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Die "türkischen Powergirls"

2008
978-3-8233-7446-6
Gunter Narr Verlag 
Inken Keim

Die ethnografisch-soziostilistische Fallstudie bietet einen umfassenden Einblick in die Lebenswelt, die sozialen Orientierungen und das Ausdrucksverhalten junger Migrantinnen in Mannheim, die sich "türkische Powergirls" nennen. Die ethnografische Beschreibung des Migrantenstadtteils bildet den Rahmen für die Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses von der ethnischen Jugendclique zu einer Gruppe sozial erfolgreicher junger Frauen. Dieser Prozess ist typisch für junge Migrantinnen in Deutschland, die in Auseinandersetzung mit relevanten Bezugswelten, der Welt der türkischen Gemeinschaft und der Welt der deutschen (Bildungs-)Institutionen, einen eigenständigen Weg zu finden versuchen. Das Selbstbild, das die Mädchen in diesem Prozess entwickeln, bildet die Bezugsgröße für ihren Kommunikationsstil. Der zentrale Teil des Buches beschreibt diesen Stil, den derb-drastischen Umgangston, den schnellen Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch und den virtuosen Gebrauch verschiedener Varietäten zum symbolischen Verweis auf soziale Kategorien und zeigt, wie sich der Stil im Prozess des Erwachsenwerdens und in Reaktion auf neue Lebensumstände und (Bildungs-) Anforderungen allmählich verändert.

Inken Keim Die „türkischen Powergirls“ Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim Zweite Auflage Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 3 9 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 39 Inken Keim Die „türkischen Powergirls“ Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim Zweite, durchgesehene Auflage Gunter Narr Verlag Tübingen Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. 2., durchgesehene Auflage 2008 1. Auflage 2007 © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler/ Stolz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6446-7 Vorwort zur 2. Auflage Zu meiner im März 2007 erschienenen Untersuchung zu Lebenswelt und kommunikativem Stil der „türkischen Powergirls“ ist bereits ein Jahr später eine 2. (unveränderte) Auflage notwendig geworden. Das Buch traf auf großes Interesse. Das belegen die zahlreichen Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen ebenso wie die überaus positiven wissenschaftlichen Rezensionen. Der von mir bearbeitete Objektbereich - die soziale und sprachliche Entwicklung von Migrantenkindern und -jugendlichen im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Einflüssen und Anforderungen aus der Welt der Migration und der Mehrheitsgesellschaft - spielt in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen immer noch eine zentrale Rolle, da auch nach den jüngsten nationalen und internationalen Bildungsberichten die Teilhabechancen von Migrantenkindern am sozialen und beruflichen Leben in Deutschland sich nicht erkennbar verbessert haben. Allerdings wird in diesen Diskussionen in letzter Zeit die Tendenz erkennbar: weg vom Betroffenheitsdiskurs und hin zu einem Diskurs, der sich mit der Benachteiligung wissenschaftlich fundiert auseinandersetzt. Meine Arbeit will dazu einen Beitrag leisten. Meine Studie behandelt die letzte Stufe im Prozess der Migration, der mit der Auswanderung aus dem Heimatland beginnt, über Erfahrungen von Fremdheit, Orientierungslosigkeit und Ausgrenzung im Aufnahmeland führt und - im günstigen Fall - mit der erfolgreichen Integration in die neue Gesellschaft endet. Die Studie basiert auf einer weit angelegten ethnografischen Datenerhebung, auf ethnografischen Interviews mit Lehrenden, Erziehenden und Migrantenfamilien, auf biografischen Interviews mit den Mitgliedern der „türkischen Powergirls“ und vor allem auf Audio- und Videoaufnahmen von Ingroup- und Outgroup-Kommunikationen. Es ist eine Langzeitstudie, die die Entwicklung von der ethnischen Clique zu beruflich erfolgreichen jungen Erwachsenen aufzeigt. Im Fokus stehen die sozialen und sprachlichen Integrationsanstrengungen und -leistungen der jungen Migrantinnen, denen es gelingt, in Auseinandersetzung mit den elterlichen Erwartungen und dem sozialen Druck der Migrantengemeinschaft einerseits und dem Anpassungsdruck in deutschen Bildungsinstitutionen andererseits einen eigenständigen Lebensentwurf zu entwickeln. Es ist eine Fallstudie, die jedoch durch die Einbettung in übergreifende lebensweltliche Strukturen und Die „türkischen Powergirls“ 6 Prozesse der Migrantengemeinschaft und der deutschen Gesellschaft und durch den Einbezug migrationssoziologischer und bildungswissenschaftlicher Forschungsliteratur im ethnografischen Sinne repräsentativ ist. D.h., im Hinblick auf Relevanz und Typizität der dargestellten Lebenswelt und der sozialen und sprachlichen Entwicklungsprozesse junger Migrantinnen weist die Studie weit über den lokalen Kontext in Mannheim hinaus. Die breite Anlage der Studie macht das Buch nicht nur für Soziolinguisten, sondern für alle an der Thematik interessierten und mit Migrationsfragen befassten Leser interessant. Die im Verlauf der Untersuchung gewonnenen ethnografischen und linguistischen Erkenntnisse motivierten mich, nach Partnern für eine Umsetzung in die Praxis zu suchen. Die Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit an der Universität Mannheim (Prof. Rosemarie Tracy), die in der Erforschung des Spracherwerbs ausgezeichnete Arbeit leistet, ermöglichte es, zusammen mit dem staatlichen Schulamt und der Stadt Mannheim Sponsoren zu finden, die eine Umsetzung unserer Erkenntnisse in die schulische Praxis ermöglichten. Es wurden Fortbildungsveranstaltungen für Erziehende und Lehrende zu Spracherwerb, Mehrsprachigkeit und Migration durchgeführt, Kurse zur Sprach- und Wissensförderung für Migrantenkinder und Kurse für Migranteneltern eingerichtet, in denen neben Deutschunterricht auch Informationen zu Zwei- und Mehrsprachigkeit, zu Erziehungsfragen und zur Bildungsförderung der Kinder angeboten wurden. Das vorliegende Buch widme ich den „Powergirls“, ohne deren Mitarbeit, Offenheit und Vertrauen die Untersuchung nie hätte durchgeführt werden können. Außerdem danke ich Sema Aslan, Ibrahim Cindark, Necmiye Ceylan und Emran Sirim, den Mitarbeitern des Forschungsprojekts, das von der DFG gefördert und von Werner Kallmeyer und mir geleitet wurde. Ohne die sprachliche und kulturelle Kompetenz der türkischstämmigen MitarbeiterInnen und ohne ihre Erfahrungen als MigrantInnen der zweiten Generation wäre mir vieles unverständlich oder verborgen geblieben. Mannheim, im Mai 2008 Inken Keim Inhalt A. Einführung ..................................................................................... 13 1. Gegenstand und Ziel der Untersuchung ...................................... 13 2. Der ethnografisch-soziostilistische Ansatz ................................... 16 2.1 Bezüge zu anderen Ansätzen ........................................................... 18 2.1.1 Konversationsanalyse ...................................................................... 18 2.1.2 Ethnografie als Basis für die Bedeutungsanalyse ............................ 19 2.2 Das Konzept der sozialen Welt ........................................................ 22 3. Design und Durchführung der Untersuchung............................. 24 B. Hauptteil ......................................................................................... 29 I. Ethnografie des Lebensraums der „türkischen Powergirls“ - ein innerstädtisches Migrantengebiet in Mannheim .................... 31 0. Vorbemerkung: „Gastarbeiter“ in Deutschland......................... 31 1. Die Migrantenstadtteile in Mannheim: Jungbusch und Westliche Unterstadt ..................................................................... 34 1.1 Das Ghetto ....................................................................................... 38 1.2 Charakteristika des Stadtgebiets ...................................................... 42 1.2.1 Soziale Einheitlichkeit und negatives Image ................................... 42 1.2.2 Stabilisierung ................................................................................... 45 1.2.3 Erfahrungen und Einstellungen eines Vertreters der ersten Generation........................................................................................ 48 2. Die türkische Migrantenpopulation ............................................. 58 2.1 Religiöse Spezifik ............................................................................ 58 2.2 Soziale Schichtung........................................................................... 61 2.2.1 Soziale Kategorien der türkischen Migrantenpopulation................. 64 2.3 Strukturen türkischer Familien im Stadtgebiet ................................ 66 2.3.1 „Traditionelle Familien“ .................................................................. 67 2.3.2 „Offene, moderne Familien“............................................................ 73 2.3.3 Partnerwahl der Kinder .................................................................... 75 2.3.4 Scheidungen ..................................................................................... 79 2.3.5 Die türkische Population des Stadtgebiets aus der Perspektive von Türkei-Türken ........................................................................... 82 2.4 Soziale Nähe und soziale Kontrolle ................................................. 83 Die „türkischen Powergirls“ 8 3. Territorien und Institutionen........................................................ 86 3.1 Freiflächen, Spielhallen, Cafés ........................................................ 86 3.2 Der ‘Internationale Mädchentreff’ ................................................... 90 3.3 Schulen............................................................................................. 94 3.3.1 Sprachprobleme und mangelnde Lernhaltung der Kinder ............. 101 3.3.2 Lernhemmende Haltungen der Lehrkräfte ..................................... 106 3.3.3 Diskrepanzen zwischen der Welt der Eltern und der Welt der Schule.............................................................................. 109 3.3.4 Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sozialer Entwicklung ................................................................................... 113 4. Migrantenjugendliche.................................................................. 114 4.1 Getrennte Lebenswelten und Entwicklungen ................................ 115 4.1.1 Mädchen......................................................................................... 116 4.1.2 Jungen ............................................................................................ 118 4.2 Berufschancen der Jungen ............................................................. 125 4.3 Ethnische Abgrenzung ................................................................... 127 II. Die „türkischen Powergirls“ - biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess und die Herausbildung sozialer Orientierungen ............................................................... 131 1. Einleitung...................................................................................... 132 2. Frühe Erfahrungen mit Bildungsinstitutionen.......................... 133 2.1 Im Kindergarten: Zwischen Begeisterung und Ausgeschlossensein........................................................................ 133 2.2 Die Herausbildung von schulischem Ehrgeiz in der Grundschule ................................................................................... 135 2.3 Erste Schulkarriereentscheidungen und ihre Konsequenzen ......... 139 3. Der Übergang zu höheren Schulen außerhalb des Stadtgebiets................................................................................... 142 3.1 Fremdheitserfahrung und „Schock des Lebens“ ............................ 142 3.2 Sich allein gelassen fühlen ............................................................. 144 3.3 Ethnische Deutung der Schulprobleme .......................................... 146 4. Familiäre Krisen und ihre Bewältigung..................................... 149 4.1 Abwendung vom Leitbild der „traditionellen jungen Türkin“....... 149 4.2 Doppelleben ................................................................................... 153 Inhalt 9 4.3 Offene Rebellion ............................................................................ 156 4.4 Der problemlose Übergang vom Kind zur Jugendlichen ............... 161 5. Verarbeitung krisenhafter Erfahrung ....................................... 164 5.1 Die Konstitution der Gruppe „Türkische Powergirls“ ................... 164 5.2 Gegenwehr und Devianz ................................................................ 169 5.3 Offene Feindschaft gegenüber der Schule ..................................... 173 6. Arbeit an einer neuen sozial-kulturellen Identität .................... 182 6.1 Auflösung der devianten Jugendclique .......................................... 182 6.2 Hinwendung zu neuen Vorbildern ................................................. 183 6.3 Erfahrung von Marginalität in der Herkunftsgesellschaft.............. 187 6.4 Angst vor der negativen Fremdsicht .............................................. 192 7. Neue Selbstverortung und neues Selbstbild............................... 197 7.1 Die Absage an beide Bezugsgesellschaften ................................... 197 7.2 Das Selbstbild als „Deutsch-Türkin“ ............................................. 202 8. Zukunftsperspektiven.................................................................. 206 III. Der kommunikative Stil der „türkischen Powergirls“ ............. 211 1. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils ...................... 211 1.1 Beschreibungsdimensionen für Stil ............................................... 219 1.2 Kurzcharakterisierung des kommunikativen Stils der „türkischen Powergirls“ und seiner Veränderung.......................... 221 1.3 Zum Aufbau von Teil III................................................................ 223 2. Umgang miteinander und mit Außenstehenden ....................... 224 2.1 Sprachrepertoire der „Powergirls“ ................................................. 224 2.1.1 Jugendsprachliche Merkmale......................................................... 226 2.1.2 Ethnolektale Formen: „Ghettodeutsch“ ......................................... 228 2.2 Umgang miteinander...................................................................... 242 2.2.1 Aufforderungen, Bitten, Anweisungen .......................................... 244 2.2.2 Formen der Kritik .......................................................................... 246 2.2.2.1 Ordnungsrufe .................................................................. 246 2.2.2.2 Derbe Formeln................................................................ 247 2.2.2.3 Harte Kritik..................................................................... 251 2.2.3 Spielerische Aggression und rituelle Beschimpfungen.................. 254 2.2.4 Zusammenfassung: Charakteristika des Umgangs miteinander .... 258 Die „türkischen Powergirls“ 10 2.3 Umgang mit Außenstehenden ........................................................ 259 2.3.1 Herabstufung stilistischer Differenz .............................................. 260 2.3.2 Kommunikation mit der Leiterin: Hochstufung stilistischer Differenz ........................................................................................ 263 2.3.2.1 Ausgleichshandlungen.................................................... 264 2.3.2.2 Verbale Spiele mit der Leiterin ...................................... 271 2.3.2.3 Kritik gegenüber der Leiterin ......................................... 275 2.3.3 Zusammenfassung: Charakteristika des Umgangs mit Außenstehenden ............................................................................. 277 2.4 Exkurs: Naran als neues Leitmodell .............................................. 278 2.4.1 Übertragung von Verantwortung ................................................... 278 2.4.2 Aufklärungsdiskurs ........................................................................ 284 2.4.3 Fazit: Verfahren im Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs ............ 295 2.5 Stilistische Veränderungen ............................................................ 297 2.5.1 Sprechweise als Moderatorin vs. „Powergirl-Stil“ ........................ 297 2.5.2 Arbeit am Stil in der Ingroup-Kommunikation.............................. 302 2.5.2.1 Der freundliche Beginn .................................................. 303 2.5.2.2 Krise ............................................................................... 305 2.5.2.3 Einführung eines neuen Verfahrens ............................... 310 2.5.2.4 Reflexion des bisherigen Verhaltens und Praktizieren neuer Interaktionsformen................................................ 314 2.5.3 Zusammenfassung: Stilistische Veränderungen ............................ 318 3. Deutsch-Türkisches Mixing ........................................................ 319 3.1 Beschreibungskonzepte.................................................................. 319 3.2 Bestandteile und Strukturen des Mixing ........................................ 326 3.2.1 Migrantentürkisch .......................................................................... 326 3.2.2 Enge Verknüpfungen ..................................................................... 330 3.2.3 Unterschiedliche Variationsprofile ................................................ 332 3.2.3.1 Variationsprofil „nahe am türkischen Pol“..................... 333 3.2.3.2 Variationsprofil „nahe am deutschen Pol“ ..................... 337 3.3 Funktionen der Sprachwechsel im Mixing .................................... 340 3.3.1 Sprachwechsel zur Interaktionsorganisation.................................. 342 3.3.2 Darstellungsstrukturierung durch Sprachwechsel.......................... 346 3.3.2.1 Formulierungsarbeit ....................................................... 346 3.3.2.2 Konturierung von Strukturteilen..................................... 347 3.3.3 Sprachwechselmuster in Alltagserzählungen................................. 352 3.3.3.1 Allgemeine Muster ......................................................... 352 Inhalt 11 3.3.3.2 Variationsmuster beim Sprechen „nahe am türkischen Pol“ ............................................................... 355 3.3.3.3 Variationsmuster beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“ ................................................................ 359 3.3.3.4 Bewegungen auf dem Kontinuum .................................. 365 3.3.4 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit .................... 366 3.3.4.1 Klärung von Positionen .................................................. 369 3.3.4.2 Steigerung und moralischer Diskurs............................... 373 3.3.4.3 Ende der Auseinandersetzung ........................................ 378 3.4 Ausdifferenzierte Sprachwechselmuster: Merkmale des „Powergirl“-Stils............................................................................ 380 4. Soziale Kategorisierung und Sprachvariation .......................... 383 4.1 Soziale Kategorien ......................................................................... 383 4.1.1 Phasen der Entwicklung des Selbstbildes ...................................... 386 4.1.2 Relevante soziale Kategorien aus der Perspektive der erwachsenen „Powergirls“ ............................................................. 394 4.1.2.1 Kategorien für Türken .................................................... 395 4.1.2.2 Kategorien für Deutsche ................................................. 405 4.1.3 Kategorien im Überblick................................................................ 413 4.2 Sprachvariation, soziale Kategorien und soziale Kontexte ............ 415 4.2.1 Die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“ ................................. 416 4.2.1.1 Das „Gastarbeiterdeutsch“ einer Angehörigen der ersten Migrantengeneration ............................................ 417 4.2.1.2 Funktionen von „Gastarbeiterdeutsch“ in den Gesprächen der „Powergirls“ ......................................... 420 4.2.1.2.1 Kritik an den Eltern ........................................................... 421 4.2.1.2.2 Distanzierung vom sozialen Status der Mutter...................... 424 4.2.1.2.3 Spiel mit der Kategorie des „Gastarbeiters“ ......................... 426 4.2.1.3 Schlussbemerkung .......................................................... 433 4.2.2 Die Verwendung von „Mannheimerisch“ ...................................... 434 4.2.2.1 Das „Mannheimerische“................................................. 434 4.2.2.2 Funktionen des „Mannheimerischen“ in den Gesprächen der „Powergirls“ ......................................... 437 4.2.2.2.1 Zurechtweisung der Mutter ................................................ 438 4.2.2.2.2 Spielerische Kritik an deutschen Betreuerinnen.................... 440 4.2.2.2.3 Subversiver Boykott gegenüber deutschen Betreuerinnen ..... 443 4.2.2.2.4 Symbolisierung des „dummen Deutschen“ .......................... 445 4.2.2.3 Schlussbemerkung .......................................................... 448 Die „türkischen Powergirls“ 12 4.2.3 Verwendung von „Ghettodeutsch“ ................................................ 448 4.2.3.1 Das „Ghettodeutsch“ im Stadtgebiet .............................. 448 4.2.3.2 Ernste Interaktionsmodalität ohne ghettosprachliche Formen............................................................................ 451 4.2.3.3 Subversives Spiel gegenüber der Lehrerin ..................... 453 4.2.3.4 Soziale Symbolisierung des groben „Ghetto-Kindes“.... 460 5. Lebenswelt und kommunikativer Stil ........................................ 462 5.1 Lebenswelt und Entwicklungsprozess ........................................... 462 5.2 Der kommunikative Stil der „türkischen Powergirls“ ................... 464 5.2.1 Ausdrucksdimensionen .................................................................. 464 5.2.2 Spezifik des „Powergirl“-Stils und Prinzipien der Stilbildung ...... 467 5.3 Der Weg aus der „Ghetto“-Kultur zu sozial und (bildungs-) institutionell akzeptierten Lebenswegen und stilistische Veränderungen ............................................................................... 470 5.4 Ausblick ......................................................................................... 474 C. Transkriptionskonventionen....................................................... 477 D. Literatur ....................................................................................... 479 A. Einführung 1. Gegenstand und Ziel der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist die ethnografisch-soziostilistische Beschreibung einer Gruppe türkischstämmiger Migrantinnen der zweiten Generation und ihrer Entwicklung vom Jugendzum jungen Erwachsenenalter. Im Zentrum der Beschreibung steht der kommunikative Stil der Gruppe, wie er sich in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Mitglieder und mit relevanten Anderen herausgebildet hat. Stil wird als Index für das kulturelle Selbstverständnis der Gruppe und stilistische Veränderungen, die im Laufe des Gruppenentwicklungsprozesses beobachtbar sind, werden als Ergebnis der Auseinandersetzung mit veränderten Lebensbedingungen und als Indiz für ein verändertes kulturelles Selbstbild konzeptionalisiert. In Anknüpfung an die Jugend-Kulturanalysen des Centre for Contemporary Cultural Studies wird Kultur als die kulturelle Alltagspraxis und Lebensweise verstanden, mit der die Gruppenmitglieder die Bedingungen ihrer Existenz verarbeiten. 1 Die Untersuchung entstand im Rahmen des am Institut für Deutsche Sprache durchgeführten und von der DFG geförderten Projekts „Deutsch-Türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer sozialer Stile in jugendlichen MigrantInnengruppen türkischer Herkunft in Mannheim“ (März 2000 - Februar 2004). Das Projekt ist eine qualitative, soziolinguistische Studie und verwendet ethnografische und linguistisch-gesprächsanalytische Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse. Zur Erfassung der Lebenswirklichkeit und der Lebensweise von jungen türkischstämmigen MigrantInnen startete das Projekt mit der ethnografischen Untersuchung eines Innenstadtgebiets in Mannheim mit einem hohen Migrantenanteil. Auf der Grundlage der ethnografischen Untersuchung wurden drei türkischstämmige Gruppen der zweiten Generation ausgewählt, die typisch und im ethnografischen Sinne repräsentativ für soziale Welten sind, die sich aus den ethnisch-kulturellen Traditionen und normativen Orientierungen der türkischen Migrantengemein- 1 Von den dort entstandenen Alltagskulturanalysen sind vor allem die Arbeiten von Willis (1981, 1982), Clarke et al. (1979) und Hebdige (1979) für die vorliegende Arbeit von Interesse. Diese Arbeiten waren auch für das Konzept des kommunikativen Stils wesentlich, das im IDS im Projekt „Kommunikation in der Stadt“ entwickelt wurde; vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994), Keim (1995a) und Schwitalla (1995). Zur Anwendung des am Centre for Contemporary Cultural Studies entwickelten Kulturkonzepts auf die Untersuchung türkischstämmiger Migranten in Deutschland, vgl. auch Bommes (1993). Die „türkischen Powergirls“ 14 schaft lösen und sich in wichtigen Lebensbereichen auf die Mehrheitsgesellschaft hin orientieren. Die ausgewählten Gruppen sind: a) eine Gruppe von Mädchen, die noch in der Migrantenpopulation verwurzelt ist, sich aber auf dem Weg nach „draußen“ befindet und an der Herausbildung eines eigenständigen Selbstbildes arbeitet, die „türkischen Powergirls“; b) eine multiethnische, aber mehrheitlich türkischstämmige Gruppe von jungen AkademikerInnen, die sich als gesellschaftlich-politisch engagierte Gruppe versteht und sich für eine gesellschaftliche Gleichstellung von Migranten in Deutschland engagiert, die „Unmündigen“; und c) eine Gruppe türkischstämmiger Jungakademiker, die sich in nationalen und internationalen Netzwerken bewegen und sich als weltläufige, polyglotte Türken verstehen, die „Europatürken“. In dem von mir vorgelegten Buch geht es um die Gruppe der „türkischen Powergirls“, die beiden anderen Gruppen, die „Unmündigen“ und die „Europatürken“, werden in eigenständigen Publikationen dargestellt. 2 Exkurs 1: In der Migrationssoziologie wird die soziale Intergration von Individuen unter vier Aspekten gefasst (vgl. dazu Esser 2004, S. 46): „die Kulturation als die Übernahme von Wissen, Fertigkeiten und kulturellen ‘Modellen’, speziell auch die sprachliche Sozialisation; die Platzierung als die Übernahme von Rechten und die Einnahme von Positionen in (relevanten) Bereichen des jeweiligen sozialen Systems, etwa in Bildung und Arbeitsmarkt; die Interaktion als die Aufnahme von sozialen Beziehungen und die Inklusion in (zentrale) Netzwerke und schließlich die Identifikation als die Übernahme gewisser ‘Loyalitäten’ zum jeweiligen System“. Die von uns untersuchten Gruppen haben erhebliche Anpassungsleistungen an die umgebenden Lebenswelten aus der Mehrheitsgesellschaft erbracht. Vor allem haben sie die - in Essers Terminologie - „strukturelle Assimilation“ vollzogen, d.h. eine erhebliche Anpassung im Bildungsbereich und auf dem Sektor des primären Arbeitsmarkts geleistet. Auch in Bezug auf die kulturelle und soziale Integration haben die von uns untersuchten Gruppen Erhebliches geleistet, dabei aber unterschiedliche Lösungen entwickelt, die zu einem neuen, positiven Selbstkonzept und zu erfolgreichen Lebenswegen führten. Die Anpassungsleistung der „türkischen Powergirls“ und die spezifischen Lösungen, die sie für Probleme gefunden haben, die sie auf dem Weg in die Mehrheitsgesellschaft zu bewältigen hatten, sind Gegenstand dieses Buches. 2 Zu der Gruppe der „Unmündigen“ vgl. Cindark (2005 und i.Vorb.), zur Gruppe der „Europatürken“ vgl. Aslan (2005). Einführung 15 In Teil I des vorliegenden Bandes erfolgt die ethnografische Beschreibung der Lebenswelt der „türkischen Powergirls“, die die sozial-ökologische Struktur des untersuchten Stadtgebiets, die Strukturen und Wertorientierungen der türkischen Migrantenfamilien, die Spezifik der Bildungsinstitutionen und die Strukturierung der jungen Migrantenpopulation des Stadtgebiets umfasst. Die ethnografische Beschreibung bildet die Grundlage für die Analyse von Prozessen der sozialen Ausdifferenzierung und der Stilbildung, wie sie die „türkischen Powergirls“ geleistet haben, und die in Teil II und III dargestellt werden. In Teil II wird der biografische Entwicklungsprozess der Gruppenmitglieder beschrieben, und es werden die Faktoren herausgearbeitet, die zur Konstitution der ethnischen Gruppe und zur devianten Clique führten. Dann folgt die Darstellung der Neuorientierung der Gruppenmitglieder unter dem Einfluss neuer Leitbilder und der Entwicklung neuer, sozial akzeptierter Lebensentwürfe. In Teil III, dem Hauptteil der Untersuchung, wird das sprachlich-kommunikative Ausdrucksverhalten der Gruppenmitglieder dargestellt und mit dem Konzept des „kommunikativen Stils“ erfasst. Schlüsselelemente für die Herausbildung des „Powergirl“-Stils sind die Spannung zwischen familiären Einschränkungen und der Suche nach Freiräumen einerseits und Erfahrungen von Marginalisierung und Diskriminierung durch relevante Vertreter der deutschen Gesellschaft, andererseits. Im Laufe der Entwicklung zu sozial und beruflich erfolgreichen jungen Erwachsenen sind Veränderungen im „Powergirl“-Stil zu beobachten, Veränderungen in der Nutzung sprachlicher Ressourcen und in der Verwendung kommunikativer Mittel und Verfahren. Die Relevanz der „Powergirls“ hat sich durch den Vergleich mit den anderen Gruppen, den “Unmündigen“ und den „Europatürken“, und durch Beobachtungen aus anderen Städten bestätigt: Die „türkischen Powergirls“ sind typische Vertreterinnen junger Migrantinnen, die den äußerst schwierigen Weg aus der Migrantengemeinschaft mit ihren traditionellen sozial-kulturellen Orientierungen (vergleichbar mit Migrantengemeinschaften, wie sie sich in vielen städtischen Wohngebieten in Deutschland entwickelt haben) und den Eintritt in die schulische und berufliche Welt der Mehrheitsgesellschaft erfolgreich bewältigt haben. Die dabei gemachten Erfahrungen und ihre Verarbeitung, die Entwicklung spezifischer sozial-kultureller Orientierungen und die Herausbildung eines besonderen Ausdrucksverhaltens, des kommunikativen Stils, sind charakteristisch für diesen Lebensweg. Die „türkischen Powergirls“ 16 2. Der ethnografisch-soziostilistische Ansatz Der gewählte ethnografisch-soziostilistische Ansatz gehört zum qualitativen Forschungsparadigma der interaktionalen Soziolinguistik, wie sie von Gumperz (1982) eingeführt wurde. Die interaktionale Soziolinguistik verbindet Linguistik, Konversationsanalyse, ethnografische und kulturanthropologische Ansätze. Ihr Interesse richtet sich auf die Erfassung des engen Zusammenspiels zwischen Sprache, Gesellschaft, Kultur und kommunikativer Verschiedenheit (Gumperz 1999, S. 453); ihr Ziel ist es „to show how individuals [...] use talk to achieve their communicative goals in real life situations by concentrating on the meaning making processes and taken-for granted background assumptions that underlie the negotiation of shared interpretations“ (ebd., S. 454). In Deutschland knüpfen die Arbeiten aus Konstanz an Gumperz' interaktionale Soziolinguistik an (Auer/ di Luzio 1984), entwickeln seine Konzepte des Code-switching (Auer 1984) und der Kontextualisierung (Auer 1992) weiter, ebenso wie seine Ansätze zur interkulturellen Kommunikation (Günthner 1993, Günthner/ Kotthoff 1991 und 1992). Hinnenkamp (1989) verbindet in der Untersuchung zu Problemen und Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation den interaktionalen Ansatz mit Goffmans Konzept des „Face“ (1971) und Bourdieus Konzept des „Habitus“ (1982). In dem am Institut für Deutsche Sprache/ Mannheim durchgeführten Projekt „Kommunikation in der Stadt“ wurde der Gumperzsche Ansatz unter Einbezug qualitativer Ansätze aus der Soziologie (Goffman, Strauss) und stilistischer Ansätze aus Linguistik, Kulturanthropologie und Ethnografie programmatisch angewandt und weiter entwickelt und führte zu umfassenden Beschreibungen von städtischen Sozialwelten und zu detailgenauen Analysen des kommunikativen Stils dieser Welten. 3 An diese Arbeiten knüpft die vorliegende Untersuchung an. Zentrales Merkmal der interaktionalen Soziolinguistik ist die auf die Analyse konkreter Interaktionen angelegte qualitative Arbeitsweise, 4 bei der Sprache und Gesellschaft nicht als sich getrennt gegenüberstehende Bereiche verstanden werden, sondern Gesellschaft als von den Beteiligten in sprachlichen Interaktionen hergestellte Wirklichkeit verstanden wird. In Anknüpfung an Gumperz besteht das Hauptziel der interaktionalen Soziolinguistik darin zu zeigen, wie die in Interaktionen verwendeten sprachlichen und kommunika- 3 Vgl. dazu Kallmeyer (Hg.) (1994) und (1995), Keim (1995a) und Schwitalla (1995). 4 Einen guten Überblick über qualitative Ansätze und Methoden gibt Kallmeyer (2004b). Einführung 17 tiven Mittel bestimmte Aktivitäten und konversationelle Aufgaben erfüllen, wie im Verlauf der Interaktion Inferenzen ermöglicht und Interpretationen gefunden oder verworfen werden, und welche interaktiven und sozialen Konsequenzen damit verbunden sind. Ein zentrales Konzept für die Erschließung von Bedeutung ist die konversationelle Inferenz; damit wird der Prozess gefasst, in dem der Rezipient eine Interpretation dessen, was der Sprecher meint, im fortlaufenden Äußerungsprozess entwickelt. Konversationelle Inferenz schließt mehrere Äußerungsdimensionen ein und gründet in kontextuell relevant gemachten und kulturell geteilten Wissensvoraussetzungen. Die Mittel und Verfahren, die Inferenzen ermöglichen, Bedeutung signalisieren, die Interpretation leiten und thematische Kohärenz ermöglichen, nennt Gumperz „contextualization cues“. Gumperz (1992) fasst Kontextualisierung als „speakers' and listeners' use of verbal and nonverbal signs to relate what is said [...] to knowledge acquired through past experience, in order to retrieve the presuppositions they must rely on to maintain conversational involvement and access to what is intended“ (ebd., S. 230). Kontextualisierung umfasst also alle Aktivitäten, mit denen die Gesprächsbeteiligten ihre Äußerungen im Interaktionsprozess interpretierbar machen und mit denen sie den Kontext herstellen, in dem ihre Äußerungen verstanden werden sollen. Kontext ist das Produkt gemeinsamer Hervorbringung durch die Interaktanten, die sich in jedem Moment der Interaktion signalisieren, was für sie relevant ist. Das können materielle Faktoren der Situation sein, es können aber auch aus der Situation emergierende oder von ihr unabhängige Parameter sein. Reflexive Kontextkonzepte wurden auch von Garfinkel (1967) und Goffman (1974a) vertreten; doch Gumperz Ansatz entwickelte sich zu einer eigenständigen Forschungsrichtung. 5 Bei dem Versuch einer Typologie von Kontextualisierungsmitteln geht Auer (1992, S. 26) von der Frage aus, „how much context is ‘brought along’, and how much of it is ‘brought about’ in interaction“. 6 Obwohl Kontext emergent ist und in der Situation hervorgebracht 5 Vgl. z.B. die Sammelbände Auer/ di Luzio (1992) und Duranti/ Goodwin (1992). 6 Die Unterscheidung von „brought along“ und „brought about“ hat als erster Hinnenkamp (1987, S. 143) in die Diskussion gebracht: „I would like to introduce here the dualistic concept of taking into account what is locally brought about through joint effort against and complementary to what is brought along in terms of their emergent and prestructured groundedness into the actual accounter“. Auer hat Hinnenkamps Konzept aufgegriffen und weiter ausdifferenziert. Die „türkischen Powergirls“ 18 wird, gibt es Fälle, in denen Kontext „mitgebracht“ wird („brought along“) und in der Situation nur noch relevant gemacht werden muss, neben Fällen, in denen Kontext nur durch die Kontextualisierungsarbeit der Beteiligten hergestellt wird. 7 Nach Auer haben Kontextualisierungsmittel folgende Eigenschaften: sie werden redundant kodiert, sind non-referenziell, etablieren Kontraste, können konventionalisiert oder natürlich sein und können hierarchisch geordnete Schemata indizieren. Trotz seiner Komplexität und einiger theoretisch-methodischer Unschärfen wurde das Kontextualisierungskonzept in der interaktionalen (Sozio-)Linguistik und in der Mikroethnografie erfolgreich angewandt, weil es verbale Interaktionen mit Aspekten des para- und nonverbalen Verhaltens ebenso wie mit übergeordneten sozialen Strukturen in Beziehung zu setzen vermag. 2.1 Bezüge zu anderen Ansätzen 2.1.1 Konversationsanalyse Bereits bei Gumperz ist der direkte Bezug zur ethnomethodologischen Konversationsanalyse angelegt, die auf die Untersuchung von sozialer Interaktion als einem fortwährenden Prozess der Hervorbringung sozialer Organisation zielt. In der Konversationsanalyse sind Alltagsinteraktionen Ausgangspunkt für die Aufdeckung sozialer Strukturen und Prozesse. 8 Die Konversationsanalyse geht von der Grundannahme aus, dass „sich soziale Wirklichkeit kontinuierlich in kommunikativen Akten aufbaut und dass in allen Formen von sprachlicher und nicht-sprachlicher Kommunikation die Handelnden damit beschäftigt sind, die Situation und den Kontext ihres Handelns zu analysieren [...] und das eigene Tun mit dem Tun der anderen zu koordinieren“ (Bergmann 2001, S. 919). Ziel der Konversationsanalyse ist es, die Prinzipien und Mechanismen zu rekonstruieren, die die Beteiligten verwenden, um soziale Ordnung im sequenziellen Handlungsvollzug herzustellen. Die Rekonstruktion ist dabei immer strukturanalytisch, d.h., sie zielt auf die Aufdeckung grundlegender Eigenschaften und Verfahren, die für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit verwendet werden. Die Wirksamkeit übergreifender gesellschaftlicher Strukturen und normativer Orientierungen wird dabei 7 Die Trennung in „brought along“ und „brought about“ ist theoretisch plausibel; bei der Analyse empirischen Materials ist eine klare Unterscheidung jedoch oft schwierig. 8 Zur Darstellung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse vgl. Bergmann (2001), Kallmeyer (2004a); zur gesprächsanalytischen Methodologie vgl. Deppermann (1999). Einführung 19 nicht als für die lokale Bedeutungsherstellung gegeben vorausgesetzt, sondern die Orientierung der Beteiligten daran ist analytisch nachzuweisen und zu rekonstruieren. Mit seinem Interesse an sozialer Bedeutung erweitert Gumperz - programmatisch (1999) - die ethnomethodologische Herangehensweise, in der die Interpretationen der Teilnehmer ebenso wie die der Analysierenden ausgeklammert werden, durch Ansätze, die sich mit der Herstellung von Bedeutung beschäftigen: durch Goffmans (1974a) Konzept des „Framing“, Grice' (1989) Analyse von Prozessen der Inferenz und der konversationellen Implikaturen, durch metapragmatische Ansätze, die im Umkreis von Silverstein entstanden sind (vgl. u.a. Silverstein 1992) und vor allem durch den Einbezug des ethnografischen Kontextes der Interaktanten in die Bedeutungsanalysen. 2.1.2 Ethnografie als Basis für die Bedeutungsanalyse Eine geeignete Methode zur Erfassung der sozial-kulturellen Zusammenhänge, in denen Interaktionsbeteiligte leben, und in denen sie die Wissensbestände erwerben, auf die sie bei der interaktiven Bedeutungsherstellung rekurrieren, ist die Ethnografie, die von Gumperz und Hymes (1964, 1972) in der soziolinguistischen Forschung etabliert wurde. Für Gumperz und Hymes bildet sie die Basis der Soziolinguistik und der sozialen Bedeutungsanalyse. In interaktionalen Arbeiten in Großbritannien wurde sie zur linguistischen Ethnografie weiterentwickelt (vgl. Rampton et al. 2004) und in Deutschland zu einer ethnografischen Konversationsanalyse (Deppermann 2001) 9 bzw. zu einer ethnografisch basierten und konversationsanalytisch ausgerichteten Soziostilistik. 10 Durch die Ethnografie erhält der Forscher Einblick in möglichst viele Lebensbereiche, Ereignisse, Situationen, Strukturen und Prozesse 9 Deppermann (2001) argumentiert für eine notwendige Verbindung von Konversationsanalyse und Ethnografie, da die Konversationsanalyse, obwohl sie aufgrund ihrer gegenstandsfundierten Methodologie für die Analyse von Gesprächen äußerst geeignet ist, einen „gravierenden Mangel“ hat: Sie „verfügt über keine adäquate Interpretationstheorie“ (S. 96). An Beispielen zeigt er die Notwendigkeit der Fundierung gesprächsanalytischer Befunde durch Wissen, das über ethnografische Untersuchungen gewonnen wurde, und er steckt die Verzahnungen von gesprächsanalytischer und ethnografischer Vorgehensweise ab. 10 Vgl. die am Institut für Deutsche Sprache durchgeführten Projekte „Kommunikation in der Stadt“ und „Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile in türkischstämmigen Migrantenjugendgruppen“. Die „türkischen Powergirls“ 20 einer sozialen Welt und kann ihre Kultur und Wertorientierungen in ihrer Gesamtheit erfassen. Mit dem ethnografischen Ansatz ist es möglich, Interaktionen in größere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge zu bringen und sie in ihrer Relevanz, Typizität und Repräsentativität zu bestimmen (vgl. dazu Deppermann 2001, S. 105ff.). Die Reichweite der ethnografischen Methode ist - aufgrund der Anforderung nach umfassender und gleichzeitig detailgenauer Beschreibung - auf die Erfassung von gesellschaftlichen Bereichen auf einer „mittleren“ Komplexitätsebene begrenzt; d.h., sie ist geeignet für die Analyse von sozialen Welten (vgl. unten 2.2), wie sie sich in Organisationen und Institutionen, aber auch in Stadtbezirken oder ethnischen Kolonien herausbilden. Der ethnografische Forschungsansatz setzt eine intime Vertrautheit des Untersuchenden mit der untersuchten sozialen Welt und eine langfristige Teilnahme an Alltagshandlungen der Angehörigen dieser Welt voraus. Zentrale Erhebungsmethoden sind die teilnehmende Beobachtung, die Audio- und Videodokumentation natürlicher Interaktionsereignisse und das ethnografische Interview. Die analytischen Foki und die Vorgehensweise bei der Datenerhebung werden in Auseinandersetzung mit den konkreten Felderfahrungen entwickelt, und der Untersuchende muss „vor Ort“ untersuchungspraktische Fragen entscheiden. Zentral für die Validität ethnografischer Untersuchungen ist die Ausrichtung auf die folgenden, in der qualitativen Sozialforschung diskutierten methodologischen Prinzipien (vgl. Kallmeyer 1995b, 2004b): a) das methodisch kontrollierte Fremdverstehen, b) die Multiperspektivik und c) die dichte Beschreibung. Zu a): Ziel einer ethnografischen Beschreibung ist, die fremde Kultur in ihrer Normalität und inneren Logik zu begreifen und darzustellen (vgl. Goodenough 1964), ein Bild der Gesellschaft „von innen“ zu liefern und die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder aus deren Perspektive zu beschreiben. Bei der ethnografischen Arbeit hat der Forscher zwei Anforderungen zu erfüllen: er muss die kulturelle Distanz zu den Fremden überwinden und sich gleichzeitig von seinen vertrauten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern distanzieren. Beide Aspekte gehören zum methodisch kontrollierten Fremdverstehen, das einen kontrollierten Umgang mit dem eigenen Vorverständnis voraussetzt. In der Terminologie von Agar (1980) muss der Forscher zum „professionellen Fremden“ werden, der sich engagiert, aber auch distanziert Einführung 21 auf das Fremde einlässt. Die zentrale Methode, die teilnehmende Beobachtung, umfasst stärker teilnehmende ebenso wie stärker aus der Distanz beobachtende Verfahren. Für jede teilnehmende Beobachtung ist es wichtig, einen guten Zugang zum „Feld“ und eine Beteiligungsrolle zu finden, die es erlaubt, auf natürliche Weise und langfristig zu beobachten und zu dokumentieren. Mit der teilnehmenden Beobachtung sind meist auch Legitimationsprobleme und Probleme der Verstrickung in die Ereignisse der beobachteten Welt verbunden, für die der Ethnograf eine geeignete Lösung finden muss. Wichtige Erkenntnisquellen sind seine eigenen Reaktionen auf die fremde Welt; er ist Teilnehmer und reagiert immer auch aus seiner kulturell verankerten Perspektive. Seine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Neuen können Einsichten in die eigene und die fremde Kommunikationspraxis und die dazu gehörenden Regeln des Sprechens liefern. Zu b) Multiperspektivik: Kontrolliertes Fremdverstehen steht in engem Zusammenhang mit Multiperspektivik, d.h. der Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf ein Ereignis oder einen Sachverhalt. Wichtig ist es, einerseits verschiedene Perspektiven der beobachteten Akteure zu erfassen und Unterschiede herauszuarbeiten, andererseits auch die Perspektivenunterschiede zwischen dem Beobachter und den Beobachteten zu berücksichtigen. Das Erfassen und Berücksichtigen unterschiedlicher Perspektiven wird als „Perspektiventriangulation“ bezeichnet. Dabei geht es sowohl um den Vergleich von Daten, die aus unterschiedlichen Perspektiven stammen, als auch von Daten aus unterschiedlichen Phasen der Feldarbeit und aus unterschiedlichen Erhebungsverfahren, z.B. aus der Tonund/ oder Videodokumentation eines Ereignisses bei der teilnehmenden Beobachtung und aus späteren Berichten oder Erzählungen bei einem ethnografischen Interview, die das Ereignis in einen größeren biografischen oder sozial-historischen Zusammenhang bringen. Durch die Kombination von Beobachtungen aus verschiedenen Perspektiven und aus unterschiedlichen Datenquellen kann der Beobachtungsgegenstand aspektreich und vielgestaltig beschrieben werden. Zu c) „Dichte Beschreibung“ und theoretische Abstraktion: Nach Geertz (1983), der diesen Begriff geprägt hat, unterscheidet sich die „dichte Beschreibung“ von der „dünnen Beschreibung“, der konkret und rein phänomenologisch vorgehenden Vorgangsbeschreibung, darin, dass sie interpretiert, was ein Vorgang für die Gesellschaftsmitglieder bedeutet und wie sie Die „türkischen Powergirls“ 22 mit diesen Bedeutungen umgehen. Die Theoriebildung über den Gegenstandsbereich wird von der dichten Beschreibung geleitet, wobei die Daten in einem gestaffelten Kodierungsprozess erst „offen“ und ad hoc, dann selektiv und in Bezug auf bestimmte Eigenschaftsdimensionen und schließlich in Bezug auf theoretisch gebildete Kategorien erfasst werden. Ziel dieses gestaffelten Kodierungsprozesses ist es, die Kategorien in den Daten zu begründen und nicht von „außen“ an die Daten heranzutragen. Im Laufe der Theorieformulierung werden die herausgefilterten Kategorien in Bezug auf sich abzeichnende Strukturen präzisiert und verdichtet. Im Rahmen einer solchen empirisch begründeten Theorie orientiert sich die Auswahl der zu berücksichtigenden Fälle schrittweise am Stand der sich entwickelnden Theorie. 11 Neue Fälle werden bis zum Punkt der „theoretischen Sättigung“ der analytischen Kategorien und ihrer Relationen untereinander einbezogen; d.h., die Beschreibung von sozialen Einheiten, von Schauplätzen, Institutionen und Gruppen ist so anzulegen, dass ein Gesamtbild der Organisation des sozialen Lebens erscheint. 2.2 Das Konzept der sozialen Welt Die ethnografische Beschreibung liefert eine Panorama-Darstellung des untersuchten gesellschaftlichen Bereichs (einer Organisation, eines Stadtgebiets, einer ethnischen Gemeinschaft usw.). Für die Analyse des Zusammenhangs von Sprache, Interaktion und sozial-kultureller Bedingtheit müssen im ethnografischen Sinne typische und repräsentative soziale Einheiten und Konstellationen ausgewählt werden, die sich für eine intensive Beobachtung und Dokumentation eignen. Angesichts der Tatsache, dass moderne Organisationen ebenso wie städtische Gesellschaften durch variabel strukturierte soziale Grenzen, durch vielfache Verbindungen, hierarchische Strukturierungen und oft auch weite Überlappungen sozialer Einheiten charakterisiert sind, ist das Konzept der sozialen Welt (Strauss 1984), das in der Nachfolge des symbolischen Interaktionismus entwickelt wurde, geeignet, um die Dynamik von sozialen Prozessen zu erfassen und gleichzeitig den Bezug zwischen sozialen und sprachlichen Strukturen und Bedeutungen herzustellen. Das Konzept der sozialen Welt zielt nicht auf formale Organisationsstrukturen, sondern auf 11 Der hier skizzierte Ansatz folgt in groben Zügen der von Glaser/ Strauss (1967) formulierten „Grounded Theory“. Einführung 23 relativ flexible Zusammenschlüsse von Akteuren, die Aufgaben für die Bearbeitung wichtiger Belange des gesellschaftlichen Lebens übernehmen. In der Kooperation entwickeln diese Akteure auf den Handlungsprozess bezogene Sozialbeziehungen. Sie verschaffen sich Ressourcen, und es entstehen Arenen für die Austragung von Streitfragen um Aufgabenstellung, Legitimität und Ressourcen. Soziale Welten sind dynamische Gebilde; sie haben eine Tendenz zur Segmentierung, d.h. zur Ausgliederung von Subwelten, und sie verzahnen sich mit anderen „sozialen Welten“ (Strauss 1984). Im Rahmen von sozialen Welten können sich soziale Gruppen mit mehr oder weniger stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, zu deren Zielen die Bearbeitung spezifischer Aufgaben gehört. Wegen der für einen externen Beobachter leicht erkennbaren Organisationsstruktur von Gruppen und ihrer in der Regel lokalen Verankerung sind Interaktionen sehr gut in Gruppen zu beobachten, die Teil von sozialen Welten sind. In sozialen Welten bzw. in sozialen Gruppen bilden sich für die Bewältigung anstehender Aufgaben Handlungsroutinen heraus, ebenso wie Modelle für erfolgreiches Handeln. Diese Handlungsroutinen und Handlungsmodelle lassen sich als kommunikative Stile fassen, die zur erfolgreichen Durchführung alltäglicher und spezifischer Aufgaben herausgebildet werden; d.h., kommunikative Stile sind auf soziale Welten bezogen, weltspezifisch ausgeprägt und können über die Analyse sozialer Welten erfasst werden. Angehörige von sozialen Welten erproben die interaktive Wirksamkeit kommunikativer Stile in Debatten, in denen es um die Lösung zentraler Aufgaben geht. Diese Debatten finden in Arenen statt, z.B. in Vereinsversammlungen, Gremiensitzungen in Institutionen und Organisationen oder in Gruppensitzungen, in denen über anstehende Fragen diskutiert und nach Lösungen gesucht wird. Solche Debatten sind für die Stilbildung von zentraler Bedeutung, da in ihnen problematisches ebenso wie erfolgreiches Handeln vorgeführt, inszeniert und bewertet wird, besonders dann, wenn Vertreter unterschiedlicher Gruppen aufeinander treffen, die zur Hervorhebung des Kontrasts stilistische Unterschiede hochstufen und sie mit expliziten Bewertungen verbinden. In solchen Gegenüberstellungen wird die Spezifik der eigenen stilistischen Praxis im Kontrast zu der der Opponenten überdeutlich konturiert, so dass ein klar umrissenes Stilbild nach außen und innen entsteht. Stil wird als „eigener Stil“ bzw. „unser Stil“ demonstriert und dem Stil Die „türkischen Powergirls“ 24 der „anderen“ gegenübergestellt. 12 Solche Debatten bilden Schlüsselsituationen für die Beobachtung und Analyse von kommunikativen Stilen und ihrer interaktiven Wirksamkeit. 3. Design und Durchführung der Untersuchung Auf der Basis der ethnografischen Panorama-Beschreibung des ausgewählten gesellschaftlichen Bereichs, eines innerstädtischen Migrantenwohngebiets, erfolgt die Auswahl von - im ethnografischen Sinn - typischen und repräsentativen sozialen Welten (bzw. als Beobachtungsobjekt Gruppen aus diesen sozialen Welten). Nach der Klärung des Zugangs zur Gruppe (Rolle des Ethnografen, Dokumentationsmöglichkeiten usw.) wird das Kommunikationsverhalten der Gruppe umfassend dokumentiert: Ingroup-Kommunikation, Outgroup-Kommunikation mit relevanten Anderen und - soweit möglich - private, intime Kommunikation in der Familie oder mit engen Vertrauten. Außerdem werden mit Gruppenmitgliedern und relevanten Außenstehenden (Lehrende, Betreuende, Familien) ethnografische bzw. biografische Interviews durchgeführt. Die aufgezeichneten natürlichen Gesprächsdaten (Ton- und Videoaufnahmen) werden protokollarisch erfasst, und es werden Schlüsselsituationen für die Transkription ausgewählt, die mit den in Linguistik und Konversationsanalyse entwickelten Analyseinstrumentarien und -kategorien auf folgende, für die Beschreibung kommunikativer Stile zentralen Fragen hin untersucht werden: 13 - Wie und mit welchen Mitteln nehmen die Interaktanten die sozial-ökologische Einbettung in ihre Lebenswelt vor, und wie positionieren sie sich in Relation zu relevanten Anderen aus dem Lebensumfeld? Die Bearbeitung dieser Fragen vermittelt Einsichten in die Orientierungsgrößen, an denen die Gruppenmitglieder die Stilbildung ausrichten, und ermöglicht die Beschreibung der Ausdrucksmittel und -verfahren, die dafür verwendet werden. - Welche Eigenschaften spielen für die Selbst- und Fremdkategorisierung eine Rolle, welche Kontraste werden hergestellt und mit welchen Bewer- 12 In Arena-Debatten wird häufig ein ideologisches Spotlight auf Stilformen geworfen, vgl. Kallmeyer/ Keim (1996). 13 Zur ausführlichen Darstellung des Konzepts des kommunikativen sozialen Stils, wie es in dieser Untersuchung verwendet wird, vgl. unten Teil III, Kap. 1. Einführung 25 tungen verknüpft? Das führt zur Erfassung des sozio-semantischen Systems, das die Beteiligten zur Analyse ihrer Lebenswelt entwickelt haben. - Mit welchen sprachlich-kommunikativen Mitteln und Verfahren wird soziale Zugehörigkeit ausgedrückt, was wird als „eigene Sprache“ bestimmt? Die Bearbeitung dieser Fragen vermittelt Einsichten in das sprachlich-kommunikative Repertoire der Beteiligten und zeigt, wie die verfügbaren Ressourcen zur Herstellung des typischen Umgangstons in der Ingroup-Kommunikation genutzt werden. - Welche Ausdruckselemente werden zur sozialen Abgrenzung gewählt und mit welchen sprachlich-kommunikativen Mitteln und Verfahren wird sozial-symbolisierend auf soziale Kategorien und Kontexte verwiesen? Analysen zur Bearbeitung dieser Fragen zeigen den Einsatz sprachlichkommunikativer Ressourcen zur sozialen Symbolisierung und zur Abgrenzung gegen andere. - Gibt es stilistische Veränderungen im Prozess sich verändernder sozialer Bedingungen und sich verändernder Anforderungen an die Gruppenmitglieder? Diese Fragen können nur auf der Basis von Beobachtungen und Dokumentationen erfolgen, die den Entwicklungsprozess der Gruppe über einen längeren Zeitraum verfolgen. Das untersuchte Mannheimer Innenstadtgebiet (Jungbusch und Westliche Unterstadt) hat einen Anteil von über 60% Migranten an der Wohnbevölkerung und wird aus der Innen- und Außenperspektive auch als Ghetto bezeichnet (vgl. I., 1.1), eine negativ konnotierte Bezeichnung, die sich auf die durch soziale Segregation entstandene Einheitlichkeit bezieht, die das Stadtgebiet von anderen Stadtgebieten unterscheidet. Es gibt Migrantenfamilien, die bereits in der dritten Generation dort leben und sich eingerichtet haben. Die ethnografischen Interviews mit LehrerInnen, SchulleiterInnen, ErzieherInnen, LeiterInnen sozialer Einrichtungen, StadtteilpolitikerInnen, religiösen Vertretern, mit türkischen Familien und türkischstämmigen Jugendlichen ergaben, dass die junge türkischstämmige Migrantenpopulation in zwei große Gruppen eingeteilt werden kann, die sich nach ihren sozial-kulturellen Orientierungen unterscheiden: a) Diejenigen, die sich auf die Welt der Migrantengemeinschaft hin orientieren, sich damit identifizieren und langfristig darin leben wollen bzw. müssen. Diese Orientierung ist in der Regel mit negativen Schulerfahrungen und mit dem Besuch der Hauptschule, die auf dem Territorium des Die „türkischen Powergirls“ 26 Stadtgebiets liegt, verbunden. Kinder, die diese Orientierung ausbilden, erleben sich schon früh als Schulversager, werden oft zu Schulverweigerern und wenden sich von der deutschen Gesellschaft ab. Diesen Weg gehen die meisten Migrantenjugendlichen (vgl. unten I, 4.). b) Diejenigen, die aus der Migrantengemeinschaft streben. Dieser Weg führt über eine erfolgreiche Karriere in höheren Schulen außerhalb des Stadtgebiets (Fachgymnasium und Gymnasium); d.h., die Schule hat für junge MigrantInnen in besonderer Weise „gate-keeping“ Funktion, da sie wesentliche Voraussetzungen für den Weg aus dem Ghetto in die Mehrheitsgesellschaft schafft. Charakteristisch für junge MigrantInnen, die diesen Weg gehen, sind die Auseinandersetzungen mit der Migrantengemeinschaft, von der sie sich lösen, ebenso wie mit der deutschen Gesellschaft, von der sie sich abgelehnt fühlen, in der sie aber erfolgreich werden wollen. Die im Rahmen unseres Projekts untersuchten Gruppen türkischer Herkunft sind den unter b) skizzierten Weg gegangen. Für die Auseinandersetzung mit der Migrantengemeinschaft ebenso wie mit der deutschen Gesellschaft haben die drei Gruppen verschiedene und gleichzeitig typische Lösungen gefunden, die Ausdruck in ihren kommunikativen Stilen finden: 14 - Die „Europatürken“ setzen dem negativen Bild des Ghettotürken ein positives Selbstverständnis als weltläufige, akademisch gebildete, kompetent mehrsprachige Türken entgegen und positionieren sich damit in Kontrast zur Migrantengemeinschaft des Stadtgebiets. Die für Ghettojugendliche charakteristischen Ausdrucks- und Verhaltensmerkmale (vgl. Teil I, Kap. 4.) lehnen sie kategorisch ab und entwickeln einen Kommunikationsstil, der in maximalem Kontrast dazu steht. - Die Lösung der „Unmündigen“ sieht anders aus: Sie wenden sich vor allem gegen das vorurteilsbehaftete Denken in der deutschen Gesellschaft, das die gleichberechtigte Teilhabe von Migranten am politischen und gesellschaftlichen Leben erschwert oder verhindert. Für dieses Ziel arbeiten sie an einem elaborierten, offensiven Kommunikationsstil, der es ihnen erlaubt, die Vorurteile der Deutschen, die sich in alltäglichen Handlungen offenbaren, zu entlarven und sie gegen die Diskriminierer zu wenden. 