kohärent mit unserem Standpunkt, dass das Lexikon der geeignete Ort zur Lagerung der gesamten für den korrekten Gebrauch eines Wortes erforderlichen Information sein soll. 2.5 Anvisierte Vorteile eines VerbLexGen-Lexikons Das Verblexikon, das in diesem Beitrag vorgestellt wird, hat - wie jedes andere Lexikon auch - zwei Zielgruppen: Linguisten und Sprachforscher auf der einen, Lerner/ Dozenten im Bereich Deutsch als Fremdsprache auf der anderen Seite. In diesem Abschnitt werden einige der Vorteile präsentiert, die das VerbLexGen-Lexikon für die genannten Benutzergruppen haben kann. Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 71 In diesem Beitrag ist das Lernproblem ‘Verben mit Verbzusatz’ bereits angesprochen worden. Diese Eigenart der deutschen Sprache bereitet Lernern aus dem romanischen Sprachraum Schwierigkeiten, die durch ein Nachschlagewerk dieser Art einigermaßen gelindert werden können. Das systematische Inventar, der rote Faden zu den Regularitäten bei der Bildung solcher Verben oder die Logbücher zum Gebrauch der einzelnen Verben vereinfachen den Weg zum Erwerb eines gewissen Sprachgefühls. Dass anderssprachige Entsprechungen mitgegeben werden, ist mit Sicherheit auch von Nutzen. Linguisten ist für zweierlei Forschungsrichtungen gedient, denn sowohl in der monolingualen als auch in der vergleichenden Perspektive bietet dieses Lexikon ausreichendes Arbeitsmaterial. Es soll auch in Betracht gezogen werden, dass es für die Arbeit mit Computern ausgelegt ist und dass der geplante Aufbau als wiederverwendbare Datenbank einen schnellen Zugang zu Informationen ermöglicht, die nach unterschiedlichen Kriterien sortiert werden können. Wir können uns den Einsatz dieses Werkzeugs bei der Forschung nach der Systematik der Wortbildung innerhalb der Wortklasse Verb oder nach den Regularitäten in den Kombinationen Grundverb-Verbzusatz gut vorstellen. Der mehrsprachige Aufbau der Datenbank bietet auch den Zugang zu vergleichenden Auflistungen einzelsprachlicher Mittel zur Bildung neuer Verben. Solche parallelen Listen stellen nicht nur einen Übersetzungskatalog dar, sie lassen Schlüsse über die Entsprechungen der lexikogenischen Mechanismen zu, die bei der Schöpfung neuer - in unserem Fall verbaler - Bedeutungen am Werk sind. 3. Schlussbemerkung In diesem Beitrag haben wir den Vorschlag für ein neuartiges Verblexikon in seinen Grundzügen vorgestellt. Die reichhaltigen und sehr produktiven Mechanismen des Deutschen zur Schöpfung neuer Verben suggerieren, dass eine Beschäftigung mit den semantischen und syntaktischen Eigenschaften dieser Verben sinnvoll ist und sie eine positive Entwicklung bei der Suche einer geeigneten Repräsentation des verbindenden Algorithmus zwischen Syntax und Semantik darstellt. Auch der Kern einer lexikalischen Datenbank, die gleichzeitig als Datenquelle für die linguistische Arbeit und als Hilfestellung beim Erwerb eines gewissen Sprachgefühls konzipiert ist, wurde präsentiert. Diese Datenbank José-Antonio Calañas Continente 72 stellt die Umsetzung einer Theorie zur Darstellung lexikalischen Wissens durch lexikalische Schablonen in die Praxis dar und verkörpert den Keim für neuartige lexikografische Werke, die Einsicht sowohl in die Regularitäten der Bildung neuer Verben in der deutschen Sprache als auch in die Etikettierungsprozesse verbaler Bedeutung bieten. 4. Literatur Calañas Continente, José-Antonio (2002): El dominio léxico ‘Existencia’ en alemán. Diccionario lexemático-funcional alemán-español del lexicón verbal básico. Frankfurt a.M. Calañas Continente, José-Antonio (2004): Zur Darstellung von Bedeutung: Wege zur Optimierung von Wörterbüchern Deutsch-Englisch-Spanisch. In: Estudios Filológicos Alemanes: Revista del Grupo de Investigación Filología Alemana 5, S. 259-271. Calañas Continente, José-Antonio (2005): ‘Construction Grammar’. Ihre Anwendung bei der Beschreibung der deutschen Sprache. In: Forum 2004, Associació de Germanistes de Catalunya. Tarragona. Internet: http: / / www.tinet.org/ ~asgc/ Forum/ Autors/ calanas/ calanas1.html (Stand: Mai 2007). Cortés Rodríguez, Francisco-José/ Mairal Usón, Ricardo (2003): La formación de palabras, de nuevo, como encrucijada: la interfaz semántica-morfología-sintaxisfonología en el Modelo de Gramáticas Léxicas. In: Cuartero Otal, Juan/ Wotjak, Gerd (Hg.): Algunos problemas de la descripción sintáctico-semántica. Berlin. Coseriu, Eugenio (1972): System, Norm und ‘Rede’. In: Coseriu, Eugenio: Sprache - Strukturen und Funktionen. Tübingen, S. 193-212. DUW = Duden (2001): Duden - Deutsches Universalwörterbuch. Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache CD - ROM , Version 3.0. Hrsg. v. d. Dudenredaktion. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Griesbach, Heinz (1991): 4000 deutsche Verben, ihre Formen und ihr Gebrauch. Ismaning. Mairal Usón, Ricardo (2002): Why the notion of ‘lexical template’? In: Ferrer Mora, Hang/ Calañas Continente, José-Antonio/ Pavón Vázquez, Víctor (Hg.): Anglogermanica Online 2002, 1, S. 51-68. Internet: http: / / anglogermanica.uv. es: 8080/ Journal/ Issue.aspx? Year=2002 (Stand: Mai 2007). Mairal Usón, Ricardo (2004): Reconsidering lexical representation in role and reference grammar. In: Celada, Antonio R./ Pastor García, Daniel/ Pardo García, Pedro Javier (Hg.): Proceedings of the XXVII International AEDEAN Conference. ( CD - ROM ). Salamanca. Van Valin, Robert D. Jr./ LaPolla, Randy J. (1997): Syntax: structure, meaning and function. Cambridge, UK . Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik 73 5. Anhang Tabelle 1: Verbzusatz tr./ untr. Bedeutung Spanisch 4 ab ja resultativ separar a golpes, talar an ja direktiv clavar auf ja dir./ result. abrir aus ja dir./ result. separar a golpes be nein übertragen herrar, guarnecer breit ja result. (übertr.) achatar dazu ja direktiv - dazwischen ja direktiv pegar a diestra y siniestra durch ja dir./ result. atravesar ein ja dir./ result enclavar entgegen ja direktiv - ent nein übertragen librarse, deshacerse, desembarazarse entzwei ja resultativ romper en dos (de golpe) er nein resultativ matar a golpes fehl ja resultativ errar el golpe herab ja direktiv echar abajo (a golpes) herum ja direktiv envolver en herunter ja direktiv desplomarse hin ja direktiv golpear sobre / desplomarse hinein ja direktiv - kaputt ja resultativ desbaratar, despedazar (a golpes) los ja resultativ separar a golpes nach ja übertragen consultar un libro nieder ja dir./ result. derribar a puñetazos tot ja resultativ matar a golpes über ja direktiv cruzar, doblar über nein übertragen pasar por alto um ja direktiv cambiar de golpe um nein übertragen - unter ja dir./ result. defraudar, sustraer, malversar unter nein direktiv - ver nein resultativ (neg.) desviar del rumbo, cubrir de tablas vor ja (dir.) übertr. proponer weg ja dir./ result. - zer nein resultativ romper a golpes zurück ja dir./ result. rechazar zusammen ja resultativ moler a palos 4 Zweisprachige Wörterbücher geben mehr Entsprechungen an, hier werden nur diejenigen festgehalten, die näher an der prototypischen Bedeutung von ‘schlagen’ stehen. Für einige der zusammengesetzten Verben lässt sich keine direkte Übersetzung finden. Mireia Calvet Creizet Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich 1. Vorbemerkungen Eines Tages ist es so weit gewesen: Ich habe in meinen Lehrveranstaltungen über deutsche Sprachgeschichte, in denen ich ein variationistisches Konzept vertreten habe, nur noch von Varietätengerüsten, Kommunikationsräumen, Kontaktsituationen, von Sprachformen und Erscheinungsformen der Sprache gesprochen. Die Bestimmungswörter in den obigen Komposita, d.h. die Wörter Sprache, Varietät, Kontakt, habe ich in selbstständiger Verwendung bald nicht mehr über die Lippen gebracht. Obwohl ich als Dozentin samt meiner Sekundärliteratur bei einer solchen Konzeptualisierungspräferenz ziemlich allein dagestanden bin, habe ich mir im Stillen doch gewünscht, - in den Klausuren hätte ich es fast von ihnen verlangt! -, dass meine Studenten auch so reden und schreiben. Und so ist der vorliegende Beitrag aus der Überzeugung entstanden, dass das Verständnis von solchen und ähnlichen Nominalkomposita, welche der Definition von Klassenkomposita 1 in der Literatur entsprechen, sowie ihr Einsatz im fachsprachlichen Bereich der diachronen Varietätenlinguistik bei studentischen Textrezipienten und gelegentlichen Kurztext-Produzenten zu fördern ist. 2 In dem vorliegenden Beitrag werde ich zu zeigen versuchen, dass Klassenkomposita grundsätzlich zur Zuordnung der jeweiligen Erststämme zu unterschiedlichen Oberbegriffen innerhalb eines fachsprachlich mehr oder weniger fest abgesteckten ontologischen Rahmens dienen. Meines Erachtens werden in der Literatur die Hintergründe für die Prägung von kommunikativ sinnvollen Konzepten 3 in Form von Klassenkomposita zu wenig beachtet. Für die Beispiele oben heißt das: Varietätengerüst soll primär eine Vielheit von Va- 1 Klassenkomposita werden oft auch explikative oder verdeutlichende Komposita genannt. Einige Definitionen finden sich in Barz (2005, S. 729), Eichinger (2000, S. 77, 81, 186) und Fleischer/ Barz (1992, S. 126f.). 2 Auch Handwerker (2003) möchte Telizität, als Teil der aspektualen Bedeutung, als Lerngegenstand ansehen. 3 Die Einbeziehung pragmatischer Aspekte in der Wortbildung wird von Motsch (1999, S. 25) befürwortet. Mireia Calvet Creizet 76 rietäten als gegliedertes Ganzes bezeichnen, und - wenn überhaupt - nur sekundär für eine Gerüstunterart in Opposition zu anderen Gerüsttypen stehen. Sprachformen und Erscheinungsformen der Sprache lassen eine Vielfalt von Varietäten als Teilgebilde innerhalb eines (evtl. strukturierten) Ganzen erscheinen und könnten erst sekundär als Formen oder Verformungen von etwas verstanden werden. Kommunikationsraum thematisiert das Vorkommen von Kommunikation in einem bestimmten Raum - wobei die Präposition hier prosodisch prominent auszusprechen ist -, auch wenn diese Zusammensetzung ebenso als ein Raum in Opposition zu anderen Raumtypen aufgefasst werden kann (Kulturraum, Sprachraum, Sprachbewusstseinsraum, etc.). Kontaktsituation steht grundsätzlich für einen anhaltenden Zustand des (Sprachen-)Kontakts und ist nur sekundär als eine Situation in Opposition zu anderen denkbaren Situationen zu verstehen (z.B. Deutsch in einer Kontaktsituation, Deutsch in einer Sprachbundsituation, Deutsch in einer Sprachfamiliensituation etc.). Eine Interpretation als Determinativkompositum mag also in einigen Fällen und je nach Kontext nicht auszuschließen sein, sie würde aber offensichtlich nicht auf die meisten Fälle zutreffen. Darauf, wie die Begriffskategorie Aspektualität zu definieren ist (als bloß semantisch-funktionelle Kategorie ohne Widerpart im System der grammatischen Kategorien - so Baudot 2004, S. 41 - oder als grammatisch-lexikalische Kategorie), welche Realisierungsmittel für sie angenommen werden (ob sie sich auf die verbale Kategorie reduzieren oder ob anderweitige Ausdruckskategorien in Frage kommen), 4 auf all diese und andere umstrittene Fragen im Zusammenhang mit einer Begriffsbestimmung von Aspektualität soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. Ich akzeptiere den Vorschlag von Andersson (2004, S. 5), eine übergreifende Charakteristik der begrifflichen Kategorie Aspektualität zum einen in der „Verlaufsweise des Geschehens“ (Aktionsartbereich) 5 und zum anderen in der „Perspektivierung des Geschehens“ (Aspektbereich) 6 zu sehen, wobei ich mich in diesem Bei- 4 Dazu siehe insbesondere Krause (2004) und Lallement (1989). 5 Auf den nominalen Bereich übertragen würde ich von Seinsarten reden. 6 Auf den nominalen Bereich übertragen würde ich von Perspektivität der Seinssorten reden. In der Allgemeinsprache mag „[d]ie Natur dessen, wovon die Rede sein soll […] nur in sehr allgemeinem Sinn von Interesse“ sein (so im GRAMMIS -Informationssystem des IDS: http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ pls/ public/ sysgram.ansicht? v_typ= d&v_id=1608 (Stand: Mai 2007)), in den Fachsprachen dagegen ist das ein zentrales Anliegen. Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 77 trag auf Letzteres beschränken möchte. Wiederkehrende Wahrnehmungs- und Konzeptualisierungsmöglichkeiten von Entitäten innerhalb eines fachsprachlichen Bereichs (als ganzheitliches massives oder als ganzheitliches gegliedertes Gebilde, als abgeschlossenes Teilgebilde oder als auf ein Ganzes hin offenes Teilgebilde etc.) sollen hier unter die aspektuale Bedeutung fallen. Ich gehe dabei von der Hypothese aus, dass in Arbeiten über den Status einzelner Varietäten innerhalb von Varietätenrepertoires sowie in Arbeiten, in denen die Vergleichbarkeit von mehreren Varietätenspektren angestrebt wird, in der Fachsprache der variationistischen Sprachgeschichtsschreibung also, nominale Klassenkomposita im Dienste solcher wechselnden Zugriffsweisen auf Variationsphänomene stehen. Konzeptualisierungspräferenzen herauszufinden ist übrigens eine zentrale Aufgabe der onomasiologischen Wortbildung, in den Worten von Blank (1998, Anm. 6) hat sie ja auszumachen, „welchen Anteil an der Versprachlichung der Welt [bzw. an der Konzeptualisierung eines Fachbereichs, Anm.d.Verf.] Wortbildungsprozesse überhaupt haben“. Sollte der Leser die Existenz einer Fachsprache der (germanistischen) Linguistik bezweifeln, so lassen sich alle Vorkommnisse des Substantivs Fachsprache in der vorliegenden Arbeit sicherlich nicht ohne Gewinn durch Diskurstradition ersetzen. Eine Definition von Diskurstradition liefert Frank-Job (2004, S. 10), nach der Diskurstraditionen „konventionalisierte und kulturell bestimmte Zugriffsweisen auf Wirklichkeit [sind], die in der Kommunikation mit anderen ausgehandelt, betätigt und weitergetragen werden“. In Anlehnung an Wirrer (1998, S. 308) werde ich davon ausgehen, dass es bei der Diskussion um die Vielgestaltigkeit der deutschen Sprache eine wissenschaftliche Diskurstradition gibt, die sich insbesondere von einem alltagssprachlichen und von einem politischen Diskurs über das gleiche Thema unterscheidet, wobei mein Interesse in dieser Arbeit Ersterem gilt. 2. Voraussetzungen Es hat sich bald herausgestellt, dass mein Anliegen mit einer Reihe von Ansätzen zusammenhängt, deren Zusammenspiel dem Leser hoffentlich einleuchten wird, auch wenn sie eher einzeln erforscht anstatt systematisch aufeinander bezogen werden. Will man die Leistung von Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich bestimmen, so setzt das einiges voraus, was unbedingt in einem engeren Zusammenhang gesehen werden sollte. Konkret: Mireia Calvet Creizet 78 a) Auf der Inhaltsseite I. sollte eine Liste der funktionalen Operationen, die zur Präzisierung der Referenz von sprachlichen Zeichen dienen (in Abbildung 1 findet sich ein Vorschlag von Coseriu, auf Coseriu 1955 basierend), durch Operationen zum Ausdruck der Aspektualität von Substantiven erweitert werden (Individualisierung, Kollektivierung, Entgegenständlichung etc.). II. sollte eine geschlossene Liste der Ausprägungen der Begriffskategorie Aspektualität beim Substantiv aufgestellt werden (Kontur-, Massen-, Kollektivname etc.). b) Auf der formalen Seite wäre herauszufinden, III. ob die einzelnen Operationen mit syntaktischen Mitteln (Wortgruppen) und/ oder mit morphologischen Mitteln (Wortbildung und Flexion) realisiert werden können und weiter, ob für bestimmte Entitäten innerhalb einer Wissensdomäne identische Apperzeptionsweisen sowohl mittels Derivation als auch mittels nominaler Klassenkomposition kodierbar sind. 7 IV. wie die einzelnen Operationen auf verschiedene Kompositionstypen (determinativ vs. klassifizierend) verteilt sind. 3. Klassenkomposita zur Variation der nominalen Grundgestalt des Erststammes Da der vorliegende Beitrag lediglich eine bescheidene Vorarbeit zu einer notwendigen Untersuchung der Funktionen von nominalen Klassenkomposita im fachsprachlichen Bereich darstellt, und da eine vollständige Behandlung im Rahmen dieser Wortbildungstagung weder erreichbar noch angestrebt wird, möchte ich in diesem Abschnitt einige der Schwierigkeiten zeigen, die mit einem solchen Vorhaben verbunden sind. 3.1 Zu I. In Abbildung 1 finden sich Coserius acht Formen der nominalen Determination in tabellarischer Darstellung. In Zeile 2 werden Definitionen angegeben und in den Zeilen 3, 4 und 5 werden Realisierungsmittel für die einzelnen 7 Auf die funktionalen Gemeinsamkeiten von Derivation und Klassenkomposition wird in der Literatur an vielen Stellen hingewiesen. Vgl. Eichinger (2000, S. 76, 77, 187), Jackendoff (1992, S. 9), Rijkhoff (1991, S. 296 und Anm. 5). Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 79 Abb. 1: Coserius acht Formen der nominalen Determination (siehe Coseriu 1955) Mireia Calvet Creizet 80 Operationen angeführt oder an Beispielen veranschaulicht. Während A für sich steht, gruppiert Coseriu B, C und D als Formen der Diskrimination und E, F, G, H als Formen der Delimitation. Mittels Diskrimination werden Betrachtungen über das Umfeld des Denotats angestellt („la denotación necesita ulteriores determinaciones, cada vez que no se habla de ‘entes en general’ sino de algún grupo de entes particulares [...] los entes denotados se presentan como ejemplos de una ‘clase’ o representantes de un ‘tipo’, o, también, como porciones de un ‘objeto extenso’“; Coseriu 1955, S. 38). Dagegen dient die Delimitation zur Charakterisierung der internen Beschaffenheit des Denotats. In den Worten Coserius (ebd., S. 43): „parcializando el ‘concepto’“, „‘limitan’ la denotación, [...], orientando la referencia hacia una parte o hacia un aspecto del particular denotado“. Vorhin habe ich bereits erwähnt, dass die Liste von Coseriu erweitert werden könnte. Diese Erweiterung scheint mir erforderlich zu sein, weil Coserius Liste von Operationen einige Mängel aufweist. Ich werde hier ausschließlich auf drei Mängelpunkte eingehen (siehe Abbildung 1): 1) Für gewöhnlich wird davon ausgegangen, dass Lexikeinheiten in drei Ebenen organisiert sind: eine Basisebene, eine Ebene der Superordinate und eine der Subordinate (Krifka 1991, S. 414 und Mihatsch 2006). Wenn dem so ist, dann sollte Determination - so wie das im Titel der Arbeit von Coseriu verwendet wird - lediglich als eine Technik unter anderen und nicht als Oberbegriff für sämtliche Formen der Determination angesehen werden, da die Technik der Determination 8 von x durch y sowohl zur Untergliederung in species als auch zur Zuweisung an generi eingesetzt werden kann. Die Begrifflichkeit von Coseriu ist jedoch fast ausschließlich nach unten gerichtet (Ebene der Subordinate). Für die Superordinationsebene sind in Coseriu kaum Formen der Determination vorgesehen, abgesehen von gewissen Verwendungskontexten der Spezialisierung (vgl. die fett eingerahmte Spalte F in Abbildung 1). Ausgerechnet die Spezialisierung spielt in der Begrifflichkeit der variationistischen Sprachgeschichte eine wichtige Rolle, da die diachronisch bedingte Zugehörigkeit ein und desselben Teilgebildes zu verschiedenen ganzheitlichen Gebilden in Diskussionen über die Bewahrung der Identität von Aggregaten von großer Wichtigkeit ist. Übrigens könnten Spezialisie- 8 Eigentlich sollte von einer Technik der Inkorporation von x in y bzw. von y in x neben anderen die Rede sein (vgl. Eichinger 2000, S. 81). Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 81 rung, Quantifizierung bzw. Singularisierung und die metasprachliche Identifizierung (Spalten F, B und H in Abbildung 1) als Formen der Determination zum Ausdruck von wechselnden Apperzeptionsweisen zusammengehen. 2) Bei Coseriu - seine Beispiele finden sich in Zeile 3 in Abb. 1 - kommen Wortbildungsprodukte kaum vor. Die Beispiele in den Zeilen 4 und 5 in Abb. 1, alles Bildungen aus einem Fachbereich mit Sprache als Forschungsgegenstand, wurden aus diesem Grund von mir hinzugefügt, wobei Komposita ausschließlich in Zeile 5 stehen. 3) „Determinación“ im Sinne Coserius als Bezeichnung für sämtliche determinierende Operationen greift für meine Belange zu kurz, weswegen ich in Anlehnung an Meisterfeld, der nominale Grundgestalt verwendet, lieber von nominaler Gestalt reden werde. Ich nehme an, dass Meisterfelds Begriff der nominalen Grundgestalt 9 als auf die Grundgestalt von Nominalvorstellungen ohne jegliche Determination bezogen zu verstehen ist. Daher habe ich ihn in meiner Arbeit zu nominaler Gestalt abgewandelt, weil hier eben dargelegt werden soll, wie mittels Determination jene Grundgestalt fast beliebig variiert werden kann. 3.2 Zu II. Über eine Definition sowie über Zahl und Art der Ausprägungen der Begriffskategorie Nominalaspekt besteht keine einheitliche Meinung, trotzdem habe ich in Abbildung 2 Rijkhoffs (1991) Aspektualklassen mit Döllings (1992; 1995) ontologischem System zusammenzuführen versucht, in der Absicht, die in der variationistischen Sprachgeschichte vorkommenden ontologischen Größen in ihrer Aspektualität zu erkennen. 10 9 Meisterfeld (2005, S. 40): „Die besondere Konfiguration der Nominalvorstellungen [...] gehört zu jenem Phänomenbereich der Apprehension (der sprachlichen Erfassung von Gegenständen, [...]), für den wir den Terminus nominale Grundgestalt vorgeschlagen haben [...]. Die nominale Grundgestalt betrifft das allgemeine Verfahrensprinzip der Einzelsprachen bei der nominalen Quantifizierung, d.h. die Art und den Umfang der Mittel, durch welche zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Individuen und Stoffen unterschieden wird.“ 10 Im Zuge der Debatte über die Beschaffenheit des Variationsphänomens als continuum (empirische Fakten sind tendenziell kontinuativ) oder als gradatum (Abstraktion setzt diskrete Kategorien voraus) wird das sogar zu einer zentralen epistemologischen Fragestellung (vgl. Berruto 2004, Stehl 1998, Weydt/ Schlieben-Lange 1981). Mireia Calvet Creizet 82 interne Struktur äußere Formung unscharfer Umriss Konzeptnomina Sprache nicht teilbar definiter Umriss singulative Individualnomina (= Dinge, Institutionen) Sprachvarietät Erscheinungsform unscharfer Umriss Stoffe und kollektive Massennomina 11 (= Aggregate) Sprachkontinuum Varietätenkontinuum teilbar definiter Umriss kollektive Individualnomina (= Gruppen, Konfigurationen) Dialektverband Varietätengefüge Varietätenrepertoire Abb. 2: Zusammenführung von Rijkhoffs Aspektualklassen mit Döllings ontologischem System Durch Wortbildung lassen sich aspektuale Bedeutungen von Entitäten variieren. Ähnlich wie im Falle der aspektualen Verbklassen 12 ergeben sich daraus Typen von Entitäten. Aspektualität ist also so wenig allein an einem Stamm außerhalb des Wortbildungsproduktes festzumachen, wie am Kernsubstantiv innerhalb der Nominalphrase. 13 11 Gisela Zifonun hat mich im Diskussionsteil von meinem Vortrag während der Tagung netterweise darauf aufmerksam gemacht, dass meine Beispiele hier in einem wichtigen Punkt von alltagssprachlichen Massennomina wie Wasser abweichen, und zwar darin, dass Substantive wie Kontinuum einen Plural wohl kennen. Allerdings halte ich die Pluralform Kontinua für eine pragmatisch-kontextuell unwahrscheinliche Bildung, so seltsam wie das Reden bzw. das Zählen von Wasserkontinua, da ich mir das nur im Kontext einer philosophischen Diskussion vorstellen kann. Ansonsten ist Wasser nur in den passenden Quanten (Tropfen, Glas, Krüge, Flasche, Liter) pluralisierbar. Ebenso kann ich mir die Rede von Sprachkontinua nur in einer Abhandlung über die Begrifflichkeit von Kontinuität bzw. Diskontinuität in den Geisteswissenschaften vorstellen (so z.B. in den Beiträgen des Bands Bausinger/ Brückner 1969). Sprache, da sie als Kontinuum vorkommt, ist nur in entsprechenden Quanten zählbar. Es müsste an Korpusmaterialien untersucht werden, ob die Pluralisierung von Kontinuum Vielheit bezeichnet oder Sortenplural ist. Dazu, dass Abstrakta im Allgemeinen für Massennomina gehalten werden, und dass die entsprechenden Pluralformen trotz Ambiguität u.a. auch Vielfalt bezeichnen können, siehe Behrens (1998, S. 237ff.). 12 Vgl. die semantischen Verbklassen (Accomplishments, Achievements, Activities, States, Aktionsart-Verben) in Klimonow (1996). 13 Krause (2004, S. 123): „allein auftretende Lexeme [sind] hinsichtlich der Aspektualität eher als neutral zu betrachten“. Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 83 4. Konzeptualisierung der Forschungsgegenstände in der variationistisch geprägten diachronen Linguistik In diesem Abschnitt werden nun einige Motive zur Bildung von Klassenkomposita in den Fachsprachen erörtert. 4.1 Variierende Apperzeptionsweisen von Forschungsgegenständen Klassenkomposita dienen zur ontologischen Charakterisierung von Mikrowelten (Fachdomänen). Sie spielen also bei der richtigen Relationierung der Begrifflichkeit einer Wissensdomäne eine sehr wichtige Rolle. Dabei denke ich weniger an taxonomische Organisation, wie in Abbildung 3, die mehr aus der Sicht des Sprachanalytikers entsteht, als an engynomische Lexiknetze (Abb. 4), die vielmehr dem Blickwinkel des Sprachproduzenten entspringen. Den engynomischen Relationen liegt Kontiguität zugrunde (vgl. Koch 1999). Kontiguität ist das Konstruktionsprinzip von Ganz-/ Teil-Relationen, Ursache-/ Folge-Relationen, Agens-/ Erzeugnis-Relationen, Tätigkeits-/ Ort-Relationen etc. - alles Relationen, die für Szenarien und Rollenträger von sprachgeschichtlichen Zusammenhängen zentral sind. Pflanzen Bäume Schilf Blumen Fruchtbäume keine Fruchtbäume nutzbar nicht nutzbar Zitronenbaum Apfelbaum Zypresse Zuckerrohr Bambus Binse Abb. 3: Taxonomische Organisation Abbildung 4 soll zeigen, wie die Konzeptualisierung von Entitäten (beispielsweise) aus der „Welt der Zuckerproduktion“ kognitiv fundiert ist und dass sie auch kulturell sowie individuell bestimmt sein kann. 14 14 Vgl. Holenstein (1999, S. 3): „Ein Kenner fragt einen Käser, ‘wie viele Käse’ er produziert, und meint dabei Käselaibe. Ein Laie fragt nach, ‘wieviel Käse’ und denkt dabei an Kilo.“ Mireia Calvet Creizet 84 Zucker Masse, kollektive Substanz Zuckerplantage ganzheitliche Konstellationen, kollektiver Gegenstand Zuckerrohr Teil Zuckerpackung Individualisierung Zuckerpuder, Zuckerwürfel Standard-Portionierungen Abb. 4: Engynomische Organisation Innerhalb der verschiedenen Wissensdomänen erlauben Klassenkomposita also eine Art von ontologischem zooming; d.h. eine wechselnde Wahrnehmung und daher Thematisierung des Benennungsgegenstands u.a. als Ganzes trotz innerer Gliederung oder aber als Teil trotz Zugehörigkeit zu einem oder zu mehreren Ganzen. 4.2 Bedürfnis nach Begriffen auf der Superordinationsebene Anders als Determinativkomposita, welche spezifizierend eingesetzt werden, wirken Klassenkomposita generalisierend, typisierend. In Eichinger (2000, S. 186) wird das so erkannt, aber etwas einschränkend im Zusammenhang mit Disambiguation und Aussortierung von Interpretationsvarianten gesehen. Ich sehe aber keine disambiguierende Funktion darin, wenn man Komposita wie Umlautprozesse (Abbildung 5) oder Varietätengefüge (Abbildung 6) verwendet. Solche Klassenkomposita reflektieren vielmehr das Ringen um Superordinate zu bestimmten Forschungsstadien, bei terminologischer Erarbeitung verschaffen sie dem Forscher den Sprung in die Ebene der Superordinate. Eine Folge davon dürfte sein, dass sich Begriffe besser untereinander relationieren lassen und dass sprachtypologisch übereinzelsprachliche Vergleichbarkeit (von Situationen, von Gefügen, von Prozessen etc.) erst ermöglicht wird. Die Sprachgeschichtsschreibung von Leitvarietäten (von meistens literarischen Varietäten) leidet an mangelhafter Konzeptualisierung (und folglich an mangelhafter Apprehension) der geografischen Räume, der kommunikativen Räume, der funktionalen Gültigkeitsbereiche. Eine begrüßenswerte - meines Wissens jedoch inexistente - Variationslinguistik, in der Diasysteme von verschiedenen Gesamtsprachen vergleichend dargelegt würden, würde in dieser Hinsicht gravierende terminologische Lücken aufzeigen, insbeson- Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 85 dere im Bereich der superordinierten Begriffe. 15 Überhaupt erlauben Begriffe erst auf der Ebene der Superordinate den Blick über den Tellerrand auszuweiten, so dass sich Vergleichbarkeit einstellen lässt. Im Folgenden werde ich zwei Beispiele dafür anführen. Für die drei in den Sprachgeschichtsbüchern üblicherweise thematisierten Vorkommensweisen von Umlaut (Primär- und Sekundärumlaut sowie Rückumlaut) wäre meiner Meinung nach eine Prägung vom Typ Umlautprozesse nicht ganz gerechtfertigt. So sehe ich in der Verwendung dieses Kompositums keine an allererster Stelle disambiguierende Funktion (Umlautprozesse gegenüber Umlautergebnisse oder sonstige im Umfeld des Umlautens zu versprachlichende Erscheinungen, damit würden Seinsarten und nicht Seinsorten im Mittelpunkt der Betrachtung stehen), sondern vielmehr einen Hinweis vom Typ „Ähnliche Prozesse findet man woanders, suche! “, wobei man sie vorläufig, bis sich eine passendere Terminologie durchsetzt, weiterhin mit Umlaut bezeichnen kann. Frontisierung (Ergebnis) Assimilation (Vorgang, Ursache) Morphologisierung, Entphonologisierung (Geltung) paradigmatische Kohäsion, so z.B. bei Vokalharmonie (Funktion) Umlautprozesse Superordination Umlaut Basisebene Primärumlaut Sekundärumlaut Rückumlaut Subordination Abb. 5: Das Ringen um Begriffe auf der Superordinationsebene: Erscheinungsformen des Umlauts Oft ist es so, dass superordinierte Begriffe sich sehr langsam abzeichnen, aus der (Zusammen-)Arbeit innerhalb einer Forschungsgemeinschaft mühsam hervorgehen. Bis eine konsensfähige Terminologisierung erlangt ist, kann der Gebrauch von Klassenkomposita eine gute Lösung darstellen. Auch Varietätengefüge ist im Prinzip Determinativkompositum, aber als Superordinationsbegriff ist seine Funktion in der Fachsprache nicht, verschiedene 15 Terminologische Lücken im Bereich der Superordinate bemängeln Berruto (1989, S. 556) und Wirrer (1998, S. 327). Mireia Calvet Creizet 86 Typen von Gefügen zu unterscheiden (das wäre in der ‘Gefügelehre’ so, wenn es einen solchen Wissenschaftszweig gäbe), sondern verschiedene auf der Ebene der Subordinate befindliche Typen von Varietätengefügen unter ein Dach zu bringen, darunter Standardsprache im Sinne von standardisiertem Varietätengefüge - zumindest in einer der Auffassungen von Standardsprache als Summe aller Stile, die die Standardsprache ausmachen (Löffler 2005, S. 20) - neben Dialektverband als dialektales Varietätengefüge (Abbildung 6). 16 Hier soll es dahingestellt bleiben, ob weitere Untertypen in der Literatur vorkommen. Varietätengefüge Standardsprache Dialektverband ? (= standardisiertes Varietätengefüge) (= dialektales Varietätengefüge) Abb. 6: Das Ringen um Begriffe auf der Superordinationsebene: Typen von Varietätengefügen 5. Schlussbemerkungen In einer Arbeit über Begriffsgeschichte als eine Form der Sprachgeschichtsschreibung hat Andreas Gardt darauf hingewiesen, dass Begriffe auch Interpretation enthalten können: Begriffe versammeln immer bestimmte Merkmale eines Gegenstandes, wobei eine andere Auswahl von Merkmalen desselben Gegenstandes auch zu anderen Begriffen geführt hätte. Aber einmal im Begriffssystem einer Sprache etabliert, tritt die Perspektivität der Merkmalsbündelung in den Hintergrund, und die Begriffe werden als mehr oder weniger unmittelbare Stellvertreter der Gegenstände gehandelt. (Gardt 1998, S. 196) Zwar haben Terminologien zu Kommunikationszwecken ein Bedürfnis nach der Reproduktion von fest etablierten Begriffen zu erfüllen, dennoch sollten sie auch zu einer stetigen begrifflichen Verarbeitung des Wahrgenommenen dienen. Nun: Klassenkomposita wirken einer solchen Verselbstständigung von Begriffen, wie sie Gardt geschildert hat, entgegen, denn sie ermöglichen neue Kombinationen von Merkmalen, ohne dafür neue (manchmal allzu riskante) 17 Termini prägen zu müssen. 16 Die Subordinationsebene lasse ich hier gänzlich unberücksichtigt. 17 Z.B. Termini mit der Ableitungssilbe {-lekt} vom Typ Sexolekt im Sinne von ‘geschlechtsspezifischer Varietät’. Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 87 In dem vorliegenden Beitrag habe ich zu zeigen versucht, dass über Spezialisierung und Identifizierung hinaus in den Betrachtungen Coserius über die Determination keine weiteren Formen der Determination zum Ausdruck von wechselnden Apperzeptionsweisen vorgesehen sind. Und doch: gegenwärtig ist der Ausdruck von wechselnden Apperzeptionsweisen ein zentrales Anliegen der variationistisch geprägten historischen Linguistik. Es handelt sich dabei mehr um Unterschiede in der Perspektivierung von bereits existierender Lexik als um Lexikerweiterung. In einer Publikation des IDS über Variation hat der Soziolinguist Heinrich Löffler eine Metapher - ich werde sie die Brei-Metapher nennen - für einen ontologischen Zustand der Nicht-Diskretheit geprägt. Seine Worte sind: [...] alle Einteilungsvorschläge und so genannte Definitionen der [sic! ] Deutschen [sind] Kunstprodukte, allesamt an den Schreibtischen der Sprachwissenschaftler entstanden. […] So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, die ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben. (Löffler 2005, S. 25) Ich frage mich nun, wieso man klare Schnitte und feste Figuren aus dem Brei ausschneiden wollen sollte? Denn die Bildung von Klassenkomposita erlaubt einerseits augenblickliche Konturierung, Vergegenständlichung von Diffusem. Ein Beispiel dafür haben wir in der Prägung Sprachbewusstseinsraum. 18 Sprachbewusstsein ist ein Diffusname, durch die Bildung Sprachbewusstseinsraum - Lokalisation einer Tätigkeit, eines Zustands ist hier die zugrunde liegende Kontiguitätsrelation - wird er zu einem Teil, der zumindest in der äußeren Form eine relativ geschlossene Einheit bildet. Andererseits lassen Klassenkomposita die augenblickliche Diffuskonzeptualisierung von Konturnamen zu, so dass die Konturen eingeebnet werden (Meisterfeld 1998, S. 9). Ein Beispiel dafür haben wir in der Prägung Registerausschnitt im folgenden Auszug aus Schmidt (1998, S. 175): „Die Diskussion darüber, welche zusätzlichen Beschreibungsprobleme dadurch entstehen, dass hierbei sehr verschiedene Registerausschnitte als eigenständige Varietäten beschrieben werden, hat noch gar nicht begonnen.“ Register ist ein zählbarer Konturname, durch die Bildung Registerausschnitt soll anstelle eines konturierten Teils ein ausgewählter Teil von einem Ganzen angedeutet werden, der weiterhin einen Eindruck vom Ganzen vermitteln soll. 18 Ein Beleg findet sich in Mattheier (1998, S. 148). Mireia Calvet Creizet 88 6. Literatur Andersson, Sven-Gunnar (2004): Gibt es Aspekt im Deutschen? In: Gautier/ Haberkorn (Hg.), S. 1-11. Barz, Irmhild (2005): Die Wortbildung. In: Dudenredaktion (Hg.): Duden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich, S. 641-772. Baudot, Daniel (2004): Aspekt und Aspektualität: kleiner Beitrag zur Klärung von Begriffen. In: Gautier/ Haberkorn (Hg.), S. 31-42. Bausinger, Hermann/ Brückner, Wolfgang (Hg.) (1969): Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin. Behrens, Leila (1998): Ambiguität und Alternation. Methodologie und Theoriebildung in der Lexikonforschung. Habilitationsschrift. München. Internet: www.unikoeln.de/ phil-fak/ ifl/ asw / institut / homepages / LB / lb_aa.html (Stand: Juni 2007). Berruto, Gaetano (1989): On the typology of linguistic repertoires. In: Ammon, Ulrich (Hg.): Status and function of languages and language varieties. Berlin/ New York, S. 552-569. Berruto, Gaetano (2004): The problem of variation. In: The Linguistic Review 21, S. 293-322. Blank, Andreas (1998): Kognitive italienische Wortbildungslehre. In: Italienische Studien 19, S. 5-27. Coseriu, Eugenio (1955): Determinación y Entorno. Dos problemas de una lingüística del hablar. In: Romanistisches Jahrbuch 7, S. 29-54. Dölling, Johannes (1992): Flexible Interpretationen durch Sortenverschiebung. In: Zimmermann, Ilse/ Strigin, Anatoli (Hg.): Fügungspotenzen. Zum 60. Geburtstag von Manfred Bierwisch. Berlin, S. 23-62. Dölling, Johannes (1995): Ontological domains, semantic sorts, and systematic ambiguity. In: International Journal of Human-Computer Studies 43, S. 785-807. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1992): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Frank-Job, Barbara (2004): Sprachwandel und Sprachvariation: Zur Bedeutung von Diskurstraditionen für die Sprachwandelforschung. Internet: www.barbara-job .de/ forsch/ frank.pdf (Stand: Juni 2007). Gardt, Andreas (1998): Begriffsgeschichte als Methode der Sprachgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117, Sonderheft, S. 192-204. Zum Ausdruck von Aspektualität mittels nominaler Klassenkomposita 89 Gautier, Laurent/ Haberkorn, Didier (Hg.) (2004): Aspekt und Aktionsarten im heutigen Deutsch. Tübingen. Handwerker, Brigitte (2003): Telizität im Deutschen - ein Lerngegenstand. In: Deutsch als Fremdsprache 40, 3, S. 141-147. Holenstein, Elmar (1999): Zur Relativität des sprachlichen Relativismus. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 157, 10. Juli 1999, S. 81. Internet: www.bbpp.de/ nzzsprache.htm (Stand: Juni 2007). Jackendoff, Ray (1992): Parts and boundaries. In: Levin, Beth/ Pinker, Steven (Hg.): Lexical and conceptual semantics. Cambridge, UK , S. 9-45. Joosten, Frank (2003): Accounts of the count-mass distinction. A critical survey. In: Lingvisticæ Investigationes 26, 1, S. 159-173. Klimonow, Wladimir (1996): Zur Interaktion von grammatischen und lexikalischen Aspekten. In: Folia linguistica XXX , 1-2, S. 73-86. Koch, Peter (1999) Frame and contiguity. On the cognitive bases of metonymy and certain types of word formation. In: Panther, Klaus-Uwe/ Radden, Günter (Hg.): Metonymy in language and thought. Amsterdam/ Philadelphia, S. 139-167. Krause, Maxi (2004): Zum Wechselspiel von Punktualisierung und Linearisierung. In: Gautier/ Haberkorn (Hg.), S. 119-134. Krifka, Manfred (1991): Massennomina. In: Stechow, Arnim v./ Wunderlich, Dieter (Hg.): Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung/ Semantics. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 6). Berlin/ New York, S. 399-417. Lallement, Renaud (1989): Die Kombinierbarkeit von Aspekt im Deutschen. In: Deutsche Sprache 17, S. 264-278. Löffler, Heinrich (2005): Wieviel Variation verträgt die deutsche Standardsprache? Begriffsklärung: Standard und Gegenbegriffe. In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Jahrbuch 2004 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York, S. 7-27. Mattheier, Klaus J. (1998): Gibt es eine regionale Sprachgeschichte der Rheinlande? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117, Sonderheft, S. 144-151. Meisterfeld, Reinhard (1998): Numerus und Nominalaspekt. Eine Studie zur romanischen Apprehension. Tübingen. Meisterfeld, Reinhard (2005): Reduktive Verfahren. In: Philologie im Netz 32, S. 32-49. Mihatsch, Wiltrud (2006): Kognitive Grundlagen lexikalischer Hierarchien untersucht am Beispiel des Französischen und Spanischen. Tübingen. Mireia Calvet Creizet 90 Motsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Rijkhoff, Jan N.M. (1991): Nominal aspect. In: Journal of Semantics 8, 4, S. 291- 309. Schmidt, Jürgen Erich (1998): Moderne Dialektologie und regionale Sprachgeschichte. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117, Sonderheft, S. 163-179. Stehl, Thomas (1998): Les concepts de continuum et de gradatum dans la linguistique variationnelle. In: Kremer, Dieter (Hg.): Actes du XVIII e Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes. Université de Trèves (Trier) 1986. Bd. V. Tübingen, S. 28-40. Weydt, Harald/ Schlieben-Lange, Brigitte (1981): Wie realistisch sind Variationsgrammatiken? In: Geckeler, Horst/ Schlieben-Lange, Brigitte/ Trabant, Jürgen/ Weydt, Harald (Hg.): Logos Semantikos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu, 1921-1981. Bd. V. Berlin/ New York/ Madrid, S. 118-145. Wirrer, Jan (1998): Zum Status des Niederdeutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 26, 3, S. 308-340. María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 1. Introduction In our previous research and discussions, we have found that conventional dictionaries, used as an essential source of information, are problematic in a series of features concerning derived words. Mainly, we can outline the following: a) The inclusion or not of derived words as separated entries in the lexicon, depending on whether their meanings are more or less predictable from their form; b) How to cross-reference morphologically related words; c) The separation between different meanings according to those of the base form; d) The addition of combinatory information, both grammatical and lexical; e) The inclusion of examples. Most of these items refer to grammatical and usage information. For our purpose, the basic grammatical information provided in conventional general dictionaries is not sufficient when it comes to the combination and integration of phonological, morphological, collocational, syntactic, semantic and pragmatic information. In addition, advances in the development and use of new technologies for communications and retrieval of any kind of information, including linguistic data, provides us with newly available tools as well as research in the fields of computational lexicography and computer corpus linguistics. From this perspective, our interests are on the use of natural language text for one or more of the following: - Lexicon extraction and building, - Computational storage of the lexicon, - Defining standards for lexical exchange and reusability. María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 92 2. Description of DERIV@ The objectives of this project are the collection and analysis (including substantial grammatical information) of a corpus of derived words in Spanish and the elaboration of a dictionary of affixes and derived words. This task will be completed in stages, working with subcorpora, since this part of the language lends itself to be compartmentalized. This way, the information can be shared immediately as each part of the analysis and the description of each of the affixes and words are completed. - Spanish Corpus - 2 046 analyzed words - 16 887 categorized words - 4 071 definitions - 8 218 documented examples - 3 761 spelling variations - Latin Corpus - 1 184 analyzed words - 1 769 definitions - 1 204 documented examples The numerical data that we see above only correspond to the sample of Spanish adjectives ending in -oso and the corresponding Latin words ending in -osus. If we bear in mind that with a little more than 1000 words the representation of this suffix averages to more than 100 affixes in our language, it is not difficult to imagine the proportions that this project could reach as we keep incorporating new elements. DERIV@, the provisional title of this project, is as much a linguistic database with two models of representation, Spanish and Latin derivation, as it is an application developed for data input and/ or search. A large part of the information offered by DERIV@ has been obtained through external sources: books, newspapers, and corpora. 1 For example, over eighty percent of the examples in the Spanish database have been ex- 1 Sources of textual data. Corpora: ADMYTE (Digital Archive of Spanish Manuscripts and Texts), CORDE (Spanish Diachronic Corpus), CREA (Current Spanish Reference Corpus), DAVIES (Spanish Corpus), DCP ( DERIV @'s own Corpus), BTL (Teubnerian Bibliotheca Latina), CLCLT (Library of Latin Texts). DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 93 tracted from the Royal Spanish Academy Corpora, CORDE (Spanish Diachronic Corpus), and CREA (Current Spanish Reference Corpus). Dictionaries have also been an important source for the elaboration and comparison of definitions as well as for the resolution of etymological questions. 2 3. Data Input Blocks for the Spanish Database As an example for the data input process, we find below the complete entry for a single word, in this case “aceitoso” (oily). Fig. 1: Information for “aceitoso” Here we have the headline information for each word: root, part of speech, origin, phonetic transcription, usage labels, prepositional combinations, etc. Some of the difficulties in completing the information needed in this screen result from the assignation of the part of speech, since some elements can belong to two or more classes (adjective/ substantive, adjective/ substantive/ participle, substantive/ infinitive, etc.), and with the prepositional combinations or the use of the two Spanish forms of the verb “to be”, “ser” and “estar”. It will be the actual examples, and not the theory, that will help us decide what information will be contained in these fields. In the “evolution” field, we go beyond the derived word to show its history, as far as we have been able to document it. 2 Sources of textual data. Dictionaries: DRAE (Royal Spanish Academy Dictionary), DUE (Spanish Useage Dictionary), VOX (General Illustrated Dictionary), PLANETA (Spanish Language Dictionary), DCECH (Critical Etymological Dictionary of the Spanish Language), Diccionario Inverso de la Lengua Española (Reverse Spanish Language Dictionary), The Oxford Latin Dictionary, Latin Etymological Dictionary, Spanish - Latin Dictionary. María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 94 Fig. 2: Other information In this second data input block, there are four sections that refer to the introduction of synonyms, the relation between the derived word and its base, and the semantics of the derived word and its etymology. Fig. 3: Definitions and examples In the third section of the entry, shown above, we find meanings of the derived word with their respective examples. We can see that, in the definitions, we use “someone” for human beings and “something” for everything DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 95 else. Thus for the fourth meaning of “aceitoso”, “Se dice de algo que está demasiado ornamentado o de alguien que muestra afectación en sus palabras o gestos” (“said of something that is too ornate or of someone who shows too much affectation in their words or gestures”), we provide examples of both: “someone”, Era un hombre aceitoso, zalamero; “something”, Mozart estaba orgulloso de su legato, su aceitoso legato. Fig. 4: Graphematic variations for “aceitoso” On the above screen, we see the graphematic variations of a word that have been documented throughout its history. The default form is the unmarked form of the masculine singular. The date on the right of the derived word corresponds with the first occurrence of the word in CORDE. In the dictionary and on the Internet layout, the spelling variations follow in chronological order. In Figure 5 we see information taken from the database: inflection, part of speech, usage labels, etymology, etc. as well as meanings and examples. In this case, there is no particular difficulty since there is only one base for the word “aceitoso”, which is “aceite”, but there are other, more complex situations. Derived words can have two bases, for example, a substantive and a verb, or there can be a derived word whose base is a Latin word no longer used in Spanish. For spelling variations in the base, we follow the same procedure that we use for the derived words. Under the label “series”, the elements that constitute the vocabulary family of the word are grouped and categorized. It is also possible to obtain in a visual format how we link the definition or the meaning of a derived word with what is selected from the base. The first meaning of “aceitoso” applies to something that is oily or too oily; hence, we see its relation with the word “aceite” (oil = fat extracted from a María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 96 Fig. 5: Information for the base “aceite” Fig. 6: Graphematic variations for “aceite” DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 97 vegetable), and the example that links them is: Nada que ver con los garitos que frecuentábamos Garzón y yo, siempre llenos de humazo, emanaciones de aceite frito (It has nothing to do with the bars that Garzón and I used to go to, always full of smoke, wafts of fried oil). But we can also relate it to the second meaning of “aceite”, and so we have included an appropriate example of such. However, if the word “aceite” had a third meaning, not related to either of the “aceitosos”, the third example would not appear here. 4. Data Input Blocks for the Latin Database In the Latin database screen, the entry contains less information than that contained in the Spanish entry. This is because the purpose of Latin DERIV@ is to provide diachronic information for Spanish DERIV@. Fig. 7: Latin database I We can see on this screenshot how the information for the word “ambagiosus” was introduced: part of speech, relation with its base, definition, examples, etc. The nexus that unites the Latin database with the Spanish one is the list of evolutions, where we introduce the Spanish word or words whose etymology is a Latin word (if applicable). Beside each word, we state María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 98 if the word is formal or not. In the assignation of the labels “formal” or “popular”, we tried using various criteria and finally decided on a strictly phonetic one: We consider those words “not formal” that have undergone all possible changes or evolutions and those “formal” that have not undergone any changes or at least not all of the possible changes. Fig. 8: Latin database II For the Latin base, we have introduced specific information like declination, gender of nouns, conjugation of verbs, etc. We can see that the meanings of the base of the derived words are separated by markers in the definition. 5. Data Input Tools Given the large volume of data and sources consulted, together with the slow advancement in the growth of the data base, two tools have been chosen to help automate our tasks: CONCOR and VARIGRAF. CONCOR is used to consult words or lists of words found in electronic corpora. When applied to CORDE and CREA, it provides the first one hundred examples in chronological order and also produces information such as author, title, date, and country. It selects a long example, just as it appears in the body of the text, and a short example, starting with the period before the word and finishing with the period after it. The advantage of this tool is that it works without the need for human intervention. In addition, it searches for each word with its inflectional affixes, saving time and allowing the use of only one application for the input of data. DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 99 Fig. 9: CONCOR , inserting examples in DERIV @ On this screenshot, we see how an example of the derived word “marchoso” (someone who likes to party) is inserted in DERIV@. There are two options: (I) Filling the field manually, this is what has been done when CONCOR could not find any examples in the corpora or (II) selecting the most suitable example among the ones suggested by the application. This is necessary because the application does not discriminate between the various meanings of a word. Let us assume that the second example is suitable to illustrate one of the meanings of the word “marchoso”. We would only have to click on the highlighted example to automatically complete the fields. We not only save time with this process but we also avoid mistakes that are likely to occur when copying manually. As an anecdote to illustrate the usefulness of CONCOR, we can tell you that one of us performed nearly 150 000 searches just using CORDE and CREA. María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 100 Fig. 10: VARIGRAF , generating spelling variations VARIGRAF is a tool that generates possible spelling variations of a word. This application works by introducing rules related to the substitution of letters, for example: substitute b for v etc. Here we see examples of spelling variations for “nervioso” (nervous) that were generated by VARIGRAF. 6. Data Mining 6.1 Internet After discussing data input, we will now turn to data mining and communication. At present, the quickest way to disseminate the results of a project is through the Internet. DERIV@ offers three ways to access the information through the web site: by word, within a text, and through an advanced search. 6.1.1 By word Firstly we can see an example of the consultation of a word, in this case “peligroso” (dangerous), via the WWW. The presentation of article entries in electronic format has some advantages when compared to paper since there are no restrictions with regards to space, weight, colour, etc. DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 101 Fig. 11: DERIV @, web layout The information offered here is the same as given in the printed dictionary; however, it is visually clearer. On top it shows the derived word information, followed by the diachronic information (with the data from Latin DERIV@ highlighted in grey), and finally, the derivatives of the derived word, in this case “peligrosamente” (dangerously) and “peligrosidad” (dangerousness), which share the adjective base “peligroso” (dangerous). To complete the information related to “peligroso”, information about the data base is given below. 6.1.2 Within a text Another online search option offered by DERIV@ is the recognition of words within a text. Fig. 12: Searching within a text María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 102 The application will recognize those words for which information is already available, underlining and colouring them. In the above example, the recognized elements are: día, hermoso, maravilloso, borrar, tierra, azul y espacio (day, beautiful, marvellous, erase, earth, blue, and space). These words are recognized because they form the bases of the derived words “dioso”, “borroso”, “terroso”, “azuloso”, and “espacioso”. If we select any of the recognized words, in this case, “maravilloso”, we are linked to the relevant entry. 6.1.3 Advanced search Another more complex search possibility allows the input for user-defined search patterns. The goal of this type of consultation is to answer two questions: How many derivatives or bases fulfil the user's criteria and which ones are they? To illustrate the way we consult this, we have prepared an example. The aim is to find the derivatives that combine the following criteria: - Belong to the adjective class, - Have a Latin origin, - Used only with the verb “ser” (a form of “to be”), - The base is a noun, - The relation between the derivative and the base is: possession-abundance. Here, the selection is divided into two steps: In the first step, the user selects the fields that obtain the information; in the second step, he or she selects the values of each field. Fig. 13: Advanced search DERIV @: A Linguistic Database for Spanish Word Formation 103 Finally, the system returns the results of the two questions: the words that match the criteria and their total number. 6.2 PDF format Another way to extract electronic data is in PDF format. We have chosen this format because of its advantages since what we see on the screen is exactly what is printed and the text does not need to be reformatted as is the case with other formats such as .TXT, Winword, etc. We have designed a tool called PRINTDERIV@ to transform DERIV@ data into PDF format. This tool converts DERIV@ data, labelled in XML (Extensible Marked Language), to PDF, applying a style sheet based on a standard called XSL-FO. 6.3 Paper The last format we have chosen to present the information contained in DERIV@ is the conventional dictionary article. To obtain this format, we only had to send the PDF document generated by PRINTDERIV @ to the printer. Fig. 14: DERIV @, page layout María Teresa Díaz García / Inmaculada Mas Álvarez 104 7. Computer tools At the beginning, we made reference to the advances recently achieved in technology. Without these advances, the achievement of such a project would not have been possible. The selected technologies have been the following: for the data base - Microsoft SQL server; for the web server - Internet Information Server, and the languages used have been ASP (Active Servers Pages) and Visual Basic Server. 8. Future development DERIV@ will undergo both qualitative and quantitative development. Quantitatively, we will incorporate more than 16 000 words that have already been analyzed in the application. Qualitatively, we hope to improve the support by adapting the database to the analytical needs that should appear over time. Other qualitative improvements will consist in the incorporation of new tools, including a tool that clarifies the morphological category of ambiguous words. Variable context analysis will be used for the determination of the part of speech of the relevant word, the automatic presentation of affixes that are likely to combine with a root, or recordings of dialect variations in Spanish. In general, we believe DERIV@ to be an open, flexible, and useful interdisciplinary project, applicable to various tasks. María José Domínguez Vázquez Textsorten und Wortbildung im Vergleich: Spanische und deutsche Packungsbeilagen 1. Einleitung Jeder Text kann einer bestimmten Textsorte zugeordnet werden. Wenn man mit einem Text konfrontiert wird, wird die Erwartungshaltung des Lesers gesteuert, d.h. man verfügt über Normen, nach denen die Angemessenheit eines Textes in einer bestimmten Situation und seine strukturelle sowie stilistische Gestaltung beurteilt werden können. Im vorliegenden Beitrag ist die Packungsbeilage der Gegenstand der Untersuchung. Bestimmt wird sie als geschriebener Text mit dem Ziel des Informierens und Veranlassens, der von rein rezeptiven Interessierten gelesen wird. Bei der Textsortenkontrastierung spielen Fragen nach der Inhaltsauswahl, der Inhaltsstrukturierung, den Formulierungsgewohnheiten und der Textfunktion eine Rolle, wobei außerdem je nach Sprachbzw. Kulturgemeinschaft bedingte Vertextungskonventionen und Textmuster vorliegen können (Adamzik 2001; Domínguez 2006; Spillner 1981; Wotjak 2002). Die Packungsbeilagen werden nicht als im strengen Sinne übersetzte Texte, sondern als Paralleltexte aufgefasst. Diese Texte sind in textthematischer und textpragmatischer Hinsicht vergleichbar (Spillner 1978, S. 241ff.), sie werden allerdings wegen soziokultureller Bedingungen, Vorwissen usw. an sprach- und adressatenspezifische Regelungen angepasst, die auch zu Unterschieden in der Textstruktur führen können. Dementsprechend soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Vertextung und weitere Merkmale der Packungsbeilage über die Grenzen der Kulturen hinweg Gültigkeit besitzen bzw. inwiefern die ihm zugeordneten Eigenschaften in den hier gegenübergestellten Sprachen (Deutsch und Spanisch) voneinander abweichen. In meiner Untersuchung hat nicht die Bedeutung im Sinne Coserius als tertium comparationis zu gelten, sondern die Analyse der Formen, die Ausdruckskategorien, mittels derer gleiche Inhalte in beiden Sprachen wiedergegeben werden. Als konkretes Textmuster wird die Packungsbeilage für Aspirin zur Betrachtung herangezogen. Die Analyse basiert auf einem induktiven und empirischen Vorgehen, dem so genannten bottom-up-Vorgehen: zuerst wird das konkrete Material, die María José Domínguez Vázquez 106 konkreten Muster, erforscht, aus dem die Vertextungscharakteristika entnommen werden. Gemäß de Saussure handelt es sich um eine Untersuchung der parole, um die langue beschreiben zu können. Um die Packungsbeilagen einem Vergleich in beiden Sprachen zu unterziehen, werde ich auf makro- und mikrostrukturelle Eigenschaften dieser Textsorte eingehen. Unter makrostrukturellen Eigenschaften verstehe ich solche, die die Struktur einer Textsorte ausmachen, z.B. Merkmale wie die Sprecher- Hörer-Beziehung, den Textzweck oder textexterne Bedingungen wie die Entstehungssituation des Textes. Die in diesem Beitrag zu analysierenden mikrostrukturellen Eigenschaften gehören hauptsächlich zum Bereich der Wortbildung und der Syntax. Diese Herangehensweise soll sowohl zu einer einzelsprachlichen als auch einer kontrastiven Darstellung der Packungsbeilage dienen. Die kontextuellen, funktionalen und strukturellen Merkmale beider Texte sollen beschrieben werden. 2. Makrostruktur des Textes 2.1 Textentstehung Texte sind in bestimmte Situationen eingebettet. Zur kontrastiven Analyse sowohl der Funktion als auch der Vertextung der Packungsbeilage müssen sprachexterne Bedingungen berücksichtigt werden, da die Packungsbeilagen zu Arzneimitteln gesetzlichen Rahmenbedingungen unterliegen. In beiden Ländern sind Aspirintabletten nicht verschreibungspflichtige Medikamente. In Deutschland ist es seit den siebziger Jahren (1973) vorgeschrieben, den Medikamenten ein Gebrauchsinformationsblatt mit Informationen für den Patienten und den Arzt beizulegen. Aus dieser Pflicht der pharmazeutischen Industrie Deutschlands, ein Gebrauchsinformationsblatt für Arzt und Patienten zu erstellen, ergibt sich die häufig kritisierte Dysfunktion dieser Textsorte, wie z.B. die Verwendung von Fachtermini zeigt, die vom Laien nicht immer leicht zu verstehen sind (siehe 3.2). Gemäß den Richtlinien 1 über Packungsinformationen werden die strikte Reihenfolge der Textteile, die Rubriken der Abschnitte und die unentbehrlichen Inhalte festgelegt. 1 Siehe dazu „Richtlinien über Packungsinformationen“ in „PharmaKodex des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie“ ( BPI ), § 2 (1). S. 33/ 4. Folgende Inhalte sollen im Text vorkommen: Zusammensetzung, Eigenschaften, Anwendungsgebiete, Dosierung und Anwendungsweise, Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen, Unverträglichkeiten und Risiken, Besondere Hinweise, Darreichungsformen und Packungsgrößen. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 107 In Spanien ist es nach den EU-Gesetzen seit 1991 ebenfalls Pflicht, den pharmazeutischen Produkten eine Packungsbeilage beizufügen. Wichtig ist dabei, dass die Textteile sowie der ihnen zugeordnete Inhalt gesetzlich bestimmt werden (Näheres dazu Eckkrammer 1998; Schuldt 1992). 2.2 Textfunktion Sicher sind die Erwartungen des Empfängers und die Zwecke des Senders bei einer Packungsbeilage ganz anders als bei einer Liebeserklärung, und bestimmt erwartet der Empfänger nach dem Ausdruck „Meine Damen und Herren“ ein anderes Textmuster als bei einer Todesanzeige oder bei einem privaten Brief. Unter Textfunktion verstehe ich den Handlungswert eines Textes sowie seiner Teile. Dabei berufe ich mich auf Brinker (1992, S. 15) und auf seine Auffassung des Textes als „[komplexe] sprachliche Handlung, mit der der Sprecher oder Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung zum Hörer oder Leser herzustellen versucht“. Zur Erklärung der Textfunktion von Packungsbeilagen greife ich auf den in der Sprechakttheorie entwickelten Begriff der Illokution zurück. Die deutsche Packungsbeilage fängt oben links mit der Rubrik Gebrauchsinformation an. Trotz des Titels (Gebrauchsinformation) beginnt der Text mit einer Aufforderung an den Leser bzw. Medikamentverbraucher: „Lesen Sie die gesamte Packungsbeilage sorgfältig durch, denn sie enthält wichtige Informationen für Sie“. Weitere Aufforderungshandlungen werden bei den Anwendungshinweisen vermittelt, was sprachlich durch Imperative wie Beachten Sie oder durch Aufforderungssätze realisiert wird, denen Informationen zu den Anwendungsbedingungen (Bei ..., Wenn ...) folgen. Bei der Dosierung sowie bei den Anwendungsweisen herrscht wieder die Appellfunktion vor. Trotz der überwiegend informativen Funktion über sachliche Themen in Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten und Risiko erscheint am Textteilende wieder die appellative Funktion. Der Teil Besondere Hinweise ist überwiegend informativ. Die Verquickung von Information und Aufforderung kennzeichnet den Text. Die spanische Packungsbeilage ist wesentlich kürzer als die deutsche und beginnt mit Informationen zur Zusammensetzung. Weder eine Rubrik wie die deutsche Gebrauchsinformation noch irgendeine Handlungsaufforderung an den Leser sind vorhanden. Bei der Beschreibung der Zusammensetzung María José Domínguez Vázquez 108 erkennt man jedoch die Absicht, den Kunden von der Wirksamkeit des Medikaments zu überzeugen („Der arzneilich wirksame Bestandteil ist - El ácido acetilsalicílico es eficaz para reducir el dolor y la fiebre“ 2 ). Zur informativen Darstellung gibt es im spanischen Text ebenfalls Aufforderungshandlungen („No exceder la dosis recomendada en la posología“). Der spanische Text wirkt, zumindest am Anfang, sachlicher. In beiden Fällen ist eine zweifache illokutive Funktion des Textes zu beachten. Es geht natürlich um eine sachliche Informationsübertragung, eine deskriptive/ informative Funktion (Brinker 1992, S. 104ff.), aber man will auch, was die richtige Einnahme des Medikaments und die Überzeugung seiner Wirkung anbelangt, eine bestimmte Reaktion beim Patienten bzw. Kunden auslösen (Appellfunktion). Bei diesem Textmuster liegen dann sowohl ein assertiver Sprechakt (etwas soll der Wahrheit entsprechend dargestellt werden) als auch ein direktiver Sprechakt (der Hörer soll zu etwas veranlasst werden) vor. Außerdem soll der Empfänger auch von der Ernsthaftigkeit, Wirkung u.a. des Medikaments überzeugt werden. Diese Textspaltung hängt auch mit dem Adressatenkreis zusammen. Die Packungsbeilage ist als „klassischer Diener zu vieler Herren“ (Eckkrammer 2002, S. 19) definiert, da die Adressatengruppe heterogen ist. Angenommen, der Beipackzettel wird von einem Arzt gelesen, der kein Aspirin nehmen möchte, dann ist in diesem Fall das Globalziel des Textes die Information, während bei einem Patienten sowohl die Information als auch die Anwendung im Vordergrund stehen. Sprachlich kann diese Dysfunktion u.a. beim Auftreten vielfältiger Fachtermini und aus dem Lateinischen und Griechischen entlehnter Wörter festgestellt werden (Gansel/ Jürgens 2002, S. 65). 2.3 Textteile Trotz der gesetzlichen Regelungen der Packungsbeilagen zu Arzneimitteln können zwischen dem deutschen und dem spanischen Text einige textuelle Unterschiede aufgewiesen werden. Dies möchte ich an den folgenden Beispielen zeigen: - Bestimmte Informationen sind im Deutschen oder im Spanischen nicht vorhanden. In der deutschen Packungsbeilage steht rechts oben der Titel „Gebrauchsinformation“ und darunter zusätzliche einführende Informa- 2 Hervorhebungen durch die Verfasserin. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 109 tion, wie z.B. die Gliederung des deutschen Textes. Dieser Teil ist im spanischen Text nicht vorhanden. Umgekehrt sind bestimmte im spanischen Text dargestellte Hinweise für ältere Benutzer im deutschen Text nicht vorhanden. - Bestimmte Informationen stehen im spanischen und im deutschen Text unter verschiedenen Rubriken. Zur Veranschaulichung des bereits Genannten dient folgendes Schema: Deutsch Spanisch Gebrauchsinformation Lesen Sie die gesamte Packungsbeilage sorgfältig durch, ... Zusammensetzung Darreichungsform und Inhalt Ø Ø Ø Composición Forma farmacéutica y contenido del envase Actividad Titular y Fabricante 1. Was ist Aspirin und wofür wird es angewendet? Information Von: Bayer ... Hergestellt von Nach der Beschreibung der Zusammensetzung werden auf dem deutschen Beipackzettel die Textteile von antizipatorisch-fragenden Überschriften eingeleitet, womit sich eine Frage-Antwort-Situation ergibt, während im Spanischen ein Oberbegriff zur Rubrik herangezogen wird, z.B.: Was ist Aspirin und wofür wird es angewandt? Indicaciones Wann dürfen Sie Aspirin nicht einnehmen? Contraindicaciones Worauf müssen Sie noch achten? Precauciones Wie ist Aspirin einzunehmen? Posología Wie ist Aspirin aufzubewahren? Conservación María José Domínguez Vázquez 110 3. Mikrostruktur 3.1 Morphosyntaktische Merkmale aus kontrastiver Sicht Die Auswahl der hier darzustellenden Phänomene ergibt sich aus folgenden Ausgangsfragen: - Welche Rolle spielen die Ausdruckskategorien als stützende Faktoren für eine bestimmte Textfunktion? (= Funktionaler Ansatz) - Wie werden gleiche Inhalte in den beiden Sprachen wiedergegeben? (= Kontrastiver Ansatz) 3.1.1 Umstandsangaben mit bei - Attribute mit con Im deutschen Textteil 2. (sp. contraindicaciones) überwiegen einerseits bei- Präpositionalphrasen und andererseits Bedingungssätze im Indikativ (Distanzform). Dagegen stehen im spanischen Text unpersönliche Ausdrücke, wie z.B. Nomina (paciente, persona) + con-Präpositionalphrase oder Modalverben im Passiv, darunter: Bei-Präpositionalphrase Bei akuten Magen- und Darmgeschwüren. Unpersönlicher Gebrauch - Substantiv Pacientes con úlcera gastroduodenal o molestias gástricas de repetición. Bei-Präpositionalphrase Bei Bestehen von Allergien [...] Modalverb + Passiv (3. P. Sg.) Tampoco debe administrarse en pacientes que [...] Bei-Präpositionalphrase Bei schwerer nicht eingestellter Herzinsuffizienz/ Bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion/ [...] Unpersönlicher Gebrauch - Substantiv La persona con hipertensión, con la función renal, cardiaca o hepática reducidas, [...] Höflichkeitsform Wenn Sie in der Vergangenheit gegen Salicylate oder andere nichtsteroidale Entzündungshemmer mit Asthmaanfällen oder in anderer Weise überempfindlich waren [...] Unpersönlicher Gebrauch - Substantiv Pacientes que hayan presentado reacciones alérgicas de tipo asmático al tomar antiinflamatorios, ácido acetilsalicílico y otros analgésicos. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 111 3.1.2 Modalverben Bezüglich des Modalverbgebrauchs können kontrastive Unterschiede aufgewiesen werden. Im Spanischen kommt in wenigen Fällen das Modalverb poder/ können + Infinitiv vor, z.B. in Interacciones / Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. In der Regel wird im Text die Verpflichtung des Medikamentenverbrauchers, etwas zu unternehmen, wiedergegeben, was durch das Modalverb deber oder andere Periphrasen wie haber que ausgedrückt wird. Die Modalverben können im Passiv oder in der dritten Person Singular verwendet werden, was den Text „unpersönlich“ erscheinen lässt. 3.1.2.1 Das spanische Modalverb poder (+Infinitiv) und seine deutschen Entsprechungen Deutsche Ausdrücke unterschiedlicher Art können hier vorkommen: I) Adjektival-/ Partizipialphrasen als stilistische Variante zu Attributsätzen: „Puede potenciar el efecto de los productos para disminuir el nivel de azúcar de la sangre“ > „Antidiabetika (blutzuckersenkende Arzneimittel)“ (vgl. auch 3.1.1). II) Komposita: „Puede potenciar el efecto de los medicamentos para la circulación“ > „Thrombozytenaggregationshemmer“. III) Partizip Perfekt ohne Auxiliarverb: „Puede potenciar el riesgo de hemorragia digestiva“ > „Risiko für Magen-Darm-Geschwüre und -Blutungen erhöht“. Die syntaktische Komprimierungstendenz erweist sich im Deutschen als grundlegend. 3.1.2.2 Das spanische Modalverb deber (+Infinitiv) und seine deutschen Entsprechungen Auffällig ist im Spanischen der Gebrauch des Modalverbs deber und gleichbedeutender Ausdrücke wie haber que. 3 Da im Spanischen meist Passivkonstruktionen vorliegen, hat wieder der Text einen langsamen Rhythmus, er wirkt unpersönlich, z.B.: „Los comprimidos deben tomarse desleídos en un 3 Ein Beispiel für die Periphrase haber que ist „Si el dolor se mantiene durante más de 10 días, la fiebre durante más de 3 días o bien el dolor o la fiebre empeoran o aparecen otros síntomas, hay que interrumpir el tratamiento y consultar al médico.“ María José Domínguez Vázquez 112 vaso de agua; Los medicamentos deben mantenerse fuera del alcance de los niños“. 4 Es handelt sich hierbei um Aufforderungshandlungen, aber im Gegensatz zum deutschen Text, bei dem Imperativsätze in der Distanzform stehen, findet im spanischen Text keine direkte Bezugnahme auf den Leser statt, 5 d.h., der Handelnde, das Agens steht immer im Hintergrund, z.B.: Modalverb Imperativ + Höflichkeitsform Los comprimidos deben tomarse desleídos en un vaso de agua. Nehmen Sie die Tabletten bitte mit reichlich Flüssigkeit (z.B. einem Glas Wasser) ein. Als deutsche Entsprechungen dieser Passivkonstruktionen gelten auch Sätze, bei denen das Verb in der Infinitivform in Endstellung steht oder das finite Modalverb dürfen vorkommt: Los medicamentos deben mantenerse fuera del alcance de los niños. Arzneimittel für Kinder unzugänglich aufbewahren. Este medicamento no se debe utilizar después de la fecha de caducidad indicada en el envase. Sie dürfen das Arzneimittel nach dem auf dem Tablettenstreifen und dem Umkarton angegebenen Verfallsdatum nicht mehr verwenden. Das Auftreten von Modalverben und Hauptverben im Passiv hat als eine grundlegende Eigenschaft des spanischen Textes zu gelten, im Deutschen hingegen kommt es in einer geringeren Anzahl vor, z.B.: „Die Einzeldosis kann, falls erforderlich, in Abständen von 4-8 Stunden 3x täglich eingenommen werden.“ 6 Bei der Verwendung von spanischen Modalverben wird in ganz wenigen Fällen der Medikamentverbraucher in den Vordergrund gerückt. Sprachlich werden diese Aufforderungshandlungen durch die Struktur ‘Modalverb (deber) + Infinitiv’, wie z.B. „En caso de administración continuada, debe prevenir a su médico“. Dabei werden Hinweise der Art ‘In diesem Fall wenden Sie sich an einen Arzt’ vermittelt. Das mitgedachte Agens, das diese Handlung durchführen sollte, ist meiner Auffassung nach verblasst. D.h., hierbei 4 Hervorhebungen durch die Verfasserin. 5 Dies lässt sich auch aus interkulturellen Gründen erklären. 6 Hervorhebungen durch die Verfasserin. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 113 findet keine direkte Aufforderung an den Leser statt: während im Deutschen Imperativsätze verwendet werden, werden im Spanischen Modalkonstruktionen ohne grammatisches Subjekt versprachlicht: Modalverb En caso de administración continuada, debe prevenir a su médico u odontólogo ante posibles intervenciones quirúrgicas. Höflichkeitsform - Imperativform Bitte informieren Sie Ihren Arzt oder Zahnarzt, wenn Sie Aspirin eingenommen haben. Bezüglich beider Texte kann zusammenfassend gesagt werden, dass Aufforderungen im Deutschen durch Imperativsätze und im Spanischen mit Hilfe von Modalverbkonstruktionen ausgedrückt werden (siehe dazu 3.1.3). 3.1.3 Imperativsätze im Deutschen - se-, Infinitiv- und Passivkonstruktionen im Spanischen Wie bereits angeführt, mangelt es dem spanischen Text an Imperativsätzen, und daher entsprechen die deutschen und die spanischen Textabschnitte aus formaler Sicht nur in ganz wenigen Fällen einander: „Si está Vd. embarazada o cree que pudiera estarlo, consulte a su médico antes de tomar este medicamento.“ > „In den letzten drei Monaten der Schwangerschaft dürfen Sie Aspirin nicht einnehmen. Fragen Sie vor der Einnahme in den ersten sechs Monaten der Schwangerschaft Ihren Arzt.“ Darüber hinaus ist zu fragen, was als Entsprechung der deutschen Imperativsätze im spanischen Text auftritt und welche Rolle dies für den gesamten Text spielt. 