14 Zu einem überblickartigen Vergleich des Kommunikationsstils der „Unmündigen“, der „Europatürken“ und der „Powergirls“ vgl. Keim (2003a). Einführung 27 - Die Gruppe der „türkischen Powergirls“ ist jünger und homogener als die beiden anderen Gruppen. Der Zusammenschluss zur Gruppe ist ähnlich wie bei den anderen durch die Auseinandersetzung mit der Welt der türkischen Migranten und der Welt der Deutschen motiviert, doch geschlechts- und altersspezifisch zugespitzt: Zu Beginn der Untersuchung sind die 15-18-jährigen Mädchen dabei, den Weg aus dem Ghetto zu gehen und ein neues, eigenständiges Selbstbild zu entwickeln, das sie im Kampf gegen das traditionelle Leitbild für junge türkische Frauen, das in der untersuchten Migrantengemeinschaft vorherrscht, und in der Abwehr von Diskriminierung und Marginalisierung, die sie von Seiten der Deutschen erfahren, herausbilden. Von deutschen und türkischen PädagogInnen werden die „Powergirls“ als flippig, frech, wild, sehr bildungsorientiert und nicht den allgemeinen Vorstellungen über türkische Mädchen entsprechend beschrieben. Bei meinem ersten Besuch in der Jugendeinrichtung, in der sich die Gruppe regelmäßig traf, wirkten die Mädchen nicht nur wild und flippig, sondern auch in hohem Maße irritierend; einige waren abweisend und brüskierten mich mit Bemerkungen, die ich nicht verstand. Das verstärkte meine Neugier und ich wollte das Verhalten der Mädchen verstehen lernen. Da die Einrichtung Hausaufgabenhilfe anbietet, bot ich meine Mitarbeit an und bekam das Einverständnis der Leiterin. Sie hatte auch Verständnis für meine Untersuchung, aber die Mädchen lehnten sie rundweg ab, nahmen jedoch mein Angebot zur Hausaufgabenhilfe an. Nachdem meine Hilfe zur Verbesserung der Schulnoten geführt hatte, stieg meine Akzeptanz in der Gruppe, und von da an konnte ich Ton- und Videoaufnahmen machen. Ich arbeitete fast zwei Jahre regelmäßig in der Gruppe als Hausaufgabenhelferin, danach besuchte ich die Mädchen in regelmäßigen Abständen und nahm an Festen oder Ausflügen teil. Mit den meisten habe ich auch heute noch Kontakt, werde über schulische oder berufliche Abschlüsse informiert und zu Hochzeiten eingeladen. Die Arbeit in der Gruppe hat mir große Freude gemacht, ich habe von den Mädchen viel gelernt und sie haben mir Zugang zu ihren Familien und Freunden verschafft. Einige arbeiteten auch aktiv bei der Datenbeschaffung und -analyse mit. Ohne ihr Vertrauen, ihre Offenheit und Mitarbeit wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Die ethnografische Beschreibung der Lebenswelt der „Powergirls“ (Teil I) basiert im Wesentlichen auf ethnografischen Interviews mit Funktionsträgern und Stadtteilbewohnern, mit Familien und Jugendgruppen, außerdem Die „türkischen Powergirls“ 28 auf Beobachtungen und Ton- und Videomitschnitten besonderer sozialer Ereignisse (Hochzeiten, Stadtteilfeste, Musik- und Theateraufführungen von Migrantenjugendgruppen), auf Beobachtungsprotokollen und auf Daten aus anderen Quellen (Zeitungen, Statistiken, Broschüren, Radio- und Fernsehsendungen). Die ethnografischen Befunde werden zu Forschungsergebnissen der Migrationssoziologie und der migrationsbezogenen erziehungswissenschaftlichen Forschung in Bezug gesetzt. Dies erfolgt in Exkursen, die von der ethnografischen Darstellung getrennt präsentiert werden. Die Rekonstruktion biografischer Entwicklungen der „Powergirls“ (Teil II) basiert auf den biografischen Interviews mit den Gruppenmitgliedern, ergänzt durch die Perspektive der Eltern und PädagogInnen und durch Material aus den Gruppengesprächen. Die Stilanalysen (Teil III) basieren auf den Interaktionen der Mädchen untereinander und auf Interaktionen zwischen den Mädchen und der Leiterin der Jugendeinrichtung oder Außenstehenden. Für die Stilanalyse verwertbar sind ca. 50 Stunden Audio- und Videoaufnahmen. Als Vergleichsmaterial für die Stilanalyse dienten einerseits Mitschnitte aus Interaktionen anderer Jugendgruppen aus dem Stadtgebiet (Interaktionen in Schulklassen, Theatergruppen), andererseits die Gesprächsmaterialien der „Unmündigen“ und der „Europatürken“. Gegenstand der folgenden ethnografischen Darstellung ist nicht die gesamte türkischstämmige Migrantenpopulation des Stadtgebiets, sondern die Auswahl von sozialen Einheiten und Ereignissen fand immer unter der Perspektive ihrer Relevanz für biografische Prozesse der „Powergirls“ und für die Herausbildung stilprägender Orientierungen statt. Die ethnografische Darstellung liefert also keine erschöpfende Beschreibung der ersten und zweiten Migrantengeneration des Stadtgebiets, sondern nur die für die „Powergirls“ relevanten Ausschnitte aus der lokalen und sozialen Welt des Stadtteils; so gibt es z.B. keine Darstellung von islamisch geprägten Jugendorganisationen im Stadtgebiet, da sie für das Leben der „Powergirls“ kaum von Bedeutung sind. B. Hauptteil I. Ethnografie des Lebensraums der „türkischen Powergirls“ - ein innerstädtisches Migrantengebiet in Mannheim Die folgende ethnografische Beschreibung gibt Einblick in Besonderheiten der sozial-ökologischen Struktur des untersuchten Stadtgebiets, in Bewertungen seiner Bewohner aus der Innen- und Außenperspektive, in Familienstrukturen der türkischen Population, in die spezifischen Probleme der Bildungsinstitutionen und in verschiedene Lebenswelten von Migrantenkindern und -jugendlichen. Die ethnografische Beschreibung erfasst den Lebensraum, in dem die in den Folgekapiteln beschriebenen „Powergirls“ leben und gibt Einblick in Orientierungen, Werte und Normen relevanter Bezugswelten und Bezugspersonen, mit denen die Gruppenmitglieder sich auseinandersetzen und zu denen sie sich in Beziehung setzen müssen. Die Ethnografie bildet die Basis für die Analyse der sozialen und sprachlichen Entwicklung der Gruppe und den Rahmen für die Analyse ihres Bedeutungssystems. Vor allem aber ermöglicht die ethnografische Beschreibung, soziale Ereignisse und Entwicklungsprozesse in einen größeren Strukturzusammenhang zu bringen und sie in ihrer Relevanz, Typizität und Repräsentativität zu erfassen. 0. Vorbemerkung: „Gastarbeiter“ in Deutschland 15 Aus wirtschaftlicher Notwendigkeit warb die Bundesrepublik ab Mitte der 50er-Jahre ausländische Arbeitskräfte in den südeuropäischen Ländern und der Türkei an, die für Arbeiten gebraucht wurden, für die nur eine geringe oder keine Qualifikation notwendig war. Der Arbeitseinsatz war auf Zeit geplant, und aus Sicht der Wirtschaft stellten ausländische Arbeiter ein mobiles Arbeitskräftepotenzial dar, das bei Konjunkturschwankungen problemlos „freigesetzt“ werden konnte. 16 Eine Ansiedlungspolitik war weder von 15 Die Situation der ehemaligen „Gastarbeiter“ wird hier nur in einigen Aspekten angedeutet. Zur ökonomischen, politischen, sozialen und rechtlichen Situation gibt es eine reichhaltige Forschungsliteratur aus (Migrations-)Soziologie, Sozialpsychologie und Erziehungswissenschaften. Einen guten Einblick in die Thematik vermitteln die Publikationen des Instituts für Migration und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück und das Institut für Türkeistudien in Essen. 16 1966 formulierte es ein Mitglied des Arbeitgeberverbandes folgendermaßen: „Der große Wert der Ausländerbeschäftigung liegt darin, dass wir hiermit über ein mobiles Arbeits- Die „türkischen Powergirls“ 32 der Wirtschaft noch vom Staat wegen der hohen Kosten für die Entwicklung einer geeigneten Infrastruktur erwünscht. Die Bundesregierungen stellten sich in ihrer Ausländerpolitik auf ein Provisorium ein und orientierten sich bis in die jüngste Zeit bei ihren gesetzlichen und organisatorischen Maßnahmen an der Vorstellung, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Es wurden lange Zeit nur kurzfristige Arbeitsverträge ausgestellt (höchstens auf 4 Jahre) und Familiennachzug war nicht erwünscht. Einige Zeit wurde auch die „Rotation“ empfohlen, d.h. der Austausch von Arbeitskräften nach relativ kurzer Zeit, um ein Sesshaftwerden der ausländischen Arbeiter zu erschweren. Doch politische Vorstellungen und gesellschaftliche Realität klafften schon bald weit auseinander, und in den meisten Betrieben wurden die Arbeiter länger als geplant gebraucht. Da es rechtlich möglich war, nach dreijährigem Aufenthalt die Familien nachkommen zu lassen, waren bereits 1971 etwa 200 000 ausländische Kinder im schulpflichtigen Alter in Deutschland. Die Schulen waren darauf nicht vorbereitet, und es entstand eine Situation „wie sie in kaum einem vergleichbaren Industrieland herrschte“. 17 Die politische Antwort auf diese Situation war, dass man das Problem den ausländischen Familien aufbürdete: Man ging davon aus, dass „ausländische Arbeiter für ihre Kinder vorübergehend oder auf Dauer eine schlechtere schulische Versorgung in Kauf nehmen“. 18 Die ausländischen Arbeiter waren keine Einwanderer, und die Bundesrepublik sah bis in die jüngste Zeit keine Notwendigkeit, ihre Politik des Provisoriums aufzugeben. Bereits zu Beginn der 70er-Jahre machten wissenschaftliche Untersuchungen und Medienberichte immer wieder auf die Misere im Schul-, Ausbildungs- und Wohnbereich der ausländischen Familien aufmerksam; in den Innenbezirken einiger Großstädte (z.B. Berlin, Hamburg, München) waren bereits Ausländer-Wohngebiete entstanden, es gab Schulen mit über 50% Ausländeranteil, und 50-60% der ausländischen Schüler schafften den Hauptschulabschluss nicht. 19 kräftepotential verfügen. Es wäre gefährlich, diese Mobilität durch eine Ansiedlungspolitik einzuschränken“, zitiert nach Klee (1972, S. 26). 17 Vgl. Anfrage zur „Schul- und Berufsausbildung der Kinder ausländischer Arbeiter in der BRD “, 30.3.1971, zitiert nach Klee (1972, S. 68). 18 Zitiert nach Klee (1972, S. 70). 19 Vgl. den Überblick über die schulische Situation der ausländischen Kinder in Keim (1974, S. 172ff.). Ethnografie des Lebensraums 33 Auch auf Seiten der ausländischen Arbeiter und ihrer Familien wurde der Aufenthalt in Deutschland zunächst als Provisorium gesehen; die Rückkehr war fest eingeplant. Erst im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass die finanziellen Mittel, die die Ausländer in Deutschland erwirtschaftet hatten, nicht ausreichten, um sich in der Heimat eine Existenz aufzubauen. Viele Rückkehrer scheiterten und kamen als Arbeiter wieder zurück. Heute sind viele ehemalige „Gastarbeiter“ seit 30 bis 40 Jahren in Deutschland, ihre Kinder sind hier geboren, groß geworden und haben bereits selber Familien. Während dieser Zeit haben die Migrantenfamilien mehr oder weniger in einem rechtlichen, sozialen und schulischen Provisorium gelebt, und die Probleme der ethnischen Kolonien in Innenstadtbezirken haben sich verschärft. Erst in den letzten Jahren gibt es ein Umdenken in der deutschen Politik, und die Bundesrepublik erkennt jetzt auch offiziell an, dass sie zum Zuwandererland geworden ist. Doch die Umsetzung in rechtliche, organisatorische und praktische Maßnahmen zur Verbesserung der Lebens-, Ausbildungs- und Berufssituation von Migrantenkindern und -jugendlichen vollzieht sich nur sehr langsam. In Deutschland gibt es derzeit fast 8 Millionen Einwohner nicht-deutscher Herkunft, davon sind über die Hälfte Kinder und Jugendliche, die meisten davon hier geboren und aufgewachsen. Exkurs 2: Die soziologische Migrationsforschung in Deutschland ist vor allem von dem Integrationsbzw. Assimilationsansatz bestimmt (vgl. z.B. die IMIS -Beiträge, Pries 2000, Esser 2004). Da der Anwerbestopp für „Gastarbeiter“ 1973 nicht zu einer massenhaften Rückwanderung führte, sondern zu einem immensen Nachzug der Familien, wurde in der Migrationsforschung die Frage diskutiert, unter welchen Bedingungen und in welchen Sequenzen Migranten dauerhaft in die deutsche Gesellschaft integriert werden können. In Anknüpfung an die amerikanische Migrationsforschung setzte sich in jüngster Zeit der sowohl in Amerika als auch in Europa umstrittene Assimilationsbegriff durch (vgl. Esser 2004, Bade/ Bommes 2004), wobei Assimilation als „die Ausrichtung des Verhaltens von Individuen und Kollektiven an institutionalisierten sozialen Erwartungen“ der Aufnahmegesellschaften verstanden wird (Bade/ Bommes 2004, S. 9). Assimilation gilt als Voraussetzung für den Zugang zu Arbeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit und Prestige. In einem Beitrag diskutiert Esser (2004) die theoretisch möglichen Alternativen zu Assimilation vor dem Hintergrund der Funktionsbedingungen moderner Gesellschaften. Er unterscheidet vier Aspekte der Assimilation: die kulturelle (Spracherwerb), die strukturelle (Erwerb von Bildungsqualifikationen, Platzierung auf dem Arbeitsmarkt), die soziale (Kontakte zu und Heirat mit Einheimischen) und die emotionale (Identifikation mit den Verhältnissen der Aufnahmegesellschaft) Assimilation und kommt zu dem Ergebnis, Die „türkischen Powergirls“ 34 dass es „zur strukturellen Assimilation [im Bereich Bildung und Arbeit] [...] keine vernünftige Lösung“ gibt (Esser 2004, S. 58). Integration bzw. Assimilation sind vielgestaltige Prozesse, in deren Verlauf den Individuen die Teilnahme an den für ihre Lebensführung bedeutsamen Bereichen der Gesellschaft mehr oder weniger gut gelingt. Dieses Gelingen hängt einerseits von ideellen Ressourcen, wie Wissen und Bildung, von materiellen Mitteln und von sozialen Beziehungen ab und andererseits von den sozialen Bedingungen, die in den verschiedenen Bereichen gelten, zu denen Migranten Zugang suchen und die diese Versuche erleichtern oder erschweren (Bade/ Bommes 2004, S. 25). Mitbestimmt werden Eingliederungsprozesse vor allem auch durch die Aufnahmebereitschaft des Aufnahmelandes und durch entsprechende Eingliederungshilfen in den Bereichen Bildung und Arbeit. Da in Deutschland das Bildungssystem eine Art „Grundpfeiler“ für die Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse bildet - so Bade/ Bommes (ebd., S. 26) -, sind die Mehrheit der Migrantenkinder davon betroffen, trotz einer Reihe von Bildungsaufsteigern. Aus der Perspektive der Autoren ist eine zentrale Frage noch weitgehend ungeklärt, „ob es sich hier um einen sich stabilisierenden Prozess der fragilen, Risiko beladenen Integration in den Bereichen Bildung und Arbeit handelt, wie sich ein solcher Stabilisierungszusammenhang im Zusammenspiel zwischen Familien, Schule und Arbeitsmarkt intergenerativ reproduziert und welche Möglichkeiten der Intervention bestehen, ein solches beruflich-sozial lähmendes Zusammenspiel zu unterbrechen“ (ebd., S. 27). Lucassen (2004) sieht die Problematik der mangelnden Chancengleichheit anhand eines historischen Vergleichs vor allem in der Unfähigkeit der Aufnahmegesellschaften begründet, Migranten strukturell zu integrieren und ihre Diskriminierung zu bekämpfen. Wie die Situation der zweiten Generation der Algierer in Frankreich („Beurs“) zeigt, erklärt sich die soziale Situation der Jugendlichen weder aus ihrer religiös-kulturellen Verschiedenheit (viele distanzieren sich von der islamischen Kultur ihrer Herkunftsgemeinschaften), noch aus ihrer mangelnden Sprachkenntnis - die Jugendlichen sprechen sehr gut Französisch -, sondern aus ihrer Exklusion und Isolation innerhalb der französischen Gesellschaft. 1. Die Migrantenstadtteile in Mannheim: Jungbusch und Westliche Unterstadt Mannheim ist eine Industrie- und mittlere Großstadt im Südwesten von Deutschland mit 323 000 Einwohnern. Fast 63 000 Einwohner sind Migranten; das sind ca. 21% der Wohnbevölkerung. MigrantInnen türkischer Herkunft bilden die größte Gruppe (fast 40%), gefolgt von Italienern (14%), Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien (8%), aus Polen (5%), Griechenland (5%), Spanien (3%) und aus anderen Ländern. 20 Vor allem zwei 20 Vgl. die Statistik des Ausländerbeauftragten der Stadt Mannheim (2004). In Mannheim gibt es derzeit 171 Sprachgruppen. Ethnografie des Lebensraums 35 Stadtteile der Mannheimer Innenstadt haben einen hohen Migrantenanteil, der „Jungbusch“ mit fast 65% und der direkt angrenzende Stadtteil „Westliche Unterstadt“ mit ca 45%. Beide Stadtteile gehören zum alten Kern der Mannheimer Innenstadt, die das Gebiet innerhalb der Ringstraße einschließlich des im Nordwesten anschließenden Stadtteils Jungbusch umfasst. 21 Die beiden Hauptstraßen (Planken und Kurpfalzstraße) unterteilen das Gebiet innerhalb der Ringstraße kreuzweise in vier flächenmäßig etwa gleich große Gebiete: die Oberstadt mit dem Schloss, heute Universität, den vielen großen Geschäfts- und Verwaltungsbauten und den teuren Einkaufsstraßen 22 und die (Westliche und Östliche) Unterstadt mit vielen Geschäften und Wohnhäusern. Innenstadt von Mannheim; das Untersuchungsgebiet ist durch markiert © Amtliche Stadtkarte 1: 15000 der Stadt Mannheim, Ausgabe 2005, FB Geoinformation und Vermessung 21 Zur Ethnografie dieser Stadtteile vgl. Keim (1995b). 22 In der Oberstadt, dem Gebiet um das Schloss, lebten zu der Zeit, als Mannheim noch Sitz des Kurfürsten war, der Adel und das gehobene Hofpersonal. In der Unterstadt waren die Geschäfte der Hoflieferanten; hier lebten die Handwerker, die vor allem für den Hof arbeiteten, und das Dienstpersonal. Die „türkischen Powergirls“ 36 Ausschnitt: Westliche Unterstadt und Jungbusch © Amtliche Stadtkarte 1: 15000 der Stadt Mannheim, Ausgabe 2005, FB Geoinformation und Vermessung23 Die Westliche Unterstadt (mit den Quadraten E-K) und der Jungbusch gehören zu den am wenigsten durch den Krieg zerstörten Gebieten der Innenstadt, und seit Anfang der 70er-Jahre ist die Westliche Unterstadt Sanierungsgebiet. Der starke Zuzug von Migranten in den 70er-Jahren ist vor allem im Zusammenhang mit der Sanierung zu sehen: Ein Großteil der angestammten (deutschen) Bevölkerung aus dem Stadtgebiet musste in soziale Neubauten am Stadtrand ziehen, d.h., sehr viele Altbauten mit großen Wohnungen (und günstigen Mietpreisen) standen innerhalb kurzer Zeit leer. Da es jedoch bei der Stadt und den Hauseigentümern zu finanziellen Engpässen kam, verzögerte sich die Sanierung, und in die leer stehenden Wohnungen 23 Herrn Bernd Mistele vom Fachbereich Geoinformation und Vermessung der Stadt Mannheim danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Bereitstellung des Kartenmaterials für diesen Band. Ethnografie des Lebensraums 37 zogen Migrantenfamilien ein. Die meisten Familien wohnen heute noch dort, da es zum einen schwierig war, in anderen Stadtgebieten geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden und andere Stadtgebiete aus unterschiedlichen Gründen keinen Zuzug von Migranten förderten, und da sich zum anderen innerhalb kurzer Zeit stabile Netzwerke von ethnischen Gruppen herausgebildet hatten, 24 die den Wunsch verstärkten, im Stadtgebiet zu bleiben. 25 In beiden Stadtteilen sind MigrantInnen türkischer Herkunft eine große und in der Öffentlichkeit sehr präsente Gruppe. Es gibt ganze Häuserblocks und Straßenzüge, deren Bewohner türkische Namen tragen. In der Haupteinkaufsstraße, der „Jungbuschstraße“, 26 gibt es viele türkische Lebensmittelgeschäfte, türkische Bäckereien, türkische Haushaltswaren- und Kleidergeschäfte, Zweigstellen türkischer Banken und Reisebüros, auch einige türkische Ärzte und Rechtsanwälte. Aufgrund der Bevölkerungs- und Gewerbestruktur und der sozialen und schulischen Verhältnisse werden die beiden Stadtteile (Jungbusch und Westliche Unterstadt) sowohl von Bewohnern als auch von Außenstehenden als Ausländer-Ghetto bezeichnet. Auf den großen Spielplätzen sieht 24 Nachziehende Verwandte, Freunde und Bekannte aus den Herkunftsregionen bevorzugten Wohnungen in unmittelbarer Nachbarschaft, so dass es eine Reihe von Mehrfamilienhäusern im Stadtgebiet gibt, in denen mehrere Familien, die aus demselben Dorf in der Türkei stammen, zusammenwohnen. 25 Nach Radtke (2004, S. 168, Anm. 62) kann für die Situation in Deutschland von „ethnischer Segregation“ nur in Ausnahmefällen die Rede sein, da Stadtgebiete mit hohem Migrantenanteil in der Regel ethnisch gemischt sind. Das ist auch in dem von mir untersuchten Stadtgebiet der Fall. Nach Radtke hat die Bildung von Migrantenwohngebieten in einigen Städten Deutschlands mit der Wohnungsmarktentwicklung zu tun, die „zu Gebieten mit hoher Dichte von Sozialhilfeempfängern und/ oder Arbeitslosen führt, also ein Armutsphänomen, aber nicht unmittelbar eine Folge ethnischer Abgrenzung, Vergemeinschaftung oder Selbst-Segregation“ ist (ebd.). In Bezug auf den von mir untersuchten Stadtteil gilt diese Feststellung nur zum Teil; es gibt zwar Anzeichen von Armut in einer Reihe von Haushalten, einschließlich der deutschen; es gibt aber auch gut situierte Haushalte, wie z.B. Besitzer von Lokalen oder von Geschäften des täglichen Bedarfs. Außerdem gibt es - das wird in den folgenden Kapiteln dargestellt - sowohl in der ersten als auch in Teilen der Nachfolgegenerationen deutliche Anzeichen für ethnische Vergemeinschaftungen und ethnische Abgrenzungen, denen ganz unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. 26 Das ist die Straße zwischen den G- und H-Quadraten, die vom Marktplatz über den Luisenring bis in den Jungbusch führt und die volkstümliche Bezeichnung „Jungbuschstraße“ hat. Die Geschäfte befinden sich vor allem in dem Abschnitt zwischen Marktplatz und Luisenring. Die „türkischen Powergirls“ 38 und hört man vor allem Frauen und Kinder mit Migrationshintergrund. Auf der Freifläche von I 6 spielen Jungen türkischer, italienischer, bosnischer oder albanischer Herkunft Streetball, hängen auf den Bänken herum, stehen in Gruppen zusammen und rauchen. Am Rande des Jungbuschs, an der Ringstraße gegenüber der katholischen Kirche, wurde aus Spenden von Muslimen und muslimischen Vereinen die größte Moschee Deutschlands erbaut und 1995 feierlich eingeweiht. Träger der Moschee ist der Islamische Bund. Die Moschee ist als „offene Moschee“, als Gebets- und Informationszentrum und als internationale Begegnungsstätte konzipiert. Neben den Gebetsräumen gibt es Unterrichts- und Studienräume, eine Bibliothek und ein großes Café, in dem sich nur Männer treffen. Außerdem ist an die Moschee ein wissenschaftliches Institut angeschlossen, an dessen Finanzierung die Stadt Mannheim beteiligt ist. Die für die religiöse und wissenschaftliche Arbeit in der Moschee hauptsächlich Verantwortlichen sind Vertreter eines liberalen Islam. Die Angebote der Moschee umfassen regelmäßige Informationsveranstaltungen für Nicht- Muslime und Spiel- und Gebetsangebote für christliche und islamische Kinder. Zwischen der Moschee und den christlichen Stadtteilkirchen gibt es eine gute Zusammenarbeit. 1.1 Das Ghetto Eine saloppe Bezeichnung für das Gebiet des Jungbuschs und der Westlichen Unterstadt ist Dschungbusch mit der Konnotation von wild, gefährlich, ungeordnet. 27 Junge Migrantinnen bezeichnen sich mit ironischer Distanz zu ihrem Wohnort auch als Dschungbuschgirls. Für deutsche InformantInnen sind die soziale Einheitlichkeit des Stadtgebiets und die Dominanz der türkischen Population relevant; das kommt in Beschreibungen wie, dort is alles von Auslänner bewohnt, do sehe se nur Türke oder des is es Türkeviertel zum Ausdruck. Ein türkischer Informant berichtet, dass viele Deutsche die beiden Stadtteile als türkische Besatzungszone bzw. als TBZ bezeichneten. 28 Von Migranten, die sich dort wohlfühlen, wird das Wohngebiet als Schutz- 27 Nach Meinung dieses Informanten assoziiert man durch die türkische Aussprache des / J/ in „Jungbusch“ als Dschungbusch den Begriff „Dschungel“. 28 In solchen Äußerungen kommt die Wahrnehmung ethnischer Segregation sehr deutlich zum Ausdruck, unabhängig von statistischen Zahlen, vgl. oben Kap. 1. Die Außenwahrnehmung des Stadtgebiets als „Türkenviertel“ und die damit verbundene Abwertung spielen eine zentrale Rolle für die Herausbildung sozialer Orientierungen und sozial-kommunikativer Ausdrucksformen bei Kindern und Jugendlichen aus dem Stadtgebiet, vgl. unten Teil II. Ethnografie des Lebensraums 39 und Unterstützungsraum betrachtet, in dem sie sich geborgen fühlen. Von InformantInnen, die aus dem Stadtgebiet streben, werden die Strukturen, die normativen Orientierungen und Überzeugungen der türkischen Migrantengemeinschaft vor allem als Hindernis auf dem schulischen und beruflichen Weg in die Mehrheitsgesellschaft erlebt (vgl. dazu unten Teil II). Sie bezeichnen das Stadtgebiet als Ghetto. D.h., mit der Bezeichnung Ghetto ist eine Distanzierung zu dem Stadtgebiet verbunden, auch wenn die InformantInnen noch eng damit verbunden sind. Exemplarisch dafür eine türkischstämmige Gymnasiastin aus dem Stadtgebiet: SÜ: der jungbusch * der is schrecklich ne ↑ * des is=n ghetto SÜ: [...]jeder nennt des ghetto hier * jeder * die türken auch SÜ: un die deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher SÜ: leben der normal is * wenn er geld verdient ↓ Kinder, die den Übergang in Schulen außerhalb des Stadtgebiets schaffen, erleben, dass es viel bessere soziale Milieus gibt und dass sie aus einer Scheißgegend kommen. Sie schämen sich, ihre Adresse anzugeben und nehmen beim Heimweg von der Schule Umwege in Kauf, nur um vor den anderen Kindern ihre Herkunft zu verbergen. Eine andere Informantin, Mitglied der „Powergirls“, sieht große Ähnlichkeiten zwischen dem Jungbusch und den amerikanischen Ghettos: HI: ja ↓ * isch mein des is wirklisch ni“scht normal was HI: hier im jungbusch los is ↓ * des=is genauso wie in HI: den amerikanischen filmen da ↓ den ghettos ↓ ** meine freunde* HI: halt die mädschen die hier wohnen und so ↑ die jugendlischen HI: die tun mir wirklisch voll leid ↓ * Ein türkischer Student, der eine zeitlang dort wohnte, spricht von den Ghettomenschen mit ihrer Ghettokultur. Für ihn ist es beängstigend so abgeschottet in einer Subkultur zu leben und er sieht für die dortigen Bewohner keine Chance in der deutschen Hauptkultur positiv wahrgenommen zu werden. Die Herkunft aus dem Ghetto betrachtet er als eine der Ursachen für die geringe Akzeptanz, die türkische Jugendliche in der Mehrheitsgesellschaft erleben. Auch SozialpädagogInnen und LehrerInnen bezeichnen das Gebiet als Ghetto oder als einem Ghetto ähnlich und betrachten die Abgeschottetheit des Ghettos als äußerst ungünstig für die soziale und intellektuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Als positiven Aspekt des Stadtgebiets heben türkischstämmige InformantInnen, die nicht oder nicht mehr im Stadtgebiet leben, hervor, dass man dort Die „türkischen Powergirls“ 40 das Gefühl (hat) unter Gleichen zu sein. Für eine türkischstämmige Studentin, die in einem kleinen Dorf in Norddeutschland aufwuchs und von ihrem Äußeren her auffiel, weil sie das Schwärzeste war, was dort rumgelaufen ist, war der Umzug nach Mannheim und das Eintauchen ins Ghetto entspannend und erleichternd. Hier wurde sie weder als fremd abgelehnt noch als hilfs- und unterstützungsbedürftig betrachtet. Ähnliche Erfahrungen beschreiben auch MigrantInnen, deren Schul- und Berufsleben außerhalb des Stadtgebiets stattfindet: Im Ghetto muss man nicht erklären, warum man fastet, warum man immer noch bei den Eltern lebt oder warum man sehr jung heiratet. Man muss die sozialen Regeln und Konventionen der türkischen Gemeinschaft nicht rechtfertigen und man muss nicht beweisen, dass man normal ist. Diesen Beweis müssen die jungen Leute außerhalb des Stadtgebiets erbringen, da dort jede unbedachte Äußerung dazu führen könnte, dass sie von deutschen Gesprächspartnern in ne bestimmte Ecke gebracht werden, dass bestimmte Vorurteile auf Seiten der Deutschen aktiviert werden. Und es kostet sie viel Kraft, immer wieder zu zeigen, dass sie nicht in diese Ecke gehören. 29 Das Gefühl, draußen auffällig zu werden, 30 bringt auch MigrantInnen, die den Weg aus dem Ghetto geschafft haben, immer wieder dahin zurück, weil sie hier nicht auffällig sind. Exkurs 3: In der neueren Migrationsforschung wird die ethnische Segregation, die im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen und der dauerhaften Niederlassung von Migrantenfamilien in bestimmten Wohngebieten des Aufnahmelandes entstehen, als „ethnische Konzentration“ (Mahnig 2001) oder als „ethnische Kolonien“ be- 29 Eine Studentin berichtet von ihren Erfahrungen an der Universität. Auch wenn sie dort nicht abgelehnt wird, fühlt sie sich doch ständig in eine Sonderrolle gedrängt. Bei jedem Thema, das mit Ausländern, Türken oder Migration zu tun hat, wird sie als Expertin oder als Betroffene zu Erklärungen und zur Stellungnahme aufgefordert, und nicht als „normale“ Gesprächsteilnehmerin akzeptiert. Auch bei privaten Dingen, wenn sie z.B. deutschen Kommilitoninnen Fotos von ihrer Hochzeit zeigt, muss sie erklären, warum die eine Frau Kopftuch trägt, die andere nicht, die eine geschlossene, die andere ausgeschnittene Kleidung usw. Das ständige Erklären und Rechtfertigen ist für sie sehr anstrengend und verleidet ihr den Kontakt mit Deutschen. 30 Eine Studentin berichtet von Erfahrungen positiver Diskriminierung: In der Oberstufe des Gymnasiums war sie eine der wenigen AusländerInnen. Obwohl sie mündlich und schriftlich ausgezeichnet Deutsch kann, wurde sie immer gefragt, ob sie auch alles verstanden hätte, ob man für sie nicht alles noch einmal erklären sollte. Durch diese unbegründete Sonderfürsorge fühlte sie sich wie schwachsinnig behandelt, und das war für sie ähnlich schlimm wie offene Ablehnung. Ethnografie des Lebensraums 41 zeichnet (vgl. Esser 1986, Nauck 2004, S. 83). Ich verwende die Bezeichnung „Ghetto“ als „Ethno“-Terminus, mit dem die InformantInnen auf ihre Lebensverhältnisse und ihre Lebenswirklichkeit in diesem Stadtgebiet verweisen. In Bezug auf den Eingliederungsprozess von Migranten werden in der Migrationssoziologie engen Verwandtschaftsstrukturen und ethnischen Kolonien sowohl positive als auch negative Aspekte zugeschrieben, die Nauck (2004, S. 84) folgendermaßen beschreibt: Enge Beziehungen verhindern die individuelle Motivation zur Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft, da „extensive familiale Kontakte eine Vielzahl sozialer Bedürfnisse absorbieren und ein in Konkurrenz zur Aufnahmegesellschaft stehendes Institutionensystem zur Bewältigung alltäglicher Probleme darstellen.“ Familiale Bindungen und ethnische Kolonien „vermindern die Statusmobilität von Minoritäten durch die kurzfristige Anspruchserfüllung in selbstgenügsamen [...] Kongregationen.“ Dieser Aspekt spielt eine große Rolle in Bezug auf die wenig erfolgreichen Schul- und Bildungskarrieren der Kinder aus dem Migrantenwohngebiet (vgl. unten Kap. 3.). Andererseits, so Nauck, fördern ethnische Kolonien die Eingliederung, da Familie, Verwandtschaft und enge Netzwerke ein „Unterstützungssystem“ darstellen, in dem „für den Eingliederungsprozess notwendige Bestände an Alltagswissen [...] kumulieren und jedem Mitglied zur Verfügung gestellt werden“ (ebd.). Auch in anderen Arbeiten wird die Rolle, die ethnische Gemeinschaften bei der gesellschaftlichen Integration von Migranten spielen, unter zwei Aspekten bewertet: einerseits fördern sie die „Akkulturation und die Partizipation an Institutionen der Aufnahmegesellschaft, in dem sie a) Leistungen der sozialen Sicherung und der kognitiven Orientierung erbringen [...], b) Kontinuität zwischen Sinndeutungen vor und nach der Migration gewährleisten, c) den mit der Migration verbundenen Statusverlust [...] kompensieren und d) die moralische Marginalisierung der Migranten verhindern, indem sie soziale Kontrolle ausüben“ (Park/ Miller, zit. nach Salentin 2004, S. 98). Andererseits jedoch können sie auch zur Falle werden, da sie Migranten von der Mehrheitsgesellschaft abschotten und verhindern, dass sie die Fähigkeiten entwickeln, die zur erfolgreichen Integration in die Mehrheitsgesellschaft erforderlich sind. Diese Position vertritt u.a. auch Esser (1986). Positive Aspekte des Lebens in der Migrantengemeinschaft spielen vor allem bei den von mir befragten InformantInnen der 1. Generation eine Rolle. Den Aspekt der Falle dagegen arbeiten die beruflich aufwärts strebenden MigrantInnen der zweiten Generation sehr deutlich heraus (vgl. Teil II). Die Entstehung ethnischer Kolonien ist jedoch nicht nur durch kognitive, soziale, religiöse und emotionale Bedürfnisse der Migranten zu erklären, sondern es spielen auch - und das wird in der folgenden Darstellung deutlich - soziale und ökonomische Prozesse in der Mehrheitsgesellschaft ebenso wie Haltungen und Entscheidungen relevanter Akteure aus der Mehrheitsgesellschaft eine entscheidende Rolle. D.h., die Entstehung ethnischer Gemeinschaften ist das Produkt komplexer sozialer Prozesse, an denen Mehrheit und Minderheit gleichermaßen beteiligt sind. Die „türkischen Powergirls“ 42 1.2 Charakteristika des Stadtgebiets 1.2.1 Soziale Einheitlichkeit und negatives Image Die beiden Stadtteile haben den Charakter von räumlicher Geschlossenheit, sozialer Übersichtlichkeit und enger sozialer Verflechtung; alles ist dort wie in einem Dorf, so mehrere Informanten. Die türkischen Familien pflegen enge Nachbarschaften und Freundschaften, und viele Familien haben ähnliche Gewohnheiten und ähnliche Interessen. Vor allem die Aktivitäten der Frauen der 1. Generation sind eng auf das Territorium und die sozialen Netze des Stadtgebiets beschränkt: Einige Frauen treffen sich regelmäßig auf Plätzen oder besuchen sich täglich in den Wohnungen, kochen, backen und essen zusammen, Einkäufe und Arztbesuche finden in der direkten Nachbarschaft statt. Ein Weg an die Grenze des Stadtgebiets, z.B. in ein Kaufhaus der zentralen Einkaufstraßen der Innenstadt ist - so eine türkische Pädagogin - für einige bereits ne halbe Weltreise und wird schon als Ausland empfunden. Die befragten Familien, vor allem InformantInnen der 1. Generation, fühlen sich im Stadtgebiet wohl, hier kennen sie sich aus und hier haben sie ihren Freundeskreis. Eine junge Informantin, die mit ihrer Familie in einem Wohnkomplex mit fast ausschließlich türkischen Familien wohnt, schildert ihren Lebensraum folgendermaßen: AY: es gibt keinen tag an dem nich jemand zu uns zu besuch AY: kommt ↑ * oder meine mutter besucht die nachbarin ↓ * früher AY: war es so dass unsere türen nie“ abgeschlossen wurden * hier AY: war ja noch ne nachbarin- * die türen waren dann i“mmer offen ↓ * AY: also da gab=s kein anklopfen oder ich bin da oder so- * da is AY: ma da hin gegangen * hier hin gegangen* wir sin des so gewöhnt Die geschilderten Verhältnisse früher beziehen sich auf die Zeit, bevor die türkische Nachbarin auszog und ein älterer deutscher Mann mit seiner Tochter einzog. Mit den Deutschen gibt es keine Kontakte, aber mit allen türkischen Familien, die seit über 20 Jahren im Haus wohnen. Deswegen - so die Mutter der Informantin - sind wir so eng wie eine Familie. Die befragten Eltern möchten nirgendwo anders wohnen, und sie wünschen sich, dass die Kinder, wenn sie heiraten, ebenfalls in der Nähe bleiben. Mit Deutschen haben sie keine Kontakte, außer mit LehrerInnen und BetreuerInnen. Einige Informantinnen halten ihre Deutschkenntnisse für zu gering, um mit Deutschen sprechen zu können, andere gehen davon aus, dass Deutsche an ihnen kein Interesse haben. Ethnografie des Lebensraums 43 In vielen Familien bleiben die Mädchen nachmittags zuhause, weil sie im Haushalt, bei der Kinderbetreuung oder im Geschäft helfen müssen. Ihr Lebensraum ist relativ geschlossen und beschränkt sich auf Schule, Familie und die türkische Gemeinschaft. 31 Diese Begrenzung setzt sich bei den Jugendlichen, die die Stadtteilhauptschule besuchen, nach dem Schulabschluss fort. HauptschullehrerInnen berichten, dass viele Mädchen nur im Stadtteil, höchstens in der Innenstadt, eine Lehrstelle wollten; es sei undenkbar, dass sie zum Arbeiten nach Feudenheim oder auf die Rheinau (Stadtteile, die ca. 30 Straßenbahnminuten entfernt liegen) fahren würden, und schon die Neckarstadt (der angrenzende Stadtteil auf der anderen Seite des Neckars) sei weit für sie, einen Ausbildungsplatz dort wollen sie nicht. Die Jugendlichen sagen selbst, dass sie am liebsten mit ihren bisherigen FreundInnen zusammenbleiben und dort arbeiten, wo sie sich auskennen. Sie scheuen lange Wege, die sie alleine unternehmen müssen, und haben Angst vor einer neuen Umgebung, in der sie sich alleine zurechtfinden müssten. In einer Jungengruppe z.B. hat einer der Jungen eine Lehrstelle in einer anderen Stadt gefunden und muss täglich mit dem Zug dorthin fahren. Seine Freunde halten das für abartig; der Junge ist eine absolute Ausnahme, so sein Lehrer. Wenn die Jugendlichen nach der Hauptschule auf weiterführende Schulen gehen, bevorzugen sie Schulen in der direkten Umgebung, 32 in denen sie alte FreundInnen wieder treffen. Die räumliche und soziale Geschlossenheit des Stadtgebietes bildet - so eine Lehrerin - für die Jugendlichen ein Stück Geborgenheit. Der positive Aspekt des Sich-Geborgen-Fühlens in der vertrauten Umgebung wird für die Jugendlichen in Bezug auf die schulische und berufliche Entwicklung jedoch zur Falle: Das Leben im Stadtgebiet hat sie nicht genügend auf ein Leben außerhalb vorbereitet, sie haben Angst, abgelehnt zu werden und zu scheitern und sie verharren aus Unsicherheit in ihrer bisherigen Lebenswelt. 33 31 Einer Studentin, die unter solchen Bedingungen aufgewachsen ist, wurde erst im Studium bewusst, wie eng und eingeschlossen ihr Leben damals war. 32 Das sind eine Realschule und eine Berufsfachschule in direkt angrenzenden Straßen. Da beide Schulen von Kindern und Jugendlichen aus dem Ghetto bevorzugt werden, ist auch hier der Migrantenanteil sehr hoch, und die Schulsituation des Ghettos setzt sich fort. 33 Die Erfahrungen der Jugendlichen und die Beobachtungen der Lehrenden stimmen mit dem überein, was in der Migrationssoziologie als mangelnde „Statusmobilität von Minoritäten“, die in ethnischen Kolonien leben, gefasst wird; vgl. u.a. Nauck (2004, S. 84). Die „türkischen Powergirls“ 44 Aus der Perspektive der zuständigen Sozial- und Schulbehörde wird das Stadtgebiet als sozialer Brennpunkt bezeichnet, in dem soziale Benachteiligung herrscht, und in dem viele türkische Familien (immer noch) beengt und eingeschränkt leben. Türkischstämmige SozialpädagogInnen sehen die Wohnverhältnisse nicht als Ausdruck von Armut, sondern als Folge der in diesen Familien immer noch geltenden Lebensplanung, alles für die Heimkehr, das Haus in der Türkei oder für die Verwandten dort zu sparen, d.h. als Ausdruck einer anderen Prioritätensetzung. Es gibt Familien - so eine Informantin - die in Mannheim in einer engen 2-Zimmer-Wohnung leben und in der Türkei ein tolles Haus haben; eine Familie z.B. fährt jedes Jahr in ihr schönes Haus in der Türkei, damit die Frau es den Rest des Jahres in Mannheim aushalten kann. Nach Auskunft eines türkischstämmigen Informanten gibt es auch Familien, die in der Türkei eine Wohnung oder ein Haus besitzen, dort gute Mieteinnahmen erzielen, aber in Mannheim aus Sparsamkeitsgründen nur in einer kleinen Wohnung leben. Das Stadtgebiet hat aus der Innen- und Außenperspektive ein negatives Image, das nach Auskunft des Bewohnervereins vor allem dafür verantwortlich ist, dass viele Bewohner den Stadtteil verlassen. Bei den Italienern z.B. hat jeder, der was auf sich hält, mittlerweile ne Eigentumswohnung im Lindenhof oder Almenhof (gutbürgerliche Stadtteile), weil er nicht will, dass seine Kinder im Jungbusch, in diesem stigmatisierten Stadtteil, aufwachsen. Eine Sozialpädagogin erfuhr von dem schlechten Image des Jungbuschs, als sie eine Stelle dort antrat und ihre Freunde sagten, ach Gott in das Messerstecherviertel gehst du. Zu Beginn war es für sie auch etwas bedrohlich, doch mittlerweile hat sie gute Kontakte zu den Familien und wird gastfreundlich aufgenommen. Vielen Jugendlichen ist klar - so eine Pädagogin - dass sie aus einem Gebiet kommen, das draußen negativ bewertet wird: CA: sie ham unheimliche ängste in ne andere soziostruktur zu kommen CA: * sie ham ihre lebenswelt hier innerhalb des stadtteils un CA: sie wissen * dass am wasserturm (die „gute” Gegend Mannheims) CA: ein ganz anderes leben stattfindet ** dort ham sie angst und CA: sie stellen sich dann fragen wie: eh/ was sagen die über uns ↑ CA: was sagen die * eh wenn ich türkin bin ↑ * solche ängste kommen CA: erst * wenn sie raus müssen ↓ Auch in Erzählungen von Jugendlichen kommt die Angst, außerhalb des Stadtteils auf Ablehnung zu treffen, deutlich zum Ausdruck, wenn Gegenmaßnahmen gegen unterstellte Vorurteile beschrieben werden. Als eine In- Ethnografie des Lebensraums 45 formantin mit ihren Eltern in einer Bank in der Haupteinkaufsstraße Mannheims am Schalter anstand, sprach sie mit den Eltern zunächst Türkisch. Doch als ein deutscher Kunde in die Nähe kam, wechselte sie sofort ins Deutsche, da sie nicht den Eindruck vermitteln wollte, dass sie zu den ungebildeten Türken gehört. Eine andere Informantin, die mit ihren Freundinnen in ein Schicki-Micki-Kaufhaus ging, schämte sich, als die Freundinnen laut kichernd und deutsch-türkische Mischsprache sprechend Kleider anprobierten und Aufmerksamkeit erregten; sie wandte sich ab, sprach in gutem Deutsch mit einer Verkäuferin und demonstrierte, dass sie nicht dazu gehörte. 1.2.2 Stabilisierung Es gibt zwei Entwicklungstendenzen im Stadtgebiet, die auf eine mittel- oder auch längerfristige Stabilisierung der sozialen Dichte und Geschlossenheit hindeuten: a) die Zunahme des türkischen Bevölkerungsteils und der verstärkte Bezug zur eigenen Gruppe und b) eine ökonomische und soziale Aufwärtsbewegung. Beide Tendenzen machen das Stadtgebiet für die türkischstämmige Bevölkerung attraktiv und stärken Investitions- und Bleibeabsichten. Zu a): Den größten Anteil der türkischen Migrantenpopulation im Stadtgebiet bilden Arbeiter und ihre Familien, die oft seit mehr als 30 Jahren dort leben, und viele Besitzer kleiner und mittlerer Geschäfte. Alle InformantInnen berichten von einem deutlichen Zuwachs der türkischen Population in den letzten Jahren. Das wird einerseits mit der engen Bindung an die Moschee im Jungbusch begründet, andererseits mit der hohen Heiratsmigration. Wenn man einen Partner aus der Türkei heiratet, bleibt man im Stadtgebiet - so eine junge Ehefrau - denn nur hier kann sich der Neuankömmling aufgehoben fühlen, da viele seine Sprache sprechen und ihm helfen. Durch den ständigen Zuzug nimmt Türkisch im Stadtgebiet immer mehr zu und für Neuzuwanderer nimmt die Notwendigkeit, Deutsch zu lernen, immer mehr ab. Deutsche InformantInnen beobachten eine Verhaltensänderung bei türkischen Familien, die sie früher als offen erlebten, die Kontakte nach draußen suchten, sich jetzt aber auf die eigene Gruppe zurückziehen, und wo die Frauen auch wieder Kopftuch tragen. Als mögliche Ursache vermuten sie das Scheitern des Rückkehrtraums, das die Verstärkung traditioneller Werte und den Rückzug auf die eigene Gruppe bewirke. Türkischstämmige Sozial- Die „türkischen Powergirls“ 46 pädagogInnen erklären diese Veränderung, die auch sie beobachten, ganz anders. Aus ihrer Perspektive haben Erfahrungen von Ausgrenzung verschiedenster Art, die diese Familien in den letzten Jahren gemacht haben, zu Frustration, Verunsicherung, Angst und zur verstärkten Hinwendung zum Ghetto geführt. Es begann mit den Anschlägen von Mölln und Solingen, nach denen türkische Familien von Deutschen, mit denen sie seit Jahren friedlich zusammenlebten, Solidarität, Hilfe und Unterstützung erwarteten und hofften, dass sie sagen würden, ihr braucht hier keine Angst zu haben, wir passen mit auf. 34 Da solche Gesten nicht kamen, wandten sich die türkischen Familien von den deutschen Nachbarn und Arbeitskollegen enttäuscht ab und suchten Sicherheit und Unterstützung in der eigenen ethnischen Gruppe. Angst und Unsicherheit erhielten durch ausländerfeindliche Aktivitäten im Zusammenhang mit der Diskussion um den Doppelpass neue Nahrung, und in vielen Familien verstärkte sich das Gefühl, die Deutschen wollen uns nicht und wir müssen immer darauf gefasst sein, vertrieben zu werden. In einer Familie z.B. ging die Mutter, die durch ihr Kopftuch als Muslima erkennbar ist, aus Angst vor Übergriffen lange Zeit nur mit einem Werkzeug bewaffnet in Gegenden außerhalb des Stadtgebiets; sicher fühlte sie sich nur in ihrem gewohnten Lebensumfeld. Zu b) Aufwärtsbewegung: Machten türkische Geschäfte vor einigen Jahren noch einen eher provisorischen Eindruck (kleine Räume, schlichte Ausstattung und billige Angebote), haben sich in den letzten Jahren Angebot und Ausstattung erheblich verändert, sind anspruchsvoller, gehobener, städtischer geworden. Statt der Dönerläden mit Stehimbiss findet man jetzt türkische Restaurants und Cafés, in denen man Wasserpfeife rauchen und türkische Spezialitäten essen kann, die in mittelständischen Betrieben im Raum Mannheim hergestellt werden. Das junge Personal wechselt je nach Kunden sehr routiniert zwischen Türkisch, Mannheimerisch und Umgangsdeutsch; Firmenbezeichnungen sind oft zweisprachig (türkisch und deutsch) und Filialen türkischer Banken bieten Immobilien im Mannheimer Raum in deutscher und türkischer Sprache an. Im Stadtgebiet gab es immer schon viele Szenelokale, die sich mit der jeweils aktuellen Musik-, Tanz- und Kunstszene änderten; 35 jetzt gibt es auch das von Kurden geführte „Riz“, in dem Stu- 34 In Mannheim gab es damals nur in Ansätzen ausländerfeindliche Aktivitäten. Doch die mediale Verarbeitung der Mordanschläge in Mölln und Solingen, auch in türkischsprachigen Medien, wirkte in der Migrantenpopulation noch lange Zeit nach. 35 Szenelokale im Jungbusch sind derzeit das „Contra N“, „KR 2“ und das „Blau“. Ethnografie des Lebensraums 47 denten, junge Künstler, Maler, Literaten und Musiker verkehren und in dem auch Literaturlesungen von türkisch-kurdischen Schriftstellern stattfinden. Das städtische Flair des Stadtgebiets zieht auch deutsche Jungunternehmer an, die in der Jungbuschstraße Geschäftsräume mieten. Für den Ausbau und die Qualitätsveränderung türkischer Geschäfte und Lokale gibt es ökonomische Gründe: Zum einen ist für viele arbeitlose Migranten der Weg in die Selbstständigkeit notwendig, zum anderen hat sich der typische Lebensplan der in den 60er- und 70er-Jahren zugewanderten „Gastarbeiter“ geändert und viele Migranten der 1. Generation haben sich entschieden, langfristig in Deutschland zu bleiben. Das schildert eine Informantin der 2. Generation: CE: das erste war sowieso i“mmer * geld * schaffen * sparen↓ * un CE: dafür ham auch beide eltern gearbeitet↓ * und später in die CE: türkei zurückgehen * aber seit paar jahre is des verloren CE: gegangen * es will jetzt niemand mehr zurück [ … ] weil sie sich CE: auch fre“md fühlen in der türkei Mit der Orientierungsänderung auf ein Leben in Deutschland ist die Nachfrage nach anspruchvolleren Produkten zur Verbesserung der Lebensqualität gestiegen, und die veränderte Nachfrage hat die neuen Existenzgründungen gesichert, zur Verbesserung des hiesigen Angebots geführt und das Stadtgebiet als Geschäfts- und Lebensraum attraktiver gemacht. Die von außen beobachtbaren positiven Veränderungen bestätigen einige BewohnerInnen, in deren Familien- und Freundeskreis sich die Wohn- und Lebensumstände deutlich verbessert haben. Da die Eltern mittlerweile akzeptieren, dass die Kinder in Mannheim leben wollen, kaufen und sanieren sie hier Wohnungen und schaffen für sich und die Kinder ein besseres Lebensumfeld. Außerdem gibt es positive Veränderungen in der türkischen Migrantenpopulation, die vor allem durch Frauen bewirkt wird. Nach der Beobachtung einer türkischstämmigen Sozialpädagogin gibt es in jüngster Zeit einen neuen Typ von Heiratsmigrantin, nicht mehr die typische Heiratsmigrantin aus dem Dorf, sondern Frauen mit höherem Bildungsstand, die an das Leben hier Ansprüche stellen, sich gut einrichten wollen, sich für die Lebensverhältnisse in Deutschland interessieren und sich auch im Bildungsbereich (Kindergarten und Schule) engagieren. 36 Vor allem aber sind die hier aufgewachsenen jungen Frauen 36 Der Rektor der Kepler-Schule z.B. ist erstaunt, wie hoch die Bereitschaft dieser „neuen“ Frauen zur schulischen Mitarbeit ist. Dieser Eindruck wird auch von einigen LehrerInnen Die „türkischen Powergirls“ 48 mit guter Schulbildung ein entscheidender Motor für positive Veränderungen im Stadtgebiet. Beispielhaft dafür sind die „türkischen Powergirls“: Sie engagieren sich bei Tanz-, Film- und Theateraufführungen, konzipieren selbst ein Theaterstück und stellen sich auf ne Bühne, wo die Fernsehkamera läuft, das ist einfach super, begeistert sich die Theaterpädagogin. Ein Theaterstück der „Powergirls“ mit dem Titel „hey girls“, das in dem Szene-Theater des Stadtteils aufgeführt wurde, war bei jeder Aufführung ausverkauft. Der Raum war überfüllt mit Freunden, Verwandten und Bekannten, die den Spielerinnen zujubelten und stolz auf sie waren. Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie auch beim landesweiten Theaterwettbewerb zu sehen war. Die Mädchen bekamen bei einem Videofilm-Wettbewerb einen Preis und wirkten bei dem weit über Mannheim hinaus erfolgreichen Musical „faked skillz“ mit. Sie fanden es voll geil und waren voll stolz, in den regionalen Zeitungen abgebildet zu sein oder im Regionalfernsehen gezeigt zu werden. 1.2.3 Erfahrungen und Einstellungen eines Vertreters der ersten Generation Im Folgenden werde ich beispielhaft die Erfahrungen aufzeigen, die charakteristisch für türkische Migranten der 1. Generation sind, und versuchen, das gedankliche und gefühlsmäßige „Klima“ zu erfassen, in dem die Kinder aufwuchsen, und die Spezifika herauszuarbeiten, die aus der Sicht der Kinder „typisch“ für türkische Migrantenfamilien sind. Der Informant ist der Vater von drei Mitgliedern der „Powergirls“. Viele seiner Erfahrungen in Deutschland, seine Erfahrungsverarbeitung, seine Bewertungen, seine Erziehungsmaximen und -maßnahmen werden von den Töchtern ebenso wie von anderen InformantInnen der 2. Generation, denen ich das Material vorstellte, als „typisch“ für die Elterngeneration charakterisiert, als das was wir immer wieder von unseren Eltern gehört haben. Die folgende Darstellung basiert auf einem Gespräch, das die erwachsene Tochter mit dem Vater führte, und auf späteren Kommentaren der Tochter dazu. Der Informant kam als junger Mann aus dem mittleren Anatolien nach Mannheim, lebte zunächst im Heim, heiratete dann eine junge Frau aus dem bestätigt. Bei den Heiratsmigrantinnen seien in letzter Zeit viele mit guter Schulbildung, mit „Lize“-Abschluss. Sie würden, so eine Informantin, wenn sich während der Schulzeit kein passender Ehepartner findet, an Verwandte/ Freunde in Deutschland verheiratet, um dort ihr Glück zu machen. Ethnografie des Lebensraums 49 Heimatort, holte sie nach Mannheim und lebt seitdem mit seiner Familie im Jungbusch. Er ist Vater von 7 Kindern, die meisten sind schulisch erfolgreich. Zur Zeit des Gesprächs ist er Mitte 50. Er schildert der Tochter sein Leben in Deutschland, seine Schwierigkeiten, seine Erfahrungen und Wünsche und die Befürchtungen, die er in Bezug auf seine und seiner Kinder Zukunft hat. Da der ältere Bruder bereits in Mannheim arbeitete, meldete sich der Informant 1972 bei der deutschen Arbeitsvermittlung (Anwerbestelle) in seiner Heimatstadt und wurde nach Istanbul zur Untersuchung bei deutschen Ärzten geschickt. Danach musste er einen Kurs in seinem erlernten Beruf absolvieren; nur derjenige durfte nach Deutschland reisen, der den Kurs bestand. Er kam mit dem Ziel nach Deutschland, möglichst viel Geld zu verdienen, um davon in Istanbul ein Geschäft zu eröffnen. Doch dieser letzte Wunsch erfüllte sich nicht: maalesef * öyle olmadı (‘leider ist es nicht so gekommen’). Am Flughafen in Frankfurt wurde er mit anderen Gastarbeitern von einem Dolmetscher abgeholt und nach Mannheim gebracht. Der erste Eindruck von Deutschland war positiv; er schildert ihn folgendermaßen: acayip geldi [...] her tarafta arablar var * bizim oraya nazaran daha * güzel yani * lüks ↓ görünşü güzel ↓ (‘es kam uns eigenartig vor [...] überall gibt es Autos, mehr als bei uns, schön, luxuriös, schöner Anblick’). Doch was er dann erlebte, stand in starkem Kontrast dazu. In Mannheim kam er in ein Männerwohnheim in der Nähe der Firma. Er wurde mit vier Männern, die er nicht kannte, in ein kleines Zimmer gelegt, in dem es askeri usulü ranzlar [...] üstlü ↓ (‘wie beim Militär Kojen’) gab. Essen, Trinken und Schlafen fand alles in diesem Zimmer mit den vier Arbeitskollegen statt. Da er und seine Kollegen kein Deutsch verstanden, gab es Probleme in der Firma. Sie verstanden den Vorarbeiter nicht, der sprach nur Deutsch: ne dediğini de bilmiyoduh ↓ * gonuşup durudu ↓ * alman tabii hep almanca (‘wir wussten nicht was er sagte, er redete vor sich hin, natürlich alles auf Deutsch’). Wegen mangelnder Sprachkenntnisse wurde er nicht in dem erlernten Beruf eingesetzt, sondern bekam einfache, harte und dreckige Arbeiten. Am Abend, nach 9-10 Stunden Arbeit, besuchte er einen Deutschkurs. Doch da er müde und abgeschafft war, fiel ihm das Lernen schwer. Seine Empfindungen aus der Anfangszeit fasst er folgendermaßen zusammen: yo“k cennete cehenneme düştüm ↓ (‘nicht in den Himmel, in die Hölle bin ich geraten’). Vom ersten Arbeitstag an fühlte er sich fremd, hilflos und bedrückt: Die „türkischen Powergirls“ 50 BI: yabancısın ↓ * neler hisseden i ş te * yabancısın her Ü: du bist fremd * was kannst du fühlen * du bist fremd jede BI: an her gün ↓ * her da“lda * dil yetersizli ğ i var * i ş Ü: Minute jeden Tag * in jedem Bereich * du kannst die Sprache BI: * yerinde yabancısın ↓ bi ş ey söylüyö anlamıyom ↓ * Ü: nicht am Arbeitsplatz bist du fremd * er sagt etwas du BI: öyle bi üzüntü var ↓ * azarlıyor bi üzüntü oluyo ↓ * Ü: verstehst nicht das bekümmert dich * du wirst angeschrieen Ü: und das bedrückt dich Aus Sparsamkeitsgründen lebte er fünf Jahre im Heim. Er hatte nur Kontakt zum älteren Bruder und zu seinen Landsleuten. Dann heiratete er, holte seine Frau nach Mannheim und das junge Paar zog in den Jungbusch. Da sie auf dem freien Markt keine Wohnung bekamen, zahlten sie einem Türken eine Vermittlungsgebühr, der ihnen seine alte Wohnung überließ. Der Informant gehörte damals zu den wenigen Arbeitern, die ihre Frau nachholten. Die meisten türkischen „Gastarbeiter“ wollten nicht, dass ihre Frauen nachkamen; aus Angst, sie würden sich verändern und würden sich mit der Zeit wie Deutsche verhalten, işte eh alman * hiristiyan (‘also deutsch, christlich’). Und sie machten sich Gedanken, was die Frau den ganzen Tag allein zuhause tun würde, während der Mann arbeitete: gadın ne yapacah burda kiminlen görüşecek kiminlen gonuşca“h * türk ne yapacah evde ya/ * öyle düşünlüyodu * (‘was soll die Frau hier machen mit wem soll sie sich treffen mit wem soll sie reden * was soll eine Türkin allein zuhause * so wurde gedacht’). Und alle machten sich Sorgen, was aus den Kindern und vor allem den Mädchen würde, wenn sie in Deutschland aufwachsen würden. Die junge Familie hatte keinen Kontakt zu Deutschen, nur der Vater zu den deutschen Vorarbeitern in der Firma. Die Erfahrungen am Arbeitsplatz ließen bei ihm die Meinung entstehen, dass Deutsche sich ganz anders verhalten als Türken, distanziert, kühl und abweisend: BI: almanlar fena insan de ğ iller de böyle insana yakın Ü: die Deutschen sind zwar keine schlechten Menschen sie lassen BI: de ğ iller yani öyle bi: [...] almanlar * Ü: aber keine menschliche Nähe zu [...] die Deutschen * BI: <i ş yerinde fena de ğ il ama böyle> Ü: sind am Arbeitsplatz nicht schlecht * aber so BI: bizim gibi cana yakhın eh * → çay içeh gave içeh Ü: wie wir freundlich * lass uns Tee Kaffe trinken Ethnografie des Lebensraums 51 BI: gel gezekh falan bu türlü ş eyler dü ş ünmüyorlar * Ü: spazieren gehen und so * solche Dinge denken sie nicht BI: onların ş ey yapı de ğ i ş ik ↓ Ü: ihre Machart ist anders Diese Meinung verfestigte sich durch ein einschneidendes Erlebnis mit einem deutschen Nachbarn, mit dem die Familie bis dahin freundlich verkehrt hatte. Der Informant hatte die Deutschen regelmäßig zum Tee eingeladen, die hatten die Einladungen auch angenommen, doch eine Gegeneinladung kam nie zustande. Und eines Tages geschah etwas für die Türken Unfassbares: BI: hatta hiç unutamıyom bunu- ** bir gün * Ü: einmal das werde ich nie vergessen * eines Tages * BI: oweihnacht günleri var ya hani ** rakhı ne Ü: sie haben doch die Weihnachtstage ** haben wir Raki und BI: aldıh o bi ş eyler almı ş gittik * zile bastih yani Ü: so einiges gekauft * sind wir gegangen haben geklingelt also BI: gratilieren yapmah için ↑ ** vardıh eh- * içeri gelin Ü: um zu gratulieren ** wir waren dort * er bat uns nicht herein BI: demedi ↓ ben o: onu hiç unutamıyom ↓ * her zaman gelip Ü: zu kommen das vergesse ich nie * die sind immer gekommen und BI: gittiler bizde çay içtikleri halde gelin de/ Ü: obwohl sie bei uns Tee getrunken haben * haben sie nicht gesagt BI: oturun demediler bah hediyelen vardı ğ mız halde [...] Ü: kommt setzt euch * obwohl wir mit Geschenken hingegangen sind BI: → nefret ettim diye bilirim yani [...] hediyelen Ü: ich kann nur sagen dass ich Abscheu empfunden habe [...] BI: de geldih hem de bayram günüleriydi onların ↓ * Ü: wir sind sogar mit Geschenken gekommen und das an ihrem BI: yani ba/ bayramını gutlamah için gittik * Ü: Feiertag also wir sind hingegangen um zu ihrem Fest zu BI: iceri gelin oturum demediler ↓ neye u ğ radı ğ ımı Ü: gratulieren * kommt rein und setzt euch haben sie nicht gesagt BI: da bilemedim ↓ * ben ilk defa hayatımda- * Ü: ich konnte nicht verstehen was mir da passiert ist * BI: böyle bi ş oh oldum yani Ü: in meinem Leben bin ich zum ersten Mal so schockiert gewesen Die „türkischen Powergirls“ 52 Die Deutschen verstoßen gegen zentrale Regeln der türkischen Gastfreundschaft, deren Einhaltung für einen Türken „heilig“ ist; sie erwidern die Gastfreundschaft der Türken nicht, weisen Geschenke und Freundlichkeit grob zurück, schließen die Türken aus und verletzen sie tief. Dieses Erlebnis wird immer wieder in der Familie erzählt, und es dient als Beleg für die tief gegründete Überzeugung, dass der eigentliche Grund für fehlende Kontakte zu Deutschen nicht die schlechten Deutschkenntnisse der „Gastarbeiter“ seien - wie das von deutscher Seite immer wieder behauptet werde - sondern dass es die „Kälte der Deutschen“ ist: işte biraz almanların böyle- * hani böyle soğuk davranma şeyi var- * komşusuna“ (‘weil die Deutschen so kalt sind zu ihrem Nachbarn’). Das ist eine zentrale Eigenschaft, die den Deutschen in vielen Gesprächen mit InformantInnen der 1. und 2. Generation zugeschrieben wird. Die negativen Erfahrungen in Deutschland verstärkten das anfängliche Ziel des Informanten, alle finanziellen Anstrengungen ausschließlich auf ein besseres Leben in der Türkei zu richten und dorthin so schnell wie möglich zurückzukehren. Doch mit dem Heranwachsen der Kinder, die sich auf ein Leben in Deutschland hin orientierten, änderte sich seine Zukunftsplanung. Und wie viele ehemalige Gastarbeiter investierte er jetzt auch in Deutschland, kaufte eine Wohnung für seine Familie und förderte die Ausbildung seiner Kinder hier. Für seinen Lebensabend plant er ein „Pendelleben“ zwischen seinen Verwandten und früheren Freunden in der Türkei, und den Kindern und ihren Familien in Mannheim. Sein Verhältnis zu den Deutschen hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Außer am Arbeitsplatz hat er immer noch keine Kontakte zu Deutschen, er strebt sie auch nicht an. Die Absicht, sich im Hinblick auf die Zukunft der Kinder hier zu integrieren, konnte er nicht umsetzen; die ablehnende Haltung der Deutschen den türkischen Zuwanderern gegenüber hinderte ihn daran. Die Ablehnung sieht er auch auf der politischen Ebene: BI: ya hepsi de zaten- * yabancı- * dü ş manlı ğ ı de ğ ince ↑ Ü: alle wenn sie Ausländerfeindlichkeit sagen * meinen sie BI: hep türkleri gastediyorlar ↓ ** açıh açıh da söylüyorlar Ü: immer die Türken * die geben es auch offen zu * dass sie BI: bunlar i ş te=v/ * → ba“ ğ da ş mıyorlar ← * bunlar islam Ü: nicht harmonieren * sie sind Islam, Moslem BI: müslüman ↓ türk ↓ ** o açıdan devamlı politigacılar Ü: Türke * in der Hinsicht hatten es die Politiker Ethnografie des Lebensraums 53 BI: da açıh açıh net net söylüyolardı↑ Ü: auch immer offen und deutlich gesagt Auch die rechtsradikalen Anschläge auf Türken in den 90er-Jahren sieht er als politisch zumindest geduldet; seiner Meinung nach hatten sie das Ziel, die Ausländer zu erschrecken und zu verjagen: hani atma“kh istiyorlardı yabancıları → işleri bittikten sonra ↓← (‘die wollten doch die Ausländer vertreiben, nachdem ihre Arbeit beendet ist’). Es gab Parolen über Ausländer, die mit Hass erfüllt waren: yabancı işte yiyo içiyo siz- * çalışıyo paramızı alıyo ↑ siz boş geziyonuz falan diye probanda yaparke“n ↓ (‘das ist halt ein Ausländer, der trinkt und isst und arbeitet, und ihr habt keine Arbeit, so war die Propaganda’). Aus seiner Perspektive liegt dem Problem eine tief gegründete religiös-kulturelle Unvereinbarkeit zwischen Europäern und Christen einerseits und Türken und Moslems andererseits zugrunde, die die Europäer dazu bringt, die Moslems zu verdrängen und zu vertreiben: avrupalılar yani * → bunları ← ** ta: eski tarihlerden [...] bunlar yani burda bi müslüman toplum * i“stemiyolar ↓ * istemezlerde ↓ yani ellerinde fırsat olsa ↑ * bir anda silecekler amma- ** [...] * düşünceleri o“ adamlar açıh açıh da söylüyorlar (‘also die Europäer, sie wollen schon seit langem keine moslemische Gemeinschaft, sie werden sie auch nicht haben wollen, und wenn sie die Gelegenheit hätten, würden sie alles auslöschen, [...], das ist ihr Prinzip, das sagen sie auch ganz offen’). Da er immer nur Ablehnung spürte, vermittelte er auch seinen Kindern ein Gefühl von Wachsamkeit und Misstrauen gegenüber der deutschen Gesellschaft, das die Tochter folgendermaßen beschreibt: DI: es war als ob er auf gepackten koffern sitzt * er DI: ermahnte uns immer dass wir als türken besonders DI: fleißig und beruflich gut sein müssten * wir könnten DI: hier nicht sicher sein * müssten damit rechnen DI: vertrieben zu werden und müssten überall überleben können Und er warnte die Tochter vor der Vorstellung, dass mit einer Einbürgerung oder einem „deutschen Pass“ das Problem gelöst werden könnte und sie von den Deutschen akzeptiert werden würde: BI: sen de istersen alman olsan * bile sen belli nerden Ü: auch wenn du Deutsche geworden bist * es ist klar woher BI: geldiğin ne yaptığın↑ öyle bir anda sen istersen Ü: du kommst und was du machst * denn egal wie sehr Die „türkischen Powergirls“ 54 BI: ne kadar almanla: uyum sa ğ larsan sa ğ la ↑ [...] kadar- * Ü: du dich an die Deutschen anpasst * BI: beraber birlik olursan ol ↑ de ğ i ş miyorlar ↓ Ü: wenn du dich mit ihnen zusammentust * sie ändern sich nicht Auch mit einem deutschen Pass bleibe ihre Herkunft erkennbar und alle ihre Integrationsbemühungen würden die abweisende Haltung der Deutschen nicht verändern können. Diese Perspektive auf die Deutschen und auf ihre Haltung türkischen Zuwanderern gegenüber hat das Leben der Kinder, ihre Sicht auf die Deutschen und ihre Verarbeitung von Erfahrungen mit Deutschen ganz entscheidend geprägt. (vgl. dazu unten Teil II, Kap. 3.3) Die Einstellung des Vaters, ständig auf der Hut sein und immer mit einem „Schlag“ von deutscher Seite zu rechnen, prägte auch seine Erziehungsmaximen. Bei jeder Gelegenheit hielt er die Kinder an zu sparen und sich einen finanziellen Rückhalt zu schaffen, für den Fall, dass bei einer politischen Veränderung oder einer wirtschaftlichen Rezession die Türken als erste aus Deutschland vertrieben würden. Und er erinnerte sie daran, dass sie die Türkei als Rückzugsgebiet betrachten müssten: BI: gene de söylüyom bakh akhlınızda olsun ↓ * türkiye: Ü: ich sage es wieder schreibt es euch hinter die Ohren * ihr BI: de bi en azından bi khafanızı sokacak yeriniz olsun ↓ Ü: solltet in der Türkei wenigstens ein Dach über dem Kopf haben BI: türkiyeyi dü ş ünün burada ↑ * bunları ş imdi ekonomisi Ü: ihr solltet hier an die Türkei denken * jetzt haben sie noch BI: iyi gene iyi kötü gidiyo ↓ * yarın bunların bi ekonomisi Ü: eine einigermaßen funktionierende Wirtschaft * wenn morgen BI: bozuldu ğ u an ↑ ilk önce hedef sizsiniz * Ü: ihre Wirtschaft zusammenbricht * dann seid ihr die ersten BI: yani türkler daha do ğ rusu müslümanlar Ü: also die Türken besser gesagt die Moslems [die gehen müssen] Er forderte sie auf, einen Beruf zu wählen, den sie auch in der Türkei ausüben könnten, und bedauert, dass die älteren Kinder sich dagegen entschieden haben: ben de isterdim ki yani sizin * yaptığınız bi meslek- ** türkiyede de geçerli olsun yani ** ilersi: şey olarakh ilersini düşünerek burdan bi şey / ay/ gittiğinin zaman türkiyede hiç bi zorlukh çehmeden ↑ * [...] orda iş bulma açından * daha iyi (‘natürlich hätte ich mir gewünscht dass euer erlernter Beruf auch in der Türkei gilt, wenn man an die Zukunft denkt, wenn du von hier weggehst, um in der Türkei ohne irgendwelche Probleme eine passende Ethnografie des Lebensraums 55 Arbeit zu finden, das wäre besser gewesen’). Er begründete seinen Berufswunsch für die Kinder damit, dass er für Türken in Deutschland keine Zukunft sieht: BI: buranın sonu meçhul ↓ * bura diyom ha bura her Ü: das Ende hier ist ungewiss * ich sage hier kann BI: a“n için- * yani de ğ i ş e“bilir ↓ ş imdi ş u anda ** Ü: es sich jeden Tag ändern * jetzt im Moment ** BI: böyle iyidir * denebilir a“mma * ilersi için * Ü: ist es gut * kann man so sagen aber * für später * BI: yani i: ç açıcı de ğ il ↓ Ü: also es hat keine Zukunft hier Von seinen selbst gesetzten Zielen in Deutschland hat er nur die finanziellen erreicht. Am meisten bedauert er, dass die Rückkehr der Familie nicht geklappt hat. Und auch nicht alle seine ehrgeizigen Bildungswünsche für die Kinder haben sich erfüllt. Bei der Erziehung der Töchter gab es harte Auseinandersetzungen. Zunächst versuchte er sie so zu behandeln, wie er es in seiner Herkunftsfamilie erfahren hatte: kızını dövmeyen dizini döver diye bi atasözü var ** yerine göre tabii döveceksin ↓ ** yani yerine göre ↓ her zaman değil de hataları olduğu zaman (‘es gibt ein Sprichwort wer seine Tochter nicht streng hält, wird es später bereuen; je nach dem musst du sie natürlich schlagen, halt je nach dem, zwar nicht immer, aber wenn sie Fehler macht’). „Strenge“ bezieht sich auf die rigorose Kontrolle, dass elterliche Vorschriften zu Kleidung, zu Ausgang, zu Kontakten mit Gleichaltrigen oder zu Arbeiten in der Familie eingehalten und dass die Schulpflichten erledigt werden. Doch er erkannte bald, dass die mitgebrachten Erziehungsvorstellungen nicht ausreichten, um den Kindern die Orientierung in der neuen Umwelt zu erleichtern: → ne veriyo ki anne baba ↑← * anne baba zaten- * fazla bilgisi yokh * iş güç- (‘was geben die Eltern schon weiter, die Eltern haben ganz einfach nicht genug Wissen, sie arbeiten nur’). Und vor allem erkannte er, dass die Erziehung der Kinder in der Schule und damit in den Händen der Deutschen liegt: çocukhları almanlar eğitiyo işte ↑ → kim eğitecek ↑← * okhulda (‘nun die Deutschen erziehen die Kinder, wer sonst, in der Schule’). Er sah die Unterschiede zwischen dem, was in der Schule gefordert wird und dem, was die Eltern vermitteln können; und er sah, dass eine Orientierung für die Kinder äußerst schwierig ist: BI: evde zaten annesinden babasından do ğ ru dürüst Ü: das Kind bekommt zuhause durch die Eltern kaum Die „türkischen Powergirls“ 56 BI: bilgi alamıyo ↑ * ordan/ ** kendi- * ş eyine Ü: Wissen vermittelt * dort findet es für sich selbst BI: göre bi huzur bulamıyo ↑ * o açıdan çocukh da i ş te Ü: keine innere Ruhe * von daher weiß das Kind nicht was BI: ne yapıcanı ş a ş ırıyo * iki arada bi derede galıyo ↓ Ü: es tun soll * es steht dann zwischen zwei Fronten Einige Kinder, so seine Erfahrung, schaffen es, eine eigene Orientierung zu entwickeln. Andere Kinder zerbrechen daran: Sie verlieren den Halt, kommen auf die schiefe Bahn und nehmen Drogen, das Schlimmste, was aus seiner Sicht passieren kann. Während er wenig zur Lösung der durch die Schule verursachten Probleme der Kinder beitragen konnte, versuchte er über die Kontrolle des Freundeskreises auf ihre Entwicklung Einfluss zu nehmen. Er riet den Töchtern, sich Freundinnen zu suchen, von denen sie lernen können: BI: ney mesala ben diyom ki Alın gızıynın- * o ba ş ı Ü: was sage ich zum Beispiel mit der Tochter von AL * BI: gapalı gızınan gonu ş mayın ↓ gitmeyin onlar çünkü Ü: das Mädchen mit dem Kopftuch * redet nicht mit ihr weil BI: faul diyom ↓ * onlardan size bi bilgi yani e/ Ü: die faul sind * von denen lernt ihr nichts * BI: seçeceniz bi arkhada ş sizden bilgili olacah ↓ Ü: eine Freundin die ihr euch aussucht * soll mehr BI: sizden- ** daha iyi çalı ş kan olacah ki ↑ * Ü: wissen als ihr * soll fleißiger sein als ihr * BI: ondan bi ş ey ö ğ renesiniz ↓ sende kendinden- * Ü: damit ihr was von ihr lernen könnt * und wenn du mit BI: faul insanla gonu ş sen de faul olacan ↓ Ü: einer faulen Person redest * wirst du noch fauler Außerdem verbot er den Töchtern den Kontakt mit christlichen Mädchen, da er deren Einfluss fürchtete. Und er verbot ihnen jeglichen Kontakt mit Jungen. Doch die Töchter widersetzten sich den engen und rigorosen Vorschriften des Vaters mit allem Nachdruck, und nach jahrelangen Auseinandersetzungen hat der Vater gelernt, seinen Kindern, ihrem Urteilsvermögen und ihren Entscheidungen zu vertrauen. Sein Verhältnis zu ihnen ist - so die Tochter - jetzt nicht mehr „autoritär“, sondern eher „freundschaftlich“ geworden. Ethnografie des Lebensraums 57 Allerdings wirft die Tochter dem Vater vor, dass seine Verhaltensänderung nur in Deutschland gilt. Sobald er in der Türkei unter dem Einfluss des älteren Bruders ist, verhält er sich wieder „hart und streng“ (heute nur noch zu den jüngeren Töchtern), verbietet alles und wird, so der Vorwurf der Tochter, wieder zum „Macho“: maço oluyun ↓ maço erkek (‘wirst du zum Macho, zu einem Machomann’). Dem Vorwurf begegnet er damit, dass es in seiner Herkunftsfamilie ganz andere Verhaltenserwartungen an junge Frauen gibt, dass andere Regeln herrschen, dass er sich vor seinem Bruder schämen muss, wenn er den Töchtern das erlaubt, was er ihnen in Deutschland erlaubt. Er rechtfertigt seine Anpassung an die Regeln der Herkunftsfamilie damit, dass er dem älteren Bruder gegenüber sein Gesicht nicht verlieren und seine „Persönlichkeit wahren“ möchte (kişiliğini gorumakh için işte, ‘um seine Persönlichkeit zu wahren’). Bei den Töchtern wirbt er um Verständnis dafür, dass er, um die Spannung zwischen so unterschiedlichen Kulturen auszuhalten, für die Zeit des Familienbesuchs in die Rolle des türkischen „Macho-Vaters“ schlüpft, die von ihm erwartet wird: maço erkek işte * o çevreye uyum sağlamakh için [...] oranın guralları öyle de onun için (‘ein Machomann also * um sich der Umgebung anzupassen [...] die Regeln dort sind so, deshalb). D.h., der Vater vermeidet eine Auseinandersetzung mit dem Bruder und schlüpft in eine Vaterrolle, die für ihn in Deutschland schon längst nicht mehr gilt. Die Töchter jedoch akzeptieren sein Verhalten und seine Begründung nicht: Für sie gehören die Verwandtenbesuche in der Türkei, die sie nicht mehr mitmachen, zu den schrecklichen Erinnerungen. Die Erfahrungen der ersten Generation und die daraus erwachsene Einstellung gegenüber der deutschen Gesellschaft prägen die Gespräche in den Familien und bilden für die Kinder lange Zeit die Folie für die Deutung und Verarbeitung eigener Erfahrungen. So reagiert z.B. eine Tochter des Informanten überempfindlich auf Äußerungen von Deutschen, die vielleicht ganz harmlos gemeint sind, die sie aber aufgrund ihres in der Familie erworbenen Wissens und eingeprägter Verarbeitungsschemata als diskriminierend erlebt. Bei einer anderen Informantin führt das Verhalten der Mutter, die Kopftuch trägt und sich vor den deutschen Schulfreundinnen der Tochter versteckt aus Angst, dass die Tochter sich für die Mutter schämen müsse, zu Scham und Wut über das demütige Akzeptieren von Diskriminierung und zu einem aggressiven Verhalten gegenüber der deutschen Gesellschaft und ihrer Arroganz. Die „türkischen Powergirls“ 58 2. Die türkische Migrantenpopulation 37 2.1 Religiöse Spezifik In der deutschen Öffentlichkeit werden Türken vor allem aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur islamischen Religion als „fremd“, im Zusammenhang mit islamistisch-fundamentalistischen Aspekten gelegentlich auch als „kulturell bedrohlich“ dargestellt. 38 Islamische Organisationen wie die „Milli Görüş“ z.B. werden als straff organisierte Einheiten gezeichnet, die die Etablierung von „parallelgesellschaftlichen Strukturen“ anstreben. 39 Doch ein anerkannter Islamisten-Spezialist sieht das Gefahrenpotenzial der Islamisten in Deutschland, gemessen an ihren bisherigen Straftaten, als gering an. Aus seiner Perspektive ist die große Mehrheit der Muslime nicht organisiert, nur 20-30% gehen regelmäßig zur Moschee und nur ganz wenige „neigen extremen Gruppen zu, vielleicht 3-5%“. 40 In Deutschland gibt es derzeit zwei 37 Im folgenden Kapitel geht es nicht um eine realitätsnahe Darstellung sozialer Verhältnisse und familiärer Strukturen in den Herkunftsregionen der türkischen Migrantenfamilien. Die Verhältnisse in der Türkei spielen nur in dem Maße eine Rolle, als sie aus der Perspektive der InformantInnen für die Beschreibung der türkischen Migrantenfamilien in Mannheim relevant sind. Die Kategorienbezeichnungen für Familientypen und die Darstellung Kategorien relevanter Eigenschaften sind ausschließlich Beschreibungsleistungen der InformantInnen. D.h., es geht um die Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung der türkischen Migrantengemeinschaft des untersuchten Stadtgebiets durch die InformantInnen. Dabei wird der Blick von außen auf die Familien ebenso berücksichtigt wie die Innenperspektive der Familien. 38 Vgl. z.B. die Artikel „Gefährlich fremd. Das Scheitern der multi-kulturellen Gesellschaft“ in Der Spiegel 16, 14.4.1997, S. 78-97; vgl. auch die Untersuchung von Heitmeyer et al. (1997) und vgl. die Diskussionen im Zusammenhang mit Verhandlungen der EU mit der Türkei über einen Beitritt der Türkei. Die Gegenargumente von Seiten den CDU beziehen sich vor allem auf die „Fremdheit ihrer Religion und Kultur“. 39 Vgl. dazu den Beitrag von Schiffauer (2004), der diesem Bild von „Milli Görüş“, das er in Verfassungsschutzberichten vorgefunden hat, ein ganz anderes gegenüberstellt, „nämlich das einer transnationalen Gemeinde von Arbeiter-Migranten, deren Beziehungen zur deutschen Gesellschaft, zur türkischen Gemeinde in der Migration und zum Herkunftsland eine komplexe Geschichte durchlaufen hat, eine Geschichte, die sich geradezu als Lehrstück zur Frage der Migration, Religion und sozialer Integration lesen lässt“ (ebd., S. 67). 40 So der Politologe Dieter Oberndörfer, Migrationsforscher und Vorsitzender des Rats für Migration in einem Interview, abgedruckt im Mannheimer Morgen, 3.8.2003, S. 4. Ob sich diese Einschätzung nach den jüngsten Unruhen in Frankreich geändert hat, ist mir nicht bekannt. Ethnografie des Lebensraums 59 eher traditionell islamische Vereine, Ableger entsprechender Vereine aus der Türkei, eine davon ist „Milli Görüş“. 41 In Mannheim sieht die Situation ganz ähnlich aus. Nach Auskunft eines guten Kenners der türkisch-muslimischen Bevölkerung in Mannheim ist nur eine Minderheit (etwa 10-20%) überhaupt organisiert. Nur bei wenigen Organisationen gibt es fundamentalistische Ausrichtungen, und die überwiegende Mehrheit der türkischen Muslime in Mannheim lebt völlig unauffällig. Der Informant sieht eher die Tendenz, dass viele Jugendliche in Deutschland ihre religiöse Identität verlieren. 42 Dadurch seien sie viel eher für Drogenkonsum, für fundamentalistische Ideen und für Sekten anfällig; eine liberal islamische Erziehung dagegen könnte sie gegen solche Verirrungen immunisieren. Aus der Sicht moderner, junger InformantInnen spielt Religion eine eher untergeordnete Rolle; Fastenvorschriften werden manchmal eingehalten, doch die religiösen Vorschriften im Alltagsleben haben keine Bedeutung. Auch das religiöse Leben im Umkreis der Moschee interessiert nicht besonders: AY: isch geh schon mal in die moschee * wenn=s dann so=n AY: besonderen anlass gibt oder so was * aber wir gehen- AY: nischt oft zur moschee * also beten und so tun wir AY: schon * aber zum beten hi“ngehen ↑ * das tun wir ni“cht ↓ Nach meiner Beobachtung spielt Religion bzw. religiöse Zugehörigkeit jedoch bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle, vor allem für junge Frauen. Das wird sowohl durch religiöse Vorschriften, wonach es einer Muslima verboten ist, einen Andersgläubigen zu heiraten, als auch durch soziale Traditionen begründet. Fast alle befragten jungen Frauen bevorzugen einen Partner derselben Religion; ein „Powergirl“ formuliert das folgendermaßen: AR: isch würd zum beispiel mit nem deutschen was anfangen- * AR: aber nich für die zukunft ↓ * ni“scht zum heiraten ↓ * AR: da gibt es doch zu viele unterschiede [...] und meine AR: eltern wären auf jeden fall dagegen * → gut die würden AR: misch jetzt nisch gerade erschießen oder rausschmeißen ↑← 41 1998 waren von den 3 Millionen Muslimen in Deutschland nur ca. 30 000 Mitglieder bei der Organisation „Milli Görüş“; vgl. die Sendung der ARD , 29.1.98, 20 Uhr, zum Thema: „Sind Islamisten in Deutschland gefährlich? “. 42 Es gibt allerdings auch die gegenläufige Tendenz, dass sich junge Migranten für ein religiöses Leben entscheiden und sich im Umkreis der Moschee engagieren. Die „türkischen Powergirls“ 60 AR: aber sie wären nicht einverstanden * es gibt zu vie“le - AR: unterschiede von der mentalität und von der religion her Die Eltern und auch die türkische Gemeinschaft würden einen Andersgläubigen nicht akzeptieren. 43 Der Tradition nach ist die richtige Wahl einer Schwiegerfamilie für die Tochter von großer Bedeutung, da sie nach der Heirat Mitglied der neuen Familie wird und in der Regel dort auch lebt. Auch wenn das in modernen Migrantenfamilien nicht mehr der Fall ist, ist das Verantwortungsgefühl der Eltern für das zukünftige Leben der Tochter immer noch groß. Sie können einen jungen Mann und seine Familie viel eher einschätzen, wenn er gleicher Herkunft und gleicher Religion ist; und auch Eltern, die sonst großzügig zu ihren Töchtern sind, lehnen einen Fremden als Schwiegersohn entschieden ab. Exemplarisch dafür eine Mutter: IB: ben istemem ↓ ** yani ö“le beni dinlemezde varırsa o Ü: ich will nicht ** also wenn sie nicht auf mich hört dann ist IB: zaman ba ş ka * yoksa ben bi yabancıdan istemem ↓ Ü: es was anderes * ansonsten will ich nichts von einem Fremden Auch der Vater rät der Tochter, einen Mann mit demselben Hintergrund zu wählen: BI: anla ş dı ğ ın insan yahından tanıdı ğ ın insan daha iyi olur ↓ Ü: ein Mensch mit dem du dich verstehst den du gut kennst ist BI: ş imdi geriden görünü ş e aldanmıycan ↓ geriden görünün/ eh Ü: besser du darfst dich nicht von Äußerlichkeiten einer Person BI: insan görünmeden iyici bi ↑ * tanıyaksın ki iyi bir insan Ü: trügen lassen du musst ihn unbemerkt gut kennenlernen * ob er BI: olup ↑ * olmadı ğ ını- Ü: ein guter Mensch ist oder nicht 43 Die Ablehnung Andersgläubiger als Ehepartner für die Töchter gilt nicht nur für Christen, sondern auch für nicht-sunnitische Richtungen im Islam, für Aleviten und Schiiten. Es gibt traditionelle, sunnitische Eltern, die einen alevitischen Schwiegersohn strikt ablehnen. Als Begründung wird z.B. - so eine junge Informantin - genannt, dass das Herkunftsdorf der Eltern seit Generationen in Feindschaft mit einem alevitischen Nachbardorf liegt. Den Aleviten aus dem Nachbardorf werden alle möglichen Schandtaten wie Verachtung der Frauen, Misshandlung von Kindern, Libertinage u.Ä. nachgesagt. Diese feindselige Einstellung prägt dann auch das Verhalten der Eltern den Aleviten in Mannheim gegenüber. Auch in eher liberalen Familien müssen junge Frauen, die einen Aleviten oder Schiiten heiraten wollen, einige Überzeugungsarbeit leisten. Ethnografie des Lebensraums 61 Für den Vater ist die Gefahr, sich von Äußerlichkeiten täuschen zu lassen, bei einem Mann aus einem anderen Kulturkreis wesentlich höher. Nur jemand, der die gleiche Herkunft, Sprache und Religion hat, kann unauffällig beobachtet werden, und das schließt auch eine Befragung von Freunden, Verwandten und Bekannten ein, ob über den jungen Mann und seine Familie etwas Negatives bekannt ist. Bei einem Fremden dagegen haben die Eltern kaum die Möglichkeit, sich ein Bild zu machen, und das Weggeben der Tochter ist mit größeren Risiken verbunden, als wenn sie in eine bekannte Familie einheiratet. 2.2 Soziale Schichtung Türkischstämmige InformantInnen berichten übereinstimmend, dass die türkische Gemeinschaft in Mannheim eine deutliche soziale Schichtung aufweist, an deren Aufrechterhaltung vor allem die oberen Schichten interessiert sind. Diese Schichtung sei analog zur Gesellschaftsstruktur in der Türkei, in der sich die obere Schicht, die Elite, immer noch - wie zu Zeiten Kemal Atatürks - aus Familien rekrutiere, die reich, gebildet und westlich orientiert sind. 44 Aus dieser Perspektive nehmen auch in der modernen Türkei Angehörige der Elite einflussreiche Positionen an Universitäten, Gerichten und in der Politik ein. Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zur Elite sind eine akademische Ausbildung und Wohlhabenheit. Traditionell gibt es eine starke soziale Trennung zwischen Elite und Moschee, so ein türkischer Islamwissenschaftler. Die Moschee war lange Zeit das Sammelbecken des einfachen Volkes, und im Vorstand einer Moschee gab es keine Studierten. Wer studiert hatte, gehörte automatisch zur Elite und nicht zur Moschee. Diese traditionelle Trennung wurde in den 80er- Jahren in der Türkei durch die landesweite Gründung von Koranschulen auf- 44 Kemal Atatürk ist der Begründer der modernen Türkei als Republik (1923). Als Staatspräsident mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, formte er die Türkei nach den Prinzipien des Kemalismus zu einem Nationalstaat westeuropäischer Prägung (u.a. Einführung der Einehe, Wahlrecht für Frauen, Einführung der Schulpflicht, der Lateinischen Schrift usw.). Ein wichtiges Prinzip des Kemalismus ist der Säkularismus, wonach der Islam als ideologische Grundlage des Staates abgelehnt wird. Kemalisten verstehen auch heute noch Modernität u.a. durch die Ablehnung islamischer Symbole und Rituale. Die religiös-kulturelle Spannung zwischen einerseits urbanen, kemalistisch-laizistischen Milieus in der modernen Türkei und andererseits rural, islamisch-traditionalistischen Milieus beschreibt auch Schiffauer (2004). Die „türkischen Powergirls“ 62 gebrochen, in denen neben der religiösen Bildung auch eine gute Allgemeinbildung vermittelt wird, die man mit der „Hochschulreife“ abschließen kann. Auf diese Weise gibt es heute auch im Umkreis von Moscheen gut gebildete Muslime. Türkische InformantInnen sehen die Trennung zwischen der gebildeten Elite einerseits und dem Großteil der türkischen Migranten, der einfachen Bevölkerung im Umkreis der Mosche, andererseits auch in Mannheim sehr deutlich. Exkurs 4: Als Schlüsselbegriff für die Bildung islamischer Gemeinden in deutschen Städten, in deren Zentrum die Moschee steht, sieht Schiffauer (2004) die „hohe Angst vor Selbstverlust“. Migranten aus ländlichen Regionen der Türkei, die in „einem Feld mit hoher sozialer Kontrolle aufgewachsen waren, fanden sich in anonymen Großstädten Westeuropas wieder, in denen eine derartige Kontrolle so gut wie abwesend war“. Die Hinwendung zur islamischen Gemeinde half ihnen, „Gefühle von Haltlosigkeit, Selbstverlust und Sinnlosigkeit zu bewältigen“, und vor allem auch die Angst davor, die Kinder an westliche Gesellschaften zu verlieren. Die islamischen Gemeinden waren von Beginn an nicht nur religiös, sondern auch sozial motiviert: Es bestanden und bestehen enge landsmannschaftliche Beziehungen, man hilft sich bei der Arbeits- und Wohnungssuche, unterstützt sich in Notfällen usw. Es gibt eine „starke Gruppenbindung“ und die geteilte Fremdheit steigert die „Binnensolidarität“ (ebd., S. 68f.). Die islamischen Gemeinden waren und sind für Migranten der ersten Generation „eine zweite Heimat, Orte der festen sozialen Beziehungen, des Rückhalts, der seelischen Stabilisierung und gleichzeitig der sozialen Kontrolle“ (ebd., S. 69). Die Hinwendung zur Moschee und zu islamischen Gemeinden in Deutschland bezeichnet Schiffauer als „defensiven Islam“, als die Entwicklung einer islamischen „Neo- Orthodoxie“ (ebd., S. 95), die aus dem in der Fremde verstärkten Bedürfnis nach religiöser und sozialer Sicherheit zu erklären sei. In diesen Gemeinden entwickelte sich eine wesentlich strengere Religiosität, als sie bei vergleichbaren sozialen Gruppen in der Türkei zu finden war. Die islamischen Gemeinden waren und sind weitgehend von der deutschen Umwelt isoliert. „Deutschland war Ausland“ (ebd.). Die Beschreibung Schiffauers stimmt bis in einzelne Formulierungen mit den InformantInnenbeschreibungen zur Situation in Mannheim überein: die soziale Abgeschlossenheit der türkischen Gemeinschaft des untersuchten Stadtgebiets, die hohe Distanz zur deutschen Gesellschaft und das Gefühl, dass man an den Rändern des Stadtgebiets „bereits im Ausland“ sei, die enge Vernetzung der Familien, die religiöse „Rückwärtsgewandtheit“, die vor allem die junge Generation beklagt, und die hohe soziale Kontrolle . Ethnografie des Lebensraums 63 Die Trennung zwischen Elite und Moschee spiegelt sich, so Informanten, die sich der Elite zuordnen, in der starken Abgrenzung zwischen der Ghetto- Bevölkerung, in deren Zentrum die Moschee steht, und den Türken außerhalb des Ghettos. In Mannheim sei die Elite eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe, zu der Türken der 1. Generation gehören, die in der Türkei studiert haben, in Deutschland als Lehrer, Dolmetscher oder in Wohlfahrtsverbänden arbeiten, und sehr darauf achten, nicht mit der einfachen türkischen Bevölkerung in Zusammenhang gebracht zu werden. Dieses Elitebewusstsein kommt in der Formulierung einer türkischen Lehrerin deutlich zum Ausdruck: TA: wir sind nicht wie die meisten türken hier * es gibt TA: in deutschland etwa fünf prozent türken die wie wir TA: sind * die anderen türken sind ganz anders * wir passen TA: hier in ↑ kein ausländerbild und wir sind nicht wie die TA: typischen ausländer Angehörige der Elite betrachten die Gläubigen im Umkreis der Moschee in Mannheim als dumme und ungebildete Bevölkerung und die Frauen mit Kopftuch als rückschrittlich. Sie pflegen keine privaten Kontakte zu diesen Familien, leben in anderen Stadtteilen und in anderen sozialen Netzwerken. Sie haben auch kaum eine Vorstellung über das Leben im Ghetto; wahrgenommen wird vor allem die Nähe zur Moschee. 45 Aus der Perspektive der Elite kommen die türkischen Familien dort aus ländlichen Gegenden der Türkei, wo man Dialekt und kein grammatikalisch richtiges Türkisch spricht. Solche Familien könnten ihren Kindern nicht viel an Bildung mitgeben. Eine Informantin aus der Elite berührt es schmerzlich, wenn sie aufgrund ihres Namens von Deutschen zunächst als Türkin abschätzig behandelt wird; doch wenn die Leute sie sprechen hören, ändert sich diese Einschätzung sehr schnell. Dann bekommt sie Komplimente wie z.B. ah sie sind nicht so wie Ausländer. Sie kann die Vorurteile der Deutschen gegenüber den ungebildeten Türken gut verstehen, die sie an deren Stelle ebenfalls hätte. Nach Meinung von Elite-Angehörigen können Kinder ehemaliger „Gastarbeiter“, die den schulischen Aufstieg geschafft und eine akademische Ausbildung durchlaufen haben, eine neue Elite bilden. Sie hätten auch die Chance in der Türkei respektiert zu werden, jedoch nur unter der Voraussetzung, 45 Eine Informantin z.B. hat von Kindern der Ghetto-Schule, in der sie unterrichtet, gehört, dass sie täglich zur Moschee gehen, und einige Mütter sich regelmäßig zum Koranlesen treffen. Das ist alles, was sie über die Familien weiß. Die „türkischen Powergirls“ 64 dass sie gutes Hochtürkisch und keinen türkischen Dialekt und auf keinen Fall gemischt sprechen. Außerdem dürften sie sich nicht benehmen und kleiden wie die typischen Kinder von Gastarbeitern, die in der Türkei als almancılar (‘Deutschländer’) abschätzig beurteilt würden. Nach unseren Beobachtungen gibt es Migranten der 2. Generation, die sich an diesem Bild der neuen türkischen Elite orientieren. Beispielhaft dafür sind die „Europatürken“. 46 Mitglieder dieser Gruppen fühlen sich zur neuen türkischen Elite in Deutschland gehörig, distanzieren sich von der Ghetto-Population oder wenden sich ihr in erzieherischer Absicht zu. Aus ihrer Perspektive ist ein praktizierender Moslem, ein Angehöriger der Ghetto-Bevölkerung, konservativ, traditionell und potenziell fundamentalistisch. 2.2.1 Soziale Kategorien der türkischen Migrantenpopulation Übereinstimmend ordnen alle InformantInnen die türkischen Familien im Stadtgebiet ganz grob zwei Kategorien zu, den „traditionellen Familien“ einerseits und den „offenen, modernen Familien“ andererseits. Ein Funktionsträger in der türkischen Population beschreibt beide Kategorien folgendermaßen: „Traditionelle Familien“ erkennt man von außen an der Kleidung der Frauen, den Kopftüchern und den typisch weiten Mänteln. In solchen Familien ist der Mann dominant, Frau und Kinder richten sich nach seinen Wünschen und Entscheidungen. Aus seiner Perspektive gründet die Dominanz des Mannes nicht im Islam, sondern in engen, traditionell-patriarchalischen Strukturen, in denen sich Männer mit Gewalt durchsetzen, nur weil sie Männer sind. 47 Charakteristisch für diese Familien ist, dass die Eltern auf der Respektierung traditioneller Werte und Normen und auf der strikten Einhaltung einer traditionell-patriarchalischen Rollen- und Aufgabenverteilung bestehen. 48 „Offene, moderne Familien“ erkennt man von außen an der west- 46 Vgl. dazu Aslan (2005). 47 Nach Meinung dieses Informanten sind diese Männer Bauern-Typen, die keine Zivilisation und keine Religion kennen. In wirklich religiösen Familien würden die Frauen sehr menschlich behandelt. Denn - so der Informant - je mehr ein Muslim über die Rechte der Frau im Koran wisse, desto mehr beachte er ihre Menschenrechte; und je weniger er wisse, desto grober und unmenschlicher sei er. 48 Der Informant hält viele ältere Türken in Mannheim für „traditionell“ und konservativ im nationalen wie im religiösen Sinne; das seien Patrioten, die für das Interesse des türkischen Staates leben; sie seien auch die typischen TRT -Fernsehzuschauer (türkischer Sender TRT ). Ethnografie des Lebensraums 65 lichen, modernen Kleidung der jungen Frauen, mit Minirock, engen körperbetonten Hosen und Oberteilen, mit Schmuck, auffallender Schminke und langen, offenen Haaren. Die Mütter dieser jungen Frauen kleiden sich meist traditionell. Charakteristisch für diese Familien ist eine Offenheit in Bezug auf die Entwicklung und Ausbildung der Töchter. Familien ordnen sich auch selbst diesen Kategorien zu. Nach Aussage von Kindern aus „traditionellen Familien“ werden Verhaltensgebote durch Maximen wie das ist Tradition, das wird so gemacht begründet oder religiös überhöht durch wir sind Muslime, unsere Sitten erlauben das nicht. Im Gegensatz dazu heben „moderne“ Eltern ihre Liberalität im Umgang mit traditionellen Ge- und Verboten hervor: wir sind keine Türken die immer nur auf die Tradition pochen, die Kinder leben hier und müssen sich hier zurecht finden. Für MigrantInnen der 2. Generation gibt es folgende soziale Kategorien, die in der Lebenswelt des Stadtgebiets eine wichtige Rolle spielen und die bei der Herausbildung eines Selbstbildes relevante Andere darstellen, an denen sich junge Leute orientieren. Für Mädchen und junge Frauen gibt es folgende Kategorien: - Die „traditionelle Türkin“: Diese Kategorie ist in vielen Familien das erzieherische Leitbild für Töchter. Kategoriendefinierende Eigenschaften sind Bescheidenheit, moralische Integrität und Unterordnung unter die Wünsche und Vorstellungen der Eltern und später des Ehemannes. - Die „Deutsch-Türkin“: Angehörige dieser Kategorie sind Mädchen und junge Frauen, die aus dem Stadtgebiet streben und auf den sozialen und beruflichen Aufstieg hin orientiert sind. Sie distanzieren sich von den traditionellen Normen und Werten der Migrantengemeinschaft, vor allem von der traditionellen Frauenrolle, und verstehen sich als selbstständige, gut gebildete junge Frauen. Die „Powergirls“ haben sich zu Angehörigen dieser Kategorie entwickelt. Eine für männliche Jugendliche wichtige Kategorie ist: - der „Macho-Türke“: Angehörige dieser Kategorie geben sich stark und cool, weisen sich ständig als „Türke“ aus, lassen z. B. im Auto nur türkische Musik spielen, so dass es alle hören können, und tragen oft Symbole der Grauen Wölfe. 49 Ein Informant aus der 1. Generation bezeichnet sol- 49 Die „Grauen Wölfe“ sind eine nationalistisch und fundamentalistisch ausgerichtete Partei in der Türkei. Die „türkischen Powergirls“ 66 che jungen Männer auch als „Protest-Türken“. Nach meiner Beobachtung orientieren sich viele männliche Kinder und Jugendliche aus dem Stadtgebiet an dieser Kategorie. 2.3 Strukturen türkischer Familien im Stadtgebiet Türkischstämmige InformantInnen charakterisieren die türkischen Familien des Stadtgebiets ganz allgemein als autoritär; d.h., in der Regel entscheidet der Vater, manchmal auch die Mutter, über anstehende Aufgaben, achtet auf die Einhaltung der innerfamiliären Aufgabenverteilung, der geltenden Regeln zwischen Eltern und Kindern und vor allem auf die Aufrechterhaltung der Familienehre und des Familienansehens. 50 Die Kinder haben sich den Entscheidungen der Eltern zu fügen. Eine junge Informantin beschreibt die Autorität der Eltern dadurch, dass sie Entscheidungen für das Kind treffen, ohne vorher darüber geredet zu haben, und die Entscheidungen bei Widerstand des Kindes auch mit Gewalt durchsetzen. Doch durch die spezifischen Lebensbedingungen in der Migration hat sich - so die Informantin - in vielen Familien der Charakter der elterlichen Autorität gewandelt: Die Kinder erleben früh, dass sie in vielen Lebensbereichen gewandter und fähiger sind als die Eltern. In der Schule sind sie die Dolmetscher und lernen ihre Vorteile gegenüber den Eltern kennen; wenn etwas unangenehm ist, übersetzten sie es nicht, und die Eltern erfahren oft jahrelang nichts von den Schwächen oder Vergehen der Kinder. Aufgrund dieser Erfahrungen schwindet der Einfluss der Eltern, und ihre Autorität wird oft zu einer formalen Angelegenheit, d.h., an der Oberfläche werden Anweisungen befolgt, im Kern aber unterlaufen. Die Kategorien für Migrantenfamilien, „traditionell“ einerseits und „offen und modern“ andererseits, sind als Orientierungsmodelle fest in der türkischen Migrantengemeinschaft verankert. In der Lebenswirklichkeit gibt es jedoch neben den prototypischen Vertretern vor allem Misch- und Übergangsformen. In vielen Familien ändert sich die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie im Laufe des Eingliederungsprozesses und ist oft das Ergebnis langer, schmerzlicher, innerfamiliärer Auseinandersetzungen. Junge Informantinnen berichten, dass die Eltern sich im Laufe der Zeit von „traditionell“ zu „offen “ entwickelt haben, und diese Veränderung vor allem durch die Widerstands- und Überzeugungsfähigkeit der Kinder zustande 50 Vgl. dazu ausführlich die folgenden Kapitel. Ethnografie des Lebensraums 67 kam, die die Eltern erzogen haben. Eine Informantin stellt diesen Prozess exemplarisch dar: Als sie 16 Jahre alt war, war das abendliche Ausgehen ein ständiger Streitpunkt. Die Eltern erlaubten ihr den Ausgang bis 21 Uhr, sie blieb bis 22 Uhr. Es gab Prügel. Beim nächsten Mal blieb sie bis 23 Uhr. Daraufhin sah die Mutter ein, dass Prügel nichts nützten; sie sah aber auch, dass der Tochter nichts passiert war. Um Streit zu vermeiden, erlaubte sie ihr beim nächsten Mal den Ausgang bis 23 Uhr. Einige Zeit war die Tochter mit dem Arrangement zufrieden, dann begann die Aushandlung von neuem. Heute fühlt sich die Tochter frei und die Eltern haben gelernt, dass sie für sich selbst verantwortlich sein kann. Aufgrund dieser Erfahrung sind die Eltern, die früher sehr streng waren, heute eher liberal und modern; und die jüngeren Geschwister profitieren davon. Es gibt aber auch gegenläufige Entwicklungen. Auf die Widerständigkeit der Kinder reagierten einige Eltern mit einer Verschärfung von Einschränkungen und Strafen und lösten damit eine Spirale von zunehmender Gewalt und wachsendem Widerstand aus. Diesen Prozess schildert eine junge Informantin: Bis zum 14. Lebensjahr war sie ein Musterkind. Doch dann lernte sie neue Freunde kennen, fing an zu tanzen und hatte nur Partys und Jungen im Kopf. Zuhause gab es ständig Streit. Als sie im Urlaub in der Türkei war, nahm ihr die Mutter den Pass ab, damit sie nicht nach Deutschland zurückreisen konnte. Sie musste für zwei Jahre bei Verwandten unter strenger Aufsicht bleiben, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Als sie nach Mannheim zurückkam, klappte die Eingliederung in die Schule nicht, und die Eltern wollten sie wieder in die Türkei schicken. Sie weigerte sich jedoch, der Vater prügelte, sie zog von zuhause aus in eine WG und nahm ihr wildes Leben wieder auf. Heute haben die Eltern erkannt, dass sie durch den Wechsel in die Türkei die Schul- und Berufschancen der Tochter verschlechtert haben und den Weg auf die schiefe Bahn nicht haben verhindern können. 2.3.1 „Traditionelle Familien“ 51 In türkischen Familien in ländlichen Regionen Anatoliens sind Ehen in erster Linie Wirtschafts- und Überlebensgemeinschaften, auf Lebenszeit geschlos- 51 Das Folgende basiert auf Informationen guter Kenner der türkischen Familien in Mannheim. Zu einer Beschreibung der traditionellen türkischen Familienstruktur und ihrer Veränderung unter Migrationsbedingungen vgl. die Reihe „AiD-Integration in Deutschland“, http: / / www.isoplan.de/ aid/ . Die dort beschriebenen Charakteristika finden sich auch in den von mir untersuchten Familien in Mannheim. Die „türkischen Powergirls“ 68 sen und mit fester Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau. 52 Sie werden in der Regel von den Eltern angebahnt und sind an die Zustimmung der Eltern gebunden. Ohne Zustimmung zu heiraten ist für junge Leute undenkbar und mit harten Sanktionen (z.B. Familienausschluss) verbunden. Die zentrale Aufgabe der jungen Familie ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Sicherung der Kinder, deren Erfolg den Eltern einen geordneten Lebensabend garantieren soll. 53 Zum gesellschaftlichen Erfolg der Familie gehört neben der wirtschaftlichen Absicherung vor allem ein ehrbares Leben (‘namus’), d.h. ein Leben nach den sozialen und moralischen Regeln der Gemeinschaft. Durch ein ehrbares Leben erreicht die Familie Ansehen (‘saygi’) in ihrem sozialen Umfeld. Diesen zentralen Anforderungen werden alle individuellen Anliegen (z.B. auch die Liebe zu einem Partner, den die Eltern nicht akzeptieren) und Probleme (z.B. Eheprobleme zwischen den Partnern) untergeordnet. Leitbild ist die iyi aile, die ‘gute und saubere Familie’, in der Eltern und Schwiegereltern mit Respekt begegnet wird. Die Familien achten bei der Tochter auf Jungfräulichkeit und den guten Ruf, denn nur so hat sie die Chance von einer Schwiegerfamilie akzeptiert zu werden. Das bedeutet, dass die Tochter sich ganz den Regeln und Anweisungen ihrer Familie unterordnet, z.B. nicht ohne Begleitung eines (männlichen) Familienmitgliedes aus dem Haus geht und sich in der Öffentlichkeit erst dann mit einem jungen Mann zeigt, wenn sie mit ihm verlobt ist. Enge Kontakte mit jungen Männern vor der Ehe sind strikt verboten; die junge Frau und damit ihr Familie würden ihren guten Ruf verlieren. Nach der Heirat ziehen die jungen Frauen in die Familie des Mannes und ordnen sich dort den Regeln der Schwiegermutter unter. 52 Die folgende Darstellung traditioneller türkischer Familien charakterisiert die Sozialisationserfahrungen vieler türkischer Migranten der 1. Generation; sie trifft auf jeden Fall auf die Eltern der „Powergirls“ zu; vgl. Teil II. 53 Das Familienmodell basiert darauf, dass die Eltern, wenn sie alt sind, von ihren erwachsenen Kindern versorgt und gepflegt werden. Solche Familienmodelle sind typisch für Gesellschaften, in denen es keine ausgebauten sozialstaatlichen Systeme für die soziale Sicherung gibt. Deshalb werden alle Absicherungen gegen die Risiken des Lebens, wie Krankheit und Alter, zwischen den Generationen erbracht. Die Eltern sorgen für die Kinder und erwarten im Gegenzug die Fürsorge der Kinder, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig sind. Ethnografie des Lebensraums 69 Exkurs 5: Schiffauer (1991), der die Familien- und Dorfstrukturen eines abgelegenen türkischen Dorfes im Pontischen Gebirge beschreibt, arbeitet detailliert die Eingebundenheit von Personen in die familiäre und dörfliche Struktur heraus, die mit dem vergleichbar ist, was die von mir befragten InformantInnen berichten. Das Selbstverständnis der von Schiffauer untersuchten bäuerlichen Gesellschaft ist bestimmt „von der Idee des festen Ortes eines jeden einzelnen in dieser Gesellschaft. Der Personenstatus verlangt es, [...] die Verpflichtungen zu erfüllen, die vorgegeben, umfassend, verbindlich und konkret sind. Wer sich dem unterwirft, hat ‘seinen Platz’ in der Gesellschaft, mit allen Konnotationen einer würde- und sinnvollen Existenz [...]. Hinter diesem Platz verschwindet die Individualität und Subjektivität des einzelnen“, d.h., es gibt „keine individuelle Ausgestaltung einer Rolle“. Die Bedürfnisse des Einzelnen spielen im Alltag keine Rolle und werden nicht berücksichtigt. Der Einzelne „kann nicht durchsetzen was er will“, er kann höchstens „verweigern, was er nicht will“ (ebd., S. 47). Diese Beschreibung macht die Unterordnung einzelner Personen unter die vorgegebenen Konventionen und Regeln deutlich, die zur Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Überlebens von Familien als notwendig betrachtet werden. Ausgehend von diesem Familienmodell wird auch die Entscheidung der Eltern über die Partnerwahl der Kinder verstehbar: Die zukünftige Schwiegertochter wird vor allem in Bezug auf eine günstige wirtschaftliche und soziale Verbindung der beiden Familien und unter den Aspekten ‘moralische Integrität’ und problemlose ‘Unterordnung’ in den Haushalt der Schwiegermutter bewertet. Emotionale Aspekte wie Sympathie, Zuneigung oder Liebe zwischen den jungen Leuten spielen keine oder eine untergeordnete Rolle. Das Familienmodell, das in diesen Familien Leitmodell ist, wird in Sozialpsychologie und Soziologie als Modell gefasst, das auf einem „interdependenten Selbstkonzept“ basiert. In diesen Forschungsrichtungen wurden in den 80er- Jahren die bipolaren Konzepte „Individualismus“ und „Kollektivismus“ zur Charakterisierung von Sozialisationszielen eingeführt und weiterentwickelt zu „independenten“ Selbstkonzepten einerseits und zu „interdependenten“ Selbstkonzepten andererseits. Keller (2004, S. 107) beschreibt beide Konzepte folgendermaßen: Das independente Selbstkonzept wird als „geschlossene und von anderen abgegrenzte Einheit aufgefasst, die einmalig ist [...] und durch [...] stabile Wesensmerkmale und Persönlichkeitseigenschaften charakterisiert“ ist. „Neugier, Kreativität und Entdeckungslust helfen, ein einmaliges und unverwechselbares Profil zu entwickeln“. Das interdependente Selbstkonzept dagegen „als grundsätzlich verbunden mit anderen aufgefasst, fügt sich harmonisch in die Gruppe ein und kooperiert mit den anderen Mitgliedern der Gruppe. [...] Konformität, Harmonie und Empathie mit anderen sind wesentliche Bestandteile der interdependenten Identität“. Mit diesen Konzepten fasst die Autorin die unterschiedlichen Sozialisationsziele in westlichen Gesellschaften einerseits und islamischen Migrantengemeinschaften andererseits. Die interdependenten Sozialisationsziele, wie sie auch in türkischen Gemeinschaften gelten, sind „absolute moralische Autorität“ der Eltern über die Kinder und auf Seiten der Kinder Gehorsam gegenüber den Eltern, Respekt für ältere Familienmitglieder, Rücksicht und Pflichtbewusstsein. Im Kontrast dazu stehen independente Sozialisationszie- Die „türkischen Powergirls“ 70 le, die die Kinder zu „Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Selbstbewusstsein“ führen sollen. In solchen Familien sind Konflikte zwischen Eltern und Kindern üblich, können auch zur Trennung führen, eine Vorstellung, so die Autorin, die in einer interdependenten Familie „unvorstellbar“ wäre. Die sehr abstrakt gefassten Konzepte der „interdependenten“ und der „independenten“ Identität und die entsprechenden Sozialisationsziele lassen sich nicht direkt zu einer differenzierten Beschreibung einzelner türkischer Migrantenfamilien verwenden. Doch sie eröffnen einen Rahmen, in dem die von den InformantInnen konstruierten Kontraste zwischen „türkischen“ und „deutschen“ Erziehungszielen einzuordnen sind. Türkischstämmige Sozialpädagogen z.B. verwenden in ihren Analysen der Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Sozialisationszielen Begriffe wie „individualistisch“ vs. „kollektivistisch“; und die von den deutschen Lehrkräften herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Erziehungsstilen in deutschen und türkischen Familien werden durch ähnliche Charakteristika gefasst, vgl. unten Kap. 3.3.2. Ehemänner gelten als „gut“, wenn sie, neben der wirtschaftlichen Sicherung der Familie, folgende Dinge nicht tun: trinken, dem Glücksspiel nachgehen, die Frau schlagen und fremdgehen. Frauen sind gute Ehefrauen, wenn sie die Haushaltspflichten erfüllen, die Kinder versorgen, ehrbar leben, das heißt: nicht fremdgehen, den Töchtern keine Kontakte mit Männern erlauben, ihrem Mann und ihrer Schwiegerfamilie mit Respekt begegnen und für den Zusammenhalt der Familie sorgen. Erfüllen Ehemänner und -frauen diese Kriterien, gilt die Ehe als gut und sauber. Diese Familienstruktur ist auch für „traditionelle Familien“ der Migrantengemeinschaft charakteristisch. Die Sorge um den Ruf der Tochter und ihre Heiratsfähigkeit führt dazu, dass Mädchen mit Beginn der Pubertät stark eingeschränkt werden. Sie müssen nach der Schule sofort nach Hause, dürfen an vielen Schulveranstaltungen nicht teilnehmen, z.B. keinen Sport machen und bei Klassenfahrten, Schultheater und Schuldisco nicht mitmachen. Die einschränkende Haltung traditioneller Familien hat sich in Deutschland oftmals verschärft, so eine türkische Mutter, weil die Eltern die deutsche Lebenswelt nicht durchschauen. In der Türkei gewähren vergleichbare Familien den Töchtern größeren Freiraum, weil die Eltern die Umgebung abschätzen und darauf vertrauen können, dass das soziale Umfeld die Töchter im Sinne der Eltern mitkontrolliert. In Deutschland haben die Eltern Angst, dass die Töchter an falsche Freunde geraten. Exkurs 6: Die Verhärtung mitgebrachter Strukturen und sozialer Orientierungen, von der die Informantin berichtet, lässt sich zum einen mit Prozessen erklären, die in der Migrationssoziologie für Migranten mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus Ethnografie des Lebensraums 71 beschrieben sind (vgl. Nauck 2004, S. 98ff.): „Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf die sozialen Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die [...] auf Generationenbeziehungen basieren.“ Aus diesem Grund wird in solchen Fällen verstärkt Wert auf mitgebrachte Traditionen, auf die Aufrechterhaltung mitgebrachter Familienstrukturen und mitgebrachter Normen und Wertorientierungen gelegt. Neben dieser ökonomischen Erklärung, die auch bei einigen von mir befragten InformantInnen eine Rolle spielt, ist jedoch Angst vor sexueller Freizügigkeit, durch die die Heiratschancen der Töchter gefährdet wären, Angst davor, die Kinder an einen Fremden zu verlieren, den die Eltern nicht einschätzen und nicht kontrollieren können, Angst vor der Entfremdung der Kinder und vor dem Verlust der sozial-kulturellen Identität die motivierende Kraft (vgl. dazu unten Teil II). Aus dieser Angst erwächst in einigen Fällen ein starres Festhalten an überkommenen Orientierungen auch dann noch, wenn sie sich als nicht mehr zweckmäßig erweisen und eine Verschlechterung der Lebenschancen der Kinder bedeuten. Die Angst vor Entfremdung der Kinder hat auch Schiffauer (1991, S. 241ff.) ausführlich dargestellt. Bereits mit dem Eintritt des Kindes in den deutschen Kindergarten befürchten die von ihm untersuchten Familien, dass die Kinder beginnen „sich zu entfremden“, dass sie ihr „Türkisch-Sein“ verlieren. Die Eltern befürchten vor allem den Verlust der Sprache (Türkisch) und dass ein Kind, das mit „Türkisch bricht“, auch mit den Eltern bricht. Die Eltern sehen den Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit, die Kinder auf die neue Gesellschaft vorzubereiten, d.h. zuzulassen, dass sie die deutschen Bildungsinstitutionen erfolgreich durchlaufen, und der Notwendigkeit, sie vor der neuen Umwelt zu beschützen, damit sie ihre türkische Identität bewahren können. Vor diesem Zielkonflikt stehen alle Migranteneltern (vgl. auch die Darstellung des türkischen Vaters oben Kap. 1.2.3); doch sie unterscheiden sich darin, wie sie ihn zu lösen versuchen. Nach Meinung einer türkischen Sozialpädagogin können streng traditionelle Familien oft hart und gewalttätig gegenüber Töchtern sein, wenn sie sich widersetzen; d.h., die Töchter müssen mit harten Strafen rechnen, wenn sie sich ein bisschen Freiheit durch lügen verschaffen und dabei erwischt werden. Doch wenn sie diesen Mädchen den Rat gibt, sich von der Familie zu trennen, wird das meist abgelehnt mit folgender Begründung: NA: ich will meine familie nicht enttäuschen * vor NA: allem meine mutter nicht * ich will ja nur dass NA: meine eltern zufrieden sind * ich halt das noch NA: durch * egal was kommt In solchen Fällen ist die emotionale Beziehung der Töchter zu den Eltern äußerst kompliziert: Einerseits gehorchen sie den Eltern und rechtfertigen sie sogar; andererseits kommt die enorme Belastung, die für sie das Leben in der Familie bedeutet, in Äußerungen zum Ausdruck wie ich wünschte meine Mutter oder mein Vater wäre tot. Aus der Sicht der Pädagogin hat die Be- Die „türkischen Powergirls“ 72 reitschaft der Töchter, Leid zu ertragen und familiäre Probleme nicht nach außen dringen zu lassen, mit der Erziehung in diesen „traditionellen“ Familien zu tun, in denen das Interesse der Familie immer über das des einzelnen gestellt wird, und die Kinder sich dem unterzuordnen haben, was für das Ansehen der Familie von Vorteil ist. 54 Da es eine Schande für die ganze Familie ist, wenn eine Tochter auszieht (außer wenn sie heiratet), wagen viele Töchter auch bei äußerst schwierigen Verhältnissen die Trennung von der Familie nicht. Sie verschweigen auch innerfamiliäre Gewalt aus Angst, dass dann die Familie ins Gerede kommt. Eine junge Informantin beschreibt diese Erfahrungen folgendermaßen: SÜ: viele jugendliche sagen sie hätten keine probleme in SÜ: ihrer familie und erziehung * sie unterdrücken ihre SÜ: probleme indem sie schweigen und sich selber anlügen SÜ: [...] sie schämen sich für ihre eltern und dafür was SÜ: sich zuhause abspielt * sie fangen an in zwei welten SÜ: zu leben * die welt außerhalb des hauses [...] und auf SÜ: der anderen seite die welt hinter den geschlossenen SÜ: türen * die welt der geheimnisse innerhalb der familie SÜ: [...] man sagt nix von der familie * weil man angst SÜ: hat * man schämt sich eigentlich davor Die Töchter wissen, dass die Eltern von ihnen erwarten, dass sie das Ansehen der Familie schützen: SÜ: die eltern wollen nicht * dass man es sagt * die SÜ: wollen dass man lügt * die wollen nicht dass es SÜ: rauskommt und außerhalb der familie sich verbreitet 54 Die Informantin verdeutlicht das an einem weiteren Fall: Eine junge Frau schickte ihrer Cousine in der Türkei ein Foto von sich. In dieses Foto verliebte sich ein junger Mann aus der Verwandtschaft der Cousine, er wollte die junge Frau in Mannheim kennen lernen und nahm telefonisch Kontakt auf. Die beiden telefonierten mehrfach und fanden sich sympathisch. Als das die Eltern des Mädchens entdeckten, sollte der älteste Bruder in die Türkei reisen, um den jungen Mann und seine Familie zu begutachten, ob er als Ehemann in Frage komme. Doch der weigerte sich, da die Schwester die Beziehung zu dem jungen Mann bereits eigenmächtig betrieben hatte. Das war ein schwerer Verstoß gegen die Regeln der traditionellen Ehevermittlung. Der Bruder sprach ein Machtwort, dem sich auch der Vater beugte: Der Tochter wurde jeder weitere Kontakt mit dem jungen Mann untersagt und sie wurde als Hure gebrandmarkt. Sie akzeptierte diese Behandlung, da die Männer die „Familienehre“ verteidigt hätten. Ethnografie des Lebensraums 73 Für die schulische und berufliche Zukunft von Mädchen aus solchen streng „traditionellen“ Familien sehen türkischstämmige PädagogInnen große Schwierigkeiten. Da in solchen Familien das primäre Erziehungsziel ist, die Töchter möglichst früh und gut zu verheiraten und es außerdem für die Mädchen sehr schwer ist, eine Ausbildungsstelle zu finden, da der Vater jede Tätigkeit verbietet, bei der die Tochter die Möglichkeit hat, Männer kennen zu lernen, bleiben den Mädchen nur Aushilfsjobs oder die Arbeitslosigkeit bis zur Heirat. Doch das Hauptproblem für die Mädchen sieht eine türkische Pädagogin in dem Doppelleben, das sie führen. Wenn sie versuchen, sich die Lebensart der umgebenden deutschen Gesellschaft anzueignen, können sie das nur heimlich machen und müssen es vor der Familie verstecken. Sie verhalten sich nach außen wie wohlerzogene junge Türkinnen, sind jedoch innerlich zerrissen. Dieses Doppelleben auszuhalten, kostet sehr viel Energie und Kraft; die Mädchen sind aggressiv, wirken wie gehetzte Tiere und schaffen oft den Schulabschluss nicht. Das erlebte die Informantin bei einem ausgesprochen intelligenten Mädchen, das in der Hauptschule scheiterte und jetzt gar nichts hat für die kleinen Freiheiten, die sie sich erlogen hat; sie ist arbeitslos und, da sie bereits einen Freund hatte, sich also unehrenhaft verhielt, ist es für die Familie schwierig, für sie einen geeigneten Ehemann zu finden. 2.3.2 „Offene, moderne Familien“ Viele „offene, moderne Familien“ der Migrantenpopulation haben sich aus „traditionellen Familien“ entwickelt. Dabei ist die Entwicklungslinie nicht immer gradlinig verlaufen: Auf großzügige Elternentscheidungen konnten, wenn die Eltern den sozialen Druck aus der Migrantengemeinschaft zu spüren bekamen, wieder Einschränkungen für die Kinder folgen. Mit der Charakterisierung „offen, modern“ wird vor allem die Öffnung der Eltern gegenüber der neuen Umwelt verbunden. Eltern, die so bezeichnet werden, lassen sich auf neue Erfahrungen ein, gewinnen dadurch an Selbstvertrauen und lernen, den Kindern zu vertrauen und sie loszulassen, damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen können. Charakteristisch für solche Eltern ist, dass sie ihren Töchtern eine gute Schul- und Berufsausbildung ermöglichen, ihnen Entwicklungsfreiräume geben und sie auf die Übernahme sozialer Verantwortung vorbereiten wollen. Ein Vater, den die Töchter als ziemlich liberal und modern charakterisieren, antwortet auf die Frage, was er sich für die Zukunft der Töchter wünscht, folgendes: Die „türkischen Powergirls“ 74 BI: ya hepsinin de iyi bi okulun bitirmelerini * iyi bi Ü: also dass alle eine gute Schule abschließen * ich will dass sie BI: okulun bitirmelerini istiyom ↓ * yani sosyal faaliyetlerde Ü: eine gute Schule abschließen * ich will also dass sie sich BI: bulunmalarını istiyom ↑ * insanlara faydalı olmasını Ü: sozial engagieren * ich will dass sie den Menschen von Nutzen BI: istiyom ↓ Ü: sind In „liberalen, modernen Familien“ spielen die Mütter eine zentrale Rolle. Sie unterstützen die Töchter in ihrem Drang nach draußen und nach Freizügigkeit. Sie wünschen sich für die Töchter ein besseres und selbstständigeres Leben, als sie es selbst haben führen können; exemplarisch dafür sind die Mütter der „Powergirls“ (vgl. dazu unten Teil II, Kap. 2.2). Familien mit starken Müttern fallen auch deutschen Lehrenden auf, da sie in den Familien großen Einfluss haben. 