3.1.3.1 se-Konstruktionen und Passivkonstruktionen Im spanischen Text gibt es zahlreiche unpersönliche Verbverwendungen und Passivkonstruktionen, die ich im Weiteren aufzeige. Die Muster sind: - Passiv: ‘Subjekt personx Verb personx, PVK ’ 7 - Reflexivpassiv: ‘se + Verb personxaktivformen + Ergänzung personx ’ - Unpersönliche Konstruktion: ‘se + Verb personxaktivformen + Ergänzung’ 7 PVK steht für passivischer Verbalkomplex. Die Subindizes personx beim Verb und Nomen bedeuten, dass das Verb und das grammatische Subjekt kongruieren, dagegen bedeuten personx und persony, dass beide nicht kongruieren. María José Domínguez Vázquez 114 Wie im Abschnitt 3.1.2 angeführt wurde, liegt bei den spanischen Modalverbkonstruktionen im Passiv das Muster ‘Subjekt personx Verb personx PVK ’ zugrunde. Der Hauptunterschied zwischen dem Passiv, dem Reflexivpassiv (pasiva refleja, siehe Hummel 2004, S. 220) und dem unpersönlichen Passiv liegt darin, dass die letztgenannten aktivische Verbformen haben. Auch diesen wird ein se hinzugefügt. Das Beschreibungsmuster ist ‘se + Verb aktivformen ’. Zwischen beiden ist ein Unterschied feststellbar: - se + Verb personxaktivformen Esub personx : Beim Reflexivpassiv kongruiert das grammatische Subjekt mit dem Verb, z.B. Se venden casas (Häuser werden gekauft). Casas ist das grammatische Subjekt und aus semantischer Sicht handelt es sich um einen Affektiv, um den Betroffenen von der Handlung eines unbenannten Agens, z.B.: „No se ha descrito ningún efecto en este sentido“, „Si el dolor se mantiene durante más de 10 días, [...] hay que interrumpir el tratamiento y consultar al médico.“ - se + Verb personxaktivformen E: 8 Bei unpersönlichen Konstruktionen wird das grammatische Subjekt nicht realisiert, z.B. Se vive bien; „En ningún caso se excederá de 8 comprimidos en 24 horas.“ Wichtig ist dabei, dass der Handelnde in all diesen spanischen Ausdrücken nicht explizit genannt wird. 3.1.3.2 Infinitivkonstruktionen Der spanische Text ist mit vielen Infinitivsätzen ausgestattet. In der Regel handelt es sich um Aufforderungshandlungen, die im Deutschen durch Imperativsätze in der Distanzform ausgedrückt werden: „No utilizar con otros analgésicos sin consultar al médico“ > „Bitte informieren Sie Ihren Arzt oder Apotheker, wenn Sie andere Arzneimittel einnehmen/ anwenden [...].“ 9 Das Vorkommen von Infinitivsätzen ist im deutschen Text nicht ausgeschlossen, aber selten. Einige deutsche Infinitivsätze drücken, genauso wie im Spanischen, eine Aufforderung aus, wie z.B. „Nicht auf nüchternen Magen einnehmen“. 3.1.4 Thema-Rhema-Gliederung In vielen Fällen lässt sich eine unterschiedliche Thema-Rhema-Gliederung erkennen. Im Deutschen wird das Rhema an den Anfang gerückt, während 8 Außer Subjektergänzung. 9 Hervorhebungen durch die Verfasserin. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 115 im Spanischen diese Stelle vom Thema besetzt wird. Demzufolge ist die Gliederung im Spanischen ‘Thema + Rhema’ und im Deutschen ‘Rhema + Thema’, darunter: Modalverb (deber) Si se observan éstas o cualquier otra reacción adversa no descrita anteriormente consulte a su médico o farmacéutico. Imperativsatz + Distanzform Informieren Sie Ihren Arzt oder Apotheker, wenn Sie Nebenwirkungen bemerken, die nicht in dieser Packungsbeilage aufgeführt sind. 3.2 Wortschatz: Fachtermini und Textfunktion Trotz der gesetzlichen Normierung 10 gibt es im deutschen Text eine Vielfalt von Fachtermini, deren Anzahl auf der entsprechenden Web-Seite des Medikaments sogar noch größer ist. In der deutschen Packungsbeilage wird sehr viel Information in Klammern gesetzt. Zur Darstellung und Erklärung bestimmter Termini geht man entweder von dem geläufigen Wort zu einer Facherklärung („Schwere Hautreaktionen - bis hin zu Erythema exsudativum multiforme“) oder von dem Fachterminus zu einer erklärenden Ergänzung („Digoxin - Mittel zur Stärkung der Herzkraft“) aus. Die letzte Möglichkeit ist in der Regel die häufigste. Der spanische Text zeigt dagegen eine andere Tendenz, zuerst werden die alltäglichen Benennungen und anschließend die Fachterminologie in Klammern angegeben. Ein starkes Festhalten an der Fachterminologie ist im Deutschen festzustellen. Meines Erachtens bewirkt der deutsche Text eine gewisse Distanz, eine Verfremdung beim Leser, die nicht unbedingt durch die morphosyntaktischen Kategorien, sondern durch den im Text vorhandenen Wortschatz hervorgerufen wird. Dies kann mit dem Wunsch einhergehen, Fachlichkeit auszudrücken und einen breiten Adressatenkreis anzusprechen. 11 10 „Fremd- und fremdsprachliche Bezeichnungen dürfen nur verwendet werden, wenn Mißverständnisse anders nicht zu vermeiden oder Übertragungsmöglichkeiten in eine allgemein verständliche Sprache nicht gegeben sind.“, in: „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts“ (1986, S. 18ff.) § 11 (zuerst veröffentlicht in: Pharmazeutische Industrie 28, 9/ 1976, Artikel 1 § 11, S. 7). 11 Es gibt noch andere Gründe: Erstens, dass bestimmte Wirkstoffe sich nicht in die geläufige Form übersetzen lassen; zweitens, dass die Übersetzung bestimmter Fachtermini irreführend sein kann, was Schuldt (1992, S. 172) am Beispiel von Anämie veranschaulicht. Anämie kann nicht einfach als Blutarmut übersetzt werden, da darunter nicht nur eine allgemeine Blutarmut, sondern ein Hämoglobinmangel verstanden wird. María José Domínguez Vázquez 116 Der spanische Text enthält nicht so viele Fachtermini, wenngleich viele Wörter (hemorragia, hemofilia, alergia) und Suffixe (-algia, -itis) aus dem Lateinischen und Griechischen entlehnt sind. Viele dieser Einheiten werden vom spanischen Leser nicht als fremd empfunden, sie wecken wegen der Nähe der spanischen Sprache zum Latein kein Verfremdungsgefühl bei ihm. Daher kann man in laienorientierten Texten näher an der Fachsprache bleiben, ohne eine mangelnde Textverständigung für einen durchschnittlichen Leser zu verursachen. Meines Erachtens hängt dieses Ungleichgewicht bei der Anwendung von Fachtermini und Fremdwörtern in beiden Texten nicht nur davon ab, dass diese Fachtexte sind, sondern auch davon, dass sie wie Fachtexte aussehen, als solche vom Leser empfunden werden sollten. Im Deutschen tragen meines Erachtens die Fachtermini u.a. zum Ausdruck der Fachlichkeit bei, im Spanischen wird nicht der Wortschatz dazu verwendet, sondern andere Mittel (siehe dazu 3.1.1, 3.1.2 und 3.1.3). 3.3 Die Wortbildung aus kontrastiver Sicht Gemeinhin nimmt man an, dass die Wortbildung, vor allem die Komposition, in der deutschen Sprache ein produktives Phänomen ist, im Spanischen hingegen werden für gewöhnlich anstelle von Wortbildungskonstruktionen Phrasen verwendet. Daher soll hier unter einem kontrastiven Blickwinkel geprüft werden, ob für bestimmte für die jeweilige Sprache typische Phänomene in der Vergleichssprache (spanisch bzw. deutsch) der gleiche Wortbildungstyp verwendet wird. Sollte dies nicht der Fall sein, stellt sich die Frage, durch welche anderen sprachlichen Mittel, konkret durch welche Wortbildungsmechanismen und -produkte, die gleichen Inhalte in der Vergleichssprache wiedergegeben werden. In diesem Fall versuche ich zu erklären, warum genau dieser Wortbildungstyp und kein anderer gewählt wird und inwiefern dieses Phänomen bestimmte Unterschiede zwischen deutschen und spanischen Packungsbeilagen nach sich zieht. 3.3.1 Ausdrucksverkürzung Im spanischen und deutschen Text sind fast keine Ausdrucksverkürzungen vorhanden, nur ACE-Hemmer oder Rheuma und Abkürzungen wie mg. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 117 3.3.2 Ausdruckserweiterung: Ableitung 3.3.2.1 Nomen: Suffigierung und Präfigierung Der Ausdruckserweiterung durch Präfixe und Präfixoide wird in beiden Texten kein gesonderter Platz eingeräumt, da sie keine besonderen Auffälligkeiten zeigt. Beispiele dafür sind insuficiencia, hipertensión, sobredosis; Antirheumatika, Überdosierung. Zur Analyse der nominalen Ableitung werde ich mich hauptsächlich mit der Suffigierung befassen. Dazu werde ich zwei Kriterien in Betracht ziehen: Einerseits wird ein morphologisches Kriterium wie das der Herkunft der Derivata verwendet. Andererseits wird ein semantisches Kriterium angewandt, nach dem ich zunächst eine Grenze zwischen Abstrakta und Konkreta ziehe und anschließend eine Klassifizierung in nomina actionis und nomina acti erstelle. Beiden Texten ist eine überdurchschnittliche Anzahl von Abstrakta gemeinsam. Im spanischen Text treten die Konkreta häufiger auf als im deutschen Text, obwohl sie in beiden Texten in der Minderzahl sind. Die spanischen Konkreta sind in der Regel deverbale Substantive für Personenbezeichnungen (paciente, adolescente, fabricante 12 ) und wenige Sachbezeichnungen (medicamento, producto). Im Weiteren sollen die deverbalen Abstrakta verglichen werden: Deutsch: - UNG : Verschreibung, Anweisung, Behandlung, Dosierung, Anwendung, Unterbrechung, Wirkung, Blutung; - ION : Hautreaktion, Nierenfunktion, Thrombozytenaggregation. DEVERBALE ABSTRAKTA NOMINA ACTIONIS Spanisch: 13 - O / - EO : 14 consumo, vómito, mareo; - A : ingesta; - IDO : zumbido, 15 - CIÓN : reacción, intervención, circulación, utilización, erupción, vacunación, sudoración, administración, coagulación. Deutsch: - ENZ : Insuffizienz DEVERBALE ABSTRAKTA NOMINA ACTI Spanisch: - DO / - DA : estado, embarazada; - OR : dolor; - O : efecto; - E : alcance; - CIÓN : composición, precaución, presentación. 12 Ursprünglich Partizipien I. 13 Für den Bedeutungswandel der nomina actionis siehe Lüdtke (1978, S. 285-290), Rainer (1999, S. 434-437) und Santiago Lacuesta/ Bustos Gisbert (1999, S. 4535). Ein Beispiel dazu im spanischen Text ist -ncia: lactancia, wo eine Zeitphase ausgedrückt wird. 14 Bei der spanischen Verbdeklination auf -ar versteht sich -eo als Allomorph zu -o. 15 Dieses Suffix ist im Spanischen und Portugiesischen bei Geräuschverben typisch (Lüdtke 1978, S. 344). María José Domínguez Vázquez 118 I) Deverbale Abstrakta Bei den deverbalen Abstrakta des Typs nomina actionis können folgende Unterschiede festgestellt werden: Im Spanischen ist eine hohe Anzahl von Suffixen (-a, -o, -ido, -ción) vorhanden, aber nur -ción scheint in diesem Text besonders produktiv zu sein. Im Gegenteil dazu verfügt der deutsche Text über weniger Suffixe, wie -ung und -ion, aber diese, vor allem -ung, werden im Text ziemlich oft verwendet, z.B.: „Verstärkung der Wirkung bis hin zu erhöhtem Nebenwirkungsrisiko“. 16 Laut Santiago Lacuesta/ Bustos Gisbert (1999, S. 4512) sind -azo und -ido übliche deverbale Suffixe bei der nominalen Suffigierung, um Handlungen zu benennen. Ebenso: -aje, -ción, -miento, -dura usw. Im Text wird aber die Mehrheit der spanischen deverbalen nomina actionis mittels des Suffixes -ción gebildet, was sich dadurch begründen lässt, dass „die gebildeten Wörter großteils wissenschaftlichen Fachsprachen“ angehören (Rainer 1993, S. 434; vgl. dazu auch Pena 1999). Bei den deverbalen Abstrakta des Typs nomina acti zeigen sich ebenfalls Unterschiede: diese Ableitungen sind im Deutschen unterrepräsentiert, im Spanischen kommen mehr Ausdrucksmöglichkeiten und mehr Beispiele dafür vor. Die deverbalen Substantive sind in beiden Sprachen häufig vertreten. II) Deadjektivale und denominale Abstrakta In beiden Texten stehen ganz wenige deadjektivale Abstrakta. Typisch für das Deutsche ist das Auftreten des Suffixes -ung. Bei den nomina actionis erkennt man auch im Deutschen das Vorkommen von Zirkumfixen, wie Verstärkung, Erkrankung usw. Im Spanischen spielen die deadjektivalen Abstrakta kaum eine Rolle. Die meisten denominalen Abstrakta bezeichnen im Spanischen Krankheiten. Die aus dem Griechischen stammenden Suffixe wie -itis, -aria, -algia, -ia werden in der Fachsprache besonders häufig verwendet. Viele von diesen, z.B. -itis und -algia, werden mit gebundenen Stämmen kombiniert. Nach Rainer (1993) sind für einen durchschnittlichen Sprecher diese Bildungen nicht durchsichtig. 16 Hervorhebungen durch die Verfasserin. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 119 Deutsch: - KEIT : Flüssigkeit, Übelkeit, Tüchtigkeit; - E : Schwere, Säure; - UNG : Besserung, Abschwächung; - SCHAFT : Schwangerschaft. DEADJEKTIVALE ABSTRAKTA Spanisch: - AD / - IDAD / - TAD / - EDAD : 17 probabilidad, caducidad, dificultad, enfermedad, actividad, enfermedad. DENOMINALE ABSTRAKTA Spanisch: - ITIS : rinitis; - ARIA : urticaria; - ALGIA : lumbalgia; - IA : alergia. 3.3.2.2 Verb: Suffigierung und Präfigierung Im deutschen Text kommen fast nur präfigierte Verben vor. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich um adjektivische Ausdrücke wie z.B. ist erforderlich, ist ein fiebersenkendes Arzneimittel. Als Bildungstendenz hat die verbale Modifikation den Vorrang, wie bei anwenden, aufheben, eintreten, aufsuchen, einnehmen, auflösen, durchführen, auftragen. Es gibt ganz wenige deadjektivale Verben. Dagegen werden viele der spanischen Verben aus heutiger Sicht nicht als präfigierte Verben verstanden, auffällig ist nur das Beispiel: desleerdes + leer. Weitere präfigierte Verben sind schon als solche aus dem Lateinischen entlehnt (exceder, interrumpir, prevenir, excretar, aumentar, suspender) (dazu Serrano-Dolader 1999, besonders S. 4683-4730). 3.3.2.3 Adjektiv: Suffigierung und Präfigierung Die Analyse der Präfigierung führt weder aus einzelsprachlicher noch aus kontrastiver Sicht zu einem besonderen Ergebnis. Suffixbildungen dagegen gibt es reichlich. Im deutschen Text stehen deverbale Adjektive (-sam: wirksam; -lich: erforderlich), deadjektivale (-haft: krankhaft; -lich: reichlich) und denominale: (-pflichtig - Suffixoid -: verschreibungspflichtig; -lich: arzneilich, ärztlich; -haft: dauerhaft, fieberhaft; -ig: blutig), während im Spanischen hauptsächlich deverbale und denominale Adjektive vorliegen. Die folgende Grafik stellt eine Zusammenfassung der adjektivalen Suffigierung im Spanischen dar: 17 -idad, -tad, -edad sind Allomorphe zu -dad (Pena 1999, S. 4535). María José Domínguez Vázquez 120 - DO : moderado, recomendado, ingerido, continuado, avanzado - AZ : eficaz -( T ) IVO : preventivo, digestivo, efectivo - NTE : 18 concomitante coagulante DEVERBALE ADJEKTIVE - EO : simultáneo -( T ) ORIO / A : respiratorio - BLE : masticable -( AN ) EO / -( IN ) EO : cutáneo, sanguíneo - ICO / ICA : salicílico, sintomático quirúrgico - ICO / - ICA : gástrico alérgica, asmático diabético, hepática, alcohólico, asmático, - AL : renal dental, oral, menstrual, intestinal - IL : febril - ERNO : materno - AR : muscular - GÍA : posología DENOMINALE ADJEKTIVE - OSO : doloroso Ein paar Erläuterungen über die deverbalen Adjektive sind angebracht: die Suffixe -az (eficaz), -ivo (preventivo, efectivo), -orio (respiratorio) und -nte (concomitante) sind aktive deverbale Dispositionsadjektive, und viele dieser Suffixe -(t)ivo, -(t)orio und -nte 19 werden hauptsächlich bei spezialisierten Fachtexten verwendet. Die vielen Partizipien II auf -do, die hier als Adjektive fungieren, geben eine passivische Bedeutung wieder, genauso wie die Adjektive auf -ble, die als Konkurrenzform zu einer passivischen Modalkonstruktion gelten. Bei den denominalen Adjektiven handelt es sich überwiegend um Relationsadjektive (Rainer 1999, S. 4611) und Possessivadjektive (ebd., S. 4630). Zu der ersten Gruppe gehören z.B. -ico/ -ica (quirurgico), -erno (materno), 18 „Obwohl Formen wie suavizante, envolvente u.ä. noch in der letzten Ausgabe des DRAE als participios activos bezeichnet werden, haben diese [...] nicht den Status von Partizipien, sondern von gewöhnlichen Adjektiven“ (Rainer 1993, S. 615). 19 Mit -nte werden gewöhnlich chemische Substanzen aus dem medizinischen Bereich benannt. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 121 -al (renal), -ar (muscular) u.a., zur zweiten z.B. -ico/ -ica: alérgica. Suffixe wie -eo, -aneo/ íneo, -oso und -ico/ íca bilden den spezifischen Fachwortschatz, und einige, wie -al, sind fast nur in Fachtexten auffindbar (Rainer 1999, S. 4616). Erwähnenswert ist auch die Unregelmäßigkeit der Form von Relationsadjektiven auf -al (oral/ bucal), was sich aus ihrer Entlehnung aus dem Lateinischen erklären lässt. Im Spanischen ist die Anzahl der Adjektive eindeutig höher als im Deutschen: im deutschen Text herrscht der Nominalstil und im Spanischen der Adjektivalstil vor. Die adjektivalen Bildungen sind in vielen Fällen lateinisch-griechischer Herkunft und ihr Vorkommen scheint sich auf Fachtexte zu beschränken. Darüber hinaus bezeichnen die meisten spanischen deverbalen Adjektive Zustände und nicht Handlungen oder Prozesse. Ganz wenige haben aktivische Bedeutung, was an den als Adjektiv fungierenden Partizipien II erkennbar ist. Das Gesagte verstärkt die Annahme, dass der Agentivität und der Dynamik vs. Affektivität in beiden Texten großer Wert beigemessen wird. 3.3.3 Konversion und implizite Ableitung Konversion und implizite Ableitung sind in beiden Sprachen verbaler Herkunft, deshalb ist hier wie bei der Derivation ein Satzentwurf festzustellen. Im Deutschen treten zahlreiche Konvertate auf: „Bei Bestehen von Allergien“; „Beim Auftreten von schwarzem Stuhl oder blutigem Erbrechen“. Die deutschen Konvertate können auch Bestandteil eines Kompositums sein, z.B. „[...] kann zur dauerhaften Nierenschädigung mit dem Risiko eines Nierenversagens [...]“. Zu den reinen Konversionen sind auch implizite Ableitungen zu rechnen, darunter: „Was müssen Sie vor der Einnahme von Aspirin beachten? “; „Bei kleineren Eingriffen wie z.B. Zahnextraktionen [...]“. 20 Das Vorkommen von Konvertaten und impliziten Derivata ist im spanischen Text sehr eingeschränkt. Diese Wortbildungsprodukte, die aus einem Partizip II entstanden sind, gehören der Wortklasse ‘Nomen’ an, z.B. comprimido (Partizip II) - el comprimido, preparado (Partizip II) - el preparado. Da der spanische Text über ganz wenige deverbale Konvertate verfügt, werden andere sprachliche Mittel verwendet. Der den deutschen Wortbildungsprozessen entsprechende Wortbildungstyp ist die explizite Ableitung, darunter: z.B. im Deutschen Schwindel - im Spanischen mareos (Verb: marearse), im Deutschen Erbrechen - im Spanischen vómitos (Verb: vomitar). 20 Hervorhebungen durch die Verfasserin. María José Domínguez Vázquez 122 3.3.4 Ausdruckserweiterung: Komposition Im spanischen Text sind kaum Komposita vorhanden: es gibt Zusammensetzungen aus Partikel + Nomen (contraindicaciones) und aus Nomen + Nomen (bzw. Adjektiv) (gastroduodenal, gastrointestinal). Der Kopf eines Kompositums ist im Spanischen von wenigen Fällen abgesehen (autoescuela) die linke unmittelbare Konstituente, dagegen im Deutschen die rechte. Häufig wird das spanische Kompositionssystem als relativ schwach ausgebaut definiert oder man beschreibt die Nominalkomposition als jenen „Bereich der Wortbildung, wo sich die romanischen und germanischen Sprachen am auffälligsten voneinander unterscheiden“ (Rainer 1993, S. 246). Dazu behauptet man, dass die Nominalkomposition „im Spanischen ein vorwiegend schriftsprachliches Phänomen ist.“ (ebd.). In Anbetracht des bereits Erwähnten lohnt es sich meiner Auffassung nach, einen Exkurs über die Komposition im Spanischen einzufügen. Laut Pena (1999, S. 4336) entstehen im Spanischen durch den Wortbildungstyp der Komposition fast nur nominale Komposita, verbale Komposita sind dem Spanischen fast unbekannt. Bei der Komposition werden die Wortklassen Nomen und Adjektiv, und in wenigen Fällen (guardabosques) Verben kombiniert, wo häufiger nominale Bestandteile das Kompositum bilden. In der Regel handelt es sich um Simplicia, nicht um Derivata (Ausnahmen sind limpiabotas, abrecartas). Drei Kompositionstypen sind im Spanischen produktiv: hombre masa (N + N), sacacorcho (V + N) und ético-moral (A + A). Meiner Auffassung nach ist die häufig genannte Armut der spanischen Sprache an Kompositionsprozessen nicht eine unabänderliche Voraussetzung bei der Beschreibung des Spanischen. Zu dem fruchtbaren Kompositionstyp der Art N + Präp + N wie baja de maternidad (Mutterschaftsurlaub) ist im Spanischen nach neueren Studien (Domínguez/ Valcárcel 2006; Val Álvaro 1999, S. 4778) die Bildung von juxtaponierten, endozentrischen Komposita zu beobachten, wie z.B. crédito vivienda, sueldo base. Diese Tendenz ist im Französischen viel eindeutiger, während in der deutschen Sprache dieser Wortbildungstyp unbekannt ist. Diese Konstrukte lassen sich von Phrasen dadurch unterscheiden, dass das Genus und der Plural der gesamten Einheit immer an der linken Konstituente und nicht an jedem Wortende realisiert werden. Dazu lassen sie sich nur als Einheit modifizieren, wie folgende Beispiele belegen: *créditos de las viviendas. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 123 In Bezug auf die deutschen Komposita können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: I) Der hohe Grad an Komprimierung im Deutschen: Zur hohen Zahl an Komposita sollen auch die vielgliedrigen Komposita gezählt werden, darunter: Eisenmangelanämie, Thrombozytenaggregationshemmer u.a. II) Der Ausdruck der Handlung, der Agentivität auch bei Komposita: a) Ein Bestandteil des Kompositums ist verbaler Herkunft, wie z.B. Substantiv + Partizip I (fiebersenkend, schmerzstillend). Im Spanischen stehen hingegen adjektivale und präpositionale Muster, was ich wie folgt belege: Aspirin ist ein schmerzstillendes, fiebersenkendes und entzündungshemmendes Arzneimittel (nichtsteroidales Anthiphlogistikum/ Analgetikum) Alivio sintomático de los dolores ocasionales leves o moderados, como dolores de cabeza, dentales, menstruales, musculares (contracturas) o de espalda (lumbalgia). Estados febriles. b) Ein Bestandteil des Kompositums ist ein Derivat mit der Bedeutung eines nomen actionis: -UNG: Blutungsrisiko; -ION: Hautreaktionen. c) Ein Bestandteil des Kompositums ergibt sich aus verbaler Konversion oder impliziter Ableitung, wobei in einigen Fällen bei beiden Bestandteilen eine verbale Herkunft zugrunde liegt, z.B. Wirkungseintritt, Nierenversagen, Ohrensausen, Verfallsdatum, Blutdruckabfall. 3.4 Wie entsprechen sich die Wortbildungstypen und -produkte im Deutschen und im Spanischen? Da beide Texte nicht über sich formal entsprechende Wortbildungsprozesse verfügen, ist zu fragen, wie gleiche Inhalte in den beiden Sprachen wiedergegeben werden. Einige Beispiele gelten als Muster: 3.4.1 Komposition im Deutschen 3.4.1.1 Präfigierung, Suffigierung und Attribuierung im Spanischen Der spanische Text zeigt viele adjektivale Derivata als Teilentsprechung deutscher Komposita, darunter: Nebenwirkungen > reacción adversa, Atemnot > dificultad respiratoria. Hingegen liegt in anderen Fällen ein denominales Derivat wie Nasenschleimhautschwellungen > rinitis vor. María José Domínguez Vázquez 124 Mich interessiert hier die Analyse von bestimmten deutsch-spanischen Entsprechungen: Entzündungshemmer Entzünd-ung + s + hemm-er Anti + inflama + torio Wichtig ist am spanischen Derivat, dass die Bedeutung von hemmer durch Präfigierung und Suffigierung wiedergegeben wird. Hemmer ist selbst eine Ableitung (nomen actionis), anti bedeutet gegen und -orio bzw. das Allomorph -torio bezeichnet die Agentivität, die auch durch das deutsche Suffixe -er ausgedrückt wird. Blut + gerinn-ung + s + hemmenden (Arzneimittel) Ø Anti + coagul + antes (orales) Im Spanischen gibt es keine Entsprechung für das Wort Arzneimittel, da coagulante (ursprünglich ein Partizip I) in die Wortklasse Nomen überführt wird und daher die gleiche Rolle wie das deutsche Nomen übernimmt. Bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion Pacientes con insuficiencia ren-al o hepát-ica Im Deutschen kommt das Wort eingeschränkter als Modifikation des Kompositums Leber- und Nierenfunktion vor, dagegen ist im Spanischen nicht nur die Bedeutung von eingeschränkter sondern auch die Bedeutung von ‘Funktion’ in einem einzigen Wort amalgamiert, nämlich insuficiencia. Eingeschränkt wird dann durch das Negationssuffix inausgedrückt. Den deutschen Leber und Nieren entsprechen im Spanischen die denominalen Derivata hepática und renal. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 125 a) Bei akuten Magen- und Darmgeschwüren - Úlcera gastroduodenal o intestinal b) Pueden potenciar el riesgo de hemorragia digestiva - Risiko für Magen- Darm-Geschwüre und -Blutungen erhöht Im Fall a) sieht man, wie die Bestandeile des deutschen Kompositums Magen- und Darm in Form einer Adjektivalphrase (gastroduodenal, intestinal) im Spanischen wiedergegeben werden; es handelt sich in beiden Fällen um denominale Adjektive. Bei b) werden Blutungen und hemorragia modifiziert: im Deutschen durch die Kompositumbestandteile Magen und Darm, im Spanischen durch ein deverbales Adjektiv, das die Lokation der Blutung, aber nicht die genauen Organe nennt. Pacientes con hemofilia Bei krankhaft erhöhter Blutungsneigung Der spanische Fachterminus hemofilia (griechischer Herkunft) wird im Deutschen durch ein Kompositum Blutungsneigung und seine Modifikation wiedergegeben. Trotz bestimmter Sonderfälle werden viele deutsche Komposita durch Derivata im Spanischen wiedergegeben, wie z.B. urticaria > Hautreaktionen, Juckreiz, lactancia > Stillzeit. 3.4.1.2 Präpositionale Entsprechungen Entgegen allen Erwartungen sind im spanischen Text ganz wenige Präpositionalphrasen als Entsprechung deutscher Komposita vorhanden, als Beispiel können z.B. Kopfschmerzen > dolor de cabeza, Ohrensausen > zumbido de oidos dienen. Als Beispiel für dieses Muster hat folgendes zu gelten: oder bei Alkoholkonsum el consumo simultáneo de alcohol Im Spanischen handelt es sich um die Struktur Nomen + Adjektiv + Präpositionalphrase. Interessant an diesem Beispiel ist, dass das deverbale Adjektiv simultáneo eine ähnliche Bedeutung wie die deutsche Präposition bei vermittelt. María José Domínguez Vázquez 126 3.4.2 Komposition im Deutschen: finale Infinitivkonstruktionen im Spanischen y de los productos para disminuir el nivel de azúcar de la sangre (antidiabéticos orales) Antidiabetika (blutzuckersenkende Arzneimittel): der Blutzuckerspiegel kann sinken. Im Deutschen haben wir ein dreigliedriges Kompositum, das aus Blut, Zucker und senkenden besteht. Das deutsche Partizip I wird im Spanischen durch einen Finalsatz wiedergegeben: para disminuir, die anderen Bestandteile des deutschen Kompositums sind im Spanischen durch Präpositionalphrasen wiedergegeben. 3.4.3 Komposition im Deutschen: Konversion im Spanischen Als Entsprechung deutscher nominaler Komposita können auch nominale Konvertate aus Partizipien II gelten, die schon im Spätlateinischen eingetreten sind, z.B. Arzneimittel > productos. 3.4.4 Konversion im Deutschen: Ableitung im Spanischen Dies lässt sich an Beispielen wie Schwindel > mareos, Ohrensausen > zumbido de oidos als Beispiele belegen. 4. Zusammenfassung der Ergebnisse Es handelt sich in beiden Fällen um sachspezifische, inhaltlich einander entsprechende Texte, die gesetzlich streng geregelt sind. Zum Ausdruck der Aufforderungshandlungen gehen beide Sprachen unterschiedlich vor: Aufforderungshandlung Spanisch Indirekt (se-Konstruktionen, Passiv-Konstruktionen), Impersonal, Generalisierungen (pacientes, mujeres embarazadas), Infinitive Deutsch Direkt, Imperativsätze, Personalformen, Direkte Bezugnahme auf den Leser Textsorten und Wortbildung im Vergleich 127 Der deutsche Text erweckt den Eindruck einer ständigen direkten Aufforderung an den Leser, nach dem Motto ‘Unternehmen Sie das auf diese Weise’, im spanischen Text hingegen herrscht ein unpersönlicher passivischer Stil vor. Bei der Lektüre des spanischen Textes gewinnt man den Eindruck, dass der Text sich nicht an den realen Leser, sondern an einen abstrakten Leser richtet. Zur Wiedergabe der Fachlichkeit und der Sachlichkeit zieht das Spanische Passivkonstruktionen, Verallgemeinerungen, unpersönliche Ausdrücke usw. vor, während das Deutsche durch einen komprimierten Stil, durch viele Komposita und das Fehlen von attributiven Relativsätzen bestimmt wird. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass die deutschen Komposita im Spanischen in der Regel durch Präpositionalphrasen wiedergegeben werden, erkennt man am spanischen Text die fast ausnahmslose Verwendung von Adjektivalphrasen. In der Regel handelt es sich um denominale Adjektive mit Suffixen lateinischer und griechischer Herkunft. Mir scheint für eine Grenzziehung die +/ --Agentivität beider Texte entscheidend zu sein. Wenn man beide Texte einem Vergleich unterstellt, hat man den Eindruck, dass der deutsche Text fortschreitet, dynamisch ist, dagegen der spanische Text langsamer verläuft. Ich vertrete die Annahme, dass der spanische Text <-Agentivität> und der deutsche Text <+Agentivität> vermittelt. Dies beruht nicht nur auf der Verwendung von Imperativen und direkten Aufforderungen an den Leser, sondern auch auf den in beiden Texten vorhandenen Wortbildungstypen. Es können folgende sein: - Im Deutschen gibt es viele deverbalen Derivata nomina actionis, dagegen kommen im spanischen Text nur wenige deverbale Substantive vor, und in der Regel können die nominalen Ableitungen nomina acti oder nomina actionis sein. - Im Deutschen werden Partizipien I verwendet, im Spanischen eher das Partizip II. - Im Deutschen treten häufig deverbale Konvertate auf, im Spanischen handelt es sich um Nominalisierungen von Partizipien II. - Während im Deutschen ein verbales Konvertat ausgewählt wird, das auf einen Prozess hindeutet, selegiert man im Spanischen ein konjugiertes Verb, das auf einen Zustand hinweist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der deutsche Text von der Wiedergabe von Prozessen und Handlungen und der spanische Text von der Wiedergabe von Zuständen geprägt sind. María José Domínguez Vázquez 128 5. Schlussfolgerung Transphrastische Phänomene haben aus kontrastiver Sicht in den letzten Jahrzehnten viele Diskussionen hervorgerufen. Untersuchungen über die Sprachkontraste auf der Textebene können der Fremdsprachendidaktik und der Übersetzungspraxis nützlich sein. Die Fremdsprachendidaktik vernachlässigt häufig zu Unrecht die Textsorten und die kontrastive Textologie. Gerade beim Erlernen einer Fremdsprache ist die Kenntnis von Textsortenkonventionen eine schwierige, aber sehr wichtige Aufgabe. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind auch für die theoretische Linguistik von Belang, wenn sie transphrastische Kontraste und Gemeinsamkeiten ermitteln will, wenn sie klären will, welche textlinguistischen Regeln universale bzw. einzelsprachige Geltung haben. Meiner Auffassung nach breitet sich ein wenig erforschtes Feld vor uns aus, zumindest was den Vergleich der Vertextungskonventionen und die Analyse der kontrastiven Textologie zwischen der deutschen und der spanischen Sprachen betrifft. 6. Literatur Adamzik, Kirsten (Hg.) (2001): Kontrastive Textologie: Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Tübingen. Bosque, Ignacio/ Demonte, Violeta (Hg.) (1999): Gramática descriptiva de la lengua española, vol. 3. Madrid. Brinker, Klaus (1992): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 3., durchges. u. erw. Aufl. Berlin. Domínguez Vázquez, María José (2006): Theoretische und praxisorientierte Wortbildung. Wozu im DaF-Unterricht? In: Annali dell'Universitá degli Studi di Napoli „L'Orientale“, Sezione Germanica, N.S. XVI, 2, S. 145-169. Domínguez Vázquez, María José/ Valcárcel Rivero, Carlos (2006): Nouvelles tendances dans la composition nominale: français, allemand et espagnol mis en contraste. In: Mourón Figueroa, Cristina/ Moralejo Gárate, Teresa (Hg.): Studies in Contrastive Linguistics. Santiago de Compostel, S. 217-225. Drescher, Martina (Hg.) (2002): Textsorten im romanischen Vergleich. Tübingen. Eckkrammer, Eva Martha (1998): Das Dilemma mit dem Beipackzettel: Ein italienisch-deutscher Vergleich der (fach)sprachlichen Verunsicherungsfaktoren. In: Cordin, Patrizia/ Iliescu, Maria/ Siller-Runggaldier, Heidi (Hg.) (1998): Parallela 6: Italiano e Tedesco in contatto e a confronto / Italienisch und Deutsch im Kontakt und Vergleich. Trient, S. 345-370. Textsorten und Wortbildung im Vergleich 129 Eckkrammer, Eva Martha (2002): Textsorten im interlingualen und -medialen Vergleich: Ausschnitte und Ausblicke. In: Drescher (Hg.), S. 15-40. Gansel, Christina/ Jürgens, Frank (2002): Textlinguistik und Textgrammatik. Eine Einführung. Wiesbaden. Hummel, Martin (2004): Semantische Rollen bei reflexiven Verben. In: Kailuweit, Rolf/ Hummel, Martin (Hg.): Semantische Rollen. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 472). Tübingen, S. 206-227. Lüdtke, Jens (1978): Prädikative Nominalisierungen mit Suffixen im Französischen, Katalanischen und Spanischen. Tübingen. Pena, Jesús (1999): Partes de la morfología. Las unidades del análisis morfológico. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4305-4366. Rainer, Franz (1993): Spanische Wortbildungslehre. Tübingen. Rainer, Franz (1999): La derivación adjetival. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4596- 4682. Santiago Lacuesta, Ramón/ Bustos Gisbert, Eugenio (1999): La derivación nominal. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4505-4594. Schuldt, Janina (1992): Den Patienten informieren: Beipack-Zettel von Medikamenten. Tübingen. Serrano-Dolader, David (1999): La derivación verbal y la parasíntesis. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4683-4755. Spillner, Bernd (1978): Methoden der kontrastiven Linguistik in der Frankreichkunde. In: Arndt, Horst/ Weller, Franz-Rudolf (Hg.): Landeskunde und Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a.M., S. 151-178. Spillner, Bernd (1981): Textsorten im Sprachvergleich. Ansätze zu einer Kontrastiven Textologie. In: Kühlwein, Wolfgang/ Thome, Gisela/ Wilss, Wolfram (Hg.): Kontrastive Linguistik und Übersetzungswissenschaft. München, S. 239-250. Val Álvaro, José Francisco (1999): La composición. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4757-4841. Wotjak, Gerd (2002): Textsorten und Sprachvergleich. In: Drescher (Hg.), S. 273-277. Brigitte Eggelte Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zur Systematisierung ihrer syntaktischen Konsequenzen 1. Einleitung Den Mittelpunkt der deutschen Grammatikbeschreibungen bilden bekanntlich die Flexionsmorphologie (Wortgrammatik) und die Syntax (Satzgrammatik) ergänzt durch die Funktionen syntaktischer Einheiten in Texten (Textgrammatik). Dabei wird der für die deutsche Sprache charakteristischen Wortbildungsmorphologie, die als wichtiger Teilbereich der Grammatik eine zentrale Stellung zwischen Syntax und Lexikon einnimmt, oft nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Die Wortbildungsmorphologie dient dem Ausbau von Wörtern durch lexikalische Bedeutungselemente, die durch Grammatikalisierung unterschiedliche Funktionen übernehmen und kontextuelle Bezüge herstellen können und einen wesentlichen Beitrag zu einer stilistisch variierten Textkonstruktion leisten. Obwohl alle Wortklassen der deutschen Sprache an der Wortbildung teilnehmen können, beschränkt sich die Wortbildung zur Erweiterung des Wortschatzes hauptsächlich auf die Hauptwortarten, denen sehr unterschiedliche Wortbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wobei die durch die verschiedenen Wortbildungsprozesse geschaffenen Relationen zu anderen Wortarten zu den charakteristischen Merkmalen der Wortbildung gehören. Im Unterschied zu den fast unbegrenzten Wortbildungsmöglichkeiten der Substantive und den vielfach auf Transposition basierenden Wortbildungsprozessen der Adjektive nimmt die Wortbildung der Verben eine Sonderstellung ein, insofern sie durch die grammatischen Besonderheiten dieser Wortart und ihre Funktion im Satz bestimmt wird (Barz/ Schröder 2001, S. 211). Die Vielfalt der Wortbildungsmöglichkeiten, die der deutschen Sprache im Bereich der Verbbildung zur Verfügung stehen, würde den vorgegebenen Umfang dieses Beitrags überschreiten. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Vermittlung DaF werde ich nur zwei Wortbildungsarten der Verben behandeln, deren Basisstamm durch eine davorstehende Einheit ergänzt wird. Ausgehend von einigen wichtigen semantischen Leistungen und grammatischen Funktionen der Partikelverben versuche ich anschließend die semantischen Effekte und die damit verbundenen syntaktischen Konsequenzen der Präfixverben zu systematisieren. Brigitte Eggelte 132 2. Semantische und snytaktische Charakteristiken der Partikelverben Unsere Aufmerksamkeit gilt zunächst jenen Verben, die als erste Konstituente ein Adverb oder ein präpositionales Lexem aufweisen und unter dem inzwischen geläufigen Begriff „Partikelverben“ (Eichinger 2000, S. 102) zusammengefasst werden. Helbig/ Buscha unterscheiden bei Verben mit trennbarem Erstteil zwischen „präpositionalen Präfixen, die im freien Gebrauch Präpositionen sind“ und „adverbialen Präfixen, die auf Adverbien zurückzuführen sind“ (Helbig/ Buscha 2001, S. 199). Eisenberg spricht nur von „Verbpartikeln“ (Eisenberg 2000, S. 254-259) und meint damit alle möglichen, von einer verbalen Basis trennbaren Erstteile. In der Duden- Grammatik erschienen bisher (beim Bildungstyp unflektierbares Wort + Verb) die Adverbien und Präpositionen in alphabetischer Reihenfolge (Duden 1998, S. 451) und die Verbindungen mit Adverbien wurden als „lexikalisierte Kompositionen“ (ebd., S. 457) betrachtet. Heute spricht man von Partikelverben mit präpositionalem bzw. adverbialem Erstglied (Duden 2005, S. 707-708). Terminologisch differenziert Eichinger die einfachen Partikelverben von den Doppelpartikelverben (Eichinger 2000, S. 105), d.h. Bildungen mit präpositionalen Fügungen von Bildungen aus Richtungsadverb und Verb (hinaufsteigen, herausgehen, herunterkommen, sich hinübertrauen), denen er einen eindeutigen Inkorporierungscharakter zuspricht. Solche lexikalisierten Fügungen sind in vielen Fällen auch in ihrer verkürzten Form notwendig, ebenso wie die durch den Kontext bedingten Pronominaladverbien, die auch als Verbpartikeln fungieren können, z.B. der Junge kam aus dem Haus heraus, sah das Fahrrad vor der Tür, stand zögernd davor, setzte sich drauf und fuhr die Straße runter. Auf syntaktischer Ebene muss in diesem Zusammenhang auf die Funktion der Partikelverben als mehrteiliges Prädikat hingewiesen werden, dessen nichtfiniter Teil als lexikalischer Prädikatsteil verstanden wird (Helbig/ Buscha 2001, S. 449). Somit repräsentieren alle Partikelverben, d.h. alle mit Adverbien und mit präpositionalen Fügungen gebildeten trennbaren Verben, die für den deutschen Satz charakteristische Struktur der Verbalklammer, weil die Partikeln in Analogie zum mehrteiligen grammatischen Prädikat einen für notwendige syntaktische Elemente vorgesehenen Platz einnehmen. Die erste Konstituente der Partikelverben prägt als rechtes Verbalklammerelement die eigentliche lexikalische Bedeutung des am linken Klammeranfang stehenden Basisverbs. Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zu ihrer Systematisierung 133 Während die adverbialen Partikeln präzise situative und direktionale Beziehungen in die Verbhandlung des Basisverbs inkorporieren, bewirken die für die deutschen Verben typischen präpositionalen Partikeln die semantische Modifikation und syntaktische Schematisierung des Basisverbs, wodurch aktionale und zeitliche Unterscheidungen der Verbhandlung und räumliche Einordnungen des Geschehens hergestellt werden können. Im Einzelnen handelt es sich um die bei finitem Gebrauch des Basisverbs immer trennbaren und betonten, sehr produktiven Partikeln ab-, an-, auf-, aus-, ein-, um die weniger produktiven Partikeln bei-, entgegen-, entlang-, gegenüber-, mit-, nach-, vor-, zu-, und um die Partikeln durch-, hinter-, über-, um-, unter-, wider-, die auch als untrennbare Präfixe fungieren und mit dem Basisverb eine semantische Einheit bilden können. Die durch die semantischen Leistungen der Partikeln bewirkten sehr zahlreichen semantischen Modifikationen der Basisverben können in diesem begrenzten Rahmen leider nicht veranschaulicht werden. Am Beispiel der Partikel aufmöchte ich jedoch die Fähigkeit der trennbaren Partikeln belegen, das im Basisverb ausgedrückte verbale Geschehen semantisch zu modifizieren und auszubauen, und die Inkorporierung sehr unterschiedlicher funktionaler Zusammenhänge zu bewirken, wodurch eine außerordentliche Präzision der Verbhandlung erreicht wird: Die Partikel aufkennzeichnet, wie die Adverbien herauf und hinauf, die Richtung nach oben (aufbauen, aufblicken, aufgehen, auffahren, aufheben, aufspringen, aufstehen, aufsteigen, aufwachsen) und signalisiert, wie die Präposition, einen unterschiedlich ausgeprägten Oberflächenkontakt (aufhängen, aufkleben, auflegen, aufsetzen, aufstellen). In Verbindung mit einigen Basisverben wird ausgedrückt, dass etwas geöffnet und dadurch ein neuer Zustand erreicht wird (aufbrechen, aufdrehen, aufklappen, aufmachen, aufspringen, aufschlagen, aufschließen), während andere Basen ein kurzes, plötzliches Geschehen verbalisieren (auflachen, aufplatzen, aufschrecken, aufschreien). Ebenfalls kann diese Partikel den Beginn einer Handlung kennzeichnen (aufblasen, aufblühen, aufhetzen, aufleuchten, auftreten), ebenso ihren resultativen Abschluss (aufessen, aufgeben, auflösen, aufopfern, aufsaugen), oft verbunden mit der Konnotation einer Verbesserung (aufatmen, auffrischen, aufheitern, aufmuntern, aufputzen, aufräumen) oder einer Iteration (auflesen, aufreihen, aufsammeln, aufzählen). Andererseits charakterisieren sich die Partikelverben durch ihre antonymischen Verbbildungsmöglichkeiten. So können zum Beispiel mit aufgebildete Basisverben eine antonymische Bedeutung zu Verben mit Partikeln ab-, an-, unter- Brigitte Eggelte 134 und zuerhalten (aufbauen/ abbauen, aufdrehen/ abdrehen - zudrehen, aufdecken/ zudecken, aufgehen/ untergehen, aufhängen/ abnehmen, aufhören/ anfangen, aufladen/ abladen, aufmachen/ zumachen, aufschließen/ abschließen - zuschließen, aufsperren/ absperren - zusperren, aufspringen/ abspringen, aufsetzen/ absetzen, aufsteigen/ absteigen, auftauchen/ untertauchen, auftauen/ zufrieren). Auf syntaktischer Ebene bewirkt die Partikel aufnur in wenigen Fällen die Transitivierung oder eine Verminderung der Valenz gegenüber dem Basisverb. Auf satzsemantischer Ebene differenziert diese Partikel jedoch sehr häufig das verbale Geschehen nach zeitlichen oder inhaltlichen Phasen, oder signalisiert eine Zustandsveränderung und damit die perfektive Aktionsart des verbalen Geschehens. 3. Semantische und syntaktische Charakteristiken der Präfixverben Den mit Adverbien und präpositionalen Fügungen gebildeten trennbaren Partikelverben, die eine präzise semantische Modifikation der Basisverben bewirken, stehen die morphosemantische Funktionen ausübenden Präfixe gegenüber, die als nicht wortfähige Wortbildungsmittel den zentralen Typ der Verbderivation darstellen und mit dem Basisverb eine feste Einheit bilden. Es handelt sich um die nativen verbalen Präfixe be-, ent-, er-, ge-, miss-, ver-, zer-, obwohl in diesem Rahmen das Präfix misswegen seiner Unproduktivität nicht weiter betrachtet wird; ebenso wie das zwar geläufige, jedoch sehr demotivierte Präfix ge-, das andererseits das Partizip II vieler Verben markiert und in demotivierten Adjektiven (geheuer, gestreng, gesund, getrost) sowie in deverbalen Substantiven und den bei Substantiven produktiven Zirkumfixderivaten (Geschrei, Gelaufe, Gelächter, Gebirge) anzutreffen ist. Bei der ersten Betrachtung der mit den Präfixen be-, ent-, er-, ver-, zerals erster unmittelbarer Konstituente gebildeten komplexen Verben stellt man fest, dass diese Präfixe Bedeutungsunterschiede festlegen, die zur semantischen Modifikation des jeweiligen Basisverbs beitragen, wobei ihre semantischen Effekte sich in etwa mit einigen trennbaren Partikeln überlappen (bekleben - aufkleben, bestreiten - abstreiten, betasten - antasten, betreten - eintreten, bezweifeln - anzweifeln, entleeren - ausleeren, entkleiden - auskleiden, entzünden - anzünden, erbauen - aufbauen, erblühen - aufblühen, erstrecken - ausstrecken, erwachen - aufwachen, verhandeln - aushandeln, verleihen - ausleihen, verrenken - ausrenken, zerschneiden - abschneiden - durchschneiden, zerstreuen - ausstreuen). Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zu ihrer Systematisierung 135 Außerdem können einige dieser Präfixe miteinander konkurrieren, ohne eine grundlegende Bedeutungsveränderung des Verbs zu verursachen (jdn. oder etw. bedecken - verdecken, etw. beheizen - erheizen, besteigen - ersteigen, jdn. oder etw. bezaubern - jdn. verzaubern, etw. erlöschen - verlöschen), während andere eine reihenhafte Bildung von Antonymen erlauben (bekleiden/ entkleiden, beladen/ entladen, belasten/ entlasten, bewässern/ entwässern, entgiften/ vergiften, entflechten/ verflechten, enthüllen/ verhüllen, entkrampfen/ verkrampfen, erblühen/ verblühen, erklingen/ verklingen, erlernen/ verlernen, ermutigen/ entmutigen, ermuntern/ entmuntern, vertrauen/ misstrauen). Auf wortsemantischer Ebene belegen diese Beispiele, dass die Präfixe die Bedeutung des jeweiligen Verbs abtönen, wobei das Präfix beim weitesten Sinne die Richtung auf das Ziel der im Verb genannten Handlung bzw. eine Resultativität impliziert, das Präfix entauf ein Entfernen oder eine Beseitigung im positiven oder negativen Sinne verweist, und mit dem Präfix erdas Einsetzen eines Vorgangs oder das resultative Erreichen einer Wirkung der im Verb genannten Tätigkeit benannt wird. Dagegen signalisiert das Präfix verim weitesten Sinne ein positives oder negatives Resultat oder Ende der im Verb bezeichneten Handlung und das Präfix zer- Vorgänge und Tätigkeiten des Trennens oder den negativen Abschluss einer Handlung. Wenn man die semantische Abstraktheit der untrennbaren Präfixe mit der semantischen Präzision der trennbaren Partikeln vergleicht, könnte den Präfixverben eine sekundäre Rolle zugesprochen werden, insofern sie Bedeutungsunterschiede manifestieren, die auch durch andere lexikalische Rekurse erreicht werden könnten. Der Sprachgebrauch hingegen belegt das Gegenteil, d.h. die sehr häufige Verwendung von Präfixverben, was bedeutet, dass sich die Funktion der Präfixe keineswegs darin erschöpft, semantische Bedeutungsunterschiede der Verben zu kennzeichnen, sondern dass ihre Hauptfunktion eindeutig im Bereich der grammatischen Kategorien liegt, um als semantische Indikatoren die grammatischen Möglichkeiten des Verbs zu erweitern. Die starke Grammatikalisierung dieser Präfixe zeigt sich schon auf formaler Ebene bei der Bildung des Partizip Perfekt ohne das übliche ge-. Die durch das Partizip II gekennzeichnete Abgeschlossenheit des verbalen Geschehens wird durch die Präfixe selbst bewirkt. Auf syntaktischer Ebene besitzen die Präfixe die Fähigkeit, syntaktische Akzente zu modifizieren, weil alle Präfixe die Verbvalenz modifizieren können und bei den meisten Basisverben auch diese Modifikation bewirken. Die wichtigste Konsequenz der Verände- Brigitte Eggelte 136 rung der Valenz des Basisverbs ist die Transitivierung von dativischen und präpositionalen Ergänzungen, wodurch sich syntaktische und semantische Möglichkeiten ergeben, die Mitteilungsperspektive zu verändern. Mit der Transitivierung rückt der Objektaktant in den Mittelpunkt des Geschehens, und das Akkusativobjekt kann durch die grammatikalisierte Passivtransformation die Rolle des Subjekts übernehmen. Dadurch ergeben sich weitere für die Syntax besonders wichtige Konsequenzen, nämlich die Bildung von attributiven Partizipien II, d.h. die Einbindung verbaler Lexeme in den Bereich der Nominalformen, und wenn es die Bedeutung des Verbs zulässt, auch die Bildung reflexiv gebrauchter Verben: Man sprach über die Einzelheiten des Vertrags (das intransitive Prädikatsverb fordert ein Präpositionalobjekt). Man besprach die Einzelheiten des Vertrags (transitives Prädikatsverb). Die Einzelheiten des Vertrags wurden besprochen (Passivtransformation). Alle Beteiligten akzeptierten die besprochenen Einzelheiten (attributives Partizip II). Die Beteiligten besprachen sich (reflexiv gebrauchtes Verb). Die syntaktisch-strukturellen Möglichkeiten der Verben beschränken sich jedoch nicht auf das Kriterium der Transitivität bzw. Intransitivität, sondern stehen vielmehr in einem engen Zusammenhang mit ihren semantischen Charakteristiken. In einer Aussage kann der Prädikatsausdruck Handlungen und Vorgänge in ihrem Verlauf darstellen oder einen Zustand kennzeichnen; der Prädikatsausdruck kann aber auch eine zeitlich geordnete Kette bilden (zuerst blüht die Blume auf / oder die Blume erblüht, dann blüht die Blume, und später verblüht sie). Diese Perspektivierung ist selbstverständlich mit Unterschieden im Verbalcharakter verbunden, die auf semantischer Ebene durch Wortbildungselemente oder lexikalische Mittel zum Ausdruck kommen und unterschiedliche Aktionsarten implizieren. Neben anderen Wortbildungsmitteln, die in diesem Zusammenhang nicht betrachtet werden, übernehmen somit die meisten präpositionalen trennbaren Verbpartikeln und die untrennbaren Präfixe die Aufgabe, die Aktionsart der Basisverben zu modifizieren, indem sie den Verlauf des vom Verb bezeichneten Geschehens zeitlich abstufen oder eingrenzen, oder den Eintritt eines neuen Zustands signalisieren können. Diese Fähigkeit zeigen auch zahlreiche desubstantivische und deadjektivische Präfixverben, die als transformative Verben einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung des verbalen Wortschatzes leisten. Die semantische Kategorie der Aktionsart klassifiziert die Verben nach semantischen Gesichtspunkten in imperfektive (durative oder kursive) Verben und in perfektive (inchoative oder transformative) Verben mit jeweils meh- Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zu ihrer Systematisierung 137 reren subklassifizierenden Gruppen, die sich im Deutschen zwar nicht oder kaum durch grammatische Kennzeichen differenzieren, jedoch wichtige grammatische Auswirkungen haben. Hierbei übernehmen die das Basisverb präfigierenden morphologischen und lexikalischen Elemente der untrennbaren Präfixverben und der trennbaren Partikelverben die wichtige Rolle, als semantische Indikaktoren das vom Verb bezeichnete Geschehen hinsichtlich seiner perfektiven bzw. imperfektiven Aktionsart zu kennzeichnen. Das notwendige Zusammenwirken der semantischen Kategorien (Perfektivität bzw. Imperfektivität) und der syntaktischen Kategorien (Transitivität bzw. Intransitivität) impliziert wichtige Konsequenzen in Hinsicht auf die Wahl der (Perfekt-)Hilfsverben und auf den attributiven Gebrauch des Partizip II bei den untrennbaren Präfixverben und vielen mit ab-, an-, auf-, aus-, eingebildeten Partikelverben. Obwohl es unmöglich ist, in diesem begrenzten Rahmen der Funktionsbreite der untrennbaren Präfixe und der genannten trennbaren Partikeln gerecht zu werden, versuche ich - wegen ihrer semantischen Abstraktheit - die wichtigsten durch die untrennbaren Präfixe bewirkten semantischen Modifikationen der Präfixverben und ihre syntaktischen Konsequenzen zu systematisieren und betrachte nur am Rande einige repräsentative semantische und syntaktische Charakteristiken der mit den oben genannten trennbaren Partikeln gebildeten Partikelverben. 3.1 Die Präfixe im Einzelnen 3.1.1 Das Präfix be- Dieses Präfix kennzeichnet auf wortsemantischer Ebene nur die durative Verlaufsweise der im Basisverb ausgedrückten Handlung, ohne eine Bedeutungsveränderung zu verursachen. Auf syntaktischer Ebene charakterisiert sich dieses Präfix durch seine Fähigkeit, das Basisverb zu transitivieren (etw. beantworten, bearbeiten, bedenken, beladen, beschaffen, bewohnen; etw./ jdn. beachten, bedecken, behindern, berühren; jdn. bedrängen, befragen, behandeln, belauschen, bedienen). Mit diesem Präfix werden auch sehr viele transitive desubstantivische und deadjektivische Verben gebildet (jdn. beeinflussen, beerdigen, befriedigen, beglückwünschen, begrüßen, bestrafen, bewirten; etw. beenden, beseitigen, bevölkern; jdn. befähigen, befreien, be(un)ruhigen, besänftigen; etw. befestigen). Alle mit begekennzeichneten Präfixverben bilden ihr Perfekt mit dem Hilfsverb haben. Durch die transitive Zugewandtheit erscheinen diese Präfixverben sehr häufig in Passivkonstruktionen und als attributive Partizipien II, wobei zahlreiche fast schon Brigitte Eggelte 138 lexikalisierte Formen entstanden sind (der bewölkte Himmel, eine begründete Entscheidung, begeisterte Zuschauer, eine bejahte Frage). Mit diesem Präfix können auch reflexive Verben gebildet werden (sich befreunden, sich bedanken, sich beeilen). 3.1.2 Das Präfix ent- Dieses Präfix kennzeichnet auf wortsemantischer Ebene in vielen Fällen eine durative Verlaufsweise und bewirkt die gegensätzliche Bedeutung des im Basisverb ausgedrückten Geschehens. Diese Bedeutungsveränderung charakterisiert auch zahlreiche desubstantivische und deadjektivische Verben. Auf syntaktischer Ebene sind dann alle von Substantiven und Adjektiven abgeleiteten Verben transitiv und bilden ihr Perfekt mit dem Hilfsverb haben (enteignen, entfernen, entschärfen, enterben, entfärben, entfesseln, entkleiden, entkräften, entmachten, entsalzen, entschuldigen, entwässern, entziffern), ebenso wie die mit entpräfigierten transitiven Basisverben (entführen, entheben, entladen, entlassen, entnehmen, entsenden, entzünden), wobei - aufgrund seiner Valenz - das Verb entziehen als obligatorischen Aktanten die vom Vorgang betroffene Person kennzeichnen muss (man hat dem Fahrer den Führerschein entzogen). Diese Verben erlauben die Bildung von Passivkonstruktionen und attributiven Partizipien II. Die Valenz einiger mit entpräfigierten intransitiven Basisverben kann ebenfalls die Angabe von obligatorischen bzw. fakultativen Aktanten fordern. Diese Verben bilden ihr Perfekt mit dem Hilfsverb sein (die Bemerkung ist mir entgangen; der Hund ist (seinem Herrchen) entlaufen; der Dieb ist (der Polizei) entkommen; das Buch ist mir (aus der Hand) entglitten). Bei diesen und bei wenigen anderen Verben (entbrennen, entflammen, entfliehen, entgleisen) bezeichnet das Präfix entauf semantischer Ebene den Beginn eines Geschehens, das einen veränderten Nachzustand aufweist. Solche semantisch ingressiven bzw. inchoativen Verben mit perfektiver Aktionsart erlauben die Bildung von attributiven Partizipien II, jedoch keine Passivkonstruktionen. 3.1.3 Das Präfix er- Dieses Präfix charakterisiert sich durch seine große Funktionsbreite. Auf wortsemantischer Ebene hebt dieses Präfix einen Moment der im Basisverb genannten Tätigkeit hervor, um einen bestimmten Zweck anzustreben, eine Wirkung zu erreichen, oder den Übergang zu einem neuen Zustand zu kennzeichnen (erarbeiten, erbeuten, erbitten, erfüllen, ergreifen, erkennen, erle- Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zu ihrer Systematisierung 139 ben, eröffnen, erreichen, erschießen, erschlagen, ersticken, erwachen, erwerben, erzielen). Wie die trennbare Partikel aufsignalisiert auch das Präfix erbei einigen Verben die Richtung nach oben (er bauen - auf bauen, er blühen - auf blühen, er greifen - auf greifen, er heben - aufheben, errichten - aufrichten, erwachen - aufwachen). Andererseits bezeichnen die sehr zahlreichen mit ergebildeten deadjektivischen Verben immer den Eintritt eines neuen Zustands (erblassen, erblinden, sich erfrischen, erkalten (sich erkälten), erkranken, erlahmen, erröten, sich erwärmen). Diese Beispiele zeigen, dass die mit ergebildeten Präfixverben auf semantischer Ebene unterschiedliche Phasen eines Geschehens ausdrücken und als transformative Verben die Anfangs- oder Endphase oder eine Zustandsveränderung bezeichnen können und auf eine perfektive Aktionsart verweisen. Auf syntaktischer Ebene verbindet sich das Präfix ermit transitiven Basisverben, es hat auch die Fähigkeit die Transitivierung zahlreicher Basisverben zu bewirken. Diese transitive Zugewandtheit erlaubt, dass mit dem Präfix ergebildete semantisch perfektive Verben ihr Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden und die Bildung von Passivkonstruktionen und attributiven Partizipien II zulassen (wir haben den Bericht erarbeitet / der Bericht ist erarbeitet worden / der Bericht ist erarbeitet / der erarbeitete Bericht; man hat den Mann erschossen / der Mann ist erschossen worden / der Mann ist erschossen / der erschossene Mann). Nur bei sehr wenigen intransitiven durativen Basisverben (blühen, frieren, strahlen) erscheint das Präfix er- (erblühen, erfrieren, erstrahlen). Sehr zahlreich sind jedoch die mit dem Präfix ergebildeten syntaktisch immer intransitiven deadjektivischen Verben (s.o.). Diese auf semantischer Ebene ingressiven, durch ihre perfektive Aktionsart gekennzeichneten, und auf syntaktischer Ebene durch Intransitivität charakterisierten Verben bilden ihr Perfekt mit dem Hilfsverb sein und erlauben die Bildung von attributiven Partizipien II (der Bergsteiger ist erfroren / der erfrorene Bergsteiger; die Erinnerung ist erblasst / die erblasste Erinnerung; viele Menschen sind erkrankt / viele erkrankte Menschen). Noch zu erwähnen sind die wenigen perfektiven deadjektivischen reflexiven Verben, die ihr Perfekt mit haben bilden. 3.1.4 Das Präfix ver- Dieses Präfix wird ebenfalls durch seine große Funktionsbreite charakterisiert. Obwohl dieses Präfix auf wortsemantischer Ebene sehr unterschiedliche Sachverhalte ausdrücken kann, ist es dadurch gekennzeichnet, dass es Brigitte Eggelte 140 auf den Abschluss der im Basisverb genannten Handlung verweist, der im positiven oder negativen Sinn einen Zweck angestrebt oder eine Wirkung erreicht, oder zu einem neuen Zustand geführt hat (verarbeiten, verbinden, verblenden, verbrauchen, verbrennen, verbüßen, verdanken, verdrehen, verhandeln, verhindern, verkaufen, verknüpfen, verlagern, sich verlaufen, verlernen, vermissen, verneinen, verpflegen, verreisen, verschaffen, verschießen, verschweigen, versenden, versorgen, verteilen, vertrauen). In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass einige der äußerst zahlreichen mit dem Präfix vergebildeten Verben oft eine nur geringe semantische Modifikation gegenüber dem Basisverb erreichen. Andererseits bezeichnen die sehr zahlreichen mit vergebildeten desubstantivischen und deadjektivischen Verben, dass die zugrunde liegende lexikalische Einheit eine positive oder negative, jedoch immer klare Zustandsveränderung erfährt (veralten, verarmen, (sich) verbessern, verblassen, verbleichen, verbluten, verenden, verfaulen, vergrößern, verhungern, verjähren, verkleinern, verkohlen, verkümmern, verlängern, sich verlieben, veröffentlichen, verschimmeln, verschlechtern, versichern, verstärken, verstauben, verstummen, vertrocknen, verwelken). Diese Beispiele zeigen, dass die mit vergebildeten Präfixverben auf semantischer Ebene die Endphase oder den Abschluss eines Geschehens ausdrücken, oder die vollständige Veränderung des vorhergehenden Zustands bezeichnen und als transformative Verben die perfektive Aktionsart darstellen. Auf syntaktischer Ebene kann das Präfix verdie Transitivierung von Basisverben erwirken, es verbindet sich jedoch häufig auch mit intransitiven Verben (ich traue/ vertraue dir nicht). Die beschriebenen Merkmale bestätigen einerseits, dass mit dem Präfix vergebildete semantisch perfektive und syntaktisch transitive Verben ihr Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden und die Bildung von Passivkonstruktionen und attributiven Partizipien II zulassen (Die Bauern haben das Holz verarbeitet/ verbrannt/ verkauft/ versandt/ verteilt; das Holz ist verarbeitet/ verbrannt/ verkauft/ versandt/ verteilt worden; das Holz ist verarbeitet/ verbrannt/ verkauft/ versandt/ verteilt; das verarbeitete/ verbrannte/ verkaufte/ versandte/ verteilte Holz). Andererseits bilden die auf semantischer Ebene egressiven, durch ihre perfektive Aktionsart gekennzeichneten Verben, die sich auf syntaktischer Ebene jedoch durch ihre Intransitivität charakterisieren, das Perfekt mit dem Hilfsverb sein und erlauben die Bildung von attributiven Partizipien II (seine Von der semantischen Leistung der Verbalpräfixe zu ihrer Systematisierung 141 Ideen sind veraltet / seine veralteten Ideen; die Schrift ist verblasst / die verblasste Schrift; das Reh ist verendet / das verendete Reh; das Delikt ist verjährt / ein verjährtes Delikt; das Brot ist verschimmelt / das verschimmelte Brot; die Blumen sind verwelkt / die verwelkten Blumen). Wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, bilden die wenigen perfektiven deadjektivischen reflexiven oder reflexiv gebrauchten Verben ihr Perfekt mit haben. 3.1.5 Das Präfix zer- Dieses Präfix charakterisiert auf wortsemantischer Ebene Tätigkeiten oder Vorgänge des Zerkleinerns und Entzweiens, oder bezeichnet das Zerfallen in Teile. Dieses Präfix kann sich mit semantisch durativen Basisverben verbinden (zerbrechen, zerfallen, zerlassen, zerlegen, zerreißen, zerschlagen, zerschneiden, zersetzen, zerstören, zerstreuen, zerwerfen) und bildet desubstantivische und deadjektivische Verben (zerkleinern, zermürben, zersplittern, zerstäuben, zerstückeln). Die durch das Präfix semantisch bedingte Zustandsveränderung aller zugrunde liegenden lexikalischen Einheiten impliziert die Bildung transformativer, egressiver Verben mit perfektiver Aktionsart. Auf syntaktischer Ebene charakterisieren sich die mit dem Präfix zergebildeten transitiven Basisverben durch ihre Transitivität, und bilden ihr Perfekt mit dem Hilfsverb haben. Als intransitives Basisverb bildet nur fallen das Perfekt mit sein. Mit dieser Ausnahme erlauben alle anderen semantisch perfektiven und syntaktisch transitiven Verben die Bildung von Passivkonstruktionen, und alle mit diesem Präfix markierten Verben (einschließlich zerfallen) bilden attributive Partizipien II (das Kind hat den Teller zerbrochen / der Teller ist zerbrochen worden / der Teller ist zerbrochen / der zerbrochene Teller; Kriegsflugzeuge haben Teile der Stadt zerstört / Teile der Stadt sind durch Kriegsflugzeuge zerstört worden / Teile der Stadt sind zerstört / die zerstörten Teile der Stadt; das alte Haus ist vollständig zerfallen / das vollständig zerfallene alte Haus). 4. Schlussbetrachtung Wenn wir abschließend die Merkmale betrachten, die sowohl die Partikelverben als auch die Präfixverben charakterisieren, muss zunächst die im Laufe dieser Arbeit bewiesene Fähigkeit der Partikeln und Präfixe hervorgehoben werden, durch eine musterprägende Schematisierung einerseits und durch verbale Kategorisierungen andererseits die Modifikation der Basisverben auf semantischer und syntaktischer Ebene zu bewirken und den Ausbau Brigitte Eggelte 142 von prädikationsfähigen Einheiten zu fördern. Hierbei leisten die durch Adverbialität geprägten Partikelverben und die aus Substantiven und Adjektiven transponierten Präfixverben einen besonderen Beitrag, verbunden mit der inhärenten Fähigkeit vieler Partikeln und Präfixe, auf satzsemantischer Ebene die Modifikation der Aktionsart gegenüber den Basisverben herzustellen. Außerdem muss auf die wichtigen Funktionen des Partizip Perfekt hingewiesen werden, insofern alle Präfix- und Partikelverben die syntaktischen und semantischen Bedingungen erfüllen, Partizipialattribute zu bilden und aufgrund ihres transitiven Charakters - oder bei intransitiven Verben durch ihre perfektive Aktionsart - als Attribute von Substantiven erscheinen können. Diese Einbindung von Partizipien mit attributiver Funktion in den Nominalbereich stellt der deutschen Sprache, dank der Präzision und Spezialisierung der mit Präfixen und Partikeln gebildeten Partizipialattribute, sehr leistungsfähige Ausdrucksformen zur Verfügung, die man von adjektivischen Attributen, als Beispiel der vorangestellten Attribute, nicht erwarten kann. 5. Literatur Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne (2001): Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, Wolfgang/ Helbig, Gerhard/ Lerchner, Gotthard (Hg.): Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Frankfurt a.M., S. 178-217. Duden (1998) = Dudenredaktion (Hg.) (1998): Duden. Bd. 4: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden (2005) = Dudenredaktion (Hg.) (2005): Duden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. Mannheim. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Eisenberg, Peter (2000): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. Stuttgart. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin. Kempcke, Günter et al. (2000): Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ New York. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 3. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7). Berlin/ New York. Ludwig M. Eichinger Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten: Komposition und Verwandtes in deutschen und spanischen Nominalphrasen 1. Vom Bedeuten Im Jahr 2004 veranstaltete das Goethe-Institut gemeinsam mit den damals im Deutschen Sprachrat vereinigten Institutionen, dem IDS und der Gesellschaft für deutsche Sprache, einen Wettbewerb, in dem das schönste deutsche Wort gesucht wurde. 1 Die Aktion wurde ein unerwartet großer Erfolg, über 22.000 Einsendungen waren am Ende zusammengekommen. Und nach einer Vorauswahl durch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts, bei dem etwa hundert Vorschläge übrig gelassen worden waren, kam eine Jury zu dem Entschluss, Habseligkeiten sei das schönste deutsche Wort. Ist es das wirklich? Schon die Frage verbietet sich eigentlich; was der Jury so gefallen hatte, war die eigenwillig versponnene Begründung, die dem ja eigentlich einigermaßen demotivierten Wort eine Bedeutung zugewiesen hat, die zu seiner Form ebenso passt wie zu der Zeit einer empfindsam getönten Aufklärung, in deren Licht offenbar die Deutschen sich gerne sehen. Die Begründung, die unter (1) zitiert ist, liest in diesem Wort einen freundlichen Alltag mit der Seligkeit des Habens der kleinen Dinge. (1) Lexikalisch gesehen verbindet das Wort zwei Bereiche unseres Lebens, die entgegengesetzter nicht sein könnten: das höchst weltliche Haben, d.h. den irdischen Besitz, und das höchste und im irdischen Leben unerreichbare Ziel des menschlichen Glücksstrebens: die Seligkeit. Natürlich waren die professionellen Linguisten und auch alle Amateuretymologen empört, hat doch dieses Wort gar nichts damit zu tun, handelt es sich doch bei dem -selnicht um die Basis eines Adjektivs selig, sondern um eine Art Kollektivsuffix, wie in Rätsel oder in Mühsal, von dem mittels des Suffixes -ig Adjektive gebildet werden. Allerdings vermerkt zumindest ein Teil der Etymologen verschämt, dass sich dieses Element - wenn auch zu unterscheiden von selig ‘glücklich’ - doch einigermaßen als eine Art Suffix selbst- 1 Siehe Eichinger (2005); inzwischen gehört auch der DAAD zum „Deutschen Sprachrat“. Ludwig M. Eichinger 144 ständig gemacht habe, und nicht nur zu -sal-Wörtern gebildet worden sei wie in mühselig, sondern dass zum Teil diese Basiswörter weggebrochen sind wie bei saumselig, zum Teil diese Ableitungen wieder verschwunden sind wie etwa bei Labsal das im 16. Jahrhundert belegte labselig. Vielmehr sei seine Geltung dann analog ausgeweitet worden, in Bildungen wie feindselig und holdselig. Davon zu trennen seien die Komposita mit selig, wie etwa glückselig oder weinselig. Und wie ist das mit redselig? Ist da der Unterschied wirklich so groß? Wie auch immer das sei, man sieht in diesem Beispiel allerlei, nämlich z.B. den Tatbestand, dass sich neben Lexikalisierungstendenzen und neben Grammatikalisierungstendenzen, deren Existenz von niemandem bestritten wird, auch Remotivierungstendenzen finden. 2 Das gilt sicherlich, auch wenn man das Beispiel des schönsten deutschen Wortes nicht für den überzeugendsten Fall halten mag. Man ist an dieser Stelle auf jeden Fall versucht, den Mephistopheles aus der Walpurgnisnacht in Goethes Faust zu zitieren: (2) Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen. 2. Wie geht das? Und man mag sowohl die Geschichte mit dem schönsten Wort wie das Goethe-Zitat für besonders deutsch halten, einer Sprache, die gerade im Hinblick auf den europäischen Bildungswortschatz als nationalisierend gilt, und strukturell das beste aus dem Tatbestand gemacht hat, dass sie sich typologisch in der Mitte zwischen SVO- und SOV-Sprachen gehalten hat und so zentrifugale und zentripetale Konstruktionstypen kennt. Zudem besitzt das Deutsche ein zwar wohlerhaltenes, aber - im Vergleich etwa zu den slawischen Nachbarn - dennoch überschaubares System an Flexiven. Diese drei Fakten erlauben es auch, zu erklären, wie es zu der Aussage kommt, das Deutsche habe sich zu einer Wortbildungssprache entwickelt. Warum diese drei Punkte Einfluss auf den Wortbildungscharakter des Deutschen haben, sei im Folgenden etwas genauer angedeutet. 3 2 Zu den Windungen der mit diesem Fall verbundenen sprachkritischen Diskussion siehe Brückner (2006). 3 Dabei wird nur von den Verhältnissen in Nominalphrasen bzw. von nominaler Wortbildung die Rede sein. Zu daraus folgenden Besonderheiten auf der Ebene des Verbs vgl. Eichinger (2007b). Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 145 Der etwas unglücklich „Nationalisierung“ genannte Tatbestand beschreibt den Sachverhalt, dass das Deutsche über Jahrhunderte Strategien entwickelt hat, um fremde Elemente, in Sonderheit auch solche, die im bildungssprachlichen Gewand eines graeco-romanischen Aussehens daherkommen, in eine deutsche Form zu bringen: Die Integration von Fremdem durch Übersetzung, Übertragung, freiere Nachbildung, aber auch durch allmähliches Abschleifen des Fremdheitscharakters hat eine lange Tradition. Das hat seinen Sinn in einer Entwicklungstendenz, die „Reinigkeit“ sucht, um der Volkssprache und ihren Sprechern die ungehinderte Teilnahme an den Diskursen der sprachlichen Öffentlichkeit zu ermöglichen. Natürlich kennt das Deutsche daneben und häufig auch parallel dazu Wörter und auch Bildungsmöglichkeiten, die der gemeinsamen europäischen bildungssprachlichen Tradition zu verdanken sind. Allerdings tragen alle diese Mittel im Deutschen deutliche Signale der Fremdheit mit sich - das ist, wie man sehen wird, in einer romanischen Sprache und auch dem Englischen mit seinen romanischen Bestandteilen anders. Die typologische Eigenständigkeit und Doppeltgerichtetheit schlägt sich prinzipiell darin nieder, dass sich lexikalische Köpfe von Konstruktionen an beiden Seiten erweitern lassen, und zwar in einer Weise, die deutlich über das hinausgeht, was die europäischen Nachbarn in dieser Hinsicht vorsehen. Gestützt und funktional geformt wird diese Möglichkeit zudem durch das dem Deutschen eigene Mittel der Distanzstellung. 4 Die drei Fakten sind die Nationalisierung in eine Sprache hinein, die keinen Anteil an der sprachlichen Romania hat, die doppelte Gerichtetheit von syntaktischen und lexikalischen Strukturen der Serialisierung, und die Notwendigkeit, die syntaktische Realisierung von aus dem Lexikon geholten Exemplaren der drei Hauptwortarten durch flexivische Mittel, die rechts an die jeweiligen Lexeme treten, zu kennzeichnen. Zumindest für die romanischen Nachbarsprachen gelten diese Voraussetzungen alle nicht, und auch für das Englische nur zum Teil. Ohne darauf weiter einzugehen: das Englische ist z.B. durchaus wie das Deutsche recht geneigt, durch einfache Lexemanreihungen so etwas wie Komposita zu schaffen, aufgrund der rudimentären Flexion ist aber die Worteinheit oft nicht im selben Ausmaß gesichert wie im Deutschen. 5 Man kann das an dem folgenden Beispiel schön sehen, das ich an anderer Stelle ausführlicher analysiert habe: 4 In unserem Fall: Nominalklammer. 5 Zu solch einer Charakteristik des Deutschen vgl. Askedal (2000). Ludwig M. Eichinger 146 (3) Vorschlag für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLA- MENTS UND DES RATES zur Änderung der Richtlinie über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionsberechtigungen in der Gemeinschaft im Sinne der projektbezogenen Mechanismen des Kyoto-Protokolls (4) Proposal for a DIRECTIVE OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL amending the Directive establishing a scheme for greenhouse gas emission allowance trading within the Community, in respect of the Kyoto Protocol's project mechanisms Wenn hier bei einem EU-Text, dessen Basis zweifellos eher Englisch als Deutsch ist, das Kompositum Treibhausgasemissionsberechtigung zunächst einmal als ein weiteres Beispiel für die Neigung des Deutschen zu vielfach gestuften Komposita erscheinen mag, so zeigt seine Entsprechung in der englischen Fassung des Textes, dass das Englische geradezu in der Lage ist, diese Verdichtungsleistung noch zu übertreffen: greenhouse gas emission allowance trading. Auf den zweiten Blick ist allerdings schon zu sehen, dass das deutsche Wort die kompaktere Einheit darstellt, was die Orthografie eher bestätigt als herstellt. Sie leitet allerdings auf jeden Fall unsere Akzentuierungserwartungen. Während uns das Deutsche zudem strukturell darauf trainiert hat, auf innerlexematische ebenso wie auf Signale des Wortendes zu achten, in diesem Fall etwa das Abhängigkeitssignal {-s-}, das an dieser Stelle häufig als Fugenelement bezeichnet wird, auf das spezifische wortbildende Suffix {-ung}, das uns die Einordnung des primär verbalen Lexems als Substantiv erlaubt, und letztlich auf das Flexiv { -en}, das wir in diesem Kontext als Signal lesen, dieses Substantiv als der Pluralklasse zugehörig einzuordnen, 6 ist die Sache im Englischen wesentlich weniger klar signalisiert. Daher würde man diesen Konstruktionstyp vielleicht auch nicht für so typisch für englische Kodierungsgewohnheiten halten. Schon mit der schließenden -ing-Form ist die Wortklasse weniger eindeutig entschieden; vor allem, wenn man betrachtet, dass im Vergleich der beiden Texte das Englische an mehreren Stellen dieses partizipiale Mittel der Junktion nutzt, wo das Deutsche andere Weisen nominaler Verdichtung wählt. Zudem gibt es keine formalen Hinweise auf die interne Struktur dessen, was davor steht; vermutlich beruft sich das Verständnis solcher Wörter auf eine gewisse Ver- 6 Siehe Eichinger (2007a). Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 147 lässlichkeit, die durch Prägungen des öffentlichen Diskurses herbeigeführt wird (Typ: greenhouse gas); zudem ist es vermutlich kein Zufall, dass in diesem kondensierten nominalen Komplex mit emission nur ein einziges romanisch-bildungssprachliches Lexem auftaucht. Auch an einer zweiten Stelle kann man sehen, dass das Englische und das Deutsche sich im nominalen Kondensationsgrad in nichts nachstehen (müssen), dass aber das Deutsche eher mit Wortbildungsmitteln, das Englische mit einer Mischung aus solchen und Strukturen nominaler Syntax arbeitet. Kyoto Protocol's project mechanisms steht im englischen Text, wo der deutsche projektbezogenen Mechanismen des Kyoto-Protokolls hat. Man sieht hier, dass im Englischen der sächsische Genitiv in viel weniger eingeschränkter Weise als ein Abhängigkeitssignal zur Verfügung steht, und auf der anderen Seite, dass das Deutsche in diesem fachlichen Kontext die Beziehung zwischen den Lexemen {projekt} und {mechanismus} expliziter machen will. Das entspricht durchaus einem typischen Unterschied in der Signalisierung von Fachlichkeit im Deutschen und im Englischen. {projektbezogen} ist ja kein Kompositum, bei dem irgendwie eine Subklasse aussortiert werden soll, vielmehr soll lediglich die Art der Abhängigkeit dieses Adjektivs in systematischer Weise explizit gemacht werden. 