55 Nach Meinung einer Lehrerin bilden die Töchter aus solchen Familien - dabei nennt sie einige Mitglieder der „Powergirls“ - die Elite im Stadtteil: Sie besuchen höhere Schulen, kleiden sich modern und auffallend und verhalten sich sehr selbstbewusst. Bei den Müttern, so vermutet die Lehrerin, gehöre sehr viel Mut dazu, den Töchtern solche Freiräume einzuräumen, denn die anderen reden ja darüber. Diese Vermutung wird von einer Betroffenen, der Mutter eines Mitgliedes der „Powergirls“, bestätigt: Sie fühlt sich ständig der Kritik von Nachbarn ausgesetzt, wird immer wieder gefragt, ob sie den Töchtern nicht zu viel erlaubt, und sie wird für das Verhalten der Töchter verantwortlich gemacht. Sie schildert die Auseinandersetzungen mit kontrollierenden Nachbarinnen folgendermaßen: CE: dann kommen sie daher * <ah wo war die Hülya gestern ↑ > CE: was hat die gemacht ↑ * darauf ich * <isch weiß wo CE: meine tochter wa“r * isch hab=s erlaubt> sag isch * CE: dann sin sie ganz ruhig * aber sie wollen wie man sagt CE: * <pe“tzen> sie wollen <ah isch weiß es ni“scht und sie“ CE: ham=s gesehn> und dann kommen sie zu mir um zu sagen CE: <ah weißt du was die Hülya macht> * un seitdem sie CE: wissen dass ich es erlaube * seitdem sagt niemand was ↓ Die Mutter setzt dem Gerede ein Ende, indem sie die Tochter verteidigt und sich dazu bekennt, ihr Freiräume zu gewähren. Eine ähnliche Strategie be- 55 Eine deutsche Lehrerin macht an den starken Müttern klar, dass türkische Frauen keineswegs immer unterdrückt seien, wie das bei uns oft heißt. Ethnografie des Lebensraums 75 nutzen Mütter auch, wenn sie von kontrollierenden Nachbarinnen unangenehme Neuigkeiten erfahren: Nach außen stellen sie sich vor die Tochter, behaupten, dass alles mit ihrem Einverständnis geschieht, und zuhause erfolgt dann die Auseinandersetzung. Das schildert ein Mitglied der „Powergirls“: DI: wenn irgendjemand zu ihr (=Mutter) kommt ↑ und sagt ich DI: hab deine tochter hier und hier gesehen * oder deine DI: tochter hat dies und das gemacht ↑ * auch wenn sie=s DI: ni“scht wu“sste ↑ * sagt se denen dann <ja und ↑ isch DI: wei“ß es ↓ > * was geht disch des an ↓ * und wenn sie dann DI: nach hause kommt-* dann schi“mpft sie mit uns ↓ * aber DI: sie gibt den leuten nisch die gelegenheit weiter über DI: uns zu lästern ↓ Die Großzügigkeit einer Mutter kann für sie auch soziale Konsequenzen haben: In einem Fall distanzierten sich die Nachbarinnen von ihr, in einem anderen Fall vermied sie die Treffpunkte der Nachbarinnen, um Situationen zu vermeiden, in denen das Verhalten der Tochter hätte kritisch thematisiert werden können. 2.3.3 Partnerwahl der Kinder Interessant ist, dass in Bezug auf die Partnerwahl der Kinder die Vorstellungen bei Angehörigen der Elite und der Ghetto-Bevölkerung sehr ähnlich sind. Ein Vater aus der Elite meint dazu: Obwohl wir von der Bildung her anders sind als die Türken im Jungbusch, haben wir mit der ersten Generation dort auch Gemeinsamkeiten. Wir sind konservativer als unsere Kinder, die Mentalität der ersten Generation ist ähnlich was Moralvorstellungen anbetrifft. Ein wesentlicher Punkt ist, dass es vor der Ehe keine intimen Beziehungen geben darf, andernfalls werde über die junge Frau sehr schlecht geredet. Diese Haltung charakterisiert eine junge Informantin folgendermaßen: DI: wenn eine von uns einen typ kennen lernt * dann wird DI: geheiratet ↓ * einen freund haben- * wieder auseinander DI: gehenwieder einen anderen freund haben- * sich auch DI: mit ihm nicht verstehen und erst den dri“tten heiraten ↑ DI: das ist für ihn (=Vater) rumhurerei ↓ Die Haltung des Vaters begründet sie durch den sozialen Druck der türkischen Umgebung. Wird ein Mädchen mit einem jungen Mann beobachtet, Die „türkischen Powergirls“ 76 ohne verlobt zu sein, denken die Leute, sie vergnügt sich nur mit ihm und er heiratet sie nicht, sondern er nutzt sie nur aus. Wenn über eine junge Frau so geredet werde, habe sie keine Chance mehr einen ehrbaren Mann aus der Migrantengemeinschaft zu bekommen. Normalerweise wird innerhalb derselben Schicht geheiratet. 56 Wie stark diese Orientierung die Partnersuche bestimmt, wird daran deutlich, dass junge Frauen, die aus dem Ghetto streben und eine akademische Ausbildung geschafft haben, nicht in Elite-Familien einheiraten, sondern einen Partner mit dem gleichen Hintergrund wählen, auch wenn er keinen höheren Bildungsabschluss hat. Hier ist die soziale Herkunft der Familien wichtiger als ähnliche bildungsmäßige Voraussetzungen der jungen Leute. Diese Haltung wird auf Seiten der Elite-Familien bestätigt. Eine Akademikerin der 1. Generation beschreibt die Situation ihrer Familie folgendermaßen: Da sie großen Wert auf eine Schwiegertochter aus einer guten Familie legte, war es für ihren Sohn schwierig, ein entsprechendes Mädchen zu finden. Ein Mädchen aus einer Arbeiterfamilie, das eine akademische Laufbahn geschafft hat, kam nicht in Frage; ihr Sohn hätte sich nie mit einer Arbeiterfamilie unterhalten können, denn worüber sollten sie reden? Da durch die lange Migrationsdauer kaum Kontakte zu geeigneten Familien in der Türkei bestanden, musste die Familie es hinnehmen, dass der Sohn mit einer Deutschen liiert ist. In den eher „offenen, modernen Familien“ gestehen die Eltern den Kindern zu, den Partner selbst zu wählen; in den eher „traditionellen Familien“ versuchen die Eltern, den Partner für ihre Kinder im Verwandtschafts- oder Freundeskreis in der Türkei auszusuchen. Doch auch das sind nur prototypische Zuschreibungen: Es gibt Familien, die bei ihren älteren Kindern den Partner aussuchten, den jüngeren dann aber die Wahl selbst überlassen, weil ein Umdenkungsprozess in Gang gekommen ist. Auch wenn Eltern eher zu „modern“ tendieren, kann es trotzdem erbitterte Auseinandersetzungen geben, wenn der von der Tochter gewählte Partner nicht ihren Erwartungen entspricht, z.B. einer anderen Religionsgemeinschaft angehört. In einer sunnitischen Familie, die der Tochter die Partnerwahl überließ, gab es heftige Auseinandersetzungen, weil sie einen Aleviten heiraten wollte. Die junge Frau unternahm große Anstrengungen, um die Eltern umzustimmen, doch 56 Eine Informantin meint, in derselben Schicht zu heiraten ist ganz logisch. Ethnografie des Lebensraums 77 erst der listigen Überredungskunst einer Freundin gelang es, die Mutter von der Qualität des jungen Mannes zu überzeugen. Dieser Fall zeigt, dass auch moderne junge Frauen danach streben, im Einverständnis mit den Eltern zu heiraten und dass sie einen Bruch mit der Familie nicht riskieren. Die Töchter aus „offenen, modernen Familien“ mit guter Schul- und Berufsausbildung bevorzugen als Ehepartner einen Migranten. Einen Türken aus der Türkei zu heiraten, lehnen sie strikt ab, denn das ist für sie ein Mann aus der Herkunftsregion der Eltern; sie bezeichnen ihn als ungebildeten Dorftrottel, mit dem sie nichts verbindet. Eine junge Frau meint, zwischen uns und diesen Typen liegen 100 Jahre, und auch die Mutter würde eine solche Verbindung nie zulassen: HI: sie sagt immer * <ich habe meine töchter gut erzogen- * HI: sie auf eine gute schule geschickt * sie alles lernen HI: lassen ↓ * dann soll ich sie diesen hungrigen wölfen aus HI: dem dorf vorwerfen ↑ > In eher „traditionellen Familien“ wird eine Verbindung mit einem Bekannten oder Verwandten aus der Türkei sowohl wirtschaftlich als auch kulturell begründet: Sie ermöglicht dem/ der Verwandten die Migration und sie schützt das eigene Kind vor weiterer Entfremdung von Herkunftskultur und -tradition. Solche „gemischten Ehen“ kommen sehr häufig zustande, 57 und oft werden die jungen Leute bei einem Ferienbesuch in der Türkei versprochen. 58 Exkurs 7: Nach Nauck (2004, S. 103) gehören Partnerwahl und Eheschließungen „zu den strategischen Entscheidungen“ von Migranten, da sich daraus sowohl „weit reichende Folgen für den eigenen Eingliederungsprozess“ und die eigene Mobilität ergeben, als auch für den Eingliederungsprozess der nachfolgenden Kinder. Ein Partner aus der eigenen Gruppe macht eine Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft wesentlich unproblematischer als ein Partner aus der Mehrheitsgesellschaft oder aus einer anderen ethnischen Gruppe. Solche Überlegungen können vor allem bei Migranten eine entscheidende Rolle spielen, deren Aufenthaltsstatus ungesichert ist bzw. die ihn als ungesichert betrachten, und sich für die Kinder einen türki- 57 Das belegen die Ausführungen des Ausländerbeauftragten in Mannheim ebenso wie eine Diplomarbeit, die an der Jungbuschschule in Mannheim entstanden ist, vgl. Hoffmann (2000). 58 Ein Lehrer berichtet auch von einem Fall, in dem der Vater das Mädchen versprechen wollte, sie sich aber weigerte mit der Drohung, dass sie abhaut mit einem Freund, den sie sich selbst sucht. Darauf ließ der Vater von seinem Vorhaben ab. Wenn die Tochter die Drohung wahr gemacht hätte, wäre das eine große Schande für die Familie gewesen. Die „türkischen Powergirls“ 78 schen Partner gleicher Religionszugehörigkeit wünschen. Bei einigen der von mir befragten Familien spielte dieses Argument eine Rolle; bei den meisten jedoch ging es darum, einem weiteren Mitglied aus der Herkunftsgemeinschaft die Migration zu ermöglichen und/ oder um die Weiterführung der bisherigen Traditionen. Auf einen weiteren Grund für die Partnersuche in der Türkei macht Kelek (2005) aufmerksam: Heiratsfähige Söhne und Töchter aus Deutschland haben in den Herkunftsregionen der Eltern einen hohen Marktwert, da sich viele Familien dort für ihre Kinder die Migration als Lebenschance wünschen. D.h., auch Familien, deren Söhne und Töchter auf dem Heiratsmarkt in der Migrantengemeinschaft in Deutschland keine großen Chancen haben, sind in den türkischen Herkunftsregionen begehrt. Aus der Erfahrung vieler InformantInnen sind gemischte Ehen stark gefährdet, da zwischen den Partnern Welten liegen. Dabei werden die Probleme für die Partner unterschiedlich gesehen. Sind die Männer in Deutschland aufgewachsen, gebe es vor allem sexuelle Probleme, so ein Pädagoge: Ein junger Mann, der das Nachtleben, die Discos und viele Frauen hier kennt, hat für seine unerfahrene, anatolische Frau kein großes Interesse. Das bestätigt eine Informantin, die Heiratsmigrantinnen betreut: Die unerfahrenen Frauen aus dem Dorf seien unglücklich, lebten isoliert, einige würden depressiv und krank; die Männer gingen fremd und verbrächten die Zeit in Männercafés, in Spielhallen oder bei Freunden. Es gibt aber auch positive Beispiele; Heiratsmigrantinnen, die sich relativ schnell zurechtfinden, Deutsch lernen, sich im Schul- und Bildungsbereich engagieren und ihr Leben in Deutschland erfolgreich gestalten wollen (vgl. oben Kap. 1.2.2). Ist die Frau in Deutschland aufgewachsen und der Mann ist Heiratsmigrant, gibt es vor allem Rollenprobleme. Die jungen Frauen haben andere Vorstellungen vom Zusammenleben als ihre Ehemänner, sind besser ausgebildet und kennen sich hier aus. Oft sind sie berufstätig und die Männer von ihnen finanziell abhängig. Dass diese Konstellation bei Männern aus traditionellen Familien zu massiven Problemen führen kann, beschreibt eine Informantin an folgendem Beispiel: Ein Mädchen, hier aufgewachsen und mit gutem Schulabschluss, wurde von den traditionellen Eltern mit einem Mann aus der Türkei verheiratet. Sie passte nicht in sein Bild von einer Ehefrau, doch gleichzeitig war er von ihr abhängig, weil sie die wirtschaftlichen Dinge erledigte. Er fing an zu trinken, ging zum Kartenspiel und wurde arbeitslos. In der Familie kam es zu Schlägereien. Die junge Frau bekam von ihren Eltern keine Unterstützung, weil sie sich in die Familie des Mannes einzufügen hatte; als einziger Ausweg blieb die Scheidung. Ethnografie des Lebensraums 79 Dass gemischte Ehen äußerst problematisch sein können, ist auch jungen Männern in der Türkei bekannt. Nach Auskunft eines türkischen Studenten haben Freunde, die ein Mädchen aus Deutschland heirateten, keine guten Erfahrungen gemacht. Er charakterisiert die Situation folgendermaßen: Die in Deutschland aufgewachsene Frau kennt die Türkei nicht. Sie sieht den Mann einbis zweimal im Urlaub, und wenn er zwei anständige Sätze gesagt hat, ist er anständig und wenn er zwei Witze gemacht hat, ist er witzig, dann heiratet sie ihn. Für den jungen Mann ist wichtig, dass die Frau gut aussieht, schöne Haare hat und die Tochter von einem geschätzten Bekannten ist. Da sie bisher in ganz unterschiedlichen Welten gelebt haben, werde bereits nach einem Jahr die Scheidung eingereicht. 2.3.4 Scheidungen Ehen aus ländlichen Regionen Anatoliens, in denen die Partner die oben angeführten Kriterien erfüllen, bestehen meist ein Leben lang. Wenn Ehen jedoch scheitern, geht nach traditionellen Vorstellungen die Frau in ihre Herkunftsfamilie zurück, die für den Unterhalt der Geschiedenen aufkommen muss und deshalb versucht, sie so schnell wie möglich wieder zu verheiraten. Die Kinder aus gescheiterten Ehen bleiben in der Regel beim Mann und seiner Herkunftsfamilie. Das ist auch im wirtschaftlichen Interesse der Frau, denn ihre Chancen auf eine neue Ehe sinken erheblich, wenn sie Kinder aus der ersten Ehe mitbringt, die der neue Mann ernähren müsste. Dieses Ehemodell prägt viele Migrantenfamilien der 1. Generation. Scheidungen sind in diesen Familien immer noch selten, da die traditionellen Vorstellungen zu Ehe und Familie vorherrschen. Ein Vater der ersten Generation meinte, aus seiner Herkunftsregion in Zentralanatolien kenne er Scheidungen gar nicht; die Partner würden ihr Handeln so ausrichten, dass die Familie sauber sei. Auch wenn Ehen problematisch werden, wenn z.B. der Mann alkohol- oder spielsüchtig ist oder wenn er außereheliche Verhältnisse unterhält, steht das Familieninteresse im Vordergrund. In solchen Fällen, so einige Informantinnen der 1. Generation, versucht die Frau in besonderer Weise dem Leitbild der „guten Frau“ zu entsprechen und alles für den Erhalt von Ehe und Familie zu tun. Für sie wird es zur zentralen Aufgabe, den Mann moralisch zu stützen, ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen und aus ihm wieder einen rechtschaffenen Menschen zu machen (‘adam etmek’). Eine „gute Frau“ als Retterin eines alkohol- und spielsüchtigen Mannes z.B. genießt in der türkischen Gemeinschaft ein hohes gesellschaftliches Anse- Die „türkischen Powergirls“ 80 hen, so eine Betroffene. Sie schildert die charakteristischen Techniken, mit denen sie versuchte, ihren Mann wieder auf den rechten Weg zu bringen. Es begann mit dem guten Zureden und dem Hinweis auf die Verantwortung den Kindern gegenüber: BA: çok düzeltmeye çalı ş tım * çok yardımcı oldum * Ü: ich habe versucht ihn gerade zu biegen * ich habe ihm viel BA: bi kaç sene iyilikle * yapma etme * bak çoçuklarımız Ü: geholfen ein paar Jahre mit Güte, bitte tu es nicht schau BA: var büyüyor Ü: wir haben Kinder sie werden größer Die nächste Stufe ist charakterisiert durch wechselseitige Vorwürfe, Streit und schlechte Dinge sagen. Als das keinen Erfolg gebracht hatte, begann die Phase der Wortlosigkeit, die Phase vor der Scheidung: BA: konu ş tum olmadı * iyilikle olmadı * kötülükle Ü: ich habe geredet * es ging nicht * mit Güte ging es nicht mit BA: olmadı * ş imdi birbirimize karçı bi wortumuz yok yani Ü: Bosheit nicht * jetzt haben wir kein Wort mehr füreinander Auch die Sorge um das gesellschaftliche Ansehen der Kinder treibt Frauen zu besonderen Anstrengungen, um die Familie zu erhalten. Zunächst sind es die kleinen Kinder, die den Vater brauchen. Sind die Kinder größer und bereits selbst auf Partnersuche, verringert sich vor allem für die Töchter die Chance, in ehrbare Familien einzuheiraten, wenn die Mutter geschieden ist. Als die Informantin die Scheidung einreichen wollte, wurde sie von der Tochter, die sich gerade verlobt hatte, gebeten noch solange auszuhalten, bis sie selbst verheiratet ist. Der Bräutigam kam aus einer iyi aile (‘guten, sauberen Familie’), die eine Schwiegertochter aus einer geschiedenen Ehe nicht akzeptiert hätte. Aus Rücksicht auf das Glück der Tochter verschob die Mutter die Scheidung. Eine junge Informantin beleuchtet einige Hintergründe, warum für Frauen der 1. Generation eine Scheidung äußerst problematisch ist. Da sie in der Regel keine Ausbildung haben und kaum Deutsch können, könnten sie nicht in Deutschland bleiben und müssten in die Türkei zurück. Dort erwarte sie entweder ein Leben in der Herkunftsfamilie, der sie Schande gebracht haben oder, wenn sie versuchten alleine zu leben, ein Leben als Freiwild. Für Frauen aus unteren Schichten sei ein selbstständiges Leben nach der Scheidung immer noch sehr schwierig; sie würden nicht in Ruhe gelassen und Ethnografie des Lebensraums 81 könnten auch bei Übergriffen auf wenig Unterstützung hoffen, da Sexualdelikte gegenüber Frauen in der Heimatregion der Eltern oft als Bagatellen behandelt würden. Die Informantin kennt viele Frauen in Mannheim, die sich aus diesen Gründen nicht scheiden lassen, obwohl der Mann sie betrügt und sie ihn ablehnen. Doch in der jungen Generation hat sich die Einstellung zur Ehescheidung stark geändert. Eine Informantin beobachtet, dass Scheidungen, die früher etwas Außergewöhnliches waren, in jungen Familien enorm zugenommen haben. Die Berufstätigkeit der jungen Frauen ermöglicht die finanzielle Unabhängigkeit, und sie müssen nicht mehr fürchten, die Kinder zu verlieren und in die Herkunftsfamilien zurückzukehren. Ganz allmählich würden auch Frauen der 1. Generation die Scheidung wagen, da sie - so eine Informantin - mit der Unterstützung der jungen Generation rechnen könnten. Eine Freundin der Informantin, die mit einem Mann verheiratet wurde, den sie total ablehnt, hat sich nach langjähriger Ehe für die Scheidung entschieden. Sie wird von ihren jungen Nachbarinnen unterstützt, deren Mütter die Scheidung ablehnen. Die Scheidungsbereitschaft der jungen Generation wird von den Eltern mit Sorge beobachtet. Sie machen dafür den Egoismus der Kinder oder ihre Rebellion gegen die Lebensweise der Eltern verantwortlich und werfen ihnen vor, nicht mehr für den Erhalt von Ehe und Familie zu kämpfen. Eine Frau der 1. Generation ist überzeugt, dass die jungen Leute zu viele Freiheiten haben; sie selbst wurde an einen Fremden verheiratet, zog eine Trennung aber nie in Erwägung, sondern hat ihren Platz eingenommen und durchgehalten, da sie nichts anderes kannte. Einen anderen Aspekt im Zusammenhang mit der steigenden Scheidungsrate beleuchtet eine türkische Pädagogin. Der gesellschaftliche Druck, du musst so schnell wie möglich heiraten ist für Mädchen immer noch groß. Was dann passiert, ist so schön klassisch: Bis zur Unterschrift auf dem Standesamt zeigen diese Typen immer die Schokoladenseite und nach der Hochzeit sind sie die türkischen Machos. Die jungen Frauen, durch die Erfahrungen der Mütter geprägt, 59 versuchten dann erst gar nicht, die Ehe zu retten, sondern reichten die Scheidung ein. 59 Eine junge Informantin aus einer sehr traditionellen Familie beschreibt die Auswirkungen, die das Leben der Mutter auf sie hatte: Die Mutter war unausgebildet, ohne Deutschkenntnisse und von ihrem Mann abhängig. Obwohl er sie betrog, hat sie lieber die schreckliche Die „türkischen Powergirls“ 82 2.3.5 Die türkische Population des Stadtgebiets aus der Perspektive von Türkei-Türken Türken, die sich in der Türkei zur Elite zugehörig fühlen, bezeichnen in Deutschland lebende Türken, die als „Gastarbeiter“ kamen, abschätzig als almancılar (‘Deutschländer’). Darunter werden Menschen gefasst, die vom Land kommen, kaum ausgebildet sind, in der Türkei arbeitslos waren und in Deutschland hart arbeiten. Gebildete Türken in der Türkei seien oft neidisch, dass ungebildete Leute schöne Autos haben und in der Türkei schöne Häuser bauen. Sie verdienen mehr als ein Beamter in der Türkei, kommen mit einem großen Mercedes und werfen das Geld aus dem Fenster. Sie werden als Neureiche gesehen, die sich nicht benehmen können und in den teuren Restaurants in der Türkei unangenehm auffallen. Ein Jungakademiker aus der Türkei, der in Mannheim viele ‘Deutschländer’ kennen lernte, sieht große Unterschiede zwischen sich und ihnen. Sie sind ihm fast so fremd wie deutsche Jugendliche und er bemitleidet sie auch ein bisschen, weil sie angeberisch sind und in einer Traumwelt leben. Übereinstimmend beklagen Studenten aus der Türkei den schlechten Ruf der Türken hier. Darunter müssen auch sie beim Bemühen um Kontakte mit deutschen Kommilitonen leiden. Für den schlechten Ruf machen sie die türkische Bevölkerung verantwortlich, vor allem die auffallenden türkischen Jungen, die dunklen Typen, absolut rappermäßig angezogen, komisches Kopfband, goldene Ketten, Armband und Ringe, die so aussehen wie Rapper aus dem Rap-Video, die rumhängen, rauchen und Leute belästigen. Das gebe ein sehr schlechtes Bild über die Türken ab, das sich auch auf Studenten übertrage. Dieser Informant wünscht sich, dass die Türken hier versuchten, den kaputten Ruf von Türken zu verbessern, indem sie bessere Schul- und Ausbildungsabschlüsse und bessere Arbeitsstellen anstrebten. Sie dürften sich nicht so ins Ghetto zurückziehen, sondern sollten mit Deutschen leben. Er wünscht sich, dass Deutsche irgendwann einmal sagen, wir sehen keinen Unterschied zwischen uns und euch. Ehe ertragen. Ihre Geduld und Unterwürfigkeit waren für die Tochter unerträglich; sie war voller Abscheu gegenüber allem Türkischen. Nach dem Abitur brach sie mit ihrer Familie und lebt jetzt mit einem Franzosen zusammen. Ethnografie des Lebensraums 83 2.4 Soziale Nähe und soziale Kontrolle Die sozialen Netzwerke in der türkischen Migrantenpopulation sind sehr eng. Familien, die aus derselben Herkunftsregion oder aus demselben Dorf in der Türkei kommen, wohnen oft in einem Wohnblock in unmittelbarer Nachbarschaft. Regelmäßige Besuche zwischen den Frauen sind selbstverständlich, unaufwändig und erfordern kaum Vorbereitung: man läutet, oft sind die Türen auch offen und man geht einfach hinein. 60 Die Besucherin bringt etwas von dem Gebäck, das sie gerade gebacken hat, mit und die Besuchte kocht den Tee. Besuche werden nie abgewiesen mit der Entschuldigung ich hab was zu tun oder ich kann jetzt nicht, sondern die Besucherin wird in die Arbeit miteinbezogen, kocht mit, hilft bei der Wäsche oder schaut ganz einfach bei der Arbeit zu. Vor allem Frauen der 1. Generation fühlen sich innerhalb dieses Netzwerkes wohl und sicher. Eng gekoppelt an die dichte Netzwerkstruktur ist die soziale Kontrolle. In der Dorfstruktur des Jungbuschs, so eine Pädagogin, ist die Klatschkultur so stark ausgeprägt, dass innerhalb der türkischen Population jeder alles über jeden weiß. Wenn etwas Geheimes plötzlich aufgedeckt wird, dauert es nicht lange und es weiß der ganze Jungbusch. Es werde ständig nur geklatscht und gehetzt, und auch junge Männer würden nur rumhängen, drauf warten, was die Schwester vom Kumpel macht und es dann sofort weiter tragen. Für junge Informantinnen, die gegen traditionelle Strukturen aufbegehren, ist die enge soziale Kontrolle innerhalb der türkischen Gemeinschaft oft unerträglich: SÜ: wirklisch a“lle türken die in deu“tschland leben * SÜ: haben n=gro“ßes pro“blem mit ihrer umge“bung ↓ * weil SÜ: die türken die mischen sich in a“lles ein ↑ * <a“lles SÜ: * ei“nfach alles> * obwohl sie keine verwandten sind * SÜ: das leben der familien geht nur darum <was werden die SÜ: leute de“nken und so> das is so: schlimm ↓ [...] SÜ: und wi“rklisch ekelhaft Die soziale Kontrolle bezieht sich vor allem auf Töchter von Nachbarn. 60 Wie wichtig nachbarschaftliche Besuche sind und wie selbstverständlich sie auch in die Alltagsplanung der jungen Generation einbezogen werden, zeigt folgendes Beispiel: Eine junge Frau, die kurz vor der Hochzeit die neue Wohnung einrichtet, arrangiert die Möbel so, dass jederzeit Besuch kommen kann, ohne dass ihr Mann, wenn er Schicht gearbeitet hat, beim Schlafen gestört wird oder der Gast sich durch ihn gestört fühlt. Die „türkischen Powergirls“ 84 AY: die nachbarn ham immer gefragt * woher kommst du ↑ * wohin AY: gehst du ↑ * also immer sollt isch rechenschaft abgeben * Wird ein Mädchen mit einem jungen Mann gesehen, bringen sich Nachbarn in eine gute Beobachtungsposition, um sich ein möglichst genaues Bild von der Situation zu machen: AY: wenn sie mich auf der straße gesehn ham mit meim AY: freu“nd ↑ * dann haben sie misch ni“scht gegrüßt ↓ * AY: also die haben gemacht als würden sie misch nischt AY: kennen ↓ damit sie misch so- * unauffällig weiter AY: beobachten können ↓ Das Beobachtete wird sofort den Eltern des Mädchens überbracht. Dabei gehen die Nachbarn von der Annahme aus, dass sie im Sinne der Eltern handeln. Eine „liberale“ Mutter erzählt folgendes Beispiel: SE: der mann * der aus der wohnung unten rausgezogn is * der SE: hat meine tochter gesehn ↓ * sie wollte in=s kino mit SE: ihrem freund * isch weiß es isch hab=s ihr erlaubt ↓ * SE: dann plötzlich sieht er meine tochter mit dem freund ↑ SE: * [...] später sagt er zu mir <ah schwester Selma * SE: → wir reden als schwester un bruder un so ← * kannst du SE: mal en moment da bleiben ↓ hab isch gesagt is was ↑ [...] SE: dann sagt er ah weißt du was ↑ isch hab deine Berna mit SE: eim junge gesehn * vo“rhin ↓ * die Berna ↓ * hab isch SE: gesagt <isch weiß es ↓ * die gehn grad in=s kino ↓ * SE: der war ga“nz baff der hat so“ gekuckt ↑ * der war SE: wi“rklisch ganz still ↓ un seitdem redet er nischt mehr ↓ Der Nachbar spricht die Mutter an und bittet sie kurz bei ihm zu bleiben. Dann schildert er das „Vergehen“ der Tochter in der Annahme, dass er der Mutter bei der Kontrolle über die Tochter hilft. Als die Mutter ihm klar macht, dass die Tochter mit ihrer Erlaubnis handelt, ist der Mann völlig überrascht und - das zeigt sein weiteres Verhalten - fassungslos über das Verhalten der Mutter. Ihm wird klar, dass für sie andere Regeln gelten, und er bricht den Kontakt mit ihr ab. Aus Furcht vor der sozialen Kontrolle werden in vielen Familien innerfamiliäre Probleme geheim gehalten, denn, würden sie bekannt, würde das Leben zum Spießrutenlaufen. Die Betroffenen würden ständig auf die Abweichungen hin angesprochen, müssten erklären und sich rechtfertigen. So stellen z.B. auch Ehefrauen, deren Männer die Kriterien eines guten Mannes nicht mehr erfüllen, ihn nach außen weiterhin als gut und zuverlässig dar, selbst Ethnografie des Lebensraums 85 dann noch, wenn das Problem bereits nach draußen gedrungen ist. Solange die Betroffene nicht offen darüber spricht, spielen freundliche Nachbarinnen das Spiel mit. Versuchen weniger freundliche auf das Problem anzuspielen, hat die Betroffene immer noch die Möglichkeit, die Anspielungen zu übergehen. Dieses hartnäckige Festhalten an der Normalform erlebte ich, als eine Frau, deren Mann seit Jahren spiel- und alkoholsüchtig ist, mich bat, in Gegenwart von Nachbarinnen nicht davon zu sprechen, da diese nichts über die Abweichung des Mannes wüssten. Als ich später mit der Tochter der Frau darüber sprach, erfuhr ich von dem Doppelspiel: AY: alle wissen dass der vater süchtig ist ↓ * aber meine AY: mutter verleugnet es- * sie gibt es nicht zu wenn AY: unsere nachbarinnen da sind ↑ * dann wird nicht darüber AY: gesprochen * und die nachbarinnen tun so als würden AY: sie nichts wissen ↓ * so kann meine mutter weiter AY: die glückliche frau spielen obwohl zuhause die hö“lle AY: is ↓ * und das machen andere frauen auch so Betroffene Frauen tabuisieren das Thema, erhalten den Schein einer guten Ehe bis zur Selbstverleugnung aufrecht, und aus Gründen des wechselseitigen Image-Schutzes spielen die Nachbarinnen mit. Dieses Doppelspiel ist aus der Sicht der Tochter weit verbreitet. Obwohl es von den betroffenen Frauen große Selbstdisziplin erfordert, ist es für sie leichter und hat nicht die sozialen Konsequenzen, die die Offenlegung des Problems hätte. Der Druck der sozialen Kontrolle verstärkt in vielen Familien die Tendenz zur Aufrechterhaltung traditioneller Normen und Werte, auch wenn die Töchter auf größere Freiheiten drängen. Eine junge Frau, die einen Freund hat, aber mit der Verlobung noch warten will, hat ständig Auseinandersetzungen mit dem Vater, weil der sich bei anderen Männern dafür rechtfertigen muss, dass er das Verhältnis duldet. Er drängt die Tochter zur Verlobung, da er unter dem starken Druck durch die anderen steht. Vor diesem Hintergrund können die jungen Frauen die Strenge der Eltern verstehen, auch wenn sie sie nicht akzeptieren. In einigen Familien haben sich interessante Ausweichstrategien entwickelt: Die Töchter treffen sich mit ihren Freunden in Umgebungen, in denen sie keiner kennt, und minimieren so das Risiko gesehen und Gegenstand des bösen Klatsches zu werden; und die Eltern, obwohl sie ahnen, was passiert, fragen nicht nach, sondern ignorieren das Treiben der Kinder, solange es der türkischen Gemeinschaft verborgen bleibt. Die „türkischen Powergirls“ 86 Der gesellschaftliche Druck und die soziale Kontrolle erstrecken sich nicht nur auf die Migrantenpopulation des Stadtteils, sondern reichen - so einige InformatInnen - über das gesamte Stadtgebiet und sogar bis ins Heimatdorf der Eltern. Wenn eine der jungen Frauen heute irgendwas falsch macht TE: und hier auf der straße sieht misch die Aysche vom TE: jungbusch ↑ dann weiß es morgen die Fatma von der TE: rheinau ↓ 61 * und als hätt des net gereischt ↑ * weiß noch TE: die türkei was passiert is ↑ * meine verwandten do“rt TE: kriegen des auch mit * wenn isch mit meim freund weggeh Eine andere Informantin, die eine großzügige Mutter hat, berichtet, dass die Nachbarn in der Türkei über sie und die Töchter schlecht reden: DI: die sagen <die Esra geht jeden tag in ihren garten ↑ * DI: und ihre tö“chter spazieren rum wie hu“ren- * haben DI: einen freu“nd gehen immer in di“scos- * und die mutter DI: passt nicht auf die töchter auf ↓ * interessiert sich DI: nur für den garten ↓ Der größte Wunsch junger Frauen, die nach Selbstständigkeit drängen wie z.B. die „Powergirls“, ist es, aus dieser Umgebung raus zu kommen. Für die Zukunft wünschen sie sich nie im Jungbusch zu leben, auf keinen Fall in einer Umgebung, wo so viele Hetztürken sind, weil sie sich verfolgt fühlen und jeden Schritt genau überlegen müssen. Sie wissen, dass es nicht primär die Eltern sind, die ihrem Freiheitsdrang entgegenstehen, also das Problem nicht auf der innerfamiliären Ebene liegt, sondern auf der Ebene der gesellschaftlichen Kontrolle, da es die türkische Umgebung (ist), die alles kaputt macht. Die Eltern haben Angst vor den Hetztürken und wollen dafür sorgen, dass ihre Familie keinen Anlass zum Klatsch gibt. 3. Territorien und Institutionen 3.1 Freiflächen, Spielhallen, Cafés Auf dem Territorium des untersuchten Stadtgebiets gibt es drei große Spielplätze, Treffpunkte für Kinder, Jugendliche und Mütter. Auf dem Platz im Jungbusch spielen meistens türkische Kinder und auf dem Platz I 6, den Türken als Italiener-Park bezeichnen, italienische Kinder. Direkt vor dem „Café Filsbach“ sieht man ältere türkische und italienische Jungen Fußball und Streetball spielen, oder sie rauchen und labern rum. Das ist ein fester 61 Die „Rheinau“ ist ein Stadtteil im Süden von Mannheim. Ethnografie des Lebensraums 87 Treffpunkt, hier kennt jeder jeden, und wenn ein Fremder hier vorbeigeht, fällt das auf. Für einen türkischen Jugendlichen ist das Netzwerk jedoch zu eng und er fürchtet den Klatsch: Die türkischen Jungs hier wissen alles von einem, sagen es ihren Eltern, und die sagen es meinen. Er wünscht sich einen Raum, wo er mit seinen Freunden rauchen und kiffen kann, ohne dass es seine Eltern erfahren. Auf den Bänken der großen Freifläche auf H 6 sieht man in den Sommermonaten türkische Frauen sitzen, die handarbeiten, sich ihre Einkäufe zeigen und sich unterhalten. Das ist ein zentraler Ort für den Austausch von Klatschinformationen, hier werden die neuesten Beobachtungen über die Tochter der Nachbarin oder über den Sohn einer Bekannten besprochen und beurteilt. Einige Mütter meiden diesen Ort, weil sie wissen, dass auch über ihre Töchter geklatscht wird. Männer treffen sich in den Café-Häusern, die von Informanten einerseits in die normalen Cafés, in denen man Tee oder Kaffee trinkt, über Fußball diskutiert und Tavla oder Karten spielt, unterteilt werden und andererseits in die asozialen Cafés, in denen man nur Machos findet, die da nichtsnutzig rum sitzen und den ganzen Tag pokern. Einige sind spielsüchtig, verzocken ihre Gehälter und die Frauen zuhause können kucken, wie sie über die Runden kommen. Wie man in einem solchen Café als Fremder behandelt wird, schildert ein türkischstämmiger Student, der mit seinem Cousin den Onkel dort suchte: SA: als wir rein gekommen sin * sin die sofort aufgestanden ↓ * SA: die haben gedacht * wir sind polizisten * dann ist ein SA: riesiger typ auf uns zugekommen * das hemd bis zum nabel SA: offen * überall brusthaare * verschwitzt * unrasiert * SA: der hat ein messer in der hand ↑ * er hat grad was SA: geschnitten ↓ * der hat mich auf türkisch angefahren * SA: <was willst du ↑ > * darauf ich- * gar nichts ↓ * ich will SA: nur den X suchen ↓ * dann er <was willst du von dem ↑ > * SA: icheh das is mein onkel ↓ * dann er <den kenn ich nicht * SA: hau“ ab ↑ * rau“s> Für Jugendliche gibt es Treffmöglichkeiten in Spielhallen, in Cafés, in den Einrichtungen der Schule, im „Café Filsbach“ und im „Gemeinschaftszentrum Jungbusch“. Das sozialpädagogische „Projekt Mannheim“ betreibt einen Service-Laden, in dem Mitarbeiter des Projekts den Jugendlichen helfen, ihre Bewerbungen zu schreiben und sich auf Vorstellungsgespräche vor- Die „türkischen Powergirls“ 88 zubereiten. Im Internet-Café „Champions“, einem großen Lokal mit Spielsalon, Bistro, Billard-Salon und einer Bowling-Bahn, verkehren viele Jugendliche, einige surfen, andere essen in der Pizzeria oder spielen im Salon. Nahe am Marktplatz gibt es zwei Spielsalons, in denen Spielautomatensüchtige verkehren. Die meisten Spieler sind türkischer Herkunft und zwischen 25-50 Jahre alt. Sie verbringen den ganzen Tag im Spielsalon, sehen blass und krank aus, und gehen erst abends raus, um sich Geld zu beschaffen. Ein Streetworker hat beobachtet, dass die Spieler den Automaten Namen geben und dass Namen und Geschlecht des Automaten geändert werden, je nachdem ob der Spieler verliert oder gewinnt. Für drogensüchtige Jugendliche gibt es ein „Junkie-Café“ im Jungbusch, in dem sich auch die Eltern beraten lassen können. Ein türkischer Betreuer beschreibt die Hilflosigkeit und Perspektivelosigkeit, die dort herrscht, folgendermaßen: ME: die jugendlichen brauchen immer geld * deshalb machen sie ME: viele illegale geschäfte * sie klau“en- * prostituie“ren ME: sich oder dealen ↓ * wenn sie straffällig geworden sind ↑ * ME: kann man ihnen nicht mehr helfen ↓ * sie sind zu tief in Me: die szene verstrickt * den ausländischen jugendlichen ME: droht dann die abschiebung und das ist noch schli“mmer ME: als das gefängnis hier ↓ * bei den verwandten in der ME: türkei werden sie eingesperrt und keiner hilft ihnen ↓ Die Kepler-Hauptschule betreibt ein Schüler-Café, das Jugendliche unter Anleitung von SozialpädagogInnen selbst organisieren. Dort können sie sich täglich treffen, Spiele machen oder breakdancen. Bei meinen Besuchen (2001) wurde das Café vorwiegend von Jungen genutzt; die dominierende Sprache war Türkisch, auch für Kinder nicht-türkischer Herkunft. Die jungen Leute waren laut und wild, beim Tischfußball wurde geschrieen, geschimpft und gedroht. Doch Anschreien, Drohen und Rempeln waren meist nur Spiel und Show, der Wechsel zum Lachen folgte in der Regel sehr schnell. Im „Café Filsbach“ treffen sich regelmäßig türkische Jungen zum Tavla- und Kartenspielen. In den Kellerräumen gibt es die Gelegenheit Musik zu machen, auch eine Breakdance-Gruppe übt dort regelmäßig. Im „Gemeinschaftszentrum Jungbusch“ gibt es einen Jugend-Disco-Keller, der mehrmals die Woche geöffnet ist. Außerdem gibt es in den Räumen des Zentrums sehr aktive, kreative und erfolgreiche Theatergruppen, die unter der Leitung einer Theaterpädagogin Stücke konzipieren und die Texte selbst verfassen. Das Zentrum wird Ethnografie des Lebensraums 89 als „Creative Factory“ bezeichnet 62 und über die Erfolge der Gruppen wurde bereits mehrfach in der regionalen Presse berichtet. Die jugendlichen Schaupieler kooperieren sehr eng mit dem Szene-Theater im Stadtteil und treten gemeinsam mit professionellen Schauspielern auf. Mitglieder der „Powergirls“ gehören zu den aktivsten Schauspielerinnen. Die Jungbuschgrundschule betreibt ein Mütter-Café, in dem sich einmal pro Woche Mütter der Grundschulkinder treffen. Es kommen vor allem Heiratsmigrantinnen, meist einsame Frauen, so die Betreuerin, die unter der Situation hier leiden und froh sind, dass es das Angebot gibt. Eine junge Heiratsmigrantin aus einem türkischen Dorf, die mit 16 heiratete und nach Mannheim kam, schildert ihre Probleme und das ihrer Freundinnen folgendermaßen: Da sie kein Deutsch kann, hat sie keine Möglichkeit sich außer Haus zu bewegen, fühlt sich schlecht, traut sich nichts zu und zieht sich zurück. Die Schwiegerfamilie versucht sie zuhause zu halten dadurch, dass sie ihr das Leben außer Haus als gefährlich darstellt: BA: yani bi soka ğ a çıksam kaybolurum ↓ * hani bana Ü: a lso, wenn ich auf die Straße gehen würde, würde ich mich BA: kimse bi cesaret vermedi * [...] hani almanca kursuna Ü: verlaufen mir hat also keiner Mut gemacht * es hat keiner BA: git bi ş eyler ö ğ ren diyen olmadi Ü: gesagt geh in einen Deutschkurs und lern etwas Hinter der Warnung vor den Gefahren außer Haus vermutet die Informantin folgendes Motiv: hani bi gelinin gözü açılacak öyla bi şeylerden yani benim tahminim ↓ (‘der Schwiegertochter werden die Augen geöffnet, ich glaube deswegen’), d.h., die Schwiegermutter befürchtet, die junge Frau könnte durch außerhäusliche Kontakte zu selbstständig werden. Wegen ihrer Unwissenheit und Unselbstständigkeit muss die junge Frau ihren Mann wegen jeder Kleinigkeit um Unterstützung bitten und ist unfähig, Alltagsdinge in Kindergarten oder Schule zu erledigen. Diese Abhängigkeit belastet sie am meisten: BA: hani insan birinin eline bakması çok kötü ↓ Ü: es is sehr schlimm von jemandem so abhängig zu sein BA: yani ona muhtaç olma“k ↑ Ü: also diese Abhängigkeit von ihm 62 Die Bezeichnung stammt aus einem Artikel im Mannheimer Morgen, 08.10.2004, S. 24, mit dem Titel „Auf zwei Ebenen improvisieren: Die ‘Creative Factory’ im Jungbusch“. Die „türkischen Powergirls“ 90 Und es ist sehr schwer für sie, sich daraus zu befreien, weil sie von keiner Seite Unterstützung erhält. 3.2 Der ‘Internationale Mädchentreff’ Der Stadtjugendring richtete Anfang der 80er-Jahre im Jungbusch den Internationalen Mädchentreff ein. Zielgruppe sind Migrantinnen von 10-18 Jahren, da sie (nach Auffassung der InitiatorInnen) in der deutschen Gesellschaft aufgrund ihres Geschlechts und ihres Migrationshintergrunds benachteiligt sind. Ziel des Treffs ist es, die Mädchen zu guten Schulabschlüssen und zu einer soliden Berufsausbildung zu motivieren, ihnen bei der Ausbildung eines starken Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls zu helfen, sie zur realistischen Einschätzung ihrer Stärken und Schwächen zu bringen und sie zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlich oder religiös bestimmten Geschlechterrollen anzuregen. Neben der täglichen Hausaufgabenhilfe reichen die Angebote des Treffs von der Freizeitgestaltung über Stütz- und EDV-Kurse bis hin zu gemeinsamen Wochenendfahrten. Die Einrichtung ist aus der Außen- und Innenperspektive äußerst erfolgreich und erlebt in jüngster Zeit einen enormen Zuspruch: Schülerinnen, Eltern und die Schulen haben die Chance, die die Einrichtung den Mädchen bietet, erkannt und wollen sie nutzen. Einer neueren Evaluation zufolge wird der Treff von den Jugendlichen sehr gut angenommen: 63 Zur Hausaufgabenbetreuung kommen vor allem die jüngeren, die älteren schätzen die Freizeitangebote, die Wochenendfahrten und die Freiräume, die ihnen hier geboten werden. Der Internationale Mädchentreff wird seit Jahren von einer Sozialpädagogin türkischer Herkunft geleitet, einer selbstbewussten und selbstständigen Frau, kompetent in beiden Sprachen. Sie wird von den Mädchen und ihren Eltern hoch geschätzt, und ihr Wirken hat einen großen Einfluss auf die positive Entwicklung der Mädchen. Die meisten haben zur ihr eine intensive und über Jahre stabile Beziehung: Sie ist für sie Vertraute in Nöten, Beraterin bei anstehenden Entscheidungen und Vorbild in vielen Lebensbereichen. Aus der Sicht von Lehrenden der Kepler-Hauptschule wird der Mädchentreff bei türkischen Eltern akzeptiert, weil dort nur Mädchen verkehren und die Betreuerin Türkin ist. Einer Lehrerin fiel auf, dass eine ihrer schwachen 63 Das ist eines der Ergebnisse der Evaluation, vgl. den Bericht von Breithecker-Amend (2000, S. 9ff.). Ethnografie des Lebensraums 91 Schülerinnen sich durch den regelmäßigen Besuch der Einrichtung so verbesserte, dass sie einen guten Schulabschluss schaffte. An diesem Fall wurde ihr klar, wie wichtig es ist, dass die Kinder nachmittags Anregung bekommen, gefördert werden und gute Vorbilder kennen lernen. Dass die Mädchen im Treff Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein und eine eigenständige und realistische berufliche Perspektive entwickeln, 64 bestätigen auch andere Lehrerinnen; viele Mädchen sind schulorientiert und haben den Übergang zu höheren Schulen geschafft. Vor allem für türkische Mädchen war der Treff lange Zeit die einzige Möglichkeit, um von zuhause weg zu kommen und sich mit Gleichaltrigen zu treffen. Für eine Informantin ist er ein zweites Zuhause; hier fühlt sie sich wohl, trifft ihre Freundinnen und kann machen, was sie will, ohne ständig kontrolliert zu werden. Für eine andere Informantin nimmt er eine zentrale Rolle im Prozess ihres Erwachsenwerdens ein. Aus der Rückschau stellt sie fest, dass er für sie der Ort des Erwachens war: Früher hatte sie keine Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung der Situation von Migranten, doch im Mädchentreff lernte sie, dass sie mit ihren alltäglichen Erfahrungen als Migrantin nicht alleine ist, dass man Situationen verändern kann und dass man sich selbst und andere dazu bringen kann toleranter und sozialer zu werden. Dadurch, dass die Älteren als Hausaufgabenhelferinnen für die Jüngeren arbeiten, sind sie Vorbild für sie; und die Jüngeren werden durch die schulischen Erfolge der Älteren motiviert und mitgeprägt. Aus der Perspektive der Betreuerin gestaltete sich der Umgang mit den Mädchen zunächst äußerst mühsam, und es war schwierig, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Sie waren chaotisch, aggressiv, und es gab ständig Streit. Die Türkinnen dominierten und eine sizilianische Gruppe, die auch in die Einrichtung kommen wollte, konnte nicht Fuß fassen, weil unsere Türkinnen da wieder Macho gespielt haben. Bei einer passenden Gelegenheit hielt sie den türkischen Mädchen vor, dass sie genau dasselbe mit den Sizilianerinnen machten, wie die Deutschen mit uns, über die wir immer motzen, weil sie uns ausschließen. Der Appell hatte Erfolg, die türkischen Mädchen erkannten, dass sie wirklich den gleichen Scheiß machen wie die Deutschen, und nahmen sich vor, als Frauen mit anderen Frauen zusammenzuhalten. Heute sind die italienischen Mädchen fester Bestand des Treffs. 64 Vgl. Breithecker-Amend (2000, S. 16ff.). Die „türkischen Powergirls“ 92 Anfangs gab es auch unter den türkischen Mädchen Streitereien zwischen einer Gruppe, die eher dem Leitbild der „traditionellen Türkin“ entsprach (vgl. oben Kap. 2.2.1), und einer sehr aggressiven Gruppe, die zwar auch aus traditionellen Familien stammte, doch vehement gegen traditionelle Vorstellungen ankämpfte. Die Traditionellen fanden die Aggressiven zu flippig und zu arg deutsch. Und für die Aggressiven, die ohne Wissen der Eltern einen Freund hatten und abends in die Disco abgehauen sind, waren die Traditionellen zu gefährlich; sie fürchteten von ihnen verraten zu werden. Eine Reihe der Aggressiven gehörte zur Gruppe der „Powergirls“; ihr Misstrauen, ihre Bereitschaft zum Widerstand und ihre Aggressivität waren besonders groß. Misstrauen gab es auch der Betreuerin gegenüber. Aus der Perspektive der Aggressiven war sie eine Frau im Alter ihrer Mütter, und sie hatten große Angst, dass sie sie verraten würde, wenn sie sich Freiheiten erlaubten. Allmählich machten die Mädchen jedoch die Erfahrung, dass die Betreuerin in vielen Dingen mit ihnen übereinstimmte, dass sie oft sagte: des is ok, mach es doch, wenn du es für richtig hältst. Heute ist sie die Abla der Mädchen (‘ältere Schwester’), der sie viel mehr anvertrauen als der Mutter. Wenn es Meinungsunterschiede gibt, wissen die Mädchen, dass sie ihre Haltung respektiert, auch wenn sie nicht einverstanden ist; gleichzeitig besteht sie darauf, dass die Mädchen auch ihre Haltung respektieren. Ihr Erziehungsprinzip ist, nicht zu verbieten, sondern Konsequenzen von Handlungen aufzuzeigen: Ich sag nicht, du darfst das nicht, ich schieb nicht permanent einen Riegel vor, den kriegen sie ständig von den Eltern vorgeschoben, sondern sie sagt, dass sie nicht gut findet, was sie machen wollen und fordert sie auf, die Konsequenzen zu überlegen. Für die Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses zwischen den aggressiven Mädchen und der Betreuerin ist deren biografischer Werdegang entscheidend: Auch sie kommt aus einer traditionellen Familie, heiratete auf Druck der Familie sehr früh, setzte aber durch, dass sie das Abitur abschließen konnte. Nach kurzer, unglücklicher Ehe ließ sie sich allen familiären Widerständen zum Trotz scheiden, brach mit der Familie und erarbeitete sich eigenständig eine berufliche Existenz. Heute ist sie eine selbstbewusste Frau, die gegen die traditionellen Frauen- und Männerrollen kämpft und die die Mädchen bei jedem Schritt in die Eigenständigkeit unterstützt. Aus ihrer Biografie, in der es diesen ständigen Kampf gab, haben die Mädchen begrif- Ethnografie des Lebensraums 93 fen, dass sie sich für Veränderungen einsetzt, dass sie keine ist, die auf die Tradition pocht und das mit dem Islam begründet. Am Anfang waren auch die Mütter der Mädchen überaus misstrauisch gegenüber der Betreuerin, weil sie vom Äußeren und wegen ihrer Haltung zu traditionellen Familien- und Rollenvorstellungen keine klassische türkische Frau war. Mit der Zeit lernten die Mütter jedoch, dass sie die Mädchen fördern und vor Fehlentscheidungen schützen will. Heute sagen sie, dir vertrau ich alle meine Töchter an, da hab ich keine Bedenken. Dass in letzter Zeit auch Mädchen aus sehr traditionellen Familien bei den Wochenendausflügen mitfahren dürfen, ist für sie Beleg, dass auch diese Eltern sie mittlerweile akzeptieren. Auf Initiative der Betreuerin entstand das „Frauenfest“, das die Mädchen für ihre Mütter und deren Freundinnen regelmäßig veranstalten, und das im Stadtteil auf große Resonanz stößt. Das Fest hat folgende Hintergründe: Die Leiterin bemerkte, dass die aggressiven Mädchen sich für ihre Mütter schämten und dass eines der Mädchen voller Wut über die Mutter herzog: sie sei doof, versteht nix, kann nix, kann nur putzen gehen. Sie konnte verstehen, dass sich eine solche Haltung entwickelt, wenn man ne Mutter hat, die nicht lesen und schreiben kann, die zuhause schweigt und keine eigene Meinung hat, und die Mädels im Prinzip hundert Jahre weiter sind. Sie versuchte dann, den Mädchen die Situation der Mütter darzustellen und ihnen klar zu machen, unter welchen Zwängen sie lebten: aus welchen Familienstrukturen sie kommen, dann die Migrationsgeschichte, ihre Isolation in Deutschland, weil sie kein Deutsch können. Dann fragte sie die Mädchen, was sie für ihre Mütter machten; und aus der Idee, etwas für die Mütter zu machen, ist die Idee des Frauenfestes entstanden. Das Fest findet mehrmals im Jahr im Gemeinschaftszentrum Jungbusch statt, Essen und Getränke bereiten die Mädchen gemeinsam mit den Müttern vor, und bei türkischer Pop- und Tanzmusik wird bis Mitternacht getanzt und getobt. Die Mütter sind ausgelassen, haben großen Spaß und die Mädchen ebenfalls. Die „türkischen Powergirls“ 94 3.3 Schulen 65 Durch die als PISA 66 und IGLU 67 bekannt gewordenen Untersuchungen zu Schulleistungen kam die deutsche Schule als Problembereich in das öffentliche Bewusstsein. In diesen Untersuchungen wird nicht nur die geringe Leistungsfähigkeit der deutschen Schule im internationalen Vergleich festgestellt, sondern auch die eklatante Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Exkurs 8: Die Ergebnisse dieser Untersuchungen korrespondieren mit den Befunden aus (migrations-)soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Arbeiten, die meist an Fallbeispielen zeigen, wie soziale Ungleichheit im normalen Schulalltag aufgrund von organisatorischen Strukturen, von Schulregeln und -programmen, von Habitualisierungen und Alltagsroutinen der Pädagogen hergestellt wird (vgl. z.B. Bommes/ Radtke 1993, Gogolin/ Neumann 1997, Weber 2003). Nach IGLU können deutsche SchülerInnen am Ende der Grundschule noch mit SchülerInnen aus anderen Ländern mithalten, nach PISA jedoch liegen die deutschen Werte der 15- Jährigen signifikant unter dem internationalen Mittelwert. D.h., mit dem Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe 1 entwickelt sich ein deutlicher Leistungsabfall und die guten intellektuellen Ressourcen der Kinder und ihre naturwissenschaftliche Aufgeschlossenheit am Ende der Grundschule werden in der Sekundarstufe 1 wenig genutzt und ausgebaut (Bos et al. 2004, S. 113). Die Untersuchungen zeigen vor allem die Auswirkung des sozialen und familiären Hintergrunds der Kinder auf die Testergebnisse und die Lehrerbewertungen. In Bos et al. (2004) wurde für die drei getesteten Kompetenzen (Lese-, Mathematik- und naturwissenschaftliche Kompetenz) gezeigt, dass Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund am besten abschneiden. Die Untersuchung belegt außerdem, dass es eine große Bandbreite von Kindern mit gleichen oder ähnlichen Testleistungen gibt, die völlig unterschiedliche Lehrerbewertungen erhalten und dementsprechend auch unterschiedliche Schullaufbahnempfehlungen in der 4. Klasse. Für die Unterschiedlichkeit der Empfehlungen bei ähnlichen Leistungen sind vor allem soziale Merkmale als Kriterien relevant: Kinder ohne Migrationshintergrund haben eine viermal höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder mit Migrationshintergrund. Besonders stark fallen soziale Merkmale in Baden-Württemberg ins Gewicht: Hier liegt die Chance eines Kindes ohne Migrationshintergrund, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, gegenüber einem Kind mit Migrationshintergrund deutlich über dem (Mittel-)Wert in 65 Die Informantenbefragungen zum Schulbereich fanden 2000/ 2001 statt und beschreiben die damalige Schulsituation. In der Zwischenzeit gibt es - auch als Konsequenz aus der PISA -Studie - in den Schulen und auf kommunaler Ebene vermehrt Anstrengungen, die Sprachprobleme von Migrantenkindern anzugehen. 66 Vgl. Deutsches PISA -Konsortium (2001) 67 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU , vgl. Bos et al. (2003) und (2004) Ethnografie des Lebensraums 95 Deutschland. Selbst bei vergleichbaren kognitiven Fähigkeiten und vergleichbarer Lesekompetenz erhalten Kinder aus oberen Sozialschichten immer noch wesentlich häufiger (2,63-fach) eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus der unteren Sozialschicht. Unter den Migrantenkindern schneiden türkische Kinder besonders schlecht ab. In einem Artikel in der ‘Zeit’ werden sie beispielsweise als „Spitzenreiter im (schulischen) Scheitern“ bezeichnet, 68 und in dem jüngsten Bildungsbericht von Baden-Württemberg wird ihnen ein „erheblicher Bildungsrückstand“ attestiert. 69 Für diese Bildungsmisere werden in dem Bericht zwei Faktoren verantwortlich gemacht: die geringe Förderung durch die Schule und das geringe Bildungsinteresse türkischer Eltern. Interessanterweise zeigt ein Blick in die PISA -Untersuchung, dass türkische Migrantenkinder in anderen Ländern erheblich bessere Ergebnisse erzielen; 70 d.h., die türkische Herkunft erklärt nicht, warum diese Kinder in deutschen Schulen so wenig erfolgreich sind. Die im folgenden Kapitel dargestellten schulischen Zusammenhänge, die Sichtweisen von Lehrkräften und Eltern und die Erfahrungen betroffener SchülerInnen bestätigen in weiten Teilen die in der soziologischen und erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Forschung gewonnenen Einsichten zur Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern und können als weitere Belege für die dort beschriebenen Mechanismen, die zur Benachteiligung führen, betrachtet werden. Aus kommunaler Perspektive werden die Stadtteilschulen als Brennpunktschulen und aufgrund des hohen Migrantenanteils als Problemschulen bezeichnet. Die nationale Mischung in den Klassen und die damit zusammenhängenden Anforderungen an den Unterricht werden übereinstimmend als Überforderung für Lehrer und Schüler gesehen. Die schulischen Ergebnisse der Kinder sind im Vergleich zu Schülern aus anderen Schulen die schlechtesten. Wenn Kinder aus den Brennpunktschulen z.B. mit einer guten Note in Englisch in eine Schule außerhalb des Migrantenwohngebiets kommen, fallen sie in der Regel auf die Noten 4-5 zurück. Die Ursachen für die schlechten Ergebnisse werden darin gesehen, dass sich die Schulen an die Verhältnisse anpassen, sich auf den geringen Kenntnisstand ihrer Schüler einlassen und Abstriche vom Unterrichtsstoff machen. Nach einer neueren Statistik (2004) ist in den beiden Grundschulen (Jungbusch- und Kepler-Grundschule) und der Kepler-Hauptschule der Anteil von Migrantenkindern mit 77 bzw. 90% sehr hoch; Kinder türkischer Herkunft bilden die weitaus größte Gruppe. Es gibt Klassen mit Kindern aus 12 Nati- 68 vgl. Die Zeit, 27.02.2003, S. 16. 69 vgl. Mannheimer Morgen, 9.11.2004, S. 5. 70 Vgl. Die Zeit, 27.02.2003, S. 16; dort heißt es: „ob in Schweden oder Norwegen, in Österreich oder der Schweiz: Überall können Kinder türkischer Einwanderer besser lesen als hierzulande“. Die „türkischen Powergirls“ 96 onen, darunter nur ein oder zwei Deutsche. 71 Während in anderen Mannheimer Grundschulen zwischen 60 und 70% der Kinder den Übergang zu höheren Schulen schaffen, sind es in den Schulen des Stadtgebiets nur 15-20%, obwohl nach Aussagen der Lehrenden viele ausgesprochen intelligent sind. Solche Ergebnisse sind für die Lehrenden frustrierend und demotivierend, 72 für die betroffenen Kinder katastrophal. 73 Der Frage, wie eine solche Situation hat entstehen können, kann ich hier nicht nachgehen, doch ist sicher, dass die Problematik schon seit Jahrzehnten bekannt ist. Bereits in den 70er-Jahren sprachen die Kultusminister die Empfehlung an die Schulen aus, dass der Anteil ausländischer Kinder in einer Klasse 20% nicht überschreiten solle, da das den Unterricht für deutsche und ausländische Kinder erheblich erschwere und die Ausbildung beider Gruppen darunter leide. 74 Schon damals klafften Anspruch und Realität auseinander, denn in manchen Innenstadtschulen gab es bereits 50% Schüler ausländischer Herkunft. In den Schulen mit einem hohen Migrantenanteil in Mannheim haben sich die Verhältnisse in den letzten 30 Jahren dramatisch verschlechtert. 71 Dass eine hohe Konzentration von Migrantenkindern in einer Klasse für den Leistungsstand äußerst problematisch ist, hat Kristen (2002) gezeigt. In solchen Klassen setzen die Lehrkräfte die Leistungsstandards niedriger an. Das kann zu einem negativen Aspirationsklima führen, das sich in schlechten Schulleistungen am Ende der 4. Klasse niederschlägt. Die meisten der untersuchten Kinder werden an die Hauptschule abgegeben. Den Zusammenhang zwischen schlechtem Schulabschluss und Klassen mit hohem Anteil von Migrantenkindern bestätigt auch die Untersuchung von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005): Schülerinnen der 9 Klasse, die ein hohes Bildungsniveau erreicht haben, hatten Klassen mit einem geringen Anteil von Migrantenkindern besucht, während Schülerinnen mit niedrigem Bildungsabschluss in Klassen mit einem hohen Migrantenanteil waren. Hohe Migrantenzahlen in der Klasse korrelieren sehr eng mit einem potenziell niedrigen Leistungsniveau der SchülerInnen und mit einem niedrigen Bildungsabschluss. Man kann also davon ausgehen, dass sich auch in den Schulen des von mir untersuchten Stadtgebiets allein die Zusammensetzung der Klassen negativ auf die Lern- und Leistungsmotivation der Kinder auswirkt. 72 Ein Lehrer beschreibt dies metaphorisch: ich komme mir vor wie ein Hamster im Rädchen, seit Jahren bewegt sich nichts, es wird eher noch schlimmer. 73 Nach einem neuen Memorandum der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Marieluise Beck, bleiben 40% der Migrantenkinder ohne berufliche Qualifizierung. Frau Beck bezeichnet den schlechten Bildungsstand der Kinder als „hochalarmierend“ und stellt fest: „hier bahnt sich eine Katastrophe an“, zitiert aus Mannheimer Morgen, 7.9.2005, S. 4 „Migrantenkinder zu ungebildet“. 74 Vgl. dazu Klee (1972). Ethnografie des Lebensraums 97 Exkurs 9: Der Frage, wie eine solche Schulsituation hat entstehen können und sich über Jahre hin hat stabilisieren können, gehen Gomolla/ Radtke (2002) und Radtke (2004) nach und suchen nach den Mechanismen, die die Schülerströme in den Kommunen lenken, die Schulen mit hohem neben Schulen mit sehr niedrigem Migrantenanteil entstehen lassen und damit die soziale und ethnische Integration von Migranten entweder verschlechtern oder verbessern. An der Herstellung spezifischer sozialräumlicher Strukturen sind, so Radtke (2004, S. 163) „eine Vielzahl staatlicher Organisationen und privater Akteure beteiligt, die ihr Verhalten nicht oder nur schwach koodinieren. Ihre Entscheidungen haben aber in der Summe Effekte, die keiner der beteiligten Entscheider geplant oder vorausgesehen hat“. Zu diesen Mechanismen gehören Faktoren der Stadtentwicklung, der Wohnraumbewirtschaftung, der Schulentwicklungsplanung, der Schulprofilbildung, der Übergangsempfehlungen der Schulen und das Wahlverhalten der Eltern. Radtke führt ethnische Konzentration in Schulen nicht auf ethnische Gemeinschaftsbildung zurück, sondern auf das Zusammenwirken der genannten Faktoren und sieht sie als Ergebnis eines komplexen sozialen Geschehens. Doch da diese Faktoren in der Beurteilung der schulischen Situation bisher kaum berücksichtigt wurden, wird von den Schulen der trotz schulischer Anstrengungen nur mangelhafte Schulerfolg von Migrantenkindern folgendermaßen erklärt: „Der ausbleibende Erfolg wird externalisiert, also den Eltern und den Merkmalen der Kinder zugerechnet“; und die „pädagogische Integrationsarbeit [wird] den Lehrer(innen) der Grundschule des selbst geschaffenen ‘sozialen Brennpunktes’ [überlassen]“ (ebd., S. 168). Der Prozess der ethnischen Desintegration verfestigt sich zunehmend: Eltern meiden Schulen, die als problematisch gelten; Schulen haben die Tendenz, Schüler abzuweisen, die sie als problematisch betrachten und bevorzugen Schüler, die Erfolg versprechend sind, d.h. „leistungsfähige und -bereite Schüler, die eine wirksame Unterstützung aus dem Elternhaus mitbringen. Beide Kalküle greifen ineinander und verstärken sich gegenseitig“ (ebd., S. 171f.). Radtkes Analyse zur Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem trifft in weiten Teilen auch auf die Situation in den untersuchten Schulen des Migrantenwohngebiets zu. Doch die von der Schulsituation direkt Betroffenen, Lehrende, SchülerInnen und Eltern, sehen und erleben ihre alltäglichen Probleme in anderen Kategorien: Die Schule weist den Migrantenfamilien die „Schuld“ an dem mangelnden Schulerfolg der Kinder zu, d.h., sie greifen im Erklärungsansatz von Radtke nach externen Erklärungen; die Eltern und Kinder sehen die Ursachen vor allem in der ablehnenden, „ausländerfeindlichen“ Haltung einzelner Lehrkräfte (Kap. 3.3.2 und Teil II). D.h., die Betroffenen, Migrantenfamilien einerseits und deutsche Lehrkräfte andererseits, deuten die Probleme nicht primär auf der strukturellen und institutionellen Ebene (im Sinne Radtkes) - obwohl solche Aspekte vereinzelt auch eine Rolle spielen - sondern vor allem auf der kulturellen (mangelnde kulturelle Voraussetzungen auf Seiten der Migrantenfamilien) und beziehungsbezogenen Ebene (Vorurteile und Ablehnung auf Seiten der Lehrenden). Diese Deutungen bilden die Basis für die Problembearbeitungen der Akteure und für ihre Folgehandlungen; sie bilden auch die Basis für die Heraus- Die „türkischen Powergirls“ 98 bildung sozial-kultureller Orientierungen (vgl. Teil II) und kommunikativer Ausdrucksweisen der Kinder, d.h. für die Herausbildung ihres kommunikativen sozialen Stils (vgl. Teil III). Ein Problem für Migrantenkinder ist nach Meinung der befragten Schulen das dreigliedrige Schulsystem. Eine den kindlichen Fähigkeiten angemessene Schulempfehlung ist in einer Ghetto-Grundschule im 4. Grundschuljahr einfach unmöglich, da die Kinder aufgrund ihres deutschsprachigen Rückstandes meist erst viel später reif für eine weiterführende Schule sind. Einigen GrundschullehrerInnen fällt die Entscheidung, Kindern nur die Hauptschulempfehlung zu geben, schwer, weil sie sehen, wie viel sie in den vier Schuljahren gearbeitet haben und weil sie wissen, wie gern die Kinder in höhere Schulen gingen. Da der Wechsel von der 5. oder 6. Klasse Hauptschule in eine höhere Schule kaum möglich ist, 75 ist für viele Kinder mit der Hauptschulempfehlung eine negative soziale Entwicklung vorgezeichnet (vgl. unten 3.4). 76 Eine verbreitete Praxis der beiden Grundschulen ist es, Migrantenkinder (auch wenn sie gute Noten haben) eher auf die Hauptschule als auf höhere Schulen zu schicken, aus Angst, dass sie dort überfordert werden. 77 Den Eltern wird der langsame Bildungsweg geraten, da er für die Kinder leichter zu bewältigen sei; d.h. zunächst die Hauptschule abschließen, dann den Übergang in die Realschule und nach dem Abschluss dort den Wechsel auf ein Fachgymnasium versuchen. Türkische LehrerInnen bestätigen diese Praxis, halten sie jedoch für falsch, da gerade türkische Kinder Druck bräuch- 75 Das würde die Organisation und Planung der Hauptschule und ihr Stellendeputat durcheinander bringen, so eine Informantin. Deshalb wehrt sich die Hauptschule, als Übergangslösung betrachtet zu werden; d.h., die fehlende Flexibilität der Hauptschule wird mit strukturellen Zwängen begründet. 76 Mit Gesamtschulen haben die GrundschullehrerInnen gute Erfahrungen gemacht, da der durchlässige Übergang und die Hausaufgabenbegleitung vielen Kindern höhere Abschlüsse ermöglichen. 77 Dass Migrantenkinder bei Schulübergangsentscheidungen eher auf Schulen mit geringerem Leistungsanspruch als auf anspruchsvollere Schulen empfohlen werden, zeigen auch die Beiträge in Auernheimer (2003), vor allem der Beitrag von Kornmann (2003). Kristen (2003), die in ihrer Dissertation sechs Mannheimer Grundschulen untersuchte, kommt zu dem Ergebnis, dass die nationale Herkunft dann eine benachteiligende Rolle spielte, wenn es aufgrund der Noten bei der Übergangsentscheidung um die Hauptschule oder eine höhere Schule ging; von Benachteiligungen waren besonders türkische und italienische Kinder betroffen. Wenn es um Entscheidungen zwischen Realschule oder Gymnasium ging, spielte die Nationalität keine entscheidende Rolle. Ethnografie des Lebensraums 99 ten, und es besser sei, sie zu fordern als zu unterfordern. Unterforderung betrachten sie als eine der Ursachen dafür, dass viele Migrantenkinder ihre ganze Energie in Tätigkeiten außerhalb der Schule investieren (vgl. 4.1.2). 78 Neben den Problemen, die im dreigliedrigen Schulsystem und der frühen Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Schularten liegen, machen Lehrkräfte und Migrantenfamilien vor allem folgende Problembereiche für die schlechten schulischen Ergebnisse der Kinder verantwortlich: - Aus der Sicht der Schule: Sprachprobleme und mangelnde Lernhaltung der Kinder (3.3.1); - Aus der Sicht der Kinder: lernhemmende Haltungen der Lehrkräfte (3.3.2); - Diskrepanzen zwischen der Welt der Eltern und der Welt der Schule (3.3.3). Exkurs 10: Die Perspektive der Schulen auf die Migrantenkinder basiert nach Gomolla/ Radtke (2002) auf Normalitätserwartungen, die sie an die Ausfüllung der Schülerrolle haben. Zu diesen Normalitätserwartungen an die Schüler gehören vor allem die Beherrschung der Unterrichtssprache Deutsch, ein unterstützendes Elternhaus und eine gute soziale Integration (ebd., S. 259ff.). Die Schule bevorzugt homogene Lernergruppen, „die wie ein Schüler unterrichtet werden können. Darauf ist die Gestaltung des Unterrichts in Didaktik und Methodik eingestellt“ (ebd., S. 258). Da die Schule sicher gehen will, dass sie mit den Schülern erfolgreich arbeiten kann, versucht sie Heterogenität und problematische Schüler zu vermeiden. „Diese Erwartungen an einen Normalschüler können in der Wahrnehmung der Schulen überproportional häufig von Migrantenkindern nicht erbracht werden“ (Radtke 2004, S. 157). D.h., diejenigen werden aussortiert, die von den Normalitätserwartungen abweichen, da ihre Betreuung und Förderung zusätzliche Anforderungen an die Schulen stellen würden. Neben den Normalitätserwartungen der Schule spielen lokal spezifische, strukturelle Bedingungen und vorhandene organisatorische Möglichkeiten für die Schulübergangsentscheidungen eine entscheidende Rolle. Nach den Ergebnissen von Gomolla/ Radtke (2002) hängt z.B. die Zahl der Überweisungen an Sonderschulen, Hauptschulen oder weiterführende Schulen von der Zahl der dort verfügbaren Plätze ab. Wenn es z.B. an einer Hauptschule noch freie Plätze gibt, werden sie mit Migrantenkindern besetzt, um eine Verkleinerung oder Schließung der Schulen zu vermeiden. Wie entscheidend die Struktur des lokalen An- 78 Wie viele Beispiele zeigen (vgl. auch unten Teil II), gibt es bei den derzeitigen Schulverhältnissen nicht den geeigneten Weg für Migrantenkinder, sondern es muss nach individuellen, auf die jeweiligen Fertigkeiten und Schwächen der Kinder zugeschnittenen Lösungen gesucht werden. Allen den langsamen Weg zu empfehlen ist nicht sinnvoll. Die „türkischen Powergirls“ 100 gebots auf die Übergangsentscheidungen der Schulen durchschlägt, zeigen die Befunde der Lau- und IGLU -Studien, die von großen „Diskrepanzen zwischen gemessenen Leistungen, dafür gegebenen Noten und Übergangsempfehlungen berichten“ (Radtke 2004, S. 158). Da jede Schule zunächst versucht, ihr eigenes Problem möglichst einfach zu lösen, werden problematische Kinder „an die nächst niedere Schulform (delegiert) - im Interesse ihrer Förderung“ (ebd.). Aus dieser Sicht werden Migrantenkinder nicht „direkt“ diskriminiert, sondern „indirekt institutionell“, was sich „unter bestimmten demographischen, bildungspolitischen oder lokalen Umständen [...] als Aussonderung, Zuordnung zur Hauptschule oder Abgang ohne Schulabschluss zeigt“ (ebd., S. 158f.). Wenn jedoch, so die Autoren, die schulischen Entscheidungen nach außen dargestellt werden müssen, werden ethnische Merkmale wie andere Erziehungsstile, Mentalitätsunterschiede u.Ä. „als Ressource [...] für eine nachträgliche Begründung“ benutzt. Solche Argumentationen sieht Radtke tief im „common sense verankert“, „medial und wissenschaftlich unterstützt“ und „im Programm der Interkulturellen Pädagogik über Lehrpläne, Curricula und Schulbücher offizialisiert.“ (ebd., S. 159). Dass zur Erklärung des schulischen Misserfolgs von Migrantenkindern in Schule und Öffentlichkeit häufig sozialisatorische Argumente und besondere Persönlichkeitsmerkmale der Kinder herangezogen werden, zeigen auch Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005). Merkmale der Kinder wie psychische Instabilität und geringe Leistungsmotivation werden problematisiert und den Familien werden geringe Bildungsorientierung, Bildungsferne und fehlende Unterstützung der Kinder zugeschrieben. Die Autorinnen konnten in ihrer Untersuchung, in der 950 Migrantinnen zwischen 15-21 Jahren unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands befragt wurden, folgende Vorurteile widerlegen: Es gibt keinen einfachen Zusammenhang zwischen geringem Bildungsniveau der Eltern und geringem Schulerfolg der Kinder. Ein erheblicher Anteil der Familien mit niedrigem Bildungsniveau (36%), vor allem türkische Familien, brachten ihre Töchter zu mittleren bis höheren Schulabschlüssen. Die Befragungen der Lehrkräfte ergaben jedoch, dass sie davon ausgehen, dass die Eltern nicht genügend mit der Schule zusammenarbeiten und sich zu wenig für die Bildung ihrer Töchter engagieren (ähnlich auch Baumert/ Bos/ Lehmann, 2000, S. 288). Die in Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) zitierten Lehreräußerungen stimmen in großen Teilen mit den von mir erhobenen Daten überein. Auch die von Gomolla/ Radtke (2002) angeführten typischen Begründungen der Schule für Entscheidungen, die nachteilige Konsequenzen für Migrantenkinder haben, nennen die von mir befragten Informanten, sowohl die Lehrkräfte, als auch die betroffenen Jugendlichen. D.h., hier scheint es sich um ein generelleres Problem zu handeln, das nicht nur in einzelnen Schulen zu beobachten ist, sondern länderübergreifend auftritt und charakteristisch für die deutsche Schule zu sein scheint. Die von mir befragten Jugendlichen sprechen von „typischen Lehrerentscheidungen“, die nur für türkische Kinder gelten, bei ihnen zu niedrigeren Bildungsabschlüssen führen (vgl. unten Teil II) und die durch „fehlende Deutschkenntnisse, Überforderung des Kindes, mangelnde Lernhaltung und mangelnde Unterstützung durch die Eltern“ begründet oder auch als pädagogische Voraussicht dargestellt werden, da man dem Kind Enttäuschung und Frustration, die es in der hö- Ethnografie des Lebensraums 101 heren Schule erleben würde, ersparen wolle. Was die betroffenen Kinder so sehr kränkt und demotiviert, sind die Diskriminierungen, Herabsetzungen und Ausgrenzungen, die sie durch explizite oder implizite Lehrerurteile tagtäglich erfahren (vgl. 3.3.2 und Teil II). 3.3.1 Sprachprobleme und mangelnde Lernhaltung der Kinder Als Migranten Ende der 60er-Jahre in das Stadtgebiet einzogen, waren ihre Kinder aus der Sicht der Stadtteil-Schulen ein Gewinn, da zu dieser Zeit ausschließlich Kinder aus sozial schwachen deutschen Familien in der Schule waren. Im Zuge der Sanierung mussten diese Familien das Stadtgebiet verlassen und in die leer stehenden Wohnungen zogen „Gastarbeiter“-Familien (vgl. oben Kap. 1.). Das brachte für die Schulen eine große Veränderung, da diese Ausländer einen enormen Arbeitswillen hatten, die Eltern wollten, dass die Kinder schulisch vorankamen, und die gesamte Einstellung zur Schule war positiv. Obwohl die Kinder kein Deutsch konnten, lernten sie schnell, weil die Eltern sie unterstützten und kontrollierten. 30 Jahre später sieht die Situation aus der Sicht der Schule folgendermaßen aus: Die Kinder und Enkel der ehemaligen „Gastarbeiter“ können immer noch kein Deutsch, und zu den Sprachproblemen kommen soziale Probleme, u.a. auch, weil die Familien sich verändert haben und mit Problemen wie Trennung, 79 Scheidung, Arbeitslosigkeit und Sucht zu kämpfen haben. Übereinstimmend berichten Lehrkräfte der beiden Grundschulen, dass die Kinder bei Schulbeginn, auch wenn sie im Kindergarten waren, so schlechte Deutschkenntnisse haben, dass sie einem normalen Unterricht nicht folgen können. 80 Früher gab es an den Schulen Deutsch-Förderstunden, die jedoch abgeschafft wurden, da man offiziell davon ausging, dass die Kinder hier geboren sind und es keine Sprachprobleme mehr gibt, so eine Lehrerin. Da die Deutschprobleme im Regelunterricht nicht abgebaut werden können, 79 Die Informantin führt als Beispiel an: Ich hab jetzt schon türkische Väter, die ich trösten muss, weil die Frau einen andern hat, das hat es früher nicht gegeben. 80 Nach unserer Beobachtung lernen die Kinder im Kindergarten mit hohem Migrantenanteil nur wenig Deutsch: Sie spielen entweder in der nationalen Gruppe und sprechen die Herkunftssprache gemischt mit deutschen Bezeichnungen, die sie von den Erzieherinnen übernehmen. Oder sie spielen mit Kindern anderer Herkunft; die Verkehrssprache ist dann eine frühe Lernervarietät des Deutschen. Den Kindern fehlen Sprachvorbilder für Deutsch, denn im normalen Kindergartenalltag ist der sprachliche Einfluss der deutschsprachigen Erzieherinnen nicht sehr groß; vgl. dazu Keim (2005a), Keim (2007a) und die z.Zt. entstehende Dissertation von S. Aslan. Die „türkischen Powergirls“ 102 vergrößern sie sich im Laufe der Zeit, weil sich der fachliche Stoff ständig ausweitet. Das hat Konsequenzen in allen Fächern, in denen die Kompetenz im Deutschen Voraussetzung ist; so könnten z.B. viele Jugendliche in der 8. und 9. Klasse Textaufgaben nicht lösen, weil sie den Text nicht verstehen. 81 Ein besonderes Problem ist - so die Informantin -, dass den Schülern oft nicht bewusst ist, dass sie etwas nicht verstehen, sie es erst bei Nachfragen merken und dann ausflippen und Stress machen. Eine Deutschlehrerin charakterisiert den Sprachstand als schlecht: Die Kinder sind spracharm, können kurze Texte nicht nacherzählen, auf Fragen werden ihr nur Bruchstücke an den Kopf geworfen, sehr einfache Äußerungen, die oft nicht verständlich sind. Selbst bei einfachen Texten ist die Verständigung sehr mühsam, weil nur einige Schüler gut sprechen und die anderen nichts sagen. Übereinstimmend bezeichnen alle InformantInnen die Rechtschreibung als katastrophal, in diesem Bereich haben sie ihre Bemühungen bereits aufgegeben. Das Deutsch der Kinder wird als komisches Deutsch oder als typische Stadtteilsprache bezeichnet. 82 Als besondere Merkmale nennen die InformantInnen, dass es keine Artikel und keine Präpositionen gibt, z.B. wir gehen Schule oder kommst du Sportplatz, dass es einfache Satzstrukturen hat und der Wortschatz begrenzt ist. Außerdem fehlt den Kindern die Fähigkeit, Sachverhalte oder Ereignisse verständlich darzustellen; sie haben einen Darstellungsstil ausgebildet, der für Lehrende irritierend ist und ihnen ein Gespräch erschwert: 83 81 Es gibt derzeit kaum linguistische Untersuchungen zum sprachlich-kommunikativen Repertoire von Migrantenjugendlichen in der Hauptschule und zu ihren mündlichen und schriftlichen Fähigkeiten. Eine von Keim/ Knöbl (2007) durchgeführte exemplarische Studie zum sprachlich-kommunikativen Repertoire von (schlechten) Hauptschülern zeigt die hohe Kompetenz im gesprochenen Deutsch und den virtuosen Einsatz von standardnahen Formen, deutsch-türkischen Mischungen und ethnolektalen Formen in diskursiver und interaktiver Funktion. Im Falle dieser Ghetto-Jungen ist nicht mangelndes Deutsch die Ursache für schulischen Misserfolg, sondern die anti-schulische Haltung, die sie mit dem Übergang zur Hauptschule auszubilden begannen (vgl. dazu auch unten Kap. 4.1.2). 82 Zur genaueren Beschreibung dieses Deutsch, seiner Verbreitung und seiner Verwendung vgl. unten Teil III, Kap. 2.1.1. 83 Vgl. Kallmeyer/ Keim (2003a), wo eine solche Darstellungsform beschrieben wird; vgl. unten Teil III, Kap. 4.4. Ethnografie des Lebensraums 103 WO: es ist oftmals so=n fragecharakter um den anderen WO: anzustoßen noch was zu sagen- * weiter zu machen ↓ * WO: es wird selten mal ein ereignis ganz komplett erzählt ↑ WO: sondern nur bruchstücke * es wird gewertet und der lehrer WO: kann dann erraten was da eigentlich passiert ist und was WO: der schüler erzählen will ↓ * also es fällt schwer so=ne WO: sache als ganzes äh vorzutragen ↓ Auch in der 8. Klasse ist die mündliche und schriftliche Deutschkompetenz immer noch gering: HB: wenn ich ne frage stell * wird mir en wort an den kopf HB: geworfen * die können nicht ausdrücken was sie meinen ( … ) HB: un es gibt manche * die können zwar prima laut lesen * HB: aber sie wissen überhaupt net was se lesen ↓ * und das HB: kurz vor dem schulabschluss ↓ Deutsche SchülerInnen passen sich sprachlich an, weil sie hier die Minderheit sind. Der einzige deutsche Schüler in der Klasse, so eine Lehrerin, hat grammatische Schwierigkeiten im Deutschen; er sagt z.B. schönes Tag Frau Helm oder des Tisch und des Stuhl oder ich hab gesitzt. Das ist für ihn normal. Nach Meinung einer deutschen Sozialpädagogin kann man im Stadtgebiet kein Deutsch lernen, da keiner richtig Deutsch kann. Auch sie spricht diesen Slang, wenn sie an die Jugendlichen rankommen will; und manchmal merkt sie, dass sie auch außerhalb des Stadtgebiets sagt, ich war Schule. Sie ist sicher, dass den Jugendlichen die Auffälligkeit ihrer Sprache bewusst ist, denn wenn sie sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, haben sie schrecklich Angst mit Leuten von außen zu reden. Sie bitten die Informantin, mit den Ausbildern zu sprechen, weil sie wissen, dass sie bei Leuten von außerhalb mit ihrer Sprache (auch wenn sie in der Schule toleriert wird) keine Chance haben. 84 Der Umgangston unter den Migrantenjugendlichen, da sind sich alle Erziehenden einig, ist rau, derb, grob, rücksichtslos und ganz rüde. Wenn einer etwas falsch macht, dann heißt es nicht Mensch hätt des jetzt sein müsse, 84 Dass Kinder, die in Gebieten mit einem niedrigen Migrantenanteil aufwachsen, in der Regel gut Deutsch können und schulisch erfolgreich sind, belegt eine Lehrerin an folgendem Beispiel: Sie unterrichtete in einer Schule in einem Vorort von Mannheim mit nur 20% Migrantenkindern; alle Kinder waren sprachlich unauffällig und die meisten schafften den Übergang in höhere Schulen. Die „türkischen Powergirls“ 104 sondern es heißt he du Sau, du Arsch. Türkische Schimpfwörter kennen alle und benutzen sie ausgiebig. Doch nach Beobachtung einer Lehrerin können einige auch unterscheiden, mit wem sie wie sprechen dürfen. Wenn in ihrer Klasse ein Schüler einem Lehrer gegenüber grob wird und sagt, er sei ein Arschloch und solle sich verpissen, ist es den anderen meistens peinlich, dass er sich im Ton vergriffen hat. Unter den Stadtteilkindern ist Türkisch eine wichtige Sprache, 85 und auch Kinder nicht-türkischer Herkunft lernen zumindest türkische Schimpf- und Fluchformeln. Ein Betreuer berichtet von einem Jungen, der der einzige Deutsche in der Klasse ist und gut Türkisch kann, da er sonst in der Klasse nicht überleben könnte. Einige italienische oder bosnische Kinder sprechen so gut Türkisch, dass man, wenn man sie sprechen hört, nicht sagen kann, welcher Herkunft sie sind. Die meisten LehrerInnen stellen sich auf die schlechten Deutschkenntnisse der SchülerInnen ein und machen erhebliche Abstriche vom Lehrplan: HB: also in deutsch mach ich natürlich abstriche * muss HB: ich machen * ich such mir halt texte aus * wo ich HB: weiß die sprache is relativ einfach * also dicht darf HB: die sprache net sein * so kleine überschaubare texte * HB: un der inhalt muss leicht nachvollziehbar sein ↓ ( … ) HB: aber ich muss sagen- <es is ne“t des deutschpensum des HB: ich ei“gentlich durchmachen müsste> ↓ Da die Informantin weiß, dass sie - auch wenn sie sich Mühe gibt - sehr wenig an der Sprache der Schüler verändern kann, weil die Lebens- und Lernbedingungen der Kinder ungünstig sind, hat sie resigniert: HB: wir erklären wörter wir schreiben wörter auf ↑ * ja un HB: nach einer woche is=es vergessen * sie wenden=s nicht HB: an draußen * dort sprechen sie so=n gemisch * so=n HB: mischmasch von allen möglichen sprachen ↓ * was soll HB: ich da noch machen ↑ Doch nicht nur die Sprachprobleme der Kinder machen den Schulen zu schaffen. Sie klagen auch über die mangelnde Lernhaltung der Kinder: HB: also des stört mich die mangelnde arbeitshaltung * dass HB: einfach äh nicht genügend intensiv gearbeitet wird * HB: sie sin einfach net gewöhnt zu sitzen un zu arbeiten ↓ * 85 Vgl. dazu auch die Untersuchung von Dirim/ Auer (2004). Ethnografie des Lebensraums 105 HB: un des stört mich ↓ * un des is auch der grund warum sie HB: auf keinen grünen zweig kommen ↓ Im Unterricht können die Kinder sich nicht auf den Unterrichtsstoff konzentrieren, sind ständig abgelenkt, laufen im Klassenzimmer herum, sitzen unter den Tischen, packen Brot aus, reden durcheinander oder streiten sich. Die Ursache für die mangelnde Lerndisziplin sieht die Schule im Elternhaus, das den Kindern keine Lernhaltung vermittelt. Da es nicht Aufgabe der Schule sei, diese Defizite zu beheben, ist die Priorität der Lehrkräfte, dass sie mit der Klasse irgendwie zurechtkommen und den Kindern wenigstens etwas Schulstoff beibringen. Ein türkischer Lehrer bestätigt die Disziplinlosigkeit der Kinder und erklärt sie mit der Verunsicherung der Eltern: Die Kinder behaupten zuhause, dass die deutschen Kinder viel freier leben und setzen die Eltern unter Druck. Da die nicht wissen, was deutsche Kinder dürfen und was nicht, sind sie verunsichert, resignieren und delegieren die Verantwortung an die Schule: TA: die eltern kommen zu mir und sagen * wir wissen nicht TA: was wir unseren kindern verbieten sollen * sie sagen TA: die deutschen kinder dürfen das und das * was sollen wir TA: machen ↑ * wir leben hier in deutschland * die kinder hier TA: leben sehr frei * die schule soll sich um sie kümmern ↓ Hier wird deutlich, dass die Schule die Verantwortung für die Erziehung der Kinder ans Elternhaus delegiert und das Elternhaus an die Schule. Da sich beide Instanzen nicht verständigen (können), leben die Kinder in einem Erziehungsvakuum, das sie für ihre Zwecke nutzen (vgl. Kap. 4.1.2). Interessant ist, dass Lehrkräfte, die ihre Klasse mit Strenge und Autorität führen, keine Disziplinprobleme haben und gerne unterrichten. Ein Hauptschullehrer setzt seinen Schülern ganz klar Grenzen und hat damit Erfolg, da die Kinder an Autorität gewöhnt sind. Eine Hauptschullehrerin, die eine wilde neunte Klasse führt, nennt als ihr pädagogisches Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Im Unterricht ist sie streng, gibt klare Regeln vor und setzt sie konsequent durch. Gleichzeitig bringt sie den Schülern Vertrauen entgegen, versucht ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie sie als wertvolle Menschen achtet und kommt sehr gut mit ihnen zurecht. Aus Gesprächen mit SchülerInnen weiß ich, dass beide Lehrkräfte sehr geschätzt und die Lieblingslehrer sind. Die „türkischen Powergirls“ 106 3.3.2 Lernhemmende Haltungen der Lehrkräfte Bei einer Reihe von Lehrenden hat sich in Reaktion auf die geringen Lehrerfolge die feste Überzeugung herausgebildet, dass Migrantenkinder wenig lernfähig sind, eine Überzeugung, die sich auf die Kinder demotivierend und entmutigend auswirkt. Die mangelnde Lernfähigkeit wird oft mit dem Gemischtsprechen in Zusammenhang gebracht, das als Indikator für mangelnde Kompetenz in beiden Sprachen gilt. Diese Auffassung wird auch von den ausländischen Lehrkräften bestätigt, die den Kindern mangelnde Muttersprachenkompetenz zuschreiben. 86 D.h., bei deutschen und ausländischen Lehrenden herrscht die Meinung vor, dass die Kinder doppelt halbsprachig sind. Da aus der Perspektive der Lehrenden eine gut entwickelte Muttersprachenkompetenz die Voraussetzung für den erfolgreichen Zweitsprachenerwerb und eine positive Entwicklung ist, gehen sie davon aus, dass Kinder mit doppelter Halbsprachigkeit keine gute Lernfähigkeit haben und keine stabile Identität entwickeln können. 87 Solche Vorstellungen sind in der Lehrerschaft (immer noch) weit verbreitet, und neuere Ergebnisse aus der Forschung zum Spracherwerb, 88 zu Mehrsprachigkeit 89 und zum Zusammenhang zwischen Sprache und Identität 90 werden in Bildungseinrichtungen mit mehrsprachi- 86 Die türkischen Lehrkräfte beziehen diese Feststellung auf die Kompetenz im Standardtürkischen, das die meisten Kinder nicht sprechen. Die Eltern kommen aus Dialektregionen und die Kinder sprechen dialektales Türkisch; zum Türkischen der Kinder und Jugendlichen vgl. unten Teil III, Kap. 2.1 87 Auf einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrkräfte zur Sprache und Kommunikation der 2./ 3. Migrantengeneration am 6.7.1999 in Mannheim im Forum der Jugend beklagte eine Vortragende, dass auch in Migrantenfamilien der 3. Generation Mischsprache gesprochen wird, und die Kinder deshalb keine Interaktionsfähigkeiten und keine klare Identität ausbilden können. 88 Bi- oder Multilinguale entwickeln die Sprachen oft nicht synchron, d.h., die Sprecher können in bestimmten Entwicklungsphasen und aufgrund der sprachlichen Anforderungen in der einen Sprache weiter entwickelt sein, als in der anderen; vgl. u.a. Klein (2000), Montanari (2002), Tracy (1991, 2005). 89 Code-switching und Code-mixing werden in der Forschung schon seit mehr als 30 Jahren als normale Kommunikationspraxis in mehrsprachigen Gesellschaften beschrieben. Die Verwendung der einen oder anderen Sprache ebenso wie das Gemischtsprechen sind sozial und kommunikativ funktional; vgl. dazu Teil III. 90 Zum Zusammenhang zwischen Sprache und Identität vgl. u.a. Fishman (1997), Rampton (1995), Antaki/ Widdicombe (1998), Heller (2004), vgl. auch Teil III. Ethnografie des Lebensraums 107 gen Populationen bis in die jüngste Zeit wenig oder gar nicht rezipiert. 91 Auch die Biografien schulisch erfolgreicher InformantInnen widerlegen die Annahme, dass eine zweite Sprache nur dann erworben werden kann, wenn eine gute Erstsprachkompetenz erreicht wurde. Die meisten der befragten MigrantInnen der 2. Generation haben in der Familie Türkisch gelernt und in der Schule Deutsch wesentlich weiter ausgebaut als Türkisch. Deutsch wurde ihre starke Sprache, und sie haben akademische Abschlüsse in Deutschland erreicht. Sie sehen sich als Gegenbeleg zu typischen Lehrerthesen (zuerst Muttersprachenerwerb, dann Zweitsprachenerwerb, keine Sprachmischungen) und haben selbst erfahren, wie gefährlich sie sind, weil sie die Beurteilung über schulische Erfolgschancen zu Ungunsten der Migrantenkinder beeinflussen. Einige Lehrkräfte, die von der Situation in den Ghetto-Schulen überfordert und wegen der geringen Schulerfolge frustriert sind, drücken ihre negative Haltung auch explizit aus. Eine Informantin hat z.B. Kollegen sagen hören: RO: die (=kinder) sind einfach zu blöd * können nicht reden * RO: oder eh die reden total unartikuliert und brüllen rum RO: wie die affen * [...] einer hat auch mal zu einem jungen RO: gesagt * <du bist zu blöd für die realschule das schaffst RO: du doch nie> * solche sachen- Schüler, die erleben, dass Lehrer sie für dumm halten, können keine Lust zum Lernen entwickeln. Wenn sie außerdem erleben, dass Deutsch das zentrale Hindernis ist, und ihnen keiner zeigt, wie sie es überwinden können, sei es verständlich, dass sie Deutsch und die Schule ablehnen und sich anderen Bereichen zuwenden, in denen sie Anerkennung finden (vgl. Teil II). Auf diese Weise lässt sich auch die Schulmüdigkeit der Schüler erklären: Die Schüler verweigern sich, weil sie als „Ausländerkinder“ kaum eine Chance bekommen, oder sie langweilen sich, weil sie überaltert sind, und sie treffen 91 Nach dem Bericht der von Isoplan CONSULT GbR herausgegebenen Zeitschrift AiD- Integration in Deutschland, H. 4 (2005), S. 5-6 „Es bleibt viel zu tun“, gibt es an PH s immer noch keine ausreichende Ausbildung für den Umgang mit multilingualen Klassen und der Vermittlung DaZ. Eine Dozentin der Universität Koblenz-Landau stellt fest: „Kaum ein Bundesland gibt dieser Thematik im Lehrplan des Studiums so viel Raum, dass die späteren Lehrerinnen und Lehrer für die Arbeit mit Migrantenkindern angemessen ausgebildet wären“. Seit 2003 gibt es in Mannheim Fortbildungsveranstaltungen für Lehrende, die von der Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit an der Universität Mannheim (Leitung R Tracy, Organisation V. Lemke) unter Beteiligung des IDS durchgeführt werden. Die „türkischen Powergirls“ 108 auf resignierte Lehrer, die sie als nicht lernfähig abgeschrieben haben. Daraus entsteht eine Spirale wechselseitiger negativer Haltungen mit katastrophalen Folgen für die Kinder. Die meisten Migrantenkinder und -jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, berichten, dass sie in der Schule wenig Ermutigung, sondern aufgrund ihrer Herkunft vor allem Entmutigung und Herabsetzung erlebten. 92 Eine Informantin berichtet, dass, wenn sie sich besonders anstrengte, ihre Lehrerin meinte: HÜ: auch wenn du dich anstrengst * du kannst nie“ so reden HÜ: wie ne deutsche- * du fällst immer auf ↓ * und auch wenn HÜ: du eh * versuchst hier so zu reden ↑ * sonst redet ihr HÜ: doch immer in eurem jargon * da weiß man doch gleich HÜ: wo ihr herkommt ↓ Die herabsetzenden Bemerkungen fand sie so ätzend, dass sie überhaupt nichts mehr sagte und sich vom Unterricht zurückzog. Damit verschlechterte sich die Deutschnote, und die Lehrerin konnte zufrieden sein, dass sie recht behalten hat. Eine andere Informantin erfuhr bereits in der Grundschule, dass die Lehrer- Innen sie nicht für lernfähig halten. Sie bekam, obwohl ihre Noten das erlaubt hätten, keine Gymnasialempfehlung mit der Begründung, dass sie Ausländerin ist und nicht gut Deutsch kann: NE: von meinen noten her hätte ich gleich in=s gymnasium NE: gehen können * ich wollte das auch * aber der lehrer NE: meinte zu meinen eltern * <sie ist ausländerin * ihr NE: deutsch ist noch nicht so gut> * → dabei hatte ich ne * NE: zwei“ in deutsch ← ich sollte erst mal in die realschule ↓ Als sie später ins Gymnasium kam, schrieben die Lehrer ihr wieder mangelnde Deutschkenntnisse zu und forderten besondere Anstrengungen: NE: die lehrer ham immer gesagt * <ihr seid ausländer * ihr NE: könnt deutsch nicht so gut> * und deshalb könnt ihr den NE: anforderungen der schule nicht entsprechen * ihr müsst NE: einfach me“hr leisten als die deutschen kinder * wenn ihr NE: hier du“rchkommen wollt ↓ 92 Zu den Schulerfahrungen der „Powergirls“ vgl. ausführlich Teil II; aber auch andere InformantInnen berichten von ähnlichen Erfahrungen. Ethnografie des Lebensraums 109 Als sie dann Deutsch als Leistungskurs wählte und Germanistik studieren wollte, hielt der Lehrer ihr vor: NE: du bist türkin * wieso willst du deutsch machen ↑ * wieso NE: willst du später deutsch unterrichten ↑ * du bist doch NE: keine mu“ttersprachlerin * das schaffst du doch nie“ ↑ NE: wie willst du“ kindern deutsch beibringen ↑ Die ständigen Herabsetzungen hatten Konsequenzen, und für das Mädchen war die Schule eine schlimme Zeit. Als Türkin fühlte sie sich schlecht und minderwertig und glaubte schließlich selbst, dass sie nicht fähig ist, zu lernen und zu studieren. Mutlosigkeit, Selbstzweifel und eine lernhemmende Haltung waren lange Zeit vorherrschend: NE: ich hab mich geschämt fehler zu machen * und ich hab NE: nicht zugegeben * dass ich etwas nicht weiß ↓ * weil NE: ich angst gehabt hab eh * dass ich schikaniert werde NE: und dass gesagt wird * <das is die tü“rkin * die“ NE: schafft das net> ↓ Erst mit bestandenem Abitur wuchs ihr Selbstvertrauen, und sie entschied sich zum Germanistikstudium, weil die schrecklichen Erfahrungen in der Schule (sie) total abgehärtet hatten, und ihr klar war, dass sie alles schaffen kann, wenn sie es will. Nicht nur Entmutigung und Herabsetzung wirken lernhemmend, sondern auch positive Diskriminierungen, die eine Informantin in einer Schule außerhalb des Stadtgebiets erlebte. Dort wurde jede normale Leistung von ihr hervorgehoben durch unsere kleine Türkin, die das so gut kann. Da sie für Dinge gelobt wurde, für die andere nicht gelobt wurden, war ihr klar, dass sie etwas kann, was aus Sicht der Lehrer Türken normalerweise nicht können. Es wurde nicht offen gesagt, dass sie nicht dazu gehört, sondern sie hatte den Eindruck, dass sie durch übertriebenes Lob ausgegrenzt und ihr gezeigt wurde, dass Türken im Allgemeinen den Status von Menschen zweiter Klasse haben. 3.3.3 Diskrepanzen zwischen der Welt der Eltern und der Welt der Schule Aufgrund der jahrelangen rechtlichen, sozialen und beruflichen Ungewissheit, 93 die in vielen Migrantenfamilien zu einem Hin- und Hergerissensein 93 Charakteristisch dafür sind befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen mit kurzen Laufzeiten, provisorische Wohnungen und finanziell eingeschränkte Lebensbedingungen. Die „türkischen Powergirls“ 110 zwischen Rückkehr und Bleiben führte, war es für Eltern und Kinder schwer, eine langfristige Schul- und Berufsperspektive zu entwickeln. Die Kinder sollten den Balanceakt zwischen der Identifikation mit dem Leben hier und dem Rückkehrziel der Eltern leisten und sowohl für ein Leben in der Türkei als auch in Deutschland ausgebildet werden. Nachdem sich viele Familien für ein Leben in Deutschland entschieden haben, haben sie hohe Bildungserwartungen für die Kinder, die die Chancen, die das deutsche Bildungssystem bietet, nutzen und möglichst gute Abschlüsse erreichen sollen. Die klassischen Berufsziele sind Arzt, Ingenieur und Rechtsanwalt, die jedoch aus der Sicht der Stadtteilschulen völlig unrealistisch sind. Da die meisten Eltern nur geringe oder keine Schulerfahrung haben, 94 wissen sie aus der Sicht der Schule nicht, wie sie die Kinder fördern sollen. 95 Vielen Kindern fehle die Frühförderung, sie können z.B. nicht schwimmen, Rad fahren oder basteln, 96 und sie seien insgesamt leistungsschwächer als Kinder in anderen Schulen. Die unrealistischen Bildungswünsche der Eltern erklären sich die Lehrenden folgendermaßen: Für eine Mutter, die kaum in der Schule war, ist ein Kind, das bis 1000 rechnen, lesen und schreiben kann, einfach toll und sie hat die Hoffnung, dass ihr Kind mal Doktor wird. Solche Mütter wissen nicht, was dazu gehört, gut zu sein. Die Schule muss diesen Traum zerstören, da nach ihren Maßstäben die Leistung des Kindes in der Regel nicht für eine höhere Schulbildung reicht. 97 Bei vielen Kindern stimmen die Lernbedingungen zuhause nicht. Bei Hausbesuchen erleben die Lehrenden, dass die Kinder keine Lernatmosphäre, 94 Nach Auskunft der Schulen geht das aus Schulerhebungen und aus Berichten der Kinder hervor. 95 Eine Lehrerin formuliert das so: Wo die Eltern selbst noch Ziegen gehütet haben, können die Kinder nicht den gleichen Stand wie andere Kinder haben. Die Eltern wissen nicht, was lernen heißt. Das bestätigt auch ein türkischer Lehrer: Die meisten Eltern kommen aus anatolischen Bergdörfern, und viele Eltern wissen nicht, wie man lernt und schon gar nicht 8-9 Jahre lang. 96 Eine Grundschullehrerin meint: Wir brauchen viel Aufwand, um die Kinder auf ein Level zu bringen, das unsere Kinder schon im Kindergartenalter haben, wie Rad fahren und schwimmen, das können Kinder hier alles nicht. 97 Dass vor allem in türkischen Familien hohe Bildungsaspirationen bestehen, bestätigt Nauck (2000). Helmke/ Reich (2001, S. 595) stellen jedoch fest, dass die hohen Erwartungen nur wenig „Bezug zur realen Bildungskarriere des [...] Kindes aufweisen“. Aus der Perspektive der Autoren befürworten die Eltern den Bildungsaufstieg und unterstützen die Kinder moralisch in ihren Bestrebungen, aber direkt helfen können sie ihnen meist nicht. Ethnografie des Lebensraums 111 keinen Platz haben, an dem sie Hausaufgaben machen können. Ältere Kinder werden schon früh für Betreuungsaufgaben herangezogen, wie z.B. eine Schülerin, die wochenlang keine Hausaufgaben machte, weil sie sie angeblich nicht verstand, zuhause jedoch auf kleine Geschwister aufpassen musste, damit die Mutter zur Arbeit gehen konnte. Aus der Perspektive der Schule sind die Erziehungsprinzipien der Eltern nicht kompatibel mit den schulischen. Für die Eltern sind Gehorsam, Anpassung und die Zurückstellung individueller Wünsche von großer Bedeutung; die Kinder sollen Anordnungen befolgen; Widerspruch oder das Hinterfragen von Verboten werde nicht geduldet. Wenn ein Kind artig, lieb und angepasst ist, wird das von den Eltern positiv bewertet. Verhaltensweisen, die in der Schule hochgeschätzt sind, wie reden, erklären und diskutieren haben in diesen Familien keinen Stellenwert. Eine Informantin hat mehrfach erlebt, dass Eltern sagen: Kind is ruhig * is gut * Kind is ruhig in Schule * is gut * dann kein Problem. Die Diskrepanz zwischen den Erziehungszielen der Familien und der Schule führen aus der Sicht der Schule bei Mädchen und Jungen zu unterschiedlichen Problemen. Da die Mädchen in der Schule lernen, ihre Meinung zu sagen und sich gegen Dinge zur Wehr zu setzen, die sie nicht akzeptieren, kommt es in Familien, die ihre Töchter zu braven türkischen Mädchen erziehen wollen, meist zu heftigen Konflikten (vgl. Teil II). Die Jungen, die zuhause verwöhnt werden, werden in der Schule auf Normalmaß runtergeholt und reagieren mit Wut und Enttäuschung (vgl. unten 4.1.2). Die LehrerInnen sehen vor allem in der hohen Diskrepanz zwischen Elternhaus und Schule den Grund für das Scheitern der Kinder 98 . Aus ihrer Perspektive haben Kinder gute schulische Erfolgsaussichten, wenn die Erziehungsprinzipien der Eltern nahe an den Vorstellungen der Schule liegen und die Eltern den schulischen Vorstellungen zur Mitarbeit entsprechen. Eine Lehrerin formuliert das folgendermaßen: 98 Damit bestätigen die InformantInnen die in der soziologischen und erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Forschung mehrfach festgestellte Tendenz der Bildungsinstitutionen, den schulischen Misserfolg von Migrantenkindern durch „Passungsprobleme“ und sozio-kulturelle Differenzen zu begründen. Gleichzeitig legen sie die Präferenzen der Schule bei der Auswahl von Schülern offen, ebenso wie die Kriterien, nach denen sie den schulischen Erfolg der Kinder prognostizieren. Die „türkischen Powergirls“ 112 SM: wenn eltern mit der schule zusammenarbeiten * wird man SM: jedes kind mit erfolg durch die schule führen * wenn SM: sich eltern sperren * dann haben wir verloren * mit den SM: ausländischen eltern ist es se“hr schwierig kontakt zu SM: bekommen * es klappt meistens nicht ↓ Eine andere Lehrerin sieht das Problem ähnlich: HB: der kontakt mit den eltern hier is sehr schwierig * HB: manche eltern hab ich überhaupt noch net gesehen ↑ * HB: die weigern sich weil sie angeblich kein deutsch können HB: ( … ) un des große problem für uns is * dass wir ohne HB: eltern auskommen müssen * ohne unterstützung der eltern ↓ Da die Schule so stark auf die innere Übereinstimmung und enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus setzt, haben Migrantenkinder auch unter diesem Aspekt schlechte Chancen. Das sieht eine türkischstämmige Mutter der zweiten Generation sehr klar. Aus ihrer Perspektive haben Kinder nur Erfolg, wenn die Eltern ständig Kontakt zur Schule halten und mit ihr eng zusammen arbeiten. Das tut sie, kontrolliert die Leistungen der Kinder, engagiert sich im Elternbeirat und berät sich bei schulischen Problemen mit den Lehrern: CE: isch tu immer kontakt halten mit den lehrern und CE: lehrerinnen- * natürlisch ruf isch an ↑ * und äh isch CE: sag immer wenn was is- * <bitte rufen sie misch an * CE: isch bin zuhause> * isch bin nur für meine ki“nder da * CE: isch wei“ß ganz genau“ was meine kinder in der schule CE: machen ↓ Der schulische Erfolg der Kinder bestätigt die Haltung der Mutter; alle drei haben das Gymnasium abgeschlossen und zwei studieren. Dass türkische Eltern kaum Kontakt zur Schule haben, liegt vor allem daran, dass sie eine andere Haltung zur Schule haben, als von ihnen erwartet wird. Viele gehen davon aus, dass mit Eintritt des Kindes in die Schule die Lehrer für die Erziehung verantwortlich sind. Da sie wissen, dass sie beim Lernen nicht helfen können, delegieren sie die Förderung der Kinder an die Schule und vertrauen darauf, dass sie aus den Kindern etwas macht, was wir nicht können, so eine türkische Mutter. Sie schätzen die Schule sehr hoch ein und können sich nicht vorstellen, dass eine Zusammenarbeit mit ihnen erwünscht ist. Einige Eltern meiden den Kontakt zur Schule, weil sie befürchten, dass ihr schlechtes Deutsch sich negativ auf die Beurteilung des Kindes auswirken könnte. Ethnografie des Lebensraums 113 Eine weitere Ursache für den mangelnden Kontakt zur Schule liegt bei den Kindern selbst. Sie geben Informationen zu Elternabend oder Lehrersprechstunden nicht weiter, weil sie Strafen befürchten, wenn die Eltern die Klagen der Lehrer erfahren. Einige schämen sich auch für die Mutter mit dem Kopftuch oder für das schlechte Deutsch des Vaters. 3.3.4 Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sozialer Entwicklung Abschließend lässt sich folgender Zusammenhang zwischen der Schulempfehlung in der 4. Klasse und der weiteren Entwicklung der Kinder formulieren: a) Mit der Empfehlung für die Hauptschule, die auf dem Territorium des Ghettos liegt und einen Anteil von 75-90% Migrantenkinder hat, verläuft die weitere Entwicklung des Kindes im Lebensraum des Ghettos. Die Kinder sind weiterhin in Klassen und Peergroups, in denen sprachliche Mischungen oder ethnolektale Formen des Deutschen die Interaktionssprachen sind. 99 Die Chancen auf eine schulische und soziale Entwicklung, die einen erfolgreichen Berufsstart erwarten lässt, sind nach bisheriger Erfahrung ausgesprochen schlecht: Die meisten Jugendlichen erreichen nur einen schlechten Hauptschulabschluss. Da der Bildungsdruck in türkischen Familien oft hoch ist, ist für die Kinder mit der Hauptschulempfehlung ein Imageverlust verbunden; sie werden von ihren Familien als Versager gesehen und sehen sich auch selbst so. Eine Informantin beschreibt das folgendermaßen: in der Familie und bei den Nachbarn war sie überall nur die Blöde, die nichts versteht, die es nicht geschafft hat, während ihre Geschwister höhere Schulen besuchten und bewundert wurden. Solche Erfahrungen treiben die Betroffenen dazu, sich von der Schule abzuwenden und sich in Aktivitäten außerhalb der Schule zu engagieren, in denen sie ein positives Selbstbild entwickeln können (vgl. Teil II). b) Mit der Schulempfehlung für höhere Schulen, die außerhalb des Ghettos liegen, erwarten die Kinder ganz andere Probleme. Dort werden sie mit sprachlichen, schulischen und sozialen Anforderungen konfrontiert, bei deren Bewältigung ihnen in der Regel niemand hilft. 100 Versagens- und 99 Vgl. dazu unten Teil II, Kap. 2.1.1 und Kap. 3. 100 D.h., Lehrer sehen das Problem, wenn sie von Überforderung sprechen. Doch die Problemlösung mit dem langsamen Weg ist für viele Kinder offensichtlich nicht die richtige. Die „türkischen Powergirls“ 114 Fremdheitserfahrungen können ernste Krisen auslösen und bis zum schulischen Scheitern führen (vgl. Teil II). In dieser Phase brauchen die Kinder Unterstützung und positive Leitbilder, um diesen schwierigen Weg zu schaffen. Exemplarisch für diesen Lebensweg sind die „Powergirls“. 4. Migrantenjugendliche Die Selbstverortung der Jugendlichen, die in Mannheim geboren und aufgewachsen sind, ist eindeutig: Mannheim ist ihre „Heimat“, hier sind sie zuhause und hier wollen sie auch in Zukunft leben. In Mannheim haben sie ihre Freunde, und hier ist das Leben besser als in den Herkunftsregionen der Eltern oder Großeltern. Im Gegensatz zu den Eltern, die noch sehr stark mit dem Herkunftsland verbunden sind, haben sich die meisten Kinder von der Türkei und einem positiv überhöhten Türkeibild gelöst; sie sagen nicht mehr die Türkei ist ein sehr schönes Land, sondern sie kritisieren auch die dortigen Verhältnisse. Sie stört z.B. die Unordnung im Alltag, das Chaos im Verkehr, die im Vergleich zu Deutschland schlechte soziale Absicherung, die hohe Arbeitslosigkeit und die große Armut in vielen Familien. Außerdem fühlt sich eine Reihe von Jugendlichen in der Türkei nicht akzeptiert, da ihr Verhalten kritisiert und ihr mit Deutsch gemischtes Türkisch belacht wird. 101 Für die meisten Jugendlichen ist es schlimm in die Türkei geschickt zu werden, so ein türkischer Pädagoge, und die Drohung wenn du das und das nicht machst, werde ich dich in die Türkei schicken ist ein wirkungsvolles Disziplinierungsmittel. Selbst für sehr traditionelle Mädchen ist ein Leben in der Türkei nur eine Notlösung, wenn sie hier keine Lebensperspektive bekommen. 102 Die Selbstbezeichnungen der Jugendlichen variieren in Abhängigkeit von ihren Erfahrungen, ihren Lebensumständen und den sozialen und beruflichen Orientierungen, die sie entwickeln. Solange sie die Schulen im Stadtgebiet besuchen und ihre sozialen Netzwerke innerhalb dieser Grenzen liegen, erfolgt 101 Vgl. dazu ausführlich Teil II. Diese Erfahrungen der Jugendlichen in der Türkei bestätigten auch Rückkehrer, die ich an einer Universität in Istanbul kennen lernte. Für sie war das Leben in der Türkei zu Beginn sehr schwer und sie fühlten sich nur in der Gegenwart anderer Rückkehrer wohl; mit ihnen verbindet sie vieles und mit ihnen können sie gemischt sprechen; vgl. dazu auch die Beschreibungen in Treffers-Daller (1998). 102 Nur beim Fußball ist die Loyalität der Jugendlichen mit der Türkei groß; sie setzen auf die türkische Mannschaft und fiebern für den Sieg der Türken. Ethnografie des Lebensraums 115 die Selbstbezeichnung in Abgrenzung zu anderen ethnischen Gruppen als Türke gegenüber einem Italiener oder einem Kroaten. Wenn Kinder und Jugendliche das Stadtgebiet verlassen, erleben sie meist sehr schmerzlich das negative Bild, das ihnen Deutsche mit Bezeichnungen wie scheiß Ausländer oder dreckiger Türke entgegenbringen. Typische Reaktionen auf solche Herabsetzungen sind entweder die trotzige Gegenwehr, z.B. ich bin stolz Türke/ Türkin zu sein oder die Beschimpften schämen sich für ihre Herkunft und versuchen sie zu verstecken. Gelingt es den Jugendlichen, die negativen Erfahrungen produktiv zu verarbeiten, können neue Selbstkonzepte entstehen, wie sie die „Powergirls“, die „Unmündigen“ und die Europatürken“ entwickelt haben. Mit solchen Selbstkonzepten sind Analysen des sozialen Umfeldes, Selbstpositionierungen in Relation zu relevanten Anderen aus der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft und Strategien für den sozialen Erfolg verbunden (vgl. ausführlich Teil II). 4.1 Getrennte Lebenswelten und Entwicklungen Ein charakteristisches Merkmal der türkischen Jugendlichen ist die relativ starke Trennung nach Geschlechtern. Die Geschlechtszugehörigkeit ist entscheidend für die alltäglichen Aufgaben und Pflichten ebenso wie für die sozialen Netzwerke und Freizeitbeschäftigungen. 103 Beliebte Freizeitbeschäftigungen der Jungen sind Fußball, Basketball, Skaten und Breakdance; Mädchen dagegen treffen sich eher in betreuten Einrichtungen oder sind mit ihren Familien zusammen. Jungen sind insgesamt mobiler, verbringen ihre freie Zeit draußen mit anderen Jungen, während Mädchen zuhause bei der Kinderbetreuung oder im Geschäft helfen. Die Geschlechtszugehörigkeit spielt beim schulischen und beruflichen Erfolg eine wesentliche Rolle: InformantInnen aus dem Erziehungs- und Bildungsbereich stimmen darin überein, dass Mädchen schulisch erfolgreicher sind als Jungen, was - wie oben ausgeführt - weit reichende Konsequenzen für die Entwicklung hat: Für die erfolgreichen Mädchen bedeutet es ein Leben außerhalb des Stadtgebiets, für die weniger erfolgreichen Jungen ein Leben im Stadtgebiet. Da die 103 In der Begegnungsstätte „Westliche Unterstadt“, die explizit ein nationalitäten-, alter- und geschlechtsübergreifendes Programm verfolgt, gibt es eine gemischtgeschlechtliche Break- Dance-Gruppe, in der türkische und italienische Jungen und Mädchen mitmachen. Eine gemischtgeschlechtliche Gruppe älterer Jugendlicher bzw. junger Erwachsener gibt es auch in der Theater-Werkstatt im Jungbusch. Die meisten Jugendgruppen im Stadtgebiet sind jedoch nach Geschlechtern getrennt. Die „türkischen Powergirls“ 116 Lebenswege von erfolgreichen Mädchen in Teil II detailliert beschrieben werden, werde ich sie nur kurz skizzieren und typische Lebenswege von Jungen ausführlicher darstellen. 4.1.1 Mädchen Die übereinstimmende Meinung der Lehrkräfte ist, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen viel fleißiger sind und man sie viel mehr fordern kann. Mädchen entwickeln bereits mit 10 oder 11 Jahren realistische Berufsvorstellungen, arbeiten zielstrebig darauf hin und ihnen gelingt oft der Übergang in höhere Schulen. Ein Lehrer ist überzeugt, dass die türkischen Mädchen einfach viel besser sind als die Jungen. Exkurs 11: Die in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitete Annahme der Bildungsbenachteiligung von muslimischen Mädchen konnte in neueren quantitativen (Boos-Nünning/ Karakaşoğlu 2005) und qualitativen Untersuchungen (Ofner 2003, Gültekin 2003, Karakaşoğlu-Aydın 2000) widerlegt werden, die sich mit Bildungsbiografien aufstiegsorientierter Migrantinnen befassen. Sie zeigen, dass Mädchen mit Migrationshintergrund die Migration als Chance nutzen und schulisch erfolgreich sind. Auch nach Lucassen (2004) sind muslimische Frauen der 2. Generation in England, Frankreich und Deutschland sozial und beruflich erfolgreicher als Männer. Das erklärt der Autor gerade durch die Erziehung von Mädchen und jungen Frauen, die weniger außerhalb des Hauses sein dürfen und mehr zu Gehorsam gebracht werden als die Jungen. Sie schließen die Schule meist mit höherem Abschluss ab und sind weniger als Männer von den negativen Aspekten der zweiten Generation, Kriminalität und abweichendes Verhalten, betroffen (ebd., S. 54). Dass junge Migrantinnen schulisch und beruflich erfolgreich sind, belegt auch eine von Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ( DIW ) veröffentlichte Studie, die feststellt, dass es ihnen viel eher gelingt als ihren Brüdern, Cousins und Männern, die typischen (einfachen) Zuwanderer-Berufe zu verlassen und Arbeisplätze mit höher qualifizierten Tätigkeiten zu bekommen (zit. aus Die Zeit, 26. 02.2004, S. 32). Die erfolgreichen türkischen Mädchen kommen oft aus „offenen“ Familien mit aufgeschlossenen und modernen Müttern, die wollen, dass ihre Töchter einen guten Beruf erlernen. 104 Nach Meinung einer Lehrerin hat der schuli- 104 Die Offenheit der Mütter ist für einen der Informanten ausschlaggebend für den schulischen Erfolg der Kinder. Auch wenn die Mütter kaum Schulbildung haben, aber „offen“ gegenüber allem Neuen sind, die Kinder unterstützen und darauf achten, dass sie Schul- Ethnografie des Lebensraums 117 sche Erfolg der Mädchen auch ganz praktische Gründe: Da es für sie nach der Hauptschule nur sehr wenige Ausbildungsmöglichkeiten gibt (z.B. Friseuse und Verkäuferin), müssen sie, wenn sie etwas anderes lernen wollen, zumindest den Realschulabschluss schaffen. Außerdem gibt es für Mädchen im Stadtgebiet eine intensive soziale Betreuung, eine gute Mädchenarbeit, die ebenfalls zum schulischen und beruflichen Erfolg der Mädchen beiträgt (vgl. oben Kap. 3.2). Aus der Perspektive erfolgreicher Mädchen spielt die Einstellung der Mutter eine entscheidende Rolle. Wenn sie will, dass die Tochter gut ausgebildet wird, achtet sie von Anfang an auf eine gute schulische Leistung und unterstützt sie in ihrem Drang nach Selbstständigkeit und Freiheit. 105 Befragt nach der religiösen Bindung der Mädchen meinen die türkischen BetreuerInnen, dass sie eher nicht religiös sind. Die meisten kleiden sich sehr offen und modisch, einige auch provokativ, und die Eltern haben sich damit arrangiert. Mädchen und Frauen, die Kopftuch tragen, signalisieren damit nicht unbedingt eine religiöse Überzeugung. Bei vielen sunnitischen Frauen der ersten Generation, die aus dörflichen Strukturen kommen, gehört das Kopftuch zur Alltagskleidung; ohne Kopftuch zeigen sie sich nicht in der Öffentlichkeit. Bei Mädchen und Frauen der zweiten Generation kann das Kopftuchtragen verschiedene Bedeutungen haben. Einige tragen es ohne innere Überzeugung und nur, weil die Eltern oder der Ehemann darauf bestehen; d.h., sie folgen einer Tradition, die ihnen aufgezwungen wird. Andere tragen das Kopftuch aus Überzeugung und signalisieren damit entweder, dass sie überzeugt religiös sind oder dass sie von Männern in Ruhe gelassen werden wollen. Türkische Männer - so eine Informantin - haben vor Frauen, die sich offen kleiden, keinen Respekt; eine Frau mit Kopftuch jedoch lassen sie in Ruhe und machen sie nicht an. pflichten erledigen, haben nach seiner Erfahrung die Kinder eine gute Chance, in der Schule voranzukommen. 105 Ein weiteres Motiv der Mütter, bei den Töchtern auf eine gute Ausbildung zu achten, ist die Zunahme von Scheidungen bei jungen Familien. Da in Deutschland nach einer Scheidung die Kinder in der Regel bei der Mutter aufwachsen, sollte die geschiedene Frau einen guten Beruf haben, um sich und die Kinder ernähren zu können. Die „türkischen Powergirls“ 118 4.1.2 Jungen 106 Aus der Perspektive deutscher und türkischer Pädagogen gehören die Jungen zu den Verlierern der Migration. Während Mädchen von den Familien früh gefordert werden, werden Jungen von vornherein gehätschelt und verwöhnt. Schon in der Grundschule halten sie sich für gut und klug, nur weil sie Jungs sind, sitzen da und meinen sie sind der King. Wenn Lehrer sagen: nee Junge, wenn du nichts tust, bist du auch nicht der King, sind sie total frustriert und rasten aus. Diese Einschätzung bestätigen die Jugendlichen selbst: Wenn ihnen ihr Machogehabe vorgehalten wird, lachen sie und geben dem Lehrer Recht. Das schulische und soziale Scheitern der Jungen hat viele Ursachen. Türkische und deutsche PädagogInnen führen vor allem folgende Problemkomplexe an: a) Autoriätsverlust des Vaters unter den Bedingungen der Migration In der traditionellen Familie besteht eine starke Rollentrennung zwischen den Eltern. Für die Mädchen bleibt die Mutter bis ins Erwachsenenalter die emotionale Bezugsperson und in vielen Fällen auch Vertraute. Eine solch enge Bezugsperson haben die Jungen nicht. Sie wenden sich im Alter von etwa 10 Jahren von der Mutter ab und männlichen Vorbildern zu. Die Qualität der Beziehungen zwischen dem Vater und den Kindern ist ganz anderes als die der Mutter zu den Kindern. Zu den kleinen Kindern hat der Vater zwar oft ein enges Verhältnis, doch wenn sie zwischen 10 und 11 Jahren sind, distanziert er sich emotional von ihnen; 107 er ist dann vor allem Entscheidungs- und Strafinstanz. Ein traditioneller Vater geht davon aus, dass er seinen Söhnen früh das harte Leben zeigen und sie hart disziplinieren muss, 108 d.h., die Jungen treffen früh auf harte und von Distanz geprägte 106 Das Material zu den Lebenswegen der Jungen besteht aus statistischen Daten aus den Schulen und vom Ausländerbeauftragten; außerdem aus ethnografischen Interviews mit PädagogInnen und einigen Jugendlichen. Eine vergleichbare Untersuchung zu Ghetto-Jungengruppen mit einer Beschreibung ihrer biografischen Entwicklung, ihres kommunikativen Stils und des Zusammenhangs zwischen Stil und sozialer Identität steht noch aus. 107 Der Vater nimmt z.B. dann das Kind nicht mehr auf den Schoß und hält sich insgesamt mit Zärtlichkeiten gegenüber dem Kind zurück. 