7 Wenn man so will, erweist sich auch an diesem „germanischnahen“ Kontrast das Deutsche als die explizierende, lexemorientierte, flexionsgesteuerte Option, die daher kompaktere Mittel der Wortbildung entwickelt. Das betrifft, zumindest sofern man von Nomina oder genauer von Substantiva redet, vor allem das Konzept der Komposition, das ja in sozusagen idealer Weise Kompaktheit und Explizitheit miteinander verbindet. Dass dazu noch zwei, drei andere Erscheinungen gehören, davon soll später noch die Rede sein. 3. Wie kommt das? Es gibt eine Reihe von Festlegungen in der deutschen Sprachgeschichte, die solch eine Entwicklung innerhalb der Nominalphrase befördern. Die Auslagerung der Genusmarkierung an die pronominalen Endungssätze, die zum frühestmöglichen Zeitpunkt in der Nominalphrase auftreten und die damit signalisierte Öffnung eines Raums, innerhalb dessen flektiert wird, ist eine dieser Erscheinungen. Dieses Phänomen sieht man gut an dem folgenden Textausschnitt: 7 Vgl. Eichinger (2003). Ludwig M. Eichinger 148 (5) und die kontinuierliche Versorgung der gemäß Artikel 92 der Verordnung (EG) Nr. 1623/ 2000 zugelassenen Unternehmen zu gewährleisten. Die Form des Artikels lässt uns die Nominalklammer hindurch warten, bis eine dazu passende substantivische Form auftaucht, wobei der vorhergehende Kontext zumindest schon in gewisser Plausibilität erwarten lässt, dass wir mit der Instanz eines adnominalen Genitivs rechnen müssen (d.h. auf ein Pluralwort oder ein Femininum). Wir bekommen dann schon dadurch, dass unmittelbar eine präpositionale Phrase folgt, angedeutet, dass wir uns in die Reihe der umgesetzten syntaktischen Modifikatoren eines als Partizip attribuierten verbalen Elements hineinbewegen. Auch hier verdeutlicht der Vergleich mit der englischen Entsprechung die strukturelle Umordnung: (6) ensuring the continuity of supplies to firms approved under that Article. Zwei Dinge folgen daraus: Zum Ersten ist der Platz links von den Bezugsnomen weitaus freier zu besetzen, zum Zweiten ist klar, dass das Kernsubstantiv beginnt, wo die Flexion endet. Aus den beiden Punkten zusammen folgt dann auch, dass in den Raum links vom Nomen Information in anderer Verdichtung angelagert werden kann. Diesen Tatbestand illustriert zumindest auch der Unterschied in der Informationsverteilung in den Nominalphrasen, wo beim Deutschen Wortbildungstechniken genutzt werden, um adverbiale Modifikatoren in die Nominalphrase zu integrieren, während das Englische auf das Konkretum supplies fokussiert. Sprachhistorisch kommt an dieser Stelle noch dazu, dass auch im Deutschen mit dem Genitiv zwei wesentliche Änderungen vor sich gingen. Der Genitiv (und seine markierteste Ausdrucksform ({-es}; bzw. in gewissem Umfang -er+fem./ Plural) werden im Wesentlichen aus der Paradigmatik der Kasus herausgenommen und zu einem reinen Abhängigkeitsmerkmal umdefiniert. Gleichzeitig wird - nicht zuletzt unter den veränderten Bedingungen grammatikalisierter Artikelsetzung - die Voranstellung des attributiven Genitivs allmählich durch Nachstellung ersetzt und auf eine Reihe stilistisch markierter Fälle und den so genannten sächsischen Genitiv beschränkt. Reflex dieser Veränderung ist die Unterscheidung so genannter uneigentlicher (des Tages Licht - das Tageslicht) und eigentlicher (Tagleuchte [Zesen für] ‘Sonne’) Zusammensetzung. Es ist offenkundig, dass diese Veränderungen zu Konkurrenzen zwischen ers- Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 149 ten Gliedern von Komposita und entsprechenden adjektivischen Fügungen führten, wie sie benachbarte europäische Sprachen zumeist nicht kennen (Nordhalbkugel/ nördliche Halbkugel [beschreibend]; northern hemisphere). Zu dieser Konzentration von Wortbildungstechniken auf den Raum links vom Nomen trägt auch bei, dass das Deutsche aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtung von präpositionalen Attributen, die ja wie im Englischen zentrifugal angeordnet sind, und präpositionalen Satzgliedern, die zentripetal auf den Platz des Verbs am Ende ausgerichtet sind, zum Teil strukturell ambivalente Strukturen hervorbringt. Wenn man den oben schon anzitierten Alkohol-Text an einer anderen Stelle betrachtet, ist in der deutschen Fassung nicht ganz klar, wo genau die Nominalphrase mit dem lexikalischen Kopf Ausschreibung endet: (7) Gemäß Artikel 92 der Verordnung (EG) Nr. 1623/ 2000 ist eine Ausschreibung von Weinalkohol zur ausschließlichen Verwendung als Bioethanol im Kraftstoffsektor der Gemeinschaft durchzuführen Dass es sich hierbei um ein durchaus relevantes Phänomen handelt, mögen die in (8) aufgeführten Belege aus der schriftlichen Fassung der „Tagesschau“, unserer offiziösesten Nachrichtensendung im Fernsehen, belegen: (8) werden die Techniker drei jeweils halbstündige Bremsschübe mit den Triebwerken des angekoppelten Progress-Raumfrachters zünden; Zwar wurde [...] die Zahl der Patrouillenboote im Meer bei Shanghai erhöht; Einzelheiten will er nach der Kabinettssitzung am Mittwoch bekannt geben; Dazu weht meist ein schwacher Wind aus nördlichen Richtungen; wenn man [...] Erfahrungswerte aus anderen EU-Ländern heranziehe; Lassen Sie erst einmal den Untersuchungsausschuss in Bayern anfangen; nach dem [...] Erdbeben [...] rechnet die Regierung in El Salvador jetzt mit mehreren tausend Toten. Es geht jeweils um den Bezug der Präpositionalphrasen mit den Präpositionen mit, im, am, aus, aus, in, in. Handelt es sich um Bremsschübe mit den Triebwerken oder werden diese mit den Triebwerken gezündet - und analog in den anderen Beispielen. Ludwig M. Eichinger 150 Was mit den in diesem Punkt angedeuteten Entwicklungen gezeigt werden soll, ist, dass die kulturelle Auseinandersetzung der in frühneuhochdeutscher Zeit sich formierenden Schriftsprache nicht-romanischer Basis mit romanisch geprägten Bildungs- und Gesellschaftssprachen eine Entwicklung muttersprachlicher Taktiken und Techniken begünstigte, die den Charakter des Deutschen als Wortbildungssprache festigte. Auch wenn sich das zweifellos zu einem spezifischen Zug des Deutschen entwickelte, ist die Frage, was das mit dem Wesen des Deutschen, dem deutschen „Sprachgeist“ zu tun hat, der ja spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts gerne berufen wird. Dass das nicht nur alte Gedanken sind, mag an den Überlegungen eines heutigen Autors gezeigt werden, der wie wenige zwischen den beiden Sprachen - und Welten - gelebt hat: Georges-Arthur Goldschmidt, der in seinem 1988 auf französisch und 1999 auf deutsch erschienenen Band „Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache“ eine Reihe von Essays versammelt, die sich teils mehr mit der Psychoanalyse und ihrer Sprache, teils mit den Eigenheiten der französischen und der deutschen Sprache beschäftigten. Dabei spielen Fragen der Wortbildung eine wichtige Rolle. Das Deutsche kommt dabei nur in Maßen gut weg, wie man an den folgenden Zitaten sehen kann: (9) Im Deutschen herrscht eine Art Urwüchsigkeit, die Sprache wächst aus sich heraus und lässt gewissermaßen ständig ihre linguistische Kindheit wieder aufleben. Man sieht das am Beispiel der zusammengesetzten Wörter, von denen man zumindest sagen kann, dass es ihnen an Gewichtigkeit mangelt. Sie sind jedermann unmittelbar verständlich. Wer außer Hellenisten oder Botanikern wüsste denn, was eine allophile Pflanze ist? Der Deutsche nennt sie ganz einfach eine salzliebende Pflanze. Von sich selbst ausgehend, baut das Deutsche seine zusammengesetzten Wörter, überaus und allgemein verständlich: die Psychographie ist ganz einfach die Seelenbeschreibung; ein Otorhinolaryngologe ist ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt […] Die Sprache weist so jedem deutschen Kind den Weg. (Goldschmidt, S. 22) (10) Dieser volkstümliche, heidnische Charakter ist geradezu das Wesen der deutschen Sprache; ihre offenbare Unmittelbarkeit stammt vielleicht daher, die Bedeutung des Raums und wohl auch die Fähigkeit, alles mögliche zu sagen, und sich den konkreten oder abstrakten Wortschatz dafür nach Belieben zu Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 151 schaffen. Jeder Wortstamm lässt sich mit zahlreichen Suffixen kombinieren. Das Suffix -keit zum Beispiel, das den Zustand von Dingen bezeichnet, macht Sprache so zu Sprachlichkeit; das entsprechende französische Konstrukt langagéité wäre in seiner Anmaßung und Pedanterie unerträglich - im Deutschen klingt es nicht einmal lächerlich. (Goldschmidt, S. 25f.) Wie weit auch immer man den Deutungen des Autors folgen möchte, erkennbar ist, dass die in der Wortbildung sichtbar werdende Explizitheit - und aus seiner Sicht mangelnde Abstraktion - ein wesentliches Merkmal der Andersheit [! ] des Deutschen ist. Was er damit natürlich schon auch trifft, ist der Sachverhalt, dass sich die kulturpolitisch, aufklärerisch oder national gesinnte Verdeutschung in der Geschichte des Deutschen genau dieser Techniken bedient, und so auch das Gesicht des bürgerlichen Deutsch geprägt hat. 4. … und das Spanische 4.1 Beispielhaft (11) Umweltschutz ist wichtig für die Lebensqualität der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Die Herausforderung besteht darin, den Umweltschutz mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum so zu verbinden, dass auf lange Sicht eine nachhaltige Entwicklung erreicht wird. Die Umweltpolitik der Europäischen Union gründet in der Überzeugung, dass strenge Umweltschutznormen Innovationen und Geschäftsmöglichkeiten stimulieren. Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik stehen in einem engen Zusammenhang. (12) La protección del medio ambiente es esencial para la calidad de vida de las generaciones actuales y futuras. El reto radica en combinarla con un crecimiento económico continuado de manera sostenible a largo plazo. La política ambiental de la Unión Europea se funda en la creencia de que unas normas ambientales rigurosas estimulan las oportunidades de innovación y negocio. Existe una estrecha interrelación entre las políticas económicas, sociales y medioambientales. Beginnen wir auch einmal mit einem Text, der wie die bisherigen aus der sprachlichen Praxis der EU stammt und daher von unserem modernen Alltag spricht. Ludwig M. Eichinger 152 Ganz banal und auf den ersten Blick fällt auf und lässt sich nachzählen: Der spanische Text hat mehr Wörter (75 vs. 55) und etwas weniger Zeichen (einschließlich Leerzeichen 490 vs. 510); damit umfasst das durchschnittliche spanische Wort in etwa 6,5 Zeichen, das deutsche Wort in etwa 9,5. 8 Es ist offenkundig, woher das kommt. Der Grad an komplexen Wörtern im deutschen Text ist wesentlich höher. Daher macht der deutsche Text durchwegs den Eindruck, in kompakten Wörtern das zu kondensieren, worum es geht, um dann darüber Aussagen zu machen. In diesem Kontext haben z.B. auch die Attribute rechts und links vom Nomen dann einen deutlich unterschiedlichen Status, Genitivobjekte sind im Regelfall „rhematischer“, sagen expliziter etwas dazu, als das zumindest ein Großteil der adjektivischen Attribute tut. Das Hinsetzen eines Terminus behauptet zumindest im Grundsätzlichen, dass es sich hierbei um eine semantische Einheit, auf deren einzelne Einheiten man sich weder formal noch inhaltlich so leicht beziehen kann, handelt. Die Setzung des Wortes Umweltschutz an erster Stelle dieses kleinen Textes ohne Artikel verstärkt diesen Effekt noch, während eine Formulierung, die der spanischen Version wörtlich entspräche, wie z.B. der Schutz der Umwelt, das Reden über Umwelt formal wie argumentativ greifbarer und weitere Anknüpfungen leichter macht, für die nicht auch so fest gefügte Formeln vorhanden sind. Ähnliches stimmt für das zweite Kompositum in diesem Bereich; es handelt sich dabei um ein Fahnenwort der Politik, das in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommen ist und sich aufgrund seiner positiven Anmutung und semantischen relativen Offenheit verschiedenen Interpretationen dessen, was die „Qualität des Lebens“ ausmacht, erschließt. Daher ist übrigens gerade eine solche Fügung eher unüblich, man möchte zumindest die Art des Lebens in irgendeiner Weise näher bestimmt haben. So geschieht das ja z.B. bei den klassifikatorisch bestimmenden Adjektiven in dem Genitivattribut, dessen Kern das Substantiv Generationen darstellt. Eigentlich wird hier auch nur nochmals auf etwas hingewiesen, was wir uns textuell auch schon denken könnten, es geht um die im Kontext „einschlägigen“ Generationen, nicht die vergangene, die Nennung erzeugt zudem die gewünschte Zukunftsträchtigkeit der Aussagen. Wie auch immer, die strukturellen Voraussetzungen der beiden Sprachen, ihre Nähe und Ferne zum gemeineuropäischen Bildungswortschatz, aber 8 Fairerweise müsste man noch die schon jeweils um ein Zeichen kürzeren Artikel des Spanischen herausrechnen, aber da es nicht um echte Statistik geht, sei darauf verzichtet. Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 153 eben auch ihre typologischen Optionen verhindern, dass das Spanische das auf dieselbe Weise ausdrücken kann. Wenn man den Text ansieht, ist nicht nur auffällig, dass das Deutsche so viele Komposita hat, sondern vielleicht noch mehr, dass der spanische Text gar keine kennt - auch keine der typisch romanischen Art (sachacorchos ‘zieh (den) Korken’- Korkenzieher; camión cisterna ‘Tankwagen’). Vielmehr müssen im Wesentlichen mehr oder minder als fest geltende „Lokutionen“, also formal bestimmte syntaktische Strukturen diese Stelle einnehmen. Auffällig, und vielleicht durch Textsorte und Übersetzung bedingt, ist der Tatbestand, dass auch von den - zwar geringeren, aber vorhandenen - pränominalen Möglichkeiten des Spanischen keinerlei Gebrauch gemacht wird. Andererseits wird die Rechtserweiterung, wie der zweite Satz unseres Textes zeigt, mit verschiedenen Junktoren außerordentlich intensiv benutzt. 4.2 Und etwas systematischer Um die Möglichkeiten etwas systematischer zu erfassen, sollen zum Abschluss die Verhältnisse in einem längeren Textabschnitt im Hinblick auf die Fragen der auftretenden Wortbildungen angesehen werden. Dabei wird, wie bisher schon, im Prinzip von der Situation im Deutschen ausgegangen. (13) Unsere Zukunft liegt in unserer Hand Der Eckpfeiler der EU -Umweltaktionen ist ein Aktionsprogramm mit dem Titel Umwelt 2010: Unsere Zukunft liegt in unserer Hand, das den Zeitraum 2001 bis 2010 abdeckt. Seine Schwerpunkte sind: - Schutz des Klimas und globale Erwärmung; - Schutz natürlicher Lebensräume und der wildlebenden Tiere und Pflanzen; - Lösung von Umwelt- und Gesundheitsproblemen; - Erhaltung natürlicher Ressourcen und Lösung der Abfallprobleme. Darüber hinaus unterstreicht das Aktionsprogramm die Bedeutung folgender Aspekte: El futuro está en nuestras manos La piedra angular de la acción ambiental de la UE es el Sexto programa de acción de la Comunidad Europea en materia de medio ambiente titulado Medio ambiente 2010: el futuro está en nuestras manos, que cubre el período comprendido entre 2001 y 2010 y hace hincapié en lo siguiente: - Tratamiento del cambio climático y del recalentamiento del planeta. - Protección del hábitat y de la fauna naturales. - Tratamiento de las cuestiones medioambientales y sanitarias. - Conservación de los recursos naturales y gestión de los residuos. Además, el programa de acción hace hincapié en los aspectos siguientes: Ludwig M. Eichinger 154 - Durchsetzung des vorhandenen Umweltrechts; - Einbeziehung von Umweltbelangen auf sämtlichen einschlägigen Gebieten der EU -Politik (z.B. Landwirtschaft, Entwicklung, Energie, Fischerei, Industrie, Binnenmarkt und Verkehr); - Enge Einbindung von Wirtschaft und Verbrauchern bei der Lösung von Umweltproblemen; - Bereitstellung der notwendigen Informationen für umweltfreundliche Entscheidungen; - Stärkung des Bewusstseins dafür, Boden mit Verstand zu nutzen, um natürliche Lebensräume und Landschaften zu erhalten und die Umweltverschmutzung durch Ballungsgebiete zu minimieren. Im Laufe dieses und der fünf vorangegangenen Aktionsprogramme und nach 30 Jahren Normensetzung hat die EU ein umfassendes System für den Umweltschutz aufgebaut, das sich auf unterschiedlichste Fragen erstreckt - von Lärm über Abfall, von der Erhaltung natürlicher Lebensräume bis zu Autoabgasen, von chemischen Stoffen bis hin zu Industrieunfällen, von Badegewässern bis zu einem EU -weiten Notfallinformations- und -hilfsnetz zur Bewältigung von Umweltkatastrophen wie Ölverschmutzungen oder Waldbränden. Erst jüngst wurden Fragen zu den Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die menschliche Gesundheit in einem Aktionsplan „Umwelt und Gesundheit“ aufgegriffen, der sich auf die Jahre 2004-2010 erstreckt. Damit wird die Verbindung zwischen den Politikbereichen Gesundheit - immer stärker von Umweltfaktoren beeinflusst -, Umwelt und Forschung hergestellt. - Cumplimiento de las leyes ambientales vigentes. - Consideración de los efectos en el medio ambiente en todas las políticas pertinentes de la UE (p. ej., agricultura, desarrollo, energía, pesca, industria, mercado interior y transportes). - Participación estrecha de las empresas y los consumidores en la búsqueda de soluciones a problemas ambientales. - Suministro a la población de la información necesaria para tomar decisiones respetuosas con el medio ambiente. - Concienciación de la importancia de utilizar el suelo razonablemente para preservar los hábitats y paisajes naturales y reducir al mínimo la contaminación urbana. Durante el actual programa de acción y los cinco anteriores y después de 30 años de fijación de normas, la UE ha creado un sistema completo de protección del medio ambiente que trata temas muy variados, desde el ruido hasta los residuos y desde la protección del hábitat natural hasta los gases de escape de los vehículos, desde las sustancias químicas hasta los accidentes industriales, desde las aguas de baño hasta una red de emergencia de información y ayuda que cubre toda la UE para hacer frente a catástrofes ambientales como los vertidos de hidrocarburos o los incendios forestales. Las preocupaciones sobre los efectos de la contaminación en la salud de las personas se han abordado más recientemente en un Plan de acción europeo en materia de salud y medio ambiente (2004- 2010), que crea un vínculo entre las políticas sanitaria (los factores medioambientales inciden cada vez más en la salud), ambiental y de investigación. Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 155 Das EU -Recht gewährleistet ein im Großen und Ganzen gleiches Maß an Umweltschutz in der gesamten EU , lässt aber genügend Spielraum, um die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Die Umweltpolitik wird darüber hinaus ständig aktualisiert. So werden derzeit die Vorschriften für Chemikalien überarbeitet, um die die Einzelvorschriften in einem einzigen System für die Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien, dem so genannten REACH -System (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals) zusammenzuführen, dessen zentrale Datenbank von der in Helsinki neu geschaffenen Europäischen Agentur für Chemische Stoffe verwaltet wird. Ziel ist es, die Verunreinigung von Boden, Wasser, Luft und Gebäuden durch chemische Stoffe im Interesse der biologischen Vielfalt und der Gesundheit und Sicherheit der EU - Bürger durch ein System zu vermeiden, das auch die Wettbewerbsfähigkeit der EU -Industrie berücksichtigt. Die gesamte Umweltschutzpolitik basiert auf dem Verursacherprinzip. Der Verursacher muss zum Beispiel zahlen, indem er investiert, um höhere Standards zu erreichen, oder ein System schafft, um Produkte nach Gebrauch zurückzunehmen, wiederzuverwerten oder zu entsorgen. Die Zahlung kann auch in einer Steuer bestehen, die Firmen oder Verbraucher entrichten müssen, wenn sie ein umweltschädigendes Produkt, wie beispielsweise bestimmte Verpackungsarten, benutzen. Als Teil ihrer Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels im Einklang mit dem Kyoto-Protokoll hat die EU das weltweit erste Emissionshandelssystem eingeführt. Die Regierungen der Las normas comunitarias facilitan un nivel de protección más o menos equivalente en toda la UE , pero la política es bastante flexible para poder tener en cuenta las circunstancias locales. El sistema se mantiene también al día constantemente. Por ejemplo, se está procediendo en este momento a una revisión de las normas sobre sustancias químicas para sustituir una legislación atomizada por un único sistema, llamado REACH (siglas de Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals, esto es, registro, evaluación y autorización de sustancias y preparados químicos) mediante bases de datos centrales de las que se encargará una nueva Agencia Europea de Sustancias Químicas, con sede en Helsinki. El objetivo es prevenir la contaminación de la atmósfera, el agua, el suelo y los edificios en beneficio de la biodiversidad y de una mejor salud y mayor seguridad de los ciudadanos de la UE mediante un sistema que también tiene en cuenta la necesidad de la industria comunitaria de seguir siendo competitiva. Toda la política se basa en el principio de quien contamina, paga. Se puede exigir que el contaminador pague mediante las inversiones necesarias para cumplir normas más rigurosas o la creación de un sistema para devolver, reciclar o eliminar los productos después de su uso. El pago puede también ser un impuesto sobre las empresas o los consumidores por la utilización de un producto perjudicial para el medio ambiente, tal como algunos tipos de envase. Como parte de esta estrategia de lucha contra el cambio climático con arreglo al Protocolo de Kioto, la UE ha introducido el primer régimen del mundo de Ludwig M. Eichinger 156 EU -Mitgliedstaaten teilen ihren Industrie- und Energieunternehmen Emissionszertifikate zu, die zur Emission bestimmter Mengen des hauptsächlichen Treibhausgases Kohlendioxid berechtigen. Unternehmen, die nicht alle Zertifikate benötigen, könnten ihre überschüssigen Emissionsrechte an andere Unternehmen verkaufen, die ihre Emissionsgrenzen überschreiten. Unternehmen, die ihre Emissionshöchstwerte überschreiten und zum Ausgleich keine Zertifikate vorweisen können, werden mit schweren Strafen belegt. Die Verpflichtungen des Kyoto-Protokolls gelten nur bis 2012, die Kommission hat jedoch bereits Verhandlungen über die Klimaschutzpolitik nach 2012 eingeleitet. Bei eher potenziellen als nachgewiesenen Umweltgefahren handelt die Europäische Kommission nach dem Vorsorgeprinzip, d.h. sie wird Schutzmaßnahmen vorschlagen, wenn offenbar ein Risiko besteht, selbst wenn wissenschaftlich gesehen keine letzte Gewissheit besteht. comercio de derechos de emisión. Los gobiernos de la UE expiden derechos de emisión a las empresas industriales y energéticas autorizándolas a emitir dióxido de carbono, el principal gas de efecto invernadero, hasta un límite determinado. Las empresas que no usen todos sus derechos pueden vender su excedente a las empresas que hayan superado sus límites de emisión. Se impondrán cuantiosas multas a las empresas que superen sus límites y no posean derechos de emisión para compensar. Las obligaciones derivadas del Protocolo de Kioto sólo rigen hasta 2012, pero la Comisión ya ha puesto en marcha una consulta sobre la política sobre el cambio climático después de esa fecha. Cuando las amenazas ambientales sean más potenciales que probadas, la Comisión Europea adopta un planteamiento que se conoce por el nombre de principio de cautela, por el que se proponen medidas protectoras si el riesgo parece real, aun a falta de una certeza científica absoluta. Wenn man die einander entsprechenden Konstruktionen betrachtet, erkennt man logischerweise, dass es im Spanischen zwei zentrale und offenbar auch in schriftlicher Fachlichkeit akzeptierte Möglichkeiten gibt, Konstruktionen aufzubauen, die von den beiden daran beteiligten substantivischen Lexemen nicht viel mehr sagen, als dass sie etwas miteinander zu tun haben. Da im Spanischen für diese Funktion der pränominale Raum eigentlich nicht zur Verfügung steht - auch wenn dort Adjektive stehen, sind es andere - gibt es zwei Typen von Konstruktionen: die Konstruktion mit der Präposition de, und Konstruktionen mit nachgestellten Zugehörigkeitsadjektiven. Dabei ist die Verwendung der Zugehörigkeitsadjektive als klassenmarkierende „Nominationselemente“ im Deutschen zweifellos weitaus eingeschränkter als im Spanischen. Und wie oben schon angedeutet, findet sich zwischen Komposition und Genitivkonstruktion im Deutschen nicht nur ein formaler, sondern Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 157 auch ein prinzipieller funktionaler Unterschied, dem im Spanischen so nichts entspricht. Die vorherrschende rechts-links-Determinationsrichtung des Spanischen lässt offenbar das doch der - wenn auch reduzierten - Flexion zugewandte „Ende“ des substantivischen Lexems als einen weniger geeigneten Platz erscheinen, um einfach Lexeme antreten zu lassen. Das Deutsche hingegen hat neben der syntaktisch-morphologischen Technik eine davon weitgehend unabhängige Wortbildungstechnik entwickelt. Deren Besonderheit, und das zeigt vielleicht die Kategorie des Fugenelements besonders deutlich, liegt darin, dass hier im eigentlichen Kern nicht Wörter zusammengesetzt werden, sondern Lexeme, die dann erst insgesamt Wortstatus erreichen. Häufigere und irgendwie relevantere dieser Bildungen werden ins Wörterbuch aufgenommen, bei anderen sind wir eigentlich ebenso wie im Spanischen auf die textuelle Einbindung und Üblichkeiten des Gebrauchs angewiesen. Allerdings geben uns die Komposita ihrerseits schon deutliche Hinweise darauf, dass sie als eine - und sei es nur für diesen Text geltende - Benennungseinheit verstanden wissen wollen. Bevor die Analyse etwas genauer ins Einzelne geht, sei einmal zusammengestellt, welche Konstruktionen gewählt werden, wenn im Deutschen Determinativkomposita eintreten (14) Parallelen Umweltschutz protección del medio ambiente Lebensqualität calidad de vida Wirtschaftswachstum crecimiento económico continuado de nachhaltiges manera sostenible a largo plazo Umweltpolitik política ambiental Umweltschutznormen normas ambientales Geschäftsmöglichkeiten oportunidades de innovación y negocio Wirtschafts-, Sozial- políticas económicas, sociales y medioam- und Umweltpolitik bientales Eckpfeiler piedra angular EU-Umweltaktionen acción ambiental de la UE Aktionsprogramm programa de acción Zeitraum período Lebensräume hábitat Abfallprobleme gestión de los residuos Umweltrechts leyes ambientales Umweltbelangen efectos en el medio ambiente Umweltproblemen problemas ambientales Landschaften paisajes naturales Ludwig M. Eichinger 158 Umweltverschmutzung contaminación urbana durch Ballungsgebiete Normensetzung fijación de normas Autoabgasen gases de escape de los vehículos Industrieunfällen accidentes industriales Badegewässern las aguas de baño EU-weiten Notfallinformared de emergencia de información y ayuda tions- und -hilfsnetz que cubre toda la UE Umweltkatastrophen catástrofes ambientales Ölverschmutzungen vertidos de hidrocarburos Waldbränden incendios forestales Umweltverschmutzung contaminación Politikbereiche políticas Umweltfaktoren factores medioambientales Umweltschutz protección Umweltpolitik sistema Chemikalien sustancias químicas Einzelvorschriften legislación atomizada Datenbank bases de datos centrales EU-Bürger ciudadanos de la UE Wettbewerbsfähigkeit industria comunitaria de seguir siendo der EU-Industrie competitiva Umweltschutzpolitik política Verursacherprinzip principio de quien contamina, paga Umweltschädigendes perjudicial para el medio ambiente Verpackungsarten algunos tipos de envase Bekämpfung lucha Klimawandels cambio climático Emissionshandelssystem régimen del mundo de comercio de das weltweit erste derechos de emisión EU-Mitgliedstaaten UE Industrie- und Energieempresas industriales y energéticas unternehmen Emissionszertifikate autorizándolas Treibhausgases gas de efecto invernadero Emissionsgrenzen límites de emisión Verpflichtungen des obligaciones derivadas del Protocolo de Kyoto-Protokolls Kioto Umweltgefahren amenazas ambientales Vorsorgeprinzip principio de cautela Schutzmaßnahmen medidas protectoras Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 159 Wenn man diese Parallelen etwas nach der Struktur der spanischen Entsprechung sortiert, sieht man, dass es im Wesentlichen zwei Typen komplexer Strukturen sind, die hier im Spanischen eintreten; dazu kommt der Fall, dass dem Spanischen ein entsprechendes Simplex zur Verfügung steht. Wie nicht anders zu erwarten, sind es die für die romanischen Sprachen insgesamt typischen {de}-Konstruktionen, in denen die Junktion der Elemente geleistet wird, die im Deutschen als substantivische Erstglieder von Determinativkomposita erscheinen. (15) Komposita vs. De-Phrasen Umweltschutz protección del medio ambiente Lebensqualität calidad de vida Geschäftsmöglichkeiten oportunidades de innovación y negocio EU-Umweltaktionen acción ambiental de la UE Aktionsprogramm programa de acción Abfallprobleme gestión de los residuos Normensetzung fijación de normas Autoabgasen gases de escape de los vehículos Badegewässern aguas de baño EU-weiten Notfallinforred de emergencia de información y ayuda mations- und -hilfsnetz que cubre toda la UE Ölverschmutzungen vertidos de hidrocarburos Datenbank bases de datos centrales EU-Bürger ciudadanos de la UE Verursacherprinzip principio de quien contamina, paga Verpackungsarten tipos de envase Emissionshandelssystem régimen del mundo de comercio de das weltweit erste derechos de emisión Emissionsgrenzen límites de emisión Vorsorgeprinzip principio de cautela Dabei ist es ganz offenkundig, dass die Festigkeit, der Lexikalisierungsgrad auf beiden Seiten recht unterschiedlich ist. So gibt es erkennbar {de}- Phrasen, die in ihrer Form die Lexikalisierung erkennen lassen, nicht zuletzt, da sie gemeinsam bzw. in Konkurrenz mit entsprechenden normalen syntaktischen Fügungen verwendet werden können. Dabei sind, wie die folgenden Belege zeigen, in denen jeweils die „syntaktische“ Alternative zu den oben zitierten Textbelegen dokumentiert ist, die Verwendungen mehr oder minder nahe beieinander. Jedenfalls gibt es in beiden Sprachen eine vergleichbare Ludwig M. Eichinger 160 Menge von festen, teils terminologisierten Verbindungen. Es geht erkennbar darum, mit den Mitteln der jeweiligen Sprache das Generische des Bezugs zwischen den beiden nominalen Elementen klarzumachen. (16) la calidad de la vida en Siena. Siena tiene la ventaja de tener una alta calidad de vida, factible gracias a la posiciòn ùnica de la ciudad y de la historia de la ciudad. ( www.aboutsiena. com / sobre siena / calidad de la vida en - Siena.html , Stand: November 2007) (17) En términos reales esta ausencia se observa en la desaparición en la propuesta del nuevo programa de la acción anterior 3.2, Capital del futuro, que fomenta la realización de proyectos por parte de antiguos voluntarios del Servicio voluntario europeo ( www.europarl.europa.eu / meetdocs / 2004_2009 / documents / pa / 567 / 567548 / 567548es.pdf , Seite November 2007 nicht mehr online) (18) a criterios como la calidad de las aguas del baño; ( www. getxo.net / castellano / noticias / medioambiente / getxo _medio015.asp? MNU_id=245 , Stand: November 2007) Am anderen Ende stehen Fügungen, die sowohl im Spanischen als rein syntaktische Konstruktionen erscheinen, und die ohne größere Probleme auch im Deutschen syntaktisch hätten realisiert werden können (vgl. EU-Bürger). Die andere systematische Möglichkeit, die der Verwendung deutscher Nominalkomposita entspricht, stellen Fügungen mit relationalen Adjektiven dar, klassische Mittel nominaler Aggregation in Sprachen, die nicht so kompositionsfreundlich sind. (19) Komposita vs. Adjektivkombinationen Wirtschaftswachstum crecimiento económico continuado de nachhaltiges manera sostenible a largo plazo Umweltpolitik política ambiental Umweltschutznormen normas ambientales Wirtschafts-, Sozial- políticas económicas, sociales y und Umweltpolitik medioambientales Eckpfeiler piedra angular EU-Umweltaktionen acción ambiental de la UE Umweltrechts leyes ambientales Umweltproblemen problemas ambientales Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 161 Landschaften paisajes naturales Umweltverschmutzung contaminación urbana durch Ballungsgebiete Industrieunfällen accidentes industriales Umweltkatastrophen catástrofes ambientales Waldbränden incendios forestales Umweltfaktoren factores medioambientales Chemikalien sustancias químicas Einzelvorschriften legislación atomizada Wettbewerbsfähigkeit industria comunitaria de seguir siendo der EU-Industrie competitiva Klimawandels cambio climático Industrie- und Energieempresas industriales y energéticas unternehmen Umweltgefahren amenazas ambientales Schutzmaßnahmen medidas protectoras Nun sind in bestimmten Fällen auch im Deutschen solche Konstruktionen möglich, etwa in folgenden Fällen, die den in unserem Text gewählten Komposita entsprechen könnten: (20) Bronchitis und Pneumonie durch chemische Substanzen ( www. cis.uni muenchen.de / med / J60.htm , Stand: Oktober 2007) (21) ein klimatischer Wandel und die Zerstörung von Ackerbaukulturen ( www.br-online.de / wissen-bildung / collegeradio / medien / ethik/ krieg / hintergrund / , Stand: November 2007) Allerdings schwenkt im Deutschen die Bedeutung häufig recht bald in Richtung qualitatives Adjektiv, so dass auf jeden Fall der Beleg in (22) beschreibender klingt und der in (23) klassifizierender: (22) Natürliche Landschaften (Wiesen, Wälder, Steppen) werden in Oberflächen aus Stein oder Beton umgewandelt. ( www .atmosphere.mpg.de/ enid/ Klima_kurz_gefasst / -_Stadtklima_2l7.html , Seite November 2007 nicht mehr online) (23) bedeutende deutsche Naturlandschaften. ( www . bmu . de / naturschutz _ biologische _ vielfalt / aktuell/ doc/ 37459.php , Stand: November 2007) Ludwig M. Eichinger 162 In manchen Fällen ist im Deutschen ausschließlich die wertende Variante realisiert, etwa bei atomisiert (s. (24)); entsprechende Verwendungen scheinen allerdings auch dem Spanischen nicht völlig fremd zu sein, wie die Apostrophierung und die graduierende Partikel in (25) zeigen: (24) durch und durch atomisierte und individualistische Gesellschaft ( www.sachsenpublizistik.de/ lb_huebsch.htm , Seite November 2007 nicht mehr online) (25) Con respecto al tema legal nos enfrentamos con una legislación muy „atomizada“. ( www.eco2site.com/ ISO%2014000/ sade .asp , Stand: November 2007) Das Problem, das das Deutsche hier hat, hängt eindeutig damit zusammen, dass Bildungen mit einer entsprechenden „eurolateinischen“ Basis fehlen, bzw. nur in ganz spezifischen fachlichen Zusammenhängen gängig sind, vgl. den medizinischen bzw. Marketing-Text in (26) und (27): (26) bei ambientaler Ozonkonzentration gefunden. ( edoc.huberlin . de / dissertationen/ otto-knapp-ralf-2001- 06-29/ HTML/ ottoknapp-ch1.html , Stand: November 2007) (27) Industrielle Unternehmen erbringen die wesentliche Wertschöpfung im Bereich der Fertigung. ( madoc.bib.uni-mannheim.de de/ madoc/ frontdoor.php? source_opus=1401 , Stand: November 2007) Vor dem Hintergrund dieser formalen und funktionalen Verteilung ist es nicht überraschend, dass rektionale Bedingungen, die vom Kopf der Konstruktion ausgehen, zwar im Deutschen in der Komposition aufgehen können, im Spanischen aber mit entsprechenden Junktoren entfaltet werden müssen. (28) Komposition vs. sonstige Präpositionen Umweltbelangen efectos en el medio ambiente Umweltschädigendes perjudicial para el medio ambiente Unseren Vorstellungen vom Deutschen entspricht es durchaus, wenn Texte stärker als etwa im Spanischen durch Komposition geprägt werden. Das hat unter anderem die folgenden drei Gründe: zum einen existiert so etwas die linksdeterminierende Komposition im Spanischen allenfalls als marginales Muster, andererseits bringt es die eher derivative Struktur romanischer Wortbildung mit sich, dass manchen deutschen Wortbildungen spanische Derivate bzw. simplicia entsprechen, was die Komplexität der Nominalphrasen redu- Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 163 ziert. Dazu kommt als dritter Punkt und als eine Art taktischer Folge aus diesen strukturellen Vorgaben der Tatbestand, dass die semantische Normalzugriffsebene im Deutschen eher durch Komposita gekennzeichnet wird, d.h. auch durch eine Konstruktion höherer semantischer Differenziertheit, während im Spanischen an dieser Stelle mehr dem Kontext überlassen werden kann, um die Länge der zentrifugalen Einheiten rechts vom Nomen, wo ja auch noch die Adjektive stehen, im Griff zu halten. Es mag das bei unserem Paralleltext, der parallele Übersetzungstiefe nahelegt, sogar noch eher unterrepräsentiert sein, man sollte in unabhängig voneinander entstandenen Texten hier eine größere Differenz erwarten. (29) Komposition/ Derivation vs. Simplex Zeitraum período Lebensräume hábitat Umweltverschmutzung contaminación Politikbereiche políticas Umweltschutz protección Umweltpolitik sistema Umweltschutzpolitik política Bekämpfung lucha EU-Mitgliedstaaten UE Das gilt gerade auch deswegen, weil die strukturellen Bedingungen des Spanischen zur Folge haben, dass in anderen Fällen Dinge, die in deutschen Komposita vage verdichtet werden können, explizit gemacht werden müssen, so dass sich rechts vom Nomen tendenziell ein hoher Grad an Komplexität ergibt. Das betrifft auch sonstige Explizitheitsnotwendigkeiten, vgl. die Entsprechung zu Treibhausgas, oder die in zentrifugalen Sprachen immer häufigeren Verdeutlichungen durch partizipiale Konstruktionen: obligaciones derivadas del Protocolo de Kioto. Letztlich gehört hierher auch eine eher phraseologische Variante für Verursacherprinzip: principio de quien contamina, paga. (30) Komposition/ Derivation vs. Sonstige Junktion Wirtschaftswachstum crecimiento económico continuado de nachhaltiges manera sostenible a largo plazo EU-weiten Notfallinforred de emergencia de información y mations- und -hilfsnetz ayuda que cubre toda la UE Verpflichtungen des obligaciones derivadas del Protocolo de Kyoto-Protokolls Kioto Ludwig M. Eichinger 164 5. Folgerungen In einem Text wie dem vorliegenden, der weithin zu einer ähnlichen Kondensation der Information in den Nominalphrasen drängt, lässt sich gut vergleichen, was passiert, wenn Sprachen einem solchen Druck ausgesetzt sind. Sie reagieren logischerweise mit ihren Mitteln. Unter den Bedingungen relativ hoher nominaler Verdichtung greift hier das Deutsche mit hoher Präferenz zu der formal weithin merkmallosen Lexemkombinatorik der Komposition. In gewissem Umfang stellt die Attribution mit Zugehörigkeitsadjektiven eine Ergänzung dar, die aber vor allem im „indigenen“ Wortschatz des Deutschen relativ beschränkt ist und eher eine Domäne des europäisch-eurolateinischen Bildungswortschatzes darstellt. Das Spanische hat bei Berücksichtigung der typologischen Grundlagen zwei analoge Muster anzubieten, einerseits die lexemverknüpfende generische {de}-Konstruktion, die man als strukturelles Äquivalent der Komposition ansehen kann, und zum anderen eine weitaus flexiblere Technik der relationalen adjektivischen Attribution. Ergänzt wird dieses System in beiden Fällen einerseits durch die klassifikatorische Verdichtungsleistung in der Derivation - und in geringerem Ausmaß in Simplicia entsprechender differenzierter Bedeutung - zum anderen durch mehr oder minder fließende funktionale Übergänge zu nicht lexematischen nominalen Attributtypen. Am strukturell unauffälligsten ergibt sich dieser Übergang bei den Genitivattributen des Deutschen bzw. der {de}-Konstruktion nicht generischen Charakters im Spanischen. Wegen der zentrifugalen Charakteristik der spanischen Nominalphrasen haben prädikatshaltige Attribuierungen einen zentraleren und im Zweifelsfall weniger rhematisch akzentuierten Charakter als im Deutschen. Hier gibt es im Spanischen - im Bereich der Partizipien - dann eine dem Deutschen so nicht zur Verfügung stehende Differenzierung. 6. Literatur Askedal, John Ole (2000): Das Deutsche als strukturell europäische Sprache. In: Gardt, Andreas (Hg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin/ New York, S. 385-418. Brückner, Dominik (2006): Etymologie vs. Volksetymologie - Ein Fall für die Sprachkritik? Überlegungen am Beispiel „Habseligkeiten”. In: Muttersprache 116, 2, S. 140-146. Casado Velarde, Manuel/ González Ollé, Fernando (1992): Spanisch: Wortbildungslehre. Formación de palabras. In: Holtus, Günter/ Metzeltin, Michael/ Schmitt, Christian (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Bd. VI, 1: Aragonesisch/ Navarresisch, Spanisch, Asturianisch/ Leonesisch. Tübingen, S. 91-109. Vom deutlichen Sagen und kurzen Andeuten 165 Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Eichinger, Ludwig M. (2003): Natürlichkeit, Sprachtyp und kulturelle Erwartungen. In: Jahrbuch DaF 29, S.193-219. Eichinger, Ludwig M. (2005): Von Lieblingswörtern und deutscher Seelenbefindlichkeit. In: Limbach, Jutta (Hg.): Das schönste deutsche Wort. Eine Auswahl der schönsten Liebeserklärungen an die deutsche Sprache - zusammengestellt aus den Einsendungen zum internationalen Wettbewerb „Das schönste deutsche Wort“. Ismaning, S.67-70. Eichinger, Ludwig M. (2007a): Gibt es einen unbestimmten Artikel im Plural - und warum nicht? In: Marillier, Jean-François/ Dalmas, Martine/ Behr, Irmtraud (Hg.): Text und Sinn. Studien zur Syntax und Deixis im Deutschen und Französischen. Festschrift für Marcel Vuillaume zum 60. Geburtstag. (= Eurogermanistik 23). Tübingen, S. 25-41. Eichinger, Ludwig M. (2007b): Warum komplexe Verben bedeuten, was sie bedeuten. In: Kauffer, Maurice/ Métrich, René (Hg.): Verbale Wortbildung im Spannungsfeld zwischen Wortsemantik, Syntax und Rechtschreibung. (= Eurogermanistik 26). Tübingen, S. 59-71. Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht (2006): Flexion in der Nominalphrase. In: Ágel, Vilmos/ Eichinger, Ludwig M./ Eroms, Hans-Werner et al. (Hg.): Dependenz und Valenz. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 2. Halbbd. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) 25.2). Berlin/ New York, S. 1049-1065. García Lozano, Francisco (1989): Wortbildung. In: Cartagena, Nelson/ Gauger, Hans- Martin (Hg.): Vergleichende Grammatik Spanisch-Deutsch. Teil 2. Mannheim/ Wien/ Zürich, S. 73-330. Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache. Frankfurt a.M. Rainer, Franz (1993): Spanische Wortbildungslehre. Tübingen. Thiele, Johannes (1992): Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig/ Berlin. Martina Emsel Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik In Gesamtdarstellungen zur Wortbildung von Einzelsprachen findet sich in den meisten Fällen eine Gliederung nach den zentralen Wortbildungsarten, die sich am morphologischen Inventar und dessen Kombinationsmöglichkeiten orientieren. Ausgehend davon erfolgt eine Spezifizierung nach den Zielwortarten (Donalies 2002, Eichinger 2000). Die Ausgangswortarten werden natürlich immer als konstitutives Merkmal berücksichtigt, haben aber eher nachrangig strukturierenden Einfluss auf die Gesamtdarstellung, meist nur bei der Komposition. Eine stärker an den Zielwortarten orientierte Darstellung findet sich bei Fleischer (Fleischer 1969, überarb. 1974 und folgende) sowie Fleischer/ Barz (1995), wo nach einer Einführung zu Grundsätzen und Grundbegriffen der Wortbildung die Zielwortarten mit ihren unterschiedlichen Bildungsmodellen im Vordergrund stehen. Diesem Prinzip folgt auch Thiele bei der Darstellung zur französischen (Thiele 1981) und spanischen (1992) Wortbildung. Bei einer Tagung zur Wortbildung des Deutschen außerhalb dieses Sprachraums - wie 2006 in Santiago de Compostela - wird deutlich, dass Darstellungen zur Wortbildung teilweise sehr unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden müssen. Die Thematik wird demzufolge unter verschiedenem Blickwinkel betrachtet, sei es bedingt durch den eigenen sprachlichen Hintergrund oder die jeweils vertretenen Forschungs- und Ausbildungsprofile: Es ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen - germanistischer Linguistik als muttersprachbezogener Disziplin mit Deutsch als Objektsprache, - Fremdsprachenvermittlung für die Sprachrezeption und -produktion in der individuellen Kommunikation mit Deutsch als Fremdsprache und - Translation mit Deutsch als Arbeitssprache bzw. Arbeitsmittel in der zweisprachig vermittelten Kommunikation und den damit in Verbindung stehenden unterschiedlich ausgeprägten Faktoren bei aktiver und passiver Sprachkompetenz sowie einbezogenem Textmaterial allgemein (vgl. Emsel 2007). Martina Emsel 168 In dieser Konstellation bestätigt sich die von Erben formulierte Zielstellung: Es scheint besonders wichtig, zur funktionalen Betrachtungsweise hinzulenken, welche die funktionalen Zusammenhänge zwischen verschiedenartigen sprachlichen Ausdrucksalternativen wahrzunehmen vermag und konkurrierende Wortbildungsmittel von einem Bezugspunkt der Leistung her überschaubar macht. (Erben 2000, S. 7). Bei unseren Überlegungen geht es allerdings nicht nur um formale Vielfalt für einzelne sprachliche Funktionen oder funktionale/ semantische Vielfalt einzelner Formative oder Bildungsmodelle, sondern um die Einbettung von Wortbildung in einen allgemeinen kommunikativen Kontext, der ihre Potenzen - und auch Grenzen - in den Beziehungen zwischen Einzelsprachen deutlicher zum Vorschein bringt. Sprache als spezifisches Mittel der menschlichen Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich um ein intern und extern strukturiertes Zeichensystem mit einem hohen Grad an Abstraktion und Komplexität handelt. Ausgehend von der unterschiedlich stark ausgeprägten Differenzierung der Einzelsprachen lassen sich in deren inhaltlichen und formalen Systemen universelle, übergreifende und singuläre Merkmale ausmachen, die in ein kommunikativ orientiertes Modell der Textgenerierung einbezogen werden. Das Modell lehnt sich an den von Dik (1983) skizzierten Aufbau einer funktionalen Grammatik an, um die Entstehung und Verwendung komplexer Wortstrukturen im Sprachsystem zu lokalisieren. Die Verwendung der Lexeme im konkreten Satz bzw. Text soll nur im Ansatz betrachtet werden. Den Ausgangspunkt für dieses Modell der Textgenerierung bildet jegliche Form von humaner Interaktion, die zum Erwerb bzw. der Erweiterung von Wissen und Erfahrung führt (A). In diesem Sozialisationsprozess entstehen konkrete Situationen, aus denen sich ein Kommunikationsbedürfnis ergibt. Die jeweilige Situation bedingt gleichzeitig eine Festlegung des Kommunikationsinhaltes (B). Dieser Kommunikationsinhalt wird über eine Abfolge von monologen oder häufiger noch dialogen Äußerungen realisiert. Jede Teiläußerung, sei sie nun eine initiierende oder replizierende Aussage, ist bereits in sich strukturiert, jedoch noch ohne konkreten Denotatsbezug. Diese Struktur verstehen wir als eine variable Abfolge von Sinneinheiten, denen jeweils eine bestimmte Funktion in der Aussage zugewiesen ist. Mit anderen Worten: Die Grundlage jeder Äußerung bildet ein situatives Modell, das als universell oder zumindest übereinzelsprachlich charakterisiert werden kann (C) (siehe Anhang, Abbildung 1). Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 169 Die Generierung der Äußerung vollzieht sich ab der nächsten Phase im Rahmen einer konkreten Einzelsprache, was aber Analogien bei enger miteinander verwandten Sprachen zunächst nicht ausschließt. Die funktional markierten Aussageelemente werden hinsichtlich ihres Denotatsbezuges konkretisiert, es erfolgt eine Auswahl von lexikalischen Basiselementen. Lexikalische Basiselemente weisen sprachspezifisch und zum Teil auch sprachübergreifend bei den Simplizia, d.h. den nicht abgeleiteten Lexemen, eine bestimmte Korrelation von kategorieller Grundbedeutung und syntaktischer Kategorie auf: die Bezeichnungen für Gegenstände und abstrakte Sachverhalte sind in erster Linie Substantive, Eigenschaften werden durch Adjektive zum Ausdruck gebracht und für Tätigkeiten oder Vorgänge stehen Verben zur Verfügung, zur Markierung von Relationen die Präposition (D). Dik (1983, S. 4) bezeichnet dieses Inventar der „fundamentalen Prädikate“ oder „nichtabgeleiteten Inhaltselemente“ als das „Lexikon der Funktionalen Grammatik“. Durch die syntaktischen Kategorien stehen die einzelnen Lexeme untereinander in einem hierarchischen Verhältnis, bei denen auf der Satzebene das Verb über Valenzen vor allem die quantitativen Möglichkeiten der Aussagestruktur bestimmt, während das Substantiv entscheidend für die qualitativen Kriterien bei der Auswahl der Aussageelemente ist, d.h. den entscheidenden Bezugspunkt für die semantische Kompatibilität darstellt. Die für eine Aussage relevanten Akzente liegen auf der Kategorie Substantiv, von der begleitende Kategorien wie Adjektiv und Verb in ihrer konkreten Realisierung bestimmt oder zumindest eingeschränkt werden. So hängt die Entscheidung zwischen den Verben essen und fressen im Deutschen in der stilistisch neutralen Variante davon ab, ob in der Agensposition Bezug auf ein menschliches oder tierisches Lebewesen genommen wird. Oder die unmarkierte Farbbezeichnung graugelb wäre mit Bezug auf menschliche Haare eher aschblond oder für Pferde falb. Der Sprecher kann im konkreten Fall in einer sprachlichen Äußerung den einzelnen Aussageelementen aber auch ein Gewicht beimessen, das von dem der lexikalischen Basiskategorie abweicht. Dazu nimmt er eine Abstufung über die syntaktischen Kategorien vor, d.h. die Basislexeme können auf ihre Basismorpheme reduziert und mit morpholexikalischen Mitteln in konkrete Lexikoneinheiten der gewünschten Wortart überführt werden (bei Dik „Regelhafte Bildung abgeleiteter Prädikate“; Dik 1983, S. 4). Dabei werden akzentuierte Teile der Aussage in der dominierenden Kategorie Substantiv realisiert - sei es, weil sie als Primärsubstantiv lexikalisiert sind oder indem sie Martina Emsel 170 über Wortbildungsmittel in die Kategorie Substantiv überführt werden. Diese Transformation kann durch einfache Nominalisierung erfolgen, ggf. unter Hinzufügung wortbildender Affixe, oder als Funktionsverbgefüge wie z.B.: schön die Schönheit essen das Essen sich freuen mit Freude, Freude zeigen Untergeordnete Aussageelemente liegen in nicht substantivischen Wortarten (Adjektiv, Verb) vor bzw. werden durch Ableitung in diese umgewandelt, (als Substantiv) in die determinierende Position in einem Kompositum verlagert (E) oder durch Proformen ersetzt: etw. mit Gold belegen etw. vergolden der Ring aus Gold der Goldring Die Wortbildung umfasst somit die verschiedenen auf der Ebene E liegenden Möglichkeiten, auf deren inhaltliche Struktur wir nachfolgend noch eingehen werden. In der Aussage können jedoch nicht nur die einzelnen Elemente unterschiedlich stark akzentuiert, sondern auch in ihrem Zusammenhang aus einer subjektiven Sichtweise dargestellt werden. Dik verweist darauf, daß die Ordnung von Prädikat und Argumenten im Prädikatsmuster nicht festgelegt ist [...]. Die eigentliche Ordnung der Konstituenten wird erst viel später durch Ordnungsregeln festgelegt. (Dik 1983, S. 4). Diese Perspektivierung der Äußerung wird nachrangig in Form einer bestimmten Satzstruktur realisiert (F). Dabei werden weitere strukturelle lexikalische Elemente wie Hilfs- oder Modalverben, Präpositionen oder Partikel hinzugefügt. Den Abschluss dieses Prozesses bildet die Erweiterung bzw. Weiterentwicklung der Äußerung im Rahmen eines monologischen oder dialogischen Textes durch Wiederaufnahme einzelner Elemente und deren Einbettung in neue Aussagen, wodurch die für die Textkohärenz erforderlichen Isotopieketten entstehen (G). Das Modell bildet die Grundlage für die These, dass bei der Bildungsmotivation komplexer Wortstrukturen, darunter auch der denominalen Verben, von einer Funktionsgliederung der intendierten Aussage auszugehen ist. Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 171 Bei einer Analyse der Beschreibungen des inhaltlichen Potenzials von Wortbildungen kristallisieren sich in den drei zentralen Wortbildungsarten zuerst einmal zwei Schwerpunkte heraus: 1) die semantische Modifikation, im Wesentlichen verstanden als Addition der Bedeutung der Wortbildungskonstituenten, meist unter Beibehaltung der Wortart und 2) die syntaktische Modifikation, d.h. die Änderung der Wortart, bei der im Wesentlichen die Bedeutung beibehalten wird. Die Wortbildungsmodelle zu den beiden Motivationssträngen sind (mit unterschiedlichen Gliederungsansätzen) relativ gut beschrieben. Die Beschreibung der Affixe ist sehr detailliert, da das Inventar formal überschaubar ist, einschließlich der Übergangsformen von Komposition zu Affigierung (Bedeutungsverschiebung des reihenbildenden Morphems) bzw. ungeachtet der Diskussion (sowohl zum Deutschen als auch zum Spanischen) über die Abgrenzung oder Zuordnung von Präfigierung und Komposition. Die den Veränderungen zugrunde liegenden Kategorien - insbesondere bei den syntaktischen Kategorien - sind ebenfalls begrenzt und vor allem in ihrer Terminologie etabliert. Daneben gibt es aber weitere Wortbildungsmodelle, bei denen traditionell meist entweder von der Addition der Bedeutung der Wortbildungskonstituenten oder von angenommenen syntaktischen Kategorien und Strukturen von Matrixsätzen ausgegangen wird (Laca 1986). Mitunter wird lediglich auf Sprachkompetenz oder Kontextinformationen verwiesen. Bei den im Deutschen hochproduktiven Determinativkomposita nimmt Erben inhaltlich keine weitere Untergliederung vor, die über den Bezug zu den konstituierenden Wortarten und daraus ableitbaren Modellsätzen hinausgeht: Das richtige Verständnis sichert bei eingebürgerten Zusammensetzungen, deren Wortinhalt und Sachbezug eindeutig festgelegt ist, die Sprach- und Sachkenntnis des Hörers (Lesers) [...]. Bei fachsprachlichen Komposita bedarf es natürlich sogar zusätzlicher Fachkenntnisse [...]. Noch nicht eingebürgerte, erstmals gehörte Komposita wird der Hörer daher vornehmlich aus der meistausgebauten semantischen Nische der Zusammensetzungen mit dem betreffenden Grundwort zu verstehen suchen, sofern ihm nicht Situation oder Kontext, die freilich gerade zum Verständnis von Augenblickskomposita oft wesentlich beitragen, einen anderen Hinweis geben. (Erben 2000, S. 64ff.) Martina Emsel 172 Dies greift meines Erachtens angesichts der sehr komplexen Bedeutung dieser Bildungen zu kurz. Das macht sich insbesondere dann bemerkbar, wenn es nicht darum geht, die Strukturen der eigenen Sprache, d.h. der Muttersprache, zu behandeln, bei der eine Grundkompetenz zur Bedeutungsanalyse vorausgesetzt werden kann, sondern wenn es sich um die Strukturen einer Fremdsprache handelt, deren Vermittlung zur besseren Beherrschung dieser Sprache führen soll. Analog ist die Situation eines Übersetzers, der keinen Einfluss auf die Produktion und damit auf die lexikalische Struktur des Ausgangstextes hat und in den meisten Sprachkombinationen kurzfristig mit ihm unbekannten fachlichen Inhalten und deren sprachlicher Realisierung in Form von Neologismen konfrontiert wird. Teilweise erfolgt bei der Beschreibung der syntaktischen Veränderungen in der Wortbildung eine Ergänzung durch eine mehr oder weniger umfangreiche Auflistung weiterer semantischer Merkmale, die zwischen den einzelnen Darlegungen kaum Vergleiche zulassen. Die jeweiligen Kategorien werden als etablierter Kanon angenommen, demzufolge nicht definiert, oder sie beziehen sich nur auf die zur Illustration herangezogenen Beispiele. Die Anzahl variiert bzw. es wird explizit darauf verwiesen, dass es sich um eine offene Liste handelt. Besonders heterogen ist die Darstellung zur Verbbildung und es ist für das Verständnis der Bildungsmuster nicht immer hilfreich, wenn formale Kriterien dominieren, Modelle mit Präfix grundsätzlich von denen ohne Präfix getrennt werden und dabei teilweise unberücksichtigt bleibt, ob die Präfigierung zur Modifizierung eines bereits vorhandenen Verbs dient oder durch die gleichzeitige Präfigierung und Suffigierung eines lexikalischen Basismorphems - die so genannte parasynthetische Bildung - überhaupt erst ein Verb entsteht. Die an generativen syntaktischen Modellen orientierte Diskussion von Donalies (2002, S. 117ff.) zur Bedeutung komplexer Verben ist dagegen schwer nachvollziehbar, wenn dem Präfix sowohl Determinansals auch Determinatumfunktion zuerkannt wird und wenn formal unter den jeweiligen Präfixen die deverbalen (beladen), deadjektivischen (betäuben) und desubstantivischen (bemuttern) Bildungen zusammengefasst werden. Bei der Unterscheidung der Grundmotivationen für komplexe Wortstrukturen gehe ich deshalb von der These aus, dass es neben, oder besser, zwischen den beiden oben genannten Grundtypen der Wortbildungsmotivation einen eigenständigen Typ III gibt, bei dem neben der Bedeutung der morphologi- Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 173 schen Konstituenten zusätzlich eine oder mehrere Aussagefunktion(en) integriert werden. Die Annahme einer Aussagefunktion kann mit einem Matrixsatz erklärt werden, ist aber genauso wenig morphologisch markiert wie eine mögliche syntaktische Funktion. Die Aussagefunktion ist notwendigerweise Bestandteil einer jeden Aussage und damit auch eines jeden nominalen Teils der Aussage. Sie hängt jedoch unseres Erachtens nicht - wie bei Erben (2000, S. 77) „in semantischer Hinsicht von der Bezeichnungsklasse des BS (Basissubstantivs)“ ab. Das wird besonders in den Fällen deutlich, wo vom gleichen Basisnomen abgeleitete und sogar formal identische Lexeme mit unterschiedlichen Aussagefunktionen belegt sind, vgl. Dt. köpfen 1. privativ (bei Lebewesen, metaphorisch auch bei Gegenständen) 2. instrumental (Ballsportarten) In den Abbildungen 2 und 3 (siehe Anhang) sind die Wortbildungsarten für die Sprachen Spanisch und Deutsch schematisch den drei oben beschriebenen Grundmotivationen gegenübergestellt. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht zum einen darin, dass bereits auf einer sehr abstrakten Ebene neben zahlreichen Gemeinsamkeiten grundsätzliche Unterschiede zwischen Sprachsystemen deutlich werden. So ist z.B. das Feld „Präfigierung + syntaktische Modifikation“ für den Wechsel von intransitiven zu transitiven Verben im Deutschen (grüßen/ begrüßen, malen/ bemalen, messen/ vermessen usw.) in den romanischen Sprachen nicht belegt. Auf der anderen Seite bildet das Deutsche im Vergleich zu romanischen Sprachen oder dem Englischen keine einfachen Relationsadjektive - mit Ausnahme von Fremdwörtern und geografischen Namen als Basis - weil es sich dazu der Komposition bedienen kann (Emsel 1993). Die hier im Mittelpunkt stehende Annahme von Aussagefunktionen als Bestandteil von Wortbildungen ermöglicht eine stärkere inhaltliche Differenzierung als die vergleichsweise abstrakten syntaktischen Kategorien wie „Objekt“. Entscheidender ist aber, dass sie nicht an ein konkretes Sprachsystem gebunden und damit für sprachvergleichende Analysen und andere Darstellungen besonders geeignet sind. Bisherige Darstellungen berücksichtigen einen den Aussagefunktionen vergleichbaren Aspekt mitunter bei einzelnen Wortbildungsmodellen, wenn auch nach unterschiedlichen Kriterien und daher mit unterschiedlicher Hierarchie und Ausdifferenzierung. Da formale Merkmale kaum eine Rolle spie- Martina Emsel 174 len und die angewandten Kriterien als definiert vorausgesetzt werden, sind Vergleiche letztendlich nur über die zur Illustration angeführten Beispiele möglich. Erben (2000, S. 75ff.) unterscheidet sieben produktive Ableitungsmuster, bei denen jeweils eine konkrete Bezeichnungsklasse mit einer elementaren Prädikation verknüpft wird, verweist dabei aber auch auf die bei Kaliuš enko (1988) zu findenden fünf Grundtypen, die insgesamt 26 bzw. 28 spezielle Arten umfassen. Bei Fleischer/ Barz (1995, S. 306) erfolgt nach einem Vorschlag von Marchand (1964, S. 105ff.) „eine semantische Gruppierung desubstantivischer Verben nach den morphosyntaktischen Merkmalen des Basissubstantivs in einem weitgehend äquivalenten Satz [...]“ und zwar in Verben aus Nominativ-, Akkusativ- und Präpositionalsyntagma. Diese drei Typen unterteilen sich insgesamt sowohl bei der einfachen als auch bei der Präfixkonversion nach Prädikaten in zehn Subtypen. Unter Verweis auf stärker differenzierte Darstellungen hebt Eichinger (2000, S. 171) diejenigen morphologischen Verbalisierungen heraus, die einen Vergleich mit der Basis (hamstern), ein Tun mit Hilfe des in der Basis Genannten (angeln), ein Handeln in der Rolle, die in der Basis genannt ist (schreinern), oder ein entsprechendes Objekt nennen (zahnen, erden). An anderer Stelle nennt er als wesentliche Gruppen „effiziert“, „affiziert“ und „instrumental“, sowie als weitere Varianten „Ort“, „Vergleich“, „Subjekt“ (ebd., S. 220) und charakterisiert diese Bildungen insgesamt als „einfache Muster“. Ungeachtet der hier nur angedeuteten heterogenen Rahmenbedingungen für eine - wie von Erben geforderte - semantisch-funktionale Analyse, die sich bei der Einbeziehung von Einzelstudien noch komplizierter darstellen, gehe ich von der These aus, dass aus sprachökonomischer und konzeptueller Sicht den Bildungen ein begrenztes Strukturmuster von Aussagefunktionen zu Grund liegt. Für die Ausarbeitung eines solchen Schemas wurden nach einer ersten Sichtung die Angaben und Gliederungen in der Wortbildung zurückgestellt, da sie ein kaum vergleichbares Bild abgeben, mitunter nur einen Ansatz, aber keine Gesamtbeschreibung für die jeweiligen Phänomene liefern und oft nicht zwischen der textunabhängigen Bedeutung der lexikalischen Morpheme und den potenziellen Textfunktionen unterscheiden. Hinzu kommt im Deutschen, dass durchgehend eine Trennung zwischen Verbbildungen ohne Präfix, die semantisch-syntaktisch gegliedert sind, und Verbbildungen mit Prä- Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 175 fix erfolgt. Bei letzteren wird dann nicht immer unterschieden, ob es sich um eine Verbbildung aus einer anderen Wortart handelt oder um die Modifikation eines vorhandenen Verbs, d.h., es werden alle Verben mit Präfix als Modifikationen behandelt, was meines Erachtens nicht zutreffend ist. Tatsache ist auch, dass Einzelstudien stark lexikologisch orientiert sind, oft lexikografisches Material zu Grunde liegt und dadurch der Textbezug der abgeleiteten Verben ausgeklammert bleibt. In Präzisierung der oben genannten These sind die denominalen Verben, wie auch eine Reihe anderer Bildungen, verkürzte Aussagen, so dass sich ein Rückgriff auf die Satzebene anbietet. Der hier vorliegende Beschreibungsansatz mit semantischen Rollen soll es prinzipiell ermöglichen, alle Aussagestrukturen zu beschreiben und kommt daher für die Interpretation der denominalen Verben als Verbindung von einem abstrakten Prädikat mit genau einer Rolle/ Funktion oder auch für Komposita als Kombination von Funktionen in Frage. Ein Vergleich der Beschreibungsansätze auf Satzebene anhand der Grammatiken ist gut möglich, da die Kategorien weitgehend mit Definitionen untersetzt sind (Emsel 2004). Ausgangspunkt ist die Darstellung eines tertium comparationis für die für eine Aussage möglichen unterschiedlichen syntaktischen Strukturen. Bei der Übertragung des Beschreibungsansatzes auf die Wortbildungen mit komplexen prädikativen Strukturmerkmalen zeichnet sich ein Spektrum von etwa 16 Funktionen ab (Emsel 2003). Bei einigen davon, die sich durch eine hohe Frequenz bzw. Produktivität auszeichnen (Patiens, Instrument, Agensmetaphorik), erscheint darüber hinaus eine Subklassifizierung sinnvoll. Diese durchaus noch überschaubare Menge von Kategorien basiert auf einer wörterbuch- und textbasierten Analyse für spanische Verben. Der Ansatz ist im Rahmen des eingangs dargestellten Modells der Textgenerierung nicht auf eine Einzelsprache begrenzt. Es kann sprachübergreifend auch für andere semantisch komplexe Wortbildungsstrukturen Anwendung finden, insbesondere, wenn analog zur Syntax über mehr als ein Wortbildungsmodell eine Bezeichnung für einen etablierten Sachverhalt entstehen kann oder bereits Wortbildungskonstruktionen mit ähnlicher lexikalischer Bedeutung vorliegen, z.B. Frachtschiff - Frachter, Metallarbeiter - Metaller (vgl. Fleischer/ Barz 1995, S. 74). Wichtig ist das Modell auch für die Erklärung des Phänomens der Textsynonyme, wenn ein und derselbe Sachverhalt nacheinander durch verschiedene explizite Strukturen, verschiedene Wortbildungen oder eine implizite Wortwahl (elliptische Strukturen im Spanischen vs. stabile Komposita im Deutschen) bezeichnet wird. Damit wird Martina Emsel 176 nicht nur die Analyse situativ unbekannter komplexer Lexeme unterstützt, sondern es wird gleichzeitig der Rahmen für Übersetzungslösungen bzw. terminologische Entsprechungen verschiedener Strukturmuster abgesteckt, wie Oster (2005) anhand eines umfangreichen Korpus zu einem konkreten terminologischen Bereich demonstriert. Literatur Dik, Simon C. (1983): Funktionale Grammatik - eine Übersicht. In: Studium Linguistik 154, S. 1-19. Donalies, Elke (2002): Die Wortbildung des Deutschen. (= Studien zur deutschen Sprache 27). Tübingen. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Emsel, Martina (1993): Pragmatische Differenzierung von Wortbildungsstrukturen und -modellen zum Vergleich der Potenzen im Spanischen, Deutschen und Französischen. In: Rovere, Giovanni/ Wotjak, Gerd (Hg.): Studien zum romanischdeutschen Sprachvergleich. Tübingen, S. 277-284. Emsel, Martina (2003): Zur Differenzierung und Definition semantischer Funktionen. In: Emsel, Martina/ Hellfayer, Andreas (Hg.): Brückenschlag. Gerd Wotjak zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M., S. 63-83. Emsel, Martina (2004): Semantische Kasussrelationen als sprachübergreifende Kategorien mit sprachspezifischer Ausprägung. In: Kailuweit, Rolf/ Hummel, Martin (Hg.): Semantische Rollen. Tübingen, S. 118-139. Emsel, Martina (2007): Isotopie als lexikalischer Filter. In: Emsel, Martina/ Cuartero Otal, Juan (Hg.): Brücken. Übersetzen und interkulturelle Kommunikation. Festschrift für Gerd Wotjak zum 65. Geburtstag. Bd. 2. Frankfurt a.M. Erben, Johannes (2000): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 4., aktual. u. erg. Aufl. Berlin. Fleischer, Wolfgang (1974): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. überarb. Aufl. Leipzig. [Erstauflage 1969]. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Kaliuš enko, Vladimir D. (1988): Deutsche denominale Verben. Tübingen. Laca, Brenda (1986): Die Wortbildung als Grammatik des Wortschatzes. Untersuchungen zur spanischen Subjektnominalisierung. Tübingen. Marchand, Hans (1964): Die Ableitung desubstantivischer Verben mit Nullmorphem im Englischen, Französischen und Deutschen. In: Die Neueren Sprachen 10, S. 105-118. Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 177 Oster, Ulrike (2005): Las relaciones semánticas de términos polilexemáticos. Frankfurt a.M. Thiele, Johannes (1981): Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig. Thiele, Johannes (1992): Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig/ Berlin/ München. Anhang Abbildung 1: Modell der Satzbzw. Textgenerierung P r o z e s s R e s u l t a t A. kollektive humane Interaktion erzeugt Wissen B. individuelle Kommunikation begrenzt Kommunikationsinhalt C. Aussage segmentiert Aussageelemente mit Funktionen --------- E b e n e --------d e r --------- E i n z e l s p r a c h e n --------- D. Sachperspektive bestimmt lexikalische Basiselemente E. Akzentuierung moduliert (mit morpho-lexikalischen Mitteln modifizierte) Lexeme F. Perspektivierung erzeugt Satzstruktur über Satzmodelle G. Erweiterung entwickelt Textstruktur über Isotopieketten Martina Emsel 178 Abbildung 2: Wortbildung Deutsch Basiswort Satz Wortbildung nach Bildungsmotivation Typ I: semantisch Typ III: funktional Typ II: syntaktisch S U F F I G I E R U N G S > S, A > A, V > V V > S: Aktion > A/ Av: Eigenschaft Diminutiv: + Agens, Instrument schön + / schön Buch > Büchlein Kaufen > Käufer rechnen > Rechner S > A: Eigenschaft Sand > sandig Diminutiv/ Wertung: S > S: Patiens + Agens A > S: Eigenschaft tanzen > tänzeln Elektrik > Elektriker schön > Schönheit A > V: Resultat + Aktion V > S: Aktion neutral > neutralisieren anheben > Anhebung S > V: (varia) > + Aktion V > A: Aktion Kopf > köpfen sprechen > sprechend Relation % (außer Fremdwörter) Suffigierung + P R Ä F I G I E R U N G Wiederholung: A> V: Resultat > + Aktion V/ intr > V/ trs verteilen > umverteilen rot > erröten grüßen > begrüßen Negation S > V: (varia) > +Aktion bewusst > unbewusst Gift > vergiften K O M P O S I T I O N S/ Metapher + S S + S/ Idenfikans S + S (= ‘und’) Blitzstreik Schulschiff Verkaufsausstellung Av + A S + S(<V) > S: + Agens A + A hochaktuell Waldhüter süßsauer Av + V S+S(<V) > S: + Instrument S + S +Suff > A schönschreiben Korkenzieher rothaarig Funktionaler Ansatz zur Beschreibung von Wortbildungssemantik 179 Abbildung 3: Wortbildung Spanisch Basiswort Satz Wortbildung nach Bildungsmotivation Typ I: semantisch Typ III: funktional Typ II: syntaktisch S U F F I G I E R U N G S > S, A > A, V > V V > S: Aktion > A > Av: Eigenschaft + Agens, Instrument fino > finamente Diminutiv: libro > librito calcular > calculador S > A: Eigenschaft arena > arenoso Augmentativ: tirar > tirotear S > S Patiens > + Agens ébano > ebanista A > S: Eigenschaft neutral > neutralidad Wertung: A > V: Resultat > + Aktion elitista > elitesco neutral > neutralizar V > S: Aktion elevar > elevación S > V: (varia) > + Aktion brazo > bracear V > A: Aktion calmar > calmante de+S > A: Relation de la luna > lunar Suffigierung + P R Ä F I G I E R U N G Wiederholung: A > V: Resultat > + Aktion negociar > renegociar rojo > enrojecer Negation S > V: (varia) > +Aktion culto > inculto veneno > envenenar % K O M P O S I T I O N S+ S/ Metapher S + S/ Idenfikans S + S (= ‘y’) gira relámpago buque escuela exposión-venta A + A V+S > S: + agente agridulce guardabosque S + A > A V + S > S: + instrumento pelirrojo sacacorchos V + S > A (bomba) lanzapanfletos Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk Fremdes in der deutschen Wortbildung? Wortbildungsprodukte und -prozesse in der Lernersprache 1. Einleitung Im Rahmen des Projekts VARCOM - Variació i comunicació multimodal -, das an der Universität Barcelona durchgeführt wird, haben wir uns folgende Fragestellungen bezüglich Präsenz und Frequenz von Wortbildungsprodukten in der mündlichen Produktion in Deutsch als Fremdsprache gestellt: Welche Eigenschaften haben sie? Unterscheiden sie sich in der schriftlichen und in der mündlichen Produktion? Folgende Ausgangshypothesen wurden aufgestellt: 1.1 Annahme 1 Wir erwarten weniger Wortbildungsprodukte in der mündlichen Produktion aufgrund nicht abgeschlossener Erwerbsphasen von Wortbildungsregeln (im Vergleich zur muttersprachlichen Produktion) und kognitiver Überlastung (im Vergleich zur schriftlichen Produktion in DaF). 1 Wenn ja, in wie weit werden weniger Wortbildungsprodukte verwendet? Verhält sich diese Variation parallel zur möglichen Variation in der mündlichen Produktion in Deutsch als Muttersprache? 1.2 Annahme 2 Es gibt Unterschiede in der Präsenz und Frequenz von Wortbildungsprodukten in DaF bzw. in Deutsch als Muttersprache, je nachdem ob die mündliche Produktion monologisch oder dialogisch erfolgt. Zusätzlich ist die Frage zu beantworten, ob eine höhere Präsenz und Frequenz von Wortbildungsprodukten in der dialogischen Produktion mit einer fortgeschrittenen Erwerbsphase korreliert, oder ob es sich nur um einen allgemeinen Effekt des angegebenen Inputs seitens des Gesprächspartners handelt. 1 Vgl. Strunk (1998). Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 182 2. Untersuchung Anhand dieser Annahmen wurde eine Untersuchung mit 15 Informanten des VARCOM-Korpus mit folgenden Zielen durchgeführt: - Empirische Beschreibung der Wortbildungsprodukte der Lernersprache, - Identifizierung von Indikatoren zur Beschreibung von möglichen Erwerbsstadien, - Überprüfung von Korrelationen (C-Test-Ergebnisse). 2.1 Die Daten des VARCOM-Korpus Das im VARCOM-Projekt entstandene multimodale Korpus enthält die mündliche Produktion mehrsprachiger Lerner als Muttersprache (MS), Zweitsprache (ZS) oder Fremdsprache (FS). Allgemeines Ziel des Projekts war die Erstellung eines Korpus zur Untersuchung der Variation in der multimodalen Kommunikation mehrsprachiger Lerner unter Berücksichtigung folgender Parameter: Muttersprache der Lerner (Deutsch, Spanisch, Katalanisch), Produktionssprache (Deutsch, Spanisch, Katalanisch), Elizitationsmethode und thematische Entfaltung der produzierten dialogischen oder monologischen Texte. Diese wurden nach 2 Elizitationsmethoden erhoben: einerseits wurde mit jedem Informanten ein halbstrukturiertes Interview über sehr allgemeine doch gleichzeitig persönliche Themen 2 geführt (mit dem Ziel, sprachliche Produktion experientiell zu elizitieren: Elizitation E) und gleich im Anschluss wurden dem Informanten 5 Produktionsaufgaben (eine pro thematische Entfaltung) für eine experimentelle Elizitation vorgeschlagen (Elizitation T). Diese bestanden aus der Instruktion des Interviewers und dem Vorzeigen von Anregungsmaterialien unter Selbstkontrolle der notwendigen Zeit. 3 2 Geburtsort und Sprachbiografie (Kontakt mit Varietäten des Deutschen und Sprachbewusstsein), Fremdsprachen (Auswahl, Motivation, Lernerbiografie), Auslandsaufenthalte und Erfahrungen in der Fremdsprache; aktueller Wohnort, Beschreibung der eigenen Wohnung bzw. des Zimmers (Vergleich zu Hause und im Ausland), des Wegs zur Universität; ein typisches Wochenende, Vergleich zu Hause und im Ausland. 3 Aufgabe 1: Elizitation einer Erzählung (Bildgeschichte The Frog Story); Aufgabe 2: Elizitation einer Wegbeschreibung (anhand des Grundrisses der Universität); Aufgabe 3: Elizitation einer Beschreibung (Bild einer Wohnung); Aufgabe 4: Elizitation einer Argumentation (Bilder zur Stellungnahme: Sind ältere Männer bessere Väter? Oder Lieber in der Stadt oder auf dem Lande wohnen? ); Aufgabe 5: Elizitation einer Exposition (Bilder zum Fremdes in der deutschen Wortbildung? 183 Die Begegnungen mit den Informanten wurden jeweils in 3 Sitzungen mit 2 Videokameras aufgenommen: zuerst in der Muttersprache (Spanisch, Katalanisch oder Deutsch), dann in der Regel nach 3-4 Wochen in der Zweit- und zuletzt in der Fremdsprache. Ein Protokoll sowohl für das Interview als auch für die Produktionsaufgaben sorgte dafür, dass die im Gespräch oder im Monolog elizitierte Produktion in Form einer Narration, einer Deskription, einer Instruktion, einer Exposition und einer Argumentation gesteuert wurde. Die Informanten waren alle Studierende der Universität Barcelona bzw. deutsche oder österreichische Erasmus-Studierende, die zurzeit an der Universität Barcelona lernten; alle waren zwischen 20 und 26 Jahre alt. Ihr soziolinguistischer Hintergrund wurde anhand eines Fragebogens erfragt, der die Ergänzung der kontextuellen Information ermöglichte. Studierende Frauen Männer insgesamt Katalanisch MS / ZS 5 5 10 Spanisch MS / ZS 5 5 10 Deutsch MS 10 10 20 Abb. 1: Verteilung der Informanten (erste Phase) Die Sitzungen und die Aufnahmen fanden zwischen 2002 und 2006 an der Universität Barcelona statt, jede Sitzung hatte eine Länge zwischen 30 und 40 Minuten. Damit ergeben sich für die erste Phase des VARCOM-Korpus 4 ca. 50 Stunden, die transkribiert und in verschiedenen Formaten verarbeitet wurden. Die Grundlage bildet dabei die synchronisierte Version von Text, Ton und Bild in dem im deutschsprachigen Raum fast als Standard anzusehenden Programm Exmaralda. 5 Thema Situation der Nicht- EU -Bürger: Sportler, Studierende, Arbeiter, illegale Einwanderer). 4 Das Korpus wird mit weiterem gesprochenem Material verschiedener Lerner erweitert, so dass auch eine longitudinale Untersuchung der Entwicklung gesprochener Lernersprache ermöglicht wird. Dies ist ansatzweise schon anhand von Aufzeichungen und Transkriptionen zu Lernern möglich, die sich vor und nach ihrem Erasmusaufenthalt zum Interview bereit erklärten. 5 Exmaralda wurde als Programm zur Transkription und Auszeichnung von Ton- und Videomaterialien von H. Schmidt an der Universität Hamburg entwickelt und findet nun Verwendung u.a. am IDS , das auch an der Weiterentwicklung des Tools arbeitet; Internet: www1.uni-hamburg.de/ exmaralda (Stand Juli 2007). Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 184 2.2 Analyse der Präsenz und Frequenz von Wortbildungsprodukten Methode: Nach dem Vergleich der unterschiedlichen Vorschläge zur Klassifikation von Wortbildungsprodukten (Altmann/ Kemmerling 2000; Barz/ Schröder/ Fix 2000; Barz/ Schröder/ Hämmer/ Poethe 2002; Eichinger 2000; Erben 2000; Fleischer/ Barz 1995; Motsch 1999) und unter Berücksichtigung der vorhandenen empirischen Daten haben wir uns für eine Grobklassifikation der Wortbildungsprodukte entschieden, die einen ersten Einblick in ihre Präsenz und Frequenz gegenüber Simplizia ermöglicht. Insgesamt wurden fünf Gruppen definiert: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere und Fremdes. Die erste und auch größte Gruppe bilden die Simplizia, definiert als einfaches, nicht zusammengesetztes Lexem, das sich weiter von den restlichen vier Gruppen aufgrund der Definition derselben abgrenzen lässt. Komposition und Derivation als meistgenutzte spezifisch definierbare Wortbildungsarten werden hier im weitesten Sinne verstanden. Dementsprechend definieren wir Komposita als Wortbildungsprodukte, die aus der Zusammensetzung von zwei oder mehr Wörtern bestehen und zudem noch mit Konfixen verbunden werden können, sei es mit einer determinativen oder kopulativen Beziehung zueinander. Derivate hingegen sind Wortbildungsprodukte, in denen nur ein - mitunter auch komplexes - Wort oder Konfix abgeleitet wird. In „Andere“ werden als Restgruppe die anderen Wortbildungsprodukte zusammengefasst, die durch Konversion, Reduktion, Reduplikation, Kontamination usw. entstanden sind und a priori nicht so häufig, wenn überhaupt, in den Daten zu erwarten waren. Die fünfte Gruppe musste eingeführt werden, da einerseits ein Teil der Informanten Deutsch als Fremdsprache hat, und der andere Teil Deutschmuttersprachler ist, sich jedoch zur Zeit der Datenerhebung in Barcelona befand und über die Erfahrung des Aufenthalts sprechen sollte. Die Bearbeitung, Extraktion der Token und Berechnung erfolgte anhand des Programms LexicTools. Dieses Programm wird von O. Strunk entwickelt und gibt grundlegende Werte, statistische Informationen und bearbeitbare Wortlisten aus; es findet innerhalb der Forschungsgruppe Verwendung für die Texte des Korpus, ermittelt aber auch für die Untersuchung und Bewer- Fremdes in der deutschen Wortbildung? 185 tung von Lernertexten interessante Informationen. Mit den LexicTools wurden die Token nach ihrer Zeichenlänge sortiert und anschließend manuell der entsprechenden Wortbildungsgruppe zugeordnet. Die eingebaute Konkordanzfunktion ermöglichte die direkte Überprüfung der Token im Kontext. Die erzeugten Wortlisten wurden anschließend auf Prozentwerte umgerechnet und in die Gruppen MS und FS eingeteilt. Um den Vergleich der errechneten Werte zu vereinfachen, wurden die Werte der einzelnen Informanten als Mittelwert zusammengerechnet und zusätzlich mit dem Wert der Standardabweichung versehen. Des Weiteren wurde untersucht, ob sich zwischen den verschiedenen Gruppen Korrelationen abzeichneten. 3. Ergebnisse Der Mittelwert zeigt sich als geeignete Darstellungsmethode bei relativ homogenen Datenwerten; verhältnismäßig einfach ist dies an einigen Spalten der Gruppe MS zu erkennen. Die Einzelwerte sind in diesem Fall allesamt nicht weit entfernt vom Mittelwert, dessen numerischer Wert so als typisches Beispiel für die Einzelwerte gelten kann. Anders in der Gruppe der FS und auch bei einigen anderen Spalten der Gruppe MS. Die stark individuell ausgeprägte Abweichung der Einzelwerte ermöglicht es nicht, die Gruppe anhand eines einzigen Wertes repräsentativ darzustellen. Die Angabe der Standardabweichung ermöglicht es in diesem Fall, diese stark voneinander abweichenden Werte in einem einzigen zusammenzufassen. Je niedriger nun dieser Wert ausfällt, desto homogener und gleichmäßiger sind die Einzelwerte der Gruppe; je größer, desto stärker weichen die Einzelwerte voneinander ab, desto schwieriger ist es, sie einem klaren Trend zuzuordnen. Eine Modellierung des Verhaltens der Daten mittels inferenzstatistischer Methoden wurde nicht unternommen. Die vorhandenen Daten sollten auf allgemeine Trends untersucht werden, was mit den transkribierten Daten möglich war. Die Bildung von Voraussagen jedoch aufgrund dieser Daten scheint nicht angebracht. In den Texten der Gruppe DtMs (vgl. Abbildung 2) lässt sich in den Spalten für Simplizia, Komposita, Derivate und Andere eine klare Tendenz zur Annäherung an den jeweiligen Mittelwert beobachten. Die Einzelwerte dieser Spalten weichen wenig voneinander ab, was sich in der niedrigen Standardabweichung widerspiegelt. In keiner dieser Spalten sind Ausreißer zu vermer- Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 186 Inf Simplizia Komposita Derivate Andere Transferenzen rb 86,44% 2,52% 8,40% 2,58% 0,07% md 87,24% 2,78% 7,99% 1,98% 0,00% ks 86,46% 2,06% 8,57% 2,86% 0,06% kp 87,03% 2,14% 7,84% 2,90% 0,09% kf 85,73% 3,02% 8,51% 2,69% 0,04% jj 84,20% 3,52% 10,00% 2,20% 0,08% jm 85,15% 2,82% 9,36% 2,48% 0,18% df 86,83% 2,64% 7,45% 2,99% 0,09% asc 84,11% 3,98% 9,21% 2,57% 0,13% ag 87,85% 1,68% 7,21% 3,01% 0,25% MW 86,10% 2,72% 8,45% 2,63% 0,10% StDev 1,27% 0,69% 0,88% 0,34% 0,07% Abb. 2: Wortbildungsprodukte DtMs Inf Simplizia Komposita Derivate Andere Transferenzen nc 89,72% 2,83% 4,71% 2,12% 0,63% nag 90,70% 1,59% 6,32% 1,36% 0,03% na 91,69% 1,78% 4,86% 1,41% 0,26% mm 92,68% 1,25% 4,71% 1,29% 0,08% ice2 89,61% 1,44% 6,72% 2,14% 0,08% ice 77,98% 6,53% 8,68% 4,56% 2,25% ico 89,82% 1,26% 6,97% 1,61% 0,35% fs 87,48% 1,47% 8,05% 2,76% 0,24% as 90,60% 1,36% 6,90% 1,04% 0,10% MW 88,92% 2,17% 6,43% 2,03% 0,45% StDev 4,35% 1,71% 1,44% 1,09% 0,70% Abb. 3: Wortbildungsprodukte DtFs Fremdes in der deutschen Wortbildung? 187 ken, also Werte, die zweibis dreimal häufiger oder weniger häufig vom Mittelwert abweichen. Die Spalte Transferenzen weist eine höhere Abweichung auf, wohl aber aufgrund der sehr niedrigen absoluten Frequenzen des Phänomens, das bei dem Informanten „md“ kein einziges Mal vorkommt, bei anderen nur als Ausnahmephänomen. Hinsichtlich der Korrelation lässt sich zwischen den Werten der Spalten Komposita und Derivate ein Wert von 0,73 ermitteln (auf einer Skala von unwahrscheinlicher Korrelation 1 bis +1 als maximaler Korrelation), was auf eine Beziehung zwischen den Werten hindeutet: je mehr Komposita, desto mehr Derivate - zumindest tendenziell. Die Werte der Gruppe DtFs (vgl. Abbildung 3) zeichnen sich hingegen durch eine größere Streuung aus. Der Mittelwert ist hier nur in Verbindung mit der Standardabweichung verständlich, da diese sogar größer als der Mittelwert sein kann (in der Gruppe der Transferenzen). Während in der Informantengruppe DtMs alle Standardabweichungen unter 1 lagen, sind sie in der Gruppe DtFs zwischen drei- und zehnmal so groß. Dementsprechend erscheinen auch Ausreißer (Komposita und Andere des Informanten „ice“; s.o.) in der Datenmenge, die sich aber alle auf den Informanten „ice“ beschränken. Um auszuschließen, dass eine eventuell inkorrekte Erhebung des Datenmaterials dieses Informanten zu einer Verzerrung der Grundtendenzen der Ergebnisse führt, sei hier eine erneute Zusammenfassung der Daten ohne das Material dieses Informanten dargestellt: Inf Simplizia Komposita Derivate Andere Transferenzen MW 90,29% 1,62% 6,15% 1,72% 0,22% StDev 1,55% 0,52% 1,25% 0,57% 0,20% Abb. 4: Zusammenfassung der Daten ohne das Material des Informanten „ice“ Klar erkennbar wird hier ein prozentualer Anstieg in der Verwendung der Simplizia gegenüber den Wortbildungsprodukten, deren Werte entsprechend niedriger ausfallen. Die Unterschiede in der Standardabweichung deuten jetzt zwar immer noch auf eine größere Variation in der Gruppe der DtFs hin (eine Ausnahme bildet die Standardabweichung der Komposita), sind aber nicht mehr so stark ausgeprägt wie unter Einbeziehung des Informanten „ice“. Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 188 Demzufolge liegt der Hauptunterschied in der Frequenz der Verwendung von Wortbildungsmechanismen: Simplizia werden 4 Prozentpunkte öfter verwendet in der Gruppe der DtFs; Komposita, Derivate und Andere liegen in der Gruppe DtFs (den Informanten „ice“ ausschließend) alle einen Prozentpunkt unter den Werten von DtMs. Das bedeutet, ausgehend von den Werten der Gruppe DtMs: Die Komposita erreichen bei den Lernern nur 59,55% von den Muttersprachlern, die Derivate 72%, die Anderen 65,40%. Die stärkere Annäherung an den Mittelwert nach der Ausschließung des Informanten „ice“ erzeugt eine Annäherung an die Verteilung der Werte der Muttersprachler, ohne jedoch die absoluten Werte derselben zu erzielen. Hier ist eine Untersuchung der Werte unter Einbeziehung weiterer Informanten mit einer größeren Abweichung des Lernstadiums notwendig; dadurch wird es dann möglich, die Entwicklung der Verwendung von Wortbildungsmechanismen in Abhängigkeit vom Lernstadium anzugeben und einzelne Werte einzelnen Lernstadien zuzuweisen. Abb. 5: Wortbildungsprodukte DtMs. Die Grafik stellt im großen Kreis 2 Gruppen dar: - Simplizia 86,10 % - Wortbildungsprod. 13,90 % (Komposita 02,72 % (Derivate 08,45 % (Andere 02,63 % (Transferenzen 0,10 % 13,90 %) Die separate Darstellungsform der Wortbildungsprodukte, d.h. ihre Betrachtung ohne den Einfluss der Simplizia, lässt erkennen, dass eben kleine Abweichungen für die großen Unterschiede verantwortlich sind. Wie oben DtMs 86,10% 2,72% 2,63% 13,80% 8,45% 0,10% Simplizia Wortbildungsprodukte Komposita Derivate Andere Fremdes in der deutschen Wortbildung? 189 dargestellt stellt die Verwendung von Wortbildungsprodukten in der untersuchten Gruppe DtFs (ohne „ice“) jeweils nur etwa zwei Drittel von den Werten der Gruppe DtMs dar, bei gleichzeitig häufigerer Verwendung von Simplizia. Diese Abweichung scheint groß genug, um auch subjektiv klar erkennbar in den Textprodukten zu werden. Die tabellarische Darstellung einiger Komposita mag dies veranschaulichen: DtMs DTFs Substantive 729: Informationsveranstaltung, Abstellkammer, Altersfrage 330: Konfrontationsproblem, Abendessen Verben 24 kennenlernen, großziehen, fernsehgucken 0 Adjektive 59 riesengroß, freiwillig, grüngelb, vielschichtig 17 gleichzeitig, fünfjährig Adverbien 17 zwischendurch 6 dreimal, tatsächlich, sowieso Abb. 6: Komposita nach Wortarten DtMs vs DtFs Die Abwesenheit von Verbalkomposita in der Gruppe DtFs und die niedrigeren Werte in den anderen Wortarten wirken sich auf das Textprodukt aus; ihr Einfluss auf die „Muttersprachlichkeit“ und eine eventuelle „normative Korrektheit“ müsste jedoch empirisch weiter erforscht werden. Ähnliches ist zum Komplexitätsgrad der Wortbildungsprodukte anzumerken. Wie in der folgenden Tabelle (Abb. 7) zu sehen, werden in der Gruppe DtMs nicht nur mehr Elemente aneinandergereiht, sondern diese werden auch produktiver verwendet, d.h., die entstandenen Produkte sind nicht lexikalisiert und kombinieren Kompositions- und Derivationsverfahren, was schwer in der FS zu finden ist. Die zweite Annahme ging davon aus, dass die dialogische Elizitation E Unterschiede hinsichtlich der dialogischen Elizitation T aufweist, was auf einen Einfluss des Interviewers auf den Informanten hinweisen könnte. Zur Untersuchung dieser Annahme wurden die Textsegmente in die zwei Elizitationsformen eingeteilt und die Wortbildungsprodukte separat gezählt und als Prozentwert dargestellt. Wie auch schon weiter oben wurden die stark abweichenden Werte des Informanten „ice“ besonders berücksichtigt, um Verzerrungen der Ergebnisse zu vermeiden. Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 190 DtMs DtFs Unabhängigkeitsselbstbewusstsein Samstagnachmittag Ausländerschutzgesetze Freitagabend Fußgängerzone Hauptbahnhof Nachhilfeinstitut Mittagessen pitsch-pudel-nass Studentenwohnheim Praktikumsnetzwerk Wohnraumprobleme Sozialbrennpunkt Auslandssemester Sprachkursförderung Steinfußboden Abb. 7: Komplexitätsgrad der Wortbildungsprodukte 3.1 Wortbildungsprodukte DtMs nach Elizitationsmethode Abb. 8: Dialogische Elizitation E. Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Abb. 9: Monologische Elizitation T. Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Die Gruppe DtMs weist hinsichtlich der Elizitationsformen keine bemerkenswerten Abweichungen auf. Wie auch in der Gesamtdarstellung gibt es keine Ausreißer, d.h., kein Informant erzeugt relevant höhere oder niedrigere Werte Fremdes in der deutschen Wortbildung? 191 in einer der Kategorien. Die Reihe der Simplizia ist im Mittelwert fast identisch, weist aber in der Elizitation E eine etwas höhere Standardabweichung auf ( 86,04 ± 1,71 vs. 86,25 ± 1,15). Die Komposita sind nahezu identisch ( 2,69 ± 0,87 vs. 2,70 ± 0,70), die leichte Abweichung ergibt sich, wie auch in den anderen Gruppen, aus der aufgrund der begrenzten Anzahl von Informanten stärker hervortretenden Schwankungen. Die Derivate als zweitgrößte Gruppe weisen lediglich eine leichte, etwa 10-prozentige Abweichung zwischen der Elizitation E und T auf ( 8,90 ± 1,16 vs. 8,07 ± 0,82). Die leichten Abweichungen der Gruppen Andere und Transferenzen sind zunächst auf die niedrigen Frequenzen des Phänomens zurückzuführen und können erst mit umfassenderem Datenmaterial besser dargestellt werden. Dennoch ist anzumerken, dass die ermittelten Werte logischerweise nicht nur untereinander wenig Abweichung aufweisen, sondern auch im Vergleich zu den Gesamtwerden, die oben beschrieben wurden. 3.2 Wortbildungsprodukte DtFs nach Elizitationsmethode Abb. 10: Dialogische Elizitation E. Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Abb. 11: Monologische Elizitation T. Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Die Gruppe DtFs hingegen weist größere Unterschiede hinsichtlich der Elizitationsform auf. Während hier die Verwendung der Simplizia trotz einer größeren Abweichung von fast 4% aufgrund des hohen Prozentwertes des Gesamtphänomens nur eine absolut aber nicht relativ große Abweichung darstellt, scheint es angebracht, die Gruppen Komposita, Derivate und Andere gesondert darzustellen. Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 192 Die Komposita der Elizitation E weisen einen Mittelwert von 3,02% und eine Standardabweichung von 2,96% auf ( 3,02 ± 2,96). Die Streuung ist dementsprechend enorm, die Standardabweichung fast genauso hoch wie der Mittelwert, der Maximalwert beträgt mit 10,63% das 3,5-fache des Mittelwerts. In der Elizitation T beträgt der Mittelwert mit 1,20% fast ein Drittel der Elizitation E, die Standardabweichung ist hingegen mit 0,53% nicht so stark gestreut. Die Gruppen Derivation und Andere unterscheiden sich ebenfalls in beiden Elizitationsformen: in der Derivation stehen die Werte der Elizitation E mit 7,09 ± 1,73 den Werten 5,73 ± 1,92 gegenüber, in der Gruppe der Anderen sind es 2,35 ± 1,65 in der Elizitation E und 1,70 ± 0,77 in der Elizitation T. Nun ist in diesen Gruppen ein Datensatz durch mehrere Ausreißer charakterisiert, und zwar bei dem Informanten „ice“. Wenn dieser Datensatz gestrichen wird, ergibt die Neuberechnung folgende Werte: Abb. 12: Dialogische Elizitation E (ohne das Material des Informanten „ice“). Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Abb. 13: Monologische Elizitation T (ohne das Material des Informanten „ice“). Werte in den Spalten: Simplizia, Komposita, Derivate, Andere, Transferenzen Durch die Streichung relativieren sich die Werte und nähern sich dem homogeneren Bild der Gruppe DtMs an; dies wurde aber nur durch eine Verfälschung der Daten ermöglicht, durch einen Verzicht auf ein zur Lernersprache gehöriges Textprodukt. Dies wiederum fundamentiert zwei Annahmen: zunächst die, dass bei der dialogischen Elizitation E ein Einfluss des Interviewers besteht, der in seiner Interaktion mit dem Informanten Wortbildungsprodukte „vorschlägt“, die dann vom Informanten aufgegriffen werden (z.B.: Interviewer: Was machst Fremdes in der deutschen Wortbildung? 193 du Samstagabends? Informant: Samstagabends? Samstagabends gehe ich mit Freunden aus). Dabei handelt es sich um eine qualitative Untersuchung anhand der einzelnen Wortbildungsprodukte, die in einer späteren Forschungsphase unternommen werden soll. Da es sich bei diesem Informanten aber auch um einen Studierenden handelte, der sich in den ersten Semestern befand und in seiner späteren Produktion (als Informant „ice2“) nicht so stark abweichende Werte produzierte, besteht Grund zur logischen und erwarteten Annahme, dass das Erwerbsstadium einen starken Einfluss hat. Dies würde mit anderen Ergebnissen zur Lernersprache und Wortbildung korrelieren. 4. Schlussfolgerungen Wortbildungsprodukte wurden in der Lernergruppe DtFs konsistent weniger verwendet als in der Gruppe der deutschen Muttersprachler. Die anfangs extrem abweichenden Werte der Lernergruppe wurden nach Streichung eines Informanten konsistent, lagen aber auch ständig ein Drittel unter den Werten der deutschen Muttersprachler. Das bedeutet, dass Lerner nicht so viele Wortbildungsprodukte wie Muttersprachler verwenden, und diesen Unterschied durch einen vermehrten Prozentsatz an Simplizia wettmachen. Die größere Standardabweichung der Lerner spiegelt eine ebenso größere Abweichung hinsichtlich der Muttersprachler wider; ob sich diese mit steigendem Lernerstadium reduziert, ist noch zu untersuchen, obwohl mehrere Indizien - sowohl direkt aus dieser Untersuchung verwertbare Daten als auch die Ergebnisse anderer Untersuchungen - darauf hinweisen. Die Verwendung komplexerer Wortbildungsphänomene seitens der Muttersprachler (Komposita mit mehr Elementen) und die fehlende Anwendung einiger Mechanismen auf Wortarten wie beispielsweise das Verb bei den Lernern belegen die Annahme, dass nicht abgeschlossene Erwerbsphasen von Wortbildungsregeln für die quantitativen Abweichungen verantwortlich sind. Der Nachweis für die Verantwortlichkeit einer kognitiven Überlastung im Vergleich zur schriftlichen Produktion steht allerdings noch aus, da dafür mehr Textmaterial heranzuziehen ist. Relevante Unterschiede in der Präsenz und Frequenz von Wortbildungsprodukten bei Lernern und Muttersprachlern je nach Elizitationsform, also dialogisch oder monologisch, weisen darauf hin, dass Lerner ihre Intervention stärker an dem sprachlichen Input des Interviewpartners ausrichten und von diesem Wortbildungsprodukte übernehmen. Dazu wäre jedoch eine noch Marta Fernández-Villanueva / Oliver Strunk 194 ausstehende Untersuchung der einzelnen Transferenzen angebracht, die die Art und Weise diese Übernahme darstellt. Ausgehend davon, dass diese Übernahme sich bei den Muttersprachlern nicht in den Werten widerspiegelt, ist anzunehmen, dass ein höherer Sprachstand mit einer Reduzierung dieses Phänomens korreliert. 5. Literatur Altmann, Hans/ Kemmerling, Silke (2000): Wortbildung fürs Examen. Wiesbaden. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Fix, Ulla (2000): Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Hämmer, Karin/ Poethe, Hannelore (2002): Wortbildung - praktisch und integrativ. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt a.M. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Erben, Johannes (2000): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 4., aktual. u. erg. Aufl. Berlin. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Motsch, Werner (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Strunk, Oliver (1998): Parameter der akademischen Textproduktion. Beiträge zur kontrastiven Analyse der Textproduktion deutscher und spanischer Studenten. Diss. Universität Barcelona. Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann Wortbildung und Ad-hoc-Komposita: Typen, Implikationen und ihre möglichen Übersetzungen ins Spanische 1 1. Einführung Wie bekannt, handelt es sich bei der Neologie in der germanistischen Forschung um eine relativ frisch etablierte Disziplin, der vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde (vgl. etwa Herberg/ Kinne 1998; Teubert (Hg.) 1998). Der Problemkreis Neologie als Untersuchungsgegenstand der Wortbildung scheint heutzutage erneut an Interesse gewonnen zu haben und wieder eine zentrale Rolle in der lexikologischen Forschung zu spielen, nachdem interessante Studien wie die von Elsen (2004), Einzelbeiträge wie die von Kinne (1998), Herberg/ Kinne (1998), Herberg (1997) und die IDS-Wörterbuchausgabe Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen (Herberg/ Kinne/ Steffens 2004) ans Licht gekommen sind. Das Thema der Neologismen und Ad-hoc-Komposita wird in der wissenschaftlichen Literatur nicht immer einheitlich behandelt. Auffällig ist, dass die meisten Einführungen in die Linguistik den Neologismen kaum Aufmerksamkeit schenken. 2 Hierzu bedarf es spezifischerer Einführungen, die sich explizit der Wortbildung widmen, aber auch hier spielen die Neologismen nicht immer eine entscheidende Rolle. Dies gilt u.a. für Lutzeier (1995), der gar nicht auf Neologismen eingeht, wobei man bei Barz/ Schröder/ Hämmer/ Poethe (2004), Peschel (2002) zahlreiche nützliche Informationen findet. 2. Zum Forschungsvorhaben Im Vergleich zu anderen Forschungsansätzen geht es in unserer Arbeit aber eher darum, die Akzente auf die Bedeutung des Okkasionalismus zu setzen und die Resultate der Forschung für die Anwendung insbesondere im Rah- 1 Es ist uns ein Bedürfnis, der Junta de Castilla y León zu danken, die mit finanzieller Unterstützung im Rahmen des Projekts „La Adquisición de los Neologismos en el Alemán como Lengua Extranjera“ dazu beigetragen hat, den vorliegenden Artikel zu ermöglichen. 2 Gross (1998), Pelz (1996) und Vater (2002) erwähnen den Begriff in ihren Einführungen überhaupt nicht, während Gunther Schunk (2002) dem Begriff fast zwei Seiten widmet. Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 196 men von DaF auszuwerten. Auf dieser Grundlage wollen wir zum einen den Terminus näher definieren und abgrenzen und zum anderen eine systematische Taxonomie vornehmen, die den sprachwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand präzise vorstellen soll. Die Aufnahme des Okkasionalismus als ein dazugehörender aber gesondert tradierter Gegenstand der lexikografischen Forschung im Bereich der Neologie ist recht spät nachzuweisen, im Gegensatz zum Begriff ‘Neologismus’ selbst. Dem Hinweis darauf, dass der Okkasionalismus auch als eine Möglichkeit der Wortschatzerweiterung zu den Neologismen im weitesten Sinne zu rechnen ist, begegnet man fest umrissen und überzeugend bei Elsen (2004, S. 88-161) und zwar nicht nur als belletristische Wortneuschöpfung in literaturbezogenen Kontexten, sondern auch außerordentlich innovativ in der Werbesprache, Zeitungssprache und in der Kinderliteratur. Des Weiteren prägen Uneinheitlichkeit und Vagheit die wenigen Definitionen, aber die doch vielen Benennungen, die es für den Begriff ‘Okkasionalismus’ gibt. Um uns ein schnelles Bild davon zu machen: Es gibt für diese Einheiten solch verschiedenartige Bezeichnungen wie Kurzzeitwörter, Ad-hoc-Komposita, Einmalbildungen, Augenblicksbildungen, Textwörter, Modewörter, neumodische Wörter. Dieser unsichere Status zeigt sich auch klar in Formulierungen wie „Im Einzelnen ist eine Abgrenzung zwischen okkasionellen und usuellen Bildungen allerdings oft schwer zu treffen.“ (Barz/ Schröder/ Hämmer/ Poethe 2004, S. 57), oder auch Entscheidungen darüber, ob eine Bildung zum Lexikon einer Sprachgemeinschaft gehört, oder ob sie nur für bestimmte Anlässe in einem Text vorkommt und deshalb als Neubildung auffällt, sind wegen der individuellen Abweichungen bei der Beantwortung dieser Frage sehr problematisch. (Motsch 2004, S. 19) Peschel (2002, S. 6) spricht in diesem Zusammenhang von einer Neuheitsskala der Wortbildung mit vier Stufen: okkasionelle Wörter, Neologismen, usuelle Wörter und lexikalisierte Wörter, wobei es auch hier keine eindeutigen Grenzen gibt. Aus all diesen Gründen wollen wir uns zunächst einmal die Frage stellen, was überhaupt unter einem Okkasionalismus zu verstehen ist. 3. Der Okkasionalismus als Gegenstand linguistischer Analyse Befragt man Nachschlagewerke zur Linguistik, was unter einem Okkasionalismus zu verstehen ist, so gelangt man hierbei zu einigen überraschenden Ergebnissen, die mit der vorhin erwähnten Vagheit zu tun haben. Das einzige Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 197 Faktum, worüber im Großen und Ganzen Einstimmigkeit herrscht, ist, dass Okkasionalismen ein Stilmittel der kreativen Sprachverwendung sind und konkrete textspezifische Funktionen ausüben. So führt Bußmann beispielsweise in ihrem Lexikon aus: Spontane, meist stark kontextgebundene Wortneubildungen zur Bezeichnung von neuen oder bisher nicht benannten Sachverhalten bzw. zum Ausdruck der spezifischen Einschätzung eines Referenten durch den Sprecher. Augenblicksbildungen entstehen durch kreative Anwendung von Wortbildungsregeln auf Einheiten des Lexikons, sie haben unterschiedliche textspezifische Funktionen, wie z.B. Informationskonzentrierung […], Ausgleich von Bezeichnungslücken […] oder stilistische Effekte, [...]. (Bußmann 2002, S. 105) Festzuhalten ist bei dieser Definition, dass das quantitative Kriterium und die Produktivität für die Abgrenzung zwischen Okkasionalismus und Neologismus ausschlaggebend zu sein scheinen. Darauf werden wir später noch einmal zu sprechen kommen. In Glücks Lexikon findet man als Erläuterung zu Gelegenheitsbildung: Neubildung, die zwar den Wortbildungsregeln folgt, aber nur aus der Situation verständlich ist, daher in der Regel nicht lexikalisiert wird [...]. Die Analyse von Gelegenheitsbildungen gibt Aufschluss über die Produktivität von Wortbildungsmuster. (Glück 2000, S. 210) Stark auffällig wirkt hier der morphologisch konditionierte Wortbildungsaspekt der Gelegenheitsbildung, die deutlich getrennt vom Neologismus - dieser wird als Neuschöpfung bezeichnet - behandelt und definiert wird. In diesen Darstellungen scheint Okkasionalismus den Prozess zu bezeichnen, mit dem neue Wortbildungskonstruktionen erzeugt werden, die in den Wörterbüchern noch nicht kodifiziert sind. Über deren Behandlung in lexikografisch-theoretisch orientierten Arbeiten sind folgende Standpunkte anzutreffen: Schippan (1992) z.B. akzeptiert argumentativ die Möglichkeit, dass Okkasionalismen neben den Neubildungen und Entlehnungen von der Klasse ‘peripheres Wortgut’ in die Klasse ‘zentrales Wortgut’ schlüpfen können (vgl. ebd., S. 78). Nach Schippans Auffassung sollte man die Kategorien Neologismus und Okkasionalismus aber nicht identifizieren, auch wenn zwischen ihnen eine gewisse inhaltliche Übereinstimmung bestehe. Weiterhin ist uns auch aufgefallen, dass sie den Begriff ‘Einmalbildung’ anstelle von Okka- Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 198 sionalismus präferiert. Jedenfalls sind Okkasionalismen für Schippan keine Bestandteile des deutschen Wortschatzes, sondern einmalige Textkonstituenten, d.h. okkasionelle, nur in einem Text existierende Lexeme: [Sie] haben Wortfunktionen, benennen und folgen den Regeln der deutschen Grammatik, ohne Wortschatzelemente zu sein. (Schippan 1992, S. 95) Diese Autorin ist weder dafür, die Einmalbildungen zu den Neologismen zu zählen, noch widmet sie ihnen eine besondere Aufmerksamkeit. Unsere Definition (siehe unten Abschnitt 4) divergiert leicht von der oben genannten, denn unser Interesse gilt auch Lexemen, die so neu sind, dass sowohl Unsicherheiten über ihre Form als auch vereinzelt über ihren Inhalt bestehen, also in der Phase vor ihrer Lexikalisierung. Auf der Grundlage der Erläuterungen bei Kinne (1998) können wir feststellen, dass dieser Autor dem Okkasionalismus zunächst ein negatives Merkmal zuschreibt. Seine Einwände beruhen hauptsächlich darauf, dass man ihn als lexikalisierte Neuerung thematisieren sollte, die von vornherein wegen ihrer Individualität und Subjektivität notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. Diese Verurteilung beginnt schon beim Schöpfungsakt und endet bei der Nicht-Verwendung dieser lexikalischen Neuerung im Kommunikationsprozess. Trotzdem gibt Kinne zu, dass durch diesen genuinen Prägungsakt die linguistische Dynamik der deutschen Sprache gefördert wird: Als von wesentlich größerem linguistischen Interesse als der zufällig-punktuelle Schöpfungsakt des Neologismus (der ursprünglich zunächst immer „nur“ ein Okkasionalismus ist) erweist sich der Prozess der Aneignung, der Durchsetzung und Akzeptierung der lexikalischen Neuerung durch die Sprachgemeinschaft, der immer der Weg vom Okkasionalismus zum Neologismus ist, [...]. (Kinne 1998, S. 78) Nach dieser Auffassung ist der Neologismus nichts anderes als das Resultat des Einbürgerungsprozesses des Okkasionalimus ins gemeinsame Wortgut, so dass man den Prozess der Lexikalisierung erst als abgeschlossen bezeichnen kann, wenn das betreffende Lexem in den gebräuchlichen ein- und zweisprachigen Wörterbüchern verzeichnet ist. Resümierend kann man sagen, dass es sich bei Neologismen um neu eingeführte oder neuartig gebrauchte Lexeme handelt. Im Vergleich zu Okkasionalismen bzw. Ad-hoc-Komposita sind Neologismen usuell und zum größten Teil lexikalisiert. Viel exakter hingegen sind die Definitionsangaben bei Elsen (2004). In ihrer Studie wird der Begriff definitorisch klassifiziert und systematisch mit den Neologismen in Beziehung gebracht, allerdings in Form einer benachbarten Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 199 Kategorie. Es handelt sich hierbei um so genannte Individual- und Gelegenheitsbildungen, die von den mehrmaligen und etwas mehr verbreiteten Neologismen abzugrenzen sind, und zwar als einmalige mit textrelevanten Aufgaben versehene Okkasionalismen. Solche Wortbildungsprodukte entstehen aus stilistischen und sprachökonomischen Gründen. Sie fungieren als parate Einmalbildungen, die lexikalische Lücken füllen. Deshalb werden Okkasionalismen in unserer Arbeit in Anlehnung an Elsen zu den Neologismen im weitesten Sinne gerechnet, unabhängig davon, ob sie sich zu festen Lexikoneinträgen entwickeln werden oder nicht. Wir stimmen den Argumenten Elsens gänzlich zu, wenn sie behauptet, dass der Lexikalisiertheitsgrad eines Okkasionalismus bereits beim ersten Vorkommen weder vorauszusehen noch zu bestimmen ist (vgl. Elsen 2004, S. 21). Diese Ad-hoc-Bildungen erweisen sich also als Ersatz für solche Einheiten, die den Lexikografen entgangen sind und deshalb nicht in den gewöhnlichen Wörterbüchern vorzufinden sind, oder als Wiederbelebung von lexikalischen Kombinationsmöglichkeiten, die meist auf der Ebene der lexikalischen Organisation mit speziellen Funktionen und konkreten Interessen verbunden sind. Rein quantitativ betrachtet, können diese Erscheinungen einmalig oder auch mehrmals vertreten sein. Die traditionelle Produktivität bzw. Vorkommenshäufigkeit einer Einheit sollte jedoch nicht das alleinige Kriterium für die Zuordnung als Okkasionalismus darstellen, um so zu verhindern, dass bestimmte Wortbildungen allein aufgrund ihrer Häufigkeit vernachlässigt werden. Was sicherlich fest steht, ist, dass sie jedenfalls als Reduktion von langen Wortketten und Satzinformation, und als Begrenzung auf bestimmte sprachsystematische Bereiche wie idiomatische Wendungen und Sprichwörter verstanden werden können, wie z.B. der Canossagang der Gang nach Canossa. Nach diesen Grundannahmen und Vorüberlegungen möchten wir zunächst unsere eigene Auffassung von Okkasionalismen vorstellen. 4. Okkasionalismen als ein Sonderfall, wenn uns die Wörter fehlen Ein Okkasionalismus ist eine Neubenennung, d.h. eine neu erzeugte lexikalische Einheit, die in einer bestimmten Kommunikationssituation stattfindet, und mit einer bestimmten kommunikativen Aufgabe verbunden ist. Ein Okkasionalismus hat den Vorteil, analog zu bestehenden Wortbildungsmodellen gebildet werden zu können. Das bedeutet wiederum, dass er mit einem bereits existierenden Wortmaterial kreativ auf morphematischer und lexema- Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 200 tischer Ebene operiert. Wenn man seine Erscheinungsformen genauer untersucht, so lässt sich leicht erkennen, dass sie in den meisten Fällen Benennungslücken füllen und als Ersatzkonstruktionen zu isosemantischen Konstruktionen angeführt werden können. Vergleiche folgende von uns aufgefundene Beispiele, in denen die Ausgangskonstruktion als ähnliche Konstruktion mit unterschiedlicher syntaktischer Distribution gebraucht wird: Knödelstimme = eine Stimme, bei der ein Knödel im Halse stecken geblieben ist / die so klingt, als wenn ein Knödel im Halse stecken geblieben wäre; Tatarengesicht = ein Gesicht wie das eines Tataren; Knopfaugen = Augen so rund wie Knöpfe, knopfförmige Augen; pudelsplitternackt = splitternackt wie ein frisch geschorener Pudel. Aus den angeführten Beispielen geht hervor, dass diese ad hoc gebildeten Einheiten nicht lexikografisch erfasst sind, dass sie aber von der Kommunikationsgemeinschaft als verständlich empfunden werden, freilich nur dann, wenn man von der Idiomatisierung oder Demotivierung einiger Wortbildungen absieht. Bei Beispielen wie Vivat-Stalin-Geschrei, Holzklotzhäuschen, Flutkanzler oder Panjepferdchen sind auch gewisse pragmatische Kenntnisse (ein so genanntes Weltwissen) vonnöten. Mit diesen vielseitigen Morphemkonstruktionen werden nicht nur klangliche oder rhetorische Wirkungen ausgelöst, sondern auch wortspielerische, assoziative und bildliche Effekte. Wir befürworten Okkasionalismen deshalb, weil sie pragmatisch-kommunikativ günstige Einheiten bilden und mit ihnen bereits existierende Motivationsmodelle aktiviert werden. Sie fördern die Sprachkreativität, indem sie auch nach den kanonischen sprachökonomischen Gestaltungsgesetzen der deutschen Sprache funktionieren, so dass sie in vielen Fällen dem kompetenten Sprecher gar nicht als neu auffallen und ihr Verständnis meistens gesichert ist. So z.B. ersparen uns die treffenden Ausdrücke Schulausflugmagen und Frauenfrage derartig langatmige Umschreibungen wie „der Magen eines Schulkindes, der an einem gewissen Ausflugtag mit sämtlichen zusammengepantschten Lebensmitteln (wie Süßigkeiten, Pommes Frites, Hot Dogs usw.) belastet wurde; oder die Frage, ob nun eine Frau - hier Angela Merkel - das Kanzleramt antreten wird und die BRD regieren wird, oder nicht. Solche zum Teil nicht im Wörterbuch existierenden Neubildungen haben zum einen den Vorteil, dass ihre Motivation vom Hörer/ Leser leicht aufgedeckt werden kann, ohne sie jemals zuvor gehört bzw. gelesen zu haben, weil sie vom jeweiligen Kontext erschlossen werden können. Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 201 Außerdem ergibt sich bei der Akzeptanz von Okkasionalismen ein schrittweise vollzogener Vorgang: Zuerst wird eine Einheit als okkasionell empfunden, dann eventuell als neu genutzt und letztendlich als usuell akzeptiert. Wir sind auch der Meinung, dass der Okkasionalismus im Unterschied zum Neologismus zeitlos bzw. zeitübergreifend ist und dass nicht unbedingt eine Usualisierung oder gar Integration vorliegen muss. Aus diesem Grunde kann der Erfassungszeitraum unabhängig von einem Aktualitätsargument verlaufen. 5. Die Bedeutung von Okkasionalismen im DaF-Unterricht Die Wortbildung des Deutschen und vor allem die Komposition stellen die DaF-Lerner oft vor große Probleme. Diese werden bei Ad-hoc-Komposita noch größer, da es sich hier nicht um regelmäßige bzw. normgerechte Bildungen handelt. Das Behandeln von Ad-hoc-Komposita im DaF-Unterricht scheint nur bei fortgeschrittenen Lernern sinnvoll zu sein, und zuvor sollten sie für diese Ad-hoc-Komposita sensibilisiert werden. Für die Erzeugung von Wortbildungsprodukten können auch hochproduktive Grundmuster aufgestellt werden, wobei auch grammatische Erklärungen im Rahmen DaF angestrebt werden können. Besonders sollte die Rezeption der Gelegenheitsbildungen im DaF-Unterricht eingeübt werden. Da es bezüglich dieser Bildungen keine Frequenzlisten gibt, ist es Ermessenssache des Lehrers, welche Okkasionalismen er im Unterricht präsentieren möchte und welche nicht. Hinzu kommt die Berücksichtigung der Bildungsweisen und der bereits vorhandenen Wortbildungsmodelle der deutschen Sprache, insbesondere für die durch Zusammensetzung und Zusammenrückung entstandenen lexikalischen Einheiten. Nur der Lehrer kennt das genaue Niveau seiner Lerner. Hier bietet sich eine induktive Vorgehensweise an, indem der Lehrer authentische Zeitungstexte auswählt und im Unterricht die Okkasionalismen unterstreichen lässt. Danach bespricht er diese Lexeme mit den Lernern und versucht diese in die Muttersprache der Lerner zu übersetzen. In folgenden Einsetzübungen kann dieser Wortschatz dann gefestigt werden. Im Internet werden außerdem Originalradiosendungen als Podcasting bereitgestellt, z.B. unter http: / / www.wdr.de/ radio/ radiohome/ aktionen7/ wdr_3-podcasting.phtml (Stand: Juli 2007), so dass der Lerner aufgefordert werden kann, Informationen zu bestimmten Lexemen, wie zum Beispiel Internettelefonie herauszuhören. Je nachdem welche Lexeme der Lehrer aussucht, können u.a. auch landeskundliche Informationen vermittelt werden, z.B. bei Abschiebebeobachter. Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 202 6. Zum Problem der Übersetzung deutscher Okkasionalismen ins Spanische Okkasionalismen werden - wie man der oben genannten Definition entnehmen kann - nur über einen bestimmten Zeitpunkt verwendet. Aus diesem Grund werden solche Lexeme erst ins Wörterbuch aufgenommen, wenn sie sich im Sprachgebrauch durchgesetzt haben, wobei dies jedoch nur für eine geringe Zahl von Gelegenheitsbildungen gilt. Reine Neologismen dagegen werden erst nach einigen Jahren lexikografisch erfasst. Gerade die noch nicht kodifizierten Einheiten werden oft zur Stolperfalle für den Übersetzer, denn weder einsprachige noch zweisprachige Wörterbücher leisten hier Hilfe. Noch schwieriger wird es, wenn es sich bei den Okkasionalismen und Neologismen um Mehrwortlexeme handelt, da hier im Spanischen meist keine Äquivalente zur Verfügung stehen. Des Weiteren finden Komposita nur in begrenztem Umfang Aufnahme in zweisprachige Wörterbücher, da die meisten nach gewisser Zeit wieder aus dem Wortschatz verschwinden. Es werden zwar die konstituierenden Elemente angegeben, die jedoch dem Benutzer nicht weiterhelfen, so zum Beispiel Kanzlerflüsterin. Die Gattin von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder erhielt diesen Beinamen, womit auf den Einfluss auf ihren Mann angespielt wurde. Da Schröder nicht mehr Bundeskanzler ist, wird dieses Wort heute kaum noch benutzt. Der Muttersprachler ist, wie auch die anderen Beispiele zeigen, jederzeit in der Lage, neue korrekte Bildungen dieser Art vorzunehmen, während der Nichtmuttersprachler nur selten über diese Sprachkompetenz verfügt. Nur ein elektronisches Glossar oder Wörterbuch kann in dieser Situation weiterhelfen. Es muss auch bedacht werden, dass beim Worttyp Kompositum wesentliche Unterschiede zwischen dem Spanischen und dem Deutschen bestehen. Im Deutschen tritt das Bestimmungswort vor das Grundwort, während im Spanischen die Reihenfolge genau umgekehrt ist. Des Weiteren verursacht auch die Abhängigkeit der meisten Neologismen von einem historisch-gesellschaftlichen Kontext, wie die Beispiele zeigen, Übersetzungsprobleme. Der Übersetzer stößt aufgrund ihres oft schnellen Verschwindens auf unüberwindbare Übersetzungsbarrieren, sodass oft nur eine Paraphrase möglich ist. 7. Beispiele Vor allem bei Ad-hoc-Bildungen lässt sich, wie die unten genannten Beispiele zeigen, das kreative Potenzial der Wortbildung erkennen. Bei diesen Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 203 Neubildungen ist zu unterscheiden, ob diese nur für einen konkreten Kontext gebildet wurden und in vielen Fällen auch nur in diesem verständlich sind, oder ob ein späteres Übertreten zu den usuellen Wörtern denkbar ist, sodass es sich dann um reine Neologismen handeln würde, die folglich auch lexikalisiert würden. Okkasionalismen sind dagegen auf ganz bestimmte Verwendungsbereiche beschränkt. Bei diesen Gelegenheitsbildungen stellen sich Komposita als besonders kreativ heraus. In literarischen Texten stoßen wir auf Gelegenheitsbildungen mit teilweise metaphorischer Bedeutung, wobei es sich in erster Linie um Substantiv- Substantiv-Komposita und in zweiter Linie um Zusammenrückungen handelt. In der Prosa trifft man häufiger auf Vergleichsbildungen, meist mittels Substantiv-Adjektiv-Komposita, die in der Pressesprache seltener in Erscheinung treten. Die Mehrzahl der von uns zitierten Beispiele stammt aus der Pressesprache, da diese im Vergleich zu Prosatexten besser in der Lage ist, aktuelle allgemeinsprachliche Tendenzen widerzuspiegeln. Darüber hinaus stellen Augenblickskomposita eine charakteristische Eigenschaft der Textsorte Zeitungstext dar (vgl. Lüger 1995, S. 31). Die Okkasionalismen zeichnen sich entweder durch neutrale, informative, expressive oder wertende Textfunktionen aus. Bei den von uns gefundenen Beispielen handelt es sich in erster Linie um Zusammensetzungen, wobei die Wortart Substantiv dominiert. Die Einheiten werden nun nach diesem Kriterium aufgeführt. Des Weiteren wäre bei einer höheren Anzahl von Beispielen eine Einteilung nach Wortfeldern möglich, was vor allem für DaF-Lerner sehr sinnvoll wäre. Bei dieser Vorgehensweise nähme das Wortfeld ‘Informationstechnologie’ einen großen Bereich ein. 7.1 Substantive Abschiebebeobachter = unser Vorschlag: observador para la repatriación de inmigrantes Abschiebebeobachter ist eine neue Berufsbezeichnung, mittels Suffix -er gebildet, das Nomina Agentis bezeichnet und u.a. bei Berufsbezeichnungen sehr produktiv ist. Der Abschiebebeobachter ist eine europaweit einzigartige Institution. Seine Berichte über das oft brachiale Vorgehen der Behörden haben zu mancher Diskussion mit der NRW -Landesregierung geführt - und Verbesserungen gebracht (taz NRW , 5.12.2005, S. 2). Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 204 Ärztetourismus = turismo sanitario Patienten suchen Ärzte im Ausland auf, entweder aus Kostengründen oder um Wartelisten zu umgehen. Wenn nach jahrelangem erfolglosem Ärztetourismus die Schulmedizin nicht mehr helfen kann, probieren vor allem Menschen mit chronischen Schmerzen irgendwann auch so genannte alternative Heilverfahren aus ( ZDF , Internetseite, www.zdf.de/ ZDFde/ inhalt/ 8/ 0,1872,3759976,00.html , Stand: Juli 2007). Bildungsoldie = unser Vorschlag: trabajador tardío Dieser Begriff möchte zum Ausdruck bringen, dass viele junge Deutsche erst im fortgeschrittenen Alter ins Berufsleben starten. Der Anglizismus Oldie wird im Spanischen nur sporadisch verwendet, wodurch ein spanisches Kompositum mit oldie unverständlich sein könnte. Beim Einstieg schon ein Bildungsoldie (Unispiegel, 05.02.2006). Genschwoman = unser Vorschlag: una mujer Gensch Genschwoman stellt eine Analogbildung zu Genschman dar, wie der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher liebevoll genannt wurde. Mit Genschwoman wurde in den letzten Monaten Angela Merkel aufgrund ihrer vorsichtigen Haltung in der Iran-Politik bezeichnet. Zur Bildung, aber auch zum Verständnis dieses Lexems bedarf es gewisser historischer und kultureller Kenntnisse. Während Genschman den meisten Deutschen wohl ein Begriff ist, bleibt bei Genschwoman abzuwarten, ob sich dieses Lexem durchsetzt. Sowohl Genschman als auch Genschwoman sind Beispiele dafür, dass es in jeder Sprache Lexeme gibt, die kulturspezifisch geprägt sind und kaum zu übersetzen sind, d.h., nicht nur sprachliche Unterschiede zwischen Sprachenpaaren, sondern auch kulturelle Unterschiede können für den Übersetzer zur unüberwindbaren Barriere werden. Genschwoman: Angela Merkels vorsichtige Politik im Konflikt mit Iran entspricht deutscher Tradition und deutschen Interessen (Financial Times Deutschland, Internetausgabe, 11.05.2006, www.ftd.de/ meinung/ leitartikel/ 72056.html? eid=26 , Stand November 2007). Handyfernsehen = telefonía convergente (móvil de última generación con televisor, ordenador, etc. incorporado) Mit Handyfernsehen wird es möglich sein, sich klassische Fernsehinhalte auf dem Handy anzusehen. Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 205 Zukünftige Nutzer des Handyfernsehens werden vor allem an Sportsendungen, Nachrichten sowie Musik- und Videoclips interessiert sein ( www. medienkonvergenz-monitoring.de/ index.php? id=1158 , Stand: Juli 2007). Internettelefonie = telefonía via/ por internet Die neue Technik sei Voraussetzung für neue Multimedia-Angebote im Internet, darunter Bezahlfernsehen, Online-Videotheken (Video on Demand) und eine bessere Sprachqualität bei der Internettelefonie (Express, Internetausgabe, 22.04.2005, www.express.de/ servlet/ Satellite? pagename=express/ index&pageid=1004370693564&ressortid=104&articleid=11134772 25828 , Stand: November 2007). Kuschelparty = unser Vorschlag: ligódromo In der Singlegesellschaft fehlt es vielen Menschen an Zärtlichkeit. Sie suchen dann so genannte Kuschelpartys auf. Das Lexem ist eine Lehnübersetzung aus dem amerikanischen Englisch (cuddle party). Nun haben zwei Frauen auch in Berlin Kuschelparties ins Leben gerufen ( www. dradio.de/ dkultur/ sendungen/ kompass/ 362776/ , Stand: Juli 2007). Landesfürst = unser Vorschlag: el príncipe de una entidad nacional/ nación Anstatt der amtlichen Bezeichnung Ministerpräsident wird hier der Terminus Landesfürst benutzt, der eigentlich für die Herrscher von Fürstentümern verwendet wird. In diesem Falle könnte man von einer Bedeutungserweiterung, aber auch von einer Wertung sprechen. Um das Lexem genau zu verstehen, wird vorausgesetzt, dass der Rezipient mit der politischen Situation in Deutschland vertraut ist. Landesfürst Edmund Stoiber wird vor Ehrgeiz nicht mehr an sich halten können, nach Berlin reisen und dort irgendein hochwichtiges bundespolitisches Amt übernehmen, etwa als Superminister für Atom, Wirtschaft und den Osten (Die Zeit, 15.09.2005). Nachahmermedikament = medicamento genérico Nachahmermedikament ist das deutsche Lexem für das aus dem Lateinischen stammende Generikum. Bei der Übersetzung ins Spanische fällt auf, dass das Spanische medizinische Termini aus dem Lateinischen anpasst. Diese Termini sind im Spanischen leicht verständlich, was für das Deutsche so nicht gilt, wodurch ein rein deutscher Terminus zu rechtfertigen ist. Patienten können sich freuen: Sandoz und Hexal senken zum 1. Juni das Preisniveau für so genannte Nachahmermedikamente zum Teil beträchtlich (Süddeutsche Zeitung, Internetausgabe, 24.05.2006, www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ artikel/ 586/ 76510/ , Stand: November 2007). Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 206 Online = online / en línea Besonders produktiv sind Komposita mit dem Adverb online, wobei mehrere Lexeme wie Onlineshopping, Onlinebanking, Onlinezeitung bereits als Neologismen im Wörterbuch verzeichnet sind. Darüber hinaus entstehen ständig neue Bildungen wie Onlinevideothek, Onlinereisebüro etc. Bei diesen Lexemen fällt auf, dass noch eine gewisse Unsicherheit bei der Orthografie herrscht; so existiert neben der oben genannten Form auch die mit Bindestrich geschriebene Form. Schnäppchenroute = unser Vorschlag: ruta ahorrapeajes (ruta alternativa para evitar las autopistas de peaje) Schäppchenroute kann als Analogbildung zu Schnäppchenjäger interpretiert werden. Nach der Einführung der LKW-Maut weichen viele LKW-Fahrer auf Bundesstraßen aus, um die Mautgebühr auf Autobahnen zu umgehen. Daher erhalten die Bundesstraßen den Namen Schnäppchenroute: Die Lkw-Maut wird künftig auch auf mehreren Bundesstraßen fällig, die der Schwerverkehr als Schnäppchenrouten benutzt (N24, 28.07.2005, www.n24. de/ ticker/ index.php/ p2005072816135600002 , Stand: Juli 2007). Sportaholic = vigoréxico Bei diesem Anglizismus handelt es sich erneut um eine Analogiebildung zu Workaholic, was bereits fest im deutschen Wortschatz verankert ist. Während Workaholic eine Person ist, die zwanghaft übermäßig viel arbeitet, bezeichnet Sportaholic eine Person, die zu viel Sport treibt. Dieses Lexem wird im britischen Englisch so gut wie gar nicht verwendet, aber man trifft auf Bildungen wie Shoppaholic und Chocaholic, was auch ins Deutsche übernommen werden könnte. Die Welt eines Sportaholic ( http: / / sportaholic.twoday.net/ , Stand: Juli 2007). Unihopping = unser Vorschlag: estudiante itinerante (estudiante que decide cambiar frecuentemente de universidad, saltando de una universidad a otra) Es gibt bereits mehrere lexikalisierte Komposita mit Hopping, wie z.B. Jobhopping zur Bezeichnung einer Person, die häufig ihre Arbeitsstelle wechselt. Analog dazu wurde Unihopping gebildet, was sich auf den häufigen Wechsel der Hochschule bezieht. Das Lexem ist auch ein Beispiel dafür, dass eine zunehmende Tendenz von Kurzwörtern beobachtet werden kann (Starke 1997). Kurzwörter tragen u.a. zur Sprachökonomie bei und erweitern die Möglichkeiten der Bildung neuer Lexeme. Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 207 Auch Unihopping kommt im britischen Englisch so gut wie nicht vor. Es existiert die Bildung Barhopping, die bereits durch Kneipenhopping ins Deutsche aufgenommen wurde. Ein sinnvoller Uniwechsel nach Vordiplom oder Diplom (kein Unihopping! ) kommt bei vielen Firmen gut an ( http: / / forum.astronomie.de/ phpapps/ ubbthreads/ printthread.php? Board=diskussion&main= 198245&type=post , Stand: März 2007, Seite Juli 2007 nicht mehr online). USB-Telefonhörer = teléfono VoIP, telefonía IP Dieses Kompositum besteht aus einer englischen Abkürzung (Universal Serial Bus, ein universeller Anschluss beim PC) und einem deutschen Grundwort. Der Einfluss des englischen USB Phone ist auch im Deutschen noch zu erkennen. Alternativ kann ein so genanntes Softphone zusammen mit einem Headset oder einem USB -Telefonhörer verwendet werden ( www.teltarif.de/ i/ voip.html? page=4 , Stand: Juli 2007). Wortbildungstyp Zusammenrückung Authentische Gelegenheitsbildungen stellen die durch Zusammenrückung entstandenen Wortbildungsprodukte dar, zumal sie zu den nicht lexikalisierten Einheiten gehören. Die Zusammenrückung erweist sich als eine insbesondere in literarischen Texten sehr häufig genutzte Wortbildungsart, die eine unendliche Menge von Komposita zulässt, da alle möglichen offenen Klassen zu neuen Wörtern zusammengefasst werden können. Abgesehen davon handelt es sich um eine pragmatisch und kommunikativ interessante Wortbildungskategorie, die vor allem mit der Satzbildung sehr eng zusammenhängt und dem Fremdsprachler dabei helfen kann, die strukturellen Unterschiede zwischen seiner Muttersprache und dem Deutschen bewusst aufzudecken. 3 Bei folgenden Zusammenrückungen handelt es sich um endogene Wortschatzelemente, die auf vorhandenem Wortmaterial des Deutschen beruhen und dessen Bewertung bzw. Interpretation nicht vom Leser/ Lerner neu überdacht werden muss. Folgende Beispiele zeugen unseres Erachtens von beträchtlicher sprachschöpferischer Kreativität als vorrangigem Faktor bei der Kombination syntaktischer Einheiten. 3 In der vorliegenden kleinen Auswahl handelt es sich um Wortbildungsprodukte, die besonders dem Fremdsprachler Schwierigkeiten bereiten können, weil sie meistens eine Paraphrasierung voraussetzen, um sie überhaupt identifizieren zu können. Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 208 auch-bloß-Mensch = sólo humano Im sanftesten Fall verlässt die Mutter achselzuckend die Arena. Meistens knallt sie die Tür. Sie braucht den Knall als auch-bloß-Mensch (Noack, Barbara: Ein Platz an der Sonne. 1997, Bastei Lübbe Verlag, S. 234). blau-weiß-orange-gemustert = estampado de color azul, blanco y naranja Für die Couch suchte ich eine blau-weiß-orange-gemusterte Baumwolldecke aus […] ( Noack, Barbara: Brombeerzeit. 1993, Langen Müller Verlag, S. 206). Hilflos-ausgeliefert-Sein = estar indefenso a la mano de Dios, estar en manos de alguien Dieses Hilflos-ausgeliefert-Sein war für ihn das Schlimmste gewesen (Noack, Barbara: Brombeerzeit. 1993, Langen Müller Verlag, S. 25). Hund-beißt-Mann-am-Zaun-Problematik = la problemática en torno a los ataques de perros Nun könnte man sagen, die Hund-beißt-Mann-am-Zaun-Problematik komme in Großstädten wie Berlin naturgemäß nicht so häufig vor wie auf dem Land. Doch auch dort ist die Zahl der Hundeattacken rückläufig (Berliner Zeitung 23.12.2006. In: Presse und Sprache Nr. 589, Bremen: Ehlers & Schünemann, S. 6). Nicht-mehr-entrinnen-Können = (la sensación de) no tener escapatoria Angst nistete sich vor diesem Nicht-mehr-entrinnen-Können, das Gefühl trappelnde Fliegen im Netz zu sein, auf die Spinne wartend (Noack, Barbara: Ein Stück vom Leben. 1998, Ullstein Verlag, 3. Aufl., S. 24). Sich-selber-was-Singen = canturrear para uno mismo Ich ging mit dem Hund spazieren. Dabei begegnete mir ein kleines Mädchen auf dem Heimweg von der Schule. Ein Mädchen voller Hopsen und Sichselber-was-Singen und Stehenbleiben und alles Angucken (Noack, Barbara: Ein Platz an der Sonne. 1997, Bastei Lübbe Verlag, S. 219). wie-wenn-als-ob = como si tal, como si se diera el caso Eine Gruppe diskutiert darüber, was sich wohl in dem hochtoupierten Haaraufbau einer Mitfahrerin befinden mag - ein Vogelnest, Teleskop, abessinische Läuse? Dann macht eine Schere ein Ratschgeräusch wie-wenn-als-ob hinter ihren Kopf. Sie springt entnervt hoch und beschwert sich beim Fahrer (Noack, Barbara: Ein Platz an der Sonne. 1997, Bastei Lübbe Verlag, S. 227). 7.2 Verben Bei den unten genannten Beispielen handelt es sich um die Wortart Verb, die bei Wortneubildungen nicht so oft anzutreffen ist. Diese Verben sind durch Ableitung entstanden, wie z.B. knicken = olvidar(se de). Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 209 Das Verb knicken hat eine Bedeutungserweiterung erfahren. Man verwendet das Verb nicht mehr nur im Sinne von falten/ biegen, sondern auch in dem Kontext: Das kannst du vergessen = das kannst du knicken. Es handelt sich hierbei also um bedeutungsgleiche Aussagen. Bei der von uns vorgeschlagenen Übersetzung geht das umgangssprachliche Register verloren, was sich jedoch nicht immer vermeiden lässt. Fotografieren bei wenig Licht (ohne Blitz) kannst du also schon mal knicken ( www.wer-weiss-was.de/ theme90/ article3387685.html , Stand: Juli 2007). skyp-o-fonieren, skypofonieren/ skypen = skypear Skype ist eine kostenlos erhältliche VoIP-Software, die das kostenlose Telefonieren via Internet von PC zu PC sowie das gebührenpflichtige Telefonieren ins Festnetz und auf Mobiltelefone ermöglicht (SkypeOut). Skypofonieren oder skypen bezeichnet also das Telefonieren mit dieser Software. Ich mag ihn total gerne, und es ist immer ur lustig wenn wir skypofonieren oder so plaudern ( http: / / my.sms.at/ readytorumble18/ , Stand: Juli 2007). „Lass' uns mal skypen! “ ist ein Satz, der inzwischen zur Mode wird ( www. netzeitung.de/ spezial/ internettelefonie/ 328964.html , (Stand: Juli 2007). texten = unser Vorschlag: redactar, componer Bei dieser Entlehnung aus dem Englischen hat eine Bedeutungserweiterung stattgefunden. Texten bezog sich ursprünglich auf das Verfassen von Werbe- oder Schlagertexten und wird heute auch für das Erstellen einer SMS verwendet. Bei diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass lebendige Sprachen wie das Deutsche einen ständigen Wandel erfahren, obwohl das einem Großteil der Sprachgemeinschaft meist nicht bewusst ist. Da Anglizismen im Spanischen nicht so häufig vorkommen wie im Deutschen kann das Lexem problemlos mit redactar übersetzt werden. Texte mir mal die Nummer und wann du normalerweise da bist. (sind 2 Stunden Zeitverschiebung, oder? ). Also wir hoeren [sic] uns ( www-user. tu-chemnitz.de/ ~drj/ index.php? page=8&id=81&jahr=2006&monat =02 , Stand: März 2007, Seite Juli 2007 nicht mehr online). wildpinkeln = unser Vorschlag: mear en la calle Mit Wildpinkler werden Leute bezeichnet, die beispielsweise an Hauswänden und in Grünanlagen urinieren. Carmen Gierden Vega / Dirk Hofmann 210 KÖLN taz: Achtung, sie schiffen wieder: Pünktlich zu Karneval gibt es wieder jede Menge Wildpinkler. Das Ordnungsamt in Köln musste allein zum Karnevalsauftakt 462 Jecken ein Bußgeld wegen „Wildpinkelns“ aufdrücken (taz NRW , 25.2.2006, S. 1). 8. Literatur Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Hämmer, Karin/ Poethe, Hannelore (Hg.) (2004): Wortbildung - praktisch und integrativ: Ein Arbeitsbuch. 3., korr. Aufl. (= Leipziger Skripten 2). Frankfurt a.M. Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart. Elsen, Hilke (2004): Neologismen. Formen und Funktionen neuer Wörter in verschiedenen Varietäten des Deutschen. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 477). Tübingen. Glück, Helmut (Hg.) (2000): Metzler Lexikon Sprache. 2., überarb. u. erw. Auflage. Stuttgart/ Weimar. Gross, Harro (1998): Einführung in die germanistische Linguistik. 3., überarb. u. erw. Aufl. München. Herberg, Dieter (1997): Neologismen im allgemeinen Wörterbuch oder Neologismenwörterbuch? Zur Lexikographie von Neologismen. In: Konerding, Klaus- Peter/ Lehr, Andrea (Hg.): Linguistische Theorie und lexikographische Praxis. Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996. (= Lexicographica. Series maior 82). Tübingen, S. 61-68. Herberg, Dieter/ Kinne, Michael (1998). Neologismen. Heidelberg. Herberg, Dieter/ Kinne, Michael/ Steffens, Doris (Hg.) (2004): Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 11). Berlin. Kinne, Michael (1998): Der lange Weg zum deutschen Neologismenwörterbuch. In: Teubert, Wolfgang (Hg.): Neologie und Korpus. Tübingen, S. 63-110. Lüger, Heinz Helmut (1995): Pressesprache. Tübingen. Lutzeier, Peter Rolf (1995): Lexikologie. Tübingen. Motsch, Wolfgang (2004): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin/ New York. Pelz, Heidrun (1996): Linguistik. Eine Einführung. Hamburg. Peschel, Corinna (2002): Zum Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution. Tübingen. Wortbildung und Ad-hoc-Komposita 211 Schippan, Thea (1992): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Schunk, Gunther (2002): Studienbuch zur Einführung in die Deutsche Sprachwissenschaft. 2., überarb. u. erw. Aufl. Würzburg. Starke, Günter (1997): Kurzwörter: Tendenz steigend. In: Der Deutschunterricht 2, 1997, S. 88-94. Teubert, Wolfgang (Hg.) (1998): Neologie und Korpus. Tübingen. Vater, Heinz (2002): Einführung in die Sprachwissenschaft. 4., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart. Djamel Eddine Lachachi Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 1. Allgemeines Die Wortbildungslehre ist eine Schöpfung J. Grimms (vgl. Paul 1981, S. 17). Die Wortbildung ist nach Bußmann (1990, S. 852) die Untersuchung und Beschreibung von Verfahren und Gesetzmäßigkeiten bei der Bildung neuer komplexer Wörter auf der Basis vorhandener sprachlicher Mittel. Je nach Erkenntnisinteresse betrachtet die Wortbildung die Struktur des Wortschatzes unter historisch-genetischem oder synchronisch-funktionalem Aspekt. Nach Kastovsky (1982) heißt Wortbildung, dass vorhandene Morpheme nach bestimmten Mustern zu neuen Lexemen (lexikalischen Syntagmen) kombiniert (werden), deren Bedeutungen bei Kenntnis der Bestandteile und der Kombinationsregeln aus der morphologischen Form abgeleitet werden können. (zit. nach Wills 1986, S. 151) Man kann die Wortbildung auch als Musterfall sprachlicher Kreativität oder als Sprachfähigkeit „par excellence“ bezeichnen. Grimm, Kluge, Paul und Wilmann haben im 19. Jahrhundert die Pionierarbeit geleistet und Henzens Buch war in den 60er-Jahren das Standardwerk der Wortbildung (vgl. Naumann 1986, S. 60). Aufgabe der Wortbildungslehre ist, [zu] erklären, wieso ein Sprecher-Schreiber ein solches Kompositum jeweils verschieden verwenden kann, und vor allem, wie es kommt, daß der Hörer- Leser das Kompositum jeweils verschieden und meistens richtig verstehen kann. (Heringer 1984, S. 46) Die Geschichte der Wortbildungsforschung ist über Strecken eine Geschichte konkurrierender Vorgehensweisen mit Allgemeingültigkeits-Anspruch: formaler oder inhaltlicher Zugriff, Diachronie oder Synchronie, analytische oder synthetische Perspektive, syntaktisch/ transformationelle oder lexikalistische Position. Unumstritten ist heute wohl, dass man keinen der zusammenhängenden Aspekte verabsolutieren darf, will man dem Phänomen gerecht werden, denn die Wortbildung ist so recht ein Anschauungsfeld für die Eigentümlichkeiten und Ungereimtheiten von Sprache, also für die Nöte der Sprachwissenschaft. (Holly 1985, S. 89) Djamel Eddine Lachachi 214 Die Neubildung von Wörtern geht unter Zuhilfenahme des vorhandenen Sprachmaterials vor sich. Hinter jedem neuen Wort steht ein anderes, schon vorhandenes. Es existiert immer noch ein Wortbildungsboom. Die Wortbildungslehre hat sich zu einem verwirrenden Tummelplatz aller möglichen Ansätze, Theorien, Darstellungen und Detailuntersuchungen entwickelt. Deshalb möchte ich nun kurz den Versuch wagen, hier einen Überblick über die wichtigsten Gesamtdarstellungen, Einführungen und Sammelbände der deutschen Wortbildung zu geben. Becker (1824), Jeitteles (1865), Mühlefeld (1908), Steche (1925), Kluge (1925), Henzen (1965) und Fleischer (1969) sind die Hauptfiguren in der Tradition der Wortbildungslehre. Die ersten selbstständigen Gesamtdarstellungen sind die von Kluge und Henzen. Dann folgt die Trennung der Wortbildung von der Grammatik in zahlreichen grammatischen Darstellungen - und dies bis in die Gegenwart -; die Wortbildung wird ausgeklammert, z.B. bei Glinz (1952), Helbig/ Buscha (1972) und Engel (1977). Die Ursache liegt in einer „stärkeren Differenzierung von Grammatik und Lexikologie“. 1 Andere wie Brinkmann (1962) und Erben (1958) behandeln einige Aspekte der Wortbildung in den Abschnitten über die einzelnen Wortarten. Bei Erben ist die Darstellung insgesamt ausführlicher. In Jung (1966) und Grebe (1959) ist „jeweils ein gesondertes Kapitel ‘Die Wortbildung’ aufgenommen worden, ohne theoretische konzeptionelle Weiterfangen [...]“ (vgl. Stepanova/ Fleischer 1985, S. 37). Ende der 60er-Jahre entwickeln sich zwei Wortbildungsmodelle, „die sich in gewisser Weise konträr gegenüberstehen“: das von Marchand (1969 - Syntax) und das von Coseriu (1968 - Semantik) (vgl. Staib 1981, S. 117). Fleischer (1969) schreibt eine neue spezielle Gesamtdarstellung der deutschen Wortbildung, die bis heute als einzigartig auf dem Gebiet betrachtet werden kann (vgl. Stepanova/ Fleischer 1985, S. 38). Ihm folgen die Arbeiten von Naumann (1972), die Einführung von Erben (1975) und das Lexikon zur Wortbildung von Augst (1975) mit einem Inventar an Grundmorphemen. 2. Wortbildungsarten Unter Wortbildungsarten verstehen wir einen Oberbegriff für verschiedene Modelle und Typen. Hinter jeder Klassifizierung steht aber eine Theorie oder mit Hollys Worten gesagt: 1 Stepanova/ Fleischer (1985, S. 37); vgl. Wunderli (1989, S. 74-96). Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 215 Natürlich läßt sich schon über die Klassifizierung in Wortbildungsarten streiten; dahinter stehen theoretische Prämissen: so postuliert etwa die Annahme von Nullsuffix-Ableitungen statt Konversion (Wortartwechsel) etwas, was es nicht gibt. Die Einteilung in Expansion/ Modifikation (Komposition und Präfigierung) und Derivation (Ableitung), wobei letztere als Unterklasse der Transposition angesehen wird (Marchand 1969), geht von einer grundsätzlichen Determinans/ Determinatumsstruktur aus, die ja ebenfalls umstritten ist. (Holly 1985, S. 91) 2 Es wird zwischen Wortbildungsart und Wortbildungstyp, Wortbildungstyp und Wortbildungsmodell und/ oder Wortnische und Wortstand unterschieden. All diese Begriffe werden auch als Synonyme gebraucht. 3 Henzen (1958) behandelt die beiden letzten Begriffe in seinem Aufsatz „Betrachtungen über Wortnischen und Wortstände“ (vgl. Lipka/ Günther 1981, S. 4). Ein Wortbildungsmodell ist „ein morphologisch-syntaktisch und lexikalisch-semantisch bestimmtes Strukturschema, nach dem Reihen gleichartiger Wortbildungskonstruktionen gebildet werden“ (Stepanova/ Fleischer 1985, S. 98). Die Wortbildung kannte nur die Zweigliederung der Hauptarten in Derivation und Komposition. In der Folge von Grimm kann man Wilmanns, Behagel, Paul und Henzen erwähnen, wobei die „Beschreibung der Komposition gewöhnlich weit kürzer ausfällt und die Proportionen der Darstellung zugunsten der Derivation stark verschoben sind“ (Stepanova/ Fleischer 1985, S. 29). Bödikers Grundsätze (1698) behandeln zwei Wortbildungstypen: Komposition und Derivation (Diedrichs 1983, S. 271). Die Präfixbildung wurde als dritte Wortbildungsart erst durch Kluge berücksichtigt: „Erst F. Kluge tut den entscheidenden Schritt und stellt die Präfixbildung als eigene Art der Wortbildung in einem selbständigen Kapitel dar.“ (Stepanova/ Fleischer 1985, S. 31). Henzen folgt Kluge in seiner 2. Auflage (1957), in der er auch die Präfixbildung von der Komposition ablöst. Auch Grimm unterscheidet drei Arten der Wortbildung: Grimm unterscheidet prinzipiell zwischen „innerer Wortbildung“ (durch Laut und Ablaut) und äußerer Wortbildung (durch äußere Mehrung der Wurzel) (II, S. 1); diese wiederum differenziert nach „Ableitung (auch Derivation, als Ergebnis: Derivat) und Zusammensetzung (auch: Composition, als Ergebnis: Composita) (II, S. 382).“ (Stepanova/ Fleischer 1985, S. 22f.; siehe auch S. 55, Anm. 17) 2 Dazu siehe auch Kastovsky (1982, S. 171f.), Polenz (1980, S. 170) und Erben (1975, S. 55). Zu diesem Streit siehe auch Seppänen (1983, S. 535ff.). 3 Vgl. Fleischer/ Barz (1992): Wortbildungsmodell, S. 53f.; Wortbildungstyp, S. 54f.; Wortbildungsregel, S. 56f.; Wortbildungsparadigma, S. 68f.; Wortbildungsreihe, S. 69f.; Wortbildungsgruppe, S. 70f.; Wortbildungsnest, S. 71ff.; usw. Dazu siehe auch Fleischer (1995, S. 13 und 16). Djamel Eddine Lachachi 216 Stepanova/ Fleischer erwähnen auch die Unterscheidung von innerlicher und äußerlicher Wortbildung bei Schmitthenner (1826. S, 186), die in etwa der modernen Unterscheidung von Modifikation und Transposition entspricht (vgl. Stepanova/ Fleischer 1985, S. 55, Anm. 17). Eine Darstellung einiger Wortbildungsmodelle in ihrer historischen Entwicklung finden wir bei Lachachi (1997). In den verschiedenen Modellen kann man nur die zwei Wortbildungsarten, 4 Komposition und Derivation, bei allen feststellen, die aber auch schwer voneinander abzugrenzen sind. Dies versuchen wir im Folgenden. 3. Komposition und Derivation Martinet betrachtet die Komposition und die Derivation als „Sonderformen der Erweiterung“ (1963, S. 120), erwähnt ihre gemeinsamen Eigenschaften und vertritt die Auffassung, dass „ein Bestandteil von Zusammensetzungen Affix [wird], sobald er nur noch in Zusammensetzungen gebraucht wird“ (ebd., S. 122). Diese Ausgangsbasis finden wir auch bei Höhle (1982), der in einer lexikalistischen Wortbildungstheorie die Unterscheidung zwischen Komposition und Derivation aufgeben möchte, und für eine „Kompositionstheorie der Affigierung“ (vgl. ebd., S. 80) plädiert: Die Unterscheidung zwischen Komposition und Affixderivation findet nach dieser Theorie also keinen Ausdruck in der Konstituentenstruktur, sondern geht ausschließlich auf die Beteiligung gebundener lexikalischer Elemente im Fall der Derivation zurück. Eine solche Theorie nenne ich strikt lexikalisch; wegen der formalen Gleichartigkeit von Komposita und Derivata spreche ich von der Kompositionstheorie der Affigierung. (ebd.) Er spricht sogar von einer „Verwandtschaft“ von Affixen mit Wörtern und findet viele Parallelen zwischen beiden: Auch wenn man nach anderen Kriterien sucht, die einen wesentlichen (nicht auf lexikalische Eigenschaften reduzierbaren) Unterschied zwischen Komposition und Derivation begründen könnte, findet man statt Unterschieden nur Gemeinsamkeiten. (Höhle 1982, S. 93) Mit ‘anderen Kriterien’ sind gemeint: Flexion, Fugenelement, Elision des Erst- oder Zweitglieds, Grenzsymbole und auch die „Argumentvererbung“ 4 Das Modell der Konversion als dritte Hauptwortbildungsart beginnt sich mit Polenz (1980) in den 80er-Jahren durchzusetzen. Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 217 von Toman (1980), so hat z.B. „ein Verb Selektionseigenschaften [...], die bei der Derivation im typischen Fall in gewisserweise an das Derivat vererbt werden“ (nach Höhle 1982, S. 93). Ferner zeigt sich, daß es komplizierte Zusammenhänge zwischen freiem und gebundenem Vorkommen von Morphem(komplex)en gibt, für deren Behandlung die terminologische Zweiteilung in Komposition gegenüber Derivation keineswegs hilfreich ist. Darüber hinaus ist zu sehen, daß ganz unabhängig von Problemen der Derivation schon für die Komposition Zusammenbildungen zugänglich und interpretierbar sein müssen. Derivata folgen den nämlichen Regularitäten, so daß damit noch einmal, an einem recht eigentümlichen Fall, der Zusammenhang zwischen Komposition und Derivation demonstriert ist. (ebd., S. 100) Höhle ist der Ansicht, dass es keine tiefgehenden Unterschiede zwischen Komposition und Affixderivation gibt. 5 Die Abgrenzung zwischen Komposition und Derivation ist allerdings nicht immer einfach (vgl. Lachachi 1992, S. 40). Es zeigt sich, dass es einem schwerfällt, beide voneinander abzugrenzen, weil eines der beiden Kompositionsglieder (vorn oder hinten) in einer Übergangsphase steht, die schwer zu fassen ist. Dieser Übergang vollzieht sich allmählich (vgl. auch Holly 1985, S. 91, Anm. 3). Engelien (1972, S. 92) sieht den großen Unterschied zwischen Komposition und Derivation in der Position der Veränderung: „Die Derivation setzt ihre Bildungsmittel hinten an das Wort, die Komposition geschieht vorn am Wort.“ Wir sind der Meinung, dass man sich für eine Halbaffigierung entscheiden sollte, wenn man an diesem Verfahren zweifelt, d.h. um zu erfahren, ob es sich in einem bestimmten Fall um eine Komposition oder eine Derivation handelt; das könnte mit der folgenden Formel durchsichtig werden (vgl. Lachachi 2002, S. 56): Komposition oder Derivation = Halbaffigierung Neuerdings äußerte sich Fandrych gegen die Halbaffigierung; er ist der Auffassung, dass die Kategorie „Halbsuffix“ für die Zuordnung und/ oder linguistische Beschreibung weder hilfreich noch notwendig erscheint [...]. Dabei soll gezeigt werden, daß die Kategorie ‘Affixoidität’ weder theoretisch ausreichend fundiert ist, noch deskriptiv zu befriedigenden Ergebnissen führt. (Fandrych 1993, S. 8ff.) 5 „Gegen die Kompositionstheorie der Affigierung“ heißt die Antwort von Reis (1983) auf den Standpunkt von Höhle. Djamel Eddine Lachachi 218 Er verweist auf Adelung (1782), Wilmanns (1899) („Kompositionsglied als Mittel der Ableitung“), Paul (1920) und Becker (1933). Wir haben schon oben gesehen, dass es in sehr vielen Fällen schwer ist, die Komposition von der Derivation zu trennen; und dies besonders im heutigen Deutsch. Wie Poethe (1988, S. 344) meinen wir, dass eine exakte Abgrenzung zwischen Komposition und Derivation in der Praxis nicht immer möglich ist. In vielen Fällen kann man weder von Komposition noch von Derivation sprechen. Wir stehen gerade an einem Punkt der Entwicklung der Sprache, wo einige Kompositionsglieder eine Transformation zu Suffixen erfahren. Sie haben manche Züge der Komposition und manche andere der Derivation und stehen daher in einer Übergangsphase. Darum ist es schwer, zu entscheiden, ob sie zu dem einen oder anderen Typus gehören. Dies stellt uns vor die Dichotomie Synchronie/ Diachronie (vgl. Lachachi 1992). Engelien äußerte sich zum Thema wie folgt: Trotzdem also in dem Werden der Sprache jede Wort- und Formenbildung urspr. Komposition ist, so treten doch in der ausgebildeten Sprache Derivation und Flexion einerseits und Komposition anderseits dadurch auseinander, daß bei letzterer die zusammengefügten Elemente wohl innerlich zu einer Begriffseinheit verschmelzen, äußerlich aber nicht zu einer so vollkommenen einfachen Gestalt, wie bei den ersten beiden Vorgängen, und sich also von einander ablösen lassen. (Engelien 1972, S. 93) 6 Nun werden wir im Folgenden das schon vorgeschlagene Modell von Lachachi (1992) bearbeiten. Wir unterscheiden drei Wortbildungsarten: - Komposition - Halbaffigierung - Derivation 3.1 Komposition Der Status des Kompositums steht weiterhin im Mittelpunkt der theoretischen Diskussion (vgl. Stepanova/ Fleischer 1985, S. 33ff.). Insbesondere beim syntaktischen Ansatz stoßen wir auf einen „Übergang von syntaktischem Gefüge zum Kompositum“ (S. 34) und auf „Isolierung“. Wir sind der Meinung, dass auch die Komposition nach dem Ökonomieprinzip der Sprache eine Übergangsphase ist (vgl. Paraphrase vs. Komposition). Zu erwäh- 6 Zum Verhältnis von Kompositum und Derivat siehe auch Stepanova/ Fleischer (1985, S. 34f.). Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 219 nen ist noch die Tatsache, dass die Zusammensetzung als eine der drei besonderen Wortbildungsarten bei Becker (1824) - in der ersten Abhandlung über die Wortbildung der deutschen Sprache - unter dem Oberbegriff ‘Ableitung’ stand. Die Wortbildungsarten im Einzelnen waren: 1. Umlautung (Bildung durch Um- und Ablaut); 2. Umendung (Suffixbildung); 3. Zusammensetzung. Im Zusammenhang mit der Ableitung durch Nachsilben (ebd., S. 262f.) wird die Entwicklung von Kompositionsgliedern zu Affixen erörtert. Becker erwähnt dabei -los, -voll und -werk. 3.2 Derivation Die KDG (1988, S. 94f.) unterscheidet drei „Arten von Ableitungen: - das Anhängen von Suffixen an das Stammmorphem bzw. an Wörter; - Veränderungen im Inneren des Stammmorphems (Innere Ableitung); - das Voranstellen von Präfixen vor das Stammorphem bzw. vor Wörter. Ableitung wird auch als „Kombination aus Wortkern-Plerem und nachstehendem Wortbildungs-Suffix/ Abl.-Suffix/ Derivativ, z.B. lack+ier|en, wäld+chen, treu+los“ (Polenz 1973, S. 145) gesehen. Für uns ist Derivation ein Hinzufügen von Affixen an einem Stamm bzw. einer Wurzel. Präfixe und Suffixe sind die häufigst gebrauchten Affixe. Engel ordnet die verschiedenen Formen der Ableitung nach den Zielwörtern. Derivanten sind für ihn „Präfixe und Präfixoide, Suffixe und Suffixoide sowie Umlaut u.a.“ (1994, S. 83). In der Synchronie sieht Mignot eine dynamische Potenzialität, die neue Innovationen erlaubt; es handelt sich um die Derivation, wobei der Akzent auf die Produktivität gesetzt wird (vgl. Mignot 1985, S. 39). Man hat schon früh genug festgestellt, dass der Gebrauch von bestimmten Affixen nicht vorauszusagen ist (ebd., S. 40). Diese Fragen sind bis heute auch von dieser neuen Richtung der Linguistik (= linguistique de l'énonciation) unbeantwortet geblieben. Zwei verschiedene Meinungen zum Ursprung der Derivationsmorpheme können wir bei Stein und Luukkainen finden: Stein (1981) widerlegt „die einfache These der Genese der Suffixe aus selbständigen Wörtern“ (vgl. Lipka/ Günther 1981, S. 12). Für Naumann (1986, S. 72f.) kann der Übergang vom selbstständigen Wort zum Suffix diachron verfolgt werden. In der Djamel Eddine Lachachi 220 Synchronie könne man dies nicht feststellen. Das einzige, was man feststellen kann, ist eine Koexistenz der beiden Morpheme. Er zeigt dies an den Beispielen: -lich, -heit/ -keit, -schaft, -tum, -sam, -haft. Wir aber können in verschiedenen Sprachen einen ständigen Übergang von dem einen zum anderen [feststellen]. Im Zuge der Reihenbildung werden Wurzelmorpheme über Suffixoide und Präfixoide zu Derivationsmorphemen. (Luukkainen 1984, S. 486) 3.3 Halbaffigierung Man stellt sich oft folgende Fragen: Sind die Wörter Komposita oder Ableitungen? Was sind die zweiten Wortelemente - Suffixe oder selbstständige Wortkomponenten? 