108 Ein Informant berichtet, dass in einer kurdischen Erzählung der Vater seinen Jungen mitnimmt, aus einem Vogelnest ein Vogelbaby herausnimmt und es an die Wand wirft, um es zu töten. Dadurch solle der Junge die Härte des Lebens kennen lernen. Ethnografie des Lebensraums 119 Beziehungsmuster. Diese Erfahrung führe für viele zu einem emotionalen Defizit, das - so einige türkische Pädagogen - die hohe Bereitschaft der Jungen zur Cliquenbildung verständlich mache. In den Cliquen mit ihren festen Strukturen, ihren Ritualen und engen, freundschaftlichen Beziehungen können sie ihr emotionales Defizit kompensieren. Unter den Bedingungen der Migration kann der Vater die Rolle als Entscheidungs- und Strafinstanz meist nicht ausfüllen. In Familien, in denen die Männer allein nach Deutschland kamen, haben die Kinder erst nach Jahren wahrgenommen, dass sie einen Vater haben. Die Abwesenheit des Vaters hat sich in Deutschland fortgesetzt, da er durch Schicht- und Mehrarbeit meist außer Haus ist und sich nicht um die Söhne kümmern kann. Ein türkischer Betreuer berichtet, dass die Jungen sich wie Waisenkinder fühlen. Der Vater erscheint zwar zuhause, doch er ist er nicht wirklich da und fehlt als Entscheidungs- und Strafinstanz. D.h., zu dem emotionalen Defizit kommt, dass den Jungen die moralische und soziale Führung durch den Vater fehlt. Das hat Konsequenzen, denn die Jungen erleben früh, dass sie ungestraft alles tun können, was sie wollen, und sie keiner kontrolliert. Außerdem erleben die Jungen, dass der Vater in vielen Alltagsangelegenheiten nicht selbstständig und souverän handeln kann und auf ihre Sprachfertigkeiten und ihr Wissen angewiesen ist. Das schwächt seine Autorität erheblich. Da sie ihn hilflos erleben, nehmen sie seine Strafandrohungen nicht ernst und beginnen seine Anordnungen zu unterlaufen. b) Unterschiedliche Erziehungsziele für Mädchen und Jungen Während die Mädchen von früher Kindheit an von der Mutter eng geführt werden, haben die Jungen schon relativ früh große Freiräume. Ihnen wird erlaubt, sich außerhalb der Familie zu bewegen, z.B. auf Spielplätzen und bei Freunden, wo die Eltern keine Kontrolle über sie haben. Sie müssen sich nicht an der Hausarbeit beteiligen, sondern werden von den weiblichen Familienmitgliedern „bedient“. Eine Informantin, die zwei Brüder hat, schildert die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen folgendermaßen: AY: das problem liegt da“rin dass sie in allen türkischen AY: familien mädchen und jungen unterscheiden ↓ das mädchen AY: darf bis um acht abends raus ↑ der junge darf bis um eins AY: raus ↓ oder der junge darf seine freundin mit nach hause AY: bringen ↑ aber das mädchen darf keinen freund haben ↓ * AY: oder den jungen bevorzugen wir ↑ dem stellen wir das Die „türkischen Powergirls“ 120 AY: essen hin ↑ aber das mädchen muss sich das essen selber AY: holen oder so: ↓ * und bei fast allen türkischen AY: familien ist das so dass sie jungen und mädchen so AY: stark unterscheiden * das ist einfach so ↓ * auch AY: in meim freundeskreis Die sehr unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen hängt mit den geschlechtsspezifischen Erziehungszielen zusammen. Die Erziehungsziele für Mädchen sind Bescheidenheit, Zurückhaltung, Unterordnung unter ältere Familienmitglieder und vor allem Jungfräulichkeit, und sie führen zu Einschränkungen und enger familiärer Kontrolle. Im Gegensatz dazu geht man bei Jungen, da sie zu Härte und Stärke erzogen werden, davon aus, dass sie alles machen können, weil ihnen nichts passieren kann. Mit Beginn der Pubertät entsteht in der Erziehung der Jungen ein erhebliches Vakuum: Die Mutter ist für ihn nicht mehr verantwortlich, der Vater steht meist nicht zur Verfügung und - wie oben dargestellt - sieht sich auch die Schule bei vielen Problemen nicht in der Verantwortung. Das bedeutet, dass der Junge sich weitgehend unkontrolliert bewegen kann. Dazu eine türkische Informantin, die das stark kritisiert: CE: der junge macht was er will * schwänzt die schu“le * CE: macht keine hau“saufgaben ↑ und keiner kümmert sich CE: wirklich * erst wenn er sitzen bleibt ↑ bekommen die CE: eltern einen brief- * doch dann ist es für ihn oft CE: zu spät ↓ * er hat nicht gelernt in einer festen CE: ordnung zu leben ↓ Diese Darstellung wird von den befragten Jungen im Wesentlichen bestätigt. Sie stimmen überein, dass Hausaufgaben machen, lernen und gute Noten für sie nicht zählen, sondern - so ein 15-Jähriger - nach der Schule die Tasche in die Ecke stellen, raus gehen, mit Freunden rumhängen, lange draußen bleiben, immer unterwegs sein in Spielhallen und Cafés, Automatenspiele und Kampfspiele machen. Oberste Priorität hat das Leben zusammen mit Freunden, das meist in Cliquen organisiert wird. c) Die Clique Das Cliquenleben bestimmt den Alltag der Jungen, in dem das Freundschaftskonzept eine zentrale Rolle spielt: BU: ein freund ist- * wenn isch mit dem meine ganze zeit BU: verbringe ↓ wenn isch mit ihm den ga“nzen ta“g was mache ↓ * BU: wenn isch einen nur kurz sehe ↑ * das ist kein freund ↓ Ethnografie des Lebensraums 121 D.h., die Jungen fühlen sich erst dann mit anderen Jungen fest verbunden, wenn sie mit ihnen ihre gesamte Zeit verbringen, am besten auch noch in der Schulklasse mit ihnen zusammen sitzen. Für Interessen oder Aktivitäten außerhalb dieser engen Freundschaftsbeziehungen gibt es kaum Platz. Eine wichtige Beschäftigung in der Clique ist das Kiffen. Es wird nie alleine, sondern nur mit anderen zusammen gemacht, z.B. in der Wohnung eines Freundes, dessen Eltern arbeiten, oder abends an unbeobachteten Stellen. Dabei gibt es folgende Regel: Wenn einer der Jungen sich einen fuffi holt (6 Gramm Hasch zu 50,- €), ruft er die anderen, und sie rauchen den Stoff zusammen. An manchen Tagen wird in der Clique zwei oder dreimal eingekauft, d.h., bei einer großen Clique konsumiert jeder bis zu acht Joints am Tag. Die Jungen sind glücklich, wenn die Ameisen im Kopf krabbeln, wenn sie das Gefühl haben, man fliegt und wenn es gebatscht hat. Das einzige Problem ist die Enge des Stadtteils, da sie sich von den jüngeren Kindern beobachtet fühlen, und die sie verpetzen könnten. Das regelmäßige Kiffen kostet Geld, das die meisten Jugendlichen nicht haben. Sie sind arbeitslos oder können nur mit kleinen Gelegenheitsjobs Geld verdienen. In der Clique überlegen sie, wie sie an Geld kommen könnten, und damit beginnt fast zwangsläufig eine kriminelle Karriere: BU: da denkt man automatisch kriminell * isch schwö“r das BU: is bei jedem so wenn man kein geld hat ↓ * dann denken BU: wir sofort we“n können wir ausrauben * oder wie“ können BU: wir geld machen * das is no“rmal wenn du kein geld hast ↑ BU: das machen alle so ↓ Von den kriminellen Aktivitäten wissen die Eltern in der Regel nichts bzw. sie erfahren es erst, wenn die Jungen in Überfälle verwickelt sind und abgeschoben werden sollen. Hilfe kommt dann meist zu spät, da sie bereits zu tief in Probleme verstrickt sind. Da das Leben in der Clique und das kriminelle Treiben unbeobachtet von den Eltern verläuft, erleben die Jungen ein ungeheures Gefühl von Freiheit, das sie zu weiteren Taten motiviert. Diesen Prozess schildert ein junger Informant sehr eindringlich: Als Zwölfjähriger kam er zu einer Clique, die sich darauf spezialisiert hatte, Markenjeans zu stehlen und zu verkaufen. Als eine Art Initiation, um in die Clique aufgenommen zu werden, musste er unter Beobachtung der anderen eine Jeans stehlen. Die Clique fuhr in einen Vorort Mannheims, weil sie dort keiner kannte. Sie streiften durch die Straßen und Die „türkischen Powergirls“ 122 begutachteten die zum Trocknen aufgehängte Wäsche in den Gärten. Als sie eine Markenjeans entdeckten, sollte der Neue sie aus dem Garten stehlen. Er versuchte es und wurde erwischt. Die Hausbesitzer schimpften und drohten, seine Eltern zu informieren. Der Junge, der Prügel, Polizei und drastische Strafen erwartet hatte, war völlig überrascht und erleichtert: Man schimpfte nur, aber sonst passierte nichts. Da er den Hausbesitzern eine falsche Adresse angab, erfuhren seine Eltern nie etwas von dem Vorfall. Aus diesem Erlebnis zog er folgende Konsequenz: ME: du kannst hier a“lles machen * keiner tut dir hier ME: wi“rklich etwas ↓ * auch die e“ltern erfahren es nicht * ME: wenn du es nicht willst * du bekommst keine prügel und ME: keine strafe ↓ * hier kannst du dich tota“l frei“ fühlen ↓ Er fühlte sich total frei, kümmerte sich nicht mehr um die Schule und engagierte sich nur noch in der Clique. Zu den Werten der Clique zählte, dass derjenige, der am stärksten und am gefährlichsten ist, besonders respektiert wird. Bald war er wegen seiner Härte und Stärke auch bei anderen Cliquen im Stadtgebiet hoch geachtet. Seine Eltern wussten nichts von seinem Leben, bis er mit 17 Jahren bei einem Raubüberfall von der Polizei geschnappt wurde. Das war für ihn das erste Mal, dass er drastische Strafen erlebte: Der Vater prügelte ihn und drohte mit Familienausschluss. Die Bestrafung durch den Vater war das einschneidende Erlebnis, das ein Umdenken in Gang setzte, 109 und die Erfahrungen im Jugendgefängnis bewirkten dann, dass er sein Leben änderte. d) Verhaltensmodelle für Jungen Bereits für die kleinen Jungen ist es, so ein türkischer Pädagoge, ganz wichtig aufzufallen, sich von anderen abzuheben. Dabei orientieren sie sich an der „Machorolle“. Ein zentrales Konzept für sie ist cool sein und sich auf eine Herausforderung hin stark zeigen. 110 Mit cool können unterschiedliche 109 Die Anzeige durch die Polizei und das sehr viel später folgende Gerichtsverfahren waren wesentlich weniger einprägsam, da der Bestrafungsprozess mehrfach unterteilt war und sich lange hinzog. 110 Dass Härte, Stärke und die ständige Bereitschaft, die eigene Ehre und die der Familie (wie immer die im Einzelfall definiert wird) zu verteidigen, zentrale Leitbilder für türkischstämmige Migrantenjungen sind, beschreiben auch Bommes (1993, S. 71ff.) und Tertilt (1996) ausführlich. Nach der Beobachtungen von Bommes (1993, S. 72) ist es wesentlich für einen Jungen, „in Situationen der Bedrohung nicht sein Gesicht zu verlieren, [...] nicht Ethnografie des Lebensraums 123 Bedeutungen verbunden sein. Nach Meinung eines türkischen Sozialpädagogen verstehen die Jugendlichen unter cool: nicht gewöhnlich sein, kein Mitmacher sein, ein Einzeltyp und dagegen sein. Man ist cool, wenn man auf eine Herausforderung nicht sofort reagiert, sondern eine reifere, überlegene Reaktion zeigt. 111 Coolness wird ausgedrückt durch besondere körperliche Präsenz, durch Muskelstärke, betont männliches und auf Sexualität bezogenes Verhalten. Für die Jungen ändern sich die Inhalte von cool je nach Alter und Freundeskreis. Ein 17-jähriger Informant z.B. beschreibt cool in Bezug auf einen 12- Jährigen folgendermaßen: Das ist einer der jetzt so langsam cool werden möchte, anfängt zu rauchen, zu klauen, Mädchen anzumachen. Das sei typisch für dieses Alter; er dachte in diesem Alter genau so. Heute bedeutet cool für ihn und seine Cliquen-Freunde: sich nicht provozieren lassen, mit Freunden kiffen, sich nicht erwischen lassen und Geld besorgen ohne zu arbeiten. Cool kann nur der sein, der auch stark ist. Für Jungen ist von früh an die oberste Maxime: du als Mann musst stark sein und diese Stärke muss dargestellt werden, unabhängig davon, ob man wirklich stark ist. Die Jüngeren sehen, wie sich der ältere Bruder darstellt, dass er von anderen Jungen nur dann gelobt wird, wenn er durch Härte und Stärke auffällt. Sie übernehmen die Werte cool und stark, und das prägt ihr Leben. Außerdem prägen Maß- und Grenzenlosigkeit das Verhalten der Jugendlichen, was eng mit der mangelnden Kontrolle zusammenhängt. Ein türkischer Pädagoge weist noch auf einen anderen Zusammenhang hin und hält Maßlosigkeit für den Ausdruck einer falschen Anpassung an die deutsche Mentali- auszuweichen, sich zurückzuziehen, etwas zu überhören, wenn alle anderen zuhören“. D.h., türkischstämmige Jungen sind viel mehr auf Körperlichkeit und auf die Demonstration von körperlicher Stärke und von Standhaftigkeit hin orientiert, als auf verbale Fähigkeiten, die in der Schule hohen Stellenwert haben, wie diskutieren, argumentieren und Kompromisse finden. Auf der Basis dieses auf Härte und Stärke basierenden Selbstkonzepts der Jungen wird „Wissen als weibisch“ betrachtet, „starke“ Jungen sind darauf nicht angewiesen (ebd., S. 64). Dieses Selbstkonzept der türkischstämmigen Jungen hat Ähnlichkeit mit dem von Willis (1982) beschriebenen Selbstkonzept der Arbeiterjugendlichen in England. 111 Nach Auskunft des Informanten gibt es im Türkischen ein ähnliches Konzept, das in einem älteren Film dargestellt wird, den die Jungen vermutlich kennen: racon kismek (‘sich cool darstellen’). Die „türkischen Powergirls“ 124 tät. Die türkischen Jungen sehen, dass sich die deutschen Mädchen freier benehmen, missverstehen das und sprechen die Mädchen auf der Straße an: komm mit mir ins Bett du Schöne, weil sie meinen, sie seien dann angepasst an die Verhältnisse hier. Ähnlich sieht das auch ein türkischer Student: Die Jungen verhalten sich so machohaft, frei, wild, sexuell bezogen - ein Verhalten, das in der türkischen Kultur nicht möglich ist - weil sie meinen, dass man sich in Deutschland so verhält. Mit diesem Verhalten glauben sie integriert zu sein. Die Reaktion der deutschen Mädchen, die sie auslachen oder ihnen eine Ohrfeige geben, deuten sie dann als ablehnende und diskriminierende Handlungen. e) Ghettojungen aus der Außenperspektive Mit dem Machogehabe, der Coolness, den weiten Hosen, den Baseballkappen und Goldkettchen fallen Ghettojungen auf. Deutsche Jugendliche bezeichnen sie als Lans oder Moruks, türkischsprachige Adressierungen, die die Jugendlichen untereinander sehr häufig verwenden und die die deutschen Jugendlichen hören. 112 Schüler höherer Schulen und Studenten lehnen dies eher ab und benutzen das Sprach- und Kommunikationsverhalten der Lans - das auf der Straße beobachtete oder von medialen Stilisierungen übernommene Verhalten 113 - als Mittel für spielerische Interaktionen und Karikaturen. 114 Doch es gibt auch deutsche Jugendliche, für die das machohafte und coole Verhalten der Lans Vorbild ist, z.B. für Klassen- oder Cliquenfreunde, die sich ähnlich kleiden, ähnlich sprechen und auf Herausforderungen aggressiv reagieren. Das Verhalten der Lans ist ihr Leitbild für Auffälligkeit und Aggressivität. Aus dem erzieherischen Bereich werden dringend Maßnahmen gefordert, um die Ghettojungen nicht noch weiter ins soziale Abseits geraten zu lassen. 112 lan (‘Mann’, ‘Kerl’) und moruk (‘Alter’) sind derbe türkische Bezeichnungen. lan ist eine Kurzform für oglun (‘Sohn’), eine Adressierung, die in dörflicher Umgebung sehr oft von Älteren für die Anrede Jüngerer verwendet wird. Auch Mädchen aus dem Ghetto verwenden die Anrede lan untereinander sehr häufig. 113 Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen dem Sprach- und Kommunikationsverhalten von Ghetto-Jugendlichen und den Typisierungen und Stilisierungen in medialen Darstellungen, in Filmen, Comedies und im Kabarett; vgl. dazu Androutsopoulos (2001a und b), Auer (2003), Keim (2003b). 114 Das konnte ich in einer Gruppe deutscher Gymnasiasten beobachten; vgl. dazu auch den Beitrag von Deppermann (2007). Ethnografie des Lebensraums 125 Doch, so ein türkischer Sozialpädagoge, es fehlen geeignete Ansätze und Konzepte, um an die Jungen heran zukommen. Ihr Hauptinteresse gilt den Dingen, mit denen sie in ihrer Clique Erfolg und Ansehen erreichen: Spielsüchtige reden über Spielerfolge, bei Zigarettenautomaten-Entleerern geht es um die neueste Technik, in anderen Gruppen geht es darum ein guter Rapper und Breakdancer zu sein. Im Räubermilieu geht es um Territorien, Fertigkeiten, Schwerpunkte. In allen Cliquen steht die zentrale Tätigkeit im Fokus des Interesses der Mitglieder und für Pädagogen ist es schwer, die Jungen für andere Dinge zu interessieren und ihnen andere Werte zu vermitteln. 4.2 Berufschancen der Jungen Nach Meinung türkischer und deutscher Lehrer sind die Jungen faul und wählerisch und haben viel zu hohe Ansprüche. Sie suchen nicht die Berufe aus, die sie vielleicht ausfüllen könnten, wie z.B. Bäcker, Schreiner, Maurer, sondern wollen ausgerechnet die Berufe wo man einen Realschulabschluss braucht und gut in Deutsch und Mathe sein muss; das sind Voraussetzungen, die kaum einer von ihnen erfüllt. Nach Meinung eines Hauptschullehrers sind die Jungen völlig unrealistisch und nicht fähig über einen längeren Zeitraum Dinge zu erledigen, die für ihr späteres Leben wichtig sind. Das verdeutlicht er an einem Beispiel: Ein problematischer Junge aus der 8. Klasse geriet mit dem Gesetz in Konflikt und wurde bestraft. Danach hat er sich wieder in eine Gruppe eingeklickt, die Raubüberfälle macht, und nach kurzer Zeit war er außer Rand und Band. Erst ein pädagogisches Langzeitprogramm hat ihn etwas realistischer werden lassen, doch von einem guten Ausbildungsplatz ist er noch weit entfernt. Die befragten Jungen wünschen sich alle einen guten Beruf, in dem sie viel Geld verdienen und wenn möglich auch unabhängig sein können. Sie wollen auf keinen Fall so hart arbeiten wie ihr Vater, sondern ein gutes Leben führen ohne viel zu arbeiten. Solange sie in der Schule sind, haben sie keine Vorstellungen davon, was draußen ist, welche Berufe für sie geeignet sind und was sie werden wollen. Selbst wenn die Lehrer sagen, dass ein guter Schulabschluss wichtig ist, hat - so ein junger Informant - mich das damals überhaupt nicht interessiert, ich wollt es nicht wahrhaben. Erst als er auf Stellensuche ging, wurde ihm klar, dass er mit einem schlechten Hauptschulabschluss kaum eine Chance hat. Heute bedauert er, dass er sich damals nicht mehr angestrengt hat, ist sich allerdings nicht sicher, ob er sich wirk- Die „türkischen Powergirls“ 126 lich hätte anstrengen wollen. Er ist optimistisch und hofft trotz der vielen Absagen weiterhin auf eine gute Lehrstelle. Wenn Jugendliche den Hauptschulabschluss mit der Durchschnittsnote 3 nicht schaffen, haben sie kaum Aussicht auf eine Berufsausbildung. Ihre letzte Chance ist das BVJ (Berufsvorbereitungsjahr), 115 in dem sie versuchen können, den Hauptschulabschluss nochmals zu machen oder über ein Berufspraktikum den Zugang zu einer Firma zu finden. Doch nach Meinung von Sozialpädagogen sind das keine realistischen Chancen, da das BVJ ein Sammelbecken für Problemfälle ist und dorthin nur die Jugendlichen kommen, die faul und auffallend sind, geschwänzt und nie gelernt haben zu arbeiten. Ihre Erfahrungen zeigen, dass die meisten noch mehr abfallen und wer bereits Schwänzer war, noch schlimmer wird. Außerdem kümmere sich im BVJ niemand intensiv um die Jugendlichen oder versuche, sie zum Arbeiten zu bringen. 116 Jugendliche, die die Chance im BVJ nicht nutzen, haben keine Berufschancen mehr; sie fallen dann wirklich raus, sind die Chancenlosen und Verlierer. Diese Erfahrung treibt sie noch mehr in Cliquen, in denen ihre Fähigkeiten geschätzt und respektiert werden. Interessant ist, dass viele der gescheiterten Jungen Schwestern haben, die das Gymnasium besuchen, Abitur machen und auch studieren. Die „Powergirls“ z.B. haben Brüder und Cousins, die schulisch wesentlich weniger erfolgreich sind als sie selbst, die keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss haben und kaum Deutsch können. Einige haben auch Gefängnisstrafen hinter sich. Exemplarisch dafür eine Informantin, die studiert und deren Bruder den Hauptschulabschluss nicht geschafft und früh mit dem Cliquenleben begonnen hat: AR: mein bruder der is in=n knast gekommen * mit siebzehn * AR: mit vierzehn hat er die ersten briefe gekriegt vom AR: staatsanwalt * der hat äh kinder beraubt und er war 115 In Mannheim gehen die Jungen in die Justus-v.-Liebig-Schule, die Mädchen in die Luzenbergschule. 116 2002 besuchten ca. 600 Jugendliche das BVJ . Nach Auskunft von Lehrern schaffen es davon etwa 100 Jugendliche, eine Lehrstelle zu bekommen, 200 gehen noch ein Jahr weiter zur Schule und 300, also 50%, haben keine Chance; sie werden „in die Sozialhilfe entlassen“. Von den 200, die weiter zur Schule gehen, wird ein großer Prozentsatz im darauf folgenden Jahr ein Fall für die Sozialhilfe. Da all diesen Jugendlichen in der Regel das verfügbare Geld nicht reicht und der Druck innerhalb von Cliquen sehr groß ist, sind sie nach Meinung der Lehrkräfte stark gefährdet, in die Kriminalität abzurutschen. Ethnografie des Lebensraums 127 AR: in=ner gang ↓ * hat einfach kinder beraubt wegen AR: fünfzisch pfennisch ↑ des hat er ni“sch nötich gehabt * AR: weil er viel mehr von den eltern daheim gekriegt hat * AR: einfach nur so um sich ansehen zu verschaffen in der AR: gang ↓ * dann hat=a angefangn zu kiffen dann is=a einfach AR: abgehauen * hat mit seim freund in einem hotel gewohnt * AR: un des geld ham sie irgendwo geklaut ↓ Der Junge schwänzte ständig die Schule, fiel in der 6. Hauptschulklasse durch, schaffte den Abschluss nicht und verstrickte sich in einen Fall, der ihn ins Jugendgefängnis brachte. Nach Meinung der Schwester ist er heute verhaltensauffällig, rastet ständig aus und hat Minderwertigkeitsgefühle, weil er die Schule nicht geschafft hat: AR: wir ham uns gestritten ↓ * da hat er zu mir gesagt * äh AR: du hast doch deine zukunft gesichert ↑ * du wirst AR: lehrerin und du wirst bald heiraten und voll glücklich AR: sein ↓ * und ich werd des nicht ↓ und die NA (=andere AR: Schwester) verdient auch voll gut kohle und is AR: gesichert ↓ da hab ich gesagt * ja ich hab dir doch deine AR: zukunft nicht schlecht gemacht ↑ * das hast doch du AR: gemacht ↑ * da is=er ausgerastet und hat nur noch getobt ↓ * AR: des is schlimm * er hat große komplexe ↓ 4.3 Ethnische Abgrenzung In den Schulklassen gibt es die Tendenz, dass Kinder und Jugendliche derselben ethnischen Herkunft unter sich bleiben und eng befreundet sind; das gilt auf jeden Fall für die zahlenmäßig großen Gruppen, Türken und Italiener. Oft schlagen auch die politischen Spannungen zwischen Ethnien direkt auf das Verhältnis der Kinder und Jugendlichen untereinander durch, so eine Lehrerin, in deren Klasse es zwischen Serben, Kroaten und Italienern immer wieder zu Rangeleien kommt. Da es zu ihren erzieherischen Aufgaben gehört, gegen ethnische Abgrenzungen und Überheblichkeiten vorzugehen, versucht sie aufzuklären. Das ist oft sehr mühsam, da die Kinder von zuhause aufgehetzt werden, vor allem die Serben gegen die Kroaten und umgekehrt. Bei zahlenmäßig großen ethnischen Gruppen besteht immer die Gefahr, dass sie andere Gruppen dominieren. Auch im Stadtgebiet haben kleine ethnische Gruppen manchmal Probleme mit großen Gruppen. Da die Türken die größte Gruppe sind, ist es von Vorteil Türke zu sein, und Angehörige kleiner Die „türkischen Powergirls“ 128 Gruppen werden oft von türkischen Jugendlichen schikaniert und ausgeschlossen. Eine Lehrerin berichtet von einem Kolumbianer, der einige Zeit von Türken so stark belästigt wurde, dass sie einen Bring- und Abholdienst organisierte, damit er den Schulweg nicht alleine gehen musste. Als sie in der Klasse das Problem besprach, erklärte ihr ein Mädchen, das selbst aus einer kleinen ethnischen Gruppe kommt, den Zusammenhang folgendermaßen: Die Türken schlagen uns, weil wir Ausländer sind. D.h., das Mädchen erfährt sich durch das Verhalten der türkischen Jugendlichen als Ausländerin bzw. sie wird von ihnen so definiert, schikaniert und ausgeschlossen. Aus der Sicht des Mädchens sind Türken, die territoriale Vorrechte in Anspruch nehmen, keine Ausländer. Auch wenn Schüler freundschaftliche Beziehungen über ethnische Grenzen hinweg aufgebaut haben, werden in Konfliktfällen - so eine Pädagogin - ethnische Abgrenzungen immer wieder relevant, manchmal in spielerischer, oft auch in ernster Form. Dann kann man Äußerungen hören wie du bist Pole und ich will mit dir nichts zu tun haben, und ethnische Stereotype wie Türken stinken, Polen klauen oder Italiener sind faul sind die Mittel, mit denen der Konflikt ausgetragen wird. Zur Zeit der Datenerhebung machten Albaner die größten Probleme, weil sie sich als stark und machohaft darstellten, andere Gruppen provozierten und sich mit den Türken anlegten. Aus der Sicht junger Türkinnen sind die Albaner die echten Assis und die letzten Prolls; und wenn einer von ihnen sie anzumachen versucht, weisen sie ihn grob zurück. Exkurs 12: Für deutsche und türkische Schriftsteller, Filmemacher, Journalisten und Kabarettisten sind die Ghettojugendlichen ein interessantes und viel bearbeitetes thematisches Objekt und seit Mitte der 90er-Jahre Gegenstand in Literatur, Film, Kabarett und Comedy. 1995 erscheint von Feridun Zaimoğlu das Buch „Kanaksprak“ mit dem Untertitel „24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft“, in dem sich eine kriminelle türkische Subkultur in z.T. aggressiver Weise zu Wort meldet. Die Produktionen der multiethnischen Hip-Hop-Gruppe „Cartel“ mit aggressiven, z.T. in Türkisch verfassten Raptexten ebenso wie die Arbeiten von Zaimoğlu wurden in den Printmedien, 117 in Kultursendungen ebenso wie in Talkshows intensiv bearbeitet. Von da an gibt es in Film (z.B. „Knocking on heaven's 117 Vgl. z.B. Die Zeit, 12.01.96, S. 65: „Türksun = Du bist Türke“ über die türkische Gruppe Cartel; Zeit-Magazin, 25.4.97, S. 16-24: „HipHop für ATA Türk“ über die türkischstämmige Discoqueen Tuğçe San; Die Zeit , 14.11.1997, S. 88: „Kanak Attack! “ über Feridun Zaimoğlu; vgl. auch Zeit-Magazin, 12.12.1997, ein Heft von und über Türken und verschiedene Lebensentwürfe junger Deutsch-Türken. Ethnografie des Lebensraums 129 door“) und Fernsehen (z.B. die Comedy-Serie von Kaya Yanar „was guckst du? “), in Kabarett (z.B. die Aufführungen von Sedat Pamuk und Bülent Ceylan) und Comedy (z.B. die Produktionen von „Mundstuhl“ mit dem Duo Dragan & Alder) publikumswirksame Stilisierungen männlicher Migrantenjugendlicher und junger Erwachsener. Und es gibt interessante Zeitungs- und Fernsehreportagen über den neuen „Prollkult“ ebenso wie journalistische Analysen des „Pidgindeutsch“ der „Prolltürken“. 118 Während in milieuorientierten Darstellungen, wie in den Büchern von Zaimoğlu (z.B. „Kanaksprak“ 1995, Abschaum“ 1997) oder in Filmen wie „Kardeşler“ und „Yasemin“ die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen reflektiert werden und das Handeln der Jugendlichen in die Migrantengemeinschaft integriert ist, werden in Kabarett- und Comedyproduktionen bestimmte soziale Typen konstruiert mit den Eigenschaften: geringe Schulbildung, am Rande der Legalität lebend, angeberisch, machohaft, komisch und gelegentlich auch aggressiv. Auf dem Markt besonders erfolgreich sind das Comedy-Duo „Mundstuhl“ (zwei Deutsche aus Südhessen) und Erkan & Stefan (ein Deutscher aus einer türkischdeutschen Familie und ein Deutscher). 119 Während in realitätsnahen medialen Schilderungen das Sprach- und Kommunikationsverhalten der Ghettojugendlichen durch sprachliche Mischungen charakterisiert ist, 120 erscheinen in Stilisierungen in Kabarett und Comedy keine Mischungen, sondern ethnolektal gefärbte Varietäten des Deutschen. Das sind Konstrukte, die einige Merkmale der Sprache der Migrantenjugendlichen aufnehmen und sie mit phonetischen, prosodischen, lexikalischen und morphosyntaktischen Besonderheiten kombinieren, die für das deutsche Publikum besonders „fremd“ wirken . 121 118 Z.B. „Prolltürke“, Der Tagesspiegel, 09.06.1999, S. 8. „Alles Döner - oder was? “, Stephan Brünjes über Kanak-Sprak in: „Fremd und doch vertraut - Junge Ausländer in Deutschland“, in: Politische Zeitschrift 102/ 2000, S. 16. 119 Vgl. die Berichterstattung über Erkan & Stefan, deren Sprache als „Döner-Deutsch“ und „Proll-Slang“ bezeichnet wird, z.B. in dem Artikel „radikal brontal“, in: FR -Magazin, 15.6.2000, S. 17. Im Tagesspiegel, 9.6.1999, werden die von ihnen dargestellten Figuren als „Prolltürken“ bezeichnet. 120 Vgl. z.B. die Filme „Kardeşler“ und „Yasemin“ und Zaimoğlus Roman „Abschaum“. 121 Vgl. Keim (2003b); hier werden Charakteristika der Sprache von Dragan & Alder aus den Comedy-Produktionen von Mundstuhl mit dem ethnolektalen Deutsch von Jugendlichen verglichen und der Gebrauch medialer Stilisierungen in Gesprächen von Ghettojugendlichen untersucht. Auch deutsche Jugendliche verwenden stilisierte Formen von „Kanaksprak“ zu Spiel und Ironie, das haben Androutsopoulos (2001a und b) und Deppermann (2007) gezeigt. II. Die „türkischen Powergirls“ 122 - biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess und die Herausbildung sozialer Orientierungen 123 Im folgenden Teil wird der Entwicklungsprozess der „türkischen Powergirls“ vom Kind bis zur jungen Erwachsenen beschrieben, so wie er aus den biografischen Interviews rekonstruiert und durch eine mehrjährige Beobachtung abgesichert werden kann. Dabei bildet die ethnografische Beschreibung der Lebenswelt (Teil I) den Rahmen für die analytische Rekonstruktion der Faktoren, die zur Konstitution der ethnischen Gruppe als einer Art Schicksalsgemeinschaft führten, die dann eine Dynamik in Gang setzte, in deren Verlauf es zu Devianz und Aggression gegenüber Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft kam. In der Darstellung geht es um die Typizität von Erfahrungen, wie sie aus den Schilderungen der Informantinnen erkennbar wird, und um die Typizität ihrer Verarbeitung. In den Schilderungen des Werdegangs vom Vorschulkind zum Schulkind, zur Jugendlichen und zur jungen Frau spielen einerseits Auseinandersetzungen mit der sozialen Welt der Migration, der Familie und der Umwelt eine entscheidende Rolle und andererseits Erlebnisse in den deutschen Bildungsinstitutionen. Diese Erfahrungen und die Deutungsschemata für ihre Verarbeitung, die den Gruppenmitgliedern in ihrem sozial-kulturellen Milieu angeboten wurden, ebenso wie die Verfahren und Strategien, die die Gruppenmitglieder einerseits für die Auseinandersetzung mit familiären Traditionen und andererseits für die Verarbeitung von Demütigung und Ausgrenzung durch Mehrheitsangehörige entwickelten, werden in den folgenden Kapiteln dargestellt. Kern der Darstellung ist die Rekonstruktion des sozial-kulturellen Selbstbildes als „Türkisches Powergirl“, das die Bezugsgröße für den typischen „Powergirl“-Stil bildet. Im Prozess des Erwachsenwerdens wird das Bild des „Türkischen Powergirls“ zu einem neuen, hybriden Selbstbild weiterentwickelt. Als junge 122 Während es ethnografische Arbeiten zu männlichen, türkischstämmigen Migrantenjugendgruppen gibt, vgl. Bommes (1993) und Tertilt (1996), sind weibliche Gruppen, die schulische und soziale Entwicklung ihrer Mitglieder und die sukzessive Herausbildung eines Selbstkonzepts bisher nicht beschrieben. 123 Wichtige Hinweise auf soziologische Konzepte, die für die folgende Beschreibung fruchtbar waren, verdanke ich Fritz Schütze und Ulrich Reitemeier; für kritische Anmerkungen und weiterführende Anregungen zu Analyse und Darstellung der folgenden Kapitel danke ich vor allem Ulrich Reitemeier. Die „türkischen Powergirls“ 132 Frauen definieren sich die ehemaligen „Powergirls“ jenseits ethnischer Kategorien als weder Deutsch noch Türkisch, sondern als etwas Neues. Während dieses Entwicklungsprozesses sind auch Veränderungen im typischen „Powergirl“-Stil zu beobachten. Sie werden als Ausdruck des veränderten Selbstbildes interpretiert. 1. Einleitung Alle Mitglieder der „türkischen Powergirls“ sind Kinder ehemaliger „Gastarbeiter“, die meisten in Mannheim geboren und alle im Stadtgebiet aufgewachsen. Mannheim ist ihre Heimat. Sie haben gelernt, das Leben in Deutschland als Chance für den beruflichen und sozialen Aufstieg und den Ausbruch aus traditionellen Frauenrollen zu begreifen. Sie wollen frei leben, sind bildungsorientiert, streben gute Berufe an und werden dabei von ihren Familien unterstützt. Die Mütter der „Powergirls“ kommen aus Dörfern und Kleinstädten Mittel- und Ostanatoliens, haben nur eine geringe Schulerfahrung und, mit Ausnahme einer Mutter (Migrantin der 2. Generation), keine Berufsausbildung. In Reaktion auf einschneidende Schulerfahrungen, die mit familiären Krisen zusammenfielen, schlossen die Mädchen sich zu den „türkischen Powergirls“ zusammen und grenzten sich scharf gegen die Welt der deutschen Schule ebenso wie gegen die türkische Migrantengemeinschaft ab. Die Gruppe entwickelte sich zu einer devianten Clique, die einige Jahre bestand und auseinanderbrach, als die Mädchen begannen, sich für Jungen zu interessieren. Doch die Kontakte unter den Gruppenmitgliedern blieben erhalten; nur die Aktivitäten und Treffpunkte änderten sich. Die „türkischen Powergirls“ entdeckten den Internationalen Mädchentreff (vgl. dazu Teil I, Kap. 3.2), engagierten sich dort und lernten in der deutsch-türkischen Leiterin eine neue soziale Leitfigur kennen. Als ich die Mädchen kennen lernte, waren sie zwischen 15 und 18 Jahren alt. Die schulische und berufliche Entwicklung der Mädchen verlief folgendermaßen: Nach der Grundschule schafften einige den Übergang ins Gymnasium, die anderen gingen in die Realschule, einige auch in die Hauptschule. Von den Gymnasiastinnen machten einige das (Fach-)Abitur, von den Realschülerinnen wechselten einige auf das Fachgymnasium, andere begannen eine Berufsausbildung. Die Hauptschülerinnen schafften ebenfalls den Übergang zur Realschule. Heute haben zwei der ehemaligen „Powergirls“ ein Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 133 Studium abgeschlossen, andere studieren noch oder haben eine mittlere Ausbildung erreicht. Der schulische und berufliche Aufstieg der Mädchen ist im Vergleich zu anderen Jugendlichen aus dem Stadtgebiet eine Erfolgsgeschichte. Für die Erfolgreichen selbst war der Weg sehr hart und mit Rückschlägen, Niederlagen und Umwegen verbunden. Die folgenden Kapitel schildern den Lebensweg der „Powergirls“, der vom Rande der Kriminalität bis hin zum schulischen und beruflichen Erfolg führte, und sie zeigen die Perspektive der Mädchen auf ihre Lebenswelt und auf ihren Werdegang. Materialbasis für die Darstellung sind biografische Interviews mit den Gruppenmitgliedern, außerdem Gespräche und Gruppendiskussionen bei den regelmäßigen Gruppentreffen. Die Interviews führte ich, nachdem ich die Mädchen bereits 2-3 Jahre kannte und ihnen vertraut war. Sie fanden entweder zuhause oder im Mädchentreff statt. Einige wollten das Interview zusammen mit ihrer besten Freundin machen mit der Begründung, dass die das so ähnlich erlebt hat wie ich. 2. Frühe Erfahrungen mit Bildungsinstitutionen 2.1 Im Kindergarten: Zwischen Begeisterung und Ausgeschlossensein Erinnerungen zu Erlebnissen in Bildungsinstitutionen reichen bis in die Kindergartenzeit zurück. Die meisten Informantinnen verbinden mit dieser Lebensphase positive Erinnerungen. Die Eltern bevorzugen den katholischen Kindergarten des Stadtteils, weil sie dort eher eine religiöse und streng moralisch ausgerichtete Erziehung vermuten als im städtischen Kindergarten. Die Kinder fühlen sich wohl, sind unter anderen Migrantenkindern (italienischen, kroatischen, portugiesischen und türkischen Kindern) und lernen neue Dinge kennen. Sie lernen auch etwas Deutsch, aber nicht viel, weil ja soviel Ausländerkinder da waren, die alle auch kein Deutsch konnten. Das Deutsch reicht gerade, um die Aufnahmetests in die Grundschule zu schaffen. Das Gefühl des Wohlbefindens im Kindergarten hängt vor allem damit zusammen, dass die Kinder ausschließlich mit anderen Migrantenkindern zusammen sind, die ähnliche soziale Erfahrungen und Fertigkeiten haben. Das zeigt ein Vergleich mit den Erfahrungen eines Kindes, dem es ganz anders ergeht. Es kommt in einen Kindergarten in einem anderen Stadtteil, in dem es keine Migrantenkinder gibt und in dem nur Deutsch gesprochen Die „türkischen Powergirls“ 134 wird. Für das Kind ist der erste Kontakt mit Deutschsprachigen eine nachhaltige Negativerfahrung: 19 AR: isch konnte kein wort deutsch und * ah des war ga“nz 20 AR: schlimm am anfang ↑ i/ isch äh war nischt im/ isch war 21 AR: scho“n im kindergarten aber für=ne seh“r kurze zeit 22 AR: weil isch- * irgendwie ← geschla“gen wurde: u: nd → 23 AR: ja“ von von: >von anderen mädschn oder< → isch wei“ß 24 AR: nisch isch war halt so hilflos ↑← * und hab mir 25 AR: dann auch- >äh< angefang in die ho“se zu machen ↑ Die Ausschlusserfahrung löst bei dem Kind ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit aus (isch war halt so hilflos, Z. 24), auf das es - diesen Schluss legt die sequenzielle Abfolge nahe - mit körperlichen Regressionserscheinungen reagiert. Nach diesem Desaster nimmt die Mutter das Kind aus dem Kindergarten zurück in die vertraute Welt zuhause. Die Opposition zwischen der sicheren türkischen Welt „drinnen“ und der deutschen Welt „draußen“, verbunden mit Erfahrungen von Sprachlosigkeit und Ausgeschlossensein, bleiben für das Kind weiterhin bestimmend: Es besteht den Schuleingangstest in Deutsch nicht und wird zurückgestellt: 84 AR: irgenwelsche tests musst=isch machen- * bin dann 85 AR: nischtäh: in die schule gekommen ↑ musst dann in 86 AR: die vo“rschule ↓ und des war so ← schre“cklisch → * 87 AR: auch für meine mutter Das Kind erfährt zum zweiten Mal seine sprachliche Unfähigkeit als Ursache des Scheiterns. Daraufhin kauft die Mutter deutsche Kinderbücher und lernt mit dem Kind etwas Deutsch. Beim zweiten Anlauf besteht es zwar den Aufnahmetest, doch in den ersten Unterrichtsstunden erlebt es sich wieder als sprachlich inkompetent und ist völlig ratlos: 114 AR: LEISE ← und dann in der schule ↑→ da konnt=isch 115 AR: wieder kein wort deutsch ↑ * und ich wusst=nisch 116 AR: was isch machen sollte ↓ Erst als es sich mit Kindern befreundet, die gut Deutsch können, beginnt es Deutsch zu lernen. Die frühen Erfahrungen des Scheiterns und des Ausgeschlossenwerdens aufgrund sprachlichen Unvermögens sind prägend für das weitere Leben; nach dem Abitur entscheidet sich die Informantin für eine Ausbildung als Grundschullehrerin, weil sie türkischen Kindern helfen will, dass sie solche Erfahrungen nicht machen müssen. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 135 Wie nachhaltig frühe Versagenserfahrungen wirken können, zeigt auch das Beispiel einer anderen Informantin: Sie kommt ohne ein Wort Deutsch in die Schule, bleibt immer unsicher in Deutsch und hat Probleme, frei zu formulieren, aus Angst sich zu blamieren und ausgelacht zu werden: 1680 YI: es liegt auch daran dass ich dann * äh dass ich 1681 YI: äh jahrelang ** in der klasse saß ↑ und nich so viel 1682 YI: äh mündlich beigetragen hatte weil ich immer ↑ * äh 1683 YI: dachte ich kann nich so gut oder wenn die anderen 1684 YI: gelacht hatten oder so ↑ des macht ja auch unsicher ↓ 1685 YI: wem=man etwas falsches grammatikalisches gesagt hat 1686 YI: (...) und ähm * des is schon von klein an irgendwie * 1687 YI: mit diesen problemen wächst du von klein an- * dass 1688 YI: sie dich auslachen dass der gedanke da is * äh ich 1689 YI: kann nich so gut sprechen * des is einfach ähm ** 1690 YI: von früher angesetzt Sprachliche Unsicherheit und Versagensangst, die in der frühen Kindheit angelegt werden, bestimmen das Verhalten während der Schulzeit und wirken sich nachteilig auf die Schulleistungen aus. 2.2 Die Herausbildung von schulischem Ehrgeiz in der Grundschule Nach den traumatischen Erlebnissen zu Beginn der Grundschulzeit entwickeln beide Informantinnen eine ähnliche Überlebensstrategie: Sie lernen alles auswendig, auch wenn sie es nicht verstehen: 119 AR: obwohl ich kein wort deutsch konnte ↑ * war isch 120 AR: bald die: be“ste in der klasse ↑ (...) 121 AR: die diktate ↑ die hab=isch a“lle ↑ * au“swendisch 122 AR: gelernt zuhause ↑ * mit pu“nkt und ko“mma ↑ * isch 123 AR: habgar nischt mehr gewartet bis komma kommt punkt 124 AR: kommt > → hab=isch alles schon ← </ isch wu“sste schon 125 AR: alles ↑ * hab alles auswendisch gelernt ↑ * Mit dieser Strategie gelingt es ihnen durch die erste Klasse zu kommen. Motiviert durch den Erfolg entwickeln sie schulischen Ehrgeiz, lernen Deutsch und schließen die Grundschule erfolgreich ab. Für beide Mädchen bleiben jedoch die Angst vor dem freien Formulieren und die Strategie des Auswendiglernens im weiteren Bildungsweg bestimmend und erweisen sich im Studium als ausgesprochen problematisch: Da sie alles schriftlich vorbereiten Die „türkischen Powergirls“ 136 und auswendig lernen, fällt es ihnen schwer, auf situative Anforderungen flexibel zu reagieren und sind deshalb in mündlichen Prüfungen weniger erfolgreich: 2387 YI: isch muss alles aufschreiben a“lles ↓ * bei 2388 YI: mündlischen prüfungen mach isch das auch so * 2389 YI: isch schreib auf was isch sagen will ↑ *und lern 2390 YI: das dann auswendisch ↓ * un wenn einer dann was 2391 YI: anderes fragt ↑ * eh dann/ isch weiß dann nisch 2392 YI: was isch sagn soll ↓ * un das is ganz blöd ↓ Die Erfahrungen des Sprachschocks und Versagens ebenso wie die daraus entwickelten Überlebensstrategien sind für die Informantinnen charakteristisch, die die Vorschul- und den Beginn der Grundschulzeit in Bildungsinstitutionen außerhalb des Migrantenstadtgebiets erleben. Ganz anders erleben Informantinnen diese frühe Lebensphase, die die Grundschulen des Stadtgebiets besuchen (Jungbusch- und Kepler-Grundschule). Sie haben vor allem positive Erinnerungen. Die Klassenzusammensetzung ist ähnlich wie im Kindergarten; es gibt kaum deutsche, aber sehr viele Migrantenkinder. Die Lehrerinnen erleben sie als freundlich und hilfsbereit, und die vielfältigen Anregungen und Unternehmungen in der Jungbuschschule, die damals schon Nachmittagsprogramme hatte, gefallen den Kindern. Auch wenn alle Schwierigkeiten in Deutsch haben, werden sie nicht als ausgrenzend erlebt. Die Mädchen sind begeisterte Schülerinnen (ich hab geheult wenn wir in die Türkei gefahrn sind, isch wollt lieber in die Schule); die meisten haben in der 4. Klasse gute Zeugnisse und eine bekommt sogar eine Auszeichnung. 124 Die Kinder werden von den Lehrenden für ihren Eifer gelobt und erleben, dass die Eltern stolz auf sie sind; auch im Freundes- und Verwandtenkreis werden ihre schulischen Erfolge bewundert. Durch die im Vergleich zu den Eltern guten Deutschkenntnisse werden sie in den Familien bald auch als Sprachvermittler wichtig. Die schulischen Erfolge, die Anerkennung und die zunehmende Bedeutung für die Familie erleben die Kinder als tolle Zeit: Sie fühlen sich als Lieblingstochter des Vaters oder als Stolz der Mutter und dürfen für sie spre- 124 Die guten Noten der Informantinnen in der Grundschule trotz schlechter Deutschkenntnisse hängen auch damit zusammen, dass die Schulen - wie das eine Lehrerin beschreibt - sich auf die Kinder einstellen und Abstriche vom Schulpensum machen, vgl. dazu oben Teil I, Kap. 3. Die Kinder wurden nach ihrem Schuleifer und ihren Lernfortschritten beurteilt. Beim Wechsel in Schulen außerhalb jedoch machten sich die Unterschiede in Leistung und Anforderung stark bemerkbar und führten zu folgenschweren Konsequenzen. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 137 chen, wenn sie mit Deutschen verhandeln. In dieser Lebensphase genießen die Kinder die Bedeutung, die sie in der Familie haben, und das verstärkt wiederum den Ehrgeiz, den sie für die Schule entwickeln. Eine Informantin formuliert das folgendermaßen: ich lernte nur für meinen Vater, ich wollte immer sehr gut sein, damit er stolz auf mich ist. Die Kinder lernen, dass schulischer Erfolg und Anerkennung in der Familie eng zusammengehören, und das treibt sie zu weiteren Erfolgen. Die Eltern der „Powergirls“ haben einen ausgeprägten Bildungswillen für die Kinder, der durch ihre Sozialisations- und Migrationserfahrungen motiviert ist. 125 Die Kinder sollen in Deutschland die Chance auf Bildung, die die Eltern in der Heimatregion nicht hatten, nutzen und gute Schulabschlüsse erzielen, damit es ihnen einmal sehr viel besser geht als es uns gegangen ist. Die Väter wollen nicht, dass die Kinder unter ähnlich harten Bedingungen leben und arbeiten müssen wie sie selbst, und die Erfahrung der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt als gering qualifizierte und „ausländische“ Arbeitskräfte motivieren den Bildungswunsch. Auch die Mütter haben einen starken Bildungswillen für die Töchter. Aufgrund ihrer geringen Bildung erleben sie sich in der Migration auf schmerzliche Weise als defizitär, können nur minder bewertete Jobs bekommen, wenig zum Familieneinkommen beitragen und spüren sehr deutlich die Geringschätzung durch die deutsche Umwelt. Eines der Mädchen schildert, dass sie, wenn sie schulmüde war, von der Mutter Vorhaltungen hörte wie z.B., dass sie alle Bildungschancen habe, die die Mutter nie hatte, die nicht zur Schule durfte, weil der Großvater es nicht erlaubte, da es im Dorf unüblich war, dass Mädchen zur Schule gingen. Aufgrund des eigenen Defizits ist der Wunsch nach Bildung für die Töchter tief verwurzelt: 452 YI: und sie hatte immer gemeint ähm weil wir (=Frauen 453 YI: der 1. Generation) nich zur schule gegangen sind * 454 YI: ähm * möchten wir ↑ ähum so * größer ham wir den 455 YI: wunsch ↑ * dass unsere kinder studieren ↓ auch die 456 YI: mädchen ↓ Außerdem erleben die Mütter, dass unter den Bedingungen der Migration familiäre Bindungen brüchiger und Ehen geschieden werden. Geschiedene Frauen stehen vor der Entscheidung, entweder in Deutschland in Armut zu leben oder zur Herkunftsfamilie in die Türkei zurückzukehren. 126 Da beide 125 Vgl. dazu ausführlich Teil I, Kap. 1.3. 126 Vgl. dazu ausführlich oben Teil I, Kap. 2. Die „türkischen Powergirls“ 138 Alternativen große Probleme mit sich bringen, ziehen es viele Frauen der ersten Generation vor, bei dem Ehemann zu bleiben, auch wenn die Ehe zerrüttet ist. Die Erfahrungen der Mütter, die sich aus finanziellen Gründen nicht scheiden lassen konnten, sind für die Mädchen prägend: 10 AR: meine mutter hat immer gesagt * du mu“sst abitur 11 AR: machen und * studieren * dass du geld verdienen 12 AR: kannst ↓ * wenn dein mann schlecht ist * kannst du 13 AR: ihn wegschicken * du musst nicht bei ihm bleiben * 14 AR: weil- * du hast selber geld ↓ Für diese Mutter ist eine akademische Bildung die Voraussetzung für die berufliche und soziale Eigenständigkeit der Tochter. Die Hochschätzung akademischer Bildung basiert auch auf einer kulturell verwurzelten Aufstiegsorientierung, die in vielen türkischen Migrantenfamilien als festes Denkmuster vorhanden ist. 127 Mütter sehen außerdem, dass eine akademische Bildung die Chancen der Tochter steigert, einen akademisch gebildeten Mann zu heiraten: 372 YI: meine mu/ mutter wollte auch ↑ * dass ich abitur 373 YI: mache ↑ dass ich dann studiere ↓ sie hat ähm * 374 YI: sie hat eine familie gekannt und diese familie 375 YI: ist ähzu bruch also * in die brüche gegangen ↑ 376 YI: weil der mann war gebildet und äh die frau war 377 YI: nicht gebildet ↓ * und die familie des mannes 378 YI: hat die frau niemals akzeptieren wollen ↓ * 379 YI: deshalb hat er sich scheiden lassen ↓ * 380 YI: und des hat meine mutter sehr beschäftigt 381 YI: und deshalb wollte sie ni“cht dass ihre töchter 382 YI: nicht gebildet sind ↓ Auch hier wird das hohe Prestige, das eine akademische Bildung hat, deutlich. Akademisch gebildete Migranten betrachten sich als Elite der Türken in Deutschland, und danach streben die Eltern für ihre Kinder. Außerdem versuchen sie ungleiche Partnerschaften zu verhindern. 128 In diesem Orientierungsrahmen ist die Äußerung der zitierten Mutter zu verstehen, wenn sie die ungleiche Bildung der Partner als Ursache für das Scheitern der Ehe betrachtet, und ihre Töchter zu akademischer Bildung drängt, weil sie für sie gebildete Ehemänner wünscht. 127 Vgl. dazu Teil I, Kap. 2. und 3. 128 Vgl. dazu ausführlich oben Teil I, Kap. 2.2 Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 139 2.3 Erste Schulkarriereentscheidungen und ihre Konsequenzen Während die meisten Mädchen sich an die Grundschulzeit als schöne Zeit erinnern, da sie den Erwartungen der Eltern entsprechen und von ihnen geliebt und gelobt werden, beginnen für einige mit dem Ende der Grundschulzeit die ersten innerfamiliären Probleme. Auslöser dafür ist vor allem die Diskrepanz zwischen den hohen Bildungserwartungen der Eltern und den Einschätzungen der Schule, die den Kindern keine Empfehlung für eine höhere Schule gibt. Einige Mädchen beginnen auch, sich gegen den Leistungsdruck der Eltern zu wehren. 129 In den Familien werden Schulprobleme in ethnischen Deutungsschemata bearbeitet. Die Kinder hören von den Eltern zwei Argumente: zum einen, dass sie die Chancen, die das deutsche Schulsystem bietet und die sie in der Türkei nicht gehabt hätten, nutzen müssen; und zum anderen, dass sie sich als Türken in Deutschland besonders anstrengen müssen, um Erfolg zu haben. Eine Informantin formuliert das folgendermaßen: 744 DI: also ich hab auch oft von meinem vater gehört * 745 DI: ähmja- und * ihr seid türkisch und ihr solltet 746 DI: euch anstrengen für euch ist das viel schwieriger 747 DI: und HOLT LUFT äh- und ihr müsst achtgeben dass ihr 748 DI: dann irgendwann auch n=guten job bekommt ↓ Hier wird deutlich, dass die Erfahrungen des Vaters als „Gastarbeiter“ und Türke bei der Ermahnung der Kinder eine Rolle spielen. Die rechtliche Stellung der Türken als Nicht-EU-Angehörige, ihre religiöse Sonderstellung als Moslems und die gesellschaftliche Ablehnung, die sie immer wieder erfahren, gehören zu den zentralen Themen in den Familien und werden als Begründung für die Forderung nach besonderen Anstrengungen angeführt. 130 Die Kinder, die die erwartete Gymnasialempfehlung nicht bekommen, erfahren, dass Beurteilungsunterschiede zwischen den Familien und der Schule 129 Der hohe Bildungswille ist für die Eltern der Powergirls charakteristisch und hat ganz wesentlich zu ihrem schulischen Erfolg beigetragen. Es gibt aber auch Eltern, denen die Ausbildung der Töchter nicht wichtig ist und die sie nach traditionellen Vorstellungen möglichst früh verheiraten wollen; vgl. dazu ausführlich oben Teil I., Kap. 2.3.1 130 Vgl. die exemplarische Darstellung der Erfahrungen eines türkischen „Gastarbeiters“, oben Teil I, Kap. 1.2.3. Die Ablehnung von Ausländern bis hin zur offenen Ausländerfeindlichkeit richtete sich in den 90er-Jahren in Deutschland vor allem gegen türkische Migranten. Die „türkischen Powergirls“ 140 ethnisch begründet werden. Eine Informantin, die nach Einschätzung der Familie die Voraussetzungen fürs Gymnasium geschafft hatte, erhält von der Schule nur die Realschulempfehlung: 312 AY: und die lehrerin hat meinen eltern gesagt * nee isch 313 AY: würd ihr eine realschulempfehlung geben * weil sie 314 AY: is ausländerin * sie wird * da: wahrscheinlisch 315 AY: nischt <klar> kommn und sie ist so ein ruhiges kind 316 AY: → also auf dem gymnasium wird sie dann bestimmt 317 AY: unterdrückt und so ← und es wird alles schwerer sie 318 AY: wird dort → bestimmt nicht klar kommen ← Die Darstellung enthält die Verarbeitung dessen, was die Informantin von den Eltern erfahren hat, und wie diese die damalige Situation erlebt und gedeutet haben. Danach traut die Lehrerin dem Kind aufgrund seiner ausländischen Herkunft nicht zu, dass es den Anforderungen im Gymnasium gewachsen ist, und empfiehlt die weniger anspruchsvolle Realschule. Die Mutter akzeptiert die „Ausländer“-Entscheidung nicht, meldet die Tochter zur externen Prüfung an, die die Tochter besteht. Damit deckt die Familie die Einschätzung der Lehrerin als Vorurteil auf, und die Tochter lernt, dass sie als „Ausländerkind“ mit Lehrervorbehalten und mit speziellen „Ausländerentscheidungen“ rechnen muss. Die geschilderte Erfahrung korrespondiert mit Erklärungen einiger Grundschullehrerinnen, die bei „Ausländerkindern“ für den langsamen Schulweg plädieren, und zunächst die Realschule empfehlen, da sie überzeugt sind, dass der direkte Übergang ins Gymnasium für Kinder aus bildungsfernen Familien zu schwierig sei. 131 Im vorliegenden Fall wird diese Lehrerargumentation jedoch widerlegt, das Mädchen schafft den Übergang ins Gymnasium problemlos: 376 AY: also isch bin se“hr gut in dieser schule klar 377 AY: gekommen ↑ und eh * es fiel mir ga“r nischt schwer ↓ * 378 AY: isch hab in deutsch immer ne zwei“ gehabt ↓ Auch eine andere Informantin ist überzeugt, dass sie den Übergang ins Gymnasium geschafft hätte, wenn die Lehrerin nicht dagegen argumentiert hätte: isch denk mittlere Reife und nischt mehr * das wird für sie sonst zu schwer. Heute bedauert sie den langsamen Weg, weil er langweilig war und zu lange dauerte. 131 Vgl. dazu auch oben Teil I, Kap. 3.3. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 141 Exkurs 13: Die Argumente, die den Informantinnen von den Schulen bei der Übergangsempfehlung genannt werden, ähneln den Ergebnissen von Gomolla/ Radtke (2002), die sie als „kulturbezogene Interpretationen“ der Schule zu Leistungen der Migrantenkinder folgendermaßen zusammenfassen: Als eine wesentliche Barriere für Migrantenkinder erweist sich die Einschätzung, dass perfekte Deutschkenntnisse für den Übergang auf ein Gymnasium unabdingbar sind. Migrantenkinder werden in den Elternberatungen und der Übergangsempfehlung in ihrer Leistungsfähigkeit herabgestuft, selbst wenn sie sonst gute Noten haben, mit dem Argument, dass sie immer noch „latente Sprachdefizite“ (ebd., S. 234) hätten, die sich im Gymnasium lernhindernd auswirken könnten. Nach Auffassung der Autoren werden in solchen Lehreräußerungen „sprachliche Mängel mit Begabungsdefiziten gleich gesetzt“ (ebd., S. 235). Außerdem betrachten die Schulen ein unterstützendes Elternhaus als unabdingbare Voraussetzung für den Zugang zu einer höheren Bildungsqualifikation: „Als zentraler Topos in den untersuchten Begründungsmustern [der befragten Schulen] erweist sich die These einer für den Schulerfolg erforderlichen kulturellen Passung zwischen Schule und Elternhaus“ (ebd., S. 252). Kann diese Passung nicht vorausgesetzt werden, werden dem Kind auf einer höheren Schule geringe Chancen attestiert. Als wichtige Bestandteile von kultureller Unvereinbarkeit zwischen Migranteneltern und Schule werden die mangelnden „häuslichen Lernbedingungen“ (ebd., S. 243), die mangelnde Mitarbeit der Eltern in der Schule und die überzogenen, unrealistischen Bildungswünsche der Eltern für ihre Kinder genannt. Zur Begründung für eine niedrigere Schulempfehlung wird auch das Argument, dass man die Schüler vor Frustration und Enttäuschung bewahren müsse, herangezogen (vgl. auch Teil I, Kap. 3). Ganz andere Probleme gibt es für ein Mädchen, das sich dem Bildungswillen der Eltern widersetzt und nicht die gewünschte Schullaufbahn einschlagen will. Sie hat in der Grundschule enge Freundschaften geknüpft, und als ihre besten Freundinnen die Hauptschulempfehlung erhalten, will auch sie in die Hauptschule. Das erlaubt der Vater aber nicht: 85 TE: weil es net gut is äh die hauptschule meinte er ↑ * 86 TE: weil er wollt dass isch also was besseres erreiche 87 TE: im leben ↓ * und i“sch wollt aber in die hauptschule ↑ 89 TE: net weil ischeh * zu dumm war oder so * sondern 90 TE: weil all meine freunde in der hauptschule warn ↓ Der Vater setzt durch, dass das Mädchen in eine Realschule außerhalb des Stadtgebiets wechselt. Ihr gefällt die Schule nicht, sie wird von den Klassenkameradinnen abgelehnt und beginnt die Schule zu schwänzen: 111 TE: dann: hab isch immer schule geschwänzt und so ↓ 112 TE: und die mädchen konnten misch nicht leiden * 113 TE: isch war nie mit den mädchen so zusammen isch Die „türkischen Powergirls“ 142 114 TE: konnt misch net mit denen verstehn weil die 115 TE: irgendwie zu tu“ssihaft warn ↓ Das Mädchen schließt sich eng mit türkischen Jungen zusammen, wird brutal und bald zur gefürchteten Außenseiterin: jeder hat Angst vor mir gehabt in der Klasse * die Mä“dchen. Sie bleibt sitzen, wechselt zur Hauptschule, langweilt sich und spielt den Clown in der Klasse (isch hab immer nur Scheiß gemacht), bis die Schulleitung dem Vater nochmals einen Schulwechsel empfiehlt. Durch die Schulprobleme bekommt sie auch zuhause Probleme; sie widersetzt sich dem nochmaligen Schulwechsel, doch der Vater setzt ihn mit Strenge und Prügeln durch. Das Mädchen erlebt die neuen Lehrer als eklisch, die sie nur schlescht behandeln. Die Probleme mit den Eltern bringen sie in immer größere schulische Schwierigkeiten, die wiederum die Probleme mit den Eltern verstärken. Eine derart belastende Situation - Stress zuhause und in der Schule - ist eine wesentliche Voraussetzung für den engen Zusammenschluss in der Gruppe der „türkischen Powergirls“. 132 3. Der Übergang zu höheren Schulen außerhalb des Stadtgebiets 3.1 Fremdheitserfahrung und „Schock des Lebens“ Der Übergang ins Gymnasium ist für fast alle Informantinnen problematisch. Sie treffen dort auf eine ethnisch und sozial anders zusammengesetzte Schülerpopulation und auf einen ganz anderen Typ des deutschen Lehrers. Zum ersten Mal erleben sie sich als Minderheit, erfahren die sozial-kulturellen Unterschiede zwischen der Migrantengemeinschaft und der Welt „draußen“ und erleben den negativen Blick auf Migrantenfamilien. Während die Lehrer in den Schulen des Stadtgebiets Rücksicht auf ihre Mehrsprachigkeit und ihre Probleme in Deutsch nahmen, treffen sie jetzt auf eine monolinguale Schüler- und Lehrerschaft, für die Abweichungen vom Standarddeutschen auffallend und Anlass für Ausgrenzungen sind. 132 Die Feststellung dieses Zusammenhangs, dass „Stress zuhause und in der Schule“ die Voraussetzung für die Bildung einer ethnischen Gruppe ist, bezieht sich zunächst nur auf die „Powergirls“. Mir fehlen Einblicke in Konstitutionsprozesse bei anderen Migranten- Jugendgruppen, vor allem bei Mädchengruppen. Zur Bildung einer türkischen Jungengruppe vgl. Tertilt (1996); die untersuchten Jungen gehören zu einer früheren Generation von Migrantenjugendlichen, die im Gegensatz zu den „Powergirls“ viel mehr hin- und hergerissen sind zwischen dem Leben in der Türkei und dem Leben in Deutschland. Außerdem zeigen religiös oder islamistisch geprägte Jugendgruppen, dass es auch ganz andere Lösungsmuster für Probleme von Migrantenjugendlichen gibt. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 143 Der Wechsel ins Gymnasium wird zum Schock des Lebens: Die Mädchen erleben zum ersten Mal, dass es reiche Kinder gibt, Kinder aus Arztfamilien * bisher hab isch nur Arbeiterkinder gekannt. Die deutschen Kinder haben schicke Klamotten, Markenklamotten, interessieren sich für andere Dinge und verhalten sich anders. Die Vorstellungen der Migrantenkinder dazu, wie sich Mädchen gegenüber Jungen verhalten, stehen im Gegensatz zum Verhalten der deutschen Mädchen, die mit Jungs ausgehen, auf Schulparties oder in die Schuldisco gehen, alles Dinge, die die Migrantenmädchen nicht dürfen. Die Deutschen wohnen in anderen Gebieten und beurteilen das Migrantenwohngebiet negativ. Daraufhin traut sich eines der Mädchen nach der Schule nicht mehr auf dem direkten Weg nach Hause, macht große Umwege aus Angst, die Deutschen könnten sehen, dass sie in Richtung Jungbusch läuft. In der Welt des Gymnasiums erleben sich die Migrantenkinder als fremd und ausgegrenzt: 649 YL: ja in der klasse ↑ hab ich mich schon 650 YL: ausgegrenzt gefühlt * in der klasse war ich die 651 YL: einzige ausländerin ↓ * im gymnasium- * da hab ich 652 YL: mich wirklich ausgegrenzt und äh <fre“md> gefühlt 653 YL: des war ein unangenehmes gefühl des/ noch nie hab 654 YL: ich mich so gefühlt ↓ * in/ also auf * der k-fünf 655 YL: schule 133 * hab ich mich nich so gefühlt Dieses unangenehme Gefühl erklärt sie mit der Minderheitenposition im Gymnasium, und das Ausgegrenzt-Sein macht sie an zwei relevanten Bereichen fest: an den sozialen Regeln der türkischen Gemeinschaft, deren Befolgung sie in die Isolation führt, da sie das, was deutsche Mädchen dürfen, nicht darf, und die sich über sie lustig machen; und an der Diskurswelt der Deutschen, von der sie sich ausgeschlossen fühlt, da sie kulturbedingte Anspielungen nicht verstehen und bei wichtigen sozialen Ereignissen nicht mitreden kann: 682 YI: sie haben ja auch immer bestimmte witze so insider 683 YI: witze gemacht und da hab ich nicht mitreden können * 684 YI: die deutsche kultur ist etwas eh fre“md gewesen für 685 YI: mich HOLT LUFT wenn sie von zu hause ↑ erzählen von 686 YI: weihnachten oder von ostern da kann ich ja nicht 687 YI: mitreden oder von ähm fasching ↓ 133 Die Informantin referiert mit „k fünf- Schule“ auf die Kepler-Grundschule im Stadtgebiet. Die „türkischen Powergirls“ 144 3.2 Sich allein gelassen fühlen Ebenso einschneidend wie die Erfahrung des Fremdseins ist für die Mädchen die Erfahrung, dass sie sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen, dass es niemanden gibt, dem sie sich anvertrauen können, der ihnen Rat und Unterstützung anbietet und der ihnen die neuen Erfahrungen erklären hilft. Der Gang zu den Eltern ist versperrt, da sie auf Schulprobleme mit Ermahnungen zu größeren Anstrengungen reagieren, die Kinder aber nicht wirklich verstehen und ihnen nicht helfen können. Eine Informantin schildert das folgendermaßen: 2830 HI: meine mutter die hat misch zwar geliebt ↑ die war 2831 HI: halt immer für misch da ↑ aber- ** d/ die war halt 2832 HI: nischt in meiner we“lt ↓ die die hat die sachen 2833 HI: ganz anders gesehn ↓ * ich konnt ihr halt auch 2834 HI: ni“schts [von der schule] erzählen ↓ Außerdem erleben die Kinder, dass die Beziehung der Eltern zur Schule auf einem kulturellen Missverständnis basiert. Aus der Perspektive der Eltern ist die Schule die Instanz, der sie ihr Kind völlig anvertrauen. Dafür gibt es in der türkischen Gemeinschaft die Formel eti senin kemiği benim (‘du bekommst das Fleisch, ich behalte die Knochen’), mit der der Vater sein Kind in die Hände des Lehrers übergibt und Erziehung und Ausbildung völlig an ihn überträgt. Diese Grundhaltung gegenüber der Schule ist unter der Landbevölkerung in der Türkei weit verbreitet und auch in weiten Teilen der 1. Migrantengeneration vorherrschend. 134 Diese Haltung impliziert auch, dass bei Schulproblemen zunächst dem Kind die „Schuld“ zugesprochen und das Lehrerurteil nicht hinterfragt wird, denn ein koca öğretmen (‘ein großer Lehrer’) lügt nicht. In dieses Orientierungsschema passt die Vorstellung nicht, dass auch die Situation in der Schule und der Lehrer Anteil an den Problemen des Kindes haben könnten. Nur das Kind wird getadelt, ein Informationsgespräch mit der Schule kaum in Erwägung gezogen. Die Zurückhaltung türkischer Eltern gegenüber der Schule missdeuten deutsche Lehrer häufig als mangelndes Interesse am Schulerfolg der Kinder, eine Deutung, die sich 134 Dies galt zumindest für die Eltern der „Powergirls“, die in den 70er-Jahren nach Deutschland kamen. In der Zwischenzeit hat sich die Haltung türkischer Eltern gegenüber der Schule geändert; vor allem Eltern der zweiten Generation sind nach meiner Beobachtung und nach Aussagen der Lehrenden kritischer gegenüber der Schule. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 145 negativ auf die Beurteilung der Kinder auswirkt. 135 Das haben die betroffenen Kinder beobachtet: Kinder, deren Eltern sich mit den Lehrern über Schulprobleme beraten, werden von den Lehrern besser und verständnisvoller beurteilt, als das bei ihnen je der Fall war. Diese Kinder profitieren vom schulischen Engagement ihrer Eltern. Ein weiterer Grund, warum die Kinder Schulprobleme nicht mit den Eltern besprechen, hängt mit dem sozialen Druck der türkischen Umwelt zusammen. Die Kinder wissen, dass die türkische Umgebung sehr genau beobachtet, ob diejenigen, die den Übergang in höhere Schulen geschafft haben, auch schulisch erfolgreich sind; sind sie es nicht, wird mit Häme und Hetze reagiert: 652 DI: und als ich dann in=ner vierten klasse angefangen 653 DI: hab zu erzählen ja wahrscheinlich komm ich aufs 654 DI: gymnasium dann gab=s immer so ähn * eifersüchtiges 655 DI: ähm äh → wie wie soll ich des erklärn ← also die warn 656 DI: nei“disch und die wollten=s einem gar nicht gönnen * 657 DI: zum beispiel unsre nachbarn ↑ die älteren kinder warn 658 DI: auf der hauptschule eines auf der realschule ↑ * 658 DI: und → die ham immer mit der tochter angegeben * <ja“ 660 DI: unsre tochter geht auf die real> * und als sie dann 661 DI: irgendwann gehört haben ← i“ch soll aufs gymnasium 662 DI: gehen * → da ham se gesagt ← ehm mal sehen wie lang 663 DI: sie dort bleibt * dort hinzugehen is ja gar nicht 664 DI: die kunst * ← dort bleiben ist die kunst → * die 665 DI: gönn=s einem gar nich ↓ Die Informantin erlebte, dass über ein anderes Mädchen auf dem Gymnasium ständig schlecht geredet wurde: 688 DI: über die ham se die ganze zeit gesagt ha die soll 689 DI: voll die schlechten noten haben ↑ * ach die kommt 690 DI: bestimmt bald auf die realschule * die ga“nze zeit 691 DI: gab=s solches gerede Mit solchen Erfahrungen im Hintergrund ist für die Kinder bei Schulproblemen der Weg zu den Eltern schwierig. Sie fürchten, dass sie deren hohe schulische Erwartungen enttäuschen, und die Eltern ebenso wie sich selbst der Kritik oder dem Gespött der türkischen Nachbarschaft aussetzen. 135 Vgl. dazu Teil I, Kap. 3.3; eine enge und gute Zusammenarbeit mit den Eltern ist für deutsche Lehrer (mit-)entscheidend, wenn sie über die Schulkarriere eines Kindes entscheiden. Die „türkischen Powergirls“ 146 3.3 Ethnische Deutung der Schulprobleme Die Darstellung zur Schule basiert nur auf den Schilderungen der „Powergirls“; d.h., aufgrund dieser Materialspezifik kann nur aufgezeigt werden, wie die Mädchen das Verhalten deutscher Lehrer erlebten, in welchen Deutungsrahmen sie es einordneten und zu welchen Konsequenzen ihre Deutungen führten. Da ich keine Gelegenheit hatte, auch mit den Gymnasiallehrkräften zu sprechen, kann über deren Erfahrungen mit den Informantinnen und über deren Einstellungen nichts gesagt werden. Im Folgenden geht es darum, zu zeigen, wie Kinder, die unter den geschilderten sozial-kulturellen Bedingungen sozialisiert sind und bereits ganz spezifische Erfahrungen gemacht haben, das Verhalten von Lehrenden auffassen und deuten; und es geht darum zu zeigen, zu welchen Konsequenzen die Verarbeitung negativer Schulerfahrungen führen kann. Beim Übergang ins Gymnasium ist das größte Problem, dass die Kinder mit schulischen Anforderungen konfrontiert werden, auf die sie nicht vorbereitet sind. Bereits in den ersten Arbeiten schreiben sie schlechte Noten und sind geschockt. Für eine Informantin ist der Eintritt ins Gymnasium der Schock des Lebens, für eine andere ist das erste Jahr im Gymnasium so schrecklich, dass sie nur noch erinnert, dass sie nichts verstanden hat und einfach sitzen geblieben ist. Die Kinder suchen nach Erklärungen für die dramatische Wendung in ihrer Schulkarriere: 838 AR: das hat mich se“hr schockiert weil ich halt immer 839 AR: an die einser gewöhnt war und ich hab mir dann 840 AR: auch immer die gedanken gemacht * wieso“ 841 AR: jetzt auf ein“mal ↑ * isch hab des nisch verstandn ↓ Erklärungen für das Schulversagen finden sie in der neuen Schule und dem neuen sozialen Umfeld, und die zentrale Hypothese bezieht sich auf den Minderheiten- und Ausländerstatus, der ihnen mit dem Schulwechsel schmerzlich bewusst wird: 894 TE: dass ich so schlescht in der schule war hat/ eh 895 TE: → isch glaub zu sechzisch prozent ← hat=s auch was 896 TE: damit zu tun * dass du au“sländer bist * isch bin 897 TE: mir si“scher ↓ Sie fühlen sich von den deutschen Lehrern als nicht dazu gehörig behandelt und zu auffälligen Kindern gemacht: Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 147 673 AY: es gab viele mischlinge so polnischdeutsche oder 674 AY: so * aber die ham eher zu den reinrassigen/ halt 675 AY: zu den deutschen gehört ↓ *also die hat man nicht 676 AY: so als ausländer behandelt * tü“rken waren nur die 677 AY: au“sländer * als türken waren nur Hylia * ich und 678 AY: noch ein mädchen da ↓ * sonst niemand ↓ Aus der Perspektive der Informantin dichotomisieren die Lehrenden die Klasse in einerseits die „Deutschen“, zu denen auch Kinder aus binationalen Familien mit einem deutschen Elternteil gehören, z.B. deutsch-polnische Familien, und auf der anderen Seite die „Ausländer“, und das sind nur die Türken. Im Beispiel werden nur die türkischen Mädchen durch die Lehrer ausgegrenzt. Auch eine andere Informantin macht die Erfahrung, dass Migrantenkinder durch die Lehrenden als „unfähig“ und „nicht dazu gehörig“ behandelt werden: 201 DI: ich bin davon überzeugt dass viele ah/ ich hab das 202 DI: gefühl ↑ also die lehrer geben den ausländern hier 203 DI: das gefühl * so in der art * ihr taugt nix * ihr 204 DI: gehört nicht hierher * auch wenn sie des * 205 DI: u“nbewusst machen * mit irgendwelchen du“mmen- 206 DI: beme“rkungen wo sie eigentlich gar nicht wi“ssen * 207 DI: was sie damit a“nstellen ↓ Sie schreibt den Lehrern keine offen ausländerfeindliche Haltung zu, sondern spricht von Gefühlen, die ein bestimmtes Lehrerverhalten bei ihr und ihren Freundinnen hervorruft und von Überzeugungen, zu denen sie gekommen ist. Für sie spielt es keine Rolle, ob die dummen Bemerkungen unabsichtlich oder absichtlich gemacht werden; wichtig ist nur, was sie auslösen: Sie sieht sich und andere Migrantenkinder zurückgewiesen, abgewertet und als unfähig beurteilt. 136 136 Interessant ist die Erfahrung einer anderen Informantin: Auch sie war zunächst in dem Gymnasium, in dem alle „Powergirls“ waren, und hat dort dieselben Erfahrungen gemacht. Nach der 11. Klasse wechselte sie in ein anderes Gymnasium. Dort machte sie ganz andere Erfahrungen: Sie war die einzige Migrantin in der Klasse und viele Lehrer waren nett und unterstützend. Mit den deutschen KlassenkameradInnen kam sie gut zurecht, mit einigen war sie befreundet. Sie fühlte sich angenommen und nicht ausgeschlossen. Auch dort gab es einige Lehrer, die negative Bemerkungen über Türken machten, z.B. die sind zu doof um Deutsch zu lernen und Abi zu machen; oder was suchen die Die „türkischen Powergirls“ 148 Auf die erlebte Ausgrenzung durch deutsche Lehrer reagieren die Kinder zunächst mit Fassungslosigkeit, dann schweigen sie und ziehen sich aus dem Unterrichtsgeschehen zurück. Das Schweigen wird dadurch begründet, dass das Kind sich als Ausländer (noch) keine Gegenwehr zutraut. Den Weg von der Fassungslosigkeit zum Schweigen schildert eine Informantin im Zusammenhang mit einem einschneidenden Erlebnis. Als sie zu einem Schulausflug zu spät kommt, wird sie von der Lehrerin vor der ganzen Klasse blamiert: 641 AY: und ich stand vor der ganzen klasse * un=die klasse 642 AY: war ruhig ↓ * hat sie mich so angekuckt * hat sie 643 AY: gemeint oh sind kein busse gekommen oder warst du 644 AY: nur zu blöd um den weg zu finden ↑ ** na ja dann war 645 AY: ich erst mal geschockt un so ↑ * hab ich mein ticket 646 AY: genommen * ich so wie“ bitte ↑ * na ja warst du zu 647 AY: blöd um den weg zu finden ↑ ** ich so ne das gibt=s 648 AY: jetzt nicht hab ich mir gedacht ↓ (...) also ich/ ich 649 AY: war ruhig weil ich/ als ausländer kann man nicht 650 AY: so viel sagen wie ein deutscher schüler ↓ * also 651 AY: das kann man nicht das ist mir aufgefallendann 652 AY: hab ich mich auf mein platz gesetzt Die Lehrerin verbindet die Rüge für den aktuellen Fehler mit einem generellen Angriff auf die kognitiven Fähigkeiten des Kindes: oder warst du nur zu blöd um den weg zu finden ↑ (Z. 643f.). Das Mädchen ist geschockt über den Angriff (Z. 645); doch es reagiert nicht mit einer wütenden Zurückweisung oder einem Gegenangriff, sondern - und hier baut die Erzählerin einen wirkungsvollen Kontrast zwischen dem aggressiven Lehrerverhalten und ihrem eigenen Verhalten auf - sie bittet in höflicher Form um Aufklärung: ich so wie bitte ↑ (Z. 646). Als die Lehrerin den Angriff wiederholt, verstummt das Kind. Es drückt seine Fassungslosigkeit nur in einem inneren Monolog aus (ich so ne das gibt=s jetzt nicht hab ich mir gedacht, Z. 647f.) und schweigt (also ich/ ich war ruhig, Z. 648f.). Die Begründung für das Schweigen weil ich/ als Ausländer kann man nicht so viel sagen wie ein deutscher Schüler (Z. 649f.) erfolgt im ethnischen Deutungsrahmen: Es ist die im Regelformat formulierte Erfahrung, dass Lehrer ausländische Schüler anders behandeln als deutsche, und ausländische Schüler vorsichtig sein müssen, d.h., das Mädchen hat gelernt, dass für deutsche Schüler andere Interaktionsregeln auf=m Gymnasium, die nehmen anderen nur die Plätze weg, u.Ä. Doch für sie hatten solche Äußerungen keine große Bedeutung, weil sie viele positive Erfahrungen gemacht hatte. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 149 gelten als für sie. Daraus zieht sie die Konsequenz: also ich/ war ruhig (…) dann hab ich mich auf mein platz gesetzt (Z. 648f., 651f.). Dieses Beispiel zeigt wieder das bisher festgestellte Verarbeitungsmuster: Abwertende Lehreräußerungen werden, auch wenn sie nicht explizit ethnisch markiert sind, im ethnischen Rahmen gedeutet und führen zu Konsequenzen, die ethnische Unterschiede bestätigen und verfestigen. Im Anschluss schildert die Informantin, dass sie sich damals zur Gegenwehr noch nicht fähig fühlte: vielleicht war ich damals noch zu blöd oder zu entmutigt * ich weiß es nicht mehr (Z. 703). Auch bei anderen Gelegenheiten schweigt sie und lässt Abwertungen still über sich ergehen. Gestützt wird sie nur durch die beiden türkischen Mitschülerinnen, mit denen sie bald eine enge Freundschaft verbindet. 4. Familiäre Krisen und ihre Bewältigung 4.1 Abwendung vom Leitbild der „traditionellen jungen Türkin“ Die tief greifenden Erfahrungen, die die Kinder mit einem Wechsel in Schulen außerhalb des Stadtgebiets zu bewältigen haben, fallen zusammen mit den biologischen Veränderungen in der Phase der beginnenden Pubertät, der Phase der Abgrenzung und Ablösung von den Eltern. Die besondere Spezifik dieser Lebenssituation ist, dass beide Prozesse eine ethnisch-kulturelle Dimension haben: Der Wechsel in die Schule außerhalb des Stadtgebiets wird als ein Wechsel in die „Welt der Deutschen“ erlebt, und der Ablöseprozess von den Eltern wird zur Abwendung von Normen und Werten der Migrantengemeinschaft. Mit Beginn der Pubertät kämpfen die Mädchen also an zwei Fronten: Zum einen gegen die Welt der deutschen Schule, von der sie sich abgelehnt fühlen (vgl. dazu unten Kap. 5.); und zum anderen gegen die Welt der Eltern, gegen deren Erwartungen und Vorgaben sie revoltieren. Zum Konflikt mit den Eltern das folgende Beispiel: 751 DI: also so was hat mich immer voll angekotzt (...) 752 DI: und da hat sich so * dieser eh spruch in 753 DI: anführungszeichen gebildet * ← so typisch 754 DI: türkisches gelawer → * des kann ich nich mehr hörn ↑ 755 DI: ja es/ es gibt viele sachen die ich einfach nicht 756 DI: mehr hören kann und die werden dann als typisch 757 DI: türkisches gelawer abgestempelt von uns * wo ich 758 DI: dann sag so=n scheiß will ich gar net hörn Die „türkischen Powergirls“ 150 Der Konflikt mit den Eltern wird nicht im Interpretationsschema des Konflikts zwischen „alt“ und „jung“ gedeutet, sondern im Rahmen einer kulturellen Auseinandersetzung. Dabei wird die Konfliktpartei der Eltern als die „türkische“ Seite bezeichnet, auf die Seite der Tochter wird nur durch das Pronomen ich bzw. uns referiert. Mit dieser Konfliktdeutung zeigt die Informantin, dass sie sich im Prozess der Abgrenzung zur sozial-kulturellen Welt der Eltern befindet. Was als typisch türkisches Gelawer bezeichnet wird, bezieht sich auf Verhaltensanforderungen und -erwartungen, die in den traditionellen Vorstellungen der Eltern gründen und die in Teil I ausführlich dargestellt wurden, vor allem Anforderungen, die ein ehrbares türkisches Mädchen erfüllen muss, dem die Familienehre und die eigene Ehre heilig sind. 137 Mit dem Eintreten in die Welt des Gymnasiums erleben die Mädchen, welche Freiheiten die deutschen Mädchen haben, und ihnen werden die Beschränkungen bewusst, die ihnen in der türkischen Gemeinschaft mit Beginn der Pubertät auferlegt werden. Die Eltern orientieren sich an dem Leitbild der „traditionellen jungen Türkin“, die ihr Handeln nach den Wünschen der Eltern ausrichtet. Weitere charakteristische Eigenschaften sind „Keuschheit“ und „Bescheidenheit“. Ein Leben außerhalb des Hauses oder Kontakte zu Jungen sind strikt untersagt, und Bescheidenheit und Respekt werden durch Unterordnung unter ältere und männliche Familienmitglieder ausgedrückt. Das ist das traditionelle Leitbild für junge Frauen, nach dem die meisten türkischen Familien im Stadtgebiet ihre Töchter erziehen wollen, auch die Eltern der Informantinnen (vgl. Teil I, Kap. 2.3.1). Die Mädchen jedoch, die erleben, dass die Deutschen sie auslachen, weil sie vieles nicht dürfen, und sie als rückständig und dumm ablehnen, beginnen gegen das Leitmodell der Eltern zu revoltieren. Sie lehnen die typisch weiblichen Eigenschaften „Gehorsam“, „Unterordnung“ und „Zurückhaltung“ ab: 01 AR: die (=türkische Mädchen) sind so furschbar 02 AR: unterwürfig * bedienen die älteren * servieren tee ↓ 03 AR: * gehn wieder still in die ecke ↓ des find=isch 04 AR: einfach schre“cklisch ↓ Oder: 01 DI: sie hat immer schön brav äh die dienerin gespielt ↑ * 02 DI: hat immer tee gebracht und gebäck gebracht und die 03 DI: leute bedient ↑ und ähm saß immer brav zu hause ↑ * 137 Vgl. dazu ausführlich oben Teil I, Kap. 2.2; vgl. dazu auch unten Teil III, Kap. 4.1. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 151 04 DI: hat immer des getan was die eltern gesagt haben * 05 DI: (...) und deswegen hab isch sie vo“ll gehasst * 06 DI: und sie misch auch In diesem Beispiel führt die Sprecherin konstituive Eigenschaften und Handlungsweisen der Kategorie der „traditionellen jungen Türkin“ an: tun was die Eltern sagen (vgl. Z. 04), sich auf ein Leben innerhalb des Hauses beschränken (saß immer brav zu hause, Z. 03) und den Älteren Respekt bezeugen (hat immer schön brav äh die dienerin gespielt ↑ , Z. 01). Der Ausdruck negativer Emotionen beim Sprechen über Personen dieser Kategorie ist direkt und drastisch isch hab sie voll gehasst (vgl. Z. 05), die tiefe Abneigung ist wechselseitig und sie misch auch (Z. 06). Auch im nächsten Beispiel wird die Ablehnung der Kategorie der „traditionellen jungen Türkin“ deutlich: 1348 DI: des kann ich absolut net haben so <wei“ber die zu 1349 DI: haus hocken ↑ HOLT LUFT äh immer nur das machen was 1350 DI: die eltern sagen ↑ > und immer der mutter beim/ im 1351 DI: haushalt helfen * und brav zu hause auf nen ehemann 1352 DI: warten * <ha des kann ich absolu“t net haben> Die Ablehnung kommt in Charakterisierungen wie weiber die zuhaus hocken und in Bewertungen wie ich kann des absolut net haben sehr deutlich zum Ausdruck. Außerdem wird eine weitere Eigenschaft der „traditionellen jungen Türkin“ genannt: Sie wird bei der Wahl des Ehemanns nicht selbst aktiv, sondern wartet, wen die Eltern für sie nach Hause einladen (brav zu hause auf nen ehemann warten, Z. 1351f.). Frauen, die sich in die vorgegebene Rolle einpassen und auch dann nichts unternehmen, wenn es ihnen schlecht geht, rufen Abscheu hervor: 2367 HÜ: frauen die des alles- HOLT LUFT ähm über sich 2368 HÜ: ergehen lassen ↓ (...) die einfach alles so 2369 HÜ: hinnehmen so wie=s ist ↑ * die ähm halt auch 2370 HÜ: vielleicht scheiße leben aber die/ die des 2371 HÜ: einfach so hinnehmen ↑ die einfach sagen so ist 2372 HÜ: des nun mal ↑ und ich kann nichts dran ändern * 2373 HÜ: die find ich einfach <a“sozial> Die Mädchen revoltieren gegen die selbstverständliche Unterordnung (alles über sich ergehen lassen), das widerspruchslose Hinnehmen (einfach alles hinnehmen so wie=s ist) und die völlige Passivität und Ergebenheit (die einfach sagen so ist des nun mal und ich kann nichts daran ändern). Die Mädchen beginnen sich in Oppostion dazu zu verhalten: Sie widersetzen sich den Die „türkischen Powergirls“ 152 Vorschriften der Eltern, unterlaufen Ausgehverbote, verhalten sich weder bescheiden noch zurückhaltend, sondern fordernd, laut und aggressiv. Sie kleiden sich aufreizend, schminken sich, tragen die Haare lang und offen, lassen sich piercen, treffen sich mit Jungen und gehen zur Schuldisco. Damit rufen sie heftige Gegenreaktionen der Eltern hervor, die versuchen, sie durch größere Strenge wieder unter Kontrolle zu bringen. Das treibt die Mädchen zu weiteren Anstrengungen in die Gegenrichtung, und sie entwickeln zwei Strategien: einerseits das Verheimlichen bzw. „Doppelleben“ und andererseits die „offene Rebellion“. Die Wahl der einen oder anderen Strategie hängt mit den familiären Bedingungen und auch mit individuellen Voraussetzungen zusammen. Beide Strategien können zur Ressource für die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses werden: Das Doppelleben kann eine wichtige Lernerfahrung sein, um sich auf ein Leben in zwei Welten vorzubereiten und soziale Kompetenzen in beiden zu erwerben. Die offene Rebellion kann eine wichtige Erfahrung sein, um die eigene Durchsetzungsfähigkeit auszuprobieren und weiter zu entwickeln. Mit beiden Strategien können Erfahrungen des Wachsens und Reifens verbunden sein, wie das bei den „Powergirls“ der Fall war. Dass beide Strategien aber auch mit Scheitern verbunden sein können, zeigen die wesentlich weniger erfolgreichen Entwicklungen vieler männlicher Migrantenjugendlicher. 138 Das lässt vermuten, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede und Konsequenzen bei der Verwendung beider Strategien gibt. Sie scheinen bei Jungen eher als bei Mädchen zu Gewalttaten mit schweren Körperverletzungen und zu Gefängnisstrafen zu führen, 139 die bei Mädchen sehr selten sind. Welche Chancen und Risiken mit der Verwendung beider Strategien für die „türkischen Powergirls“ verbunden sind, werde ich im Folgenden darstellen. 138 Vgl. dazu die unveröffentlichte Diplomarbeit von Ucan (2002), die das Doppelleben von drei männlichen „Ghettojugendlichen“ in Mannheim beschreibt und deren Entwicklung zu Gewalttaten und Gefängnisstrafen nachzeichnet; auch einige Brüder der „Powergirls“ haben bereits Verurteilungen wegen Drogen- und Gewaltdelikten mit Gefängnisstrafen hinter sich. 139 Vgl. Gür (1990), vgl. Medienberichte über Gefängnisstrafen für jugendliche Gewalttäter; vgl. auch die Untersuchungen von Bommes (1993), von Heitmeyer et al. (1997) und von Tertilt (1996) zu männlichen Migrantenjugendlichen, die entsprechende Erfahrungen gemacht haben; zu den Ghetto-Jungen vgl. oben Teil I, Kap. 4.2. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 153 4.2 Doppelleben Die Eltern reagieren auf den Freiheitsdrang der Mädchen mit härteren Restriktionen aus Angst, dass ihnen in der deutschen Umwelt etwas passiert, dass sie falsche Freunde kennen lernen, dass sie den falschen Jungen kennen und lieben lernen, dass sie sich von den sozialen und religiösen Werten der Eltern entfernen, in Tanz- und Sportgruppen gehen oder sich mit anderen in der Disco treffen. Die Mütter sind überängstlich und einschränkend, die Väter streng und hart. Eine Informantin meint, ich musste immer mit der Angst meiner Mutter leben * des is immer ihre Angst gewesen (...) ich glaube sie hat immer gedacht dass ich den falschen Mann treffe (YI, Z. 1191); eine andere schildert die Reaktionen des Vaters: 1561 AR: mein vater war streng * der wollt halt nicht dass 1562 AR: ich ausgehe * also dass ich net so * spät draußen 1563 AR: bin und bla bla aber des eh * des hat mich schon 1564 AR: seh“r gestört damals- * und der wollte einfach 1565 AR: nicht dass ich * halt amerikanische musik hör ↑ * 1566 AR: (...) er konnt es halt einfach nicht * ertragen 1567 AR: dass ich mich verändere * dass ich nach meinem 1568 AR: eigenen kopf * mir irgendwelche sachen anhöre * 1569 AR: und da“s mache was i“ch will ↓ * des konnt er nicht 1570 AR: ertra“gen ↓ Die Eltern mischen sich in die Freundschaften der Kinder ein. Während sie in der Grundschule die italienische, kroatische oder portugiesische Freundin der Tochter noch tolerierten, schränken sie jetzt den Kontakt auf türkische Gleichaltrige ein, aus Angst vor fremden nicht-muslimischen und nicht-türkischen Einflüssen: 3444 DI: ich kann mich an zeiten erinnern dass ich äh ich 3445 DI: hab ne ähm n=italienische freundin gehabt * in der 3446 DI: fünften klasse * da hat er (=der Vater) seine 3447 DI: bedenken gehabt * ähm sie ist christin ↑ * sie ist 3448 DI: keine türkin und sie könnte dich ähm * in schlechte 3449 DI: wege führen sag ich mal in anführungszeichen so in 3450 DI: der art * → also so m/ ← türkisches scheißgelaber 3451 DI: LACHT solche sachen ja >und< hat mir auch eine 3452 DI: zeitlang verboten mit ihr kontakt zu haben ↓ Als die Mädchen beginnen mit Jungen zu flirten, werden die Beziehungen zu den Eltern noch gespannter und die Divergenzen zwischen deren traditionellen Vorstellungen und dem Drang der Kinder nach neuen Freiheiten immer Die „türkischen Powergirls“ 154 größer mit der Konsequenz, dass die Kinder mit einem Doppelleben beginnen. Diesen Prozess schildert eine Informantin im Zusammenhang mit einem Erlebnis: Als sie 12 Jahre alt war, gingen sie und ihre Freundin mit Jungen zum Schwimmen; die Jungen umarmten die Mädchen, und des hat uns halt gefallen weil des was neues war. Sie wird vom Bruder beobachtet, der verpetzt sie beim Vater und sie erhält eine rigorose Strafe: 1615 AR: und mein bruder hat mich verpetzt ↓ LACHT LEISE 1616 AR: oh da war mein vater ganz arg sauer da ich hab 1617 AR: dann ein jahr hausarrest gekriegt (...) * ich 1618 AR: wurd kontrolliert ↑ ich durft auch nicht mit 1619 AR: Milena(=portugiesische Freundin) spielen * der war 1620 AR: dagegen ↑ er hat halt immer gekuckt wann ich aus der 1621 AR: schule komme ↑ HOLT LUFT und er hat gemeint du 1622 AR: hast um äh fünf vor eins aus du musst dann 1623 AR: spätestens fünf nach eins da sein ↑ (...) LACHT LEISE 1624 AR: ich hatt es nicht verstanden ↑ na hab ich halt/ äh 1625 AR: da hab ich angefangen meine eltern anzulügen Mit Selbstironie führt sie auf, was sie sich alles einfallen ließ, um die Eltern zu hintergehen: Sie veränderte den Stundenplan, gab Nachmittagsunterricht an oder gab vor, sich in AGs oder in Schülergruppen zu engagieren und erfand Nachhilfestunden für die Freundin. In der gewonnenen Zeit ging sie zum Sport, zum Schwimmen und traf sich mit Jungen in Cafés und Jugenddiscos. Das Versteckspiel mit den Eltern trieb sie erfolgreich bis zur Oberstufe. Auch andere Informantinnen konnten sich der strengen elterlichen Kontrolle nur durch Lügen entziehen: 2705 DI: das ging ja nur mit lügen * isch konnte ja net 2706 DI: sagen du mama ich sitz bis um vier in dem 2707 DI: wolfsplatz (=Treffpunkt mit Jungen) da rum ↓ *ich 2708 DI: hab gesagt ich hab bis um vier schule ↑ Sich einen Freiraum außerhalb der Familie zu verschaffen war für die Mädchen mit Ausreden, Lügen und Vortäuschen verbunden. Kamen die Eltern hinter die Lüge, mussten die Mädchen mit harten Strafen rechnen. Das wird in der folgenden Schilderung deutlich. Das erste Treffen mit einem Jungen, für den zwei Mädchen schwärmten, endete mit Familienkrach und Prügel: 2735 DI: der Hasan war bei uns auf der schule und dann sind 2736 DI: wir zusammen * an irgend einen see gegangen (...) Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 155 2737 DI: ja > → und und ← < da hat ich doch endlich den Hasan * 2738 DI: da konnt ich ja nicht nach hause gehn ↑ je“tzt * 2739 DI: diese gelegenheit konnt ich ja nicht verpassen ↓ 2740 DI: → na wir waren bis ← spät abends dann * zusammen alle 2741 DI: drei Serap ich und Hasan (...) und Hasan und ich ham 2742 DI: uns dann geknutscht ↓ * so ↓ * und dann wurd=s glaub 2743 DI: isch elf oder zwölf isch weiß nicht mehr ↓ * und 2744 DI: dann bin isch nach hause gekommen und isch wurd die 2745 DI: ganze zeit gefragt wo“ warst du * und isch hab die 2746 DI: ganz zeit gelogen ↓ * isch hab gesagt wir ham uns 2747 DI: verlaufen (...) des ham die uns natürlich nich 2748 DI: geglaubt und * isch hab schläge gekriegt mein gott 2749 DI: hab isch schlä“ge gekriegt * und isch wurd dauernd 2750 DI: gefragt wo warst du wo warst du * isch hab dauernd 2751 DI: diese äh: frage mit dem wa/ mit dem verlaufen 2752 DI: beantwortet ↓ und dann kam noch Seraps vater * es 2753 DI: gab noch ein rie: sen terror ↓ Doch auch nach dieser Erfahrung geben die Mädchen ihr Doppelleben nicht auf, sondern werden noch geschickter im Verheimlichen und raffinierter in ihren Ausreden. Die Informantin z.B. unterhält hinter dem Rücken der Eltern über Jahre hin eine sehr enge Beziehung zu einem jungen Mann, den die Eltern strikt abgelehnt hätten. Die Beziehung kann sie nur verbergen, weil sie sich mit dem Jungen außerhalb des Stadtgebiets trifft, in einer Umgebung, in der sie niemand kennt. Das Doppelleben bringt den Mädchen nicht nur neue Freiheiten und neue Erfahrungen, sondern ist auch äußerst anstrengend, da es ständige Wachheit und große Gedächtnisleistungen erfordert. Das Risiko entdeckt zu werden ist in den engen Netzwerken des Stadtgebiets sehr groß, und die Angst vor Strafe immer präsent. Um das Doppelleben über Jahre erfolgreich durchhalten zu können, müssen die Mädchen in ihren Lügen konsequent sein, sich ständig in verschiedenen Bezugsrahmen bewegen, die sie nicht durcheinander bringen dürfen, müssen ständig beobachten, wie soziale Netzwerke verlaufen oder sich verändern, und wer wem etwas weiter erzählen könnte. Diese enorme Anstrengung verstärkt bei allen die ohnehin großen schulischen Probleme, die Noten verschlechtern sich noch mehr, und fast alle bleiben sitzen. Aus der Rückschau jedoch sind sie sicher, dass das erfolgreiche Durchhalten des Doppellebens sie schnell in Reaktionen, sozial wach, und insgesamt selbstbewusst gemacht hat. Die „türkischen Powergirls“ 156 Ein wesentlicher Teil des Doppellebens spielt sich in der Gruppe der „türkischen Powergirls“ ab, die die Mädchen in dieser Lebensphase gründen (vgl. unten Kap. 5.). 4.3 Offene Rebellion Die zweite Strategie im Kampf gegen die einengenden Vorgaben der Eltern ist die offene Rebellion. Auch für die Informantinnen, die über Jahre hinweg ein Doppelleben führen und vor den Eltern ihr wildes und freies Leben verbergen, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie offen gegen die Eltern rebellieren. Die offene Rebellion ist mit anderen Konsequenzen verbunden als das Doppelleben und erfordert ein hohes Maß an Widerstandskraft. Die Rebellion gegen Vorgaben der Eltern bedeutet in Familien, die tief in der Migrantengemeinschaft verwurzelt sind, nicht nur innerfamiliären Streit, sondern immer auch die Auseinandersetzung mit der türkischen Gemeinschaft und den in ihr geltenden Normen und Regeln. Diese Erfahrung beschreibt am eindringlichsten Teslime. Ihr Widerstand gegen die Eltern beginnt, als sie sich weigert, die vom Vater gewünschte Schullaufbahn einzuschlagen. Als sich die Situation zuhause zuspitzt (isch hab immer Schläge gekriegt), beginnt sie sich auf der Straße herumzutreiben: un so bin isch * auch irgendwie in die schleschte Szene reingekommen. Sie beginnt zu kiffen, zu klauen, verweigert sich in der Schule und wird immer auffälliger. Das verschärft den Konflikt mit den Eltern, und sie hat fast jeden tag stress zuhause. Auch die Geschwister, alle in höheren Schulen, beginnen sie als Hauptschülerin und Schulversagerin abzulehnen: 1074 TE: isch wollt nie nach hau“se kommen- * weil * i: sch/ 1075 TE: eh/ die ham misch genervt * isch wollt die net sehn 1076 TE: (...) es is auch zu hause so: wenn was verloren 1077 TE: gegangen is wer war=s ↑ TE ↓ * is was passiert ↑ * TE ↓ 1078 TE: is was los ↑ TE ↓ * isch war nu“r der buhmann 1079 TE: sogar meine geschwister äh <hau“ptschülerin * du 1080 K: GEHÄSSIG 1081 TE: hauptschülerin oh: halts mau“l du hau“ptschülerin> * 1082 K: # Mit der Zeit begreift sie „Versagen“ als Lebensmuster, beginnt sich und ihre Familie zu hassen und rutscht immer weiter ab: 1153 TE: isch hab * immer so enttäuschungn gehabt * isch 1154 TE: hab nie irgend=was gehabt wo isch * angefangn hab Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 157 1156 TE: und schön zu ende gebracht hab * da hab isch 1157 TE: halt uns geha“sst über alles * da hab isch halt 1158 TE: auch * geklaut und so dann war=s auch mit der 1159 TE: schule/ dann hat sich alles so verschleschtert ** 1160 TE: da/ hab=sch: * nur noch gekifft Das Leben ändert sich erst als sie ihren Freund kennen lernt. Er hat großen Einfluss auf sie, bringt sie von der „schlechten Szene“ weg, sie hört auf zu klauen und zu kiffen und verbessert sich in der Schule. Doch durch die Beziehung zu dem Freund fangen für die damals Vierzehnjährige neue Probleme an: Da sie nicht verlobt ist, verstößt die Beziehung zu dem jungen Mann gegen zentrale Werte der türkischen Gemeinschaft (vgl. dazu oben), gegen „Ehre und Ansehen“, über deren Aufrechterhaltung die Familien, gerade unter den Gefährdungen der Migration, besonders rigoros wachen. 140 Der Vater verbietet ihr den Umgang mit dem Freund, und das Verbot wird kulturell begründet: 2307 TE: da ham die rausgekriegt dass isch=n freund hab ↓ und 2308 TE: bei türken is=es voll schlimm wegen sto“lz und e“hre 2309 TE: * des=s voll blöd bei uns * bei uns zählt stolz und 2310 TE: e“hre * ein mädschen soll nisch=ma ein freund ham 2311 TE: bevor sie verlobt is oder so *<einer> und der=s der 2312 TE: letzte <eigentlisch> * aber des hat nix mit moslem 2313 TE: sein zu tun sondern mit türke sein * mit der 2314 TE: einstellung (...) und dann hab isch halt *2* nisch 2315 TE: mehr so äh ä“rger gekriegt wegn schule un so ↑ * 2316 TE: sondern nur noch wegn meim freund ↓ Für den Vater geht es um die Aufrechterhaltung der Ehre, für die er verantwortlich ist. Wenn er dieser Verantwortung nicht nachkommt, verliert er sein Ansehen und muss mit Sanktionen durch die türkische Umwelt rechnen, so auch in diesem Fall: Ein türkischer Nachbar stellt den Vater in aller Öffentlichkeit bloß und wirft ihm Schwäche vor, da er zulässt, dass die Tochter die Familienehre verletzt. Für den Vater bedeutet dies eine tiefe Demütigung. Er beugt sich der öffentlichen Anklage und straft die Tochter mit unerbittlicher Härte: 140 Die Informantinnen schildern, dass im Vergleich zur Mannheimer Migrantengemeinschaft in städtischen Milieus in der Türkei wesentlich großzügigere Regelungen zwischen jungen Frauen und Männern gelten; z.B. meine Cousinen in Istanbul leben viel freier, die können bis spät abends in die Disco, haben Freunde; unsere Eltern hier sind richtig zurückgeblieben. Die „türkischen Powergirls“ 158 2337 TE: isch hab äh so viel ärger gekriegt zu hause * 2338 TE: schläge (...) un mein vadder hat sogar mit=m 2339 TE: messer über mein fuß so: mit/ mit/ me“sser * weil 2340 TE: er so sauer war * weil ein mann ihm mitten im 2341 TE: café gekommen is neben soviel männern HOLT LUFT 2342 TE: und gesagt hat HOLT LUFT du pass mal auf deine 2343 TE: tochter auf die hat=n freund die soll äh mein 2344 TE: neffe in ruhe lassen und solche sachen * un mein 2345 TE: vadder hat da angefangen zu/ also zu hause wollte 2346 TE: er mich * umbringen weil des eine scha“nde ist Dass das Mädchen sich offen mit dem Freund zeigt, ohne verlobt zu sein, bedeutet aus der Sicht der türkischen Gemeinschaft, dass die Eltern akzeptieren oder sich nicht darum kümmern, dass die Tochter gegen zentrale Werte verstößt. Wie stark der soziale Druck ist, unter dem der Vater steht, schildert die Schwester der Informantin: 3496 DI: mein vater sagt ihr (=TE) sie soll heiraten * 3497 DI: weil die leute alle wissen dass sie einen freund 3498 DI: hat * und weil mein vater weiß dass die leute es 3499 DI: wissen * und weil weil er des nich äh aushält dass 3500 DI: die leute wissen dass sie n=freund hat und dass sie 3501 DI: trotzdem noch zu hause ist * das bedeutet bei uns 3502 DI: sowas wie ähm * sie vergnügt sich mit dem * sie 3503 DI: heiratet nicht ↑ und er nutzt sie aus so in der art 3504 DI: * verstehste ↑ * dass sie ausgenutzt wird * dass 3505 DI: sie benutzt wird ↓ Wenn der Vater zulässt, dass die Tochter ihre Ehre verliert, hat das schwerwiegende Konsequenzen für die gesamte Familie: sie verliert ihren guten Ruf und ihr Ansehen. Das bedeutet, dass die Tochter in keiner ehrbaren Familie mehr als Schwiegertochter aufgenommen wird, die übrigen Kinder mit einer Minderung der Heiratschancen und die Eltern mit der Verachtung der türkischen Gemeinschaft rechnen müssen: 3526 DI: ja dann wi“ll sie ja au“ch niemand mehr * wenn dann/ 3527 DI: HOLT LUFT ich mein/ es wird immer noch gefragt 3528 DI: wenn jetzt der sohn kommt und sagt äh du mama ich 3529 DI: will jetzt heiraten dann wird gefragt ja wer is=es 3530 DI: denn ↑ wer sind die eltern ↑ un=dann wird der nachbar 3531 DI: gefragt * du kennst du diese familie wie is=n die 3532 DI: tochter * ja ↑ * und dann wird erzählt * o“h die 3533 DI: tochter * die“ hat jahrelang einen freund gehabt 3534 DI: der hat sie ni“cht genommen * und die fami“lie 3535 DI: hat das zugelassen ↑ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 159 Trotz der Härte des Vaters gibt Teslime den Freund, dem sie tief verbunden ist, nicht auf und gibt sich auch keinerlei Mühe, die Beziehung vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Der Vater prügelt weiter: net nur ohrfeige * rischtisch so * mit gürtel mit stock * alles * rischtische quälerei (Z. 2400ff.). Der Kampf dauert über drei Jahre, solange bis die Eltern es akzeptiert ham, dass sie sich nicht an die Regeln der türkischen Gemeinschaft hält. Aus der Rückschau ist sie sicher, dass sie richtig gehandelt hat. Durch die Rigorosität der Eltern ist ihre Widerstandskraft gewachsen; je mehr verboten wurde, desto hartnäckiger arbeitete sie an der Vergrößerung ihres Freiraums: 2465 TE: da ham die bei mir gesehn je mehr sie auf 2466 TE: misch zugekommen sind * rumgehackt ham desto * 2467 TE: >net schlechter< aber a“nderster bin isch geworden 2468 TE: isch hab e“xtra alles gemacht * durft isch bis 2469 TE: sieben uhr raus bin isch bis um acht durft isch bis 2470 TE: um acht bin isch bis um neun Durch den hartnäckigen Widerstand bringt sie die Eltern zur Einsicht, dass Strafen nichts verändern, und erreicht, dass die Eltern großzügiger werden: 2485 TE: und jetzt dürfen wir sogar bis morgens auf die 2486 TE: disco gehn ↓ jetzt vertrauen sie uns auch HOLT LUFT 2487 TE: jetzt weiß meine mutter fast alles über uns ↓ Dass die Informantin diesen harten Weg gewählt und den offenen Konflikt mit den Eltern und der türkischen Gemeinschaft gewagt hat, schreibt sie aus der Rückschau ihrem überaus starken Freiheitswillen zu, der sie schon früh gegen Einschränkungen rebellieren ließ: 2474 TE: weil isch hab des gehasst immer * eh * so=n 2475 TE: beschränktes leben zu haben isch wollt immer frei 2476 TE: sein * isch wollt halt nisch so leben so: * nur 2477 TE: mit vorschriften und so ↑ * des wollt isch net und 2478 TE: HOLT LUFT isch hab des auch irgendwie dadurch 2479 TE: erreicht (...) dass isch immer * ga“nz offen 2480 TE: gesagt hab <isch lie“be meinen freund> * schlag 2481 TE: misch doch * bring misch doch um * was haste davon ↓ Beide Wege, Doppelleben ebenso wie offene Rebellion, erfordern ein hohes Maß an psychischer und kognitiver Stärke gepaart mit einem enormen Durchhaltevermögen. Alle Informantinnen erleben die Auseinandersetzung mit den Eltern nicht nur als Konflikt zwischen „alt“ und „jung“, sondern als ethnisch-kulturellen Konflikt: Es geht immer um Werte, die mit Beginn der Die „türkischen Powergirls“ 160 Pubertät von den Eltern als „türkische“ eingefordert und von den Jugendlichen als typisch türkisches Gelaber abgelehnt werden; sie charakterisieren die „türkischen“ Regeln als einschränkend, einengend und zurückgeblieben. Ihr Widerstand ist beeinflusst von dem Verhalten junger Mädchen aus anderen sozialen Welten, die sie in der Schule und durch die Medien kennen lernen. Interessant ist, dass die Informantinnen als junge Erwachsene Verständnis für die Haltung der Eltern aufbringen. Sie versuchen sich in ihre Perspektive zu versetzen und ihre Haltung aus den Sozialisationserfahrungen, geprägt durch das Leben im anatolischen Dorf, zu verstehen. 2639 TE: de“r(=Vater) hat des net so gesehn wie wi“r * der 2640 TE: hat alles anderster gehabt wie wir * aber er konnt 2641 TE: es auch nischt akzeptiern dass wir so sind wie wir 2642 TE: sind ↓ * weil er alles anderster gesehn hat * e“r 2643 TE: is ganz anders aufgewachsen * er is in armut 2644 TE: aufgewachsen (...) des kann man net vergleichen 2645 TE: wir sind > → des klingt jetz dumm< awwa wir sind 2646 TE: mit ← wie soll isch sagen ← die“ sind mit kuhscheiße 2647 TE: aufgewachsen und wi“r mit eh * mit di“scos und so → Vor allem sieht die Informantin, dass die Eltern unter dem starken Einfluss der türkischen Umgebung stehen und dass vor allem darin ihre Strenge begründet ist: 2538 TE: aber am meisten warum meine eltern so streng warn 2539 TE: * wegn unser umgebung ↓ meine mutter sagt zu mir * 2540 TE: von mir aus kannst du mit deim/ → aber so knall 2541 TE: hart ← * von mir aus kannst du mit deim freund 2542 TE: schlafen des interessiert misch net aber was sagt 2543 TE: deine umgebung über disch * was sagt die au“ßenwelt 2544 TE: über disch ↑ * genau so ↓ Für die Eltern ist es schwer, sich der sozialen Kontrolle durch die türkische Umwelt zu entziehen. Sie haben sich entschieden, in der Migrantengemeinschaft des Stadtteils zu leben, und zu den Bedingungen für Zugehörigkeit gehört es, die Einhaltung zentraler Werte zu akzeptieren: 2728 TE: alle türken die hier sind * fast alle die isch 2729 TE: kenne leben nur für ihre umgebumg ↓ für die spielt 2730 TE: es eine große rolle was die umwelt über sie denkt ↓ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 161 Die Tochter, die die Werte nicht respektiert und soziale Regeln bricht, verändert auch das Leben der Eltern, da die Umwelt davon ausgeht, dass die Eltern die Kontrolle über sie verloren haben. So geht der Vater z.B. nicht mehr ins Männercafé, und die Mutter meidet alle Treffpunkte türkischer Frauen, von denen sie weiß, dass dort nur über die Töchter anderer Familien gehetzt wird. Die Tochter sieht diese Konsequenzen; sie zitiert den Vater, der sie in seiner Hilflosigkeit dazu drängt, doch endlich den Freund zu heiraten, weil er die Ächtung durch die Umwelt nicht mehr aushält: 2877 TE: der hat zu mir gesagt <heirate doch endlisch ↑ > was 2879 TE: suchst du noch hier ↑ du hast misch hier bei jedem 2880 TE: blamiert jeder hetzt über disch * isch schäm misch 2881 TE: auf die straße zu gehn * wenn isch auf die straße 2882 TE: geh kuck isch nu“r auf den boden wegen dir ↓ 4.4 Der problemlose Übergang vom Kind zur Jugendlichen Nur bei einem Mitglied der „Powergirls“ gestalten sich das familiäre Leben und die Beziehung zum deutschen Gymnasium relativ problemlos. Im Vergleich zu den anderen Schilderungen fällt an diesem Fall Folgendes auf: Es besteht eine vertraute Beziehung zwischen Mutter und Kindern, und die Mutter zeigt eine andere Haltung gegenüber der deutschen Schule als die übrigen Eltern. Sie ist Angehörige der 2. Migrantengeneration, kam mit 12 Jahren nach Mannheim, beendete die Schule hier und machte eine Berufsausbildung. Sie spricht gut Deutsch und kennt die deutsche Schule. Im Unterschied zu anderen türkischen Eltern begleitet und kontrolliert sie die schulische Entwicklung der Kinder und konzentriert sich ganz auf deren Erfolg. Sie engagiert sich in der Schule im Elternbeirat und nimmt an allen schulischen Informationsveranstaltungen teil: 2100 CE: natürlisch ↓ isch geh immer * jede elternabend 2101 CE: bin isch immer dort ↓ jede extrabesprechungen bin 2102 CE: isch immer da ↓ Sie hält enge Kontakte zu den Lehrern und bespricht sich mit ihnen, wenn eine der Töchter Probleme hat, oder um potenziellen Problemen vorzubeugen: 2110 CE: wenn zum beispiel meine kinder probleme hat ↓ isch: 2111 CE: bin immer dort in der schule oder sag zum beispiel 2112 CE: sie können misch schon anrufen ↓ bevor es zu spät is ↓ 2113 CE: bevor mein kind irgendwas angestellt hat ↓ oder Die „türkischen Powergirls“ 162 2114 CE: i: rgendwas falsches irgend ä: h falsche weg gegangen 2115 CE: ist ↓ * des weiß auch der lehrer ↑ Sie ist kritisch gegenüber Lehrereinschätzungen und widersetzt sich einem Lehrerurteil, wenn es nicht mit ihrer Einschätzung übereinstimmt. 141 Sie hat den von der deutschen Schule erwarteten und geforderten Einsatz der Eltern verstanden und kommt den Erwartungen der Schule entgegen: Sie kooperiert mit den Lehrenden, lernt mit den Kindern und sorgt für Nachhilfeunterricht, wenn sie nicht mehr helfen kann. Vor allem jedoch zeigt sie, dass sie hinter den Kindern steht, und das bringt ihr Respekt bei den deutschen Lehrern ein. Die Beziehung zu den Kindern basiert auf wechselseitiger Offenheit: 1677 CE: weil * isch äh auch sehr offen bin ↓ auch mit meine 1678 CE: kinder sehr offen re“de ↓ und sie mir alles erzählen Wenn eines der Kinder die Verbote der Mutter umgeht, straft sie es nicht, sondern wendet eine langfristig wirksamere Methode an: Sie zeigt, dass sie verletzt ist: 1682 CE: wenn sie mir nich sagen und was falsches machen ↓ * 1683 CE: das tut schon weh ↓ das zeig isch ↓ * die wissen des 1684 CE: dass isch wirklich se“hr traurig bin ↓ und davon 1685 CE: nischt wegkomme ↓ Die Tochter bestätigt die gute Beziehung zur Mutter, der sie alles erzählt, was sie in der Schule erlebt, und sie spricht mit ihr auch über die Beziehungen zu Jungen: 2495 AY: meine mutter wusste von anfang an ↓ ich bin seit zwei 2496 AY: einhalb jahren mit meinem freund zusammen und kennen 2497 AY: tun wir uns schon seit dreieinhalb jahren ↓ und sie 2498 AY: wusst es als ich ihn kennengelernt hab ↓ sie wusste 2549 AY: als ich mit ihm zusammen war ↓ und noch vor meim 2550 AY: freund wusst sie ← dass ich mit jungs gesprochen 2501 AY: habe oder so ↓→ * und dass ich eingeladen wurde oder 2502 AY: sonst irgendwas ↓ * des wusst=se alles meine mutter ↓ 2503 AY: ich hab=s ihr immer erzählt ↓ 141 Als die jüngste Tochter nicht die Gymnasialempfehlung erhielt, schickte die Mutter sie zur schulexternen Aufnahmeprüfung. Die Tochter bestand die Prüfung und wurde ins Gymnasium aufgenommen. Das bestätigte die Mutter in der Richtigkeit ihrer Einschätzung. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 163 Bei aller Großzügigkeit setzt die Mutter jedoch klare Grenzen, die von der Tochter akzeptiert werden: 2599 AY: und wenn=se mir dann mal we“niger erlaubt oder so 2600 AY: dann is auch gar nich so schli“mm ↓ weil sie hat 2601 AY: mir die ganze zeit über- * immer alles erlaubt ↓ 2602 AY: >ja ↓ deshalb find ich=s gar nich so schlimm ↓ < Da die Mutter ihren Töchtern Freiräume einräumt, die türkische Nachbarkinder nicht haben, führt das zu Klatsch und Kritik in der Nachbarschaft. Wenn die Mutter wegen ihrer Großzügigkeit angesprochen wird, wehrt sie sich mit Nachdruck: 1967 CE: <und> <das sa“g isch ↓ > das erzähl isch ↓ * 1968 CE: isch bin so ↓ isch will es so haben ↓ isch 1969 K MIT NACHDRUCK 1970 CE: will dass mein kind mit jemandem befreundet ist ↑ Aus der Sicht der Tochter hat die Mutter folgende Erziehungsprinzipien: Freiräume zugestehen, Hintergründe erklären und Verbote begründen: 2649 AY: meine mutter hat uns nich viel verbo“ten oder so ↓ 2650 AY: u: n hat nicht gesagt → des dürft ihr auf kei“nen 2651 AY: fall machen oder so ↓← * die hat viel- * öfter als 2652 AY: zu schimpfen oder uns anzuschreien oder sonst 2653 AY: irgendwas hat sie sich hingesetzt und hat uns 2654 AY: alles erklärt ↓ und hat halt gesagt des solltet ihr 2655 AY: so“ machen halt ↓ wir ham viel öfter diskutiert als 2656 AY: gestri“tten oder so was ↓ * oder die hat nicht 2657 AY: einfach gru“ndlos gesagt das dü“rft ihr nischt ↓ die 2658 AY: hat uns dann immer einen grund gegeben ↓ und des 2659 AY: fand isch auch gut so ↓ * weil wenn mir meine mutter 2660 AY: keinen grund dafür gegeben hätte dann hätt ich=s 2661 AY: trotzdem gemacht ↓ * man kann niemandem grundlos 2662 AY: irgendetwas verbieten ↓ Die Tochter kommt zu dem Schluss, dass es der Mutter gelungen ist, die Kinder zu führen, ganz im Gegensatz zu vielen anderen türkischen Familien, in denen die Kinder Verbotenes heimlich tun: 2676 AY: ← und de“shalb glaub ich- * weil sie uns eben nich 2677 AY: so viel verboten hat ↑→ find ich dass sie jetz auch 2678 AY: die kontrolle über uns hat ↓ weil bei den meisten 2679 AY: andern is es nich so ↓ die meisten tun=s i“mmer 2680 AY: heimlich ↓ Die „türkischen Powergirls“ 164 Aufgrund der engen und auf wechselseitigem Vertrauen gegründeten Beziehung ist es für die Tochter unvorstellbar, die Mutter zu hintergehen und sie könnte, im Gegensatz zu ihren Freundinnen, nie ein Doppelleben führen: 2473 AY: also die mutter weiß es ↓ die mutter weiß es immer ↓ 2474 AY: isch könnt auch/ isch könnt des auch net anders 2475 AY: machen ↓ isch könnt kein katz und maus spielen ↓ ** 2467 AY: des wär mir viel zu- ** anstrengend ↓ Die Mutter kritisiert an anderen türkischen Eltern, dass sie zu wenig mit den Kindern reden, ihnen verbieten ohne zu erklären und sie bei Verbotsübertritten hart bestrafen. Aus ihrer Sicht sind viele Familien mit schuld am Scheitern der Kinder, ob in der Schule oder wenn es sich um Kriminalität und Drogen handelt. Der Erziehungsstil dieser Frau ist erfolgreich: Zwei Töchter beendeten das Gymnasium und eine studiert. Die jüngste Tochter ist im Gymnasium zunächst erfolgreich, beginnt aber dann unter den Vorurteilen im schulischen Umfeld zu leiden und schließt sich der Gruppe der „Powergirls“ an. 5. Verarbeitung krisenhafter Erfahrung 5.1 Die Konstitution der Gruppe „Türkische Powergirls“ Wie die Schilderungen der Mädchen zeigen, verstärken sich mit dem Eintritt in Schulen außerhalb des Stadtgebiets und mit Beginn der Pubertät schulische und familiäre Probleme wechselseitig. Die Kinder fühlen sich in der neuen Schule fremd und werden von der deutschen Umwelt zu Fremden, Ausländern und zu unfähigen und defizitären Schülern gemacht. Die erlebte Herabsetzung und Ausgrenzung führt dazu, dass sie sich mit anderen türkischen Mädchen, die in einer ähnlichen Problemlage sind, eng zusammenschließen, auf Distanz zu den deutschen Mitschüler/ innen gehen und damit auch ihrerseits die Ausgrenzung betreiben. 142 In dieser Zeit wird die Distanz 142 Solche Prozesse der Ethnisierung, die durch die von der Mehrheitsgesellschaft erfahrenen Ablehnungen und Ausgrenzungen in Gang gesetzt werden, sind in der Migrationsforschung vielfach beschrieben; vgl. Dittrich/ Radtke (1990, S. 11-42), Hamburger (1990); Streeck (1985, S. 112) beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: „Ethnische Identität bildet sich unter diesen Bedingungen [der Unterdrückung und Diskriminierung, I.K.] dadurch, dass der Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft eine Ausgrenzung der Mehrheitsgesellschaft, d.h. ihrer Mitglieder entgegengesetzt wird, und das heißt auch, dass das einzelne Mitglied der Minderheit seinen (aktiven) Part in antagonistischen Inter- Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 165 zwischen Deutschen und Türken wechselseitig betrieben und langfristig festgelegt: Alle Informantinnen haben während der gesamten Gymnasialzeit keine deutschen FreundInnen, werden zu den Geburtstagsparties der Deutschen nicht eingeladen und laden selbst auch keine Deutschen ein. Der Weg in die ethnische Gruppe geschieht in zwei Phasen. Zunächst entstehen Freundschaften in den einzelnen Klassen, dann weitet sich der Freundschaftskreis allmählich über die Klassengrenzen hinweg aus. Entscheidend für die Wahl neuer Freundinnen ist einzig die ethnische Zugehörigkeit. Das beschreibt eine Informantin folgendermaßen: 1027 DI: die freundin in meiner klasse hieß Serap * und in 1028 DI: der sechsten klasse is=sie mal auf ne feier gegangen 1029 DI: und da hat se n=paar türkische mädels kennengelernt 1030 DI: die auch bei uns auf der schule warn HOLT LUFT 1031 DI: und dann wollt sie auf einmal in der hofpause mit 1032 DI: denen rumlaufen ->ich ich: wollt ↑ des gar nicht<- * 1033 DI: ich hab gesagt Serap lass uns doch alleine rumlaufen 1034 DI: und sie nee ↑ wir gehn doch zu denen * kuck mal die 1035 DI: sind türkisch und voll nett und so * und die hat 1036 DI: mich da halt mitgezerrt HOLT LUFT ja und des war 1037 DI: ähm * da fing=s/ da fing alles an LACHT LEISE das 1038 DI: war der anfang vom ende LACHT und dann ham sich äh 1039 DI: noch n=paar angeschlossen irgendwann warn wer 1040 DI: glaub ich sieben mädchen * a“lles türkische mädchen Gemeinsam suchen die Mädchen nach neuen Leitbildern und Modellen, mit denen es ihnen gelingt, sich gegen Herabsetzung und Ausgrenzung zur Wehr zu setzen, und die es ihnen gleichzeitig ermöglichen, die Opposition zur Kategorie der „traditionellen jungen Türkin“ zu verstärken und zu stabilisieren. In diesem Prozess folgen sie allgemeinen Prinzipien der sozialen Differenzierung und Abgrenzung gegen relevante Andere, zu denen ein maximaler Kontrast hergestellt werden soll. In der Forschung sind solche Prozesse zur aktionen mit den Mitgliedern der Mehrheit übernimmt“. In solchen antagonistischen Prozessen werden z.B. deutsche Kinder noch „deutscher“ und türkische Kinder noch „türkischer“, d.h., wechselseitig zugeschriebene Unterscheidungsmerkmale werden in ihrer Relevanz hochgestuft und „in einer regressiven Spirale wechselseitiger Zuschreibungen von Stereotypen“ (ebd., S. 117) immer wieder bestätigt. Die „türkischen Powergirls“ 166 Herausbildung von sozialen Gruppen und sozialen Stilen beschrieben. 143 Die Mädchen suchen nach Leitbildern, deren Eigenschaften in maximalem Kontrast zu den Eigenschaften der Kategorien stehen, von denen sie sich abgrenzen wollen. Und sie wählen die Eigenschaften aus, durch die der Kontrast besonders salient gemacht werden kann, und spitzen sie so zu, dass sie zu einem klar konturierten Abbild ihrer oppositionellen Haltung werden. In ihrem Umfeld finden die Mädchen geeignete Vorbilder in den auffallenden „Ghetto-Jungen“, ihren Brüdern und Cousins, 144 und beginnen sich an deren Verhaltensmodellen zu orientieren und sie zu weiblichen umzuformen. Zentrale Eigenschaften, die sie für sich übernehmen und in besonderer Weise hoch stufen, sind „körperbetontes Verhalten“, „Stärke“, „Coolness“ bzw. Überlegenheit und „türkisch sein“; sie stehen in maximalem Kontrast zu - den Eigenschaften der Kategorie der „traditionellen jungen Türkin“, zu Verhüllung, Zurückhaltung, Unterordnung und Passivität; - den Zuschreibungen, die die Mädchen durch die deutsche Umwelt erfahren, als „Türkin“ schulisch schwach und unterlegen zu sein; - den negativ bewerteten deutschen Eigenschaften „Kälte“ und „Distanziertheit“; mit „Türkisch sein“ werden die positiv bewerteten Eigenschaften „Expressivität“, „Spontaneität“ und „Emotionalität“ verbunden, die fester Bestandteil der in den Familien verankerten Deutungsschemata sind. Aus der Perspektive der Elterngeneration gehören sie zu den kategoriengebundenen Eigenschaften für „Türken“, und „Kälte“, „Distanziertheit“ zu den „Deutschen“ (vgl. Teil I, Kap. 1.2.3). Als Symbol für das neue Leitmodell mit den Eigenschaften „körperbetont“, „stark“, „cool“ und „türkisch“ gibt sich die Gruppe den Namen „türkische Powergirls“, dokumentiert nach innen und außen Zusammengehörigkeit und demonstriert ein neues Selbstverständnis. Zusammengehörigkeit wird in der Aufmachung gezeigt: Alle tragen Levis Jeans, Markenturnschuhe und schwarze Lederjacken, tragen die Haare lang und offen, sind stark geschminkt und gepierct. Expressivität und Emotionalität werden durch große Gesten, lautes Sprechen, überschäumendes Lachen und Kreischen ebenso wie durch wütendes Schreien und Schimpfen ausgedrückt. Das Türkischsein 143 Vgl. die Arbeiten zur Herausbildung von sozialen und kulturellen Stilen, z.B. Clarke et al. (1979), Willis (1981), Soeffner (1986), Kallmeyer (1995), Keim (1995a und b), Schwitalla (1995), Irvine (2001). 144 Vgl. oben Teil I, Kap. 4.2. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 167 wird durch die demonstrative Begeisterung für zwei türkische Organisationen verdeutlicht, die in der Migrantengesellschaft in Deutschland einen hohen Symbolwert haben: für den türkischen Fußballclub „Galatasaray“, der für viele Türken in Deutschland der Inbegriff für Stärke und Erfolg ist, und für die „grauen Wölfe“, die für viele türkische Jugendliche, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abwenden, Symbol für eine starke, muslimisch-türkische Identität sind. Die Mädchen begeistern sich für beide Organisationen, allerdings ohne genauere Kenntnis über deren Inhalte und Organisationsstruktur zu haben: 1153 DI: wir warn * halt so drauf so ähm * wir ham dann auch 1154 DI: ähm so getan als wären wir fußballfans und zwar für 1155 DI: galatasaray * und ich mein und wenn du zwei von uns 1156 DI: gefragt hättest ähm * wieviele spieler spielen denn 1157 DI: beim fußball mit oder * ähm wie heißen denn die 1158 DI: spieler ↑ dann glaub ich hättest du keine richtige 1159 DI: antwort bekommen * und dann gab=s noch was 1160 DI: politisches und zwar die grauen wölfe * kennst du 1161 DI: ja ↑ * wir warn alle angeblich graue wölfe fans * 1162 DI: wobei wir gar nicht wussten um was es geht ↑ * 1163 DI: zu der zeit wusst ich nicht mal was graue wölfe 1164 DI: sind eine hat den namen reingebracht und alle 1165 DI: andren ham ihn übernommen ↑ Zur Gruppe kamen dann auch türkische Jungen, Kurden und PKK-Anhänger. Aus der Rückschau wundert sich die Informantin, dass die Mädchen, die mit den Grauen Wölfen sympathisierten, sich mit den PKK-Anhängern zusammentaten, und erklärt das mit dem Unwissen über die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe beider Gruppierungen: 1222 DI: → also ↑ * siehste ↑ * daran merkt man eigentlich auch 1223 DI: dass wir gar keine ahnung hatten * ich mein wir 1224 DI: hatten keine ahnung von p k k * wir hatten keine 1225 DI: ahnung von grauen wölfen weil * wir hätten ja 1226 DI: normalerweise gar nicht zusammen sein können ↑ * 1227 DI: verstehst du ↑ * des is so paradox Die Erklärung der Informantin zeigt, dass für die Freundschaften der Jugendlichen die politisch-ideologischen Gruppierungen in der Türkei und deren Verhältnis zueinander keine Bedeutung haben. Was die Jugendlichen zusammenbringt, sind die sozialen Verhältnisse in ihrem Wohn- und Lebensumfeld in Mannheim. Relevant für die Wahl von Freunden sind vergleichba- Die „türkischen Powergirls“ 168 re Erfahrungen von ethnischer Benachteiligung und Ausgrenzung und der Wille zur Gegenwehr auf der Basis eines starken ethnischen Selbstbildes. Ein solches Konzept wird von den beiden türkischen Organisationen vermittelt, die für die Jugendlichen, ohne dass sie deren Organisationsformen und Ideologien kennen, identitätsstiftend wirken. Das Gruppenleben beginnt mit dem Ausprobieren neuer Freiheiten: Statt direkt nach der Schule nach Hause zu gehen, treffen sich die Mädchen täglich im Schulhof, auf dem Sportgelände und auf Freiflächen. Sie treiben sich auf der Straße herum, treffen sich regelmäßig mit Jungen, rauchen, flirten und streiten mit ihnen. Sie tun alles, was dem Verhalten eines traditionellen türkischen Mädchens widerspricht. Und sie sind stolz darauf, wenn ihr Verhalten als untypisch für ein türkisches Mädchen charakterisiert wird. Das schildert eine Informantin, die sich über ein entsprechendes Kompliment eines jugoslawischen Jungen freute: 697 DI: einmal ähm: da stand ich mit dem mit Mate am zaun ↑ 700 DI: da am filsbach ↑ wir ham einfach so geredet und dann 701 DI: → i“rgendwann sagt er mir ganz plötzlich so ← 702 DI: * du weißte was du bist einfach viel- ← du bist 703 DI: eigentlich viel zu coo“l für eine türkin ↓→ * des 704 DI: is voll komisch dass du ne tü“rkin bist ↓ (...) 