7 Und jedes Mal, wenn wir uns solche Fragen stellen - und das geschieht oft - sind wir mit der Halbaffigierung konfrontiert. Schon Wilmanns (1899) gibt zwei wichtige Argumente für den Status der Affixoide: Während in Compositis meistens das letzte Glied als der eigentliche Träger der Bedeutung erscheint, die durch das erste näher bestimmt wird, gibt es doch auch solche, in denen das erste Wort den eigentlichen Kern bildet und das zweite in seiner abstracten Allgemeinheit sich dem Wert der Ableitungssilben nähert. (nach Fandrych 1993, S. 11) Denselben Status finden wir auch bei Fleischer wieder: 1) ‘Verschiebung im Bedeutungsverhältnis’, 2) ‘Entkonkretisierung’. Er behandelt z.B. folgende Kompositionsglieder als Mittel der Ableitung: -werk, -mann, -artig, -gestaltig, -förmig, -los, -leer, -recht, -fähig, fertig; haupt-, blitz-, riesen-, mord-, grund-, stein-, stock-, hoch-, all-, voll- (= Affixoide). Dieses Verfahren war schon bei Grimm in seiner 1826 erschienenen „Deutschen Grammatik“ bekannt, in der er darauf hinweist, aber den Ausdruck „Composition“ beibehält. Grimm spricht auch von einem Übergang einer 7 Vgl. die Werke von Grimm, Wilmanns, Kluge, Paul, van Dam, Henzen, Erben u.a. Vgl. auch Andrjuschichina (1993, S. 530). Eine ausführliche Beschreibung dieses Themas, also die verschiedenen Kriterien zur Abgrenzung von Komposition und Derivation findet sich in Fandrych (1993, S. 6ff.); dabei bespricht er die verschiedenen Ansätze, worauf hier nicht mehr eingegangen werden kann. Ich verweise auf folgende Arbeiten: Lachachi (1992), Fleischer/ Barz (1992, S. 27f.), Hansen/ Hartmann (1991), Schmidt (1987, S. 53ff.), Tellenbach (1985) und Stepanova/ Fleischer (1985, S. 141ff.) u.a. Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 221 sinnlichen Bedeutung in eine allgemeine, abstrakte [...] geläufige Kompositionsformel, wenn auch äußerlich unentstellt bleibend und den Ton haltend, geben ihre lebendige Bedeutung auf und nehmen den allgemeinen Sinn einer bloßen Ableitung an. (II, S. 386). (Grimm 1826, S. 1231) Der Ausdruck „Composition“ wird dennoch beibehalten, wie z.B. „für Konstruktionen mit -schaft, -heit, -lich usw.“ 8 Viele, wie z.B. Olsen (1986) und Fandrych (1993, S. 70) bewerten Halbsuffixe als überflüssig. Man muss noch dazu sagen, dass diese Affixoide oft, wie z.B. bei Tellenbach (1985, S. 294) als Restkategorie oder bei Olsen (1986) als überflüssig oder als abzuschaffende Kategorie betrachtet werden: Es erweise sich daher als zweckmäßig und sei den sprachlichen Gegebenheiten angemessen, den Affixoidbegriff aufzugeben und eine Konstituente einer WBK entweder als Grundmorphem (bzw. Morphemkonstruktion) oder als Affix zu bestimmen. (Fleischer/ Barz 1995, S. 28) In diesem Fall wird der Begriff „unmittelbare Konstituente“ (UK) bevorzugt. Wir sind für die „Etablierung der Affixoid-Kategorie“ (vgl. Lachachi 2002, S. 55), deren Kriterien ausführlich bei Fandrych (1993) diskutiert worden sind; auch wenn zuerst erwähnt wird, dass die Kategorie „Halbaffix“ für die Zuordnung und/ oder linguistische Beschreibung weder hilfreich noch notwendig erscheint [...] Dabei soll gesagt werden, daß die Kategorie Affixoidität weder theoretisch ausreichend fundiert ist, noch deskriptiv zu befriedigende Ergebnisse führt. (Fandrych 1993, S. 8f.) Wir treffen die Halbaffigierung in Form der Suffixoide und Präfixoide an. Und solange diese Morpheme auch allein anzutreffen sind, muss man weiter von Halbaffigierung sprechen. Diese Wortbildungsart ist besonders heute sehr produktiv. 9 Bildungen mit -fähig (schuld- und handlungsfähig) gehören nach Fleischer zu den Komposita: Fleischer (1983, 253) behandelt Komposita mit -fähig genau wie Bildungen auf -bar, -lich, -sam also als Entwicklungen. Doch ist fähig ohne Frage ein selbständig vorkommendes Adjektiv und kein Suffix wie die anderen. (Hentschel/ Weydt 1990, S. 198, Anm. 8) Für uns aber gehören sie zur Halbaffigierung. Was die Tendenz zur Suffigierung einiger Suffixoide betrifft, verweise ich auf Lachachi (1992, S. 41). 8 Nach Stepanova/ Fleischer (1985, S. 23), die die Wortbildungslehre von Jacob Grimm ausführlich behandeln (ebd., S. 21-28). 9 Vgl. Poethe (1988, S. 343) und Lachachi (1992, S. 39 und 41). Djamel Eddine Lachachi 222 3.3.1 Suffixoide Suffixoide sind zweite Wortkomponenten, die sich wie Suffixe verhalten. Poethe (1988, S. 343) erwähnt folgende Faktoren, 10 die für den Status eines Wortbildungsmorphems sprechen: - Reihenbildung nach einem semantisch bestimmten Modell, - Ausprägung einer Wortbildungsbedeutung, - Gebundenheit des Morphems. Wenn einige von diesen Wortbildungselementen nicht aufgenommen sind, hängt es von ihrem Entwicklungsstadium ab, d.h. ihrer Frequenz im täglichen Gebrauch. Nur Wörter mit nicht mehr als zwei Silben können sich zu Suffixoiden entwickeln. Beispiele mit dreisilbigen Wörtern finden wir nicht, denn das verstieße auch gegen das Ökonomieprinzip der Sprache. Bei einsilbigen Wörtern erfolgt die Transition schneller. Die Halbaffigierung treffen wir besonders im adjektivischen Bereich als zweites Wortbildungselement an: Vor allem der zuletzt genannte Übergang freier Kompositionsglieder über Präfixoide bzw. Suffixoide zu Präfixen bzw. Suffixen ist im adjektivischen Bereich besonders auffällig. Er vollzieht sich hier schneller und erfaßt mehr Elemente als im substantivischen Bereich. (Poethe 1988, S. 343) Weinrich (1993) klassifiziert die Suffixoide in 5 Gruppen: 11 Halbsuffixe zum Ausdruck der Geltung, der Gleichheit oder Ähnlichkeit, der Einstellung und der Orientierung. Anhand einer Tabelle (vgl. Lachachi 1992, S. 41). haben wir schon gezeigt, wie sich dieser Übergang vom Kompositionsglied über Halbaffix zum Affix vollzieht, was nach einer diachronischen Betrachtung innerhalb der Synchronie verlangt. Kühnhold/ Putzer/ Wellmann (1978) erwähnen die folgenden Adjektive als Suffixoide: -aktiv, -betont, -echt, -fähig, -gemäß, -haltig, -leer, -müde, -pflichtig, -reich, -schwach, -trächtig, -voll, -willig. Für Fandrych gehören -frei, -arm, -leer, -voll, -reich zu den Suffixoiden; -los ist hingegen schon ein Suffix. Schon in den 50er-Jahren verwendet Musil einige Halbsuffixe, wie z.B.: knabenähnlich, vorstellungsmäßig, machtfähig, lobfrei, rücksichtswert, 10 Dazu siehe Lachachi (1992), Naumann (1986, S. 92-94) und besonders Fandrych (1993). 11 Weinrich (1993, S. 1005-1009) unterscheidet semantische Gruppen. Dazu auch Lachachi (2002, S. 56): Dort werden andere Beispiele angegeben. Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 223 siegelförmig, schreibselig, empfindungsreich (nach Hahn 1993, 136f.). Doppelformen wie die folgenden kann man auch feststellen (vgl. Muthmann 1994, S. 382ff.): fähig/ tüchtig, gemäß/ gerecht, gemäß/ mäßig, reich/ voll, kräftig/ tüchtig, los/ frei, fähig/ kräftig, treu/ getreu. Es lässt sich erkennen, dass die Zahl der Halbaffixe immer größer wird. 3.3.2 Präfixoide Zu den Präfixoiden 12 gehören meist (zweisilbige) Substantive: Bomben- - Bombenstimmung Affen- - affenstarke Musik, Affenhitze Blitz- - blitzblanker Tisch Bullen- - Bullenhitze Bären- - Bärenhunger Erz- - Erzfeind Haupt- - Hauptdüse Höllen- - Höllenlärm Hunde- - hundemüde Mords- - mordshungriger Gast, Mordsdurst Riesen- - riesengroße Portion, Riesenskandal Spitzen- - Spitzenkerl, Spitzengeschäft Super- - superscharfe Disco Über- 13 - Übermensch Daneben finden wir auch eine Reihe von Verben und Adjektiven, die diesen Übergang mitmachen. Andere Beispiele finden wir in Lachachi (1992 und 2002). Auch Weinrich (1993) führt neuere ein: schein-, beinahe-, möchtegern-, pseudo-, quasi- (S. 950); er erwähnt dabei auch Schimpfwörter wie sauin Sauwetter (S. 952). Einige Präfixoide werden sogar schon bei Sütterlin (1900) klassifiziert (vgl. Stepanova/ Fleischer 1985, S. 20): 12 Braun (1987) hebt besonders die Augmentativa hervor; vgl. Lachachi (1992, S. 40). 13 Vgl. Hahn (1993, S. 138): überlebendig; bei der Verbableitungen erwähnt er Präfixoide: vorerleben, aufbändeln, überfixieren, durchschatten, abdehnen, ausprusten (die Beispiele stammen aus Musils Tagebüchern). Djamel Eddine Lachachi 224 - Erz-, Über-, Ur-, Un-, In-, Hoch-, Haupt-, Riesen-, Mords-, Heidenmit der Bedeutung [Verstärkung]; - Halbmit der Bedeutung [Milderung]; - Un-, Nicht-, Miss-, Ab-, Aber-, Urmit der Bedeutung [begrenzter Gegensatz]. 4. Tendenzen in der Wortbildung Die Stellung der Halbaffigierung im Bereich der deutschen Wortbildung kann man mit Hilfe der Betrachtung der Tendenzen der deutschen Sprache herausstellen. Wandruszka (1992, S. 22) erwähnt eine „charakteristische Tendenz zur Untrennbarkeit und Univerbierung“, die durch eine Suffixpräferenz in Erscheinung tritt: man könne feststellen, „daß in den Sprachen der Welt Suffigierung sehr viel häufiger auftritt als Präfigierung (von Infigierung ganz zu schweigen)“. Braun (1987, S. 168) ist der gleichen Meinung, indem er sagt: „Die Zunahme und Verstärkung der Univerbierung kann als Haupttendenz im Bereich der deutschen Wortbildung angesehen werden.“ Er stellt auch eine „überaus starke Zunahme der zusammengesetzten und abgeleiteten Lexeme“ 14 fest und nennt ihre Ursachen: Die Entwicklung der Wortbildung ist weniger durch die Herausbildung neuer Wortbildungsmodelle und -mittel gekennzeichnet, sondern vielmehr durch die Bevorzugung bereits vorhandener Modelle und Mittel. (Braun 1987, S. 174) Fleischer sieht in diesem Sinne die Bevorzugung von bestimmten Wortbildungsmitteln in ihrem Vorhandensein seit geraumer Zeit: „Die Grundzüge des Wortbildungssystems der neuhochdeutschen Literatursprache [...] prägen sich in frühneuhochdeutscher Zeit aus.“ (nach Sommerfeldt 1988, S. 174). Sommerfeldt erwähnt auch die „bevorzugten Verfahren und Wortbildungsmodelle“ wie etwa die Kürzung der mehrgliedrigen Benennungen, die bei den Neuprägungen im Vergleich zu den anderen überwiegen, die kombinatorische Derivation, partizipiale Konstruktionen und Ableitungen von Wortgruppen (vgl. ebd., S. 175ff.). Die bevorzugten Mittel sind also für uns: Initialwörter, Halbaffigierung, WBK mit fremdsprachigen Elementen und Movierungssuffix -in (besonders im Plural StudentInnen). 15 Die Tendenz sieht schematisch wie folgt aus: Satz Paraphrase Kompositionsglied Halbaffix Affix 14 Braun (1987, S. 170); vgl. Kaltz (1988) und Sommerfeldt (1988, S. 174-192). 15 Zur Suffixpräferenz siehe Wandruszka (1992). Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 225 Man könnte hier eher von Syntagma anstatt Satz sprechen. Paraphrase und Halbaffix gelten als Übergangsphasen und sind deshalb nicht in der Sprachwissenschaft berücksichtigt worden. Wenn wir die historische Entwicklung der Sprache (vgl. auch Spracherwerb) verfolgen, können wir Folgendes feststellen: Anfang mit Einwortsätzen, dann Zweiwortsätze (= S + P) dann S + P + O dann + Attribute dann Attribut Sätze dann umgekehrt: Attribut (Sätze) Kompositionsglied Kompositionsglied Affix Die Wortbildung heute sollte auch eine besondere Rolle im FU spielen. Die Nützlichkeit der Wortbildung im DaF ist nicht zu bestreiten. Aber bis jetzt wird die Arbeit mit Wortbildungsgesetzmäßigkeiten vorwiegend rezeptiv betrieben (vgl. Poethe 1988, S. 342). Man sollte manche produktive Wortbildungsmittel im Wörterbuch aufnehmen. Heute werden bestimmte Wortbildungskonstruktionen bevorzugt, wie hier die Affixoide; und der Lernende muss bereits fähig sein, diese WBK zu verstehen und selbst zu produzieren: „Produktion und Rezeption von Wortbildungen sind dann nicht mehr kompliziert, wenn der Sprachbenutzer auf Schemata zurückgreifen kann“ (vgl. Lachachi 1992 und Engel 1979). Und so wird die Halbaffigierung als eine Wortbildungsart betrachtet und nicht mehr als Übergangszone. Lachachi äußert sich dazu wie folgt: Aber das Ziel der Sprachwissenschaft ist nicht nur abstrakte Theorien zu bilden, sondern auch „an solche Erscheinungen konkrete Fragen zu stellen“ und so herauszufinden, „wie sich unter ihrem Einfluß das lexikalische Ausdruckspotential entfaltet, strukturell gliedert und tendenziell verändert“. Solche Änderungen ereignen sich nicht abrupt [...] nur der aufmerksame Beobachter wird von neuen Sprachgebrauchstendenzen sprechen können. (Lachachi 1992, S. 37f.) Die Halbaffigierung ist heute sehr produktiv und sollte auch im Hinblick einer Diachronie innerhalb der Synchronie neben der Komposition und der Derivation als Wortbildungsart mit einbezogen werden. Djamel Eddine Lachachi 226 5. Literatur Adelung, Johann Christoph (1782): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. 2 Bde. Leipzig (Nachdruck. Hildesheim 1971). Andrjuschischina, Maria (1993): Bummelfritze - Bummelliese. Ein produktives Wortbildungsmittel der deutschen Gegenwartssprache. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik ( ZGL ) 115, 1993, S. 527-532. Augst, Gerhard (1975): Lexikon zur Wortbildung. Morpheminventar A-Z der deutschen Gegenwartssprache. 3 Bde. Tübingen. Becker, Karl Ferdinand (1824 [1933]): Deutsche Grammatik. 2 Bde. Frankfurt a.M. Bödiker, Johann (1690): Grundsätze der deutschen Sprache. Berlin/ Cölln an der Spree. Braun, Peter (1987): Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Stuttgart. Brinkmann, Hennig (1962): Die deutsche Sprache: Gestalt und Leistung. Düsseldorf. Bußmann, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart. Coseriu, Eugenio (1969): Semantik, innere Sprachform und Tiefenstruktur. Tübingen Diedrichs, Eva Pauline (1983): Johann Bödikers Grund-Sätze der deutschen Sprache. (= Germanische Bibliothek: Neue Folge. Reihe 3: Untersuchungen). Heidelberg. Engel, Ulrich (1977): Syntax der deutschen Gegenwartssprache. Berlin. Engel, Ulrich (1994): Syntax der deutschen Gegenwartssprache. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin. Engelien, August (1972): Grammatik der neuhochdeutschen Sprache. Hildesheim. [1. Aufl. 1867. Neu bearb. unt. Mitwirkung v. Hermann Jantzen. 5. Aufl. Berlin 1902. Reprint: Hildesheim 1972]. Erben, Johannes (1958): Abriss der deutschen Grammatik. Berlin. Erben, Johannes (1975): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. Berlin Fandrych, Christian (1993): Wortart, Wortbildungsart und kommunikative Funktion. Am Beispiel der adjektivischen Privativ- und Possessivbildungen im heutigen Deutsch. Tübingen. Fleischer, Wolfgang (1969): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Fleischer, Wolfgang (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1992): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 227 Grebe, Paul (1959): Duden Bd. 4: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Bearb. v. Paul Grebe unt. Mitwirkung v. Helmut Gipper, Max Mangold, Wolfgang Mentrup und Christian Winkler. Völlig neu bearb. Aufl. Mannheim. Grimm, Jacob (1826): Deutsche Grammatik I-IV. 2. Theil: Ableitung und Zusammensetzung. Göttingen. Hahn, Heinrich (1993): Wortbildung und Dichtersprache. Zu den nichtusuellen Ableitungen in den Tagebüchern Musils. In: Wellmann (Hg.), S. 113-140. Hansen, Sabine/ Hartmann, Peter (1991): Zur Abgrenzung von Komposita und Derivation. Trier. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1972): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig. Hentschel, Elke/ Weydt, Harald (1990): Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin. Henzen, Walter (1958): Inhaltsbezogene Wortbildung. Betrachtungen über ‘Wortnischen’ und ‘Wortstände’. In: Archiv für das Studium der neueren Sprache, 194, S. 1-23. Henzen, Walter (1957): Deutsche Wortbildung. 2., verb. Aufl. Tübingen. Henzen, Walter (1965): Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Heringer, Hans-Jürgen (1984): Gebt endlich die Wortbildung frei. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 53, 1984, S. 43-53. Höhle, Tilman N. (1982): Über Komposition und Derivation: zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsprodukten im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft ( ZS ) 1, 1982, S. 76-112. Holly, Werner (1985): Wortbildung im Deutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik ( ZGL ) 13, 1985, S. 89-108. Jung, Walter (1966): Grammatik der deutschen Sprache. Leipzig. Kaltz, Barbara (1988): Zu einigen Wortbildungstendenzen im Deutschen und Französischen. In: Muttersprache 98, 1988, S. 38-49. Kastovsky, Dieter (1982): Wortbildung und Semantik. Düsseldorf. KDG (1988): = Autorenkollektiv (1988): Kurze Deutsche Grammatik. 4. Aufl. Berlin. Kluge, Friedrich (1925): Abriß der deutschen Wortbildung. Halle. Kühnhold, Ingeburg/ Putzer, Oskar/ Wellmann, Hans (1978): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Dritter Hauptteil: Das Adjektiv. Berlin/ New York. Lachachi, Djamel Eddine (1992): Halbaffigierung: eine Entwicklungstendenz in der deutschen Wortbildung? In: Info DaF - Informationen Deutsch als Fremdsprache 1, 19/ 1992, S. 36-43. Djamel Eddine Lachachi 228 Lachachi, Djamel Eddine (1997): Der Wortartwechsel. Verhältnis zwischen Wortart und Wortbildung am Beispiel des Deutschen und Arabischen. (Diss.). Essen. Lachachi, Djamel Eddine (2002): Halbaffigierung: eine dritte Wortbildungsart? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A: Kongressberichte, vol. 54/ 2002. Bern/ Frankfurt a.M., S. 53-58. Lipka, Leonhard/ Günther, Hartmut (Hg.) (1981): Wortbildung. (= Wege der Forschung 564). Darmstadt. Luukkainen, Matti (1984): Zur Stellung der Wortbildung im System der Sprache. In: Neuphilologische Mitteilungen (NphM) 85, S. 476-490. Marchand, Hans (1969): The categories and types of present-day English word-formation: a synchronic-diachronic approach. 2nd, compl. rev. and enl. ed. Wiesbaden. Martinet, Andre (1963): Grundzüge einer allgemeinen Sprachwissenschaft. (= Urban- Bücher 69). Stuttgart. Mignot, Xavier (1985): Le terme de dérivation: usages traditionnels et récents. In: BSLP 80, 1985, S. 15-44. Mühlefeld, Karl (1908): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre mit Hilfe des Systems der Bedeutungsformen. Halle. Muthmann, Gustav (1994): Doppelformen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Tübingen. Naumann, Bernd (1972): Einführung in die Wortbildung des Deutschen. (= Germanistische Arbeitshefte 4). Tübingen. Naumann, Bernd (1986): Einführung in die Wortbildungslehre des Deutschen. 2., neubearb. Aufl. (= Germanistische Arbeitshefte 4). Tübingen. Olsen, Susan (1986): Wortbildung im Deutschen. Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart. Paul, Hermann (1920): Deutsche Grammatik. Bd. 5: Wortbildungslehre. Tübingen. Paul, Hermann (1981): Über die Aufgaben der Wortbildungslehre. In: Lipka/ Günther (Hg.), S. 17-35. Poethe, Hannelore (1988): Produktive Modelle der adjektivischen Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. In: Deutsch als Fremdsprache (DaF) 25, 1988, S. 342-348. Polenz, Peter v. (1973): Wortbildung. In: Althaus, Hans Peter/ Henne, Helmut/ Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. Tübingen, S. 145-163. Polenz, Peter v. (1980): Wortbildung. In: Althaus, Hans Peter/ Henne, Helmut/ Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Tübingen, S. 169-180. Reis, Marga (1983): Gegen die Kompositionstheorie der Affigierung. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft ( ZS ) 2.1, 1983, S. 110-131. Zur Stellung der Halbaffigierung in der deutschen Wortbildung 229 Schmidt, Günter Dietrich (1987): Das Affixoid. Zur Notwendigkeit und Brauchbarkeit eines beliebten Zwischenbegriffs in der Wortbildung. In: Wimmer, Rainer/ Zifonun, Gisela (Hg.): Deutsche Lehnwortbildung. Tübingen, S. 53-101. Schmitthenner, Friedrich (1826): Ursprachlehre: Entwurf zu einem System der Grammatik mit besonderer Rücksicht auf die Sprachen des indisch-teutschen Stammes: das Sanskrit, das Persische, die pelasgischen, slavischen und teutschen Sprachen. Frankfurt a.M. Seppänen, Lauri (1983): Rezension zu Wortbildung, hrsg. von Leonhard Lipka und Hartmut Günther (Wege der Forschung, Band 564), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981. In: Neuphilologische Mitteilungen (NphM) 84, S. 535-538. Sommerfeldt, Karl-Ernst (1988): Entwicklungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig. Staib, Bruno (1981): Inhaltliche Aspekte von Wortbildungsverfahren. In: Hindelang, Götz/ Zillig, Winfrid (Hg.): Sprache. Bd. 2. Tübingen, S. 117-126. Steche, Theodor (1925): Neue Wege zum reinen Deutsch. Breslau. Stein, Gabriele (1981): Zur Typologie der Suffixentstehung (Französisch, Englisch, Deutsch). In: Lipka/ Günther (Hg.), S. 324-356. Stepanova, Marija Dmitrijevna/ Fleischer, Wolfgang (1985): Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig. Sütterlin, Ludwig (1900): Die deutsche Sprache der Gegenwart (Ihre Laute, Wörter und Wortgruppen): Ein Handbuch für Lehrer, Studierende und Lehrerbildungsanstalten. Leipzig. Tellenbach, Elke (1985): Wortbildungsmittel im Wörterbuch. Zum Status der Affixoide. In: Linguistische Studien, herausgegeben vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft ( LS/ ZISW ), Reihe A, 122, 1985, S. 264-315. Toman, Jind ø ich (1980): Wortsyntax. Eine Diskussion ausgewählter Probleme deutscher Wortbildung. Tübingen. Wandruszka, Ulrich (1992): Zur Suffixpräferenz. Prolegomena zu einer Theorie der morphologischen Abgeschlossenheit. In: Papiere zur Linguistik 46, 1, 1992, S. 3-27. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Wilmanns, Wilhelm (1899): Deutsche Grammatik. Abt. II: Wortbildung. Straßburg. Wilss, Wolfram (1986): Wortbildungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Wunderli, Peter (1989): Französische Lexikologie. Einführung in die Theorie und Geschichte des französischen Wortschatzes. (= Romanistische Arbeitshefte 32). Tübingen. Meike Meliss Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung für technische Produkte im Vergleich: Deutsch-Spanisch 1. Einleitung: Ausgangspunkt und Ziel Der folgende Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass sich in der deutschen und spanischen Anzeigenwerbung immer häufiger nominale Konstrukte zur Produktbezeichnung oder zur Bezeichnung bestimmter Qualitäten auffinden lassen, die sich nur schwerlich nach den klassischen Mustern der Wortbildung formal bestimmen lassen, da sie, wenn sie überhaupt als Wortbildungsprodukte bezeichnet werden können, nach Mustern konstruiert sind, die in den einschlägigen Studien eher zu den Randerscheinungen der Wortbildung gehören. Zu beobachtende gemeinsame lexikalische Entwicklungstendenzen in beiden Sprachen sollen Hinweise auf die These eines sich immer mehr ausbreitenden Phänomens der sprachlichen Globalisierung liefern und das Bedürfnis aufzeigen, die theoretischen Beschreibungsparameter für bestimmte Wortbildungskonstrukte neu zu formulieren. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit, eine übereinzelsprachliche Definition für die verschiedenen Wortbildungsmechanismen zu formulieren (vgl. Donalies 2003a, 2003b, 2004a, 2004b), die z.B. im Fall der Nominalkomposita eine Abgrenzung zu komplexen Nominalsyntagmen einerseits und Phraseolexemen andererseits erlaubt. Das der Analyse zugrundeliegende Korpus zur Produktbenennung und Qualitätsbezeichnung beruht auf Beispielen aus der Anzeigenwerbung ausgewählter deutscher und spanischer Zeitschriften aus dem Zeitraum von 2005- 2007. Dabei wurden hauptsächlich Anzeigen aus den Automobil-, Computer-, Telefonie- und Audio-/ Video-/ HiFi-Branchen berücksichtigt. 1 Ich beziehe mich speziell auf Beispiele der Anzeigenwerbung, da es sich hier um ein Printmedium handelt, in dem wir gehäuft Beispiele für Wortneubildungen vorfinden können (vgl. Krieg 2005). Außerdem wird die Wirtschaftswerbung als Schnittstelle zwischen Fachsprache und Alltagssprache genannt und 1 Leider wurden, entgegen aller Erwartungen, nur selten Paralleltexte für das Deutsche und Spanische aufgefunden, so dass ein direkter Vergleich von lexikalischen Mitteln zur Werbung für ein und dasselbe Produkt mit ein und derselben Anzeige nur bedingt möglich war. Meike Meliss 232 oft die Meinung vertreten, dass gerade die Werbung als Medium zur Popularisierung der Fachsprache diene. Meine folgende Analyse kann zwar auf die Frage, inwieweit die Fachtermini wirklich in die Alltagssprache eindringen, nicht eingehen (vgl. Janich 1999, 2000), sie soll aber zumindest aufzeigen, dass wir bei der Rezeption von Werbeanzeigen geballt mit Fachlexik oder Pseudofachlexik konfrontiert werden und über die entsprechenden Entschlüsselungstechniken verfügen müssen (vgl. Augst 2001). Eine überproportional große Anzahl an nominalen Kompositionsprodukten bzw. komplexen Nominalphrasen zur Produktbezeichnung rechtfertigt die Abgrenzung des hier zu analysierenden Korpusmaterials auf Nominalkomposita und ihnen ähnliche Konstrukte. Ausgehend von dem Beispielkorpus erfolgt eine Analyse und Klassifizierung des Inventars bezüglich des entsprechenden Wortbildungstyps, der Art der Anbindung der Bestandteile und der semantischen Beziehungen der Bestandteile zueinander. 2. Theoretische Grundlagen Die Komposition beim Substantiv kann im Deutschen sehr komplex sein und dient in Werbeanzeigen vor allem einer anpreisenden Mehrfach- Charakteristik der benannten Objekte (Duden 2005, S. 725). Als theoretische Beschreibungsgrundlage gelten die jeweiligen typologischen Eigenschaften bezüglich der Wortbildungsmechanismen beider Sprachen (Deutsch: Barz 2000, 2001, 2005a, 2005b; Donalies 2005; Eichinger 2000; Fleischer/ Barz 1995. Spanisch: Bustos Gisbert 1986; García Lozano 1989; Santiago Lacuesta/ Bustos Gisbert 1999; Val Álvaro 1999; Varela/ Martín García 1999). 2 Dennoch sollen im Folgenden einige theoretische Bemerkungen, die sich hauptsächlich aus einer kontrastiven Perspektive ergeben, angeführt werden. Zur Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes zeigt sich in beiden Sprachen eine Abgrenzung der Nominalkomposita von nominalen Ableitungs- und Derivationskonstrukten nur im Einzelfall als problematisch. Allerdings erweist sich die Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes als äußerst schwierig, wenn wir plurilexematische Konstrukte, die nicht zweigliedrig interpretierbar sind und in denen die einzelnen Konstituenten nicht durch grafische Zeichen miteinander verbunden oder angebunden sind, in unser Korpus aufnehmen und in der Analyse berücksichtigen wollen (vgl. einige Beispiele unter (1)). In deutschen Werbeanzeigen treten dafür hauptsäch- 2 Vgl. dazu auch Barz/ Schröder (2000). Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 233 lich Beispiele auf, in denen alle Konstituenten aus entlehnten Elementen bestehen, während das Spanische bei diesem Typ der komplexen nominalen Konstruktion auch eigene lexikalische Elemente aufnimmt: (1) Dt.: HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP -Drucker), GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), T-Home-Paket (Focus, 1/ 07: T-Com), 1&1 DSL Doppel-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1), Vodafone Mobile Connect Card UMTS (Focus, 28/ 05: vodafone), GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ); 1&1 Leistungs-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1). Sp.: Reproductor MP3 ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens), Imagen LCD visionaria ( EPS , 23/ 10/ 05: B&O ), Lector USB ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone), pack movistar ( EPS , 25/ 12/ 05: movistar), HP Media Center m720.es PC ( EPS 25/ 12/ 05: HP ); Calidad MP3 ( EPS 04/ 06/ 06: vodafone), Televisor LCD ( EPS 05/ 02/ 06: Samsung), multimedia computer ( EPS , 04/ 06/ 06: Nokia), módem USB ( EPS , 01/ 07/ 07: Telefónica), Video cámera ( EPS , 16/ 10/ 06: Siemens). Hinzu kommen im Spanischen nominale Konstrukte, die mit einer Präpositionalphrase erweitert werden (2) und Konstrukte des Typs <S+adj> (3), die nur bedingt als eine spezielle Art der Komposition verstanden werden können. (2) Sp.: Célula de seguridad tridion ( EPS , 26/ 02/ 06: SMART ), Sistema de navegación ( EPS , 23/ 10/ 05: TomTom), Pack de Navegación ( EPS , 11/ 09/ 05: Nokia y GPS TomTom), Función de bloqueo ( EPS , 30/ 10/ 05: TEKA ), Libertad de movimiento ( EPS , 26/ 02/ 06: BenQ), Airbag de techo ( EPS , 18/ 10/ 05: Peugeot 307), Amplificador digital de 1 Bit ( EPS , 11/ 09/ 05: Aquos Sharp). (3) Sp.: Tarjeta gráfica ( EPS , 26/ 02/ 06: BenQ), Teléfono móvil ( EPS , 11/ 12/ 05: TomTom). Eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes von der reinen Nominalkomposition auf die Beschreibung bestimmter komplexer Nominalsyntagmen und Nominalphraseme 3 scheint daher besonders für kontrastive Zwecke gerechtfertigt. Aber auch andere einzelsprachliche Tendenzen der deutschen und spanischen Sprache machen es notwendig, bei der Analyse von Komposita den Beschreibungsgegenstand gegebenfalls theoretisch neu zu definieren und abzugrenzen, da der Übergang von komplexen nominalen Komposita zu einem komplexen Nominalsyntagma mit attributiven Satelliten einerseits und zu Nominalphrasemen andererseits fließend zu sein scheint. 3 Dazu auch der Beitrag von Eichinger (in diesem Band). Meike Meliss 234 Laut Eichinger werden bei der lexikalischen Komposition „zwei Einheiten mit lexematischer Bedeutung zu einem neuen Text- oder Lexikonwort zusammengefügt“ (2000, S. 115). In der Forschungsliteratur scheint man sich darüber einig zu sein, dass u.a. das Merkmal „Wortfähigkeit“ als eine der notwendigen Bedingungen für die Konstituenten eines Kompositums gelten muss. Allerdings definiert dieses Kriterium auch phraseologische Einheiten und hilft uns nicht - ebenso wenig wie das Kriterium „Festigkeit“ - Komposita von diesen abzugrenzen. Andere Kriterien wie das der „grafischen Anbindung“ tragen ebenfalls nicht dazu bei, nötige Differenzierungen zu schaffen. Nach den geltenden deutschen Rechtschreibregeln werden die Elemente zwar meistens zusammengeschrieben (Donalies 2005; Duden 2005, S. 720), aber auch Getrenntschreibung und Anbindungen durch Bindestrich, Binnengroßscheibung etc. werden immer häufiger praktiziert. Das Kriterium der „Kernflektion“ hingegen scheint differenzierend zu sein. Zur Definition spanischer Nominalkomposita berufe ich mich hauptsächlich auf die Studien von Bustos Gisbert (1986) und Val Álvaro (1999). Auch für das Spanische ist es notwendig, Kriterien der Abgrenzung zwischen Komposition und Affigierung einereits und komplexen Nominalsyntagmen und Phrasemen andererseits zu formulieren (vgl. Bustos Gisbert 1986; Santiago Lacuesta/ Bustos Gisbert 1999; Val Álvaro 1999; Varela 1999). In der Forschungsliteratur für die spanische Nominalkomposition wird eine Zweiteilung der Kompositionstypen vorgeschlagen. Es wird allgemein zwischen „Syntagmatischer Komposition“ (composición sintagmática: vgl. Bustos Gisbert 1986; Val Álvaro 1999) und der „lexikalischen“ oder „eigentlichen“ Komposition (vgl. composición léxica: Val Álvaro 1999; composición propia: Bustos Gisbert 1986) unterschieden. Zu dem ersten Typ gehören Konstruktionen wie <S+de+S> und <S+Adj> und zu dem zweiten solche mit <S+S>. Bustos Gisbert weist in seiner Studie auch auf die problemtische Differenzierung der so genannten „composición sintagmátia“ von „attribuierten Nominalsyntagmen“ im Spanischen hin und schlägt verschiedene Strategien zur Unterscheidung vor (1986, S. 71). Val Álvaro (1999, S. 4761ff.) liefert außerdem Kriterien für die Unterscheidung und Abgrenzung von Phrasemen („locuciones“) und den besagten syntagmatischen Komposita. Es wird deutlich, dass vergleichende intralinguale Wortbildungsstudien uns u.a. zu der Notwendigkeit führen, für die Komposition eine sprachübergreifende Definition zu entwickeln. In Anlehnung an die Frage von Donalies „Was ist eigentlich ein Kompositum? “ (2003a) und den Kriterienkatalog, den Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 235 sie zur Definition der substantivischen Determinativkomposita als prototypische Form der Determinativkomposition untersucht, stimme ich mit ihrem neu formulierten Definitionsvorschlag überein: Komposita sind Kombinationen aus mindestens zwei Konstituenten. Sie werden unmittelbar ohne Wortbildungsaffixe gebildet. Komposita sind nach Regeln der Wortstruktur zusammengesetzte Wörter und keine nach Regeln der Syntax wohlgeformte Phrasen. Dass sie keine wohlgeformten Phrasen sind, ist vor allem daran zu erkennen, dass sie im Gegensatz zu Phrasen nur am Kopf flektiert werden. (Donalies 2003a, S. 90; vgl. auch Donalies 2004b) In diesem Sinne wären die Beispiele unter (3) und (4) nicht als Komposita, sondern als attribuiertes Nominalsyntagma (3) bzw. als nominale Phraseme (4) zu verstehen, weil beide Konstituenten flektiert werden. (4) Dt.: toter Punkt. Sp.: punto muerto (Ü: toter Punkt), patatas fritas (Ü: Bratkartoffeln). Spanische Konstruktionen wie die der Erweiterung des nominalen Kerns mit einer „de-Phrase“ (2), die eine Abgrenzung zwischen Komposition und syntagmatischen Attribuierungsformen zum Nomen im Spanischen erschwert, versteht Donalies in Anlehnung an die erwähnte Definition ebenfalls als Phraseme und nicht als Komposita (Donalies 2004a, S. 9), gibt aber zu, dass die Substantivkomposition und die kombinatorische Bildung nominaler Phraseme mitunter sehr ähnliche Verfahren sind, dass die Grenze zwischen Komposition und Phrasembildung fließend ist und jede Grenzziehung zwangsläufig einige mehr oder weniger leicht erträgliche Ungereimtheiten mit sich bringt. (ebd.) Im Einklang mit den aktuellen Forschungsergebnissen der spanischen Linguistik plädiere ich für kontrastive Zwecke für eine Erweiterung der von Donalies vorgeschlagenen Komposita-Definition. Unter Berücksichtigung einschlägiger Studien für das Spanische sehe ich die Notwendigkeit, zumindest einen Teil der spanischen „de-Konstruktionen“ als syntagmatische Komposita zu betrachten. Zur Abgrenzung dient vor allem das Kriterium der „lexikalischen Erweiterung“ der Elemente in der Nominalphrase gegenüber einer relativ fixen Konstituentenstruktur bei Komposita. Dieses Kriterium der relativen „Festigkeit“ rückt das Thema der Komposition allerdings erneut in die Nähe der Phraseologie und gibt zu bedenken, ob nicht zumindest Teile der Wortbildungslehre in engerer Verbindung zur Phraseologieforschung betrieben werden müssten. Meike Meliss 236 Aus den ganz kurz dargestellten Positionen und bedingt durch kontrastive Erfordernisse ergibt sich folgende Dreiteilung (Schema 1), in der die Nominalkomposition im weiten Sinne verstanden wird und in eine lexikalische Komposition im engen Sinne und eine syntagmatische Komposition zerfällt. Der Nominalkomposition im engeren Sinne stehen die Phraseme und die komplexen Nominalsyntagmen gegenüber. Nominalkomposita i.w.S. Nominale Phraseme Komplexe Nominalsyntagmen „lexikalische“ Komposition i.e.S. „Syntagmatische“ Komposition Abb. 1: Gegenüberstellung Nominalkomposition - Nominale Phraseme und komplexe Nominalsyntagmen Die Subklassifizierung der Nominalkomposita erweist sich nicht nur für die Analyse der spanischen Nominalkomposita, sondern auch für bestimmte Konstruktionen des Deutschen als sinnvolle Lösung. Es geht hier vor allem um einige Beispiele unter (1), deren Konstituenten nicht durch Zusammenschreibung verbunden sind und deren komplexer multisegmentaler Charakter keine klassische zweigliedrige Struktur der Konstituenten mehr aufzeigt. Da auch immer häufiger syntaktische Fügungen und Sätze als Erstglied in substantivischen Komposita beider Sprachen registriert werden, muss neben der Komposition im oben definierten Sinn außerdem auch ein zusätzlicher Typ berücksichtigt werden, der sich dadurch definiert, dass eine der Konstituenten nicht aus einem Wort, sondern aus einer satzförmigen Konstruktion besteht oder zurückzuführen ist (5). Es geht um Fälle, die in der Forschung bis jetzt nur unsystematisch behandelt wurden und als „Satz-Nomen und Phrasen-Nomen Komposita“ (Donalies 2005) bezeichnet werden. Zwar führen schon Fleischer/ Barz (1995, S. 124) diese Art der Komposition auf, schränken aber ihren Gebrauch auf belletristische und publizistische Textsorten ein. Andere Wissenschaftler bringen diesen Wortbildungstyp eher mit der Konversionsbildung in Verbindung, da es sich in jedem Fall um Phrasen handelt, die erst durch einen Konversionsprozess der einen oder anderen Wortart zugerechnet werden können und erst dann als nominalisierte Konstituente Teil in einem Kompositum sein können. (5) Dt.: Rundum-sorglos-Paket (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), Rundum-Lösung (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), Office in your Pocket-Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile), 3fach-voll-Auszug (Stern, 21/ 06: Siemens Herde), Mehr-als-Geld zurück-Garantie (Focus, 1/ 07: Toshiba). Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 237 Sp.: Servicio „Localizame“ ( EPS , 04/ 06/ 06: Offi), [Los] „todopoderosos“ BeoVision 7 ( EPS , 04/ 12/ 05: Bang&Olufsen), Llamadas manos libres ( EPS , 11/ 12/ 05: TomTom). Auf der Basis der oben ausgeführten theoretischen Überlegungen will die folgende Analyse versuchen, Entwicklungstendenzen, die meine anfangs postulierte These belegen, für beide Sprachen aufzuzeigen. 3. Analyse 3.1 Komponentenstruktur In Anlehnung an das Analysemodell (Abbildung 1) können wir bezüglich der Komponentenstruktur verschiedene Typen für die lexikalische und syntagmatische Komposition nachweisen. Nach der Anzahl der Konstituenten lassen sich nominale Kopulativ- und Determinativkomposita meistens auf zwei (komplexe) wortfähige Kompositionselemente zurückführen. Die syntagmatischen Komposita können sich aus wortfähigen, aber auch aus satzfähigen Konstituenten mit meist zweigliedriger Struktur zusammensetzen. Aber auch multisegmentale Konstruktionen, in denen eine Zweiteilung nicht mehr nachvollziehbar ist, können als Art der syntagmatischen Komposita verstanden werden (siehe Abbildung 2). 3.2 Analyse nach Art der Anbindung Ausgehend von einer klassischen Typologie der Nominalkomposita, die eine Subklassifizierung in Kopulativkomposita, Determinativkomposita im weiteren Sinne und Randformen (vgl. Duden 2005; Eichinger 2000) erlaubt, und gleichzeitig die Art der Anbindung der Elemente innerhalb der Nominalphrase betrachtet, erhalten wir für beide Sprachen folgende Ergebnisse: 3.2.1 Zusammen-/ Getrenntschreibung In dem für uns abgesteckten Rahmen der Neuwortbildung in Anzeigenwerbung zeigt sich für deutsche und spanische Kopulativ- (KK) und Determinativkomposita (DK), dass die Zusammenschreibung (6) nicht das am häufigsten verwendete Mittel der Anbindung von zwei oder mehr lexikalischen Elementen ist: Meike Meliss 238 (6) Dt.: KK : Kamerahandy ( ADAC , 3/ 06: Akotel), Videotelefonie (Spiegel, 21/ 06: Samsung); DK : Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris), Netzwerkrouter (Focus, 25/ 07: 1&1), Familienvan (Focus, 25/ 07: Renault), Onlinewelt (Focus, 52/ 07: Windows live), Fahrgastsicherheitszelle ( ADAC , 5/ 06: Peugeot 207). Sp.: KK : Radioteléfono GSM ( EPS , 15/ 01/ 06: Peugeot 407), Videollamadas ( EPS , 25/ 12/ 05: vodafone), videoconferencia ( EPS , 04/ 06/ 06: Siemens); DK : todocamino 4 ( EPS , 01/ 07/ 07: Lexus). TYP Beispiele: Deutsch Beispiele: Spanisch 1 Lexikalische Komposition 2 wortfähige (komplexe) Konstituenten: Dt.: S+S Sp.: S+S A+B / A+B 5 Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris) Familienvan (Focus, 25/ 07: Renault) videoconferencia ( EPS , 04/ 06/ 06: Siemens) (A+B)+C / A (B+C) Call&Surf Comfort (Stern, 04/ 01/ 07: T-Com) Móviles Vodafone live ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone) A+(B+C) / (A+B)+C Fahrer-Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris) O 2 Music-Shop (Focus, 28/ 05: Nokia) Vodafone SuperFlat (Focus, 52/ 07: voda- fone) módem USB movistar ( EPS , 17/ 07/ 07: Telefónica) (A+B)+(C+D) Farblaser-Multifunk- tionsgerät (Focus, 25/ 07: Sam- sung) ? 4 In Analogie zu „todoterreno“. 5 Das Grundwort wird in Fettdruck hervorgehoben. Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 239 TYP Beispiele: Deutsch Beispiele: Spanisch 2 Syntagmatische Komposition 2.1 2 wortfähige (komplexe) Konstituenten: Sp.: S+de+S A+B - Airbag de techo ( EPS , 18/ 10/ 05: Peugeot 307) A+(B+C) - Célula de seguridad tridion ( EPS , 26/ 02/ 06: SMART ) Sp.: S+Adj ? ? 2.2 1 satzfähige Konstituente ( SK ) + 1 wortfähige (komplexe) Konstituente SK+S A (SK)+B / A+B (SK) Rundum-sorglos-Paket (Spiegel, 32/ 05: Toshiba) Office in your Pocket- Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile ) Servicio „Localizame“ ( EPS , 04/ 06/ 06: Offi) A (SK)+(B+C) Mehr-als-Geld zurück- Garantie (Focus, 1/ 07: Toshiba) 2.3 Multisegmentale Konstruktion: 3 oder mehr wortfähige (komplexe) Konstituenten HP Color Access Control (Spiegel, 21/ 06: HP- Drucker) HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP - Drucker) GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ) HP Media Center m720.es PC ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ) Meike Meliss 240 TYP Beispiele: Deutsch Beispiele: Spanisch Easy7-Sitzkonzept (Focus, 1/ 06-07: Toyota) T-Home-Paket (Focus, 1/ 07: T-Com) 1&1 DSL Doppel- Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1) Vodafone Mobile Connect Card UMTS (Focus, 28/ 05: voda- fone) GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ) Abb. 2: Kompositionstypen und ihre Komponentenstruktur Interessant sind allerdings die Fälle, in denen eine Angliederung mit Binnengroßschreibung (7) erfolgt (vgl. Donalies 2005, S. 57): (7) Dt.: ZuhauseBereich (Stern, 21/ 06: Vodafone), Vodafone SuperFlat (Focus, 52/ 07: vodafone), GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ), AOL TopSpeed-Technologie ( AVF , 3/ 06: AOL ). Sp.: Radioteléfono GSM ( EPS ,15/ 01/ 06: Peugeot 407). 3.2.2 Bindestrichschreibung Während das Spanische diese Möglichkeit kaum aktiviert, ist dagegen im Deutschen die grafische Anbindung durch Bindestrichschreibung ein sehr häufig verwendetes Mittel für die Kopulativ- und Determinativkomposition und wird ebenfalls als eine Art der Zusammenschreibung verstanden (Duden 2005). Ein Bindestrich (auch: „Durchkoppelungs-Erläuterungsbindestrich“, vgl. Donalies 2005) muss meistens gesetzt werden, wenn es sich um Beispiele mit einer komplexen, mehrteiligen Struktur, in denen eines der Elemente aus einem Abkürzungswort, einer Entlehnung, einem Firmennamen oder einer syntaktischen Fügung besteht, handelt (8). Außerdem kann der Bindestrich dazu dienen, eine okkasionelle Neumotivation zu kennzeichnen (vgl. Duden 2005, S. 720ff.). Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 241 (8) Dt.: KK : Walkmann-Handy (Focus, 28/ 05: Debitel); DK : MP3 -Media-Player (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player), HD -Technologie ( CB , 11/ 06: Toshiba), HD -Welt (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp), Pocket-Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile), Highspeed-Surfen (Spiegel, 1/ 06: 1&1), DSL -Modem (Focus, 25/ 07: 1&1), DSL -Flatrate (Spiegel, 36/ 05: debitel), Deutschland-Flatrate (Focus, 52/ 07: O 2 ), Fahrer-Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris), Software- Installation (Focus, 25/ 07: 1&1), GMX - DSL -Kunden ( CB , 11/ 06: GMX ), Bi- Xenon-Scheinwerfer (Spiegel, 36/ 05: Citroën C4), O 2 Genion-Card (Spiegel, 32/ 05: O 2 Flatrate), O 2 Music-Shop (Focus, 28/ 05: Nokia), GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ), AOL 9.0 Exklusiv-Edition ( AVF , 3/ 06: AOL ), Vodafone- Shop (Focus, 52/ 06: Vodafone), Easy7-Sitzkonzept (Focus, 1/ 06-07: Toyota), T-Home-Paket (Focus, 1/ 07: T-Com), TV -Entertainment (Focus, 1/ 07: T-Com), Multimedia-Paket (Focus, 25/ 07: Renault), WLAN -Modem (Focus, 25/ 07: 1&1), Farblaser-Multifunktionsgerät (Focus, 25/ 07: Samsung), WLAN -Basisstation (Focus, 25/ 07: 1&1), Business-Computing (Focus, 25/ 07: Intel centrino), Business-Handy (Spiegel, 14/ 08/ 07: Vodafone), Business-Anwendungen (Stern, 03/ 08/ 06: acer, Vodafone), Profi-Telefon (Focus, 25/ 07: Vodafone), Premium- Paket (Focus, 25/ 07: 1&1), Handy- FLAT (Focus, 25/ 07: 1&1), Movie- FLAT (Focus, 25/ 07: 1&1), 1&1 DSL Doppel-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1), 1&1 Leistungs-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1), Auffrischen-Programm (Focus, 25/ 07: Electrolux), Arbeitsgruppen-Drucker (Focus, 28/ 05: HP -Drucker), Rundum-sorglos-Paket (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), Rundum-Lösung (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), Office in your Pocket-Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile), 3fach-voll-Auszug (Stern, 21/ 06: Siemens Herde), Mehr-als-Geld zurück- Garantie (Focus, 1/ 07: Toshiba). Sp.: KK : Coupé-Cabrio ( EPS , 07/ 01/ 07: Opel). 3.2.3 Andere grafische Zeichen Neben dem Bindestrich lassen sich auch verschiedene andere grafische Zeichen oder Siglen und andere Mechanismen zur Kennzeichnung einer gewissen Anbindung verschiedener Elemente zu einem einzigen komplexen Lexem aufzeigen. Auffällig ist in diesen Konstrukten der hohe Anteil an entlehnten Wörtern aus dem Englischen, die Inkorporierung des Firmennamens und/ oder die Benutzung von Kurzwörtern als eines der konstituierenden Elemente. Die kopulative Beziehung wird hauptsächlich durch Zeichen wie „&“ gekennzeichnet (9). Andere interessante Möglichkeiten bieten Abkürzungen, Verschleifungen etc. von Kopulapartikeln (10). Das Spanische realisiert solche Siglen-Anbindungen hauptsächlich bei komplexen Formen, die aus mehr als 2 Elementen bestehen, und bei der eine Konstituente einen eher phrasenartigen Charakter besitzt (11): Meike Meliss 242 (9) Dt.: 1&1 Surf&Phone-Box (Spiegel, 1/ 06: 1&1), GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), Call&Surf Comfort (Stern, 04/ 01/ 07: T-Com). (10) Dt.: web'n'walk Card (Focus, 21/ 08/ 06: T-Mobile). (11) Sp.: [Con el] „Cine en Casa“ [de Bang&Olufsen] ( EPS , 26/ 02/ 06: Bang& Olufsen), Servicio „Localizame“ ( EPS , 04/ 06/ 06: Offi), Los „todopoderosos“ BeoVision 7 ( EPS , 04/ 12/ 05: Bang&Olufsen). 3.2.4 Getrenntschreibung In bestimmten Fällen ist neben der Zusammenschreibung auch eine Getrenntschreibung der Komponenten eines Kompositums möglich und dient der Leseerleichterung oder zur Hervorhebung von Eigennamenbestandteilen (vgl. Duden 2005, S. 720). Im Deutschen zeigt sich eine Anbindung ohne Elemente hauptsächlich in komplexen, multisegmentalen Strukturen, in denen häufig alle Elemente entlehnt sind (1). Trotz „blanks“ (Zwischenräumen) handelt es sich hier augenscheinlich um eine Anbindung verschiedener Konstituenten zu einem komplexen Kompositum, da zwischen den Elementen keine grammatikalische Verbindung durch Flexionsmerkmale gegeben ist. In der englischen Sprache sind diese Konstrukte durchaus möglich und es ist die Tendenz zu beobachten, auch für die deutsche Sprache derartige Konstruktionen aufzunehmen. Bei englischen Entlehnungen gelten laut Duden (2005, S. 721) Sonderregeln, die eine Zusammenschreibung, aber auch Getrenntschreibung, nach der Regelung der Orginalsprache, zulassen. Komposita deren Konstituenten mit „blanks“ getrennt sind, treten auch in besonderem Maße im Spanischen auf (1). Val Álvaro bezeichnet die Formen, die zusammengeschrieben werden, als „compuestos (perfectos)“ und die getrennt geschriebenen als „compuestos (imperfectos)“, die aus zwei Komponenten bestehen, die phonologisch nicht amalgamiert haben. Diese zweite Gruppe bezeichnet Álvaro als eins der produktivsten und komplexesten Verfahren der spanischen Komposition (Val Álvaro 1999, S. 4778). Viele der in (8) genannten deutschen Beispiele mit Bindestrichanbindung entsprechen im Spanischen einer Anbindung ohne grafische Anbindungselemente, wenn es sich um Formen handelt, die aus einem spanischen Grundwort und einem entlehnten Bestimmungswort oder einem entlehnten Bestimmungswort des Typs ‘Initialbuchstabenwort’ bestehen (1). In seltenen Fällen handelt es sich allerdings im Spanischen bei dem Grundwort um ein entlehntes Lexem (12). Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 243 Auffällig bei diesen Konstruktionen ist auch die für das Deutsche und Spanische untypische logische Drei- oder Mehrteilung der Komposita, welche schon oben erwähnt wurde. Sie ergibt sich hauptsächlich durch die Angabe des Firmennamens, erschwert allerdings das Verständnis des Konstrukts. (12) Sp.: pack movistar ( EPS , 25/ 12/ 05: movistar), PC multimedia ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ). Diese aufgezeigten Möglichkeiten deuten im Deutschen und im Spanischen auf eine Tendenz zu einem „entspannten Umgang mit der Orthografie“ (vgl. Donalies 2005; Barz et al. 2002) hin und auf eine gemeinsame Entwicklung, die in dem folgenden Zitat ausgedrückt wird: Im Dienst der Werbung weitet sich in jüngster Zeit die Getrenntschreibung auch auf Komposita ohne englische Bestandteile aus. Besonders verbreitet ist sie bei Firmennamen und Produktbezeichnungen. Die Abweichung von der Schreibnorm ruft erhöhte Aufmerksamkeit oder auch Überraschung bei dem Rezipienten hervor und sorgt gegebenfalls für eine bewusstere Wahrnehmung eines Wortes. Auch die nicht regelgerechten Großbuchstaben im Wortinnern wirken entsprechend auffällig. (Duden 2005, S. 721) 3.2.5 Präpositionalsyntagmen Im Spanischen lässt sich neben den schon aufgeführten Möglichkeiten weit häufiger eine Art der syntagmatischen Komposition durch ein Präpositionalsyntagma mit „de“ aufzeigen. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung zur komplexen Nominalattribution wurden schon erwähnt. Ob in jedem Fall eine Zuordnung zur Komposition sinnvoll ist, muss einzeln entschieden werden. Es handelt sich um rechtskernige Spezifizierungen, die, wenn sie nicht durch weitere Elemente erweiterbar sind, und nur im Kern flektiert werden können, als syntagmatische Komposita (13) verstanden werden. (13) Sp.: Célula de seguridad tridion ( EPS , 26/ 02/ 06: SMART ), Pack de Navegación ( EPS , 11/ 09/ 205: Nokia y GPS TomTom), Función de bloqueo ( EPS , 30/ 10/ 05: TEKA ), Libertad de movimiento ( EPS , 26/ 02/ 06: BenQ), Airbag de techo ( EPS , 18/ 10/ 05: Peugeot 307), Airbag de rodilla ( EPS , 13/ 05/ 07: Mercedes), Pantalla de espejo ( EPS , 16/ 10/ 05: Siemens). 3.2.6 Besonderheiten - Bezüglich der Anbindung der einzelnen Konstituenten kann man in beiden Sprachen feststellen (siehe Abbildung 3), dass bei Neuwortbildungen teilweise orthografische Alternanzen in der Schreibung vorliegen: Meike Meliss 244 Deutsch: Interlinguale Alternanz der Art der Anbindung: Bindestrich - Getrenntschreibung Spanisch: Interlinguale Alternanz der Art der Anbindung: Groß-Kleinschreibung 1&1 Surf&Phone-Box (Spiegel,1/ 06: 1&1) GMX DSL Surf&Phone Box (CB, 11/ 06: GMX) Tecnología Bluetooth (EPS, 26/ 02/ 06: Siemens) Conexión bluetooth (EPS, 8/ 01/ 06: vodafone) Teléfono móvil Bluetooth (EPS, 11/ 12/ 05: TomTom) Vodafone Zuhause (Vodafone, 21/ 06) Vodafone-Shop (Focus, 52/ 06: Vodafone) Vodafone SuperFlat (Focus, 52/ 07: vodafone) Bindestrich - Zusammenschreibung MP3-Media-Player (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player) Mediaplayer (Spiegel, 21/ 06: Samsung) Abb. 3: Orthografische Alternanzen - Kontrastiv interessant sind insbesondere solche Beispiele, die in beiden Sprachen (teilweise) dieselben Konstituenten aufweisen, sie aber auf unterschiedliche Weise aneinanderbinden (siehe Abbildung 4). Das Deutsche tendiert bei Neuwörtern trotz der in Abschnitt 3.2.4 aufgezeigten Entwicklung immer noch zur „Bindestrichanbindung“, während das Spanische häufiger eine Anbindung mit blanks oder durch „de“ vorzieht. Deutsch: Bindestrichanbindung Spanisch: Getrenntschreibung / S+de+S MP3 -Media-Player (Spiegel, 36/ 05 Siemens: MP3 Player) Reproductor MP3 ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens) Calidad MP3 ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone) USB -Kabel ( AVF , 3/ 06: Nokia) Lector USB ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone) Bi-Xenon-Scheinwerfer (Spiegel, 36/ 05: Citroën C4) Faros bixenón ( EPS , 04/ 06/ 06: Mercedes) 1-Bit-Audio-Verstärker (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp) Amplificador digital de 1 Bit ( EPS , 11/ 09/ 05: Aquos Sharp) Panorama-Glasdach ( ADAC , 5/ 06: Peugeot 207) Techo panorámico ( EPS , 11/ 09/ 05: Opel Zafira) Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 245 Zusammenschreibung Getrenntschreibung / S+de+S Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris) Airbag de rodilla ( EPS , 13/ 05/ 07: Mercedes) (Elektonischer) Bremskraftverteiler (Spiegel, 36/ 05: Peugeot) Repartidor (electrónico) de frenado ( EPS , 15/ 01/ 06: Peugeot 407) Abb. 4: Intralinguale Divergenzen bezüglich der Art der Anbindung der Konstituenten 3.3 Analyse der Komposition bezüglich ihrer Konstituenten Bezüglich der einzelnen Konstituenten der Komposita kann man in beiden Sprachen typische fachsprachliche Merkmale feststellen (vgl. Poethe 2005). Hauptsächlich lässt sich die Tendenz zu einer erhöhten Frequenz von Anglizismen, Kurzwörtern, Abkürzungswörtern und die Inkorporierung von Firmennamen in die lexikalischen Konstrukte aufzeigen: 3.3.1 Entlehnungen Viele der registrierten Neuwortbildungen bestehen aus mindestens einer entlehnten Konstituente mit englischem Ursprung (14). Diese entlehnten Elemente können in beiden Sprachen in Determinativkomposita sowohl als Grundwort als auch als Bestimmungswort fungieren. (14) Dt.: Fahrer-Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris), MP3 -Media-Player (Spiegel, 36/ 05: Siemens MP3 Player), Mediaplayer (Spiegel, 21/ 06: Samsung), DSL -Flatrate (Spiegel, 36/ 05: debitel); Pocket-Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile), Offroad-Modus (Spiegel, 21/ 06: Audi), Offroad-Eigenschaften (Spiegel, 21/ 06: Jeep), Bluetooth Funktechnik ( AVF , 3/ 06: Nokia). Sp.: Airbag de techo ( EPS , 18/ 10/ 05: Peugeot 307), Pack de Navegación ( EPS , 11/ 09/ 05: Nokia y GPS TomTom); Tecnología Bluetooth ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens), Conexión bluetooth ( EPS , 8/ 01/ 06: vodafone), Teléfono móvil Bluetooth ( EPS , 11/ 12/ 05: TomTom), Móviles Vodafone live ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone). Im Deutschen zeigt sich sogar die Tendenz, Konstrukte in der Werbesprache zu verwenden, in denen alle Elemente entlehnt sind (15). Allerdings können auch einige der entlehnten Formen mit den eingedeutschten Formen alternieren (Abbildung 5). (15) Dt.: web'n'walk Card (Focus, 21/ 08/ 06: T-Mobile), Music-Shop (Focus, 28/ 05: Nokia), GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), Music Set (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player), Business-Computing (Focus, 25/ 07: Intel centrino), AOL TopSpeed-Technologie ( AVF , 3/ 06: AOL ). Meike Meliss 246 Pack Paket HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP -Drucker) T-Home-Paket (Focus, 1/ 07: T-Com) Multimedia-Paket (Focus, 25/ 07: Renault) Premium-Paket (Focus, 25/ 07: 1&1) Rundum-sorglos-Paket (Spiegel, 32/ 05: Toshiba) 3x3 Komplettpaket (Stern, 04/ 01/ 07: T-Com) Home Zuhause Homezone (Spiegel, 21/ 06: O 2 Flatrate) ZuhauseBereich (Stern, 21/ 06: Vodafone) (Tele)phone Telefon 1&1 Surf&Phone-Box (Spiegel, 1/ 06: 1&1) GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ) Profi-Telefon (Focus, 25/ 2007: Vodafone) Abb. 5: Alternanz: Entlehnung - Eindeutschung Die entlehnten Elemente treten zwar in vielen Fällen in beiden Sprachen gleichermaßen auf (Abbildung 6), dennoch verwenden beide Sprachen zumeist unterschiedliche Mechanismen, um fremdsprachliche Elemente in die eigene Sprache zu integrieren. Lehnübersetzungen, schriftliche Angleichungen etc. sind nur einige der möglichen Mittel (Abbildung 7). Englisch Deutsch Spanisch Pack HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP -Drucker) AOL Flatpack ( FV , 3/ 06: AOL ) pack movistar ( EPS , 25/ 12/ 05: movistar) Pack de Navegación ( EPS , 11/ 09/ 05: Nokia y GPS TomTom) Airbag Fahrer-Knieairbag (Stern, 21/ 06: Toyota Yaris) Airbag de techo ( EPS , 18/ 10/ 05: Peugeot 307) Bluetooth Bluetooth Funktechnik ( AVF , 3/ 06: Nokia) Tecnología Bluetooth ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens) Conexión bluetooth ( EPS , 8/ 01/ 06: vodafone) Teléfono móvil Bluetooth ( EPS , 11/ 12/ 05: TomTom) Abb. 6: Entlehnte Elemente in beiden Sprachen Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 247 Englisch Deutsch Spanisch HD 6 HD -Welt (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp) HD -Technologie ( CB , 11/ 06: Toshiba) HD -Welt (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp) HD -Ready (Stern, 21/ 06: Grundig TV ) Un mundo de alta definición ( EPS , 11/ 09/ 05: Aquos Sharp) Flatrate Deutschland-Flatrate (Focus, 52/ 07: O 2 ) DSL -Flatrate (Spiegel, 36/ 05: debitel) Tarifa plana Van oder Monospace Sportvan (Stern, 21/ 06: Ford S-MAX ) *Einraumauto/ Monoraumauto (coche) monovolumen Allroad allroad/ offroad *Allesgeländewagen Geländewagen (coche) todoterreno Laptop 7 oder Notebook 8 oder Portable computer Laptop notebook *tragbarer/ *portabler Computer (ordenador) portátil Player MP3-Media-Player (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player) Reproductor MP3 ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens) System Auszugssystem (Stern, 21/ 06: Siemens Herde) Flex-Sitzsystem (Stern, 21/ 06: Opel-Zafira) 5.1.-Surround-System (Focus, 28/ 05: Lexus) Sistema de navegación ( EPS , 23/ 10/ 05: TomTom) Sistema de sonido ( EPS , 26/ 02/ 06: BenQ) Sistema de sonido DACS (= cámera acústica) ( EPS , 05/ 02/ 06: Samsung) Sistema Flex 7 ( EPS ,11/ 09/ 05: Opel Zafira) 6 Engl.: High Definition. 7 Engl. dt. „auf dem Schoß“. 8 Engl. dt. „Notizbuch“. Meike Meliss 248 Englisch Deutsch Spanisch mobile (phone) oder portable phone Handy: 9 Kamerahandy ( DAC , 3/ 06: Akotel) Handy- FLAT (Focus, 25/ 07: 1&1: ) Walkman-Handy (Focus, 28/ 05: Debitel) (teléfono) móvil Abb. 7: Unterschiedliche Mechanismen der Inkorporierung von Fremdelementen in beiden Sprachen Die entlehnten Elemente können auch in Form von Abkürzungen oder Kurzwörtern auftreten. Die Initialabkürzungswörter bezeichnen oft die Firma oder technische Qualitäten und werden in den Abschnitten 3.3.2 und 3.3.3 näher beschrieben. 3.3.2 Konstrukte mit Kurzwort als Bestandteil Die Ausdrucksverkürzung durch Prozesse der morphologischen Reduktion zu Kurzwörtern als ökonomische Variante ihrer Vollform sind vor allem in der Fachsprache ein sehr häufig gebrauchtes Mittel zur Bennenung von neuen Produkten: Mit der Zunahme komplexer fremdsprachlicher Termini in den modernen Fachsprachen können Kurzwörter über die Fachgrenzen hinaus zudem auch eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Fachwissen in der Öffentlichkeit spielen [...]. (Steinhauer 2001, S. 12; zit. nach Duden 2005, S. 747) Denn sie lassen sich, so Steinhauer, wesentlich leichter aussprechen, schreiben und einprägen als die fachlichen Vollformen, und sie ermöglichen die unkomplizierte Bildung neuer komplexer Wörter (Duden 2005, S. 747). Die Untersuchungen von Casado (1999) über „acortamientos, formaciones de siglas y acrónimos“ zeigen für das Spanische ähnliche Tendenzen auf, beziehen diese allerdings hauptsächlich auf bestimmte soziolinguistische Sprachvarianten, wie Jugendsprache, Minderheitensprache etc. und weniger auf die fachsprachliche Lexik. In der Sprache der Anzeigenwerbung lassen sich derartige Bildungen zur Produktbezeichnung jedoch sowohl im Deutschen als auch im Spanischen 9 Es handelt sich hier um eine Scheinentlehnung. Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 249 geballt auffinden. Sie dienen nicht nur der rationellen Kommunikation, sondern werden gezielt eingesetzt, um den Eindruck von einem hohen Grad an technischer Qualität, Technologie und Modernität zu geben. Schon lange lässt sich in der Automobilbranche, neuerdings aber auch in der Produktwerbung für Multimedia-Kommunikation hauptsächlich eine zunehmende Verbreitung verschiedener Arten der multisegmentalen Kürzung sprachlicher Einheiten feststellen. Neben einer immer häufiger zu beobachtenden Tendenz, auch Schreibsymbole und Siglen als Kompositionselemente zu verwenden (9-11; Firmenbezeichnungen: 1&1, O 2 ), und einigen registrierten Beispielen für Kurzwörter (16) und Mischkurzwörter (Firmenbezeichnung: Vodafone: „VOice DAta Fax Over Net“), konnten die meisten Beispiele der Ausdrucksverkürzung bei Buchstabenwörtern des Typs „Initialabkürzungswort“ mit phonetisch nicht gebundener Aussprache aufgezeigt werden (17). (16) Dt.: (tele)phone: 1&1 Surf&Phone-Box (Spiegel, 1/ 06: 1&1), GMX DSL Surf& Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), flex(ibilty): Flex-Sitzsystem (Stern, 21/ 06: Opel- Zafira), Profi: Profi-Telefon (Focus, 25/ 2007: Vodafone), info(rmation): Infotainment ( AVF , 3/ 06: fujitsu-siemens), flat(rate): Handy- FLAT (Focus, 25/ 07: 1&1), Movie- FLAT (Focus, 25/ 07: 1&1), Vodafone SuperFlat (Focus, 52/ 07: vodafone), GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ), Akku(mulator): Akkulaufzeit (Focus, 28/ 05: HP -Drucker). Sp.: (teléfono) móvil: Móviles Vodafone live ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone). (17) Dt.: GMX DSL 10 Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), DSL -Einrichtung ( CB , 11/ 06: GMX ), DSL -Modem (Focus, 25/ 07: 1&1), DSL -Flatrate (Spiegel, 36/ 05: debitel), HD 11 -Technologie ( CB , 11/ 06: Toshiba), HD -Welt (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp), HD -Ready (Stern, 21/ 06: Grundig TV ). Sp.: PC 12 multimedia ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ), HP Media Center m720.es PC ( EPS , 25/ 12/ 05: PH ), Radioteléfono GSM 13 ( EPS , 15/ 01/ 06: Peugeot 407), Radioteléfono GSM ( EPS , 15/ 01/ 06: Peugeot 407). Es handelt sich fast ausschließlich um entsprechende Vollwörter aus der englischen Sprache (17). Sie bezeichnen sowohl Produkte, Serviceleistungen, als auch Firmen (vgl. Abschnitt 3.3.3), die meist international präsent 10 DSL : engl.: Digital Subscriber Line. 11 HD : engl.: High Definition; dt.: Hohe Auflösung; sp.: alta definición. 12 PC : engl.: Personal Computer. 13 GSM : engl.: Global System for Mobile communications. Meike Meliss 250 und im spanischen und deutschen Sprachraum bekannt sind (Abbildung 8). Die Angabe des vollen Namens und eine damit verbundene genaue Bedeutungserklärung ist notwendig, da es sich um Produkte handelt, die wir als Verbraucher nur unter diesem Namen kennen ohne die technischen Zusammenhänge zu verstehen. Deutsch Spanisch MP3 14 -Media-Player (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player) Reproductor MP3 ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens) Calidad MP3 ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone) USB 15 -Kabel ( AVF , 3/ 06: Nokia) Lector USB (vodafone, 04/ 06/ 06) Grundig LCD 16 - TV Vision (Stern, 21/ 06: Grundig TV ) Imagen LCD visionaria ( EPS , 23/ 10/ 05: B&O ) Televisor LCD ( EPS , 05/ 02/ 06: Samsung) HP 17 Color Access Control (Spiegel, 21/ 06: HP Drucker) HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP -Drucker) HP Media center m720.es PC ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ) Vodafone 18 Zuhause (Stern, 21/ 06: Vodafone) Vodafone Mobile Connect Card UMTS (Focus, 28/ 05: Vodafone) Móviles Vodafone live ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone) Abb. 8: „Internationale“ Kurzwörter 3.3.3 Konstrukte mit Firmennamen als Bestandteil Unter den Konstrukten, die aus einer Konstituente zur Bezeichnung der Firma oder Marke bestehen, fallen besonders die auf, die auf eine Kurzform reduziert werden (18) (vgl. Abschnitt 3.2.3). Aber es konnten auch Konstrukte mit Vollformen zur Bezeichnung einer Marke oder Firma aufgenommen werden (19). 14 MP3 = MPEG -1 Audio Layer 3; engl.: Moving Picture Experts Group ( MPEG ). 15 USB : engl.: Universal Serial Bus. 16 LCD : engl.: Liquid Crystal Display. 17 HP : Hewlett-Packard (= onymisches Kurzwort). 18 Vodafone: „VOice DAta Fax Over NEt“. Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 251 (18) Dt.: HP : HP Color Access Control (Spiegel, 21/ 06: HP Drucker), HP Care Pack Service (Focus, 28/ 05: HP -Drucker); Vodafone: Vodafone Zuhause (Spiegel, 21/ 06: Vodafone), Vodafone Mobile Connect Card UMTS (Focus, 28/ 05), Vodafone-Shop (Focus, 52/ 06: Vodafone), Vodafone SuperFlat (Focus, 52/ 07: vodafone); Intel-Centrino: Intel-Centrino Duo Mobiltechnologie (Stern, 21/ 06: Lenovo); AOL : AOL 19 9.0 Exklusiv-Edition ( AVF , 3/ 06: AOL ), AOL Flatpack ( FV , 3/ 06: AOL ); O 2 : O 2 Genion-Card (Spiegel, 32/ 05: O 2 Flatrate), O 2 Music-Shop (Focus, 28/ 05: Nokia); GMX : GMX - DSL -Kunden ( CB , 11/ 06: GMX ), GMX free DSL -Flat ( CB , 11/ 06: GMX ); 1&1: 1&1 Surf&Phone- Box (Spiegel, 1/ 06: 1&1), 1&1 DSL Doppel-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1). Sp.: HP : HP Media center m720.es PC ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ), Vodafone: Móviles Vodafone live ( EPS , 04/ 06/ 06: vodafone). (19) Dt.: Grundig: Grundig LCD - TV Vision (Stern, 21/ 06: Grundig TV ). Sp.: Movistar: Un pack movistar ( EPS , 25/ 12/ 05: movistar), módem USB movistar ( EPS , 01707/ 07: Telefónica); Telefónica: Trío de Telefónica ( EPS , 31/ 01/ 05). 3.3.4 Konstrukte mit Zahlwort als Bestandteil Eines der typischen Merkmale für fachsprachliche Lexik ist die syntaktische Komprimierung und Informationsverdichtung durch Inkorporierung von Zahlwörtern in die lexikalische Konstruktion. In der Werbesprache verwendet man dieses Mittel, um den Eindruck von hoher wissenschaftlicher und technischer Qualität zu vermitteln. Fast alle Beispiele weisen eine komplexe Struktur auf (20) und lassen sich in beiden Sprachen, wenn überhaupt, nur in den Randbereich der Determinativkomposition einordnen. (20) Dt.: AOL 9.0 Exklusiv-Edition ( AVF , 3/ 06: AOL ), 3fach-voll-Auszug (Stern, 21/ 06: Siemens Herde), 3x3 Komplettpaket (Stern, 04/ 01/ 07: T-Com), 1-Bit- Audio-Verstärker (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp), Easy7-Sitzkonzept (Focus, 1/ 06-07: Toyota). Sp.: Amplificador digital de 1 Bit ( EPS , 11/ 09/ 05: Aquos Sharp), Sistema Flex 7 ( EPS , 11/ 09/ 05: Opel Zafira), HP Media center m720.es PC ( EPS , 25/ 12/ 05: HP ). 19 AOL : engl.: „America Online“. Meike Meliss 252 3.3.5 Besonderheiten Bestimmte Grundwörter und Bestimmungswörter (21), welche teilweise entlehnter Herkunft sind (22), werden tendenziell reihenbildend verwendet und weisen Anzeichen von Entsemantisierung auf: (21) Dt.: Lösung: Rundum-Lösung (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), Office in your Pocket-Lösung (Spiegel, 31/ 05: T-Mobile), XpressPrint-Drucklösung ( AVF , 3/ 06: Nokia); Paket: T-Home-Paket (Focus, 1/ 07: T-Com), Multimedia-Paket (Focus, 25/ 07: Renault), Premium-Paket (Focus, 25/ 07: 1&1), Rundumsorglos-Paket (Spiegel, 32/ 05: Toshiba), 3x3 Komplettpaket (Stern, 04/ 01/ 07: T-Com); Sensation: 1&1 DSL Doppel-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1), 1&1 Leistungs-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1). Sp.: Sistema: Sistema de navegación ( EPS , 23/ 10/ 05: TomTom), Sistema de sonido ( EPS , 26/ 02/ 06: BenQ), Sistema de sonido DACS (= cámera acústica) ( EPS , 05/ 02/ 06: Samsung). (22) Dt.: Shop: O 2 Music-Shop (Focus, 28/ 05: Nokia), Vodafone-Shop (Focus, 52/ 06: Vodafone); Box: GMX DSL Surf&Phone Box ( CB , 11/ 06: GMX ), 1&1 Surf&Phone-Box (Spiegel, 1/ 06: 1&1); Set: Music Set (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player: ), Herd-Jubiläumsset (Stern, 21/ 06: Siemens Herde), Stereo- Headset (Spiegel, 36/ 05: Siemens: MP3 Player); Sensation: 1&1 DSL Doppel- Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1), 1&1 Leistungs-Sensation (Focus, 25/ 07: 1&1); Business: Business-Computing (Focus, 25/ 07: Intel centrino), Business-Handy (Spiegel, 14/ 08/ 07: Vodafone), Business-Anwendungen (Stern, 03/ 08/ 06: acer, Vodafone), Business-Profis (Spiegel, 32/ 05: Toshiba); (High)speed: Highspeed-Surfen (Spiegel, 1/ 06: 1&1), Highspeed-Dimension ( CB , 11/ 06: GMX -Flatrate), AOL TopSpeed-Technologie ( AVF , 3/ 06: AOL ). Sp.: Multimedia: prestaciones multimedia ( EPS , 16/ 10/ 05: Siemens), Multimedia computer ( EPS , 04/ 06/ 06: Nokia). 3.4 Interne semantische Relationen Die semantischen Beziehungen der Komponenten zueinander in einem Determinativkompositum können sehr unterschiedlicher Art sein. In dem analysierten Beispielkorpus konnten gehäuft qualitative Beziehungen der „technischen Präzisierung“ (23) und Beziehungen bezüglich Informationen zu „Ursprung/ Herkunft der Hersteller/ Firma“ (18 und 19) aufgedeckt werden. Das Vorkommen dieser beiden internen semantischen Relationen zwischen den Komponenten steht in direktem Verhältnis zu den multisegmentalen Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 253 Kompositakonstrukten, die durch Anzahl der Komponenten, Form der Anbindung, multisegmentale Form, Entlehnungen, Abkürzungen und Zahlwörter eine besonders komplexe Struktur aufweisen. (23) Dt.: 1-Bit-Audio-Verstärker (Stern, 21/ 06: Aquos Sharp), V6-Direkteinspritzer (Focus, 28/ 05: Lexus), Bluetooth Funktechnik ( AVF , 3/ 06: Nokia), Intel Centrino Mobiltechnologie (Focus, 28/ 05: Intel Centrino), Bi-Xenon-Scheinwerfer (Spiegel, 36/ 05: Citroën C4), DSL -Flatrate (Spiegel, 36/ 05: debitel), USB -Kabel ( AVF , 3/ 06: Nokia), DSL -Einrichtung ( CB , 11/ 06: GMX ). Sp.: Amplificador digital de 1 Bit ( EPS , 11/ 09/ 05: Aquos Sharp), Tecnología Bluetooth ( EPS , 26/ 02/ 06: Siemens), Conexión bluetooth ( EPS , 8/ 01/ 06: vodafone), Teléfono móvil Bluetooth ( EPS , 11/ 12/ 05: TomTom), Célula de seguridad tridion ( EPS , 26/ 02/ 06: SMART ), Faros de xenón ( EPS , 18/ 09/ 05: Peugeot 307), Faros bixenón ( EPS , 04/ 06/ 06: Mercedes), Climatizador (automático) bizona ( EPS , 18/ 09/ 05: Peugeot 307), Climatizador bizona (M, 03/ 07/ 05: SEAT ), Sistema de sonido DACS (= cámera acústica) ( EPS , 05/ 02/ 06: Samsung). 4. Schlussfolgerungen Aus der Analyse kristallisierten sich vor allem zwei Aspekte heraus, die sich auf beide Sprachen gleichermaßen beziehen und die anfänglich geäußerte Notwendigkeit einer theoretischen Neubestimmung zur Analyse und Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes bestätigen: a) Eine Inkorporierung fremder Elemente, hauptsächlich aus dem Englischen, die sowohl in ihrer Vollform, aber auch in verschiedenen Kurzformen in beide Sprachen eingehen, zeigt eine Veränderung der Anbindungsmöglichkeiten. Das Deutsche und das Spanische weisen beide immer häufiger einen kreativen Umgang mit Siglen zur Verknüpfung von Elementen und vor allem eine Getrenntschreibung nach englischem Muster auf (vgl. Poethe 2002). b) Die gehäufte Verwendung dieser Elemente in multisegmentalen Konstrukten, die keiner Zweiteilung mehr entspricht, erschwert die Rezeption. Die vorliegenden Mehrfachdeterminationen, bei denen die einzelnen Determinationsrelationen ohne grammatikalische Verknüpfung komprimiert werden, verlangen vom Rezipienten einen erhöhten Einsatz seines Fach- und Weltwissens (vgl. Donalies 1999; Piera/ Varela 1999). Meike Meliss 254 Da die Funktion und Intention der Wirtschaftwerbung eine ganz andere ist als die der fachsprachlichen Textsorten, werden auch fachsprachliche Elemente in der Werbung ganz anders gebraucht und eingesetzt. Sie dienen nicht der möglichst verständlichen Vermittlung von Fachinhalten, sondern sollen effektiv für das Produkt werben und Kaufinteresse wecken. Daher steht sicher der Grad der objektiven Informations- und Wissensvermittlung nicht an erster Stelle der untersuchten Neuwörter aus der Werbesprache. Die festgestellte Tendenz zur lexikalischen Komprimierung komplexer fachlicher Begebenheiten in der Werbesprache, die in der Fachsprache auch durch komplexe syntaktische Strukturen geäußert werden, belegt die Behauptung, dass die Werbesprache die komplexen fachlichen Zusammenhänge nicht laienadäquat vermittelt und Bedeutungskonzepte nur bruchstückweise weitergibt. Es konnte gezeigt werden, dass es sich bei dem beschriebenen Phänomen um eine übereinzelsprachliche Tendenz in der Werbesprache handelt, die sich natürlich von der globalisierenden Wirtschaftsentwicklung ableitet. Ob sich diese sprachlichen Tendenzen, die in der Wirtschaftswerbung ersichtlich wurden, als Schritt zu einer Globalisierung der Sprache interpretieren lassen, hängt davon ab, wie man die Aufnahme der beschriebenen Lexik in unsere Allgemeinsprache bewertet. 5. Literatur 5.1 Quellenangaben ADAC : ADAC -Motorwelt AVF : Audio-Video-Foto CB : Computer Bild EPS : El País semanal Focus FV : Foto-Video M: Magazine Spiegel Stern 5.2 Literatur Augst, Gerhard (2001): Gefahr durch lange und kurze Wörter? Lang- und Kurzwortgefahr? LKW-Gefahr? In: Stickel, Gerhard (Hg.): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Berlin/ New York, S. 210-238. Wortbildungsprozesse in der Anzeigenwerbung im Vergleich 255 Barz, Irmhild (2000): Zum heutigen Erkenntnisinteresse germanistischer Wortbildungsforschung. Ein exemplarischer Bericht. In: Barz/ Schröder/ Fix (Hg.), S. 299-316. Barz, Irmhild (2001): Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, Wolfgang/ Helbig, Gerhard/ Lerchner, Gotthard (Hg.): Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Frankfurt a.M., S. 178-217. Barz, Irmhild (2005a): Die Wortbildung als Möglichkeit der Wortschatzerweiterung. In: Cruse, D. Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter Rolf (Hg.): Lexikologie - Lexicology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. 2. Halbbd. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21). Berlin/ New York, S. 1664-1676. Barz, Irmhild (2005b): Die Wortbildung. In: Dudenredaktion (Hg.): Duden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. Mannheim, S. 641-772. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne (2000): Bibliographie zur Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache von 1990-2000. In: Barz/ Schröder/ Fix (Hg.), S. 317- 346. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Hämmer, Karin/ Poethe, Hannelore (2002): Wortbildung praktisch und integrativ. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt a.M./ Berlin. Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Fix, Ulla (Hg.) (2000): Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg. Bosque, Ignacio/ Demonte, Violeta (Hg.) (1999): Gramática descriptiva de la lengua española. Volumen 3. Madrid. Bustos Gisbert, Eugenio de (1986): La composición nominal en Español. Salamanca. Casado Velarde, Manuel (1999): Otros procesos morfológicos: Acortamientos, formación de siglas y acrónimos. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 5075-5096. Donalies, Elke (1999): Das Kakaopulver im Moralkorsett des Ministerfreundes. Gibt es Substantivkomposita mit umgekehrtem Determinationsverhältnis? In: Zeitschrift für germanistische Linguistik ( ZGL ) 27, 1999, S. 322-343. Donalies, Elke (2003a): Hochzeitstorte, laskaparasol, elmas küpe, cow's milk, casa de campo, cigarette-filtre, ricasdueñas ... Was ist eigentlich ein Kompositum? In: Deutsche Sprache 31, 2003, S. 76-93. Donalies, Elke (2003b): Gebt endlich die Wortbildung frei! Über unsinnige und sinnige Kritik an der Wortbildung. IDS -Sprachforum 13. November 2002. In: Sprachreport. 1, 2003, S. 26-32. Donalies, Elke (2004a): Kombinatorische Begriffsbildung. Teil I: Substantivkomposition. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 2/ 04). Mannheim. Donalies, Elke (2004b): Gut gefringst ist halb gewonnen. Zehn Plädoyers für einen freundlichen und freien Umgang mit der Wortbildung. Mannheim. Meike Meliss 256 Donalies, Elke (2005): Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen. Duden (2005) = Dudenredaktion (Hg.) (2005): Duden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl. Mannheim. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Irmhild Barz (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. García Lozano, Francisco (1989): Wortbildung. In: Cartagena, Nelson/ Gauger, Hans- Martin: Vergleichende Grammatik Spanisch-Deutsch. Teil 2. Mannheim, S. 75- 330 Janich, Nina (1999): Werbung als Medium der Popularisierung von Fachsprachen. In: Niederhauser, Jürg/ Adamzik, Kirsten (Hg.): Wissenschaftssprache und Umgangssprache im Kontakt. Fankfurt a.M./ Berlin, S. 139-151. Janich, Nina (2000): Da werden Sie geholfen! Was hat Werbesprache mit Sprachkultivierung zu tun? (= LAUD Linguistic Agency, Series A: General & Theoretical Papers, Paper No. 518). Essen. Krieg, Ulrike (2005): Wortbildungsstrategien in der Werbung: Zur Funktion und Struktur von Wortneubildungen in Printanzeigen. Hamburg. Piera, Caros/ Varela, Soledad (1999): Relaciones entre morfología y sintaxis. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4367-4422. Poethe, Hannelore (2002): Wort(bildungs)spiele. In: Barz, Irmhild/ Fix, Ulla/ Lerchner, Gotthard (Hg.): Das Wort in Text und Wörterbuch. Leipzig. Poethe, Hannelore (2005): Die neuen Medien im Spiegel des Wortschatzes. In: Fix, Ulla/ Lerchner, Gotthard/ Schröder, Marianne/ Wellmann, Hans (Hg.): Zwischen Lexikon und Text. Lexikalische, stilistische und textlinguistische Aspekte. Stuttgart/ Leipzig, S. 231-246. Santiago Lacuesta, Ramón/ Bustos Gisbert, Eugenio (1999): La derivación nominal. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4505-4594. Val Álvaro, José Francisco (1999): La composición. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4757-4841. Varela, Soledad/ Martín García, Josefa (1999): La préfijación. In: Bosque/ Demonte (Hg.), S. 4993-5040. Hans Schemann Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die Vielfalt der Formen und Strukturen sowohl der Wortbildungs(WB)- Einheiten (im engeren Sinn) als auch der idiomatischen Ausdrücke ist bekanntlich derart groß, dass Zweifel aufkommen können, ob das Thema des Vortrags sinnvoll oder doch in Form eines Vortrags sinnvoll zu behandeln ist. Ich muss mich daher auf die mir wesentlich erscheinenden Gesichtspunkte beschränken, Ausnahmen weglassen oder nur kurz ansprechen und manches etwas vereinfachend präsentieren. Eine erste Beobachtung vorneweg, die Aufmerksamkeit verdient und vielleicht auch etwas nachdenklich stimmt. Schlägt man in den zahlreichen „Lexikologien“, Einführungen zur und Übersichten über die Wortbildung die Sachgebiete nach, die darin behandelt werden, sieht man sehr rasch, dass die Berücksichtigung der Idiomatik äußerst uneinheitlich ist. Nicht wenige belassen es bei kurzen Hinweisen, andere bei einem mehr oder weniger knappen Kapitel. Insgesamt ist die Idiomatik in der WB-Forschung ein Stiefkind. Macht man dieselbe Stichprobe in der Idiomatikforschung, ist das Ergebnis dasselbe: nur sehr selten wird systematisch danach gefragt, inwieweit das Gegenstandsgebiet der Idiomatik seiner Natur nach in das der WB hineinreicht. Dieser Befund ist insofern überraschend, als die Ausgangsdefinition für die WB-Einheiten und die idiomatischen Ausdrücke zumindest auf den ersten Blick identisch zu sein scheint. Diese Definition ist: eine - mehr oder weniger einheitliche - (Gesamt-)Bedeutung wird von mehreren Elementen - oder Konstituenten - gebildet, 1 und diese Bildung ist unter logisch-systematischer Perspektive (mehr oder weniger) unregelmäßig. Oder, in einer Formulierung, auf die man häufiger trifft: die (Gesamt-)Bedeutung der (ganzen) Einheit ergibt sich nicht aus der Summe der Bedeutung ihrer (einzelnen) Konstituenten. Ich muss hier darauf verzichten, dem Gedanken der summenhaften Bedeutungsbildung näher nachzugehen - er trifft, wie man weiß, auch bei der 1 Ob alle idiomatischen Ausdrücke aus mehreren Konstituenten bestehen oder - genauer - ob die Idiomatizität an Mehrgliedrigkeit gebunden ist, ist allerdings fraglich; diese Frage werde ich an anderer Stelle thematisieren. Hans Schemann 258 so genannten regelmäßigen Bedeutungskonstitution nur bis zu einem gewissen Grade zu. Was mit solchen Formulierungen gemeint ist, liegt indessen auf der Hand: sowohl eine WB-Einheit als auch ein idiomatischer Ausdruck wird durch eine einheitliche Bedeutung fundiert - das macht den ihnen gemeinsamen Charakter des „Wortes“ aus, wenn auch eines Wortes besonderer Art; doch die Generierung dieser Wort-Bedeutung ist jeweils spezifisch und ist in der einen oder anderen Weise „ungrammatisch“: ein Tatbestand, der in der WB-Forschung 2 dazu führt, dass sich durch die ganze Geschichte dieses Fachgebiets ein gewisser - oft scharfer - Gegensatz zwischen den Ansätzen findet, die hinter den „Unregelmäßigkeiten“ nach tiefer liegenden Regularitäten suchen - das Systematische oder doch zu Systematisierende im Unsystematischen - und den Ansätzen, denen es eher oder sogar auschließlich um die genaue Erfassung und Klärung von Einzelerscheinungen zu tun ist. Und in der Idiomatikforschung führte dieser Gegensatz bekanntlich zu einer Fülle von Arbeiten, die ihre eigentliche Zielsetzung darin sahen, herauszustellen, inwieweit etwa die so genannten transformationellen Defekte auf die Konstitutionsmodalitäten der Ausdrücke zurückgehen oder aber in allgemeineren, sowohl idiomatische Einheiten als auch nicht-idiomatische Worte umfassenden semantischen Regularitäten wurzeln. 3 Unser Thema fragt nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den WB-Einheiten und den idiomatischen Ausdrücken. Eine erste, wichtige Gemeinsamkeit ist mit dem Gesagten benannt: eine Bedeutung - mehrere Konstituenten. Nun folgt aus dieser Bestimmung natürlich sogleich die weitere Frage: handelt es sich in den beiden Bereichen um die gleichen Elemente oder Konstituenten? Oder spezifischer: handelt es sich bei den einzelnen Konstituenten der WB-Einheiten und der idiomatischen Ausdrücke um Worte - die in der entsprechenden Einzelsprache auch außerhalb dieser Gefüge und da als „freie Form“ oder „freies Morphem“ vorliegen? Oder handelt es sich um spezifische „gebundene Formen“ - „Worte“, „Morpheme“ oder andere -, deren Verbindbarkeit auf bestimmte Bereiche und Modalitäten begrenzt ist? Oder handelt es sich schließlich um Konstituenten, die in dieser Form sonst - d.h außerhalb der infragestehenden mehrgliedrigen Ausdrücke - in der gegebenen Sprache nicht oder doch nur am Rande erscheinen? 2 Konziser, nach wie vor sehr nützlicher Überblick bei Eichinger (1994). 3 Dazu schon Newmeyer (1974). Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 259 Die letzte Alternative führt bekanntlich auf die so genannten unikalen Elemente und kann in unserem Zusammenhang venachlässigt werden, da diese Elemente einmal nicht allzu häufig und zum andern von begrenztem systematischen Interesse sind. Die ersten beiden Alternativen dagegen führen auf die Analyse der freien und gebundenen Formen, die nicht nur eine der Kernfragen der Semantik darstellt, sondern auch die zweite wichtige Gemeinsamkeit zwischen den WB-Einheiten und den idiomatischen Ausdrücken darstellt. Definiert man eine freie Form als eine Einheit, deren Verbindbarkeit mit anderen Einheiten begrifflich anzugeben ist, d.h. die Aufstellung einer Regel erlaubt, und eine gebundene Form als eine Einheit, deren Verbindbarkeit mit anderen Einheiten keine begriffliche Fassung erlaubt, so dass sich nur feststellen lässt: diese (lexematische) Einheit ist mit der oder der (oder den oder den) anderen verbindbar, mit wieder anderen dagegen nicht, dann lässt sich sagen: Sowohl die WB-Einheiten als auch die idiomatischen Ausdrücke beruhen auf der Verbindung von (mehr oder weniger stark) gebundenen Formen. Ich sage: mehr oder weniger stark. Denn zwischen dem Grenzwert der auf einen Einzelfall beschränkten Verbindung auf der einen Seite und der grammatisch (völlig) freien Verbindbarkeit auf der anderen gibt es, wie jede ins Detail gehende Forschung rasch zeigt, eine geradezu unübersehbare Anzahl von Graden. Ich nenne den auf freie Formen zurückgehenden „sprachlichen Kontext“ den semantischen Kontext, den an spezifische Lexeme gebundenen „sprachlichen Kontext“ den lexematischen Kontext. 4 Eine zentrale Aufgabe, die der WB-Forschung und der Idiomatikforschung gemeinsam ist, ist danach: die gegebenen Kontexte systematisch auf die Möglichkeiten hin zu analysieren, begrifflich fassbare Regeln anzugeben, nach denen sie verbunden sind, die Reichweite dieser Regeln festzustellen, genau die „Achse“ zu formulieren, um die der jeweilige Begriff kreist, und dann ein Modell zu entwickeln, das die - sehr unterschiedlichen - „Achsen“ und die - ebenfalls sehr unterschiedlichen - Applikationsbereiche der Begriffe in Beziehung zueinander setzt. Ausgangspunkt und Zielsetzung sind in dieser Perspektive also in der WB-Forschung und in der Idiomatikforschung identisch; das wird in zahlreichen Untersuchungen, die von diesen Grundgedanken ausgehen, nicht selten übersehen - entweder, weil man beide Gegenstandsgebiete nicht zusammen sieht, oder weil man von unterschiedlichen Theorien her denkt, oder aber weil die Terminologie solche Gemeinsamkeiten verdeckt. 4 Hierzu detaillierter Schemann (2003, Kap. B, I.). Hans Schemann 260 Der Begriff „freie Form“, „gebundene Form“ fragt als solcher noch gar nicht, wie das Element oder die Elemente aussehen, die eine solche Form bilden. Erst wenn diese Frage gestellt wird, werden die Unterschiede greifbar - und diese Unterschiede sind dann zunächst nicht solche der mehr oder weniger eingeschränkten Verbindbarkeit, sondern der Natur der verbundenen Elemente oder Konstituenten. An diesem Punkt (erst) wird es erforderlich, sich das Gegenstandsgebiet der WB und der Idiomatik genauer daraufhin anzusehen, wie die Konstituenten aussehen, die die mehrgliedrigen Einheiten ausmachen. Die übergroße Mehrheit der idiomatischen Ausdrücke besteht - im Deutschen so gut wie in allen anderen daraufhin analysierten Sprachen - aus Konstituenten, die in der gegebenen Sprache außerhalb des Ausdrucks als freie Form existieren; und dazu wird wiederum die übergroße Mehrheit dieser Gruppe nach den üblichen syntaktischen Regularitäten gebildet - die so genannten nicht-wohlgeformten Ausdrücke machen nur einen sehr kleinen Teil aus. Diese freien Formen aber sind zu einer beträchtlichen Zahl bereits WB-Einheiten: vgl. bei jm. (mit etw.) nicht auf Gegenliebe stoßen - Gegenliebe. Es besteht hier also ein Inklusionsverhältnis: ein Teilbereich der WB- Einheiten tritt als Konstituente von idiomatischen Ausdrücken auf. Die WB-Einheiten wird man unterteilen müssen, wenn man der Frage nach der Natur der Konstituenten nachgeht. Unterscheidet man Derivation, Komposition (mit dem Sonderbereich der „Zusammenrückung“), Konversion, den speziellen Bereich der „Zusammenbildung“ und „Kürzung“ (als Oberbegriff aller Formen des „Abbaus“ eines Zeichens), 5 lässt sich sagen: Die Derivation besteht definitionsgemäß aus der Verbindung von einem Wort oder mehreren Wörtern - als freien Formen - und einem oder mehreren Affixen, d.h. einer gebundenen Form unterhalb der Ebene des Wortes. Das trennt sie streng von den idiomatischen Ausdrücken. Ich sehe hier allerdings von der Problematik der so genannten Präfixoide, Konfixe u.Ä. ab; bei manchen dieser Erscheinungen ist die Abgenzung von den Idiomen weniger eindeutig. Die Konversion liegt gleichsam außerhalb unserer Fragestellung, denn die Frage, aus welchen und wievielen Konstituenten die konvertierten Einheiten bestehen, ist für den Kategorienwechsel als solchen, der die Konversion 5 Ich folge hier Erben (1975). Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 261 definiert, belanglos. Dieser Kategorienwechsel erfolgt teilweise regelmäßig (etwa die Substantivierung eines Infinitivs), in hohem Maße jedoch unregelmäßig. Man mag in dieser Unregelmäßigkeit einen idiomatischen Zug der Einzelsprache sehen; über diese (formale) Feststellung hinaus sehe ich indessen keinen Bezug zur Idiomatik. Ganz anders sieht das bei der Komposition aus. Logisch lassen sich bekanntlich zunächst die parataktischen (Kopulativ-)Komposita und die hypotaktischen (Determinativ-)Komposita unterscheiden. Einen engeren Bezug zur Idiomatik bilden hier alle Einheiten, die in der einen oder anderen Weise auf einer Figur beruhen: Blitz-Krieg - Metapher/ Vergleich des Determinativums; Schlüssel-Wort - Metonymie des Determinativums; Angsthase - Metaphorisierung des Ganzen; Hasenfuß - Metaphorisierung des Ganzen + Metonymie des Determinatums + Personifizierung; Schlafmütze - Metonymie des Determinatums + Personifizierung des Ganzen usw. 6 Prinzipiell lässt sich für alle Operationen dieser Art ein Schema (a), das ich linear nenne, einem anderen Schema (b) gegenüberstellen, das auf der Operation der Übertragung beruht. Im ersten Fall - der linearen Bedeutungsmodifizierung - wirken die Konstituenten (oft in einem Gegenseitigkeitsbezug) aufeinander und führt die Operation in der Regel nicht (oder lediglich durch Personifizierung) aus den Ausgangsbedeutungen der Konstituenten heraus („endogen“): 1. 2. 3. Abb. 1: Schema (a) - linear Bei dem zweiten Schema handelt es sich um das bekannte Figurenschema, d.h. um Übertragungen: 6 Kaum ein Bereich wird in der Idiomatik- und WB -Forschung, in der Stilistik, dann auch in der Literaturwissenschaft, Rhetorik usw. so uneinheitlich behandelt wie die Definitionsmerkmale und die Einteilung der Übertragungsfiguren. Es erscheint der Begriff der Metapher bald als generischer (Ober-)Begriff, bald als spezifische Figur. Und zwischen dem „Bild“ - das nicht notwendig übertragen ist - und der Metapher (generisch oder nicht) wird selten systematisch unterschieden. Zu meiner Auffassung vom Bild (u.a.): Schemann (2000 und 2005), von den Figuren (u.a.) Schemann (1981), zu beidem Schemann (2003, Kap. C). In aller Regel überlappen sich die - theoretisch unterschiedenen - Figuren objektsprachlich. Hans Schemann 262 4. [ ] - 5. - [ ] 6. [ - ] Abb. 2: Schema (b) - Figurenschema Hier ist allerdings oftmals nur sehr schwer eindeutig zwischen Metonymie, Metapher und Synekdoche zu unterscheiden; charakteristisch ist gerade das Zusammenspiel der nur theoretisch - und das vielleicht nicht einmal eindeutig - auseinanderzuhaltenden Tropen. Bei (a) und (b) ist dann danach zu unterscheiden, ob die Operation (der Bedeutungsmodifizierung) an einer, mehreren oder allen Konstituenten erfolgt - auch dies ist keineswegs immer eindeutig anzugeben. Die beiden Schemata verbinden also zwei prinzipiell zu differenzierende Modifikationsformen, von denen eine die (jeweilige) Figur ist, mit der Operationsbasis. Von der Problematik der nicht eindeutig zu entscheidenden Fälle wird hier abgesehen; auch stelle ich hier das Figurenschema selbst nicht eigens zur Diskussion, sondern merke nur an, dass die Übertragung ein Grundphänomen des geistigen Verstehens und Schaffens darstellt, das intuitiv in der erdrückenden Mehrheit der Fälle sofort einleuchtet, theoretisch aber sehr oft nur schwer präzis zu fassen ist. Es gilt hier offenbar mutatis mutandis das, was Jakob Burckhardt im Zusammenhang mit der „Schau“ der Griechen in mythischer Zeit sagt: „Je präziser wir verfahren wollen, desto gewisser gehen wir in die Irre.“ 7 - Natürlich eine Äußerung, die allen (mehr oder weniger ausschließlich) theoretisch-analytisch vorgehenden Wissenschaften gleichsam einen Riegel vorschiebt. Diese Schemata - insbesondere das Figurenschema - sind nun für die Bedeutungsübertragungen der Komposita (und anderer WB-Einheiten) und der idiomatischen Ausdrücke mit der gleichen Fruchtbarkeit anzuwenden. Ja, bei den idiomatischen Ausdrücken bilden die Figuren geradezu ein entscheidendes Definitionsmerkmal - deshalb nennt man sie die „bildhaften“, die „bildhaft übertragenen“, die „metaphorischen“ Ausdrücke. 8 Bei den WB- Einheiten lässt sich damit ein signifikanter Teilbereich insbesondere der Komposition beschreiben. 7 Burckhardt (1957, Bd. 1, S. 364). 8 Wie schon aus der Angabe zweier Schemata hervorgeht, folgt daraus nicht, dass alle idiomatischen Ausdrücke übertragen sind; die große Mehrheit ist es indessen. Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 263 Es ist hier allerdings zusätzlich auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, das an Einheiten wie Fingerzeig, Dickkopf, Kopfzerbrechen und zahllosen anderen deutlich wird: Es sind Einheiten, die auf die idiomatischen Ausdrücke jm. einen Fingerzeig geben, einen Dickkopf haben, jm. Kopfzerbrechen machen zurückgehen, also Rückbildungen - eine Form der Kürzung - darstellen und deswegen zum Teil gebundene Formen repräsentieren. Man sieht das sofort, wenn man nach den normgerechten sprachlichen Kontextmodalitäten fragt, d.h., sie nach dem oben diskutierten Merkmal der gebundenen oder freien Form analysiert. Man sagt wohl kaum: *das ist ein starkes/ ... Kopfzerbrechen, doch schon eher: ein nützlicher Fingerzeig im geeigneten Augenblick ist viel wert, und sicherlich komplikationslos: einen derart harten/ widerspenstigen/ ... Dickkopf wie Onkel Oskar/ ... habe ich selten gesehen. Kurz: der Übergang von einer gebundenen zu einer freien Form hat ebenfalls die unterschiedlichsten Grade und Schattierungen. An der systematisch zu unterscheidenden Natur der Erscheinungen ändert das indessen natürlich nichts. Man sieht hier, wie verschachtelt die Verbindung zwischen den beiden Bereichen, der WB und der Idiomatik, ist. Und man sieht ebenfalls anhand der angebenen Schemata, insbesondere des Figurenschemas, wie die Modifikationsmodalitäten um so stärker denselben Gesetzmäßigkeiten folgen, je gebundener der sprachliche Kontext und je stärker die Bedeutungsmodifikation ist. Die übliche Bezeichnung der „Idiomatisierung“ ist daher zwar durchaus sinnvoll; doch ist sie hier in ihrer eigentlichen „Bedeutung“ zu verstehen, d.h.: „den Gesetzmäßigkeiten folgend, die idiomatische Ausdrücke konstituieren“ - und nicht als passe-partout-Begriff, der vermeintlich unregelmäßige Bedeutungsänderungen durch eine gefällige Nomenklatur erledigt. In diesem Zusammenhang ist - gleichfalls nur am Rande - anzumerken: die Begriffe „regelmäßig“/ „unregelmäßig“ legen als Messlatte lediglich die Begriffe des Verstandes an; neben dem so genannten „Verstand“ hat der Mensch aber noch die Sinne, die Imagination, die so genannte „Vernunft“ und möglicherweise noch andere Erkenntnisvermögen, die je nach Anwendungsgebiet unter Umständen sicherer funktionieren als die Begriffe. Die anschaulich evidenten Übertragungsformen weniger ernst zu nehmen als begriffliche Spezifizierungen, ist eine Vorentscheidung, über deren Implikationen man sich klar sein muss, wenn man die menschliche Sprache auf der einen, die Sprachwissenschaft auf der anderen Seite angemessen beurteilen will. Das Gleiche gilt aber auch für die dazu gleichsam „umgekehrte“ Haltung: als „Idiomatisie- Hans Schemann 264 rung“ all das zu bezeichnen, was nicht weiter expliziert wird oder gar expliziert zu werden verdient. Was die angebenen Beispiele Blitzkrieg, Angsthase usw. von den idiomatischen Ausdrücken wiederum streng scheidet, ist natürlich ihre kompositionelle Fügung, die eben den Regularitäten der deutschen Wortbildung folgt. Diese Regularitäten heben sich (wie man weiß, wie aber nicht immer genügend beachtet wird) von den syntaktischen Regularitäten mehr oder weniger stark ab - so dass hier höchstens ein Bezug zu den nichtwohlgeformten idiomatischen Ausdrücken hergestellt werden könnte, der indessen reichlich künstlich scheint, da diese, wie gesagt, nur einen kleinen Sonderteil bilden, während die Mehrheit der Wortbildungsregularitäten eine äußerst große Zahl von WB-Einheiten charakterisiert. Diese Problematik entfällt nun völlig bei den so genannten „Zusammenrückungen“, bei denen sich, definitionsgemäß, nach der Syntax des Deutschen formal regulär gebildete 9 Syntagmen inhaltlich zu festen Syntagmen umbilden: fremdgehen, zugrundegehen, leerlaufen, jn. fertigmachen usw. - Die unseligen Diskussionen um die Rechtschreibreform haben auch dem so genannten Laien gezeigt, dass diese Formen nicht etwa am Rande des deutschen Sprachsystems, sondern geradezu in dessen Zentrum stehen: ich weiß nicht, wieviel Hunderte, wenn nicht Tausende von solchen Einheiten heute bald getrennt, bald zusamengeschrieben werden - während die Intuition sie sofort in ihrer einheitlichen Bedeutung erfasst, und zwar auch da, wo freie und feste Syntagmen lautlich ungeschieden nebeneinander stehen; so hat etwa bei der Postbeamte macht das Paket fertig und der Chef macht seinen Untergebenen mal wieder nach Strich und Faden fertig die Intuition nicht die geringste Mühe, die Erscheinungen spontan zu sondern. Gerade durch die Regelmäßigkeit ihrer formalen Bildung und die bildhafte Transposition nach dem Figurenschema bilden diese Einheiten im strengen Sinn idiomatische Ausdrücke 10 - mit der zusätzlichen Eigenschaft, dass sie als Kompositum eines der augenfälligsten Charakteristika des Deutschen belegen, nämlich unterschiedliche Lexeme in einer Zahl, deren 9 Auch hier ist natürlich genau auf den Einzelfall zu achten; stattfinden, teilnehmen und zahllose andere Einheiten, die man häufig unter den Zusammenrückungen findet, sind nicht regulär. 10 In den romanischen Sprachen sind insbesondere Bildungen aus Substantiv + Adjektiv (wobei das Ajektiv hinter und vor dem Nomen erscheinen kann) zugleich ein signifikanter Teilbereich der Wortbildung wie der Idiomatik. Die („klassische“) Terminologie wirkt hier besonders „hinderlich“. Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 265 Grenze nur die Gedächtnisbzw. Konzentrationsgrenze zu sein scheint, komponieren zu können (Hermannlönsgedächtnisstraßenbaubetonarbeiterschuhriemenöse). Im Gegensatz zur Zusammenrückung fußt die so genannte Zusammenbildung (vierzehntägig zu: vierzehn Tage, doch nicht: *tägig; lang-/ kurzlebig zu: langes/ kurzes Leben, doch nicht: *lebig, usw.) wieder auf einer Affigierung - in diesem Fall der Suffigierung -, die nicht nur einen gebundenen Kontext konstituiert, sondern einen gebundenen Kontext unter Sonderbedingungen darstellt. Hier scheint es noch schwieriger als bei den übrigen WB- Mustern, begriffliche Sphären und Achsen zu finden, die sie - oder wenigstens einen Teilbereich von ihnen - unter Regeln bringen. Sind die Übertragungsprozesse bei den WB-Einheiten auf der einen Seite und den idiomatischen Ausdrücken auf der anderen, wie sich zeigte, (prinzipiell) identisch, so hat die Idiomatik doch ihren Schwerpunkt im Syntagma, die WB insofern im Wort, als selbst bei den Komposita, die Übertragungen implizieren, die große Mehrheit Determinativkomposita sind, d.h. endogene Einheiten, die eine Spezifikation des durch das Determinatum bezeichneten Bedeutungsrahmens darstellen: so wie die „Kellertreppe“ eine spezifische „Treppe“ ist, so ist der „Blitzkrieg“ ein spezifischer „Krieg “; und wenn auch der „Angsthase“ ein Zweibeiner zu sein pflegt, so setzt doch das Kompositium das Bild vom furchtsamen Hasen voraus - ganz gleich, mit wievielen Beinen er bei Gefahr davonstürmt. Ein Bild ... Hiermit kommen wir auf einen letzten Punkt, den ich hier berühren möchte: auf die Bildhaftigkeit als Charakteristikum der idiomatischen Ausdrücke. Der eigentliche Kern der Idiomatik liegt ja nicht in den bisher besprochenen Einheiten; der eigentliche Kern liegt in den Ausdrücken, die auf einem einheitlichen Bild aufbauen und gerade durch dieses einheitliche Bild in ihrer semantischen Bedeutung und sehr häufig auch in ihrer pragmatischen Funktion über den Ausdruck hinausweisen, d.h. gegenüber einer nicht-idiomatischen Paraphrase sowohl einen semantischen als auch pragmatischen Mehrwert bilden - abgesehen von ihrer syntaktisch nicht oder nur ganz rudimentär zerreißbaren festen Struktur. Zunächst einige Beispiele, ehe wir an die Analyse gehen: jn. in der Hand haben, e. S. auf den Grund gehen, das Kind mit dem Bade ausschütten, kein Blatt vor den Mund nehmen, nicht auf den Kopf gefallen sein, etw. auf die Spitze treiben usw. Die daraufhin analysierten Sprachen haben Tausende von solchen Ausdrücken. Sie gehen auf Gesten oder Gebär- Hans Schemann 266 den zurück, auf die unterschiedlichsten Erscheinungen der Umwelt und der Lebenswelt, die in ihnen symbolisch durchlässig werden, auf Verhaltensformen von Mensch und Tier, deren Bedeutungshaftigkeit für den Menschen sprachlich so Gestalt gewinnt, auf religiöse, kulturelle und andere Erlebnis- und Gestaltungsformen, die anders kaum genuin „zum Ausdruck kommen“ können. Ein Ausdruck wie nicht auf den Kopf gefallen sein etwa setzt als Präsupposition zunächst einmal das „Bild“ vom Kopf voraus als dem Organ des Denkens/ Erinnerns/ Ordnens/ Planens und die Weltkenntnis, dass ein Hinfallen oder Stürzen diese Tätigkeiten oder Fähigkeiten mehr oder weniger stark beeinträchtigen kann. Dieses „Bild“ vom Kopf ist übereinzelsprachlicher, ja anthropologischer Natur; die Weltkenntnis von der Gefährdung dieses Organs durch einen Sturz steht ebenfalls jedem Menschen prinzipiell zur Verfügung. Aus diesen - außer- oder vorsprachlichen - Gründen ist es nun auch prinzipiell gleichgültig, ob es heißt: nicht auf den Kopf/ auf die Birne/ den Schädel/ den Hinterkopf/ die Stirn/ ... gefallen/ gestürzt/ geplumpst/ ... sein oder: einen Sturz/ Plumps/ auf den Wirsing/ die uns auszeichnende Kugel/ ... gemacht/ inszeniert/ ... haben oder noch andere ... D.h., die konkrete lexematische Ausfüllung des Bildes ist weitgehend frei - ähnlich wie die konkrete sprachliche Ausfüllung eines Erzählrahmens weitgehend frei ist. Notwendig ist (lediglich) ein bestimmter Strukturrahmen, der das Bild trägt - oder wenigstens andeutet, denn zahlreiche Ausdrücke deuten wie Gedichte das vom Bild Gemeinte lediglich an; wir befinden uns hier im Bereich des Ästhetischen. Daher die zahlreichen Varianten solcher Ausdrücke in ein und derselben Einzelsprache bei gleicher Bedeutung; daher die lexematischen und syntaktischen Unterschiede von einer Sprache zur anderen bei gleichem oder sehr ähnlichem Bild und bei gleicher oder verwandter Bedeutung. Der Ursprung eines idiomatischen Ausdrucks dieses Kernbereichs ist seiner Natur nach also ein sprach-schöpferischer Vorgang allgemeinlinguistischer Relevanz; unabhängig von spezifisch einzelsprachlichen Regularitäten; unabhängig auch von spezifischen sozialen und gesellschaftlichen Faktoren - all dies wirkt lediglich selektierend, d.h. hat seinen Einfluss darauf, welche von den potenziell unzähligen Schöpfungen realiter geschaffen - oder auch nicht geschaffen - werden. Die Bild-Bedeutung ist ihrer Natur nach zugleich tiefer und weiter als die einzelsprachlich lexikalisierte Sprachbedeutung, die eben dadurch zustande kommt, dass das Bild in die jeweilige syntaktisch-semantisch-pragmatische Struktur einer bestimmten Einzelsprache eingefügt und eben dadurch um- Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 267 grenzt, definiert wird. 11 Im Deutschen werden etwa aus dem anthropologisch fundierten Bild / in der Hand/ - mit der Implikation: „mit dem, was der Mensch in der Hand hat, kann er umgehen/ das beherrscht er/ das kann er ändern/ ...“ - die Sprachbedeutungen jn. (fest) in der Hand haben, etw. (sicher/ ...) in der Hand haben, sein Schicksal in der Hand haben, es in der Hand haben, ob ..., im Portugiesischen lediglich ter alg. na m-o, im Französischen nur avoir qc./ qn. (bien) en mains, im Englischen nur: to be in so.'s hands to decide ... bzw. to have so.'s fate/ ... in one's hands - d.h.: der gesamte sprachliche (syntaktische, semantische, pragmatische) Kontext rahmt das Bild von Sprache zu Sprache unterschiedlich ein, und das macht die einzelsprachliche Gebundenheit der jeweiligen Sprachbedeutung aus - eine Gebundenheit, die, linguistisch gesehen, eine einzelsprachliche Restriktion des weiten und daher noch nicht sprachlich-begrifflich definierten Bildes darstellt, und anthropologisch-philosophisch gesehen: eine Umsetzung des inneren Bildes der Intuition und der Imagination in die Kategorien des Verstandes. 12 Der Blick - oder besser: das Erleben - des sprachschöpferischen und sprachnachschaffenden Menschen geht hier also primär aus von der innigen Verbindung von Ich und Welt; von dem Erleben eines spezifischen Weltausschnitts, der für das Ich sprachlich durchlässig wird und daher die „Bewegung“ zum sprachlichen „Ausdruck“ durchmacht - um von der Beziehung zum Du bzw. zum Mitmenschen bei diesem Prozess abzusehen. Heidegger hat das anhand von „Grund “, e. S. auf den Grund gehen usw. in seinen Überlegungen zum „Satz vom Grund“ angedeutet. 13 Die Schaffung von WB-Einheiten setzt demgegenüber - mit der Ausnahme vor allem der global übertragenen Zusammenrückungen - an in der Umsetzung gegebener, zum großen Teil neuer Erscheinungen der Welt anhand sprachlich bereits gegebener Lexeme und Strukturmuster der eigenen Sprache; bei Entlehnungen (auch) anderer Sprachen. Dies zwar nicht ausschließlich - auch hier sind verengende Hypothesen zu vermeiden -, doch sicherlich in aller Regel primär. Letztlich aus diesem Grund sind WB-Einheiten (in aller Regel) einzelsprachlich-relevante Einheiten - man sieht bereits ihrer Form an, welcher Sprache und welchem Stand der Sprachentwicklung sie angehören. 11 Das habe ich in Schemann (2000) genauer zu zeigen versucht. 12 Bilder liegen der Bedeutung in genetischer, historischer und systematischer Perspektive - allgemein- und individualgeschichtlich - zugrunde. 13 Vgl. etwa Heidegger (1957, S. 155ff., 161ff. u.a.). Hans Schemann 268 Vielleicht noch deutlicher wird dieser Gegensatz an einem idiomatischen Ausdruck wie etw. auf die Spitze treiben. Welche Spitze ist hier überhaupt angesprochen? Zunächst wohl die Schwertspitze; das Idiom meint also: „etwas so weit treiben, dass es zu einer scharfen, verletzenden, unter Umständen tödlichen Auseinandersetzung kommen mag oder kann.“ Warum dann aber auf ? Das Bild setzt offensichtlich nicht lediglich an einer bildhaft gestalteten Weltkenntnis von den Kriegswerkzeugen an, sondern schafft - zusätzlich oder vielleicht sogar primär - einen imaginativen Anschauungsrahmen: „so weit gehen/ es so weit treiben/ ..., dass das Ganze - d.h, das, worum es im gegebenen Fall geht - bricht, in sich zusammenbricht, es zur ‘Zerstörung’ kommt“, weil das, was man „treibt“, an der Spitze angelangt, sich dort nicht „halten“ kann. 14 Einen imaginativen Ausdrucksrahmen - solche Phänomene bilden heute in der Linguistik Untersuchungsfelder der kognitiven Linguistik, der Raumlinguistik usw. Wir stehen wiederum in einem vor- oder übereinzelsprachlichen Raum: der Sphäre unserer „Bilder“, d.h. all dessen, was für uns Bedeutung annehmen kann. Die Bedeutung der Ausdrücke des Kernbereichs der Idiomatik kann daher auch nicht - im Sinne aller vorher behandelten Einheiten - aufgebrochen und wenigstens ansatzweise auf die einzelnen Konstituenten des Ausdrucks verteilt werden. Es sind in vollem Sinn des Wortes „Einheiten“ und keine „Verbindungen“; mit gutem Grund unterscheidet die Idiomatikforschung zwischen idiomatischen Einheiten und phraseologischen Verbindungen. Diese Differenzierung hat in der WB-Forschung höchstens da eine Parallele, wo man die Mehrgliedrigkeit - das Kompositionelle - gar nicht mehr empfindet oder sogar nicht mehr nachvollziehen kann: etwa bei dem Verb umkommen in der Bedeutung von „sterben“; doch ist damit jeder Bildcharakter gerade verlorengegangen. Man kann diesen Gedanken vom Bild natürlich noch einen Schritt weitertreiben und sagen: Prinzipiell ist jede Bedeutung letztlich in einem Bild fundiert - d.h. ein bestimmtes, sprachliches oder nicht-sprachliches Symbol dient als „Ausdruck“ für das innere Bild, das der so genannte Gegenstand bzw. ein so genannter Weltausschnitt im so genannten Bewusstsein hervorruft; und 14 Gerade auf die bedeutungs-erzeugende Kraft oder Potenz des Bildes kommt es an, wenn man den eigentlichen Kern der idiomatischen Ausdrücke - und damit ein wesentliches Element aller sprachschöpferischen „Energie“ („energeia“) - verstehen will. Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 269 dabei ist die Form des Symbols grundsätzlich gleichgültig. Sieht man das Problem in diesem Sinn, also (sprach-)philosophisch, stellen alle bildhaften Einheiten der Sprache den - eben sprachlichen - Teilbereich der Symbole dar, auf denen das aufbaut, was man „Bedeutung“ nennt. Eine solche die WB-Einheiten und die idiomatischen Ausdrücke als Teilbereiche in sich fassende Bestimmung führt indessen nicht nur aus unserem Thema, sondern auch aus der Linguistik im üblich verstandenen Sinn heraus. Vielleicht ist auch in dieser Perspektive eine zeitgeschichtliche Beobachtung am ergiebigsten. Idiomatische Ausdrücke, so sahen wir, „entfalten“ ein Bild der Innen- und Außenwelt zur Bedeutung - formal in festen Syntagmen, und zwar in aller Regel als Verbalphrasen: etw. auf die Spitze treiben; oft auch spielerisch: jn. durch den Kakao ziehen usw. Schon intuitiv hat man diese Einheiten immer in einen Zusammenhang mit den Sprichwörtern, Dikta, Maximen, Reflexionen, Zitaten usw. gebracht - ganz gleich, welche (angenommenen) „einfachen Formen“ dann zu näheren Spezifizierungen führten; denn all diese Einheiten geben „Lebensweisheiten“ wieder. Lebensweisheiten, die sich dem Menschen aufgrund seiner Vertrautheit mit seiner - allen gemeinsamen, „gemeinschaftlichen“ - Umwelt und aufgrund seiner naivspontanen Wiedergabe seiner Innenwelt gleichsam von selbst als „bedeutungshaft“ ergaben. Ist es ein Wunder, dass in unserer immer anonymeren, von Person zu Person immer fragmentierteren, in unserer immer stärker sei es verwissenschaftlichten, sei es formalisierten so genannten „Lebenswelt“ die Kraft zur Schaffung idiomatischer Ausdrücke zu erlahmen scheint? 15 Wie die anderen genannten „einfachen Formen“ auch, scheint ein großer Teil der Sprecher solche Ausdrücke heute als Teil einer Vergangenheit zu empfinden, die, wenn überhaupt, nur gefiltert wahrgenommen wird. So lässt schon die Kenntnis der idiomatischen Ausdrücke in den Industrienationen stark nach. Ganz anders die Wortbildung. Neubildungen erfreuen sich größter Beliebtheit; insbesondere - und auch das ist aufschlussreich - die mannigfachen Formen der Kürzung. Die Übernahme des Telegrammstils in die Lexik scheint heute zur „Symbolik der Sprache“ zu gehören: sie drückt aus, dass die Welt nicht mehr „als Bedeutung erscheint“, sondern durch Formeln transkribiert oder gar nur formelhaft (mehr oder weniger hastig) „angezapft“ 15 Die Welt der Industrie und Technik hat bisher relativ wenige idiomatische Ausdrücke erzeugt. Man wird abwarten müssen, ob das noch seine Zeit braucht - d.h. historisch zu erklären ist - oder ob das mit einer veränderten Relation Mensch-Umwelt zusammenhängt. Hans Schemann 270 wird. Statt „in Mode sein“ „in sein“, statt „Feuer gefangen haben“ (d.h. „entflammt sein“) „ jn. anmachen“ (d.h. „ihn wie ein Streichholz oder eine Zigarette anzünden“); statt „der Groschen ist gefallen“ „alles klar! “ - besonders, wenn gar nichts klar ist, usw. Ich ironisiere natürlich. Der Humor ist vielleicht der beste Einstieg in diese zugleich linguistische wie zeitkritische Thematik - hier nur für den Nachdenklichen als eine Art „statement“ vor-formuliert. Literatur Burckhardt, Jakob (1957ff.): Griechische Kulturgeschichte. Stuttgart. Eichinger, Ludwig M. (1994): Deutsche Wortbildung. Heidelberg. Erben, Johannes (1975): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. Berlin. Heidegger, Martin (1957): Der Satz vom Grund. Pfullingen. Newmeyer, Frederick J. (1974): The regularity of idiom behavior. In: Lingua 34, 1974, S. 327-342. Schemann, Hans (1981): Das idiomatische Sprachzeichen. Tübingen. Schemann, Hans (2000): Idiomatik und Anthropologie. „Bild“ und „Bedeutung“ in linguistischer, sprachgenetischer und philosophischer Perspektive. Hildesheim/ Zürich/ New York. Schemann, Hans (2003): „Kontext“ - „Bild“ - „idiomatische Synonymie“. Hildesheim/ Zürich/ New York. Schemann, Hans (2005): Bild - Sprachbild - Weltbild - Phantasiebild. Hildesheim/ Zürich/ New York. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun Zwischen Wortbildung und Syntax: Die ‘Wortigkeit’ von Partikelverben/ Präverbfügungen in sprachvergleichender Perspektive 1 1. Vorbemerkungen Mit dem vorliegenden Beitrag wird eine vieldiskutierte Frage der deutschen Wortbildung noch einmal aufgegriffen, die nach dem Status deutscher Partikelverben bzw. Präverbfügungen: Handelt es sich um Wortbildungs- oder syntagmatische Einheiten oder gegebenenfalls ein (intermediäres) Drittes? Und wenn es sich um Wortbildung handelt, geht es dann um Derivation oder Komposition oder wiederum ein Drittes? Die Begründung dafür, warum noch einmal über diese Frage gesprochen werden soll, ist unsere Hoffnung, dass die von uns zugrunde gelegte sprachvergleichende Perspektive neue Argumente auch für die Behandlung des Phänomens im Deutschen beisteuern kann. Die Vergleichssprachen, auf die wir uns beziehen, sind mit dem Englischen und dem Ungarischen zwei Kontrastsprachen des IDS-Projekts „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“, aus dem diese Arbeit hervorgegangen ist. 2 Vorab sind drei Hinweise zu geben: Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf komplexe Verben mit präpositionalem Erstglied wie übergehen, aufgehen, abfallen. 3 Andere häufig 1 Für wertvolle Hinweise zu den ungarischen Partikelverben danken wir Krisztina Molnár (Pécs). 2 Zu dem Projekt vgl. www.ids-mannheim.de/ gra/ eurostudien.html (Stand: August 2007). Die beiden weiteren Kern-Kontrastsprachen des Projekts, Französisch und Polnisch, verfügen nach unserer Einschätzung nicht über direkt vergleichbare Einheiten. Zu verweisen ist auch darauf, dass Fragen der Verbalgrammatik, wie sie hier behandelt werden, nicht Gegenstand der laufenden Projektphase („Grammatik des Nominals“) sind, sondern erst in der nächsten Phase systematisch behandelt werden. 3 Es handelt sich um die Präpositionen über, unter, durch, um, die auch nicht abtrennbar vorkommen, sowie ab, an, auf, aus, zu, die dies nicht tun. einfungiert in den Präverbfügungen als Entsprechung (‘starke Form’) zu der Präposition in. wieder wie in wiederbringen, wiedersehen ist als Adverb zu betrachten, das ggf. idiomatische Verbindungen mit einem Verblexem eingeht, nicht als Gegenstück zu nicht-abtrennbarem wider in widersetzen, widerrufen (vgl. dagegen Altmann/ Kemmerling 2000, S. 77ff.). Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 272 derselben Klasse zugeordnete Elemente wie die Adverb + Verb-Kombinationen (hinaufgehen, darunter liegen usw.) werden hier allenfalls im Kontrast - auch im Hinblick auf das Englische und Ungarische - betrachtet, die Substantiv- oder Adjektiv-Verb-Kombinationen (Rad fahren, krankschreiben) werden im Allgemeinen aus der Diskussion ausgeschlossen. Dies geschieht nicht nur aus Platzgründen, sondern vor allem, weil wir die Auffassung vertreten, dass - unbeschadet gewisser Gemeinsamkeiten mit diesen Kombinationen, vgl. Abschnitt 3.4.4 - nur diejenigen mit präpositionalem Erstglied aufgrund der grammatischen Kategorie ihres Erstteils (eben der Präposition) das oben angesprochene Zuordnungsproblem, wie sich zeigen wird, in aller Schärfe aufkommen lassen. Bei den anderen Kombination tritt der Konflikt zwischen ‘Wortigkeit’ und ‘Syntagmatizität’, wie wir die Zuordnungsproblematik benennen wollen, nur bezogen auf bestimmte lexikalische Instanzen grammatischer Kategorien auf, die mehr oder weniger feste bzw. idiomatische Verbindungen mit dem Verb eingehen. Um durch die Bezeichnung ‘Partikel’ keine Präjudizien zu machen, und da häufig vergleichend argumentiert wird bezüglich Paaren wie übergehen - über gehen, sprechen wir von ‘trennbaren Präverbfügungen’ (kurz: Präverb[+trb]Fügungen) gegenüber ‘nicht-trennbaren Präverbfügungen’ (kurz: Präverb[ trb]Fügungen). 4 2. Terminologie, Forschungsstand und Status der ‘Partikeln’ in den drei Vergleichssprachen 2.1 Verb-‘Partikeln’ im Englischen Ins Blickfeld geraten hier zum einen und in erster Linie verbale Fügungen wie come in/ out/ over, flow over, take something in, give in, in zweiter Linie und im Kontrast aber auch komplexe Verben wie overflow, underestimate, outgrow. In den beiden modernen wissenschaftlichen Grammatiken des Englischen Quirk et al. (1985) und Huddleston/ Pullum (2002) wird der Terminus ‘particle’ für präpositional-adverbiale Einheiten, also Einheiten ohne eine regierte 4 Wie hier angedeutet, gibt es eine Korrelation zwischen dem Sitz des Hauptakzentes und der Trennbarkeit: Ist das Präverb Träger des Hauptakzents, dann liegt Präverb[+trb]Fügung vor, ist das Verb betont, liegt Präverb[ trb]Fügung vor. Allerdings gilt dies strikt nur für den Kernbereich der Präverbfügungen mit einfachem Verb. Bei Präverbfügungen zu bereits präfigiertem Basisverb wie 'überbewerten, 'missverstehen ist das Präverb betont (bei missnur in diesem Fall), die Fügungen sind aber nicht trennbar. Zwischen Wortbildung und Syntax 273 NP, verwendet, die wie in come in usw. in enger Kohäsion mit dem Verb auftreten. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den beiden Konzeptionen, die sich in der Gegenüberstellung folgender beider Klassifikationen erfassen lassen: Abb. 1: Verb-particle-combinations (Quirk et al. 1985, S. 1150ff.) Abb. 2: Verb + intransitive preposition (Huddleston/ Pullum 2002, S. 280ff.) Die nach wie vor umfassendste englische Wortbildungslehre von Marchand (1969) hebt den phrasalen Charakter von Kombinationen wie come in, make out usw. hervor. Sie spricht allgemeiner von ‘verbal phrases’, spezieller auch von ‘postparticle verb’. Während, so kann man Marchand (ebd., S. 1) entnehmen, come in auch semantisch als zwei Wörter gewertet wird, verhalten sich die idiomatischen Verbindungen wie make out, take in jeweils einzeln X verb-particle-object idiomatic give in free take in ‘bring inside’ verb + intransitive preposition idiomatic take in ‘deceive’ free go in intransitiv transitiv phrasal give in free take in ‘bring inside’ verb-particle-combinations ‘multi-word-verb’ phrasal take in ‘deceive’ free go in Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 274 in ihren Teilen distributionell als Wörter, semantisch aber konstituieren sie ein Zeichen (im Saussureschen Sinn). Bei Marchand werden (freie und idiomatische) ‘postparticle verbs’ daher nicht behandelt, freie ‘postparticle verbs’ gehörten unter strukturellem Gesichtspunkt nicht in die Wortbildung, idiomatische gehörten nicht in die Wortbildung, weil keine neuen Zeichen auf der Basis bestehender Zeichen gebildet werden. Dagegen werden die ‘preparticle verbs’ (wie overlook, outgrow usw.) als Komposita eingeordnet und behandelt. Lokative Partikeln werden nach Marchand durch die ganze Sprachgeschichte als erste Bestandteile von Komposita genutzt. Er nennt folgende lokative Partikeln: after, by, forth, in, off, on, out, over, through, under, up. Diese sind bei Substantiven und Adjektiven vergleichsweise produktiv, nicht mehr aber bei Verben. Nach Marchand waren im Altenglischen die lokativen Partikeln ‘abtrennbare Präfixe’, sie gingen - vergleichbar mit den deutschen Entsprechungen - in manchen Verbformen dem Verb voran, in anderen folgten sie nach. Dann wurden in vielen Fällen die Präpartikeln fest. Im 15. Jahrhundert ist das Stadium erreicht, wo lokative Partikeln regulär dem Verb nachfolgen. Das bedeutete, dass ab dann produktive Neubildungen bei Verben (nicht bei Nomina) in aller Regel nur noch als ‘postparticle verbs’ erfolgen konnten. Auf den ersten Blick sieht es daher so aus, als hätte sprachgeschichtlich die Verbindung von Präposition und Verb im Deutschen und im Englischen jeweils zu zwei vergleichbaren Ergebnissen geführt: einer Worteinheit wie in über fließen und over flow auf der einen Seite und einer phrasalen oder syntagmatischen Einheit wie in überfließen und flow over auf der anderen Seite. Während aber bei genauerem Hinsehen in der Tat der Wortstatus von über fließen und over flow ähnlich und insgesamt unproblematisch ist, 5 wird im Folgenden zu zeigen sein, dass überfließen und flow over nicht in derselben Weise oder in demselben Grad phrasalen Charakter haben. Um auch hier durch die Terminologie keine Präjudizien zu machen, sprechen wir im Folgenden mit Blick z.B. auf come in/ out/ over oder flow over von intransitiven bzw. mit Blick auf take something in/ off von transitiven 5 Allerdings sind im Englischen Verb-Präposition-Verbindungen nicht nur wie die deutschen Entsprechungen unproduktiv, sondern ausgesprochen randständig. Es gibt anders als bei den deutschen nicht-trennbaren Präverbfügungen kein zentrales produktives Muster der Transitivierung. overflow z.B. wird sowohl intransitiv als auch transitiv gebraucht, vgl.: Will the water overflow if two hands are plunged into the bowl? ( OED ); [...] but bear in mind that we do not want to overflow the memory. ( BNC , CA2 ). Zwischen Wortbildung und Syntax 275 ‘Verb-Präposition-Fügungen’ (kurz: Verb-Präp [intrans]/ [trans])‚ und klammern den Aspekt der Idiomatizität auf der obersten Betrachtungsebene aus. Ihnen stehen die ‘Präposition-Verb-Verbindungen’ mit eindeutigem Wortstatus wie in overflow gegenüber. 6 Der Status der englischen Verb-Präposition-Fügungen steht im Zusammenhang mit einer hervorstechenden Eigenschaft ihres zweiten Bestandteils: Im Englischen gibt es eine starke Überlappung zwischen dem Bestand der lokalen und temporalen Präpositionen und dem Bestand der entsprechenden Adverbien. In Huddleston/ Pullum (2002, S. 613) findet sich eine Liste von ca. 40 Elementen, die gleichzeitig als Präposition vorkommen (also mit einer regierten NP) und als Adverb (ohne NP), darunter (von A bis W) aboard, about oder since, within, without. Es erscheint somit plausibel, hier nicht zwei homonyme Wörter anzusetzen (jeweils eine Präposition und ein Adverb), sondern von ‘fakultativ intransitiven Präpositionen’ zu sprechen, in Analogie zu fakultativ intransitiven bzw. valenzreduzierten Verben. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass es dieses Phänomen unabhängig von den Verb-Präposition-Fügungen gibt: Die temporalen intransitiven Präpositionen wie before, after, since haben grundsätzlich Adjunkt/ Modifikator/ Supplement-Charakter und bilden somit keine Verbkomplemente aus bzw. führen nicht zu Partikelverbbildung; vgl. (1) Have you ever come to Germany before the war/ since the war? (1a) Have you ever come to Germany before/ since? vgl. auch Prädikativkomplemente wie: (2) The owner is not in the house. (2a) The owner is not in. Eine Subklasse dieser intransitiven Präpositionen, ca. 20 nur lokale, verbindet sich mit Verben zu den uns interessierenden Verb-Präposition-Fügungen wie in flow over oder take in. Im Deutschen dagegen gibt es das Phänomen der intransitiven Präposition (abgesehen von Präverbfügungen) im zentralen Bereich der morphologisch einfachen Wörter nicht. (Komplexe fakultativ 6 In beiden Fällen sehen wir davon ab, dass der verbale Bestandteil der Fügung manchmal nicht (in entsprechender Bedeutung) als Simplex vorkommt, vgl. smarten up gegenüber *smarten (zu smart) bzw. overpower zu power Subst. Das Problem wird in Abschnitt 3.4.2 erörtert. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 276 intransitive Präpositionen sind: gegenüber, außerhalb, diesseits/ jenseits.) Intransitivem after, before, since entsprechen jeweils danach/ hernach, vorher/ zuvor, seither/ seitdem. Nur in Präverbfügungen kommen die zentralen Präpositionen ohne regierte NP vor. 7 Wir halten aber die Übertragung der für das Englische angemessenen Kategorisierung als intransitive Präpositionen auf diese Vorkommen nicht für angemessen. Im Deutschen kann eine Präposition nur unter Kohäsion mit einem (bestimmten) Verb ohne NP-Rektion vorkommen, im Englischen ist die Fakultativität tatsächlich im Prinzip verbunabhängig und somit eine genuine Eigenschaft dieser Präpositionen. Dies zeigt sich auch aus einer anderen Perspektive: Die englischen intransitiven Präpositionen decken syntaktisch und semantisch die Vereinigung der Vorkommen von Präverb und entsprechendem Adverb im Deutschen ab: (3) go out ausgehen, hinausgehen pour in eingießen, hineingießen flow over überfließen, darüberfließen 2.2 Verb-‘Partikeln’ im Ungarischen In deutschsprachigen Darstellungen des Ungarischen wird bis heute der Terminus ‘Verbalpräfix’ als Entsprechung der ungarischen Bezeichnung ‘igeköt ’ (wörtl. ‘Verbbinder’) tradiert (Forgács 2004; Keresztes 1999; Tompa 1968). Der Terminus ‘Präfix’ erscheint schon allein deshalb unangebracht und irreführend, weil die ungarischen Verbpartikeln generell abtrennbar sind. In englischsprachigen Abhandlungen finden bevorzugt die Termini ‘preverb’ (Piñón 1992) und ‘verbal particle’ (É. Kiss 2005) Verwendung. 8 Die Zugehörigkeit von Elementen zur Gruppe der Verbpartikeln ist umstritten, Grammatiken bieten keine abschließende Liste. Als einzige Quelle, der der Umfang dieser Kategorie zu entnehmen ist, können Rechtschreibwörterbücher dienen. Allerdings zeigen auch die neuesten Handbücher zur ungarischen Orthografie (Tóth 2003; Laczkó/ Mártonfi 2004) in dieser Hinsicht keine vollständige Übereinstimmung. Ihrer Herkunft nach bilden die als Verbpartikeln bezeichneten Elemente eine heterogene Gruppe: hierzu gehö- 7 Altmann/ Kemmerling (2000) halten am adverbialen Status der Elemente fest, obwohl sie einräumen müssen, dass dieser außerhalb von Präverbfügungen „nur in Restbeständen“, sprich in Paarformeln wie über und über voll Schmutz, um und um voll Rost (ebd., S. 83) bzw. auf und ab, ab und zu (ebd., S. 86) erhalten ist. 8 É. Kiss (2002, S. 55) belässt es beim Terminus ‘prefix’, beschreibt die fraglichen Elemente aber als „particle-like“. Zwischen Wortbildung und Syntax 277 ren direktionale Adverbien (ki ‘hinaus’, be ‘hinein’, vissza ‘zurück’), seltener lokative Adverbien (benn ‘drinnen’, ott ‘dort’), Postpositionen (alá ‘unter (+Akk)’, át ‘durch’, túl ‘über’), 9 Personalpronomen der 3. Person (bele, hozzá, neki, rá, rajta), kasussuffigierte Demonstrativpronomina/ Pronominaladverbien (abba ‘darein’), personalsuffigierte Postpositionen (utána ‘nach ihm’) sowie kasussuffigierte Nomina (végbe ‘Ende [Illativ]’, jóvá ‘gut [Translativ]’). Einzige Verbpartikel ohne Entsprechung in anderen grammatischen Kategorien ist meg-, welche synchron vor allem als Anzeiger eines perfektiven Aspekts fungiert. 10 Fügungen aus kasussuffigiertem Nomen und Verb (wie tönkre-megy ‘zugrunde gehen’, végbe-megy ‘sich vollziehen’) bilden den Kernbereich der strittigen Fälle; Forgács (2004, S. 254) z.B. bezeichnet „viel gebrauchte Adverbialbestimmungen, die sich präfixartig verhalten“ als „präfixartige Nomina“, in den neueren Wörterbüchern sowie bei Keszler (2001, S. 264) gilt der Großteil der bei Forgács genannten Fälle dagegen als Verbpartikel. In der ungarischen Grammatikschreibung werden die Verbpartikeln als eigenständige Wortart behandelt. Die traditionell gehaltene Grammatik von Keszler (2001, S. 68f.) ordnet sie den ‘Beziehungswörtern morphologischer Natur’ („morfológiai természet viszonyszók“) zu, deren Eigenschaften folgendermaßen definiert werden: sie können keine eigenständigen Satzglieder sein, sind nicht ergänzungsfähig und im Allgemeinen nicht suffigierbar. Dabei werden die Verbpartikeln aus gutem Grund als Übergangsgruppe dargestellt (ebd., S. 73), denn inwieweit die genannten Charakteristika überhaupt auf Verbpartikeln zutreffen, wird im Folgenden noch thematisiert werden. Die neuere ungarische Grammatikschreibung stellt sie in die Gruppe der (zusammen mit dem Verb komplexe Prädikate bildenden) Verbmodifikatoren (Komlósy 1992), der auch die oft als inkorporierte Elemente bezeichneten substantivischen Objekte und Adverbiale der Art újságot olvas ‘Zeitung lesen’, iskolába jár ‘zur Schule gehen’ sowie die prädikativen Komplemente (bolondnak tart ‘für dumm halten’) angehören. Wesentliche Charakteristika 9 Eine Grenzziehung zwischen Postpositionen und Adverbien ist in vielen Fällen nicht möglich. Die Gruppe der ungarischen Postpositionen umfasst zum einen Elemente, denen eine NP obligatorisch vorangestellt ist, somit die eigentlichen Postpositionen, zum anderen Elemente, die gleichermaßen als ‘transitive Adverbien’ zu klassifizieren sind. 10 Ihre Herkunft vom Adverb mögé ‘nach hinten’ ist noch aus Verben wie meg-ad ‘(zurück)geben’ ersichtlich. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 278 sind ihre Nicht-Modifizierbarkeit, ihre Nicht-Referenzialität und ihre leichte Lexikalisierbarkeit. Von den sonstigen Verbmodifikatoren unterschieden sich die Partikeln darin, dass sie kein Komplement des Verbs seien (Kiefer/ Ladányi 2000, S. 463). Das syntaktische Verhalten der Verbmodifikatoren kann wie folgt umrissen werden: im neutralen Satz nehmen sie die (Fokus-) Position direkt vor dem Verb ein; wenn ein anderes Element die Fokusposition einnimmt, rücken sie hinter das Verb; als Antwort auf Entscheidungsfragen kommen sie auch selbstständig vor. Kiefer/ Ladányi (ebd., S. 480f.) machen das Kriterium der Produktivität zum mitentscheidenden Faktor bei der Bestimmung der Kategorie ‘Verbpartikel’ und schreiben ihr folgende Eigenschaften zu: a) die Verbpartikel ist ein Verbmodifikator ohne Argumentcharakter, b) die Verbpartikel hat perfektivierende Funktion, c) die Verbpartikel ist produktiv. Daraus folgt zwangsläufig, dass einige Elemente zu Verbpartikeln deklariert werden, denen traditionelle Grammatiken diesen Status nicht zusprechen, und umgekehrt auch einige traditionell zu den Verbpartikeln gezählten Elemente dieser Definition nicht standhalten. Zur ersten Gruppe gehören die personalsuffigierten Partikeln (dazu Abschnitt 3.3), zur zweiten Elemente wie ellen ‘gegen’ (ellenáll ‘widerstehen’), ott ‘dort’ (ottfelejt ‘vergessen, liegen lassen’), végbe ‘zu Ende’ (végbemegy ‘sich vollziehen’), die sich nur einer beschränkten Anzahl von Verben anschließen; Fügungen mit diesen Elementen werden der Rubrik „Lexikalisierungen“ zugeordnet und von Kiefer/ Ladányi aus der Betrachtung ausgeschlossen. Nach Kiefer/ Ladányi (ebd., S. 453) sei die Partikelverbbildung unstrittig Teilbereich der Wortbildung, allerdings nur bei Vorliegen mindestens einer der folgenden Voraussetzungen: a) das Basisverb existiert nicht, b) die Rektionsrahmen von Basis- und Partikelverb weichen voneinander ab, c) die Bedeutung des Partikelverbs ändert sich gegenüber dem Basisverb. 11 Gemeinsamkeiten bestünden teils mit der Derivation, teils mit der Komposition, dennoch sei sie zu keinem der beiden Bereiche zu zählen, da das Ergebnis aufgrund seiner syntaktischen Besonderheiten weder als Derivat noch als Kompositum anzusehen ist. Die Partikelverbbildung wird somit als dritte Art der Wortbildung neben die Derivation und Komposition gestellt, die Parallelen zum Deutschen sind unverkennbar. 11 Wie in dieser Hinsicht mit Aktionsart- und Aspektbedeutung umzugehen ist, bleibt offen. Zwischen Wortbildung und Syntax 279 2.3 Verb-‘Partikeln’ im Deutschen Auf den Forschungsstand zu den deutschen Präverbfügungen soll hier vergleichsweise kürzer und im Wesentlichen mit Blick auf neuere Veröffentlichungen eingegangen werden. Traditionell werden sie, etwa wie bei Fleischer/ Barz (1995), unter der Bezeichnung ‘Verben mit abtrennbaren Verbpräfixen’ bzw. ‘trennbare Verben’ als komplexe Wörter behandelt, somit in der Wortbildung und dort als spezifische Form der derivationellen Präfigierung abgehandelt. In der neueren Forschung wird die Auffassung als Präfigierung überwiegend nicht geteilt. Was aber die weitere Klassifikation anbelangt, gehen die Einschätzungen weit auseinander. Auf der einen Seite stehen Ansätze, in denen Präverbfügungen (unterschiedlich weiter Extension: mit oder ohne Einschluss der Verbindungen mit Adverbien und nominalen Einheiten) als komplexe Wörter betrachtet werden, somit als Teil der deutschen Wortbildung, hier wiederum entweder als Komposita oder als eigenständiger Wortbildungstyp: ‘Partikelverben’ bei Altmann/ Kemmerling (2000) (gegenüber ‘Partikelpräfixverben’ wie überfließen), als ‘Inkorporation’ wie bei Eichinger (2000) oder als ‘Konstitution’ bei Weinrich (1993) und Thurmair (1997). Wesentliches Argument für die Einordnung als eigenständiger Wortbildungstyp ist die Trennbarkeit. Diese wird hier jedoch anders als bei den gleich zu behandelnden Ansätzen als sekundär gegenüber einer primären semantisch-lexikalischen Wortigkeit eingeschätzt. 12 Demgegenüber werden in Müller (2002), ähnlich auch in Lüdeling (2001), 13 „particle verbs“ als phrasale Konstrukte zur Bildung komplexer Prädikate betrachtet und „depiktiven“ sekundären Prädikationen (wie in Sie isst die Karotten roh.) bzw. resultativen sekundären Prädikationen (wie in Er streicht die Wand rot.) als anderen Formen komplexer Prädikate an die Seite gestellt. Im formalen Rahmen der „Head-driven Phrase-Structure Grammar“ (HPSG) analysiert Müller „transparente“ und „produktive“ Partikel-Verb-Kombinationen wie anlachen, anschreien, anstarren als Verbindungen aus verbalem Kopf (lachen) und lexikalischem Adjunkt (an-), wobei einerseits die Partikel als lexikalisch vom Verb eingeführtes Dependens zur Argumentstruktur des 12 Auch Eisenberg (2004, S. 245) behandelt die ‘Partikelverben’ implizit als speziellen Wortbildungstyp; allerdings verfährt er inkonsequent, insofern als er die Verbpartikeln als Teilklasse der Affixe einordnet und die Partikelverben innerhalb des Kapitels zu Affigierung und Konversion abhandelt, andererseits aber deren Kompositaeigenschaften (Akzent, Nähe zu Präposition, Modifikatorstatus) hervorhebt. 13 Auch Donalies (2005) betrachtet Präverbfügungen als syntaktische Gebilde. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 280 Verbs beitragen kann (hier im Sinne einer Transitivierung) und andererseits selbst als Modifikator für syntaktische und semantische Eigenschaften des verbalen Kopfs subkategorisiert ist. Insbesondere auf den Aspekt der Veränderung der Argumentbzw. Valenzstruktur werden wir zurückkommen (vgl. Abschnitt 3.4). Müller vertritt ein weites Konzept von ‘Partikelverb’ unter Einschluss adverbialer und nominaler „Partikeln“. Er versucht anhand von Korpusrecherchen zu zeigen, dass alle Subklassen gemeinsame syntaktische Eigenschaften aufweisen, insbesondere die „Frontierung“, also die Versetzbarkeit der Partikel in das Vorfeld, wie in Heraus sprang ein junger Offizier. (vgl. Müller 2002, S. 267). Dabei werden auch Belege für die Frontierbarkeit präpositionaler Präverbien angeführt wie Auf geht die Sonne im Osten, unter im Westen. (ebd., S. 276). Beschränkungen seien allein abhängig von mangelnder Transparenz bzw. Diskursbedingungen, nicht von der syntaktischen Subklasse des Präverbs (vgl. dagegen unten Abschnitt 4.2). Diese sehr weit gehende Uneinigkeit im Hinblick auf den Status von Präverbien und Präverbfügungen im Deutschen hat ihre Ursache nicht nur in unterschiedlichen theoretischen Annahmen, sondern vor allem in zum Teil konfligierenden Eigenschaften der Präverbien selbst. Wir sortieren sie in die beiden Bereiche ‘Wortigkeit’ und ‘Syntagmatizität’ und gehen die einschlägigen Eigenschaften wieder bei den drei Vergleichssprachen durch. 3. ‘Wortigkeit’ von ‘Partikelverben’ 3.1 Allgemeines Notwendiges Kriterium für das Vorliegen eines komplexen morphologischen Wortes ist, dass keine Verletzung der Wortstrukturregeln vorliegt. Diese Regeln beinhalten: a) Adjazenz der Teile; b) Keine Binnenflexion; c) Wortaufbau allgemein: Einhaltung der in einer Sprache gegebenen wortspezifischen Modifikator-Kopf-Abfolge bzw. Komplement-Kopf-Abfolge, der Akzentregeln für komplexe Wörter sowie der Restriktionen und Lizenzen für Konstituenten komplexer Wörter. Die beiden Punkte a) und b) sind klassische Kriterien der Wortigkeit. Sie werden in Wurzel (2000) explizit formuliert. Dabei hebt Wurzel hervor, dass bei einer Bestimmung dieser Kriterien die Abgrenzung gegenüber syntaktischen Einheiten, Phrasen, im Auge behalten werden muss. Zwischen Wortbildung und Syntax 281 Daher formuliert Wurzel (2000, S. 39) Kriterium a) letztlich so (wobei er dabei auf Bloomfield 1933 zurückgreift): Kriterium der Nichtunterbrechbarkeit: Echte morphologische Wörter haben die Eigenschaft, dass sie nicht durch lexikalisches Material unterbrechbar sind; typische Phrasen haben diese Eigenschaft nicht. Kriterium b) formuliert er so (ebd.): Kriterium der einheitlichen Flexion: Echte morphologische Wörter, die flektierbar sind, haben die Eigenschaft, dass sie über eine einheitliche Flexion verfügen; typische Phrasen haben diese Eigenschaft nicht. 14 Das komplexe Kriterium c) ist den anderen beiden Kriterien insofern nachgeordnet, als seine Teilkriterien sprachabhängig keine Differenzierung zwischen komplexem Wort und Syntagma erlauben mögen. Modifikator/ Komplement- Kopf-Abfolgen können sprachabhängig im Wort und im Syntagma gleich oder unterschiedlich sein. Auch die Akzentstruktur kann unter Umständen keine Differenzierung zwischen Wort und Syntagma erlauben. Bei Restriktionen für Konstituenten komplexer Wörter geht es darum, ob komplexe Wörter, insbesondere Derivate, wie komplexe Phrasen phrasale Konstituenten enthalten können oder nicht, während eine spezifische Lizenz für Konstituenten komplexer Wörter im Gegensatz zu den Konstituenten phrasaler Verbindungen darin bestehen könnte, dass auch Einheiten zugelassen sind, die nicht Elemente des Lexikons sind (wie die „Basen“ *heitern, *tüten in aufheitern, eintüten usw.). Auch Restriktionen und Lizenzen dieser Art scheinen sprachabhängig zu sein. Das Kriterium erweist sich jedoch in mehrerlei Hinsicht als nützlich: Zum einen im Hinblick auf das Englische, wo die Abfolge- und Akzentverhältnisse im Wort und in der Grundstruktur des Syntagmas verschieden sind (vgl. Abschnitt 3.4.2), zum anderen genereller, insofern als Abfolge und Akzentstruktur - vorausgesetzt wir nehmen Wortstatus an - eine Differenzierung zwischen Derivation auf der einen Seite und Komposition (oder dritten Formen) auf der anderen Seite erlauben können. Die Restriktionen und Lizenzen für Konstituenten komplexer Wörter schließlich erlauben vor allem im Hinblick auf das Deutsche eine Abgrenzung der präpositionalen trennbaren Präverbfügungen von anderen häufig als ‘Partikelverben’ eingeschätzten Einheiten. 14 Beispiel für Binnenflexion im Deutschen wären Substantivkomposita mit doppelter Flexion wie Langeweile oder die Pronomen der-jenige, der-selbe. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 282 Im Hinblick auf den verbalen Bereich lässt sich noch ein spezifischeres Kriterium konzipieren: d) Argumentstruktur von Verben: Komplexe Verben können eine andere Argumentstruktur (Valenz) haben als die enthaltenen Verben, phrasale Modifikatoren oder Komplemente ändern die Argumentstruktur des Verbs nicht (sie sättigen ggf. Valenzen). Wir behandeln nun zunächst nacheinander die beiden Kriterien a) und b), Adjazenz und Binnenflexion. Im Anschluss greifen wir die Kriterien c) und d) unter der Fragestellung Derivation oder Komposition oder ein Drittes auf. 3.2 Adjazenz der Teile in den drei Vergleichssprachen Die Tatsache, dass die Teile der in Frage stehenden Fügungen nicht in allen grammatischen Kontexten unmittelbar aufeinander folgen, dass es also nichtadjazente Instanzen gibt, ist ihr auffälligstes gemeinsames sprachübergreifendes Charakteristikum, das überhaupt den Anlass zu einem intensiveren Vergleich gibt. Im Englischen folgt bei intransitiven Verb-Präposition-Fügungen die intransitive Präposition in der Regel dem Verbteil unmittelbar nach (4). Dies gilt auch, wenn eine adverbiale Bestimmung (‘manner adverb’) hinzukommt wie in (5). Bei transitiven Verb-Präposition-Fügungen besteht im Rahmen topologisch unmarkierter Satzstrukturen die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer Trennung der beiden Teile durch das direkte Objekt: Hat das Objekt die Form einer Nominalphrase wie in (6), so kann die intransitive Präposition (in diesem Fall off ) adjazent zum finiten Verbteil stehen oder aber dem Objekt nachfolgen. Die Wahl zwischen den beiden Alternativen erfolgt nicht unter im engeren Sinn grammatischen Gesichtspunkten, sondern unter stilistisch-informationsstrukturellen wie der „Schwere“ des Objekt-Ausdrucks. Wir kommen darauf und auf weitere Stellungsmöglichkeiten bei markierten Hervorhebungsstrukturen in Abschnitt 4.2 noch zurück. Ist das Objekt jedoch ein schwaches Pronomen wie it, so muss die Partikel dem Objekt nachfolgen (7). In ditransitiven Strukturen wie (8) kann wiederum die Partikel adjazent zum Verb stehen, bei nominaler Belegung kann aber auch das indirekte Objekt zwischengeschoben werden oder sogar ggf. beide Objekte. Ist das indirekte Objekt ein schwaches Pronomen, muss die Partikel aber nachgestellt werden (9). Zwischen Wortbildung und Syntax 283 (4) He gave up. (5) He suddenly gave up. / *He gave suddenly up. / He gave up suddenly. (6) He took off the label / He took the label off. (7) He took it off / *He took off it. (8) He ran off his friend that copy. / He ran his friend off that copy. / He ran his friend that copy off. (9) He ran him off that copy / *He ran off him that copy. / He ran him that copy off. Wir können somit festhalten, dass im Englischen ‘syntaktische Trennbarkeit’ der Teile einer Verb-Präposition-Fügung - also Trennung durch ein oder mehrere Satzglieder - gegeben ist und die Trennung sogar obligatorisch sein kann. Im Ungarischen ist eine Adjazenz von Partikel und Verb nur unter bestimmten syntaktisch-topologischen Bedingungen gegeben. Direkt dem Verb vorangestellt wird die Partikel nur dann, wenn kein anderes Satzglied in der Fokusposition - im Ungarischen ist dies immer die Position direkt vor dem Verb - erscheint. (10) Gábor el-ment. ‘Gábor ging weg.’ (11) El-olvasom a könyvet. ‘Ich lese das Buch durch.’ Wird ein anderes Satzglied fokussiert, rückt dies in die Position direkt vor das Verb und „verdrängt“ die Partikel in die Position hinter das Verb (12). Generell fokussierenden Charakter haben u.a. die Negationspartikel nem ‘nicht’ (13) und Interrogativpronomina (14). (12) A turisták mentek el. ‘Die Touristen sind weggegangen.’ (13) Nem megyek el. ‘Ich gehe nicht (weg).’ (14) Ki ment el? ‘Wer ist (weg)gegangen? ’ Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 284 Darüber hinaus tritt eine Trennung von Partikel und Verb bei Verwendung von Hilfsverben (z.B. fog ‘werden’, kell ‘müssen’, szeret ‘lieben, mögen’, tud ‘können, wissen’) ein, 15 vgl. (15) gegenüber (15a): (15) Ki fogok menni. ‘Ich werde hinausgehen.’ (15a) *Fogok ki-menni. Die Nicht-Adjazenz von Partikel und Verb geht deutlich weiter als im Englischen oder Deutschen. Die Partikel kann auch im übergeordneten Satz stehen, während das Verb im abhängigen Nebensatz erscheint (Näheres dazu in Abschnitt 4.2). (16) Be szabad, hogy menjek? ‘Darf ich hineingehen? ’ Im Deutschen gibt es zwei Formen der Nicht-Adjazenz der Teile von Präverbfügungen, die so genannte ‘morphologische Trennbarkeit’, für die es keine Parallele im Englischen und Ungarischen gibt, und die syntaktische Trennbarkeit. Bei morphologischer Trennbarkeit werden das Partizipialaffix gebzw. die Infinitivpartikel zu zwischen Präverb und Verbform eingefügt: (17) Er hat das Etikett abgenommen. (18) […] um das Etikett abzunehmen Instanzen, bei denen unter syntaktisch-topologischen Bedingungen Nicht- Adjazenz eintritt, ergeben sich im Zusammenhang mit der topologischen Struktur des deutschen Satzes in Verberst- und Verbzweitsätzen, wo, sofern keine periphrastischen Verbformen vorliegen (wie etwa in 17), das finite Vollverb in Erst- oder Zweitposition (= linke Klammerposition) erscheint und das Präverb in der rechten Klammer. Für den Verbzweitsatz, den unmarkierten Aussagesatz, ergeben sich somit topologische Arrangements, die teilweise identisch sind mit entsprechenden englischen Instanzen (4-9). So kann wie in (19) „zufällige“ Adjazenz in umgekehrter Folge der Teile Verb - Präverb (vgl. englisch Verb - intransitive Präposition) entstehen; dies kann 15 Diese „Hilfsverben“ bilden keine homogene Gruppe, sie lassen sich z.B. nicht als Modalverben klassifizieren, einziges Kriterium zur Konstitution dieser Gruppe ist, ob sie die Abtrennung der Partikel ermöglichen oder nicht. Zwischen Wortbildung und Syntax 285 aber nur bei leerem Mittelfeld geschehen: Die Einfügung einer adverbialen Bestimmung (in unmarkierter Position) wie in (20) führt anders als im Englischen (vgl. 5) bereits zu Nicht-Adjazenz. (19) Er gab auf. (20) Er gab plötzlich auf. / *Er plötzlich gab auf. (21) Er nahm das Etikett ab / *Er abnahm das Etikett. / ? ? Er nahm ab das Etikett. (22) Er nahm es ab / *Er abnahm es. / *Er nahm ab es. (23) Er zog seinem Freund diese Kopie ab. / *Er zog seinem Freund ab diese Kopie. / *Er zog ab / abzog seinem Freund diese Kopie. Im Verbletztsatz jedoch müssen Präverb und Verbteil notwendig adjazent erscheinen und zwar in der kanonischen Reihenfolge, die auch die Infinitivform (Nennform) aufweist. (24) […] dass er das Etikett abnahm / *[…] dass er ab das Etikett nahm. Dieser rein phänomenorientierte erste Vergleich der Topologie der Teile der ‘Partikelverben’ in den drei Sprachen berücksichtigt nicht ausreichend, dass die unmarkierte topologische Satzstruktur verschieden ist: Während das Englische eine vergleichsweise rigide SVO-Abfolge ohne die für das Deutsche typische Klammerbildung aufweist, ist die Topologie des Ungarischen durch eine (Topik-)Fokus-Verb(-Rest)-Abfolge bestimmt. Demgegenüber liegen im Deutschen für Haupt- und abhängige Nebensätze unterschiedliche Serialisierungsprinzipien vor, nämlich eine mit SVO vergleichbare Verbzweit-Struktur (bzw. Verberst in Frage und Imperativsätzen) und eine mit SOV vergleichbare Verbletztstruktur, die im Allgemeinen als die topologische Grundstruktur betrachtet wird. In eben dieser topologischen Grundstruktur erscheinen im Deutschen, wie gezeigt, die Teile trennbarer Präverbfügungen notwendig syntaktisch adjazent und zwar in der kanonischen Reihenfolge Präverb (+ Partizipialaffix/ Infinitivpartikel) + Verbform. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten mit den Serialisierungen im Englischen und Ungarischen für bestimmte Instanzen von trennbaren Präverbfügungen, nämlich die in Verbletztsätzen, eine besonders enge Kohäsion vorliegt, die in den beiden anderen Vergleichssprachen so nicht gegeben ist. Wir kommen auf diesen Punkt in Abschnitt 4.2 wieder zurück. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 286 3.3 Binnenflexion Eine einheitliche Flexion, wie sie von Wurzel (2000, S. 39) für echte morphologische Wörter gefordert wird, ist bei den ‘Partikelverben’ des Englischen und Deutschen - zumindest im hier thematisierten Bereich der präpositionalen ‘Partikeln’ - trivialerweise gegeben, weil diese Elemente unflektierbar sind. Die Möglichkeit der ‘Binnenflexion’ ist nicht gegeben. 16 Eine Subklasse der ungarischen Partikelverben hingegen weist Binnenflexion auf. In Fällen, in denen die Verbpartikel formal einem Personalpronomen der 3. Person in einem Adverbialkasus oder einer Postposition entspricht (bele Illativ in beleszeret ‘sich in jn. verlieben’, hozzá Allativ in hozzászokik ‘sich an jn. gewöhnen’, neki Dativ in nekitámad ‘jn. angreifen’, rá Sublativ in rágondol ‘an jn. denken’, rajta Superessiv in rajtakap ‘jn. ertappen’, utána ‘nach ihm’ in utánajár ‘jm. nachgehen’) und das Verb über eine Ergänzung in diesem Adverbialkasus verfügt, erhält die Partikel bei einer pronominalen Ergänzung ein Personalsuffix. (25) A rendez bele-szeretett a színészn be. ‘Der Regisseur verliebte sich in die Schauspielerin.’ (26) A rendez belé-m szeretett. ‘Der Regisseur verliebte sich in mich.’ Der Status dieser flektierten Elemente als ‘Verbpartikeln’ wird traditionell als fraglich erachtet, orthografisch äußert sich dies in der Auseinanderschreibung (vgl. auch die Diskussion bei Elekfi 2001 und Kövendi 2000). So spricht ihnen Keszler (2001, S. 265) den Verbpartikelstatus ab und ordnet sie den Personalpronomen zu; Kiefer/ Ladányi (2000, S. 482) widersprechen dieser traditionellen Auffassung, denn das Verhalten dieser personalsuffigierten Verbpartikeln entspreche ganz dem der anderen Partikeln. Einer Interpretation als Personalpronomen steht vor allem die Tatsache entgegen, dass (um bei obigem Beispiel zu bleiben) das Simplexverb szeret ‘lieben’ keine Illativergänzung bei sich haben kann: (27) *A rendez szeretett a színészn be. 16 Bei den ‘Partikelverben’ mit nominalem erstem Bestandteil ist die fehlende Binnenflexion sehr wohl ein relevantes Kriterium. Bei Rad fahren, teilnehmen usw. erscheint das Nomen notwendigerweise in der unflektierten Grundform. Zwischen Wortbildung und Syntax 287 3.4 Wortaufbau: Derivation, Komposition oder ein Drittes 3.4.1 Allgemeines Wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, ist - für die adjazenten Instanzen der Partikelverben - zu überprüfen, ob sie den jeweils einschlägigen Restriktionen für den Aufbau eines komplexen Wortes genügen. Dies kann folgende Einzelbedingungen betreffen: c1) Einhaltung der Abfolgerestriktionen im komplexen Wort, c2) Einhaltung der Akzentregeln für komplexe Wörter, c3) Einhaltung der Restriktionen und Lizenzen für Konstituenten komplexer Wörter, d) Veränderung der Argumentstruktur des enthaltenen Verbs. 3.4.2 Englisch Bei den englischen Verb-Präposition-Fügungen sind die Abfolgerestriktionen für komplexe Wörter (Kriterium c1) nicht erfüllt: Im Kompositum liegt allgemein eine Struktur wie im Deutschen vor: Modifikator/ Komplement vor Kopf. Wenn wir davon ausgehen, dass die intransitive Präposition bzw. die ‘Partikel’ hier Modifikator-Status hat (zu einer Diskussion anhand des Deutschen vgl. Abschnitt 3.4.4), so ist die Reihenfolge umgekehrt: verbaler Kopf vor präpositionalem Modifikator. Allerdings gibt es im Englischen markiert und unproduktiv so genannte ‘verb-centred nouns’, bei denen wie im Syntagma der verbale Kopf links steht und das nominale Komplement rechts: pickpocket (‘person who picks pockets’), ähnlich aber noch produktiv auch N =Verb+Präp: break through, drop-out, phone-in, sit-in, take-off Dazu gibt es fast immer parallele Verb-Präposition-Fügungen. Während die Nomina in der englischen Grammatikografie als Komposita gelten, werden die entsprechenden Verben (zumindest wenn keine Idiomatisierung vorliegt) als syntagmatische Konstruktionen eingeordnet. Diese unterschiedliche Bewertung hängt mit der unterschiedlichen Akzentstruktur zusammen (vgl. Kriterium c2). Bei den Verb-Präposition-Fügungen ist die Präposition bzw. ‘Partikel’ betont, bei den entsprechenden Nomina ist das Verb betont. to phone in versus a phone-in Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 288 Im Gegensatz zu den Verb-Präposition-Fügungen tragen Präposition-Verb- Fügungen den Akzent auf dem zweiten verbalen (bzw. verbalisierten) Bestandteil: over flow, under sell, under lie, over charge, out grow, auch: over power (zu power Subst.). Auch hier gibt es häufig nominale Entsprechungen, die wiederum den Akzent im ersten Bestandteil (Präposition oder Affix wie trans-) tragen. Dieselbe Opposition kann auch bei „pseudokomplexen“ Wörtern wie torment bestehen. under estimate V versus under estimate N over fill V versus overfill N up date V versus update N trans fer V versus transfer N tor ment V versus torment N Es zeigt sich somit, dass im Englischen das Akzentmuster komplexer Wörter primär kategorial determiniert ist, und zwar von der Kategorie des Wortbildungsprodukts: Komplexe Verben sind regelhaft in ihrem verbalen/ verbalisierten zweiten Bestandteil betont, komplexe Nomina in ihrem ersten. Die Frage, ob das komplexe Verb als Präfixbildung (Derivat) oder als Kompositum einzuschätzen ist, spielt dagegen keine Rolle. Die eindeutigen (in der Regel unproduktiven) Verbpräfixe be-, en-/ em-/ in- oder de-, dis-, unsind im Verb ebenso wenig Akzentträger wie die intransitiven Präpositionen. Die Einstufung der Präposition-Verb-Verbindungen erfolgt daher unabhängig von Betonungsfragen: Sie werden bei Quirk et al. (1985) als Derivate eingestuft (‘affixation’), bei Huddleston/ Pullum (2002, S. 1661) aber wie bei Marchand (1969, S. 96) als Komposita. Was Restriktionen hinsichtlich der Konstituentenstruktur komplexer Wörter angeht (Kriterium c3), so gehen wir von der Grundannahme aus, dass sprachübergreifend für unsere drei Vergleichssprachen komplexe Wörter als Konstituenten von Derivaten generell möglich sein müssten, Phrasen jedoch eher problematisch sind. Daher ist in einem ersten Schritt zu fragen, ob im Englischen Verb-Präposition-Fügungen als Konstituenten in Derivate eingehen. Sollte dies nicht oder nur hochmarkiert der Fall sein, so spricht dies gegen den Wortstatus der Fügungen. Nun erfolgt produktive Nominalisierung mithilfe des Suffixes -ing im Falle von Verb-Präposition-Fügungen durch Suffigierung des Verbteils wie in the going out, his giving in, die intransitive Präposition bleibt außerhalb des Derivats, in einigen Fällen erfolgt hier Lexikalisierung, die durch Bindestrichschreibung markiert wird wie in dressing-down, going- Zwischen Wortbildung und Syntax 289 over, washing-up. Auch -er-Ableitungen wie hanger-on, passer-by, diner-out tragen das Ableitungssuffix notwendig am verbalen Teil, dort wird auch das Pluralaffix angefügt: hangers-on, runners-up. Die Konversion vom Verb zum Nomen, die bei einfachen Verben im Englischen hochproduktiv ist, führt, wie oben gezeigt, zu den markierten Komposita des Typs (a) break through. Ob hier davon die Rede sein kann, dass diese die Verb-Präposition-Fügung als Konstituente enthalten, sei dahingestellt. Derivationen durch Suffixe, die auf die Gesamtstruktur bezogen sind und somit am rechten Rand, also an der Präposition anzufügen wären, sind ausgeschlossen, während sie bei Präposition-Verb-Verbindungen möglich sind: *[break down]able / *breakable down versus breakable [upgrad]able In anderen Fällen, genauer wenn ein „rechtsköpfiges“ Syntagma vorliegt wie blue eye(s) oder hard heart, sind durchaus Phrasen-Ableitungen (ähnlich wie die deutschen „Zusammenbildungen“) möglich: blue-eyed, hard-hearted. Es zeigt sich also, dass Verb-Präposition-Fügungen nicht insgesamt Konstituenten von Derivaten sein können, was gegen ihre Wortigkeit spricht. Andererseits sind bei Verb-Präposition-Fügungen in einigen Fällen anscheinend doch wortstrukturtypische Lizenzen zu vermerken. So gibt es Fügungen, deren Verbteil nicht als eigenständiger Lexikoneintrag existiert, so dass Verbalisierung eines zugrunde liegenden Nomens wie in to beaver away ‘schuften’ (zu beaver ‘Biber’), to gussy up ‘aufbrezeln’ (gussie ‘effeminate man’) 17 anzunehmen ist. In einigen Fällen ist auch eine nominale Basis nicht (mehr in dieser Form) existent wie in egg (someone) on ‘jn. anstacheln’ zu edge ‘Schneide (eines Messers usw.), Schärfe’. Hier muss aber bedacht werden, dass im Englischen die Konversion von Substantiven zu Verben hochproduktiv ist und gerade Verbalisierungen von Tierbezeichnungen jederzeit im Sinne eines Okkasionalismus (‘sich bewegen/ verhalten wie das Tier X’) gebildet werden können. So mag dann zwar die Verbindung mit einer intransitiven Präposition üblicher und in Wörterbüchern gebucht sein, die verbale Basis existiert in gewissem Sinne aber doch. 17 Laut OED handelt es sich um ein Verb im „Australian slang“, das zu dem wohl als Diminutiv zu dem Namen Augustus gebildeten Substantiv gussie gehöre. Offenbar sind gerade im kreativen umgangssprachlichen Jargon Verbalisierungen nominaler Basen in Verb- Präp-Fügungen ohne weiteres möglich. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 290 Was letztlich das Verhältnis zwischen der Valenz bzw. der Argumentstruktur der Verb-Präposition-Fügung und dem (in der Regel) enthaltenen Verb angeht (vgl. Kriterium d), so ist zunächst eine Parallele zum Deutschen festzustellen: In den nicht-idiomatischen, lokativen Fällen wird durch die intransitive Präposition die Valenzstelle für das Ziel oder die Quelle der Bewegung belegt, die ggf. auch durch eine Präpositionalphrase belegt werden könnte, nach folgendem Muster: (28) The water flows over the floor. - The water flows over. Weitere intransitive Fügungen: go out, run over, flow over, come in, go under; weitere transitive Fügungen: take something off, take something in, pour out (water, tea). Hier wird allenfalls eine Argumentstelle in die intransitive Präposition inkorporiert, die Valenzstruktur wird aber nicht eigentlich verändert. Daneben gibt es aber auch Valenzänderungen. So kann Transitivierung erfolgen, etwa produktiv bei shout someone down, cry one's eyes out, laugh one's head off, sob one's heart out. Solche Transitivierungsmuster wirken nun aber auch im Deutschen entweder auf der syntaktischen Ebene oder auf der Ebene des präpositionalen Präverbs: Auch bei jemanden nieder-brüllen, jemanden an die Wand reden, jemanden unter den Tisch trinken, sich die Schuhe kaputt laufen, sich die Augen rot weinen einerseits, sich die Schuhe ab-laufen, sich die Augen ausweinen andererseits ermöglicht erst das ‘resultative Adverbiale/ Präverb’ die Anbindung eines Argumentterms (Y) überhaupt oder die Anbindung von Y in einer spezifischen semantischen Rolle, die beim Basisverb nicht vorgesehen ist. Verbbedeutung (V) und Adverbial-/ Präverbbedeutung (Adv) werden in folgender Weise komponiert: ‘durch V verursachen, dass Y sich in dem von Adv bezeichneten Zustand bzw. an dem Adv bezeichneten Ort befindet’. Argumentrestrukturierung, etwa durch Zentralisierung peripherer (adverbialer) Komplemente und Dezentralisierung zentraler Komplemente wird im Englischen nicht durch Partikelverben geleistet, sondern durch Alternation bei ein und demselben Verb; man denke an den spray/ load-Typ. (29) He sprayed colour onto the wall - He sprayed the wall with colour. (30) He loaded wood on the truck. - He loaded the truck with wood. Zwischen Wortbildung und Syntax 291 Die argumentstrukturellen Verhältnisse liefern somit wie die Möglichkeit der Derivation allenfalls schwache Evidenz für die Wortigkeit der englischen Verb-Präposition-Fügungen. 3.4.3 Ungarisch Was Kriterium (c1), die Einhaltung der Abfolgeregeln im komplexen Wort angeht, so ist zumindest im Falle der (adjazenten) Voranstellung der Partikel auch die für Komposita typische Modifikator-Kopf-Abfolge gegeben. Mitunter werden daher die ungarischen Partikelverbfügungen als Zusammensetzungen bezeichnet (so definiert Tompa 1968, S. 72 „das Verbalpräfix“ als „erstes Glied eines zusammengesetzten Wortes“). Andere Kriterien, durch welche Komposita im Ungarischen bestimmt sind, 18 sind dagegen nicht erfüllt. Neben der Modifikator-Kopf-Abfolge ist es allein das phonologische Verhalten der Partikelverben, d.h. die Akzentverhältnisse (vgl. Kriterium c2) und die fehlende Vokalharmonie, 19 welches eine Analyse als Kompositum stützen würde. Komposita tragen nur einen Hauptakzent, und zwar immer auf der ersten Silbe, das Grundwort bleibt somit ohne Hauptbetonung. Im Falle von Partikelverben und sonstigen Verbindungen aus Verbmodifikator und Verb (darunter die so genannten Inkorporierungen) trägt ebenfalls nur der Modifikator die Betonung: át-olvas ‘durchlesen’, könyvet olvas ‘ein Buch lesen’. Bei freien Syntagmen dagegen bildet jedes morphologische auch ein phonologisches Wort. Die Kriterien Modifikator/ Komplement-Kopf- Abfolge und Akzentstruktur bieten somit keine hinreichende Differenzierungsmöglichkeit zwischen komplexem Wort und Syntagma. 18 Nach Kiefer (2000, S. 519) sind dies die folgenden: a) ein Kompositum verhält sich aus syntaktischer Sicht als Einheit, d.h., die innere Struktur wird von syntaktischen Regeln nicht verändert, b) zwischen die Kompositionsglieder ist kein weiteres Wort einfügbar, c) die Glieder sind nicht einzeln modifizierbar (ähnlich Kenesei 2000, S. 82). 19 Dass Verbpartikeln keine durch Vokalharmonie bedingten Varianten (wie sie Derivations- und Flexionssuffixe i.d.R. haben) aufweisen, wäre u.U. als weiteres Argument gegen einen Affixstatus der Verbpartikeln anzuführen (so bei Kolehmainen 2006, S. 119 bei der Besprechung der finnischen Präfixverben). Diese Argumentation erscheint problematisch, da Vokalharmonie in Suffixsprachen wie den finnisch-ugrischen oder Turksprachen immer progressiv ausgehend vom Wortstamm wirkt. (Die wenigen) Präfixe können somit prinzipiell nicht von der Vokalharmonie erfasst werden, vgl. das ung. Superlativzeichen leg- oder das finn. Negationspräfix epä-, die jeweils nur über eine vordervokalische Variante verfügen. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 292 Im Hinblick auf Restriktionen bezüglich der Konstituentenstruktur komplexer Wörter (Kriterium c3) stützt die Möglichkeit weiterer Ableitungen zunächst die Analyse der Partikelverbfügungen als komplexe Wörter. Ungarische Partikelverben können ebenso wie ihre deutschen Äquivalente Ausgangspunkt für deverbale Ableitungen sein, so mittels der produktiven Nominalisierungssuffixe -Ás (für Nomina actionis und z.T. Nomina acti), -Ó (für Nomina agentis) sowie -hAtÓ und -hAtAtlAn als Entsprechungen der deutschen -bar-Ableitungen und deren Negierung: aláír ‘unterschreiben’ aláírás ‘Unterschrift’ aláíró ‘Unterschreibender’ aláírható ‘unterschreibbar, kann unterschrieben werden’ aláírhatatlan ‘nicht unterschreibbar’ Eine Analyse der Partikelverbfügungen als Syntagmen würde aufgrund ihrer Rechtsköpfigkeit der weiteren Ableitbarkeit nicht entgegenstehen. Derivationsprodukte mit einer Phrase als Basis werden auch für das Ungarische, den deutschen „Zusammenbildungen“ vergleichbar, angenommen, so die so genannten possessiven Adjektive auf -Ú (vgl. Kenesei 1997, S. 109), welche Ableitungen von Substantiven mit einem attributiven Adjektiv oder Numerale darstellen, vgl. nagy hatalmú ‘von großer Macht’, kétkarú ‘zweiarmig’. Eine Verbindung der Nominalisierungen mit der Negationspartikel nem führt allerdings im Regelfall zur Abtrennung der Partikel, was in diesem Fall den Status als Syntagma nahelegt: beavatkozás ‘Einmischung’ be nem avatkozás ‘Nichteinmischung’ Zuweilen sind je nach zu fokussierendem Element (Negations- oder Verbpartikel) beide Varianten möglich: át nem látszó nem átlátszó ‘nicht durchsichtig’ Im Falle einer Idiomatisierung ist eine Trennung durch die Negationspartikel dagegen ausgeschlossen - Anzeichen dafür, dass sich nicht-kompositionale Partikelverben weniger frei verhalten. Die Nicht-Existenz einer selbstständigen verbalen Basis würde wiederum als spezifische Lizenz für komplexe Wörter, also die Wortigkeit der Partikelverben sprechen. In der Tat existieren im Ungarischen Partikelverben, deren „Basen“ nicht eigenständig vorkommen. Anders als in dt. aufheitern, eintüten ist die Zwischen Wortbildung und Syntax 293 Verbpartikel hier allerdings nie das alleinige Verbierungsmittel. Bei allen betreffenden Verben, worunter sowohl Deadjektiva 20 als auch Desubstantiva sind, erscheint auch ein verbales Derivationssuffix, z.B. das Suffix -Ul in megsüketül ‘taub werden’ (von süket ‘taub’). Es liegt also eine Struktur vor, die mit der Kombination von Präverb und Suffix in dt. aushändigen, anbandeln vergleichbar ist. Ein Kopfstatus der Partikel allein aufgrund der Nicht-Existenz der verbalen Basis als eigenständiges Verb kann somit nicht angenommen werden. Die Tatsache, dass Partikelverben eigene, vom Simplexverb abweichende Argumentstrukturen ausbilden (vgl. Kriterium d), macht es dennoch plausibel, zumindest in diesen Fällen von einem Kopfcharakter der Partikel zu sprechen. Zu den im Ungarischen beobachtbaren Valenzänderungen existieren zum Großteil Parallelen im Deutschen. Die transitivierende Funktion der Partikeln ist hierbei an erster Stelle zu nennen. Keine Valenzänderungen treten ein bei Partikeln, die als reine Aspektbzw. Aktionsartmodifizierer fungieren, so ist die Partikel megin vielen Fällen allein Ausdruck der Perfektivität (megszépül - szépül ‘schöner werden’). Ebenfalls unverändert bleibt die Argumentstruktur bei rein lokalen Ausdrücken (megy a kertbe - kimegy a kertbe ‘in den Garten (hinaus)gehen’). ‘Argumentabsorptionen’ sind ebenso wie im Deutschen zu beobachten; die Partikel sättigt dann die Leerstelle für ein direktionales Argument: (31) Fel-teszi a kalapját (a fejére). ‘Er setzt den Hut auf (auf den Kopf).’ Veränderungen der Argumentstruktur äußern sich zum einen in der Transitivierung intransitiver Verben (33 vs. 32), zum anderen in der Zentralisierung peripherer Argumente (35 vs. 34), hier der Überführung eines Dativkomplements in die Rolle des direkten Objekt und der Ausdruck des direkten Objekts des Basisverbs mittels eines Adverbialkasus. (32) János (fel-)mászott a hegyre. ‘János stieg auf den Berg.’ (33) János meg-mászta a hegyet. ‘János bestieg den Berg.’ 20 Das Nicht-Vorkommen einiger deadjektivischer Simplexverben ist offensichtlich von der Semantik des Basisadjektivs abhängig: Adjektive wie süket ‘taub’ bezeichnen absolute Eigenschaften, es existieren keine Zwischenstufen, auf die partikellose Verben wie *süketül verweisen würden, dagegen ist ein Deadjektivum wie szépül ‘schöner werden’ (von szép ‘schön’) eine korrekte Bildung (so Kiefer/ Ladányi 2000, S. 454). Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 294 (34) Mit ajándékozott a feleségének? ‘Was hat er seiner Frau geschenkt? ’ (35) Mivel ajándékozott meg minket? ‘Womit hat er uns beschenkt? ’ Ausgangspunkt für eine Transitivierung kann, wie im Deutschen, auch eine Konstruktion mit einer adverbialen Ergänzung sein. Das adverbiale Komplement geht über in ein Akkusativkomplement, die Postposition wird als Partikel inkorporiert. Eine Erweiterung der Argumentstellen tritt nicht ein. (36) A Föld a Nap körül kering. ‘Die Erde kreist um die Sonne.’ (37) A Föld körül-keringi a Napot. ‘Die Erde umkreist die Sonne.’ Festzuhalten bleibt, dass ungarische Partikelverben im Gegensatz zu ihren englischen Gegenstücken eine große Bandbreite an Argumentrestrukturierungen erlauben, was in diesem Punkt für Wortcharakter spricht. 3.4.4 Deutsch Fragen wir zunächst nach der Einhaltung der Abfolgerestriktionen und der Akzentregeln (Kriterien c1 und c2) im komplexen Wort, so sind im Deutschen sowohl bei Präverb[ trb]Fügungen als auch bei Präverb[+trb]Fügungen (hier nur bezüglich der adjazenten Instanzen) diese Restriktionen erfüllt, nota bene aber mit unterschiedlichem Ergebnis: Präverb[ trb]Fügungen wie über gehen folgen im Allgemeinen 21 dem Wortaufbau und der Akzentstruktur von Präfixverben wie be gehen, ver gehen usw. Das einzig „Störende“ ist, dass die Präverben eben keine „geborenen“ Affixe sind, sondern potenziell selbstständige Wörter - Präpositionen - die von daher für Komposition, nicht für Derivation prädestiniert sind. Bei den adjazenten Instanzen von Präverb[+trb]Fügungen wie übergehen sind Wort- und Akzentstruktur von Komposita im Allgemeinen erfüllt, sofern man voraussetzt, dass der Verbteil hier der Kopf des Kompositums ist, und das Präverb der Modifikator bzw. das Komplement. Wie in einem klassischen Substantivkompositum, etwa Hutschachtel oder Zeitungsleser, erscheint der Kopf rechts-peripher, Modifikator/ Komplement links. Allerdings erscheinen auch in einer syntaktischen Fügung (im Verbletztsatz mit nicht-periphrastischer Verbform) adver- 21 Vgl. die in Anmerkung 3 erwähnten abweichenden Akzentstrukturen z.B. bei überbewerten. Zwischen Wortbildung und Syntax 295 biale Satzglieder (Adverbialkomplement, adverbiales Adjunkt) unmittelbar vor dem Verb wie in […] dass er dort/ oben wohnt/ hierher kommt. Die Akzentstruktur ist ebenfalls mit Kompositumstatus vereinbar, allerdings auch mit dem einer syntaktischen Fügung, weil der Akzent hier auf die Phrase links vom Verb projiziert wird (wie bei Präpositivkomplement, Adverbialkomplement, adverbialem Adjunkt). Es bieten sich somit Lösungen an, nach denen die Präverb[ trb]Fügungen als Derivate betrachtet werden müssen, die Präverb[+trb]Fügungen als Komposita oder aber als syntagmatische Fügungen betrachtet werden können. Was nun die Kriterien (c3) bzw. (d) angeht, so spricht bei Präverb[+trb]Fügungen mit präpositionalem Präverb, wie jetzt zu zeigen ist, mehr für den Status eines komplexen Wortes als für den einer syntagmatischen Fügung: So wird in den Arbeiten etwa von Stiebels (1996), Stiebels/ Wunderlich (1994) die Fähigkeit der Partikelverben, als Basen in der Wortbildung zu fungieren, als Argument für die Annahme einer morphologischen (nicht syntagmatischen) Struktur der Partikelverben angeführt. Wie etwa die produktiven -ung, -er und -bar-Ableitungen (Aufführung, Aufführer, aufführbar) zeigen, vor allem aber die Möglichkeit, ein -bar-Adjektiv weiter durch Präfixe oder Suffixe zu derivieren (Aufführbarkeit, unaufführbar, Unaufführbarkeit), können präpositionale Präverbfügungen völlig unproblematisch Konstituenten komplexerer Wörter werden. Dies trifft auf andere so genannte ‘Partikelverben’ nicht (in diesem Umfang) zu: Zwar können gegebenenfalls auch Präverbfügungen mit adverbialem oder nominalem Präverb suffixal oder durch implizite Derivation deriviert werden oder einer syntaktischen Konversion unterliegen wie in: die Hereinnahme, die Krankschreibung, die Freistellung, das Radfahren; -bar-Ableitungen sind nahezu, Derivationen von diesen sind gänzlich ausgeschlossen: ? ? hereinnehmbar, *unhereinnehmbar, *Unhereinnehmbarkeit freistellbar, *unfreistellbar, *Unfreistellbarkeit einnehmbar, uneinnehmbar, Uneinnehmbarkeit Auch die Lizenz, direkt aus nominalen Basen abzuleiten, ohne dass ein entsprechendes einfaches Verb existierte, nehmen trennbare präpositionale Präverbfügungen wahr und sind in dieser Hinsicht mit den „echten“ Präfixverben und den nicht-trennbaren Präverbfügungen vergleichbar: aufheitern, aufrauen; anleinen, eintüten, ausbürgern (trennbar) wie erblinden, verblassen; bestuhlen, vergolden bzw. durchnässen; überdachen, übervorteilen (nicht-trennbar). Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 296 In dieser Hinsicht verhalten sich nicht-präpositionale Präverbfügungen ebenfalls anders: Die Verbalisierung nominaler Basen etwa durch ein adverbiales Präverb ist nicht belegt, vgl. etwa *etwas hineintüten, *jemanden aus Deutschland herausbürgern. Die Existenz von direkt denominalen Bildungen wie aufklaren, aufheitern, einbürgern usw. wirft die Frage, ob bei Präverb[+trb]Fügungen - Wortstatus vorausgesetzt - ein Kompositum oder ein Derivat vorliege, nochmals von einer anderen Seite her auf. In allen neueren Wortbildungsansätzen wird davon ausgegangen, dass die Wortart des komplexen Wortes von der Kopf-Konstituente festgelegt wird. Da in aufklar(en), einbürger(n) ebenso wie in verarm(en), vergold(en) die rechtsstehende nominale Basis kategorial verschieden ist von dem verbalen Wortbildungsprodukt, wird angenommen, dass auf-, einhier ebenso wie die echten Präfixe in vergleichbaren Bildungen die Kopf-Konstituente sei. Daraus wieder würde folgen, dass es sich hier um eine Art Präfix-Derivation handeln müsste, da nur so genannte Kopf-Affixe die Fähigkeit besitzen, unabhängig von ihrem eigenen kategorialen Status den Status des komplexen Wortes festzulegen. Lexikalische Köpfe hingegen (vgl. oben Schachtel in Hutschachtel) „vererben“ ihre kategorialen Eigenschaften an das Wortbildungsprodukt. 22 Allerdings kann man nun so argumentieren, dass ein solches Verhalten als Kopf-Konstituente bei den präpositionalen Präverbfügungen nur eine Randerscheinung sei. Im zentralen, reihenbildenden Bereich stünden Fügungen mit verbaler Basis, bei denen auch im Hinblick auf argumentstrukturelle Eigenschaften die Präverbien als Modifikatoren, nicht als Köpfe zu gelten hätten. Es geht dabei um die Fälle der ‘Argumentabsorption’ bzw. der ‘Argumentinkorporierung’ bei Präverben, die lokativ interpretiert werden wie bei den intransitiven aufsteigen, aussteigen, einfließen, ausfließen, überfließen, überstehen oder bei den transitiven durchstecken, überziehen usw. Das von der Präposition der verbalen Basis geforderte Komplement/ Argument entfällt syntaktisch in der Präverbfügung dadurch, dass die Präposition rektionslos bzw. intransitiv wird; semantisch wird es als eine indefinite, ggf. aus dem Kontext zu erschließende Entität verrechnet. 22 Man beachte, dass die Annahme, be-, ent-, er-, ver- und zerkönnten Kopfstatus haben, vor allem in generativen Ansätzen (vgl. Olsen 1986) wiederum zu Komplikationen führt. Köpfe müssen den dortigen Annahmen zufolge im Deutschen rechts erscheinen, nicht wie in diesen Fällen links. Deshalb wurde angenommen, es erfolge zunächst eine nicht-overte Verbalisierung des nominalen Kopfes und dann erst appliziere das Präfix auf der bereits verbalen Basis. Zwischen Wortbildung und Syntax 297 (38) Das Brett steht über die Kante. - Das Brett steht über. (39) Er zieht das Laken über das Bett. - Er zieht das Laken über. Transitivierungen und Argumentrestrukturierungen, also echte Valenzveränderungen, bei denen wiederum das Präverb als Kopf gelten müsste, sind im Deutschen dort, wo ein Kontrast zu trennbaren Fügungen besteht, die Domäne der nicht-trennbaren Fügungen wie bei über fließen, unter spülen, um gehen (Transitivierung) oder über ziehen, um stellen (Argumentrestrukturierung), vgl. (40) Er zieht das Laken über das Bett. - Er überzieht das Bett mit dem Laken. Allerdings sind ebenso bei den Präverb[+trb]Fügungen auch Transitivierungen (anlächeln, anschreien, auslachen) und Argumentrestrukturierungen (ausgießen, abladen) möglich: (41) Sie gießt Wasser aus der Kanne. - Sie gießt Wasser aus. (Absorption) - Sie gießt die Kanne aus. (Restrukturierung). Als Unterschied zu den nicht-präpositionalen Präverbfügungen sei festgehalten, dass hier nur die vom Englischen her schon bekannten syntaktisch lizensierten Transitivierungen (vgl. Abschnitt 3.4.2) möglich sind, etwa sich in etwas hineinreden, hineinargumentieren, sich aus etwas herauslächeln, aber keine Restrukturierungen (Wasser aus der Kanne herausgießen - *die Kanne herausgießen). Wir halten also fest, dass die präpositionalen Präverb[+trb]Fügungen Änderungen der Argumentstruktur gegenüber der Basis aufweisen können. Diese nun mehrfach betonten Unterschiede präpositionaler Präverbfügungen gegenüber solchen mit adverbialem (oder auch nominalem) Präverb können auch ein Licht auf eine bisher ganz vernachlässigte Frage werfen: Wäre es angesichts der offenkundigen Gemeinsamkeiten in der Akzentstruktur und der semantischen Funktion zwischen Präverbfügungen und syntagmatischen Verbindungen vom Typ verbnahes adverbiales Satzglied + Verb nicht angemessener, statt von Komposition von Zusammenrückung oder auch ‘Inkorporation’ zu sprechen, etwa gemäß folgenden strukturellen Übergängen: (42) Er ist [in den Wald hinein] gelaufen. Er ist [in den Wald] hineingelaufen. (43) Er ist [durch den Wald durch] gelaufen Er ist [durch den Wald] durchgelaufen. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 298 Dazu ist zunächst zweierlei festzuhalten: Der Begriff der ‘Zusammenrückung’ ist entweder ein diachroner Begriff, wenn er das Entstehen eines komplexen Wortes aus einer syntagmatischen Verbindung meint, oder es wird damit auf den Vergleich mit einer synchron noch existenten syntagmatischen Verbindung abgehoben, die sich von dem komplexen Wort allenfalls prosodisch unterscheidet. Beide Weisen, den Begriff zu verstehen, schließen nicht aus, dass das komplexe Wort seiner Konstituentenstruktur nach - also abgesehen von der Entstehungsgeschichte oder dem Vergleich mit syntagmatischen Einheiten - ein Kompositum ist. Selbst wenn wir nun also annähmen, Präverbfügungen seien auf Zusammenrückung beruhende Komposita, so bietet das möglicherweise für die adverbialen und nominalen Fügungen eine adäquate Erklärungsbasis, nicht aber - zumindest in dem angedeuteten synchronen Verständnis - für die präpositionalen Präverbfügungen: Im heutigen Standarddeutschen kommen Präpositionen, da sie im Allgemeinen weder postponierbar noch adverbial zu gebrauchen sind, nur in den seltensten Fällen (siehe Beispiele mit durch wie (42)) direkt adjazent zum Verb zu stehen. Somit sind wir wieder auf einen der merklichen Kontraste zwischen präpositionalen und adverbialen Präverbfügungen gestoßen, die insgesamt folgendes Bild nahelegen: Adverbiale Präverbfügungen können der Akzentstruktur und ihrer semantischen Funktion nach syntagmatische Fügungen bzw. Zusammenrückungen oder Komposita sein, sie sind nur beschränkt weiter ableitbar (keine un-…-bar-Ableitungen), es existieren keine Bildungen zu nominalen Basen und es besteht nur die Möglichkeit der syntaktischen Transitivierung, nicht die der Argumentrestrukturierung. Präpositionale trennbare Präverbfügungen können der Akzentstruktur und ihrer semantischen Funktion nach syntagmatische Fügungen oder Komposita sein, sie sind unbeschränkt weiter ableitbar, es existieren Bildungen zu nominalen Basen. In ihren zentralen Mustern sind sie als Modifikatoren zu verstehen, was wiederum die Auffassung als Kompositum zulässt, daneben gibt es peripherere Muster, die Kopfstatus und damit Derivation nahelegen. Präpositionale nicht-trennbare Präverbfügungen können der Akzentstruktur und ihrer semantischen Funktion nach nur Derivate sein, sie sind unbeschränkt weiter ableitbar, es existieren Bildungen zu nominalen Basen. In ihren zentralen Mustern sind sie als Köpfe zu verstehen, was wiederum die Auffassung als Derivat unterstützt. Die Existenz von Eigenschaften bei allen drei Typen, die einer eindeutigen Klassifikation widersprechen, lässt insgesamt die Interpretation zu, dass es sich um ein Phänomen der Zwischen Wortbildung und Syntax 299 Grammatikalisierung vom Adverb über die abtrennbare und die nichtabtrennbare Präposition bis zum in der phonologisch-segmentalen Substanz abgeschwächten Präfix handelt. Für die gesamte Verbindung führt der Grammatikalisierungsweg entsprechend von der syntagmatischen Einheit über die Zusammenrückung bzw. Komposition zur in sich noch abgestuften Derivation. 4. ‘Syntagmatizität’ von Partikelverben 4.1 Allgemeines Bei der Prüfung, ob Partikelverben/ Präverbfügungen den Status syntagmatischer Verbindungen haben, können grundsätzlich zwei Richtungen verfolgt werden: Zum einen ist danach zu fragen, ob die Teile je für sich Konstituentenstatus haben, zum anderen danach, ob die Verbindung der Teile in einem noch genauer zu spezifizierenden Sinne „frei“ ist. Wir werden im Folgenden aus Platzgründen nur die erste Fragestellung verfolgen. Zur Frage der Freiheit der Verbindung nur ein paar kurze Anmerkungen: Zugrunde liegt dabei der Gedanke, dass es grundsätzlich keine lexikalischen Beschränkungen für die Verbindung von syntaktischen Einheiten gibt, sofern subklassenspezifische Beschränkungen eingehalten werden, also so genannte „Subkategorisierungsregeln“. Anders gesagt, alle lexikalischen Einheiten, die bestimmten Subkategorisierungen genügen, können im Prinzip die entsprechenden syntagmatischen Verbindungen eingehen. Außerdem ist die Interpretation der Verbindung entsprechend dem Kompositionalitätsprinzip durch die Interpretation der Teile gesteuert. Nicht-kompositionale, „idiomatische“ Interpretationen bei so genannten Phrasemen wie toter Punkt sind der Ausnahmefall. Anders in der Wortbildung: Zwar gibt es auch dort vergleichsweise freie Muster, etwa das Muster der Substantivkomposition mit zwei Substantiven als unmittelbaren Konstituenten im Deutschen. Aber im Gegensatz zur syntagmatischen Verbindung gibt es auch bei den „freiesten“ Wortbildungen die grundsätzlichen Unterschiede a) zwischen okkasionellen Bildungen (wie Fantasieblume) und lexikalisierten Bildungen (wie Schnittblume) und b) zwischen musterhaft interpretierten (wie Sommerblume) und idiomatisierten Bildungen (wie Sonnenblume). Allerdings folgt aus dieser Gegenüberstellung, dass Freiheit in der Verbindung kein trennscharfes, sondern ein graduelles Phänomen ist: Da es sowohl in der Syntax als auch in der Wortbildung freie und nicht-freie Verbindungen gibt - wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktbildung - kann bei einem bestimmten Verbindungstyp, wie hier den Partikelverben, allenfalls am relativen Verhältnis zwischen mehr oder Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 300 weniger freien/ unbeschränkten einerseits und idiosynkratischen/ idiomatischen Exemplaren andererseits abgelesen werden, ob wir es hier mit syntagmatischen Verbindungen (mit einer starken Tendenz zur Ausbildung von Phrasemen) zu tun haben, oder mit Wortbildung, die ihrerseits teilweise musterhaft und damit vergleichsweise frei verlaufen kann. Erste Vergleiche hinsichtlich des lexikalischen Bestands deuten darauf hin, dass von allen drei Vergleichssprachen das Deutsche bei den präpositionalen Präverbfügungen am wenigsten Freiheit zulässt. Dies mag angedeutet werden durch die Gegenüberstellung von Partikelverben zum Verb gehen in den drei Vergleichsprachen. Im Deutschen sind die Präverb-Fügungen (mit präpositionalem Präverb, nur +trb) grundsätzlich nicht frei. Zwar gibt es Reihenbildung im Bereich der Lokationsverben wie in den folgenden Beispielen zu gehen (intransitiv und transitiv). Diese ist aber weder systematisch möglich, noch gegen z.T. hochgradige Idiomatisierung gefeit. 23 Idiomatisierung ist durch hochgestelltes i gekennzeichnet, Idiomatisierung neben einer nicht-idiomatischen Bedeutung durch +i . Nichtexistenz durch *. abgehen i , aufgehen i , ausgehen i , eingehen i , umgehen i , übergehen i , untergehen i , vorgehen +i Man vergleiche die entsprechende englische Reihe: go down, go in, go out +i , go over, go (a)round, go under i , go up sowie die ungarische Reihe zum Verb megy ‘gehen, fahren’: átmegy +i ‘(hin)durchgehen; durchmachen, übergehen’, bemegy ‘hineingehen’, elmegy ‘weggehen’, felmegy ‘hinaufgehen’, kimegy ‘(hin)ausgehen’, lemegy ‘hinuntergehen, untergehen (Sonne)’ belemegy +i ‘hineingehen; auf etw. eingehen’, hozzámegy +i ‘zu jm. hingehen; jn. heiraten’, nekimegy ‘jn. anrennen’, rámegy +i ‘draufgehen’, *rajtamegy. 4.2 Konstituentenstatus der Teile Fragen wir nun nach dem Konstituentenstatus der Teile, insbesondere des Partikel-Teils. Kriterien, die für den Konstituentenstatus der Teile sprechen, 23 Prinzipiell sind verschiedene Grade von Idiomatizität zu unterscheiden, so ist beim Verb eingehen u.a. eine stärker idiomatisierte Lesart ‘(ab-)sterben’ von einer weniger stark idiomatisierten Lesart ‘eintreffen, zugestellt werden’ abzugrenzen. Zwischen Wortbildung und Syntax 301 sind a) die selbstständige Beweglichkeit der Teile, in der Weise, dass jeder der Teile eine Satzgliedposition einnehmen kann und b) die selbstständige Modifizierbarkeit der Teile, insbesondere des Partikelteils. Im Englischen sind mehrere Positionen der Partikel möglich. Sie kann (vgl. auch Abschnitt 3.1) bei einem transitiven bzw. ditransitiven Verb sowohl dem Verbteil unmittelbar nachfolgen, als auch nach dem bzw. den Objekten (44) stehen. Dabei sind die genannten Positionen als mögliche „Satzgliedpositionen“ einzuschätzen, die auch von Adverbien (etwa downstairs) eingenommen werden können (45). Allerdings gibt es gewisse Unterschiede: In die Position zwischen Verb und Objekt werden im Allgemeinen nur Partikeln, also intransitive Präpositionen, eingefügt, echte Adverbien und Präpositionalphrasen nur, wenn das Objekt ein „schweres“ Satzglied ist wie in (46). (44) She brought down the bed. / She brought the bed down. (45) *She brought downstairs the bed. / She brought the bed downstairs. (46) She brought downstairs the bed that she had recently inherited from her grandmother. Dennoch ist für das Englische davon auszugehen, dass die intransitiven Präpositionen eindeutig Konstituentenstatus haben, vgl. Huddleston/ Pullum (2002, S. 280): „down is a one-word-phrase functioning as a complement of the verb“. Allerdings überschneiden sich die Positionen der intransitiven Präpositionen nicht vollständig mit denen vergleichbarer Satzglieder. Weitere Positionsmöglichkeiten, insbesondere die Stellung in der Satzspitzenposition, die im Englischen - sofern nicht durch das Subjekt belegt - eine Fokusposition ist, sind von zwei Faktoren abhängig: von der Intransitivität bzw. Transitivität der Fügung und von der Freiheit bzw. Idiomatizität der Fügung. Es kommen nur die intransitiven Präpositionen intransitiver Verb-Präposition-Fügungen in Satzspitzenstellung vor, bei transitiven Fügungen ist dies nur äußerst marginal möglich: (47) Out came the sun. (48) * ? Out he took his gun. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 302 Bei den intransitiven sind wiederum nur die Präpositionen freier Fügungen in Spitzenposition zugelassen: (49) *Up blew the tank. (mit blow up ‘explodieren’) (50) *Out he passed. (mit pass out ‘ohnmächtig werden’) Die Einfügbarkeit von Modifikatoren/ Adverbien vor der intransitiven Präposition ist ebenfalls abhängig von Idiomatizität. In freien Verbindungen ist Modifikation möglich, in idiomatischen nicht: (51) Go right on. She climbed slowly up. She led him triumphantly out. (52) ? The prisoner broke right down. *She gave slowly up. *She knocked him triumphantly out. Zu beachten ist dabei, dass im Englischen alle im weiteren Sinn auf das Prädikat bezogenen Modifikatoren dieses Verhalten teilen, sowohl ‘manner adverbs’, die das vom Prädikat insgesamt Bezeichnete, die Verbalhandlung, modifizieren, als auch die enger auf den Beitrag der intransitiven Präposition bezogenen wie right. Die englischen intransitiven Präpositionen von Verb-Präposition-Fügungen haben (eingeschränkt) Konstituentenstatus. Sie erscheinen in Satzgliedpositionen, allerdings gibt es generelle Restriktionen (Adjazenz von Verb und intransitiver Präposition bei pronominalem Objekt). Daneben gibt es die Beschränkungen für idiomatische Fügungen. Bei ihnen kann die Partikel nicht in der Fokusposition (Satzspitze) stehen. Der Ausschluss der Satzspitzenposition bei transitiven Fügungen (frei und idiomatisiert) spricht für eine stärkere Grammatikalisierung dieser Fügungen. Angesichts der bereits in Abschnitt 3.2 beschriebenen syntaktischen Eigenschaften der ungarischen Verbpartikel ist ein Status als unabhängige syntaktische Einheit anzunehmen (É. Kiss 2002, S. 56). Ihr selbstständiges Vorkommen als Antwort auf Entscheidungsfragen liefert ein sehr prägnantes Argument für ihre syntaktische Eigenständigkeit: 24 (53) El-jössz? El. ‘Kommst du? Ja.’ 24 Im Ungarischen ist generell im Falle einer bejahenden Antwort die Wiederholung des erfragten Elements möglich: Péterrel beszéltél? - Péterrel. ‘Hast du mit Péter gesprochen? - Ja.’ Zwischen Wortbildung und Syntax 303 Bei Betrachtung der Kriterien Herausstellung in einen übergeordneten Satz, Linksherausstellung 25 und Modifizierbarkeit zeigt sich aber, dass die Verhältnisse nicht so eindeutig sind, der syntaktische Status der Partikel ist auch abhängig von ihrer Eigenbedeutung. 26 Eine Herausstellung in einen übergeordneten Satz (Bsp. 54 und 55) ist ebenso wie eine Linksherausstellung (Bsp. 56 und 57) nur dann grammatisch, wenn die Partikel über eine Eigensemantik verfügt (vgl. É. Kiss 2002, S. 59, Anm. 14), dabei kann es sich um eine lokale oder aspektuale Bedeutung handeln. Bei idiomatischen Partikelverbverbindungen ist die Akzeptabilität als fragwürdig einzuschätzen, die Partikelverben nekilát ‘anfangen’ und elír ‘sich verschreiben’ bilden mit ihren Basisverben lát ‘sehen’ und ír ‘schreiben’ kein „Aspektpaar“, sondern sind als eigenständige lexikalische Einheiten aufzufassen. 27 (54) Át kell, hogy olvasd ezt a könyvet. ‘Du musst das Buch durchlesen.’ (55) ? *Neki kell, hogy láss dolgozni. ‘Du musst anfangen zu arbeiten.’ (56) Át senki se olvasta ezt a könyvet. ‘Durch hat dieses Buch niemand gelesen.’ (57) ? El soha sem írok semmit. ‘Verschreiben tue ich mich nie./ Falsch schreibe in nie etwas.’ Von der Möglichkeit der Modifizierbarkeit der Verbpartikel kann von vornherein nur ausgegangen werden, wenn die Partikel eine Eigenbedeutung trägt, z.B. einen Aspektunterschied anzeigt. É. Kiss (2005, S. 61) stellt fest, dass Adjektive und Verbpartikeln resultativer Bedeutung mit denselben Adverbien modifizierbar seien. Ob ein Bezug des Adverbs allein auf die Partikel oder auf die gesamte Partikelverbfügung vorliegt, lässt sich bei der Betrach- 25 Bei einem nach links herausgestellten Element handelt es sich um eine mit besonderer, (im Gegensatz zum Topik) steigender Intonation gesprochene, von den anderen Satzteilen mit einer Pause abgesetzte, einen Gegensatz implizierende Phrase (É. Kiss 1992, S. 114). 26 Unabhängig von der Eigensemantik der Partikel sind dagegen die in Abschnitt 3.2 beschriebenen Fälle von Adjazenz und Nicht-Adjazenz. 27 Bestandteile idiomatischer Redewendungen können generell nicht nach links herausgestellt werden, ihre Idiomatizität geht in einem solchen Fall verloren (É. Kiss 1992, S. 114): A vizes leped t ráhúzták Jánosra., wörtl.: ‘Das nasse Leintuch hat man über János gezogen.’, idiom.: ‘Er hat sein Teil abbekommen.’ Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 304 tung neutraler Aussagesätze kaum entscheiden; das Adverb (im Beispiel teljesen ‘ganz, völlig’) steht hier vor dem Verbmodifikator, der wiederum die Fokusposition direkt vor dem Verb einnimmt. (58) A háziasszony teljesen folyékonnyá olvasztotta a vajat. ‘Die Hausfrau ließ die Butter ganz flüssig werden.’ (59) A háziasszony teljesen fel-olvasztotta a vajat. ‘Die Hausfrau ließ die Butter ganz zergehen.’ Anders sind die Verhältnisse in Imperativsätzen: im Falle eines adjektivischen Verbmodifikators ist der Bezug des Adverbs auf das Adjektiv eindeutig, es erscheint immer vor dem Adjektiv, wobei dessen Stellung im Satz variabel ist. (60) (a) Olvaszd a vajat teljesen folyékonnyá! (b) Teljesen folyékonnyá olvaszd a vajat! ‘Lass die Butter ganz flüssig werden! ’ Zwischen Adverb und Verbpartikel ist dagegen eine solch direkte Beziehung im Imperativsatz nicht auszumachen. (61) (a) Olvaszd fel a vajat teljesen! (b) Teljesen olvaszd fel a vajat! ‘Lass die Butter ganz zergehen! ’ Im Deutschen hat das präpositionale Präverb bei Nicht-Adjazenz nur eine einzige Position, die rechte Satzklammer. Insbesondere ist sie nicht vorfeldfähig, oder nur in Ausnahmefällen wie in dichterischem Auf steigt der Strahl (C.F. Meyer) oder unter starker Kontrastierung mit einem gegenläufigen Präverb wie in folgenden Beispielen. Man beachte, dass dies am ehesten im Kontext von „Allerweltsverben“ wie machen, gehen oder auch sein möglich ist, bei denen die Präverbien ein stärkeres Gewicht und einen quasi-adverbialen Status haben (62-63). Bereits leichte Idiomatisierung macht Frontierung auch unter Kontrast fragwürdig (64). In anderen Fällen ist Frontierung inakzeptabel (65): (62) Auf macht er die Tür immer, zu nie. (63) Auf geht/ ist die Tür immer, zu nie. (64) ? ? Ein fährt der Zug um 15.30 Uhr an Gleis 5, ab fährt er dann 15.35. (65) *An lächelt sie mich immer freundlich. Zwischen Wortbildung und Syntax 305 Selbst wenn Frontierung unter diesen Umständen noch marginal möglich ist, eine Verschiebbarkeit ins Mittelfeld ist grundsätzlich ausgeschlossen: 28 (66) [...] *dass er auf die Tür machte, nicht zu (67) [...] *dass der Zug ein um 15.30 Uhr an Gleis 5 fährt [...] *dass der Zug um 15.30 Uhr ein an Gleis 5 fährt [...] dass der Zug um 15.30 Uhr an Gleis 5 einfährt (68) [...] *dass (an) sie (an) mich (an) immer (an) freundlich lächelt [...] dass sie mich immer freundlich anlächelt Gerade die Positionierbarkeit im Mittelfeld unterscheidet die präpositionalen Präverbien eindeutig von den adverbialen, bei denen Mittelfeldposition möglich ist. (69) [...] dass der Zug um 15.30 Uhr hinein in den Bahnhof/ auf Gleis 5 fährt. Die rechte Klammerposition nun - die einzige Position des präpositionalen Präverbs - ist im Deutschen keine Konstituentenposition, sondern Position für einen Teil eines komplexen Verbs bzw. des Verbalkomplexes, also ist demnach das Präverb keine Konstituente. Was das Kriterium einer selbstständigen Modifizierbarkeit angeht, so muss im Deutschen zwischen Prädikat-Modifikatoren bzw. ‘Qualitativsupplementen’ (GDS, S. 1177) im Sinne der IDS-Grammatik allgemein (wie langsam, triumphierend) und Modifikatoren wie ganz, völlig unterschieden werden. Erstere kommen im Verbletztsatz im rechten Randbereich, aber vor den Präpositivbzw. Adverbialkomplementen und den adverbialen Supplementen zu stehen. Das heißt, sie erscheinen grundsätzlich vor dem präpositionalen Präverb, aber auch vor adverbialen Bestimmungen. Ihre Position ist somit - anders als im Englischen - nicht aussagekräftig: (70) [...] dass der Zug langsam einfährt/ in den Bahnhof fährt/ hineinfährt/ in den Bahnhof hineinfährt. Modifikatoren wie ganz oder völlig hingegen sind semantisch beschränkt auf graduierbare Prädikationen. Insbesondere kommen sie auch bei adjektivischen oder adverbialen Zustands- oder Resultativkonstruktionen vor wie ganz erschöpft sein, ganz in der Ecke stehen bzw. ganz leer trinken, ganz 28 Einen Sonderfall stellen Kombinationen mit der Präposition mit dar wie in (…) dass er mit an diesem Projekt arbeitet. Vgl. dazu Zifonun (1999). Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 306 hineinfahren. Hier kann man annehmen, dass die Modifikation sich im engeren Sinne auf das Adjektiv oder das Adverb bezieht. Dafür spricht auch, dass die Modifikatoren zusammen mit dem Adjektiv/ Adverb ins Vorfeld verschoben werden können: (71) Völlig leer trinkt sie die Flasche selten. / Ganz hinein fährt der Zug nicht. ganz, völlig usw. sind mit präpositionalen Präverbfügungen genau dann verbindbar, wenn die Fügung insgesamt eine graduierbare Prädikation bzw. einen sich in Abstufungen vollziehenden Vorgang bezeichnet, also in Beispielen wie ganz einfahren, ganz aufsteigen, ganz auf sein, ganz aufgehen, ganz zumachen. Der Nachweis, dass der Skopus der Modifikation in diesen Fällen nur das Präverb sei, kann jedoch aus den bereits oben genannten Gründen nicht geführt werden. Modifikator und Präverb können allenfalls in Fällen wie auf sein/ aufgehen, zumachen gemeinsam ein Stellungsglied im Vorfeld bilden, in allen anderen Fällen nicht (72) Völlig auf geht die Tür nicht. (73) ? ? Ganz ein fährt der Zug nicht. Im Deutschen spricht somit bei den präpositionalen Präverb[+trb]Fügungen - von Übergangserscheinungen zu adverbialen Konstruktionen abgesehen - nichts dafür, dass das Präverb den Status einer syntaktischen Konstituente hat. 5. Tabellen zu ‘Wortigkeit’ und ‘Syntagmatizität’ Wir fassen nun die Ergebnisse der vorhergehen Abschnitte in zwei Tabellen (Tab. 1 und 2), in denen jeweils Eigenschaften der ‘Partikelverben’ der drei Vergleichssprachen erfasst werden, zusammen. Die Kriterien sind so ausgelegt, dass ein ‘+’ jeweils für ‘Wortigkeit’ bzw. ‘Syntagmatizität’ spricht, ein ‘-’ dagegen. ‘[+]’ zeigt an, dass ein Merkmal für eine Sprache nicht einschlägig ist. 6. Fazit - Wie die Tabellen 1 und 2 zeigen, spricht im Deutschen nicht alles für die Wortigkeit der Präverb[+trb]Fügungen, jedoch deutlich weniger für deren Syntagmatizität. Dagegen spricht im Englischen sehr wenig für die Wortigkeit, mehr für die Syntagmatizität der Verb-Präposition-Fügungen. Ähnlich ist die Situation im Ungarischen, allerdings macht hier die Möglichkeit zu Änderungen in der Argumentstruktur zumindest in den betreffenden Fällen die Behandlung als komplexe Wörter plausibel. Zwischen Wortbildung und Syntax 307 Tab. 1: Wortigkeit von Partikelverben (Englisch: Verb-Präp, Deutsch: Präverb[+trb]Fügungen) Tab. 2: Syntagmatizität im Sinne des Konstituentenstatus der ‘Partikel’-Teile - Die Tatsache, dass es deutliche Unterschiede im syntaktischen Verhalten der freien und der idiomatisierten Fügungen im Englischen gibt, deutet ebenfalls auf den syntagmatischen Charakter hin: Es ist charakteristisch für die Idiomatisierung syntaktischer Fügungen, wenn sie bestimmte syntagmatische Freiheiten ihrer „freien“ Gegenstücke einbüßen. Vergleichbares ist auch im Ungarischen zu beobachten: Die syntaktische Freiheit der idiomatisierten Fügungen ist gegenüber den nicht-idiomatisierten Fügungen eingeschränkt. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 308 - Im Deutschen hat der Unterschied zwischen freier - wenn es die überhaupt gibt - und idiomatisierter trennbarer Präverbfügung keine oder nur marginale syntaktische Reflexe. - Die Tatsache, dass im Deutschen die trennbaren Präverbfügungen auf jeden Fall keine Syntagmen (im definierten Sinne) sind, rechtfertigt ihre Behandlung als komplexe Wörter und damit als Wortbildungsphänomene. - Bei der Entscheidung über die spezifische Art von komplexem Wort, die bei präpositionalen trennbaren Präverbfügungen vorliegt, sollte der Aspekt der Grammatikalisierung von Präposition/ Adverb als erstem Bestandteil eines ggf. auf Zusammenrückung beruhenden Kompositums über das abtrennbare Präverb, das nicht-abtrennbare Präverb bis zum Präfix stärkere Beachtung finden. Dies erklärt die zum Teil auch heute noch miteinander konfligierenden Eigenschaften der trennbaren Präverbfügungen. Allerdings geht es dabei um Widersprüche zwischen dem Modifikatorstatus des Präverbs (und damit dem Kompositumstatus der Fügung) bei der weniger grammatikalisierten Teilgruppe und dem Kopfstatus des Präverbs (bzw. Derivatstatus der Fügung) bei der stärker grammatikalisierten Teilgruppe. Weitere Aspekte deuten quer zu dieser Unterscheidung insgesamt auf Komposition hin (wie die Akzentstruktur) oder insgesamt auf Derivation (wie die unbeschränkte Ableitbarkeit). - Diesen konfligierenden Eigenschaften Rechnung tragend - vor allem aber den deutlichen Unterschieden gegenüber anderen so genannten ‘Partikelverben’ - plädieren wir dafür, trennbare präpositionale Präverbfügungen als eigenen verbalen Wortbildungstyp einzuordnen. 7. Literatur Altmann, Hans/ Kemmerling, Silke (2000): Wortbildung fürs Examen. Studien- und Arbeitsbuch. (= Linguistik fürs Examen 2). Wiesbaden. Bloomfield, Leonard (1933): Language. New York. BNC = British National Corpus. Internet: www.natcorp.ox.ac.uk (Stand: November 2007). Donalies, Elke (2005): Die Wortbildung des Deutschen: ein Überblick. 2., überarb. Aufl. (= Studien zur deutschen Sprache 27). Tübingen. Elekfi, László (2001): Személyragozott igeköt k? In: Magyar nyelv r 125/ 2, S. 250- 253. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Zwischen Wortbildung und Syntax 309 Eisenberg, Peter (2004): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 2., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart. É. Kiss, Katalin (1992): Az egyszer mondat szerkezete. In: Kiefer (Hg.), S. 79-177. É. Kiss, Katalin (2002): The syntax of Hungarian. Cambridge, UK u.a. É. Kiss, Katalin (2005): First steps towards a theory of the verbal particle. In: Papers from the Düsseldorf conference. Ed. by Christopher Piñón and Péter Siptár. (= Approaches to Hungarian 9). Budapest, S. 57-88. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Forgács, Tamás (2004): Ungarische Grammatik. Wien. GDS = Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7). Berlin/ New York. Huddleston, Rodney/ Pullum, Geoffrey K. (2002): The Cambridge grammar of the English language. Cambridge, UK . Kenesei, István (1997): A szintagma alapú képzésekr l. In: Nyelvtudományi közlemények 95, S. 101-118. Kenesei, István (2000): Szavak, szófajok, toldalékok. In: Kiefer (Hg.), S. 75-136. Keresztes, László (1999): Praktische ungarische Grammatik. 3., verbess. Aufl. (= Hungarolingua, G). Debrecen. Keszler, Borbála (Hg.) (2001): Magyar grammatika. Budapest. Kiefer, Ferenc (2000): A szóösszetétel. In: Kiefer (Hg.), S. 519-567. Kiefer, Ferenc/ Ladányi, Mária (2000): Az igeköt k. In: Kiefer (Hg.), S. 453-518. Kiefer, Ferenc (Hg.) (1992): Strukturális magyar nyelvtan. 1: Mondattan. Budapest. Kiefer, Ferenc (Hg.) (2000): Strukturális magyar nyelvtan. 3: Morfológia. Budapest. Kövendi, Dénes (2000): A rá és személyragos alakjai mint határozószók és mint igeköt k. In: Magyar nyelv r 124, S. 270-272. Kolehmainen, Leena (2006): Präfix- und Partikelverben im deutsch-finnischen Kontrast. (= Finnische Beiträge zur Germanistik 16). Frankfurt a.M. Komlósy, András (1992): Régensek és vonzatok. In: Kiefer (Hg.), S. 299-527. Laczkó, Krisztina/ Mártonfi, Attila (2004): Helyesírás. (= A magyar nyelv kézikönyvtára 1). Budapest. Lüdeling, Anke (2001): On particle verbs and similar constructions in German. Stanford. Susan Schlotthauer / Gisela Zifonun 310 Marchand, Hans (1969): The categories and types of present-day English wordformation: a synchronic-diachronic approach. 2., kompl. überarb. u. erw. Aufl. München. Müller, Stefan (2002): Complex predicates: verbal complexes, resultative constructions, and particle verbs in German. Stanford. OED = The Oxford English Dictionary (1989). Prepared by J.A. Simpson and E.S.C. Weiner. 2. Aufl. Oxford. Olsen, Susan (1986): Wortbildung im Deutschen: eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. (= Kröners Studienbibliothek 660). Stuttgart. Piñón, Christopher J. (1992): The preverb problem in German and Hungarian. In: Proceedings of the 18th annual meeting of the Berkeley Linguistics Society. Berkeley, S. 395-408. Quirk, Randolph/ Greenbaum, Sidney/ Leech, Geoffrey/ Svartvik, Jan (Hg.) (1985): A comprehensive grammar of the English language. London. Stiebels, Barbara (1996): Lexikalische Argumente und Adjunkte. Zum semantischen Beitrag von verbalen Präfixen und Partikeln. (= Studia grammatica 39). Berlin. Stiebels, Barbara/ Wunderlich, Dieter (1994): Morphology feeds syntax. The case of particle verbs. In: Linguistics 32, S. 913-968. Thurmair, Maria (1997): Verbwortbildung und Verbklammer im Deutschen. In: Šime ková, Alena/ Vachková, Marie (Hg.): Wortbildung: Theorie und Anwendung. Prag, S. 163-173. Tompa, József (1968): Ungarische Grammatik. (= Janua linguarum: Series practica 96). Den Haag. Tóth, Etelka (Hg.) (2003): Magyar helyesírás. Budapest. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair/ Eva Breindl/ Eva-Maria Willkop. Mannheim. Wurzel, Wolfgang Ullrich (2000): Was ist ein Wort? In: Thieroff, Rolf/ Tamrat, Matthias/ Fuhrhop, Nanna/ Teuber, Oliver (Hg.): Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Tübingen, S. 29-42. Zifonun, Gisela (1999): Wenn mit alleine im Mittelfeld erscheint: Verbpartikeln und ihre Doppelgänger im Englischen und Deutschen. In: Wegener, Heide (Hg.): Deutsch kontrastiv. Typologisch-vergleichende Untersuchungen zur deutschen Grammatik. (= Studien zur deutschen Grammatik 59). Tübingen, S. 211-235. Maria Thurmair rüber, rein, rum & co: die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 1. Doppelpartikelverben Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den so genannten Doppelpartikelverben mit hin+Partikel und her+Partikel und den Formen mit r, die ich als r-Partikeln bezeichnen möchte. Dabei geht es um folgende Verbindungen und folgende Lücken: hin-/ her-/ *r-ab, ? *hin-/ her-/ r-an, hin-/ her-/ r-auf, hin- / her-/ r-aus, *hin-/ her-/ *r-bei, hin-/ her-/ r-ein, hin-/ *her-/ *r-durch, hin-/ her- / r-über, ? *hin-/ her-/ r-um, hin-/ her-/ r-unter, *hin-/ her-/ *r-vor, hin-/ her-/ *r-zu. Von den hier besonders interessierenden r-Partikeln sind überhaupt nur solche möglich, bei denen die kombinierte Partikel 1 einen vokalischen Anlaut hat (also ran, rauf, raus, rein, rüber, rum, runter) mit Ausnahme von *rab. 1.1 Bildungen Formal verbinden sich Doppelpartikeln und r-Partikeln mit Simplizia als Basisverben; dadurch entstehen trennbare Verben (ich laufe morgen hinauf; er kam gestern rein), die Bildungen tragen den (normalen Wort-)Akzent auf dem präpositionalen Bestandteil: hiNAUF, heRAUF (außer natürlich bei Kontrastierung: HInunter und HErunter; im Gegensatz zu hiNAUF und hiNUNter; siehe unten 2.5). Als Basisverben können vereinzelt auch wortgebildete bzw. komplexere Verben vorkommen; zum einen suffigierte Verben (etwa rumbummeln, hinaushumpeln, herüberhoppeln) und zum anderen auch einige präfigierte Verben - vor allem solche mit be (z.B. heraufbefördern, herum-/ rumbekommen, hinausbegleiten, hinaufbemühen, rüberbeordern, herunterbestellen, herausbewegen). Bildungen mit ‘Formverben’ sind ebenfalls häufig, genauer mit sein bzw. den Modalverben, also etwa hineindürfen, ran müssen, rumsein, rauf können. 1 Ich folge hier dem Sprachgebrauch etwa von Barz (in Duden 2005, S. 705ff.); vgl. dagegen Schlotthauer/ Zifonun (in diesem Band), die hier von Präpositionen sprechen, wobei der formale und semantische Zusammenhang zwischen Präpositionen und den als Verbzusätzen verwendeten Partikeln zugegebenermaßen evident ist (siehe dazu auch Weinrich 2003, S. 1032ff.). Zur Unterscheidung der Verbpartikel vom Typ hin/ her und denen vom Typ an, auf, aus etc. spreche ich deshalb bei letzteren auch von präpositionalen Partikeln. Maria Thurmair 312 Was die Semantik der Basisverben betrifft, lassen sich zunächst alle Bewegungsverben mit diesen Doppelpartikeln verbinden; hier gibt es Beschränkungen nur, wenn die Semantik des Verbs und der Doppelpartikel oder der r-Partikel nicht passen. Wenn das Simplex kein Bewegungsverb ist, kann durch die Zusammensetzung mit her/ hin alleine oder in Kombination mit einer präpositionalen Partikel eine Richtungskomponente eingeführt werden. Die Doppelpartikel füllt dabei sozusagen die Stelle der Richtungsergänzung (sie kann natürlich auch mit einer Richtungsangabe zusammen vorkommen); z.B. jmdn. herbeijubeln, hereinbitten, hinauskomplimentieren; herüberschneien; sich hinauftanzen. 1.2 Wortbildungsstatus der Doppelpartikelverben Die Frage, ob es sich bei der Verbindung von Verb und Doppelpartikel um Wortbildungen handelt oder nicht, ist immer wieder diskutiert worden; in den meisten Fällen (etwa Barz 2005, S. 708ff.; Eichinger 1982, 1989) gelten diese Verbindungen als Wortbildung, in anderen Ansätzen wird dies verneint. So fasst etwa Motsch (1999, S. 51ff.) diese Konstruktionen als syntaktische Verbindungen aus Verb und Adverb auf. Tatsächlich liegen diese Bildungen an der Grenze zwischen Wortbildung und syntaktischer Fügung. Die Argumente für die eine wie für die andere Position sollen kurz aufgelistet werden, ohne dass diese Frage eingehender diskutiert werden soll. Für eine Charakterisierung als syntaktische Fügung à la Motsch sprechen: 1) die hohe Produktivität: Die Doppelpartikeln und die r-Partikeln sind äußerst produktiv und in einer großen Zahl von Verwendungen auch semantisch durchsichtig; 2) die Tatsache, dass sich die Doppelpartikeln besonders gut mit den Modalverben und dem Verb sein verbinden, und auch ohne Verb vorkommen (z.B. Hinauf auf den Baum. Ran! Runter vom Boot! ), was darauf hindeutet, dass es sich bei den Doppelpartikeln zunächst um reine Richtungsangaben und damit um durchaus transparente Bildungen handelt; 3) die Tatsache, dass auch komplexe Basen vorkommen können: üblicherweise ist Verbwortbildung eine Verbindung mit einfachen Basisverben - das könnte als Gegenargument gewertet werden, allerdings gilt für manche anderen Wortbildungen mit Partikeln auch, dass sie sich mit komplexeren Basen verbinden können (z.B. nachberechnen, vorausbestimmen, vorbehandeln, wiederaufführen, zurückerinnern); Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 313 4) die Stellungsbedingungen: In den meisten Abhandlungen zu den Stellungsbedingungen wortgebildeter Verben findet sich ein Hinweis darauf, dass die Stellung im Vorfeld ausgesprochen markiert und im Allgemeinen bei Partikelverben nicht möglich ist. Das berühmte Beispiel Auf steigt der Strahl. ist also topologisch ein Sonderfall, wie man an der fragwürdigen Akzeptabilität von ? *An fange ich morgen sieht. Die Doppelpartikeln sind hingegen wesentlich einfacher zu topikalisieren - auch ohne Kontrast (Vgl.: Heraus kam ein stiller Raum. Hinauf stapft man besser zu Fuß. Ran müssen am Sonntag die A-Junioren); 5) die Tatsache, dass oft eine klare Abgrenzung zu (eindeutigen) syntaktischen Fügungen nicht möglich ist; vgl.: in den Wald hinein gehen (mit Pause und mindestens Nebenakzent auf gehen) vs. in den Wald hineingehen vs. hinein in den Wald gehen (vgl. dazu auch Harnisch 1982). Was in früheren Analysen oft noch als Argument gegen den Wortbildungs-Status angeführt wurde, nämlich die Klammerbildung, gilt heute ja als systematisches Kennzeichen bestimmter verbaler Wortbildung (so etwa Barz 2005, S. 705ff. oder Weinrich 2003, S. 33ff. und 1032ff.). Gegen eine Charakterisierung als syntaktische Fügung und für den Status als Wortbildungsprodukt sprechen: 1) die Lexikalisierung mancher Bildungen und zwar nicht nur als generelles Phänomen, sondern auch die Nischenbildung (siehe dazu u.a. Latzel 1979, S. 45ff.; Hinderling 1982). Nicht alle Bildungen mit Doppelpartikeln und mit r-Partikeln sind durchsichtig. Die Nischenbildung zeigt ihrerseits wieder eine Art von Systematik, die es durchaus geboten scheinen lässt, von Wortbildungsprodukten zu sprechen (siehe unten); 2) die Tatsache, dass auch die Nominalisierungen entsprechender Verben lexikalisiert sind; etwa Herausgabe, Herausforderung, Hinauswurf, Herablassung, Hereingabe, Herumtreiber (alle im Duden-Universalwörterbuch belegt); daneben auch Reinfall, Rauswurf u.a. Vor allem aufgrund der Lexikalisierungs- und Lexikalisiertheits-Eigenschaften möchte ich mich den Argumenten pro Wortbildung anschließen. 1.3 Bedeutung der Doppelpartikeln Die Bedeutung der Doppelpartikeln lässt sich im Allgemeinen, d.h. in den nicht idiomatisierten Fällen, relativ problemlos aus der Bedeutung der Bestandteile erschließen. Dabei kombiniert sich also die Bedeutung von hin und her mit der räumlichen Bedeutung der jeweiligen Präposition. Maria Thurmair 314 Hin und her alleine werden im Allgemeinen mithilfe des Sprecherstandpunktes beschrieben; dabei bezeichnet hin die Bewegung vom Sprecher weg bzw. auf den Nicht-Sprecher zu und her die Bewegung auf den Sprecher zu bzw. vom Nicht-Sprecher weg (so z.B. Barz 2005, S. 712ff. und Fleischer/ Barz 1992, S. 301ff.). Dabei sollte man weiter berücksichtigen (das findet sich deutlich ausgearbeitet bei Eichinger 1989), dass in dieser durch her und hin angezeigten Gerichtetheit der Bewegung Ziel und Ausgangspunkt der Bewegung unterschiedlich stark fokussiert sein können; dies ist auch vom jeweiligen Verb abhängig. Herfahren meint also eine Bewegung auf den Sprecher zu (zielbetont; noch deutlicher bei herkommen) und hinfahren meint eine Bewegung vom Sprecher weg, aber fokussiert auf den Nicht- Sprecher zu. Weiter muss man noch berücksichtigen, dass der Sprecherstandpunkt auch allgemeiner ein kontextuell relevanter Referenzpunkt, ein „point of attention“ sein kann und Perspektivenübernahme durchaus zulässig ist (vgl. dazu schon Latzel 1979, S. 3ff.). Diese grundsätzliche Charakteristik von her und hin bleibt nun in den so genannten Doppelpartikeln erhalten - mit den erwähnten Feindifferenzierungen hinsichtlich Zielvs. Ausgangspunktbetonung auch in Abhängigkeit von der Verbsemantik und eventuellen lokalen oder direktionalen Adverbialien. Aber grundsätzlich kombiniert sich in den Doppelpartikeln die umrissene Bedeutung von hin und her mit der räumlichen Bedeutung der jeweiligen Präposition; z.B. bezeichnet hinauf eine Bewegung nach oben, vom Sprecher weg in Richtung Nicht-Sprecher (hinaufklettern, hinaufführen etc.) und herauf bezeichnet eine Bewegung nach oben in Richtung Sprecher (heraufblicken, heraufheben). Analog dazu bei hinab/ hinunter: hier wird eine Bewegung nach unten in Richtung Nicht-Sprecher angezeigt (z.B. hinabblicken, hinabführen, hinabgießen, hinunterjagen, hinunterklettern); bei herab/ herunter wird eine Bewegung nach unten in Richtung Sprecher ausgedrückt: herabblicken, herabführen, herabgießen, herunterreichen, herunterspringen etc. (siehe Eichinger 1989, S. 190). Etwas komplexer sind die Verhältnisse offensichtlich bei ein und aus (vgl. genauer ebd., S. 264ff.), da sich hier eine deutlichere Gewichtung feststellen lässt, insofern ein eher Zielorientierung aufweist, bei aus findet sich Ziel- und Ursprungsorientierung. Über in der Kombination mit her und hin kann wiederum einfach charakterisiert werden: über als Bewegung ‘über etwas’ bezeichnet in der Verbindung mit her und hin sehr häufig eine Bewegung über eine Grenze; dabei meint hinüber die Bewegung vom Sprecher weg bzw. auf den Nicht-Sprecher zu und herüber die Bewegung in Richtung Sprecher. Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 315 Die Doppelpartikeln mit her und hin bringen also eine räumliche, genauer eine direktionale Komponente in die Verbbedeutung; oder anders betrachtet - da hier eine stärkere wechselseitige Determination anzunehmen ist: die Bildungen können oft so beschrieben werden, dass eine Bewegung einer bestimmten Richtung, z.B. hinaus, in ihrer Modalität durch verschiedene Verben expliziert wird. Eichinger (1989, S. 85) hat dies etwa an Verben wie hinausbefördern, hinauswerfen, hinausreden, hinauskomplimentieren gezeigt. An diesen Beispielen sieht man auch, dass sich die Doppelpartikeln nicht nur mit Fortbewegungsverben verbinden, sondern auch mit anderen; vgl. auch sich hinaufschmeicheln, sich hinaufschleimen, hinaufbestechen etc. In allen Fällen hat das Deutsche ein ausdifferenziertes räumliches System, denn es gibt ja einmal Paare wie ein - aus, auf - ab/ unter, die bestimmte Dimensionen bezeichnen, und zusätzlich durch die Kombination mit hin und her auch noch die durchgängig ausgebaute Möglichkeit, den Sprecherstandpunkt zu markieren. Diese zentrale Berücksichtigung des Sprecherstandpunktes in der Verbwortbildung scheint ein typisch deutsches Phänomen zu sein (darauf hat auch Wotjak 1997 hingewiesen) und führt oft zu Schwierigkeiten im Spracherwerb. Grundsätzlich lässt sich also die Bedeutung der Doppelpartikeln räumlich verstehen und relativ systematisch beschreiben (zu um siehe unten). Nun gibt es aber auch Bedeutungsübertragungen und bestimmte Bedeutungsnischen mit Doppelpartikelverben. Davon sollen exemplarisch einige angeführt werden: gemeint sind Verwendungen, bei denen die Doppelpartikel systematisch eine Bedeutungsübertragung ausdrückt: systematisch heißt, dass es sich nicht um einen singulären Phraseologismus, sondern um ein produktives Muster handelt. In den meisten Fällen lässt sich die ursprünglich räumlich-direktionale Bedeutung durchaus noch rekonstruieren. 1.4 Beispiele für Bedeutungsnischen bei Bildungen mit Doppelpartikeln heraus + Verb: - sich oder andere aus unangenehmer Situation befreien: herausboxen, herauslügen, herausreden … - Vorsprung, Nutzen: herauswirtschaften, herausschlagen, herausschinden, herausschauen, herausspringen … Maria Thurmair 316 - Sonderstellung einnehmen oder bekommen: herausragen, herausstreichen, sich herausnehmen; durch Änderung am Äußeren: herausputzen, herausfuttern … - Problemlösung/ Interpretation: herausfinden, herauskriegen; aus Person: herausfragen, herausholen, herauskitzeln … - unvermittelte Lautäußerung: herauslachen, herausplatzen, herausprusten … hinaus + Verb - jmdn. zum Gehen veranlassen: hinausekeln, hinausgraulen, hinausjagen, hinauskomplimentieren, hinauswerfen … - Nachrichten (unerwünscht) aller Welt kundtun: hinausposaunen, hinausschmettern, hinausschreien, hinaustrompeten … herunter + Verb - Bewegung nach unten im übertragenen Sinne: auf einer Preisskala: (he)runtersetzen, (he)runtergehen, (he)runterhandeln auf einer ‘Ansehensskala’: (he)runterwirtschaften, (he)runterkommen, (he)runterwohnen … Person/ Sache auf einer ‘Achtungsskala’ tiefer setzen: (he)runterkanzeln/ (he)runtermachen, (he)runterputzen, (he)runterschreiben … auf einer ‘Relevanzsskala’: (he)runterspielen … - Verlaufsbetonung/ monotone Darbietung (he)runterbeten, (he)runterleiern, (he)runterrasseln, (he)runterklimpern, (he)runterlesen … - Personen schlagen: (he)runterhauen, (he)runterlangen herein + Verb - Falle, Betrug: hereinfallen auf, hereinfliegen auf, hereinrasseln, (he)reinlegen - ungebeten (bzw. überraschend) erscheinen: hereinplatzen, hereinschneien hinein + Verb - Nahrungs-/ Wissensaufnahme: hineinfressen, hineinschlingen, hineinstopfen … - Bedeutung unterschieben: hineindenken, hineindeuten, hineingeheimnissen, hineininterpretieren, hineinlegen, hineinlesen … Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 317 - Einmischung: hineinreden, hineinregieren … - Investition: hineinbuttern, hineinstecken … - Unheil: hineinreiten, hineinreißen … - angestrengt arbeiten: sich hineinhängen, hineinknien, hineinlegen … 2. r-Partikeln 2.1 Stellenwert im System Um die r-Partikeln im System adäquat zu beschreiben, muss man stilistisch und auch regional unterscheiden. Am Beispiel der Formen mit aus stellt sich die mögliche Systematik folgendermaßen dar: hinaus heraus UGS südlich naus raus dialektal; z.B. mittelbairisch [aus e] [aus ] mittelhochdeutsch uzhin uzher UGS (? ) raus Welchen Status haben die r-Partikeln nun? Diachron gesehen sind die r-Partikeln zunächst als Verkürzung der her-Formen zu analysieren; darauf deutet ihre Form hin und das wird ja auch durch das raus-/ naus-Muster in der süddeutschen Umgangssprache gestützt. Im Zweifelsfälle-Duden (Duden 1985, S. 85) werden Formen wie rauf und runter einmal unter dem Stichwort ‘Apostroph’ behandelt, wobei festgestellt wird, die Formen würden als selbstständige Nebenformen von herauf, herunter etc. empfunden und ohne Apostroph geschrieben. Damit sind sie also nicht mehr unbedingt als Verkürzungen zu analysieren. Weiter erwähnt der Zweifelsfälle-Duden bei hin und her (ebd., S. 332) die Sprecherperspektive als unterscheidendes Merkmal, mit dem Hinweis, dass an der Unterscheidung auch in der Standardsprache oft nicht festgehalten würde (Beispiel: Er würgte den Bissen herunter) 2 und dass in der norddeutschen Umgangssprache fast nur die verkürzte Form von her üblich ist, also r. Die Beispiele deuten auch darauf hin, dass in Verbindungen 2 Meines Erachtens ist dieses Beispiel auch anders zu erklären, nämlich als inadäquate Rekonstruktion der Vollform (runter wird zu herunter statt zu hinunter). Maria Thurmair 318 mit präpositionalen Partikeln in der Wortbildung immer r zu her zu vervollständigen sei. Die süddeutsche Umgangssprache würde aber - so der Duden weiter - an dem her/ hin-Unterschied festhalten (und dementsprechend beide Kurzformen verwenden: ich geh naus, rüber, nauf etc.). Die r-Partikeln werden auch in anderen Werken immer als register-markiert bezeichnet; in vielen einschlägigen Wörterbüchern (z.B. Duden-Universalwörterbuch, Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, Kempcke-Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache) werden die r-Partikeln durchgehend als ‘umgangssprachlich’ bzw. ‘gesprochen’ markiert - vielleicht eben auch, weil sie formal wie Verkürzungen aussehen. Die im Zweifelsfälle-Duden zusätzlich angedeutete regionale Differenzierung, r-Partikeln seien Kennzeichen einer norddeutschen Umgangssprache, findet sich sonst nicht und lässt sich meines Erachtens auch nicht halten (vgl. auch Eichinger 1980). Ich möchte nun im Folgenden zeigen, dass die r-Partikeln eigenständig sind, was dies konkret bedeutet und dass die stilistische Markierung vielleicht nicht zu halten ist; dabei kann sich dann auch ergeben, dass nicht alle Formen mit r gleich behandelt werden können. 2.2 Bedeutung der r-Partikeln r-Partikeln neutralisieren den Unterschied zwischen her und hin: d.h., sie stellen eine bezüglich der Sprecherperspektive neutralisierte Form dar. Dies ist in der einschlägigen Literatur auch so beschrieben (vgl. Eichinger 1982, Fleischer/ Barz 1992, S. 301 und Barz 2005, S. 713). Wenn - wie oben ausgeführt - her ‘vom Sprecher weg’ bedeutet und hin ‘zum Sprecher hin’, dann kann Neutralisierung durch r eigentlich nur heißen, dass das Sprechermerkmal irrelevant ist. Damit ist auch klar, dass die r-Formen in einer nicht-süddeutsch regional geprägten Umgangssprache nicht Verkürzungen sein können, sondern eigenständige Formen sind, und dass das r in Verbindung mit den entsprechenden präpositionalen Verbpartikeln ein eigenes Morphem ist. Unter diesen Voraussetzungen kann nun meines Erachtens r in Verbindung mit den einschlägigen Verbpartikeln folgende Funktionen haben: 1) Entweder dient r im System der verbalen Wortbildung dazu, ‘zurück’ zu einer rein räumlichen Bedeutung der Verbpartikeln zu gehen - was bei den anderen einfachen Verbpartikeln wegen deren Funktionalisierung (nach Eichinger 1989) sonst nicht gegeben ist. Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 319 2) Oder die r-Partikeln entwickeln einen neuen Bedeutungsaspekt, der über das rein Räumliche hinausgeht (das wäre auch plausibel wegen des nötigen begrifflichen Mehrwerts von Wortbildungen). 3 Zunächst zur ersten Hypothese, die besagt, die r-Partikeln dienten dazu, die reine Dimension ohne Berücksichtigung der Sprecherperspektive anzuzeigen. Dies soll zunächst an r-Bildungen gezeigt werden, die rein räumlich interpretierbare Bedeutung haben; vgl.: (1) Erika: „Er hat ja auch ein Fernglas und blickt manchmal rüber“ [Regie] Nimmt das Fernglas von der Balustrade, blickt rüber. „Nichts zu sehen“. (Böll) (2) Sag den Kindern, sie sollen rausgehen. In Beleg (1) wird deutlich, dass rüber in der Kombination mit blicken einfach heißt ‘über etwas blicken’, unabhängig von Ziel oder Ausgangspunkt im Verhältnis zum Sprecher. Bei (2) wird mit rausgehen nur eine Bewegung von innen nach außen bezeichnet; wo der Sprecher selbst steht, ist irrelevant, und wo die Kinder sich befinden und wo außen ist, ist ebenfalls relativ offen. Es wird also mit den r-Partikeln die reine Bewegung in einer bestimmten Dimension angezeigt. Diese Argumentation passt gut in das Schema der Verbwortbildung allgemein. Vor allem Eichinger (1989) hat gezeigt, dass die einfachen Verbpartikeln, die sich auf Präpositionen zurückführen lassen wie auf, unter, ein, aus eine semantische Spezialisierung erfahren haben und dazu dienen, auf der Basis ihrer räumlichen Bedeutung funktionalisierte Handlungen zu beschreiben. Vgl. folgende Beispiele: (3a) Sie geht aus dem Haus/ aus dem Theater/ aus dem Wald/ ... (3b) Sie geht hinaus. (3c) Sie geht aus. (4a) Sie legt Gurken in den Kühlschrank/ in das Glas/ ... (4b) Sie legt Gurken hinein. (4c) Sie legt Gurken ein. Wie die c-Varianten der Beispiele unter (3) und (4) zeigen, tendieren die Partikelverben dazu, funktionalisierte Handlungen in einem spezifischen 3 Damit ist gemeint, dass Wortbildungen generell einen ‘begrifflichen Mehrwert’ haben, insofern sie nicht völlig akzidentielle oder aber kommunikativ und pragmatisch unwichtige Relationen bezeichnen (das lässt sich auch mit syntaktischen Mitteln erreichen), sondern nur relevante (vgl. Fandrych/ Thurmair 1994). Maria Thurmair 320 Handlungsmuster bzw. Handlungsrahmen auszudrücken, die auf einem räumlichen Basiskonzept beruhen. So bedeutet ausgehen ein spezifisches ‘in die gesellschaftliche Öffentlichkeit’, während hinausgehen einfach eine Bewegung nach außen vom Sprecher weg bezeichnet. Wieviele solcher funktionalisierter Handlungen ein Partikelverb bezeichnen kann, ist unterschiedlich; die einzelnen Verben sind mehr oder weniger stark spezialisiert. So hat etwa einlegen (Bsp. (4)) an verschiedenen Rahmen teil; man kann als funktionalisierte Handlung vieles einlegen: Filme, Tomaten, Gurken, Kassetten, Blätter in einen Ordner etc. (vgl. ausführlich Eichinger 1989, S. 264ff.). Die r-Partikeln nun wiederum würden dann dazu dienen - und so deutet sich das bei Eichinger auch an -, die Lücke zu schließen, die durch die Funktionalisierung der einfachen Verbpartikel entstanden ist; das heißt, ‘Sprecherbezug’ als Merkmal wird irrelevant (nur das kann in diesen Fällen Neutralisierung ja bedeuten) und die rein räumliche Bedeutung, die die der Verbpartikel zugrunde liegende Präposition hat, kommt dann zum Tragen. Demnach dient etwa rauf zur Bezeichnung der reinen vertikalen Dimension ohne Bezug auf den Sprecher; also sozusagen eine ‘Entfunktionalisierung’ gegenüber dem Partikelverb. Einige Beispiele in der Gegenüberstellung zwischen funktionalisiertem Einfach-Partikelverb und r-Partikelverb sollen dies zeigen: (5a) sie (die Eltern) gehen aus - sie (die Kinder) gehen raus. (vgl. oben (3)) (5b) Gurken einlegen - Gurken reinlegen (vgl. oben (4)) (5c) (in den Himmel) auffahren - (in den 5. Stock) rauffahren (5d) aufgehen (Teig, Dampfnudeln) - raufgehen (5e) aufschieben (eine Arbeit) - raufschieben (einen Wagen) (5f) der Hamster geht ein - der Hamster geht rein (5g) (etwas) einsehen - (irgendwo) reinsehen (5h) ausloben (die Jury den Preis) - rausloben (die Jury den Dichter) (5i) er bringt den Fernseher unter - er bringt den Fernseher runter (5j) er (der Brei) läuft über - er (der Hund) läuft rüber Für den räumlichen Gebrauch scheint diese Art der Bedeutungsbeschreibung ganz gut zu funktionieren. Hier könnte man r-Partikeln die Funktion zuschreiben, zu entfunktionalisieren und die konkrete räumliche Bedeutung anzuzeigen. Bei Verben mit über bzw. rüber (ähnlich unter) ist vielleicht noch zu erwähnen, dass es die Verbindungen mit hin/ her und eben auch r vor allem bei Präfixverben gibt; das heißt, hier erfolgt auch noch eine syn- Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 321 taktische Veränderung von Nicht-Klammerfähigkeit zu Klammerhaftigkeit (vgl. die Beispiele unter (6)). Bei diesen so genannten doppelspurigen Verbzusätzen wie über und unter gibt es also bereits eine semantische Differenzierung zwischen Präfixverben und Partikelverben, wobei im Allgemeinen die Partikelverben als wörtlicher und damit direkter die räumliche Bedeutung bezeichnend gelten (vgl. stellen unter vs. unterstellen; setzen über vs. übersetzen; legen über vs. überlegen etc.). Die Formen mit rüber im Unterschied zu Partikel-über bezeichnen wohl noch konkreter die dimensionale Bedeutung ‘über etwas’ (vgl. (7)). (6) überfliegen - fliegen rüber; überqueren - queren rüber; überspringen - springen rüber; überblicken - blicken rüber; überführen - führen rüber; (7) laufen über - laufen rüber; hängen über - hängen rüber; fließen über - fließen rüber Bei Verbbildungen mit um tritt ein weiterer Sonderfall auf: Erstens existieren auch hier - wie gerade an über gezeigt - Präfix- und Partikelverben; bei um kommt hinzu, dass es als Doppelpartikel nur die Form herum (und dann natürlich rum) gibt, dass aber herum im Allgemeinen keine räumliche mit der Sprecherposition in Beziehung setzbare Bedeutung anzeigt; herum kann nur dann auftreten, wenn um in einer semantischen Nebenfunktion vorliegt und ein Merkmal hat wie: „ringsum: im gesamten Wirkungskreis“ (z.B. sich UMsehen) und „Wirkungsungerichtetheit“ (Bopst 1987, S. 121). Bei herum in konkret-räumlicher Bedeutung ist das Merkmal der Sprecherperspektive nicht ausgeprägt, aber eine räumliche Bedeutung im Sinne einer Kreis- oder Teil-Kreisbewegung nachweisbar; man vergleiche Bildungen wie herumdrehen, herumbinden, herumwickeln. In diesem Fall sind die Unterschiede zwischen Partikelverb, Doppelpartikelverb mit her und r-Partikelverb eher gering: vgl. die Formen: umdrehen, herumdrehen und rumdrehen. In der übertragenen Bedeutung von herum, die bei weitem die häufigste ist und die sich am besten mit „ziellos, ohne genaue Bestimmung“ (vgl. Bopst 1987, S. 135) beschreiben lässt, sieht man dann die Unterschiede ganz deutlich - die Unterschiede zur r-Partikel scheinen allerdings gering (dazu siehe unten); vgl.: (8) umdenken - herumdenken - rumdenken umbauen - herumbauen - rumbauen umblättern - herumblättern - rumblättern umhängen - herumhängen - rumhängen Maria Thurmair 322 Für die Mehrzahl der r-Partikeln, also für rauf, raus, rein, runter, rüber lässt sich aber auf jeden Fall die oben (in 2.2) genannte erste These halten, dass sie als neutralisierte Formen eine Lücke schließen, indem sie dazu dienen, in der Verbwortbildung rein räumlich-direktionale Bedeutung ohne Sprecherperspektive anzugeben. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum es dafür überhaupt Wortbildungen gibt, die (nur! ) diese einfache durchsichtige räumliche Bedeutung zum Ausdruck bringen - das widerspräche genau dem erforderlichen begrifflichen Mehrwert der Wortbildung (siehe Anm. 3): Eichinger (1989) hat ja gerade gezeigt, dass die Funktionalisierung ein ganz wesentliches festigendes Element bei der Verbpartikel-Bildung darstellt. Darauf möchte ich weiter unten (2.4) eingehen und dort versuchen nachzuweisen, dass r-Formen offensichtlich semantisch doch Mehrwert haben. Wenn man zunächst nur annimmt, dass r-Partikeln räumlich-direktionale Bedeutung tragen, dann läge mit ihnen eigentlich eine praktische Form vor. Nun gibt es aber eine stilistische Beschränkung: in allen konsultierten Wörterbüchern werden diese Formen als umgangssprachlich markiert; man lernt also, diese Formen nicht zu schreiben (wenigstens nicht in standardsprachlichen Texten) und muss als Schreibender eine parallele Vollform verwenden. Sicherlich ist es nicht adäquat, davon auszugehen, dass dies immer die her- Form ist, als deren Kürzung r-Formen ja häufig gesehen werden (vgl. Duden 1985, S. 332). In neueren Wörterbüchern, z.B. in Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, heißt es immerhin, die r-Partikeln seien Kurzformen für her + x und hin + x. Und das passt ja auch zur Semantik - wenn r-Partikeln wirklich Neutralisierung ausdrücken, dann können sie eben nicht nur für die her-Form stehen (außer nur diese existiert, wie bei rum und ran). Folgt man also den allgemeinen Stilregeln, muss man im nicht-umgangssprachlichen Register eine Vollform wählen - welche das ist, hängt vom Kontext ab. Kontext heißt hier genauer: Verbsemantik, Verbkonjugationsform (also personale Deixis) und/ oder sonstige lokale bzw. direktionale Angaben. Die Frage, ob her oder hin als so genannte Vollform von r eingesetzt werden muss, soll an einigen markanten Kontextsignalen gezeigt werden; in (9) dient die Verbsemantik als Signal: mit kommen ist die entsprechende Vollform immer her (also hereinkommen und heraufkommen) als Bewegung auf den Sprecher zu; in (10) dient die personale Deixis als Signal: ich als Signal für die Vollform hinüber, also vom Sprecher weg, er (in Ver- Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 323 bindung mit der Verbsemantik) eher zum Sprecher hin (also ‘herüber’) und sie kann beides sein. In (11) dienen die direktionalen Adverbialien als Signal: zu mir ist eine Zielangabe vom Sprecher weg, also ‘herüber’, während zu ihr und zum Nachbarn auf ‘hinüber’ deuten, aufgrund des angegebenen Ziels (vom Sprecher weg). (9) reingehen vs. reinkommen [ herein] raufgehen vs. raufkommen [ herein] (10) Ich muss rüber. / Ich grüße rüber. [ hinüber] Er grüßt rüber. [ herüber] / Sie müssen rüber. (11) Er schiebt das Glas zu mir rüber. [ herüber] Er schiebt das Glas zu ihr rüber. [ hinüber] Wir wollen rüber zum Nachbarn. [ hinüber] Nach diesem Prinzip lässt sich bei den meisten r-Partikeln die adäquate Sprecherperspektive rekonstruieren, da diese eben nicht nur in hin/ her ausgedrückt ist, sondern - wie gerade gezeigt - im gesamten Kontext angelegt ist. Dabei lässt sich auch zeigen, dass für manche r-Partikeln eine Variante die prototypische ist; so sind etwa rein-Formen in der überwiegenden Zahl korrekterweise durch hinein paraphrasierbar. Die prototypische Bedeutung ist dann bei r-Partikeln auch die, die kontextfrei am nächstliegenden ist. Wir haben also den Fall, dass r-Partikeln als Kurzformen zweier unterschiedlicher Vollformen gelten, bei denen die konkret adäquate nur aus den genannten Kontextmerkmalen erschließbar ist. Das heißt aber auch, selbst wenn r-Partikeln die Sprecherperspektive neutralisieren, ist diese im Allgemeinen rekonstruierbar! Es geht also mit den r-Partikeln nichts ‘verloren’ und sie wären - auch kontrastiv im Sinne einer Komplexitätsreduktion gesehen - eine praktische Ausdrucksmöglichkeit. Welche Bedeutung hat nun die stilistische Markiertheit dieser Formen? 2.3 Stilistische Aspekte der Verwendung von r-Partikeln Zweifellos lassen sich die r-Partikeln ohne Einschränkung im umgangssprachlichen Register (nach der Terminologie vieler Wörterbücher) verwenden. Vielleicht sollte man dies besser als ‘Sprache der Nähe’ (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994) charakterisisieren, was auch impliziert, dass nicht nur gesprochene Verwendungen gemeint sind, sondern auch geschriebene. In einer derartigen Sprache der Nähe können r-Partikeln uneingeschränkt verwendet Maria Thurmair 324 werden - an manchen Stellen sind die entsprechenden Vollformen im gleichen Register auch nicht wirklich ein Ersatz. Man vergleiche die folgenden Beispiele (bei denen bewusst Signale der Nähe gesetzt wurden) und entscheide, welche Verbpartikel adäquater ist: (12a) Der macht sich vielleicht an die Tussi heran/ ran. (12b) Da bin ich aber hereingefallen/ hineingefallen/ reingefallen. (12c) Nun halten Sie sich mal heran/ ran. (12d) Unsere Nachbarn können den ganzen Tag vor der Glotze herumhängen / rumhängen. (12e) Wer Hartz IV erhält, darf nicht nur herumgammeln/ rumgammeln. (12f) Ich zieh mir heute abend noch ein Video rein/ hinein/ herein. In derartigen Nähe-Registern ist die Verwendung der r-Partikeln stilistisch völlig adäquat; erwähnenswert ist vielleicht noch, dass sich die r-Partikeln - gerade ran und rum - häufig auch mit Verben verbinden, die selbst diesem Register angehören, man also die Registerzugehörigkeit nicht unbedingt nur oder überhaupt den r-Partikeln zuschreiben kann. Eine weitere nachweisbare Verwendung von r-Partikeln findet sich in konzeptionell mündlicher Sprache; also etwa Gesprochenes in literarischer Sprache oder literarische Sprache, die eher das Mündliche nachbildet (vgl. dazu ein Beispiel wie (13)) oder auch in Textsorten der neuen Kommunikationsformen (Chats, Diskussionsforen etc.): (13) Ich suche ihn in der Ruine, auf der Straße, höre ratatata, keuche zurück, lieg vorm Bunker. Bei den Füßen fängt es an, das Zittern, das Schütteln schleicht rauf, den Körper rauf, rüttelt, bis die Zähne klappern, bis mein Gesicht auf Grasbüschel auf Steine schlägt, ich weine ich schluchze weine hemmungslos will nicht mehr leben will nicht mehr warten auf ratatata auf ihn auf das was ich nicht kenne auf das Namenlose - sie zerren mich rein, setzen mich auf die Bank, sind sanft, verstehen, kennen das; ich spucke, weine, schüttle. (Knef, H.: Der geschenkte Gaul) Schon bei Texten wie diesen stellt sich die Frage, ob die verwendeten r-Formen wirklich alle ein spezielles Register anzeigen und auf das Nähe- Register beschränkt sind. Ich meine, dass dies nicht der Fall ist, und will dies an verschiedenen Verwendungen zeigen. Bei Gebrauch in konkret-räumlicher Bedeutung sind die r-Formen in der Regel auch ersetzbar - d.h., für ein angenommenes höheres Stilregister gibt es keine Ausdrucksprobleme. Inte- Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 325 ressanter sind also die Fälle, wo die r-Partikeln nicht einfach durch hinbzw. her-Formen ausgetauscht werden können. Denn dies wären dann genau die Verwendungen, bei denen r-Partikeln auch in einem neutralen standardsprachlichen Register adäquat wären oder werden könnten. 2.4 Lexikalisierte Verwendungen von r-Partikeln in einem standardsprachlichen Korpus Unter diesem Aspekt sind die lexikalisierten Verwendungen nun von besonderem Interesse. Um den Stilwert von r-Partikelverben herauszufinden, habe ich eine große Reihe von lexikalisierten Verwendungen überprüft. Untersucht wurde genauer das Vorkommen einer r-Partikel im Zusammenhang mit einem Verb und der entsprechenden Doppelpartikelvariante mit her bzw. hin im IDS-Korpus der geschriebenen Sprache, das im Wesentlichen Zeitungstexte 4 enthält. Die stilistische Argumentation ist dabei folgendermaßen: wenn in einem solchen unzweifelhaft standardsprachlichen und registerneutralen Textkorpus r-Partikelverben in einem gewissen Umfang vertreten sind, dann ist die umgangssprachliche Markierung vielleicht nicht mehr oder nicht mehr in jedem Fall adäquat. Denn das heißt ja, dass professionelle Schreiber trotz des Stilgebots auf die angeblich umgangssprachlichen Formen zurückgreifen, etwa, weil sie sie für üblicher halten oder weil sie sie für mit den so genannten Vollformen nicht austauschbar halten. Und damit wären wir beim zweiten Fall der möglichen Funktion von r-Partikeln (siehe oben 2.2.), dass nämlich die r-Partikeln einen neuen Aspekt in die Wortbildung mit ‘reinbringen’, etwa bei der Festigung von Bedeutungsnischen helfen. Das wäre dann genau der oben vermisste ‘begriffliche Mehrwert’. Analysiert wurden also lexikalisierte r-Partikelverben, die eine bestimmte semantische Nische bilden. Die untersuchten Verben stellen produktive Wortbildungsmuster dar (es wurden somit keine singulären Phraseologismen mit r-Verben untersucht, wie etwa zum Hals raushängen, sondern wirklich produktive r-Formen). In den meisten Fällen ist dabei die räumliche Bedeutung noch erkennbar - so wie ja bei den Partikelverben trotz Funktionalisie- 4 Die bei den Quellenangaben verwendeten Abkürzungen bedeuten: FR = Frankfurter Rundschau; GT = St. Galler Tagblatt; MM = Mannheimer Morgen; NKZ = Neue Kronenzeitung; SZ = Süddeutsche Zeitung; TT = Tiroler Tageszeitung; VN = Vorarlberger Nachrichten; ZT = Züricher Tagesanzeiger. Maria Thurmair 326 rung auch eine zugrundeliegende räumliche Bedeutung nachweisbar ist. Nun wäre ja schon die Verwendung dieser r-Formen in einer gewissen Häufung ein echtes Indiz dafür, dass zumindest bei diesen lexikalisierten Verwendungen die r-Formen als stilistisch neutral zu bezeichnen sind. (Das zeigt sich meines Erachtens auch an den Beispielen, bei denen die übliche Registercharakterisierung ‘umgangssprachlich’ o.Ä. nicht greift. Übrigens wurden Beispiele, die mündliche Rede nachbilden, Zitate, Interviews etc. bewusst ausgeklammert.) Um die angestrebte Argumentation zu festigen, wurden aber darüber hinaus noch die jeweiligen Verben in der vollen her-Form und der hin-Form in ihrer Frequenz analysiert. 2.4.1 Bildungen mit runter Bei den Formen mit (he)runter in der Bedeutung ‘monoton’ (etwa: herunterleiern/ runterleiern) machen die r-Partikeln nur knapp 20 % aus; allerdings zeigen die entsprechenden Beispiele (vgl. (14)), dass auch die Verwendung mit runter stilistisch als völlig neutral zu bewerten ist: (14) Die Kirchen streiken im ganzen „Heiligen Land“ und die Touristenführer versuchen sich in Improvisation. In die historischen Fakten und Zahlen, die sie ansonsten im Schlaf runterbeten können, müssen sie einen aktuellen Absatz einbauen, warum die meisten christlichen Gotteshäuser am Montag dichtbleiben. (FR, 23.11.1999) Die Verwendung runterfallen dagegen im Sinne von ‘nicht beachtet werden’ kommt im Korpus nur in der Form runterfallen vor und nicht als hinunterfallen oder herunterfallen: (15) Seine Fraktionskollegin Andrea Winkler fürchtete, daß Themen wie Lärm, Verkehr, Agenda 21, Ver- und Entsorgung künftig hinten runterfallen, weil die Zeit im Bauausschuß dafür nicht ausreiche. (FR, 24.04.1997) 2.4.2 Bildungen mit rein Bei den Formen mit ein lässt sich allgemein ein höherer Anteil von r-Partikeln feststellen. Für rein im Zusammenhang mit Falle, Betrug (also reinfallen und reinlegen) sieht die Verteilung so aus, dass zunächst die Formen von reinfallen gegenüber hineinfallen und hereinfallen knapp 20 % ausmachen. Der Anteil der Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 327 r-Partikelform (reinfallen) erhöht sich aber wesentlich dadurch, dass das Vorkommen von hineinfallen überwiegend die wörtliche Bedeutung aufweist (vgl. (17)), und bei den Formen hereinfallen ein auffallend hoher Anteil (über 70 %) aus Texten österreichischer und schweizerischer Zeitungen stammt. Reinfallen ist also auch in diesen Texten die Form der Wahl für die übertragene Bedeutung. (16) Konrad Kujau läßt grüßen. Wer auf Fälscher nicht reinfallen möchte, dem helfen im Museum gleich mehrere Apparaturen, die Echtheit des eigenen Papiergeldes zu überprüfen. (FR, 05.06.1999) (17) Auf dem Vorhof wird ein Förderband so eingestellt, dass die Tennisbälle in einen Harass, der an einem Traktor angebracht ist, hineinfallen können. (GT, 13.08.1998) Noch deutlicher wird dies bei der Nominalisierung Reinfall, die praktisch nur in dieser Form vorkommt. Für die Bedeutung von Reinfall gibt es meines Erachtens keinen wirklich adäquaten Ersatz. Dennoch wird dieses Wort im Langenscheidt Großwörterbuch etwa als ‘gesprochen’ markiert (mit den Paraphrasen ‘Enttäuschung’, ‘Mißerfolg’). Wenn - wie nachgewiesen - Reinfall nur in dieser Form verwendet wird, dann ist dies umgekehrt auch ein starkes Indiz dafür, dass das Verb reinfallen einen eigenständigen Status hat - eine Nominalisierung, bei der auch um lexikalisches Material gekürzt wird, wäre ausgesprochen merkwürdig (von hereinfallen zu Reinfall? ). Bei den Formen reinlegen/ hereinlegen und hineinlegen sind die Verhältnisse noch deutlicher: hineinlegen wird kaum in der übertragenen, sondern vor allem in der räumlich-direktionalen Bedeutung verwendet; zwischen reinlegen und hereinlegen ist das Verhältnis so, dass zu 60 % die r-Partikelformen auftreten. (18) „Welturaufführung“ versprach RTL. „Reingefallen! “ heisst die neue Sendung, in der Kinder Erwachsene reinlegen dürfen. (ZT, 30.12.1996) Ein in der Bedeutung ‘Einmischung’ zeigt ungefähr ein halbe/ halbe-Verhältnis von r-Partikel und Doppelpartikel, reinreden und hineinreden werden also etwa gleich häufig verwendet. Etwas weniger als die Hälfte der r-Partikelformen finden sich in der Bedeutungsnische ‘Investition’, also bei Formen wie hineinbuttern/ reinbuttern, hineinstecken/ reinstecken. Hier sind es knapp 40 % r-Partikelformen, wobei Maria Thurmair 328 auch da wiederum bei den Vollformen mit hinein der Anteil von Texten aus Österreich und der Schweiz sehr hoch ist. Bei den wenigen Belegen von hineinstecken in bundesdeutschen Zeitungen finden sich wiederum auffallend viele Verwendungen in wörtlicher Bedeutung: (19) Doch beim „Platterhof“ ist es mit einem Facelifting nicht getan. Von 50 bis 100 Millionen Mark, die einer reinstecken müßte, spricht Wolfgang Illner. (FR, 27.12.1997) (20) Bei Investitionen kann die Stadt zu wenig Eigenkapital reinbuttern. (FR, 18.05.1999) Ein ziemlich deutliches Verhältnis zugunsten der Verwendung der r-Partikelverben zeigen auch die Verben in der semantischen Nische ‘angestrengt arbeiten’; also sich hineinhängen bzw. sich reinhängen und sich hineinknien bzw. reinknien: Hier treten nur die Formen reinhängen mit fast 90 % der Verwendungen und hineinhängen mit den anderen 10 % auf; wobei von diesen über 70 % wiederum aus österreichischen bzw. schweizerischen Zeitungen stammen; bei hineinhängen in bundesdeutschen Zeitungen ist überdurchschnittlich oft die konkret-räumliche Bedeutung gemeint (vgl. (23)). (21) Voller Erstaunen wird von manchen Betrachtern andererseits zur Kenntnis genommen, daß abstiegsbedrohte oder schon abgestiegene Klubs sich noch einmal richtig reinhängen ins Spiel anstatt den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen [...]. (FR, 05.05.1997) (22) Junge Helfer, die sich derart reinknien wie ihre Vorgänger, gab es nicht ausreichend viele. (MM, 21.07.1999) (23) Glas, Stahl, Wörter. Manchmal Farbe. Wahrscheinlich kann man in die Problemräume des Heidelberger Kunstvereins hineinhängen oder -stellen, was man will. (MM, 11.05.2000) 2.4.3 Bildungen mit ran Bei den lexikalisierten Formen mit ran sind die Verhältnisse ebenfalls eindeutig zugunsten der r-Partikel: das Verb ranhalten hat keine Variante heranhalten im Korpus, genauso rankriegen und ranmüssen; nur bei ranmachen gibt es eine Reihe von Belegen mit der Variante heranmachen, davon allerdings 75 % wiederum in Texten aus Österreich und der Schweiz. Die Bildungen mit ran erhalten allerdings aufgrund der Basisverben ihre Registermarkierung. Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 329 (24) Im Vergleich zum Vorjahr gibt es jedoch insgesamt rund 58 000 Plätze weniger. Da müssen sich die Arbeitgeberverbände ganz schön ranhalten, wollen sie beim nächsten „Bilanzgespräch“ Ende September einen spürbaren Erfolg vermelden. (MM, 16.06.1995) (25) [...],weil sein bester Freund sich auch an Katharina ranmachen wollte. (MM, 14.01.2002) (26) Ebenfalls gegen das italienische Spitzenteam ran muss Gastgeber Post Bregenz um 17.30 Uhr. (VN, 15.01.2000) (27) Einmal im Jahr muss jeder Minister ran: dann trifft er in einem Separee des Finanzministeriums auf Kurt Faltlhauser. (SZ 06.06.06) 2.4.4 Bildungen mit raus Raus in der Bedeutung ‘jemanden irgendwo entfernen’ tritt vor allem mit den Verben werfen und schmeißen auf. Bei rausschmeißen liegt das Vorkommen der r-Partikel bei 81 %, bei rauswerfen finden sich immerhin noch 40 % r-Formen gegenüber hinauswerfen und vereinzeltem Vorkommen von herauswerfen. Die Form rausschmeißen ist natürlich aufgrund des Basisverbs zu Recht als umgangssprachlich einzustufen. (28) Sie würden die „Fundi-Linken“ offensichtlich am liebsten aus der Partei rauswerfen. (SN, 02.07.1999) Ein deutlicheres Übergewicht findet sich dann auch bei den Nominalisierungen: Rauswurf ist mit 72 % die bevorzugte Form (gegenüber Hinauswurf) und ebenso Rausschmeißer mit 95 %. 2.4.5 Bildungen mit rüber Bei Bildungen mit rüber in der Bedeutungsnische ‘Gedanken, Gefühle etc. vermitteln’ (also etwas rüberbringen, rüberkommen etc.) machen die Formen mit r-Partikel über 80 % für rüberbringen und fast 80 % bei rüberkommen aus; vgl.: (29) Was der CDU-Chef zu sagen hat, überrascht niemanden. Er kündigt seinen Rücktritt an; er bedauert, daß die Union ihre Positionen nicht richtig habe rüberbringen können. (FR, 28.09.1998) Maria Thurmair 330 (30) Die Begierde will noch nicht so rüberkommen [...]. Meilenweit entfernt ist auch die Lust der Darsteller auf Freiluft- Liebeleien. Die im Drehbuch angeordnete Begierde will bei den Proben nicht rüberkommen. (FR, 28.06.1997) In diesen Fällen ist die Verwendung einer Vollform, es müsste wohl hinüberbringen und herüberkommen sein, meines Erachtens stilistisch nicht unbedingt adäquat. Für die Verwendung im Sinne von ‘Wissen, Ideen etc. rüberbringen’, ist es noch möglich, alternativ von ‘vermitteln’ zu sprechen - bei Verwendungen wie ‘Gefühl, feeling rüberbringen’ geht das nicht mehr. Statt dessen muss man meines Erachtens das Verb rüberkommen einsetzen; hier wäre also eine echte semantische Lücke für die Standardsprache, wenn man davon ausgeht, dass r-Partikeln nur umgangssprachlich adäquat sind. Demgegenüber wird wieder die Vollform hinüberbringen (Vorkommen ca. 11 %) im wörtlichen, also im räumlich-direktionalen Sinne verstanden: Das belegt (31); Beispiel (32) ist insofern ebenfalls interessant, als hier zwar die übertragene Bedeutung gemeint ist, dies meines Erachtens aber etwas merkwürdig klingt, weil sich leicht eine konkret direktionale Interpretation einstellt. (31) Die Kleintierzüchter können ihre Tiere direkt von den Stallungen in den Ausstellungsraum hinüberbringen. (MM, 21.10.1998) (32) Die Bewerbung mit Klagenfurt habe nämlich international eine gute Chance. Wallner: „Jeder hat eine Chance! Wir müssen nur vor allem die Idee der Völkerverständigung hinüberbringen.“ (NKZ, 13.12.1997) Die gleiche Systematik gilt für rüberkommen: in übertragener Bedeutung wird vor allem die r-Partikel verwendet, für die direktionale Bedeutung eher die Vollform herüberkommen. Eine weitere Bedeutungsnische bildet die Form rüber in Verbindung mit Grenzüberschreitungen, also rübermachen/ rübergehen/ rüberkommen; hauptsächlich war damit die Grenze Ostdeutschland-Westdeutschland gemeint, aber nicht ausschließlich. In der Kombination von rüber und machen findet sich in meinem Korpus kein einziger Beleg mit hin oder her. (33) Wegen der Bauarbeiten für zahlreiche Abgeordneten-Büros wurde die Dorotheenstraße, eine wichtige Ost-West-Verbindung, geschlossen. Wer jetzt rübermachen will mit dem Auto, darf die Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 331 deutsche Einheit direkt unter ihrem wichtigsten Symbol erfahren, und zwar auf zwei Fahrspuren und mit zehn Kilometern pro Stunde. (FR, 11.03.1998) (34) Die Stadt hätte gern einen gehabt, aber auf der kleinen Anhöhe außerhalb fehlten ihr ein paar Quadratmeter. Die gehörten „Edel- Lauschaern“ - Leuten, die in den fünfziger Jahren „rübergemacht“ waren. (FR, 14.02.1998) Rüber in der Kombination mit gehen ist ebenfalls weitgehend in der Form mit r-Partikel üblich, wenn es sich um die Grenzüberschreitung handelt; dass Geh(t) doch rüber! fast ein geflügeltes Wort ist, zeigt folgender Beleg (35): (35) Mit kaum verhohlenem Entsetzen quittierte der ungarische Regierungschef Gyula Horn den Vorschlag Meciars zur Aussiedlung von Ungarn aus der Slowakei nach dem Motto „Geht doch rüber, wenn's Euch hier nicht paßt“. (FR, 17.12.1997) Verwendungen der Vollform hinübergehen, die ebenfalls auftreten, sind wiederum fast immer in der Bedeutung ‘sterben’ gemeint. Hier hat man also eine klare semantische Differenzierung zischen rübergehen und hinübergehen. Bei dieser semantischen Nische mit der Bedeutung ‘sterben’ (vgl. auch hinüberdämmern, hinüberschlafen, hinüberschlummern) ist nach meinem Sprachgefühl tatsächlich die r-Form inadäquat, auch in einem Nähe-Register. 2.4.6 Bildungen mit rum Rum nimmt aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung ein: zum einen gibt es standardsprachlich als Vollform nur die Form herum; das Einsetzen der Vollform ist somit relativ unproblematisch, zum anderen hat bereits die Form herum in der Mehrzahl ihrer Verwendungen eine übertragene Bedeutung, die mit „ziellos, ohne genaue Bestimmung“ (Bopst 1987, S. 135) beschrieben werden kann. Deshalb kann herum auch mit echten Zustandsverben kombiniert werden, wie in herumsitzen, herumliegen, herumdenken etc. Die Bedeutung von rum ist demgegenüber kaum verschieden. Allerdings lassen sich trotzdem Verben finden, bei denen mindestens die eine oder die andere Form üblicher ist. Ein Hinweis darauf sind Wörterbuch-Einträge: Zum einen ist interessant, welche Verben mit ‘rum’ überhaupt als eigener Eintrag geführt werden: im Großen Duden-Wörterbuch sind dies etwa rumballern, rumficken, rumflachsen, rumgammeln, rumhaben, rumhampeln, rumhängen, rumkalbern, rumlabern, rumlatschen, rumludern, rummachen, Maria Thurmair 332 rumschmeißen, rumständern, rumvögeln, rumwürgen und bei Klappenbach/ Steinitz: rumbummeln, rumfummeln, rumkommen, rumkrebsen, rumschlagen, rumschleppen, rumsitzen, rumstehen, rumstromern, rumtreiben (nach Bopst 1987, S. 166). Hier zeigt sich deutlich, dass einige Verben dabei sind, die selbst ganz klar alltagssprachlich sind. Aufschlussreich für den Unterschied zwischen rum und herum sind aber auch Wörterbuch-Einträge, bei denen rum- und herum-Form offensichtlich nicht austauschbar sind - also Bedeutungsveränderung vorliegt. Vgl.: rumhängen: 1) ohne sinnvolle Beschäftigung sein 2) sich irgendwo ohne eigentlichen Grund, zum bloßen Zeitvertreib aufhalten: In dieser Disko hängt er öfter rum. 3) herumhängen (1) herumhängen: 1) unordentlich irgendwo aufgehängt sein 2) rumhängen (1) (Duden 1989) Während bei rumhängen und herumhängen eine Bedeutungsverschiebung im Wörterbuch deutlich wird, ist etwa rumhaben lemmatisiert, herumhaben nicht, genauso rummachen, aber herummachen nur mit Verweis auf rummachen. Ein möglicher generalisierbarer Unterschied zwischen rum und herum liegt tendenziell darin, dass rum noch konsequenter die Bedeutung ‘ziellos’, ‘planlos’ trägt. Man könnte also durchaus auch bei rum von einer eigenen Form sprechen, allerdings sind die Verhältnisse im analysierten Korpus nicht so offensichtlich: rumhängen und herumhängen sind etwa gleich häufig vertreten, rumtreiben und Rumtreiber tritt aber gegenüber herumtreiben und Herumtreiber deutlich zurück (mit nur etwa 10 % der Verwendungen). Ich glaube, dass - abgesehen von der Tatsache, dass sich rum ohnehin häufig mit Verben verbindet, die nicht ganz dem standardsprachlichen Register angehören - bei rum das Stilgebot leichter umgesetzt wird, weil es eben nur eine Vollform gibt. Als Ergebnis der Korpusanalyse lässt sich festhalten, dass bei diesen lexikalisierten Verwendungen in vielen Fällen (in unterschiedlich hohem Maße) die r-Partikel auch in dem untersuchten stilistisch neutralen Register die gebräuchlichere ist. Damit wäre eine Markierung wie ‘ugs.’ oder ‘gesprochen’ für diese Fälle nicht adäquat. Weiter ist deutlich geworden, dass auftretende Vollformen mit hin oder her dann erstens oft klar regional sind Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 333 (nämlich schweizerisches oder österreichisches Deutsch) oder in wörtlicher, d.h. räumlich-direktionaler Bedeutung vorliegen bzw. diese in der Vollform deutlich anklingt. Die r-Partikeln helfen somit, lexikalisierte, übertragene Bedeutungen zu festigen. 2.5 r-Partikeln in Koordinationskontexten Ein weiterer kontextsensibler Bereich für das Auftreten der r-Partikeln und die Austauschbarkeit oder Nicht-Austauschbarkeit mit entsprechenden Vollformen sind Kombinationen verschiedener Formen. Bei meiner Korpusanalyse habe ich als Kombinationen Doppelpartikeln mit veränderter Sprecherperspektive nur für über gefunden: also hinüber und herüber (mit Akzentverschiebung) wie in: (36) Die Alten belegen mit eindrucksvollen Bildern, dass 1929 sogar die Eisschollen auf dem Rhein zusammenwuchsen, man zu Fuß hinüber und herüber gehen konnte. (MM, 22.01.2002) Alle anderen Partikeln treten nicht in solchen Kombinationen auf. Das hat natürlich etwas mit der Dimension zu tun: im Falle von auf und ab/ unter und ein und aus existieren ja zwei verschiedene Lexeme, um die Dimension zu bezeichnen; folglich müssen hin und her nicht zum Kontrast genutzt werden. In Fällen wie oben (36) hinüber und herüber ist natürlich Ersatz durch rüber nicht möglich. Weitere Kombinationen wären die Verbindungen von Präpositionen mit entgegengesetzter Bedeutung in der gleichen Dimension (also z.B. aus und ein oder auf und ab/ unter) mit ein und derselben Sprecherbezeichnung, also beispielsweise die Kombination hinauf und hinunter oder hinauf und hinab. Hier ist es so, dass - bezogen auf die Sprecherperspektive - diese Kombination dann adäquat verwendet wird, wenn dimensionale Bewegungen an verschiedenen Objekten bezeichnet werden: also „die Hügel hinauf und hinunter“ (wie in (37)) oder der Sprecherstandpunkt liegt in der Mitte wie in (38). Problematisch wird die Verwendung solcher gegenläufiger Präpositionen mit derselben Partikel hin bzw. her, wenn Bewegung ein und derselben Person an ein und demselben Objekt angezeigt wird wie in (39)/ (40): (37) Wir sagen unterwegs so und so oft, gerade die augenblickliche Wanderung sei die schönste. Persönlich gehe ich gerne „hinauf und hinunter“, bevorzugte Gebiete sind daher [...]. (GT, 26.04.1997) Maria Thurmair 334 (38) Unten sicherte sein Sohn [...]. Irgendwann, für seine Verhältnisse ziemlich weit oben, machte er den Fehler, hinauf und hinunter zu schauen. (ZT, 08.03.1997) (39) Ich lief die Treppe hinauf und hinunter. (40) Schließlich riss Eros seinen Ohrhörer samt Kabel heraus, fummelte ihn später wieder hinein und hinaus. (MM, 23.10.2001) An den angeführten Beispielen, insbesondere bei hinein und hinaus, das häufig inadäquat ist (vgl. (40)), sieht man deutlich, wie komplex die richtige Verwendung in der Kombination ist. Eher angebracht sind dann Kombinationen wie hinauf und herunter; hinein und heraus, bei denen sich auch die Bezeichnung des Sprecherstandpunktes ändert: (41) Der russische Pianist Boris Petrushansky sekundierte ihm getreulich und donnerte die Läufe der B-Dur-Sonate KV 378 hinauf und herunter, als sei es später Rachmaninow. (MM, 07.05.2002) (42) So stolpert das Europa-Park-Maskottchen ziemlich unbeholfen auf der Bühne herum und muss sich für seine kurzen Präsenzzeiten auf der Bühne herauf- und hinunterführen lassen. (GT, 26.07.1997) (43) Der Kläger mokierte sich über die „Zirkelei“, die nötig sei, um in seine Garage hinein und heraus zu fahren. (MM, 14.02.2002) Am einfachsten (und entsprechend häufig) sind bei diesen Kombinationen nun aber die r-Formen, da sie die Wahl der adäquaten Bezeichnung des Sprecherstandpunktes überflüssig machen. Im untersuchten Korpus sind erwartungsgemäß die r-Partikeln in diesen Kombinationskontexten auffallend häufig - hier greifen offensichtlich die stilistischen Vorbehalte am wenigsten; vgl.: (44) Wirtschaftsminister Schommer glaubt an den AMD-Konzern, dessen Aktie in den vergangenen Jahren rauf und runter ging wie ein Korken auf hoher See. (FR, 10.01.1998) (45) Information war also nicht zu erwarten. [...]. Diese Antworten kann inzwischen jeder Journalist rauf- und runterbeten, dazu braucht man den Gesprächspartner Kohl nicht. (FR, 23.04.1998) (46) Die Schiebetür, die bei den beiden Pkw-Modellen „Vogue“ und „Multispace“ im Serienumfang enthalten ist, läuft auf einer clever unter dem hinteren Seitenfenster versteckten Mittelschiene [...] da kommt man mühelos rein und raus. (TT, 13.03.1999) Die r-Partikeln im System der verbalen Wortbildung 335 3. Zusammenfassung r-Partikeln sind eigenständige Wortbildungs-Morpheme: dies nicht nur hinsichtlich der Neutralisierung, sondern indem sie auch eigenständige semantische Nischen ausbilden - insofern als dass in übertragener, lexikalisierter Bedeutung die r-Partikel oft die angemessenere ist. Bestimmte r-Partikeln sind stilistisch neutral: das gilt für rein, raus, runter, rüber vor allem in übertragener, lexikalisierter Bedeutung und in Kombinationen. Ran und rum entwickeln zwar gegenüber den Vollformen heran und herum ebenfalls eigene semantische Ausprägungen, verbinden sich aber ohnehin eher mit Verben, die einem umgangssprachlichen Register angehören. 4. Literatur Barz, Irmhild (2005): Die Wortbildung. In: Duden (2005), S. 641-772. Bopst, Hans-Joachim (1987): UM und HERUM . Eine syntaktisch-semantische Untersuchung zur deutschen Gegenwartssprache. München. Duden (1985): Duden. Bd. 9: Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden- DUW = Duden (1989): Duden - Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. und bearb. v. Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion. 2., völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden (2005): Duden. Bd. 4: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. v. d. Dudenredaktion. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Eichinger, Ludwig M. (1980): Wandel und Struktur des Systems der Richtungsadverbien in der deutschen Standardsprache und in einem mittelbairischen Dialekt. In: Rowley, Anthony (Hg.): Sprachliche Orientierung I. Untersuchungen zur Morphologie und Semantik der Richtungsadverbien in oberdeutschen Mundarten. (= Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft: Dialektologie, Bd. 1). Bayreuth, S. 17-36. Eichinger, Ludwig M. (1982): Zum Ausdruck lokaler und temporaler Relationen in der verbalen Wortbildung. In: Eichinger (Hg.), S. 51-79. Eichinger, Ludwig M. (1989): Raum und Zeit im Verbwortschatz des Deutschen. Tübingen. Eichinger, Ludwig M. (Hg.) (1982): Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg. Fandrych, Christian/ Thurmair, Maria (1994): Ein Interpretationsmodell für Nominalkomposita: linguistische und didaktische Überlegungen. In: Deutsch als Fremdsprache 31, S. 34-45. Maria Thurmair 336 Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1992): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Götz, Dieter/ Haensch, Günther/ Wellmann, Hans (Hg.) (1993): Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ München/ Wien/ Zürich/ New York. Harnisch, Karl-Rüdiger (1982): „Doppelpartikelverben“ als Gegenstand der Wortbildungslehre und Richtungsadverbien als Präpositionen. Ein syntaktischer Versuch. In: Eichinger (Hg.), S. 107-133. Hinderling, Robert (1982): Konkurrenz und Opposition in der verbalen Wortbildung. In: Eichinger (Hg.), S. 81-106. Kempcke, Günther (2000): Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ New York. Knef, Hildegard (1970): Der geschenkte Gaul. Wien. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Hartmut/ Ludwig, Otto (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbbd. Berlin/ New York, S. 587-604. Latzel, Sigbert (1979): Der Gebrauch von ‘hin’ und ‘her’ im heutigen Deutsch. München. Motsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Schlotthauer, Susan/ Zifonun, Gisela (in diesem Band): Zwischen Wortbildung und Syntax: Die ‘Wortigkeit’ von Partikelverben/ Präverbfügungen in sprachvergleichender Perspektive. Weinrich, Harald (2003): Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair/ Eva Breindl/ Eva-Maria Willkop. Hildesheim . Wotjak, Gerd (1997): (He)Rein - (he)raus, hinauf/ herauf - hinunter/ herunter. Bedenkliches und Bedenkenswertes zur Konzeptionalisierung und Sememisierung von FORTBEWEGUNG im Deutschen, Französischen und Spanischen. In: Wotjak, Gerd (Hg): Studien zum romanisch-deutschen und innerromanischen Sprachvergleich. Frankfurt a.M., S. 311-330. Maria Wirf Naro Über das Zerpflücken von Komposita. Semantische Beziehungen im komplexen Wort Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Gedichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kalter Logik, Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muß gesagt werden, daß nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht. Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebensfähig und können die eingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört ein Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werden kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren. Ein Gedicht verschlingt manchmal sehr wenig Arbeit und verträgt manchmal sehr viel. Der Laie vergißt, wenn er Gedichte für unnahbar hält, daß der Lyriker zwar mit ihm jene leichten Stimmungen, die er haben kann, teilen mag, daß aber ihre Formulierung in einem Gedicht ein Arbeitsvorgang ist und das Gedicht eben etwas zum Verweilen gebrachtes Flüchtiges ist, also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles. Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön. (Brecht 1971, S. 123) Ich vermag Brecht nicht in allem zu folgen. „Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.“ Bestimmt - aber zum Schluss hat man keine Rose mehr. Zumindest keine schöne. Das Kompositum jedoch bleibt bei der semantischen Sezierung intakt. Gewiss will der Autor, der anstatt der analytischsyntaktischen Darstellung die Benennung wählt, seinem Leser mit der Einheit des komplexen Wortes eher eine holistische Erfahrung bereiten - und diese ist im Falle des Kompositums wieder hergestellt, sobald die Einzelheiten der Zergliederung in den Hintergrund treten. 1. Ansätze zur Deutung des Kompositums Das deutsche Kompositum entsteht aus der Verschmelzung von „zwei (oder mehreren) leicht identifizierbaren ‘autonomen’ lexikalischen Einheiten“ (Ortner/ Ortner 1984, S. 28; vgl. Fleischer/ Barz 1995, S. 87ff.). Von wenigen Typen grafisch unverbundener Komposita (wie Lehrer Lampe) und den zah- Maria Wirf Naro 338 lenmäßig relativ ungewichtigen Kopulativkomposita (wie Hemdbluse) abgesehen, sind seine Konstituenten A und B in der Abfolge Determinans - Determinatum nebeneinandergesetzt, unmittelbar oder von einem Fugenelement ohne eigentlichen Zeichencharakter, d.h. ohne klare semantische Funktion, verbunden. Die logisch-semantischen Beziehungen, die sich innerhalb dieser Determinativstruktur ergeben, sind äußerst vielgestaltig - man denke an Heringers Beispiel Fischfrau (Heringer 1984, S. 2). Sie sind nur herleitbar aus einerseits der Semantik der Kompositumskonstituenten und andererseits dem enzyklopädischen Wissen um die Beziehungen, die sich zwischen den von ihnen benannten Größen in der Realität ergeben können. Diese Beziehungen führt man z.B. zurück auf syntaktische Tiefenstrukturen (Kastovsky 1982; Kürschner 1974; Olsen 1986; Thiel 1973) oder erläutert sie mittels syntaktischer Paraphrasen (Duden 1998; Ortner/ Müller-Bollhagen et al. 1991; Ortner/ Ortner 1984; Wilss 1986). In einem kognitiven Ansatz erklärt Rickheit (1993) die meisten nominalen Komposita dadurch, dass das Wortkonzept des einen Konstituenten - bestimmt durch wenige globale Kategorien und diesen untergeordnete Eigenschaften - das Wortkonzept des anderen Konstituenten präzisiert (vgl. Eichinger 2000a, S. 118ff.). Motsch deutet das (nicht kontextbestimmte) binominale Kompositum als eine Prädikat-Argumentstruktur, die gegebenenfalls im Rückgriff auf ein allgemeines, kompositionsextern angesetztes Prädikat zu erstellen ist (Motsch 2004, S. 393ff.). Lexikalische Interpretationen wiederum basieren auf einer semantischen Analyse der zusammengesetzten Lexeme, die auch stereotype und kontextuelle Elemente berücksichtigt (Eichinger 1995; Eichinger 2000a, S. 117ff.; Eichinger 2000b; Handler 1993). Im Hinblick auf das einzelne Kompositum - vor allem das text- und sprachbewusst kreierte - kann eine solche lexikalische Deutung in Anwendung der Kategorien der interpretativen Semantik Rastiers (1987) strukturiert werden. 2. Eine interpretative Semantik In Rastiers sémantique interprétative erscheint das Semem als flexible Struktur aus generischen und spezifischen Semen: generischen Semen, die die Lexeme einer Bezugsgruppe teilen, und spezifischen Semen, die sie zueinander in Opposition setzen. Sowohl die einen wie die anderen können inhärenter Natur und also distinktiven Werts und im Sprachsystem kodifiziert sein; oder aber affärenter Qualität, d.h. nicht distinktiv im Oppositionengeflecht des Sprachsystems, aber anderen sozialen Normen oder ko- und Über das Zerpflücken von Komposita 339 kontextuellen Bedingungen unterworfen. Es können sich alle vier Kombinationen von Semqualitäten ergeben. Das Semem als Ganzes ist zu verstehen als eine komplexe und fluktuierende Struktur solcher Seme, denn je nach Bezugsgruppe, Kotext und soziokulturellem Kontext verschieben sich die Zuordnungen und die möglichen Berührungspunkte zwischen Sememen. Auf Textebene erwächst Kohärenz aus Isotopie, d.h. der absichtsvollen Rekurrenz bestimmter Seme in der syntagmatischen Linearität (Rastier 1987, S. 40ff., 94ff.). Nun ist das Kompositum kein Syntagma, aber mehr als ein einzelnes Wort und seine semantische Konfiguration lässt sich mit den Rastierschen Kategorien auf der Basis der Isotopie deuten: zwischen den Kompositionskonstituenten A und B bestehen Isotopiebeziehungen, die jeweils ein (oder mehr als ein) Sem von A und B oder aber das Gesamtsemem A oder B und ein (oder mehr als ein) Sem von B bzw. A betreffen. Diese Teilidentität erlaubt die Fusion von A und B in einem neuen Semem C, das dem Kompositum entspricht (Wirf Naro 1998). Einige Beispiele solcher Semlegierungen, die gleichermaßen ausgehen können von inhärenten wie affärenten, spezifischen wie generischen Semen, die unterschiedlich stark im Kontext wurzeln und in diverser Stärke und Form auf diesen zurückwirken können, sind im Folgenden dargestellt. 3. Isotopie zwischen einem generischen inhärenten Sem und einem Semem Bei Hans Lebert, in „Die Wolfshaut“, erscheint das Kompositum Tanzunterhaltung: Obwohl es ein Samstag war und in der ‘Traube’ sogar eine Tanzunterhaltung statttfinden sollte, gab es doch keinen Grund, von ihm zu erwarten, dass er den lähmenden Ring der Eintönigkeit, den Ring aus Ackerbau und Viehzucht, kahlen Wäldern und braunen Erdwellen, der sich, wenn es dem Ende des Jahres zugeht, besonders eng um unsere Ortschaft legt, mit etwas Ungewöhnlichem durchbrechen werde. (Lebert 1993, S. 9) Im Hinblick auf Tanz in der hier aktualisierten Bedeutung ‘Veranstaltung, auf der getanzt wird’ (vgl. Duden 1996) ist / Unterhaltung/ das psycholinguistisch gesehen wohl dominante inhärente generische Sem. Die Isotopie wird also erstellt zwischen dem Gesamtsemem ‘Tanz’ und einem ihm inhärenten generischen Sem. Von Unterhaltung aus gesehen, stellt / Tanz/ eine der Spezifizierungen dar, von denen diejenigen Wirklichkeitsausschnitte, die unter Maria Wirf Naro 340 dem Konzept ‘Unterhaltung’ im Sinne von ‘unterhaltsame Veranstaltung’ subsumiert werden können, mindestens eine obligatorisch realisieren: zum Übergang in die Realität ist diese Konkretion Voraussetzung. So gesehen, mutet diese Form der Benennung mit ihrem abstrakten Oberbegriff und dem Determinans, das diesen im Konkreten verankert, fast wissenschaftlich analytisch an. Doch andererseits ist in der hier realisierten Verwendung von Tanz die Bedeutung ‘Unterhaltung’ bereits inhärent enthalten. Wohl stützen A und B die Aktivierung der treffenden Verwendung im jeweils anderen Element, doch der Kontext (Samstag, in der Gaststätte) nimmt auch dieser Desambiguisierung jede Notwendigkeit. Worin besteht also der semantische Zugewinn im Kompositum? Ein Sem ist in beiden Kompositumsbestandteilen vertreten und also besonders hervorgehoben: es handelt sich um etwas Veranstaltetes, d.h. Organisiertes. Und die unterhaltsamen und geselligen Qualitäten des Tanzes, die für viele wohl zu seiner spezifischen und stereotypen Affärenz gehören, werden im Kompositum, kraft des B-Elements, zur Inhärenz erhoben. Und schließlich ergreift die Markiertheit als veraltend, die diese Verwendung von Unterhaltung betrifft, das pleonastische Gesamtgebilde in verstärkter Form und strahlt staubig aus auf das Ereignis an sich und seine Veranstalter in der Gaststätte Traube, deren Ankündigung des Ereignisses man hier imitiert zu hören glaubt. 4. Isotopie zwischen einem zentralen generischen inhärenten Sem und einem Semem Von Walzertänzen spricht in Heinrich Bölls „Der Zug war pünktlich“ der Protagonist, ein junger Soldat auf dem Weg an die Front: Das ist alles in Lemberg, was ich hier tue, denkt er, in einem k.u.k.-Haus, in einem alten, halbzerfallenen k.u.k.-Haus, in einem großen Saal in diesem Haus, wo sie Feste gefeiert haben, große, schöne Feste mit Walzertänzen, noch vor […] neunundzwanzig Jahren, vor neunundzwanzig Jahren war noch kein Krieg. […] Da haben sie Feste gefeiert damals … Walzer getanzt, wunderbare Walzer, und haben sich zugelächelt, getanzt … und draußen, in dem großen Garten haben sie sich geküsst, die Leutnants mit den Mädchen … (Böll 1974-85 [1987], Bd. I, S. 315ff.) Dudens „Universalwörterbuch“ (Duden 1996) gibt für Walzer die Erstbedeutung „Tanz im ¾-Takt, bei dem sich die Paare im Walzerschritt (sich rechtsherum um sich selbst drehend) bewegen“ und erst in zweiter Position die Über das Zerpflücken von Komposita 341 Bedeutungsvariante „Instrumentalstück in der Art eines Walzers“. Das bedeutet, dass im Kompositum das für den Durchschnittsrezipienten wohl dominante und zentrale generische inhärente Merkmal des Konstituenten A durch B noch einmal explizit benannt wird. Und dies ohne Not, da der Kontext - Saal, Fest, feiern - auch eher zur Aktivierung der Variante ‘Tanz’ als der der Deutung ‘Instrumentalstück’ drängt. Was geschieht im Sememkomplex C aus A und B? Indem B das generische inhärente Sem von A ein zweites Mal abdeckt, gewinnen seine spezifischen Merkmale - / im Dreivierteltakt/ , / paarweise/ , / sich um sich selbst drehend/ - an relativem Gewicht und es wird vor allem ein Vakuum geschaffen, das der Füllung bedarf und daher den Leser zur Kreation von Affärenzen treibt. Geleitet durch den Kontext, aber auch als Echo vorausgegangener individueller Erfahrungen können dann spezifische affärente Seme aufsteigen wie / leicht/ und / leichtfertig/ , / operettenhaft verspielt/ , / gefühlsselig/ . Dazu entwirft die phonetische Wortform „Walzertänze“ mit ihren vier Silben - Hauptakzent auf der ersten, Nebenakzent auf der dritten Silbe ( Wal·zer tän·ze) - ein Lautbild, das dem Dreivierteltakt nahe kommt; und auf semantischer Ebene ist das tautologische Gesamtzeichen Ikone für Überfluss und sozusagen volantreiche Überladenheit. Diese affärente ‘Zugabe’ des Rezipienten ist wohl auch die beabsichtigte, denn sie wird zwei Seiten später durch den Kontext bestätigt: Und sie verlassen das k.u.k.-Haus, den k.u.k.-Vorgarten, und Andreas blickt noch einmal diese zerbröckelte Fassade an, Walzerfassade, ehe sie in die Taxe steigen […] weg. (Böll 1974-85 [1987], Bd. I, S. 317) Walzer und Fassade im Sinne von ‘Vorderseite eines Gebäudes’ kommen aus so unterschiedlichen Realitätsbereichen, dass sich Walzerfassade kaum anders als im Rückgriff auf die skizzierten Affärenzen deuten lässt. Ohne Determinans ist die Apposition nur locker an die besprochene physische Fassade gebunden, so dass einerseits diese als walzerhaft im beschriebenen Sinn empfunden werden kann, aber andererseits der Leser auch angeregt wird, in die semantischen Tiefen dieses überraschenden Kompositums mit vager Referenz zu tauchen. Alsbald stößt man auf die Bedeutung von Fassade als ‘äußeres Erscheinungsbild, das das eigentliche Wesen verbirgt’. Der Walzer in seiner beschriebenen extrovertierten Form erscheint als Instrument oder Bestandteil dieser Fassade, und wird im Kompositum selbst mit einer weiteren Affärenz / fassadenhaft/ , / falscher Schein/ infiziert: beiden gemeinsam ist, dass sie sich überlebt haben. Maria Wirf Naro 342 5. Isotopie zwischen Semem und generischem inhärenten Sem Ein besonders ausgeprägtes Beispiel für diese Konstellation liegt in Fällen wie Rheinfluss vor, wo das Kompositum ein Unikat und dessen dominantes mikrogenerisches inhärentes Sem verbindet. Wir finden bei Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“: Zu Köllen kam ich spätabends an, Da hörte ich rauschen den Rheinfluß, Da fächelte mich schon deutsche Luft, Da fühlt ich ihren Einfluß - Auf meinen Appetit. Ich aß Dort Eierkuchen mit Schinken, Und da er sehr gesalzen war, Musst ich auch Rheinwein trinken. (Heine 1961, Bd. I, S. 423) Nach den Kategorien von Ortner/ Müller-Bollhagen et al. (1991, S. 182ff.) handelt es sich um ein Identifikationskompositum, das das Einzelexemplar seiner Gruppe zuordnet, im Sinne von ‘der Rhein ist ein Fluss’. Das entspricht nicht gänzlich dem Informationswert des unverbundenen binominalen Kompositums parataktischer Struktur der Fluss Rhein (Schanen/ Confais 1986, S. 366ff.). Das Deutsche neigt dazu, thematische Information links, rhematische Information rechts vom Nomen einzubringen (Eichinger 2000b, S. 151); der Fluss Rhein entspräche also in etwa der Aussage ‘der Rhein, der, wie wir wissen, ein Fluss ist’. Der Rheinfluss dagegen bietet die kategorielle Einordnung in der Position der neuen Information. Wohl ist Rhein Eigenname, und seine inhaltliche Füllung geschieht mehr auf enzyklopädischer als linguistischer Ebene. Insofern könnte das Kompositum also einen Informationszuwachs darstellen gegenüber dem bloßen Namen: das Gesamtsemem Fluss ist eine etablierte, wohl definierte und allseits assimilierte Größe aus der Domäne der physischen Geografie; im Hinblick auf das Kompositionselement A stellt / Fluss/ das dominante mikrogenerische inhärente Sem von Rhein dar. Die Verwendung entsprechender Bezeichnungen auf alten Karten mag sich durch die dergestalt gelieferte Information erklären. Für den Adressaten des „Wintermärchens“ muss der Zugewinn auf anderer Ebene liegen, zumal Rhein in die Position bekannter Information gerückt ist, so dass Fluss vom Präzisionsgrad her einen Rückschritt darstellt. Die Wort- Über das Zerpflücken von Komposita 343 wucherung hat wiederum ikonischen Wert: einfaches Sprechen, selbst der verbriefte Name genügt nicht, um dieses besondere Weltelement in seinem vom Sprecher wahrgenommenen Reichtum zu bezeichnen. Deshalb wird eine neue, fülligere Benennung geschaffen, die den gängigen Bezeichnungsregeln zuwiderläuft, um rückwirkend das Bezeichnete selbst auf eine andere Ebene zu heben; weil die Form des ‘Sprechens über’ über das möglichst ökonomische Verweisen hinausgeht, kann sie auch mehr als die konkrete geografische Größe erreichen. Das (isotopierende) Sem / Fluss/ im Sememkomplex Rhein ist durch die Explizitierung, die B leistet, neutralisiert, so dass Platz geschaffen wird für weitere, inhärente oder affärente Elemente, die in den Leerraum gesogen werden: hier das sensuelle Erlebnis von Heimat, ein Gefühlsüberschuss von Patriotismus - der natürlich, ganz heinemäßig, schnell ironisch gebrochen wird. Dabei ist das Phänomen nicht nur älterer Sprache und metrischen Notwendigkeiten zuzuschreiben: in ungebundener Sprache und ähnlich gefühliger Absicht findet man z.B. bei Borchert Alsterbach und Elbestrom (Borchert 1991, S. 72) oder Elbstrom (Borchert 1991, S. 95). Auch über das literarische Sprechen reicht diese Spielart des Kompositums hinaus. Für ein Wort wie Bettmöbel z.B. findet Google eine erkleckliche Zahl von Beispielen wie Modernes Design in unterschiedlichster Ausführung machen das Wasserbett auch zu einem Bettmöbel, das sich sehen lassen kann. ( www.neureiter.at/ news/ newsitems/ news200304.htm , Stand: 3.2.2006, Seite November 2007 nicht mehr aufrufbar) und mit Bindestrich: Für unsere Bett-Möbel verwenden wir ausschließlich hochwertige einheimische Edelhölzer. ( www.kujawa-moebel.de/ bett-moebel.htm , Stand: 3.2.2006, Seite November 2007 nicht mehr aufrufbar) Dudens „Universalwörterbuch“ (Duden 1996) definiert zwar Bett in erster Linie als „Möbelstück zum Schlafen, Ausruhen o.Ä.“ und erst in zweiter Position als Kurzform für Federbett, doch zugegebenermaßen meinen wir mit Bett oft das gesamte Ruhelager, inklusive Kissen, Laken etc. Insofern stellt das Kompositum Bettmöbel eine gerechtfertigte Präzisierung dar. Aber andererseits wird in diesen Beispielen auch deutlich, dass / Möbel/ , generisches inhärentes Sem im Rahmen des Semems Bett, im Kompositum vereinzelt und verselbstständigt wird, um weitere inhärente und affärente Merkmale von Möbel als Gesamtsemem zu aktivieren: Seme wie / Einrichtungsgegenstand/ , / Design/ , / handwerkliches Produkt/ , / Verwirklichung eines Stils/ etc. Maria Wirf Naro 344 6. Isotopien zwischen Semem und spezifischem inhärenten Sem oder zwischen beiderseits spezifischen inhärenten Semen In gefühlvollem Sprechen ist dieses Kompositionsverfahren selbst in tautologischer Ausprägung vertreten. In Heines „Junge Leiden“ im „Buch der Lieder“ sieht der Dichter im Traum die Maid, die sein Totenkleid wäscht und für ihn zimmert. Schließlich deutet sie ihm ihr Tun: Da sprach sie schnell: „Die Zeit ist karg, Ich zimmre deinen Totensarg! “ Und als sie dies gesprochen kaum, Zerfloß das ganze Bild wie Schaum.- (Heine 1961, Bd. I, S. 55) Natürlich ist Totensarg kategoriell zu erklären als in B benanntes Artefakt, dessen Zweckgerichtetheit (als untergeordnete Qualität eines jeden Artefakts) von A expliziert wird. Aber ebenso natürlich greift diese Erklärung im Sinne von Rickheits kognitiver Wortsemantik zu kurz. Sarg wird in Dudens „Deutsches Universalwörterbuch“ (Duden 1996) definiert als „kastenförmiges, längliches Behältnis mit Deckel, in das ein Toter gelegt wird“. Im Wortfeld oder in der Domäne / / Behältnis/ / ist die / Bestattungsfunktion/ das zentrale spezifische inhärente Merkmal, das Sarg von anderen Behältern unterscheidet; dieses semantische Element zu vereinzeln und ein zweites Mal explizit zu versprachlichen, kommt einem emphatischen Pleonasmus gleich. Nachdem die Beobachtungen des Dichters sich in balladenhaftem Dreischritt von Eichenstamm über Eichenschrank zu Eichenschrein der grausigen Wahrheit genähert haben, markiert Totensarg die doppelte Setzung ohne Widerruf, den endgültigen Tod, nach dem der Traum abbricht. Viele durchsichtige Komposita können in der Semanalyse eine zusätzliche, wenn auch noch nicht die funktionell gesehen endgültige Interpretation erfahren. Als weitere Beispiele seien genannt Glockengebimmel und Mützenschirm in einer Passage aus Leberts „Wolfshaut“: Und als man Hans Höller drei Tage später begrub und das Glockengebimmel ängstlich über das Dorf flog, stand er auf dem Friedhof etwas abseits, an die alte, unkrautumwucherte Mauer gelehnt, und starrte über die Trauergäste hin- Über das Zerpflücken von Komposita 345 weg (über die triefenden Schirme, die triefenden Schultern und die schwarzen, von Regen und Tränen glitzernden Schleier) in irgendeine unbekannte Ferne, wo die Fäden, welche die Marionetten bewegten, in irgendeiner Hand zusammenliefen. Er schüttelte den Kopf, so daß ihm das Wasser vom Mützenschirm tropfte: Herzschlag, ja, das stimmte schon! [...] (Lebert 1993, S. 58) Ein Kompositum wie Glockengebimmel erklärt sich ganz offensichtlich als „Rektionskompositum“ (Olsen 1986, S. 66ff.) oder „Valenzbildung“ (Engel 1988, S. 581). In Rickheits Sinne entspräche das Wortkonzept des Konstituenten B einem Geschehen, dessen Ursprung durch das Wortkonzept des Konstituenten A semantisch realisiert wird (Rickheit 1993, S. 260ff.). In Anwendung der Kategorien von Rastiers interpretativer Semantik erscheint Gebimmel als ein Semem aus einem generischen inhärenten Sem / Geräusch/ , inhärenten spezifischen Semen wie / fortgesetzt/ und / hell/ und u.a. auch einem virtuellen und gewöhnlich nicht distinktiven Sem / produziert von Glocke, Wecker, Klingel, Telefon oder Schelle/ . Obwohl der Kontext die Assoziationen in Richtung ‘Glocke’ treibt, findet die konkrete Realisierung des Sems lexikalischen Ausdruck. Natürlich geht es in dieser beschreibenden Passage um die evokative Kraft des präzisen Details - man vergleiche „unkrautumwucherte Mauer“ und „von Regen und Tränen glitzernden Schleier“ -, die, im Verbunde mit der einen oder anderen pittoresken Zugabe der individuellen Leserphantasie, ein Gesamtbild entstehen lässt von einer (kleinen) Glocke mit (zu) hohem Ton im Turm der (kleinen) Kirche. Durch die Erwähnung von Glocken ist, aufgrund des gemeinsamen Sems / sich in der Luft bewegen/ , auch das Verb fliegen in eine Isotopiekette einbezogen und die beschriebene Blickführung aus der Höhe in die Ferne wird ebenfalls durch das Determinans im banalen Kompositum unaufdringlich nahegelegt. Worin liegt nun der Unterschied zwischen das Gebimmel der Glocken und das Glockengebimmel, von der lautmalerischen Steigerung in der artikellosen Abfolge abgesehen? In der syntagmatischen Fügung ist der Glocken als Genitivus Subiectivus und das deverbale Nomen als Nomen Actionis zu verstehen. In Glockengebimmel sind die Glocken nicht aktualisiert. Sie haben ihre selbstständige Existenz verloren und sind als Qualität eingesogen in das Gesamtsemem C, das sich auf der Basis von B als Nomen Acti darbietet. In der Position der eher bekannten Information sind sie dem Vordergrund entrückt und damit ähnlich existent, aber dem Blick entzogen wie die unsichtbare, beliebige Hand, die in der Ferne die Marionetten bewegt. Maria Wirf Naro 346 Mützenschirm im gleichen Abschnitt erfüllt auf Textebene eine ähnliche Perspektivierungsfunktion, auch wenn die zugrunde liegende Semkonstellation nicht ganz die gleiche ist. Im Eintrag zu Schirm führt Dudens „Universalwörterbuch“ (Duden 1996) die Bedeutungsvariante ‘Regenschirm’ unter 1a auf, die Variante ‘schildähnlicher Teil der Mütze’ aber erst unter 3b. So stellt das Semem ‘Mütze’ im Rahmen dieser Bedeutung 3b wohl ein inhärentes spezifisches Sem dar, dessen Explizitierung aber in diesem Kontext, wo von Regenschirmen die Rede ist, eine notwendige Klärung darstellt. Die teilweise Identität des Wortkörpers bei Bedeutungsvarianz ist dabei auch Zeichen für die selbstgewählte Absonderung des Gendarmeriewachtmeisters, der sich nicht zu den Dörflern zählen will. Wieder liegt der Unterschied zwischen Schirm der Mütze oder Schirm seiner Mütze und Mützenschirm in der Perspektivierung. Im Genitivus Partitivus bleibt die Mütze ein eigenständiges, gegenständliches, aktualisiertes Realitätssegment. Im Kompositum „wird die attributive Beziehung ins Prinzipielle hypostasiert“ (Eichinger 2000a, S. 36), von der Mütze bleibt nur das Wesenhafte, nicht Akzidentelle (ebd., S. 121). In der Sicht der Komposition als Sememfusion wird das Gesamtsemem ‘Mütze’ aufgebrochen, um ins neue Semem des Kompositums diejenigen Merkmale zu übernehmen, die in Isotopie mit Element B und dem weiteren Kontext treten können; hier etwa / Teil der Gendarmenuniform/ . In der Thema-Rhema-Anordnung erscheint die Mütze als die weniger neue Information, sie tritt in den Hintergrund. Im Rahmen der Beschreibung wird damit sozusagen gezoomt auf den Schirm, auf die Augenpartie. Diese Interpretation wird gestützt durch den Vorsatz, in dem es um den starrenden Blick des Wachtmeisters geht, und die Isotopiekette wird bereits zu Beginn des Absatzes eröffnet mit der Beschreibung von Habicht als der Gendarmeriewachtmeister, ein routinierter, alter Fuchs, der das Leben mit nüchternen Augen sah. (Lebert 1993, S. 58) In der Komposition sind inhärente Elemente eines Konstituenten sogar gänzlich zu annullieren. Nicht, dass dieses Phänomen der Komposition vorbehalten wäre. Der Vergleich bezieht sich jeweils auf ein Tertium Comparationis und blendet alles Übrige aus, metaphorisches und metonymisches Sprechen beruht auf der Annulierung von Nicht-Übertragbarem. Entsprechendes finden wir in Kompositionsform z.B. in „Der Zug war pünktlich“ bei Heinrich Böll: die armen, hilflosen Hundeaugen des Leutnants Schreckmüller, dem die Schulterstücke viel zu schwer auf den Kinderschultern lagen. (Böll 1974-85 [1987], Bd. I, S. 305) Über das Zerpflücken von Komposita 347 In Bölls „Wanderer, kommst du nach Spa …“ ist von einem Kriegerdenkmal mit steinernem Lorbeerkranz die Rede: […] wieder lag ich für ein paar Schritte auf meiner Bahre, und bevor die Träger in die zweite Treppe einschwenkten, sah ich es eben noch: das Kriegerdenkmal mit dem großen, goldenen Eisernen Kreuz obendrauf und dem steinernen Lorbeerkranz. (Böll 1974-85 [1987], Bd. I, S. 489) Die lexikalisierte Bedeutung, die Duden angibt als ‘Kranz aus Lorbeerzweigen’, wird hier also schon im Attribut entkräftet. Der Widerspruch fällt uns kaum auf, wir abstrahieren problemlos von generischen und spezifischen inhärenten Semen wie / Baum/ und / immergrün/ und halten, geleitet auch durch die Tatsache, dass es um eine optische Erfahrung geht, lediglich fest am spezifischen inhärenten Sem der / schmalen Blattform/ . Dem könnte man entgegenhalten, dass Lorbeerkranz ein bereits sozial verfestigtes Symbol ist. Das entkräftet aber nicht, sondern bestätigt eher die Vermutung, wonach insbesondere das nicht aktualisierte A-Element des Kompositums für den leichten Aufbruch seines Semems und die Reorganisation seines Semgefüges, die Ausblendung bestimmter Seme und Aufnahme anderer in das neue Semem C des Kompositums zur Verfügung steht. Bezeichnenderweise ist das Ruhmessymbol leichter als Lorbeerkranz denn als Kranz aus Lorbeerzweigen zu bezeichnen: in der leicht demontierbaren (oder im Gegenteil erweiterbaren) syntagmatschen Reihung ist die Qualifizierung aus Lorbeerzweigen akzidentell und ‘unwesentlich’; in das Nomen, und das heißt: in den Namen integriert wird Lorbeer in der ganzen Wesenhaftigkeit, die wir ihm unterstellen wollen, unverzichtbare, dauerhafte Qualität des Benannten. Voraussetzung für den Verzicht auf einen Teil der Inhärenz (vgl. z.B. Großstadtdschungel oder Schilderwald) ist natürlich, dass entweder genügend Inhärenz bleibt oder starke Affärenzen vorhanden sind: entweder weil sie im gegebenen sozialen Kontext in mehr oder weniger genormter Präzision existieren oder weil der Kotext des eigenwillig kreierten Worts sie entfaltet. 7. Fluktuation der Sememstruktur Nur Element A ist im Kompositum der Aktualisierung beraubt bzw. der damit einhergehenden Fesseln und Eingrenzungen entledigt. Aber zur Verflechtung von Semem A und Semem B im neuen Semem C, zum Aufstöbern möglicher Isotopien sind wir auch gezwungen - und im literarischen Text ja schon aus Prinzip und nicht nur bei Komposita darauf eingestimmt - jeweils möglichst weit in die semantischen Tiefen der Lexeme zu tauchen. Potenziell wird mehr Maria Wirf Naro 348 Inhärentes und Affärentes mobilisiert und die Disposition zur Isotopiebildung ist gesteigert. Das Kompositum mit seiner binären Struktur bietet im Vergleich zum einfachen Lexem theoretisch die doppelte Menge möglicher Anknüpfungspunkte und kann in seinem A- oder B-Element Schnittpunkt verschiedener Isotopielinien werden. Solch eine Weichenfunktion kann, mehr als der informative Wert des Kompositums, seine koordinierende oder determinative Struktur und die jeweilige logisch-kognitive Ausformung dieser letzteren, die Entscheidung für die komplexe Wortgebildetheit begründen. So wechselt z.B. in der „Wolfshaut“ Herta, Wirtstochter im vorerwähnten Gasthaus Traube, die Birne nicht einfach in einer Lampe, sondern in einem Beleuchtungskörper: Sie holte eine neue Birne, schlüpfte behende aus den Schuhen, zog sich den Rock ein wenig hinauf, schwang sich sodann auf einen der Tische und langte, in allen Gliedern sich reckend, nach dem dunklen Beleuchtungskörper. (Lebert 1993, S. 83) Die bildungssprachliche Verwendung von Körper im Sinne von ‘Gegenstand, der zu sehen oder fühlen ist’ mit Determination entspricht dem gelegentlichen Ansinnen der Traube nach Höherem. Aber in der sehr plastischen Beschreibung von Hertas Bemühungen wird auch die im „Universalwörterbuch“ (Duden 1996) an erster Stelle genannte Bedeutungsvariante von Körper als „das, was die Gestalt eines Menschen od. Tieres ausmacht; äußere Erscheinung eines Menschen od. Tieres, Gestalt; Organismus eines Lebewesens“ wachgerufen und vom Kontext prompt bestätigt: So - in dieser besonders reizvollen Haltung […] - wurde sie von Ukrutnik erblickt […]. Mit tastenden Augen umfaßte er ihre Gestalt, die Schwellungen und Kurven ihres Körpers. […]. (Lebert 1993, S. 83ff.) Und in diesem Sinne fährt die Erzählung fort bis zum Kuss am Kapitelende, „ein kleines freudiges Ereignis für die Liebevollen unter uns! “, wie der Erzähler vor der Anekdote angekündigt hatte (ebd., S. 83). 8. Ein Fazit Dieses interpretativ semantische Erklärungsmodell ist aufwändig, insofern es eine ausführliche semantische Analyse der im Kompositum verbundenen Einzellexeme voraussetzt. Diejenigen Komposita, für die Noailly von einer Beziehung der ‘complémentation’ (Noailly 1990, S. 36) spricht und die beispielsweise in Fachtexten massiv auftreten, verdienen einen solchen Aufwand nicht. Sie sind z.B. ausgehend von Rickheits allgemeinen Konzepten hinreichend erklärt. Über das Zerpflücken von Komposita 349 Doch die ‘Rosen’ der Wortschöpfung verdienen dieses Bemühen. Und im Gegensatz zu botanischen Rosen werden sie das Zerpflücken unbeschadet überstehen: die Mühsal der ärmlich-pedantischen Kategorisierung in Seme der einen oder anderen Art vergisst sich; was bleibt, ist der Genuss der erfahrenen Tiefe. Ohne diesen Ballast kann der Weg durch Textwelten vergnüglicher sein (Eichinger 1995, 2000b). Der einzige Vorteil, den dieses starre Korsett für die Sememanalyse der Kompositionskonstituenten birgt, ist seine allgemeine Anwendbarkeit. Rosen werden wir immer auch intuitiv erspüren; die Schönheit und der Facettenreichtum von ‘banalen’ Bildungen, den Gänseblümchen der Wortbildung, werden uns möglicherweise erst wieder bewusst, wenn wir uns auf die eine oder andere Weise zum genauen Hinsehen zwingen - insbesondere da, wo wir uns leicht mit einem oberflächlichen Erstverständnis zufrieden geben könnten. Gerade nicht Vorhandenes ist nicht auf den ersten Blick zu sehen. Deshalb kann, wo der semantische Mehrwert des Kompositums gegenüber der syntaktischen Verbindung seiner Konstituenten auf der Annulierung oder im Gegenteil der Kreation von Semen beruht, die vorherige Rundum-Analyse der Konstituenten von Gewinn sein. Für didaktische Zwecke ist dieses Modell zugegebenermaßen gänzlich ungeeignet. Fandrych/ Thurmair stellen zu Recht fest, dass die spezifische Qualität von Wortbildungen in einem mittleren Exaktheitsgrad liegt, der für die Kommunikation häufig genügt (Fandrych/ Thurmair 1994, S. 37). Aber gerade diese mittlere Exaktheit ist es auch, die zum Zerpflücken reizt und unter der sich zuweilen Rosen oder Gewächse voll kommunikativen Gifts auftun. 9. Literatur Böll, Heinrich (1974-1985 [1987]): Werke. Romane und Erzählungen, Bd. 4 (1974- 1985). Hrsg. v. Bernd Balzer. Bornheim-Merten/ Köln. Borchert, Wolfgang (1991): Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Reinbek. Brecht, Bertolt (1971): Über Lyrik. 4. Aufl. Frankfurt a.M. Duden (1996) = Dudenredaktion (Hg.) (1996): Deutsches Universalwörterbuch A-Z. 3., neu bearb. Aufl. CD-ROM . Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Duden (1998) = Dudenredaktion (Hg.) (1998): Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Eichinger, Ludwig M. (1995): Wegweiser durch Textwelten. Wozu komplexe Substantive gut sind. In: Métrich, René/ Vuillaume, Marcel (Hg.): Rand und Band. Tübingen, S. 169-182. Maria Wirf Naro 350 Eichinger, Ludwig M. (2000a): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Eichinger, Ludwig M. (2000b): Verstehen und Spaß haben. Wortbildung im literarischen Text. In: Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne/ Fix, Ulla (Hg.): Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg, S. 145-158. Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg. Fandrych, Christian/ Thurmair, Maria (1994): Ein Interpretationsmodell für Nominalkomposita: linguistische und didaktische Überlegungen. In: Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer 31, 1, S. 34-45. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Unter Mitarbeit von Marianne Schröder. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Handler, Peter (1993): Wortbildung und Literatur. Panorama einer Stilistik des komplexen Wortes. Frankfurt a.M. Heine, Heinrich (1961): Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte. München. Heringer, Hans-Jürgen (1984): Wortbildung: Sinn aus dem Chaos. In: Deutsche Sprache 12, S. 1-13. Kastovsky, Dieter (1982): Wortbildung und Semantik. Düsseldorf/ Bern/ München. Kürschner, Wilfried (1974): Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita. Tübingen. Lebert, Hans (1993): Die Wolfshaut: Roman. Mit einem Nachwort von Jürgen Egyptien. 2. Aufl. Wien/ Zürich. Motsch, Wolfgang (2004): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin/ New York. Noailly, Michèle (1990): Le substantif épithète. Paris. Olsen, Susan (1986): Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart. Ortner, Hanspeter/ Ortner, Lorelies (1984): Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung: mit einer ausführlichen Bibliographie. Tübingen. Ortner, Lorelies/ Müller-Bollhagen, Elgin et al. (1991): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen I). Berlin/ New York. Rastier, François (1987): Sémantique interprétative. Paris. Rickheit, Mechthild (1993): Wortbildung: Grundlagen einer kognitiven Wortsemantik. Opladen. Über das Zerpflücken von Komposita 351 Schanen, François/ Confais, Jean-Paul (1986): Grammaire de l'allemand. Formes et fonctions. Paris. Thiel, Gisela (1973): Die semantischen Beziehungen in den Substantivkomposita der deutschen Gegenwartssprache. In: Muttersprache 83, S. 377-404. Wilss, Wolfram (1986): Wortbildungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Theoretische Grundlagen - Beschreibung - Anwendung. Tübingen. Wirf Naro, Maria Theresia (1998): Les fonctions du mot composé dans quelques textes littéraires en allemand. Diss. Université Montpellier III . Ludwig M. Eichinger Was sollte man über die Wortbildung des Deutschen wissen (wenn man sich in Spanien mit der deutschen Sprache beschäftigt)? Zusammenfassung des Rundtischgesprächs 1 Wie eine der spanischen Vertreterinnen auf dem Podium feststellte, würde man aus der abstrakten Sicht der germanistischen Wortbildungsforschung die Frage, ob der Wortbildung genügend Aufmerksamkeit geschenkt werde, wohl verneinen. Unter den spezifischeren Bedingungen der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache und wenn man ein Studium der Germanistik in Spanien als den Rahmen ansieht, in dem diese Frage zu behandeln ist, kommt man natürlich zu einer differenzierteren, damit in mancherlei Hinsicht auch realistischeren Sicht auf diese Frage. Der Suche nach verschiedenen Aspekten dieser realistischeren Sicht war die Podiumsdiskussion gewidmet, die hier zusammenfassend dokumentiert sein soll. Dabei fragte Maria Thurmair als Vertreterin des Faches Deutsch als Fremdsprache im muttersprachlichen Kontext danach, was an Wissen über Wortbildung im DaF-Kontext - im Unterschied zum muttersprachlich-germanistischen - nützlich und wünschenswert wäre. Grundsätzlich gelte für eine Linguistikausbildung für zukünftige DaF-Lehrer, dass sie immer die Vermittlungsperspektive im Blick zu behalten habe, daher anwendungsbezogen und in zweierlei Hinsicht kontrastiv orientiert sei. Zum einen in dem sie sich auf allgemeiner Ebene mit den Eigenheiten und spezifischen Schwierigkeiten des Deutschen auseinandersetzt und zum anderen in der spezifischen Kontrastierung mit bestimmten Sprachen, wie im vorliegenden Fall mit dem Spanischen. Praktisch hieße das, dass die Studierenden die formalen, semantischen und pragmatischen Charakteristika der verschiedenen Wortbildungstypen kennenlernen sollten. Das Wissen über die formalen Zusammenhänge sollte zum Beispiel Techniken der Segmentierung, Trennbarkeit (bei Verben) oder die Art der Bestandteile von Wortbildungen umfassen; im seman- 1 Auf dem Podium diskutierten José-Antonio Calañas Continente, Marta Fernández-Villanueva, Maria Thurmair, Maria Wirf Naro und Maria Teresa Zurdo; die Moderation hatte der Verfasser dieser Zusammenfassung. Ludwig M. Eichinger 354 tischen Bereich wäre auf die Wirkung von analogen Mustern ebenso einzugehen wie auf die Einschätzung danach, welche Modelle der Wortbildung als zentral oder als peripher zu gelten hätten; in pragmatischer Hinsicht gehe es um die Einschätzung der in Wortbildungen vorliegenden Spezifikationstiefe, die für die Alltagssprache ein generelleres und „ungefähreres“ Verständnis zulasse als in fach- und literatursprachlichen Kontexten. Dazu komme eine Akzentuierung der methodisch-didaktischen Aspekte der Umsetzung des linguistischen Wissens, die gerade im Bereich der Wortbildung die rezeptive Seite besonders zu betonen habe, so dass auch Texterschließungsstrategien vermittelt würden, die helfen, neue und unbekannte Bildungen zu verstehen. In analoger Weise wandte sich Maria Fernández-Villanueva der Frage zu, welche Stellung die Wortbildungslehre in einem Germanistikstudium in Spanien haben solle. Im normalen Curriculum der spanischen Germanistikstudiengänge habe die Wortbildungslehre einen festen Platz, sowohl als Element der grammatischen Teile linguistischer Einführungskurse, als auch in spezifischen Seminaren etwa zu lexikalischer Morphologie. Auch in den Sprachkursen würden Lesestrategien zur Auflösung von Wortbildungen vermittelt. Allerdings sollte man sich über die Art und Weise sowie über das Ziel dieser Vermittlung nochmals Gedanken machen. Da die Muttersprache der Studierenden Spanisch, Katalanisch, Galizisch oder Baskisch ist, sei die kontrastive Perspektive zwischen Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache auszunutzen, nicht nur um Wortbildungsprozesse zu erfassen, sondern auch um Funktionen zu erkennen, die in einer Sprache durch Wortbildung, in der anderen vielleicht häufiger durch syntaktische Strukturen oder andere Mittel zum Ausdruck gebracht werden. Rezeptions- und Produktionsschwierigkeiten sollten zum Anlass genommen werden, um Unterstützungsmaterialien zu Lese-, Exzerpt- und Reformulierungsstrategien und zur Verfertigung von Begleitheften für Referate oder Hausarbeiten zu entwickeln, die funktional die Wortbildung ausnutzen. Über diese DaF-Kompetenzen hinaus sollten den Studierenden als zukünftigen Germanisten auch Verfahren vermittelt werden, um solche Kenntnisse selbstständig zu erwerben. Die Arbeit in konkreten Projekten und die Arbeit mit authentischem Datenmaterial (u.a. auf Basis von Korpusanalysen) wären Wege zu diesem Ziel. Diese Ziele sollten auch in der Ausbildung der Dozenten eine Rolle spielen. Hier lässt sich der Beitrag von José-Antonio Calañas Continente anschließen, der vom Nutzen neuer Technologien handelt. Er hebt hervor, dass insbesondere das Internet für die Auslandsgermanistik eine Quelle zuverlässiger Zusammenfassung des Rundtischgesprächs 355 Information geworden sei. Dies beträfe auch die Erstellung und Verwaltung der Korpora, für die zudem die Technik elektronischer Datenbankverwaltung u.Ä. neue Forschungsoptionen eröffnet habe. Plattformen und Kommunikationsweisen wie Blogs und E-Mails hätten Forschung und Lehrformen verändert. Den unbestreitbaren Vorteilen der Nutzung von Computer und Internet stünden Nachteile gegenüber, auf die man zu achten habe. So führten Korpus-Recherchen oft zu einer Materialfülle, die auch in vergleichsweise einfachen Fällen die Analyse unangemessen erschwere; zudem sei der Umgang mit dem geistigen Eigentum durch die quasi-anonyme Daten-Existenz im Internet oft weniger korrekt als in traditionellen Kontexten. Dennoch seien die Vorteile - vor allem für die Forschung und Lehre in nicht-muttersprachlicher Umgebung - nicht zu unterschätzen. Für die Studierenden des Studiengangs „Übersetzen und Dolmetschen“ stellen Wortbildungsphänomene ein lexikalisches Merkmal von zur Übersetzung in die Muttersprache vorliegenden Texten dar. Diesen Aspekt betrachtete Maria Wirf Naro, und auch hier geht es im ersten Schritt um die Entwicklung geeigneter Dekodierungsstrategien, vor allem für Bildungen - oder deren Elemente -, die sich nicht als feste Elemente des Lexikons einfach im Wörterbuch nachschlagen lassen. Für die Interpretation von Okkasionalismen, bei denen das nicht der Fall ist, sei die Förderung strategischer Kompetenzen vonnöten: der Lerner müsse auf das mögliche Auftreten bisher nicht dokumentierter Einheiten und die weitgehende Akzeptanz von Mischbildungen u.Ä. vorbereitet sein, ko- und kontextgeleitet Hypothesen zur Wortgebildetheit erstellen und zu ihrer Überprüfung mit erweiterter Recherchierkompetenz reagieren können, etwa in der Benutzung von Enzyklopädien, Internet, Handbüchern und bei Bestandsaufnahmen zu Möglichkeiten der Wortbildung. Zur funktionsadäquaten Übersetzung formbewusster, mehr als nur informativer Texte bedürfe es jedoch darüber hinaus der Auslotung ihrer ko- und kontextuell angereicherten Tiefe und des Mehrwerts, den die Konstituenten im Minimaltext der Wortbildung und im weiteren Textverbund annehmen, ebenso wie der textkonstitutiven Kraft, die das komplexe Wort seinerseits entwickelt. Erst nach dieser umfassenden ‘Textwortanalyse’ könne die Suche nach der Übersetzung beginnen. Hierbei sei zudem auf die jeweiligen Ausdruckspräferenzen der Einzelsprachen zu achten. Maria Teresa Zurdo skizzierte im Hinblick auf eine kontrastive Analyse zentrale Züge des spanischen Wortbildungssystems. Die Komposition sei im Spanischen bei weitem nicht so produktiv wie im Deutschen, allerdings gebe Ludwig M. Eichinger 356 es einen gewissen Ausbau im Bereich entsprechender nominaler Wortbildungskomponenten vom Typ verbale Basis + N N (lavar + platos lavaplatos, abrir + latas abrelatas), und nominale Basis + Adj. Adj. (boca + abierta boquiabierto/ -a, pelo + rojo pelirrojo/ a). Das im Spanischen dominante Muster der Derivation ist stark ausdifferenziert. Im Vergleich mit dem Deutschen auffällig sei die Betonung: Präfixe sind immer unbetont (z.B. deshacer, retroactivo, indefinido, supermercado); Suffixe dagegen tragen immer den Wortakzent (conductor, dignidad, situación). Bewertende Ableitung - auf der Basis von Diminution und Augmentation - spielt bei Nomen und Adjektiven eine große Rolle (z.B. dim.: poquito, ratito; augm.: cochazo, llorón, pejor, pequeñajo, listillo, casucha) und beim Verb dienen diese Mittel zum Ausdruck der Iteration (besuquear), Intensivierung (toquetear) und Abwertung (parlotear). Die Ableitungen können z.T. eine hohe Tiefe erreichen (instituir > institu-ción > institu-cion-aliz-ar > institucion-aliza-ción). Besonders produktiv sind Präfix-Suffix-Kombinationen (Parasíntesis): mar sub-mar-ino, letra de-letr-ear, dormir a-dormecer, caro en-care-cer/ en-car-ecer. Konfixe werden als lexikalische Morpheme betrachtet, die nur als gebundene Morpheme fungieren. Je nach dem theoretischen Gesichtspunkt werden diese temas cultos (‘bildungssprachlichen Komponenten’) der Ableitung oder der Zusammensetzung zugeordnet. Nominale Suffigierung ist durch hohe Polyfunktionalität der Bildungsmittel und eine erhebliche morphophonologische Variation im Basismorphem (atender - atención, restringir - restricción, corromper - corrupción, volar - vuelo usw.) gekennzeichnet, adjektivische Derivation durch eine große Anzahl von Suffixen und durch einen hohen Grad an Synonymie. Beim Verb ist im Unterschied zum Deutschen die Produktivität der Suffix-Derivation erheblich. Aus den Beiträgen wird ersichtlich, dass die Wortbildung des Deutschen, die ja eine das Deutsche deutlich charakterisierende Form angenommen hat, auch wegen der kontrastiven Divergenzen, nach Meinung aller Diskutanten einen beachtenswerten Bereich der Beschäftigung mit dem Deutschen in nicht-muttersprachlichen Kontexten wie dem Spanischen darstellt. Weithin gemeinsam ist auch die Hervorhebung der rezeptiven Aspekte, sowie die Betonung der Bedeutung für die sprachwissenschaftlich-germanistische Ausbildung generell - wobei natürlich nach den Umgebungsbedingungen zu differenzieren ist. Die verstärkte Zugänglichkeit von originalen Materialien, Korpora und Analysemethoden wird als eine bemerkenswerte Chance verstanden.