705 DI: und ich war/ ich empfand des als=n kompliment ↓ (...) 706 DI: damals- ** hab ich gedacht <schö“n ↓ * gut so ↓ > * 707 DI: hat mir gefallen ↓ Der Junge trifft mit der Bezeichnung cool (überlegen) eine zentrale Eigenschaft, mit der die Sprecherin den Kontrast zur Kategorie der „traditionellen jungen Türkin“ aufbaut. Seine Beurteilung ist eine Bestätigung des Erfolgs ihrer Anstrengung und erfüllt sie mit Freude: ich hab gedacht <schö“n ↓ * gut so ↓ > * hat mir gefallen ↓ (Z. 706/ 07). Bei den Gruppentreffen probieren die Mädchen Drogen aus, finden Gefallen daran, bis kiffen zur täglichen Gewohnheit wird: 1240 DI: äh dann ham wir auch angefangen zu kiffen ↑ ähm und 1241 DI: wir saßen immer zusammen und irgendwann * es gab 1242 DI: mal ne zeit wo wir dann tagtäglich gekifft haben ↑ Die Gruppe, die zunächst als Zusammenschluss von Jugendlichen mit ähnlichen familiären und schulischen Problemen begann, ist auf dem Weg zu einer Clique mit devianten Zügen. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 169 5.2 Gegenwehr und Devianz Die „Powergirls“ beginnen die zentralen Eigenschaften ihres neuen Selbstbildes „stark“ und „cool“ weiterzuentwickeln zu „aggressiv“ und „brutal“, und vergrößern damit die Distanz zu Verhaltensmodellen, die in der türkischen Gemeinschaft und in der deutschen Schule akzeptiert sind. Dieser Prozess setzt ein, als sie eine zentrale Gruppenaufgabe darin sehen, sich gegen Ausgrenzungen und Demütigungen von Seiten der Deutschen zu wehren. 145 Die negative Fremddefinition als „auffällig“, die sie in der Schule erleben, besetzen sie jetzt positiv, definieren sich selbst als „auffällig“ und füllen die Definitionskriterien nach eigenen Vorstellungen. 146 Alles, was die deutschen Lehrer provoziert und irritiert, setzen sie bewusst ein, um auf der Folie eines für Lehrer akzeptablen Schülerverhaltens „auffällig“ zu werden: Sie sind aggressiv und beleidigend gegenüber den Lehrenden, widersetzen sich und geben sich cool: 2606 DI: wir warn alle ↑ ich glaub wir ham * alle dasselbe 2607 DI: verhalten gehabt und zwar ähm die lehrer fertig 2608 DI: machen * nicht aufpassen * cool sein * und und * 2609 DI: sprüche kloppen * (...) wir warn halt irgendwie 2610 DI: so=ne auffallende freche gruppe * durch die gänge 2611 DI: gebrüllt und einfach auffällig gewesen ↓ * weißte ↑ Die Gegenwehr gegen erfahrene Ausgrenzung wird zum Kampf gegen die Schule und gegen die Lehrenden. Die Mädchen beschimpfen die Lehrer, schreien sie an, reagieren auf jede Lehreräußerung, die ihnen nicht passt, aggressiv und beleidigend. Ein besonderer Triumph ist es, den Lehrer voll fertig zu machen; das bedeutet: 145 Ein solcher Entwicklungsprozess wird in der Literatur auch für andere Minderheitengruppen beschrieben, die sich ausgegrenzt und abgelehnt fühlen. Tertilt (1996) beschreibt ihn für die „Turkish Power Boys“ folgendermaßen (S. 234-235): „Das Wirklichkeitsbild der Jugendlichen [...] geht [...] von zwei Klassen von Menschen aus, deren jeweilige Zugehörigkeit qua Geburt festgelegt ist. Beide Klassen befinden sich miteinander im Kampf. Die Frontstellung heißt rassistische Unterdrückung einerseits, gewaltsame Gegenwehr andererseits.“ 146 Dieser Prozess, dass Minderheitenangehörige das negative Fremdbild annehmen und die ihnen zugeschriebenen negativen Eigenschaften dann gegen den Diskriminierer wenden, ist auch für andere Stigmatisierungskontexte beschrieben; Beschreibungen zu deutschen Verhältnissen z.B. Heitmeyer (1992), Tertilt (1996); vgl. auch Goffmans Beschreibung der Reaktionen auf Stigmatisierungen (1975). Die „türkischen Powergirls“ 170 4289 DI: voll fertig machen heißt ähm * >sp/ < ähm 4290 DI: ihn mit sprüchen voll niedermachen und so ↓ * 4291 DI: einfach fertig machen * dass=a geht ↓ Wenn das gelingt, haben die Mädchen eine Umkehrung der Machtverhältnisse erreicht und genießen ihren Sieg. Das Verhalten der Powergirls fällt auch anderen Schülerinnen auf; eine Informantin, die damals noch nicht zur Gruppe gehörte, beschreibt es folgendermaßen: 923 AR: die ham sich * alle zusammengeschlossen ham ne 924 AR: gruppe gebildet und die ham sich halt powergirls 925 AR: genannt * ja ↓ * ja awwer die warn so richtig * 926 AR: a“soziale mädels * die ham dann i“mmer krawall 927 AR: machen wollen und au“ffallen wolln ↓ Die Sprecherin charakterisiert das Verhalten der Gruppe als asozial und verbindet damit Eigenschaften wie Krawall machen und auffallen wollen. Diese Charakterisierung aus der Außenperspektive stimmt mit der Selbstcharakterisierung der „türkischen Powergirls“ überein, d.h., es ist den Mädchen gelungen, eine überzeugende Präsentation ihres Selbstbildes als „auffällig“ zu schaffen. Ganz allmählich überträgt die Gruppe ihr aggressives Verhalten auch auf Lebensbereiche außerhalb der Schule, und steigert es unter den Bedingungen der Anonymität zur Devianz. Dieser Prozess setzt sich zunächst ungeplant und schleichend in Gang. Zuerst beginnen einzelne Mitglieder kleine Diebstähle auszuführen: 2614 DI: es war auch nich so dass wir irgendwas geplant ham 2615 DI: und alle zusammen des gemacht ham * da ham 2616 DI: irgendwann mal halt zwei von der gruppe ham halt 2617 DI: was gemacht * geklaut un so ↑ * da wusste nicht 2618 DI: jeder von jedem bescheid ↓ Dann folgen geplante Aktionen der Gruppe, und zwar Angriffe auf unbekannte Personen. Charakteristisch für diese Angriffe ist, dass sie sich gegen Personen außerhalb des Stadtgebiets richten, gegen Angehörige sozialer Kategorien, die nicht zur Migrantengemeinschaft gehören: 1230 HI: danach- *3,0* isch weiß nischt wir waren auch so 1231 HI: komisch unterwegs mit freundinnen ↑ * wir haben eier 1232 HI: gekauft sind an=n wasserturm und haben die leute Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 171 1233 HI: mit eiern beschmissen ↓ * → so leute die da vorbei 1234 HI: gelaufen sind ↓← Die Opfer des Angriffs werden als Leute charakterisiert, die sich am Wasserturm aufhalten, einer besonders attraktiven Gegend Mannheims mit der gepflegten Jugendstilanlage und den teuren Geschäften entlang der Fußgängerzone, die vom Wasserturm ausgeht. Mit dieser lokalen Referenz ist eine soziale Charakterisierung der Opfer impliziert: Es sind unbekannte Menschen, die in einer angenehmen und teuren Umgebung flanieren. Sie werden von den „türkischen Powergirls“ ohne Anlass angegriffen und, als Ausdruck von Missachtung, mit Eiern beworfen. Dann richtet sich der Angriff auf gleichaltrige Mädchen: 1234 HI: wir sind dann in die stadt ↓ wenn uns langweilisch 1235 HI: war haben dann so einfach so mädschen beschimpft ↓ * 1236 HI: und haben uns dann mit denen gekloppt ↑ → die kannten 1237 HI: wir nischt ↓← ja ↓ * weil wir gedacht haben dass=es 1238 HI: coo“l ist * oder dass wir dann coo“l sind oder 1239 HI: isch weiß es net ↓ (...) Um die potenziellen Opfer zu treffen, gehen die „Powergirls“ in die Stadt. Mit dieser Richtungsangabe wird im lokalen Kontext von Mannheim auf die zentrale Einkaufsgegend referiert, auf die „Planken“ mit ihren Seitenstraßen und -passagen. Wenn die „Powergirls“ dorthin gehen, um ihre Opfer zu treffen, impliziert das, dass auch sie zu sozialen Welten außerhalb des Migrantenwohngebiets gehören. Die Angriffe erfolgen wieder ohne direkten Anlass, aus Langeweile und vor allem, weil sie der Demonstration eines zentralen Gruppenwerts dienen, dem cool sein. Die Bezeichnung cool sein erfährt hier eine Bedeutungsveränderung: War sie vorher Ausdruck für Überlegenheit, die durch verbale Aggressivität erreicht wurde, wird sie jetzt zur Bezeichnung für Überlegenheit aufgrund körperlicher Gewalt gegen Angehörige einer als feindlich definierten sozialen Kategorie. Die Gewalt steigert sich, nimmt exzessive Ausmaße an, die Opfer werden nicht nur geschlagen, sondern lebensgefährlich verletzt: 1263 HI: isch hab auch beinah ein mädchen totgeschlagen ↑ Eine weitere Facette der Gewalt sind Diebeszüge 2652 DI: ja wir ham auch angefangen in den läden zu klaun Die „türkischen Powergirls“ 172 und Raubüberfälle, die jetzt als Gruppenaktion geplant und unternommen werden. Einige Gruppenmitglieder spezialisieren sich auf Raubüberfälle auf ältere Frauen: 2654 DI: und einige ham auch angefangen karriere zu machen 2662 DI: un zwar mit den alten omis taschen wegnehmen un so ↓ Andere Gruppenmitglieder spezialisieren sich auf den Raub von Jacken, vor allem Bomberjacken: 1321 HC: wir haben halt so: ki/ was heißt kinder so 1322 HC: jugendlische ↑ * so rischtig halt überfallen ↑ * 1323 HC: und haben die jacken mitgenommen * halt so 1324 HC: bo“mberjacken ↓ Alle Aggressionen und Gewalttaten richten sich gegen Einrichtungen und Personen außerhalb der Migrantenwelt. Es sind deutsche Geschäfte, das belegen die Namen, und tendenziell deutsche Passanten und deutsche Jugendliche - das implizieren die lokalen Referenzen - die Opfer der Gewalt werden. Die Gewalttätigkeiten der Gruppe außerhalb des Lebensbereichs „Schule“ sind also ebenfalls ethnisch geprägt und richten sich gegen die zentrale Kontrastkategorie, die „Deutschen“. In den Gewalttaten findet eine Umkehrung der Machtverhältnisse und der Täter-Opfer-Rollen statt: Jetzt sind die „Powergirls“ die Angreifer und die Deutschen die Opfer der Aggression. 147 Für alle Gruppenmitglieder ist es selbstverständlich, dass die Aktivitäten vor den Eltern verheimlicht werden. Auch wenn die Schule versucht hätte, die Eltern zu informieren, wären die Informationen nicht angekommen, da die Eltern auf die Übersetzungshilfe der Kinder angewiesen waren, und die Kinder selbstverständlich nichts übersetzt hätten, was zu ihrem Nachteil gewesen wäre: 2631 DI: meine eltern haben von nichts gewusst * auch wenn 2632 DI: die lehrer was gesagt hätten ich mein ich bin ja 2634 DI: immer als übersetzerin mitgegangen dann hätt ich/ 2635 DI: ich hätt des nich so übersetzt ganz einfach * >ja< Als eines der Gruppenmitglieder beim Stehlen erwischt wird, erfahren die Eltern zum ersten Mal vom Treiben der Tochter: 147 Damit durchlaufen die „Powergirls“ einen ähnlichen Entwicklungsprozess wie die von Tertilt beschriebenen „Turkish Power Boys“: „Gewalt erscheint [...] als legitimes Mittel der Selbstbehauptung, als eine Form der Konfliktbewältigung, die der erfahrenen Demütigung mit demütigender Aggressivität begegnet“ (1996, S. 235). Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 173 2678 DI: aber ich wurde mal in (NAME DES GESCHÄFTS) erwischt 2679 DI: ich war vierzehn ja ↓ * SCHLUCKT da bin ich mal mit 2680 DI: meiner schwester dort rein * ich hab so haa“rtönung 2681 DI: * schminke * wimperntusche und lauter so zeug 2682 DI: eingesteckt was ich gar nich brauch eigentlisch 2683 DI: LACHT und ich wurd da auch erwischt ↓ ja ↑ * und dann 2684 DI: äh wurde mein vater angerufen der is gekommen un hat 2685 DI: mich vor dem dedektiv zusammengeprügelt ↓ Doch die Strafe bewirkt keine Verhaltensänderung; die Tochter bleibt bei der Clique und nimmt auch weiterhin an deren Aktivitäten teil. Mit der Kriminalisierung der „Powergirls“ wächst auch die Ethnisierung und nimmt rigorose Züge an. Neue Mitglieder, die das ethnische Kriterium erfüllen, werden mit Gewalt rekrutiert. Das schildert eine Informantin, die damals mit einer Deutschen befreundet war. Die „Powergirls“ störte die Freundschaft zwischen einer Deutschen und einer Türkin und sie wollten die Türkin dazu bringen, sich der türkischen Gruppe anzuschließen. Als die sich den asozialen „Powergirls“ verweigerte, sollte sie gewaltsam zur Mitgliedschaft gebracht werden; sie wurde als Verräterin beschimpft und mit Schlägen bedroht: 944 AR: ja als verräterin ↑ * ja und ich hab des nie 945 AR: verstanden ich kenn ↑ die doch gar nicht → hab 946 AR: ich gesagt ← wieso soll ich mich denen anschließen 947 AR: ich hab doch hier meine freunde HOLT LUFT und die 948 AR: ham sich halt immer geärgert äh <du bist doch eine 949 AR: tü“rkin was willst du mit deu“tschen> * ja so halt 950 AR: und ich hab des nicht verstanden * dann haben sie 951 AR: halt andere mädels aus anderen schulen angeheuert 952 AR: * sie wollten mich halt schlagen lassen ja: ↑ * 953 AR: so weit ging=s Sie weigerte sich, ihre Freundinnen aufzugeben und sich der Gruppe anzuschließen, nur weil sie Türkin ist. Sie mied die „Powergirls“ und kam erst im Mädchentreff mit den ehemaligen Mitgliedern in Kontakt und freundete sich dann mit ihnen an. 5.3 Offene Feindschaft gegenüber der Schule Der Kampf der Mädchen gegen Abwertungen und Ausgrenzungen in der Schule wird - in Analogie zur Devianz - immer härter. Die Mädchen werden feindselig gegenüber den Lehrenden, und die Schule reagiert mit Sanktionen, Die „türkischen Powergirls“ 174 die jedoch nicht als Bestrafung für ungehöriges Schülerverhalten erlebt werden, sondern als eine verschärfte ethnische Ausgrenzung mit dem Ziel der systematischen Vertreibung. Während die Informantinnen bei der Schilderung ihrer Anfangserfahrungen im Gymnasium von Gefühlen sprechen, dass die Lehrer sie ablehnen (vgl. oben Kap. 3.3), legen sie den Lehrenden jetzt explizite ethnische Negativstereotype und Vorurteile gegen Türken in den Mund. Die ethnischen Stereotypen beziehen sich vor allem auf die fehlenden Bildungsvoraussetzungen türkischer Migranten, auf ihre sprachliche Inkompetenz und auf ihre Unfähigkeit zur schulischen Leistung. Eine Informantin listet einen ganzen Katalog von ethnischen Stereotypen auf, die ihr in der Mittelstufe des Gymnasiums entgegengebracht wurden: 148 450 AY: dann fing=s mit den lehrerbemerkungen an ↑ hat 451 AY: sich angefangen ähm zu häufen ↓ wie zum beispiel 452 AY: ach ↑ ihr lest den mannheimer mo“rgen ↓ awer das 453 AY: is ungewöhnlisch dass=ne türkische familie den 454 AY: mannheimer morgen liest Zu Beginn des Katalogs spricht die Informantin generalisierend von Lehrerbemerkungen, die immer häufiger vorkommen (hat sich angefangen zu häufen). Dann folgen Detaillierungen: Den Lehrer erstaunt, dass die türkische Familie eine deutsche Tageszeitung liest, eine Bemerkung, die auf die geringen Deutschkenntnisse der Türken und auf ihr mangelndes Interesse an der deutschen Umwelt zielt. Weitere Bemerkungen zielen auf die Berufsvorstellungen türkischer Eltern, für deren Realisierung den Kindern - aus der Perspektive der Lehrer - die Voraussetzungen fehlen: 454 AY: * oder * eh du willst medizin stu“dieren ↓ * a“lle 455 AY: ausländer denken sie könnten medizin studieren ↓ awer 456 AY: wir sind hier in deutschland und net sonst wo * 456 AY: solche bemerkungen ↓ 148 Diese Abwertungen zielen auf Bereiche, die Lehrkräfte auch mir gegenüber als „problematisch“ genannt hatten (vgl. oben Teil I, Kap. 3.), wie die geringen Deutschkenntnisse der Migrantenkinder, die geringen bildungsmäßigen Voraussetzungen der Eltern und ihr überzogener Bildungswille, der in starkem Kontrast zu ihren Voraussetzungen stehe. Da die von mir befragten Lehrkräfte nicht mit denen identisch sind, über die die Informantinnen berichten, deutet das darauf hin, dass es sich bei den Schilderungen der Mädchen nicht nur um individuelle Erfahrungen handelt, sondern es scheint so etwas wie eine typische Lehrerperspektive auf türkische Migrantenfamilien zu geben. Doch das müsste empirisch aufgezeigt werden. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 175 Deutsche Studienabschlüsse mit einem hohen Qualitätsstandard werden mit ausländischen Bildungswünschen kontrastiert und als unrealistisch abqualifiziert. Der Lehrer bewertet den Bildungswillen und die soziale Aufstiegsorientierung der Schülerin abschätzig und verletzt sie zutiefst. Das wird deutlich, als sie die Lehreräußerung reformuliert, präzisiert und zuspitzt: 765 AY: das hat mir meine englischlehrerin gesagt * <ach die K: ERREGT 766 AY: tü“rken die wolln alle medizi: n studiern aber wir K: ERREGT 767 AY: sind hier in deu“tschland> oder ← ge: “h → des kannste K: ERREGT # 768 AY: hier nisch machen geh und mach des in dei“nem land 769 AY: oder so was * Die Lehrerin, die die negative Äußerung gemacht hat, wird identifiziert, die Zuschreibung überzogener Berufswünsche auf die Türken zugespitzt und zwischen Deutschland und der Türkei ein Bildungsgefälle hergestellt. Weitere Lehrerbemerkungen zielen auf die sprachliche Inkompetenz der Schülerin. Als sie eine Aufgabe in Deutsch gut löst, erhält sie keine Anerkennung, sondern die Lehrerin hält die Leistung für nicht glaubwürdig, da sie davon ausgeht, dass die Schülerin eine so hohe Deutschkompetenz gar nicht haben kann, denn: 463 AY: ihr redet doch immer ausländischen jargon ↓← * 464 AY: ähm in so einer mischmaschsprache oder so D.h., die Lehrerin erkennt nicht bzw. erkennt nicht an, dass die Schülerin mehrere Varietäten und Register beherrscht und zwischen dem Sprechen im Unterricht und dem Sprechen mit Freunden differenzieren kann, obwohl sie in der aktuellen Situation einen Beleg dafür liefert. Auch andere Mädchen berichten, dass ihre Leistungen nicht adäquat gewürdigt, sondern abgewertet und ungerecht beurteilt werden. Eine Informantin kontrastiert die Noten einer deutschen Schülerin mit denen, die sie und ihre türkische Freundin erhalten, und kommt zu folgendem Ergebnis: 719 HI: ein deutsches mädchen ↓ * die hat immer ne ei“ns 720 HI: bekommen ne ↑ und wir haben immer ihre aufsätze 721 HI: durchgelesen und haben uns voll aufgeregt ↓ 722 HI: weil die immer eine eins oder eine eins bis zwei 723 HI: bekommen hat und wir haben immer ne drei oder 724 HI: vier bekommen ↓ (...) die Aylin (=Freundin) kann ja gut Die „türkischen Powergirls“ 176 725 HI: deutsch spreschen und schreiben ↓ und Aylins aufsätze 726 HI: waren tausendmal besser ↓ * und meine warn halt auch 727 HI: irgendwie viel besser als ihre ↓ und isch hab i“mmer 728 HI: eine drei oder eine vier gekriegt ↑ Beim Vergleich der Schulnoten sehen die türkischen Mädchen ihre Leistungen um zwei Noten schlechter beurteilt als die der deutschen Mitschülerin. Die Sprecherin, die sich als aufgeweckt und kritisch darstellt, wirft der Deutschlehrerin vor, dass sie ihre Beobachtungen nie geschätzt, sondern immer als irrelevant abgewiesen hat: 861 HI: und in deutsch da ham=wir halt immer so textanalyse 862 HI: gemacht odda so ↓ habn so bücher gelesen ↑ und 863 HI: interpretiert ↓ * und isch hab halt immer so voll 864 HI: die sachen entdeckt ↓ → im bu“ch ↓← * halt überhaupt 864 HI: so ↓ * isch hab sie auch voll oft verbessert ↓ * eh 865 HI: und → obwohl isch rescht hatte hat sie immer so getan 866 HI: als hätt isch nischt rescht ↓← Als besonders verletzend erleben die Mädchen Lehreräußerungen, in denen ihr Migrationshintergrund als unhintergehbares Hindernis auf dem Weg zu einer angemessenen Deutschkompetenz dargestellt wird: 526 AY: von einer lehrerin hab isch halt so sachen gehört 527 AY: wie * ja du solltest=s aufgeben irgendwie so so 528 AY: deutsch zu spielen oder so * du kannst sowieso 529 AY: nischt reden so wie die deutschen oder * ihr redet 530 AY: doch wohl wirklich nicht so ↓ In dieser Szene macht die Lehrerin der Schülerin klar, dass die Bemühung um gutes Deutsch eine unnütze Anstrengung ist, da sie deutsch immer nur spielen, aber nie wirklich sein kann. Die Äußerung basiert auf der Vorstellung, dass sprachlich-kommunikative Kompetenzen unaufhebbar an die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit gebunden sind, und dass nur der gut Deutsch kann, der deutsch ist. Damit hat die Lehrerin - so stellt es die Informatin dar - ihr den Migrationshintergrund als unüberwindbares Problem beim Erlernen von Deutsch vor Augen geführt und die Unerreichbarkeit des Ziels verdeutlicht. Das Absprechen von Fähigkeiten erleben die Mädchen als fortwährende, systematische und gezielte Aktivitäten der Lehrer: 904 HI: sie (=Lehrerin) hat mich halt immer so fertisch 905 HI: gemacht ↓ (...) weißt du die schule die war/ eh 906 HI: isch wollt da gar nischt mehr bleiben ↓ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 177 Die Schilderungen der Konfrontationen mit den LehrerInnen erfolgen durchgehend in einem Deutungsrahmen mit den Kontrastkategorien „die deutschen Lehrer“ vs. „uns türkische Schülerinnen“. Wenn die Informantinnen von „uns“ sprechen, sind damit immer ethnische Implikationen verbunden: 907 HI: die hat zu uns auch gemeint bist du dir sicher dass 908 HI: du dein abitur machen willst ↑ geh doch mach doch 909 HI: lieber eine ausbildung ↓ * (...) ja die hat uns * die 910 HI: Hülya und misch halt immer so: entmutigt so ↓ so in 911 HI: der art ihr schafft=es doch sowieso nischt hier ↓ 912 HI: was sucht ihr hier ↓ Die der Lehrerin zugeschriebene Äußerung bist du dir sicher dass du dein Abitur machen willst geh doch mach doch lieber eine Ausbildung, kann unabhängig von ethnischen Implikationen als Äußerung gegenüber einer schlechten Schülerin verstanden werden, für die eine praktische Berufsausbildung besser wäre als die angestrebte akademische. Die mit der Äußerung implizierte Kategorie ist nicht ethnisch spezifiziert. Doch die Informantin schreibt der Äußerung, die nur ihr und ihrer Freundin Hülya gegenüber gemacht wird, eine ethnisch aufgeladene Deutung zu und ordnet sie in ein allgemeines Verhaltensmuster ein, das die deutsche Lehrerin nur den türkischen Mädchen gegenüber zeigt: sie hat uns * die Hülya und misch halt immer so: entmutigt ↓ (Z. 909f.). Sie sieht sich und die Freundin vom Gymnasium vertrieben, da die Lehrerin nur den türkischen Schülerinnen nicht zutraut, dass sie die Anforderungen erfüllen können: ihr schafft=es doch sowieso nischt hier ↓ was sucht ihr hier ↓ (Z. 911f.). Eine andere Informantin hebt hervor, dass auch die Lehrenden einen Sachverhalt ethnisch-kulturell deuten. Wenn sie einen Fehler macht, ist die Lehrerrüge nie nur auf das aktuelle Verhalten bezogen, sondern hat immer ethnisch-kulturelle Implikationen: 466 AY: und dann fings damit an <uah bist du zu blöd dazu> * 467 AY: oder so → halt wenn isch mal was vergessn hab oder 468 AY: <so ← * oder * wurd=s dir ni“scht beigebracht> oder * 469 AY: <da wo du herkommst is=s vielleicht so * awer wir 470 AY: sind hier in deutschland hier is es nicht so: > 471 AY: und lauter so bemerkungen ↑ Die Lehrerin nimmt das aktuelle Versäumnis zum Anlass, um dem Mädchen seine minderwertige Herkunft vorzuhalten: wo du herkommst is=s vielleicht so (Z. 469), die durch die Folgeäußerung wir sind hier in deutschland hier is Die „türkischen Powergirls“ 178 es nicht so (Z. 469f.) sofort ethnisch aufgeladen und bewertet wird. Das positiv bewertete Deutschland wird mit der Herkunftsregion des Kindes, der Türkei, kontrastiert, die über die Kontrastherstellung eine negative Bewertung erhält. Das kleine Versäumnis des Kindes, das etwas vergessen hat, wird von der Lehrerin übermäßig hoch gestuft und als Ausdruck eines kulturbedingten Defizits gedeutet. Mit dieser Szene zeigt die Sprecherin, dass auch Lehreräußerungen einen ethnisch aufgeladenen Deutungsrahmen erhalten mit den Kontrastkategorien: „deutsche Lehrer“ vs. „türkische Schülerinnen“, wobei die „Türken“ alle negativen Zuschreibungen erhalten. Außerdem erleben die Mädchen, dass die Lehrenden sie in die verhasste Rolle der „traditionellen Türkin“ drängen wollen. Eine Lehrerin rät einer Informantin, die Schule zu verlassen und die in ihrer Kultur üblichen weiblichen Aufgaben zu übernehmen: 584 AY: du solltest lieber mit der schule aufhören und 585 AY: heiraten und hausfrau werden * das hat mir ne 586 AY: lehrerin gesagt ↓ In dieser Szene kommt die Aussichtslosigkeit der Situation, so wie das Mädchen sie von der Lehrerin gespiegelt sieht, zum Ausdruck: Da sie sich als unfähig zu schulischer Bildung und beruflicher Qualifikation beurteilt sieht, bleibt ihr nur der traditionelle Lebensweg, gegen den sie sich bisher mit aller Kraft gewehrt hat. Bei der Erinnerung an die erfahrenen Entmutigungen und Demütigungen wird die Informantin so wütend, dass sie die deutschen Lehrer explizit als „Assis“ kategorisiert: 770 AY: → solche a“ssis lan so: viele * ich hab sie gar nich 771 AY: mehr alle im sinn ↓← Die Bezeichnung „Assis“ referiert in anderen Kontexten auf Angehörige türkischer Kategorien, zu denen sich die Informantinnen in maximalen Kontrast setzen und die sie strikt ablehnen (vgl. unten Teil III, Kap. 4.1). Mit dieser Negativbezeichnung verweist die Informantin symbolisch auf die tiefe Kluft zwischen sich und den Vertretern der deutschen Schule. Wie belastend die ständigen Spannungen mit deutschen LehrerInnen sind und zu welchen Konsequenzen sie in zwei Fällen geführt haben, zeigt das folgende Beispiel: 674 HI: wir hatten so ne blöde kuh ↓ die war wirklisch voll 675 HI: behindert ↓ * → isch kann so was gar nisch erklären ↑← 676 HI: isch versteh gar nischt wirklisch isch: isch e/ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 179 677 HI: konnt=s noch nie verstehn wie- * leute ↑ die 678 HI: gebildet sind ↑ so- * gemein sein könn ↓ *3,0* 679 HI: die hat uns die ganze zeit fertig gemacht ↓ * 680 HI: egal bei was ↓ ** misch ↓ die Arzu ↓ * und die Aynur ↓ 681 HI: [...] die hat uns voll die komplexe gemacht Fertigmachen und voll die Komplexe machen als Lehrerhandlung bedeutet im Sprachgebrauch der Mädchen „ausgrenzen, Fähigkeiten absprechen, Leistungen aberkennen, entmutigen und demütigen“. Solche Lehrerhandlungen beziehen die Informantinnen ausschließlich auf sich, d.h., sie rahmen sie in der ethnischen Kontrastrelation „deutsche Lehrer vs. türkische Schülerinnen“. Die feindselige Haltung, die die Informantin von Seiten der Schule spürt, beschäftigt sie sehr, und sie malt sich Szenen aus, wie sie mit den Lehrern ins Gespräch kommen kann. Doch in der entscheidenden Situation wird sie immer wieder von den angestauten Gefühlen überwältigt, weint oder reagiert aggressiv. Ablehnung, Missachtung und Feindseligkeit verstärken sich auf beiden Seiten; das Mädchen wird immer aggressiver, verliert beim geringsten Anlass die Kontrolle und ist dem psychischen Zusammenbruch nahe: 984 HI: die haben mich psychisch kaputt gemacht ↓ wirklisch ↓ 985 HI: isch hab nur noch an meiner intelligenz gezweifelt 986 HI: wirklisch ↓ (WEINT) isch reg misch jetz noch darüber 987 HI: auf ↓ eh du siehst ja isch heul und so ↑ Bei der Erinnerung an die erlittenen Demütigungen werden die verletzten Gefühle übermächtig, sie beginnt zu schluchzen und drückt tiefe Unversöhnlichkeit gegenüber den Lehrern aus: 988 HI: isch des/ eh isch kann des denen niemals verzeihn ↓ Die Lehrer legen ihr nahe, das Gymnasium zu verlassen; heute bereut sie diesen Schritt: 2713 HI: isch mein je“tz- * isch würd ä: h isch würd des 2714 HI: abitur- * jetz machen ↓ isch bereu=s irgendwie dass 2715 HI: isch nischt auf ein anderes gymnasium gegangen bin ↓ 2716 HI: isch mein isch bin mir sicher isch würd=s pa“cken ↓ Aus der Rückschau sieht die Informantin nicht nur das Versagen der Lehrer im Umgang mit ihr und ihren Freundinnen, sondern sie sieht auch ihren Anteil an dem Konflikt, der zu dem schulischen Scheitern führte: Auf Handlungsweisen der Lehrer, die sie als ungerecht und abwertend empfand, rea- Die „türkischen Powergirls“ 180 gierte sie frech, grob und schrie. Zu einer angemessenen Konfliktlösung war sie nicht fähig und sie schaffte es nicht, um Verständnis für ihre Situation zu werben. Die Unfähigkeit, für den Adressaten plausibel zu formulieren, halten ihr auch die Lehrer vor: 1398 HI: des haben auch die lehrer zu mir gesagt 1399 HI: dass isch ähm * dass halt der ton ↑ die musik macht ↓ 1400 HI: dass isch misch halt falsch ausdrücken würde ↓ * dass 1401 HI: die misch missverstehn ↓ (...) 1411 HI: isch weiß was die meinen halt dass isch- ** 1413 HI: dass isch halt zu grob bin ↓ Die Ausführungen verdeutlichen - auch wenn die Informantin das nicht in dieser Weise formuliert - dass hier Personen mit unterschiedlichen sozialstilistischen Sprach- und Kommunikationsmustern aufeinander treffen: die Gymnasiallehrer als typische Vertreter der deutschen Bildungsschicht und die „türkischen Powergirls“ als Vertreterinnen einer „Ghetto“-Subkultur. Die Spezifik des sozialen Konflikts ist, dass es sich hier um „gate-keeping“- Situationen handelt, 149 in denen die deutschen Lehrer als Repräsentanten der Institution agieren, die den „Ghettokindern“ den Zugang zu sozialem Aufstieg über gute Bildungsabschlüsse ermöglichen oder verwehren können. Die Schilderung der Informantin zeigt, welche Konsequenzen das Aufeinanderprallen beider Welten und die mangelnde Berücksichtigung der sozialen und sozialstilistischen Unterschiede auf Seiten der Lehrenden für die „Ghettokinder“ haben können: tiefe emotionale Verletzungen, Verlust des Selbstvertrauens, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und schulisches Versagen. 150 Dass sozialstilistische Unterschiede in Schulen außerhalb des „Ghettos“ zum zentralen Hemmnis für „Ghettokinder“ auf ihrem Bildungsweg nach oben 149 Zu „gate-keeping“-Situationen in Schule und Hochschule und den Problemen, die dabei zwischen ethnisch und kulturell unterschiedlichen Interaktionspartnern auftreten können, vgl. u.a. Erickson/ Shultz (1982). 150 Dass die mangelnde Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Mehrheits- und Minderheitenangehörigen bei Minderheitenangehörigen besonders starke Verletzungen hervorrufen kann, ist in der Migrationsforschung beschrieben. Taylor (1993, S. 13ff.) z.B. hebt hervor, wie stark Minderheitenangehörige auf die Respektierung ihrer kulturellen Identität durch Mehrheitsangehörige angewiesen sind: „Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen [...] kann den anderen in ein falsches, deformiertes Selbst einschließen [...] Sie kann auch schmerzhafte Wunden hinterlassen, sie kann ihren Opfern einen lähmenden Selbsthass aufbürden“. Solche Verarbeitungsformen von tiefer Verletzung bis hin zum Selbsthass treten bei allen „Powergirls“ auf. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 181 werden können, hat auch eine deutsche Sozialpädagogin beobachtet: Die Lehrer der Ghetto-Schulen sind an den rauen Umgangston der Kinder gewöhnt; aber in der Welt des Gymnasiums fallen sie durch ihr Ausdrucksverhalten auf. Während die Schule im Stadtgebiet für die Kinder eine Art Schutzzone ist, in der ihre Kommunikationspraktiken toleriert werden, werden sie außerhalb des Stadtteils, in ungeschützten Räumen, aufgrund ihres Verhaltens abgelehnt und ausgegrenzt. Da ihnen bei der Deutung und Verarbeitung dieser Erfahrungen Aufklärung und Unterstützung fehlen, kommt es zu Verhärtungen, zu Abschottungen, zu Lernblockaden und zu Identitätskrisen. Die unterschiedlichen sozialen Welten - die Welt des „Ghettos“ und die Welt des deutschen Gymnasiums - mit ihren unterschiedlichen Spiegelungen der Eigenschaften und Handlungen der Kinder wirken zutiefst verwirrend. Die Informantin Hikmet spricht von einem inneren Zwiespalt und davon, dass sie nischt mehr wusste wie isch bin, dass sie mit sich selber nischt klar kam, weil ihr in den beiden Welten zwei stark kontrastierende Bilder von sich selbst übermittelt wurden: 2463 HI: isch war in so=nem zwiespalt ↓ * weil zu 2464 HI: hause ↑ * also unter freunden ↑ war isch die 2465 HI: kluge * die intelligente ↑ und die hübsche halt 2466 HI: so ↓ meine freunde und so haben halt respekt 2467 HI: vor mir gehabt ↑ (...) und dann komm isch halt 2468 HI: in die schule ↑ * des hat misch halt so 2469 HI: durcheinander gebracht ↑ isch komm in die schule 2470 HI: dann bin isch halt irgendwie die blöde ↑ ** halt 2471 HI: nischt zuverlässisch ↓ halt so die asoziale ↓ ** 2472 HI: äh die lehrer haben misch so gesehn ↑ also so hab 2473 HI: isch das gefühl gehabt (...) 2474 HI: also für die lehrer war asozial dass=isch/ ** dass 2475 HI: die misch halt so als schlägertyp gesehn ham ↑ meine 2476 HI: spra“che halt ↓ → wie isch misch au“sgedrückt hab ↓← Diese Bilder, einerseits das Bild des angenehmen, intelligenten Mädchens, das die FreundInnen von ihr haben, und andererseits das Bild der deutschen Lehrer, die sie als unfähige und asoziale Schülerin sehen, die sich mit anderen schlägt und sich nur in der Sprache des „Ghettos“ grob ausdrücken kann, reflektieren die unterschiedlichen Deutungen und Bewertungen ihres Verhaltens in den beiden Welten. Die Differenz zwischen beiden Bildern ist für das Mädchen nicht verstehbar. Und ihr unüberwindbares Problem ist, dass sie in der Welt, in der sie abgelehnt und missachtet wird, erfolgreich sein will. Die „türkischen Powergirls“ 182 Aus dem Erleben schulischen Scheiterns folgt dann auch die Abrechnung mit den Eltern. Die Informantin sieht zwar, dass die Eltern alles für sie getan haben; sie sieht aber auch, dass sie ihr in der Schule und in der Auseinandersetzung mit den schulischen Anforderungen nicht haben helfen können. In ihrer Verzweiflung wirft sie der Mutter vor, dass sie sie falsch erzogen, ihr keine Lerntechniken vermittelt und sie nicht zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung gebracht hat, alles Erwartungen der deutschen Schule. Aus der Rückschau erkennt sie jedoch, dass sie damals ungerecht war und der Mutter Dinge vorwarf, die sie gar nicht hätte erfüllen können. 6. Arbeit an einer neuen sozial-kulturellen Identität 6.1 Auflösung der devianten Jugendclique Die Clique besteht einige Jahre. Das Leben in der Clique bedeutet für die Mädchen sich täglich zu treffen, Verbotenes zu tun, zu klauen, gelegentlich andere zu überfallen und vor allem extensiv zu kiffen: 1261 TE: wir ham jeden tag party gemacht ↓ * des war se“hr 1262 TE: schö“n *aber dann is die zeit gekommn * von eim 1263 TE: joint bis auf zwei am tag * und früher ham wir nur 1264 TE: einmal im monat * und da“nn * am tag sie“bn joints * 1265 TE: a“cht joints ↓ Während dieser Zeit sind alle Gruppenmitglieder schlechte Schülerinnen, die meisten müssen eine Klasse wiederholen, einige auch mehrfach. Das Cliquenleben und seine Dynamik besetzen ihr gesamtes Denken und Handeln solange, bis einige Mitglieder engere Beziehungen zu jungen Männern eingehen. Von da an entwickeln sie neue Interessen, und über die Beziehung zu Außenstehenden erleben sie die Außenperspektive auf die Clique. Gleichzeitig entsteht Konkurrenz unter den Mädchen, sie schwärmen für denselben Jungen, streiten sich seinetwegen oder sind eifersüchtig aufeinander. Diese Spannungen belasten das bisherige Einverständnis in der Clique, enge Freundschaften bekommen Risse und zwischen zwei Mitgliedern kommt es zum endgültigen Zerwürfnis. Das neue Interesse an Jungen und die Wahrnehmung der Außenperspektive auf das bisherige Treiben durch geschätzte Personen bedeuten das Ende der Clique der „türkischen Powergirls“. Eine Informantin schildert eindrücklich, wie sie wegen ihres Freundes ihr Leben änderte: Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 183 1366 TE: un da hab isch mir gedacht * TE spinnst du ↑ * du 1367 TE: hast=en freu“nd ↑ * du bist mit dem fest zusa“mmen ↑ * 1368 TE: das (=Kiffen) verändert deine beziehung mit deim 1369 TE: freund * wenn du kiffst * du bist dann ein anderer 1370 TE: mensch ↓ In einem inneren Monolog führt sie sich die Wirkung von Drogen vor Augen und reflektiert die Konsequenzen, die der Drogenkonsum hat. Die Angst vor dem Verlust des Freundes ist stärker als die Lust auf Drogen und sie schafft es, davon weg zu kommen. Die Veränderung ihres Lebens bedeutet auch, dass sie mit der Clique der „Powergirls“ bricht. Ähnliche Erfahrungen machen auch die anderen Mitglieder. Über enge Bindungen zu Personen außerhalb der Clique beginnt die Reflexion über die bisherigen Aktivitäten, die die Mädchen an den Rand der Kriminalität gebracht haben. Sie beschließen, sich auf ihre Freunde dauerhaft einzulassen und die Clique aufzulösen. Für eine Informantin war 3631 DI: das ende der clique (...) der anfang vom guten * 3632 DI: weil sisch von da ab meine noten verbessert ham ↑ * 3633 DI: und isch go“tt sei dank nischt sitzen geblieben 3634 DI: bin * und da“nn hab isch ja meinen freund gehabt ↓ Auch andere werden nach dem Zusammenbruch der Clique in ihren schulischen Leistungen besser und ihr Alltag beginnt normaler zu werden. Trotz heftiger Auseindersetzungen in der Phase der Cliquenauflösung bleiben die meisten „Powergirls“ weiterhin befreundet. 6.2 Hinwendung zu neuen Vorbildern Nach dem Auseinanderbrechen der Clique suchen die Mädchen nach neuen Aktivitäten und Treffpunkten. In dieser Phase wird der Internationale Mädchentreff für sie interessant (vgl. dazu oben Teil I, Kap. 3.). Einige Cliquenmitglieder kennen die Einrichtung von früher; damals hatten sie mit der deutsch-türkischen Leiterin massive Auseinandersetzungen, die sie als chaotisch, rücksichtslos, brutal und auch zugekifft erlebt und ihnen Hausverbot erteilt hatte, da sie um den guten Ruf der Einrichtung fürchtete. Auf den Wunsch der Mädchen, die Einrichtung zu nutzen, reagiert die Leiterin zunächst ablehnend, nimmt sie dann aber unter der Bedingung auf, dass sie sich strikt an die Hausordnung halten. Die Phase der Eingewöhnung gestaltet sich für alle Beteiligten äußerst spannungsreich. Aus der Perspektive Die „türkischen Powergirls“ 184 der Leiterin sind die „Powergirls“ misstrauisch, abweisend und schotten sich ab aus Furcht, dass das, was sie gerade wieder aushecken, verraten werden könnte. Doch aufgrund der eigenen Biografie kann die Leiterin ihnen klarmachen, dass sie keine traditionelle Türkin ist, und die Mädchen erleben, dass sie ihre Beziehungen zu den jungen Männern unterstützt. In ihr, einer kompetent zweisprachigen, gebildeten, selbstbewussten und selbstständigen Frau, lernen die Mädchen ein neues Modell für weibliches Verhalten kennen und fassen allmählich Vertrauen. In langen und intensiven Diskussionen gewinnt die Leiterin Einfluss auf ihre Haltung gegenüber der Schule, motiviert sie zur Herausbildung neuer sozialer und beruflicher Orientierungen und regt sie zur Änderung ihres Ausdrucksverhaltens an. Sie wird für die „Powergirls“ zum neuen Leitmodell. Heute herrscht zwischen den ehemaligen Cliquenmitgliedern und der Leiterin ein enges Verhältnis; sie ist ihre Abla, die „ältere Schwester“, der sie sich bei schulischen und privaten Problemen anvertrauen und der sie sozial und beruflich nacheifern. Im Mädchentreff finden die „Powergirls“ endlich ein Forum, in dem sie über ihre traumatisch erlebten Erfahrungen in der Schule sprechen und kompetent diskutieren können. Sie erfahren etwas über Hintergründe und strukturelle Bedingungen der Migration, über Einwanderergesellschaften und charakteristische Umgangsweisen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten; sie lernen Techniken der Gegenwehr gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und sie diskutieren über Möglichkeiten der Veränderung in der Migrantengemeinschaft ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft. Die Leiterin versteht es, die Energien der Mädchen, die sich durch die Ausgrenzungserfahrungen entwickelt und in Devianz entladen hatten, zu kanalisieren, produktiv zu wenden und auf neue positive Aktivitäten zu richten. Das schildert eine Informantin folgendermaßen: 129 DI: >was der mädchentreff für mich is ↑ < * mh: mh * ← der 130 DI: ort der erwa“chung → LACHT nee also wi“rklich eh * 131 DI: ich glaub wenn ich da“ ↑ * im mädchentreff nich 132 DI: angefangen hätte dann- * wär ← se“hr vieles anders 133 DI: geworden für mich ↓→ Mit der Metapher Ort der Erwachung fasst die Informantin den Mädchentreff als den Ort, an dem sie zum ersten Mal Hilfe bei der Neuordnung ihrer Erfahrungen erlebt, an dem ihr neue Einsichten vermittelt werden und an dem sie neue Interessen entwickelt. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 185 In den Diskussionen im Mädchentreff, die ich dokumentieren konnte, werden vor allem folgende Erfahrungsbereiche thematisiert und neu aufgearbeitet: a) Diskriminierung und Minderheitenstatus Zu Cliquenzeiten betrachteten die Mädchen Diskriminierungen als Problem in ihrer Schule, als fallbezogen, als etwas, das sie als türkische Clique betrifft. Nach den Diskussionen mit der Leiterin wird ihnen klar, dass ihre Erfahrungen auch durch strukturelle Probleme begründet sind, die charakteristisch für die Migrationssituation in Deutschland sind, und die auch andere Migrantengruppen haben: 4070 DI: erst nachdem ich mich damit befasst habe wie 4071 DI: schlecht es den türken und anderen ausländern hier 4072 DI: in deutschland geht und dass sie nicht akzeptiert 4073 DI: werden * und dass sie n/ äh nicht wissen wohin sie 4074 DI: gehörn HOLT LUFT erst dann is=es mir bewu“sst 4075 DI: geworden ↑ * und erst jetzt denk ich darüber nach 4076 DI: (...) damals ↑ in der schule is mir des alles auch 4077 DI: passiert ↓ HOLT LUFT aber erst je“tzt weiß ich * 4078 DI: dass ich nicht alleine bin ** und dass auch andere 4079 DI: gemerkt haben dass es dieses problem gibt ↑ In den Diskussionen gelingt es, die oppositive Verhärtung und perspektivische Abschottung der Mädchen gegenüber Deutschen und der deutschen Schule aufzubrechen und ihnen Mut zur Verbesserung ihrer Situation zu machen: 140 DI: dort im mädchentreff hab ich gelernt * man ka“nn 142 DI: was verändern * vorher hab ich immer gedacht das 143 DI: hat kein sinn oder HOLT LUFT ähm s=lohnt sich nicht 144 DI: oder ↑ einfach keine hoffnung auf ähm verbesserung 145 DI: gehabt * aber jetzt denk ich scho“n dass ich was 146 DI: verä“ndern kann ↓ Was der Sprecherin vorher als sinn- und hoffnunglos erschien, lernt sie jetzt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und erkennt das Potenzial zur Veränderung. Während die Mädchen in der Cliquenzeit über ihre Zukunft - wo sie leben und was sie arbeiten wollen - eher diffuse Vorstellungen hatten, erarbeiten sie sich jetzt klare Ziele. Ihnen wird deutlich, dass sie, da sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, einen Anspruch auf Zugehörigkeit erworben haben und auf Dauer in Deutschland leben und sozial akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft werden wollen; exemplarisch dafür: Die „türkischen Powergirls“ 186 4159 DI: ich mein ich * will hie“r akzeptiert werden * ich 4160 DI: will ja hier bleiben * ich will ja nicht weg ↑ * 4161 DI: ich will hie“r in deu“tschland leben ↑ b) Reflexion des Selbstverständnisses als „Türkin“ Mit der Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, beginnen Reflexionen über das bisherige ethnisch-kulturelle Selbstverständnis. Zur Cliquenzeit war das Selbstbild der „türkischen Powergirls“ ethnisch ungebrochen und wurde ausgedrückt durch isch bin voll die Türkin oder: 1735 TE: früher hab isch immer gesagt isch fühl misch 1736 TE: hundert prozent türkisch * is nischt lange her 1737 TE: (...) isch hab mir darüber früher nie so gedanken 1738 TE: gemacht ob isch jetzt türkin bin (...) → isch hab 1739 TE: einfach gsagt isch bin tü“rkin ↑← Mit den Diskussionen im Mädchentreff kommen erste Zweifel an diesem Selbstverständnis: 837 DI: des is erst so nach dem mädchentreff gekommen 838 DI: erst nachdem ich mich mit dem zeug da * beschäftigt 839 DI: hab dass ich des so ni“cht mehr sagen kann * 840 DI: isch bin türkin Es setzt ein Umdenkungsprozess ein, und das bisher ungebrochene Selbstverständnis bekommt Risse. Das macht eine Informantin am Beispiel ihrer Sprachpraxis deutlich: 1789 TE: ja wenn isch heut mit türkischen freunden zusammen 1790 TE: bin * red isch fast nur deu“tsch ↓ * wenn isch mit 1791 TE: meim freund zusammen bin red isch ne mischsprache * 1792 TE: halb deutsch und halb türkisch * wie soll isch dann 1793 TE: noch sagen isch bin hu“ndertprozentisch türkisch ↑ Zur Cliquenzeit war die Sprachpraxis der Sprecherin wahrscheinlich auch durch sprachliche Mischungen charakterisiert. Sie war damals in der Realschule und die ersten Sprachaufnahmen von ihr (ca. ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Clique) zeigen eine ausgeprägte Mixingpraxis. Trotzdem verstand sie sich in der Cliquenzeit in selbstverständlicher Weise als „Türkin“. Durch die Einflüsse im Mädchentreff setzt ein Prozess der Selbstbeobachtung ein, frühere Gewissheiten brechen durch die Beobachtung von Widersprüchen auf und das bisherige Selbstverständnis wird in Frage gestellt. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 187 c) Übernahme sozialer Verantwortung Die endgültige Absage an die in der Cliquenzeit maßgeblichen Orientierungen hängt vor allem damit zusammen, dass es der Leiterin gelingt, die Mädchen in die Aufgaben des Mädchentreffs einzubinden. Sie bringt sie dazu, soziale Verantwortung zu übernehmen, und es gelingt ihr, die Mädchen, die bisher nur gegen ihre Umwelt kämpften, dazu zu bringen, etwas für sie zu tun und soziales Engagement zu entwickeln: 136 DI: dort hab ich eigentlich gelernt äh viel sozia“ler 137 DI: zu denken * also so äh ** was für die gese“llschaft 138 DI: zu tun ↓ etwas verä“ndern zu wollen Die Leiterin überträgt den ehemaligen Cliquenmitgliedern soziale Verantwortung für die Jüngeren, verbunden mit dem Auftrag, sie schulisch und in der Entwicklung sozialer Orientierungen zu unterstützen. Dabei kontrolliert sie sehr genau, ob sie die übertragene Aufgabe zuverlässig erfüllen. Sie werden Hausaufgabenhelferinnen für die Jüngeren und/ oder führen Sport-, Tanz- und andere Freizeitangebote durch. Sie lernen Jüngere anzuleiten, zu fördern und ihnen Vorbild zu sein. Einige begeistert das so sehr, dass sie sich für pädagogische Berufe interessieren und eine Ausbildung als Lehrerin, Erzieherin oder Sozialpädagogin anstreben. Ihr Ziel ist es, Ghettokindern die Sprach- und Schulprobleme zu ersparen, die sie selbst hatten, sie besser auf höhere Schulen vorzubereiten, ihr Sozialverhalten so zu beeinflussen, dass sie nicht auffällig werden und sie zu motivieren, dass sie lernen und sich verändern. Ein ehemals sehr aktives Cliquenmitglied will die Jüngeren vor dem Weg bewahren, den sie gegangen ist: 1458 TE: isch arbeite jetz auch seit ungefähr zwei oder drei 1459 TE: jahren im mädchentreff und es macht mir spaß den 1460 TE: kindern zu zeign eh * wie sie=s besser machn können 1461 TE: die sollen net ki“ffen oder klau“en un so ↓ 6.3 Erfahrungen von Marginalität in der Herkunftsgesellschaft Im Zusammenhang mit der Entscheidung, dass ihre berufliche und soziale Zukunft nicht im Herkunftsland der Eltern, sondern in Deutschland liegt, werden Erfahrungen des Fremdseins in der Türkei, im Herkunftsdorf der Eltern und in der Herkunftsfamilie formuliert. Dieses Gefühl wird an folgenden Erfahrungsbereichen festgemacht: Die „türkischen Powergirls“ 188 a) Perspektive der Türkeitürken auf die Informantinnen Während die Informantinnen in Deutschland als „Türkinnen“ wahrgenommen werden, löst sich diese Zuschreibung in der Türkei auf: hier bin isch türkin aber drüben dann nisch mehr. Durch Verwandte und Freunde werden sie folgendermaßen kategorisiert: 491 AR: also- * die sagen dann immer du aus deu“tsch/ du 493 AR: bist aus deu“tschland Sie wird als zu Deutschland gehörig wahrgenommen und ihr werden andere Eigenschaften zugeschrieben: 493 AR: du bist aus deu“tschland du bist a“nders ↓ * des äh 495 AR: des sti“mmt auch irgendwie: ** die drüben * die 496 AR: jugendlischen die de“nken anders die re“den auch 497 AR: ← ganz anders ↓→ isch weiß net dakomm=isch mir 498 AR: schon fremd vor ↓ Die Sprecherin bestätigt die Fremdsicht und macht ihr Anderssein durch den Vergleich mit Jugendlichen in der Türkei im Bereich des Denkens und der Sprache fest. In beiden Bereichen sieht sie gravierende Unterschiede zwischen Türkeitürken und „Türken aus Deutschland“, Unterschiede, die für sie in der Türkei zu Fremdheitserfahrungen und Erfahrungen des Ausgegrenztseins führen. b) Sprachliche Differenzen Besonders die sprachlichen Unterschiede führen zu unangenehmen Erlebnissen in der Türkei. Diese Unterschiede werden folgendermaßen erklärt: 694 AR: wir ham uns ja ← wir hameine- → * äh: m * spra“che 695 AR: entwickelt für uns allei“n halt * des is so ko“misch ↑ Die Jugendlichen haben in Deutschland eine eigene türkische Sprache entwickelt, die aus Elementen verschiedener türkischer Varietäten besteht, die sie in ihren Familien erworben haben: 530 AR: die leute: aus=m do“rf sind hier → die leute aus der 531 AR: sta“dt ← und die“ reden halt e bissl a“nderster und 532 AR: du schnappst von de“nen bissl und von de“nen bissl- * 533 AR: (...) und wenn du dann drüben bist ↑ → meine tante sagt 534 AR: immer ← oh go“tt wie redest=n du: ↑ * wie=n bau“er ↓ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 189 Die Jugendlichen kombinieren Elemente aus verschiedenen sozialen Stilen aus der Türkei. Die Ressourcen für die Kombinationen sind relativ „zufällig“, d.h., sie hängen von der Zusammensetzung der lokalen Sprechergemeinschaft und von den eingebrachten Sprecherkompetenzen ab. In der Mannheimer Migrantengemeinschaft z.B. kommen die meisten Familien aus Dörfern und mittleren Städten Zentral- und Ostanatoliens und die Kinder bringen die in ihren Familien gesprochenen dialektalen Varietäten aus diesen Gebieten in die Peer-Group ein. Dort werden Elemente aus verschiedenen Regionen und aus verschiedenen sozialen Milieus miteinander kombiniert, ohne dass die Jugendlichen die sozialen Bedeutungen kennen, die in der Türkei mit den verwendeten Sprach- und Stilelementen verbunden werden. Aus der Perspektive von Türkeitürken fehlt ihnen die Kompetenz, situationsadäquat zu sprechen und sozialstilistische Differenzierungen vorzunehmen; sie vergreifen sich „im Ton“, werden gerügt und fühlen sich beschämt: 549 AR: ich so oh go“tt wie red=isch denn LACHT LEICHT 551 AR: ja“ des is mir dann immer so pei“nlisch- Außerdem gibt es viele lexikalische Veränderungen im Türkeitürkischen, die Jugendliche hier nicht kennen; sie verwenden veraltete Bezeichnungen, fallen auf, werden korrigiert oder ausgelacht: 552 AR: zum beispiel einige wö“rter ← ändern sisch drüben → 553 AR: * zum beispiel hieß * <tü“te ↑ > * äh: <to“rba ↓ > 554 AR: und nach * n paar jahrn bin isch wieder rüber ↑ 555 AR: und irgendwie hieß=es dann po“ ş et * > ← und ich so 556 K: HOCH 556 AR: was is denn po“ ş et ↑→ < * und die so ja tü“teich so 558 AR: hä ↑ hieß=es denn nischt torba * < ← a“ch PUSTET AUS 559 AR: komm → > des des sagt man ja nischt mehr jetzt * 560 AR: mittlerweile heißt des po ş et ↓ * → und immer 561 AR: wieder ä“ndern sisch irgendwelsche wörter ← wo isch 562 AR: dann >nischt mitreden kann ne ↑ * voll komisch ↓ < Vor allem aber fällt es den meisten schwer, längere Zeit nur türkisch zu sprechen, weil ihnen die Routine fehlt. Monolinguales Türkisch strengt sie ähnlich an, wie das Sprechen einer in der Schule gelernten Fremdsprache: 1964 HÜ: es gibt halt immer wieder so sachen ↑ wo isch halt 1965 HÜ: ähm so hä“ngenbleibe ↑ wo mir dann irgendwie=n 1966 HÜ: türkisches wort fehlt ↓ * wenn ich türkisch rede * 1967 HÜ: kommt es mir so vor wie wenn ich e“nglisch reden 1968 HÜ: würde ↓ * also es fällt mir schon bisschen schwer * Die „türkischen Powergirls“ 190 1969 HÜ: da muss ich mich halt anstrengen dass mir einige 1970 HÜ: wörter einfallen ↓ Die Informantinnen erleben, dass sie mit den deutsch-türkischen Mischungen, die sie nicht kontrollieren können, in der Türkei auffallen und ausgelacht werden: 165 FU: ← isch me“rk des gar net → * dass=sch wieder was 166 FU: deutsches gesagt hab ↓ * isch merk dann nur * dass 167 FU: die so eh/ dass die anfangn zu lachen ↓ * die sagn 168 FU: immer ← isch re“d so komisch → Die Informantin hat den letzten Besuch in der Türkei in sehr schlechter Erinnerung. Da sie wegen ihrer Sprache ständig ausgelacht wurde, zog sie sich von ihren Verwandten zurück, verstummte und sehnte sich nach ihren Freunden in Mannheim: 196 FU: isch hab misch ← überhau“pt nisch mehr getraut → was 197 FU: zu sagen ↓ * sch=war nur noch still * isch konnt dann 198 FU: auch nisch mehr türkisch sprechen ** äh >des war so: 199 FU: schlimm< ↓ * isch wollte nur noch nach mannheim ↓ Im Vergleich zur Anstrengung, die monolinguales Türkisch für sie bedeutet, arbeiten die Informantinnen auch die Bedeutung der „Mischsprache“ heraus: Sie ist die selbstverständliche Ausdrucksform, die keine Anstrengung kostet und in der sie sich wohl fühlen: 1975 HÜ: bei der mischsprache ↑ * da muss ich mich gar nischt 1976 HÜ: konzentrieren also da pf: * das geht einfach * und 1977 HÜ: es gibt tage ↑ * wo ich richtig ähm merke dass ich 1978 HÜ: diese mi“schsprache bevorzuge c) Unterschiede im gesamten Ausdrucksverhalten Da ist zunächst die Kleidung, die die Mädchen in den Herkunftsdörfern der Eltern auffällig macht: 4464 DI: und wenn du im dorf bist ↑ * wirst du a“ngegafft bis 4465 DI: zum geht nicht mehr * du musst dich ganz a“nders 4466 DI: anziehen damit du nicht angegafft wirst ↑ Dann fällt alles auf, was für sie normale Dinge sind wie in Lokale gehen, rauchen, sich schminken, laut miteinander reden und lachen, expressive Gestik und Mimik; alles macht sie auffällig: Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 191 4473 DI: und ähm * und du darfst nicht mal ins café * du 4474 DI: kannst auf der strasse nicht rauchen ↑ und musst 4475 DI: wi“rklich drauf achten was du machst ↓ Und: 378 AR: die türkinnen dort * die verziehn nisch so des 388 AR: gesicht wie wir * die lachen nisch so laut * die 389 AR: reden nisch so mit den händen wie wir * die sind 390 AR: viel stiller ↑ Vor allem jedoch fällt ihr selbstbewusstes, diskussions- und widerspruchsfreudiges Verhalten auf, das in krassem Gegensatz zum Verhalten der „traditionellen jungen Türkin“ steht. Im Vergleich dazu erscheinen die Mädchen wild, unerzogen, ungehörig und bieten ständig Anlass zum Familienstreit. Auch wenn die Eltern versuchen, sie auf die Türkeibesuche vorzubereiten, 151 gelingt es den Mädchen immer nur kurze Zeit sich zu kontrollieren. Für einige sind die Urlaube in der Türkei der blanke Horror: Sie hassen das Dorf und die Verwandten, besonders die älteren Brüder des Vaters, die sich ihnen gegenüber total dumm und total traditionell aufspielen so sehr, dass sie keine Verwandtenbesuche mehr machen. Für die Eltern sind die Urlaube äußerst spannungsreich. Sie hängen mit Respekt und Zuneigung an Eltern und Geschwistern und haben Verständnis für deren Sichtweisen, doch sie verteidigen auch ihre Töchter und schützen sie davor, dass schlecht über sie geredet wird und sie als Schlampen, die sich herumtreiben, bezeichnet werden. Für einen Vater wird der Urlaubsstress so stark, dass er, um nicht mehr unter der Kontrolle der Verwandten leben zu müssen, eine Wohnung in einem Nachbarort kauft und dort mit seiner Familie den Urlaub verbringt. d) Emotionale Distanz zur Familie in der Türkei Die Mädchen erleben die räumliche Distanz zur Familie in der Türkei zunehmend auch als soziale und emotionale Distanz. Eine Informantin verbindet mit der Türkei nur Fremdheitserfahrungen, da sie dort nie gelebt und keine sozialen Beziehungen geknüpft hat: 1722 TE: und wenn isch in die türkei geh is mir alles so 1723 TE: fremd ↓ * meine familie mein land alles is fremd 151 Einer der Väter kauft seinen Töchtern lange Röcke und Blusen mit Ärmeln und schärft ihnen ein, dass sie brav sein sollten, nicht rauchen und vor allem nicht alleine aus dem Haus gehen dürften. Die „türkischen Powergirls“ 192 1724 TE: weil * isch hab dort keine bezie“hung * isch hab 1725 TE: dort nix erlebt * isch hab dort keine rischtigen 1726 TE: freu“nde wie hier * isch bin nischt dort auf die 1727 TE: schule gegangen * isch hab dort ga“r nix erlebt 1728 TE: außer fe“rien ↓ Für eine andere Informantin ist die Feststellung der Großmutter, dass sie nicht wirklich ihre Enkelin sei, weil sie nicht mit ihr gelebt hat, schockierend: Sie fühlt sich abgelehnt und im Vergleich zu den Cousins als Kind zweiter Klasse behandelt. Mit Türkeiaufenthalten sind aber auch gute Erinnerungen verbunden. Eine Informantin schwärmt von der schönen Landschaft, der klaren Luft und dem total blauen Himmel; eine andere findet das Dorf mit den Schafen, den Kühen und den schlechten Straßen ganz schön. Außerdem werden die Freundlichkeit und Wärme der türkischen Verwandten und das enge familiäre Zusammenleben positiv hervorgehoben. Die Erfahrungen des „Fremd- und Ausgegrenztseins“, die die Informantinnen im Herkunftsland der Eltern machen, treten besonders in der Lebensphase schmerzlich ins Bewusstsein, in der das Selbstverständnis als „Türkin“ ins Wanken gerät und gleichzeitig der Weg in die deutsche Gesellschaft mit großen Problemen belastet erscheint. 6.4 Angst vor der negativen Fremdsicht Mit der Entscheidung der Mädchen, dass die berufliche und gesellschaftliche Zukunft in Deutschland liegt, gewinnen die erlebten Vorurteile der Deutschen gegenüber türkischen Migranten eine ganz neue Bedeutung; sie erscheinen jetzt als das zentrale Hindernis auf dem Weg zu Erfolg, zu Anerkennung und Gleichberechtigung. Während sich die Mädchen in der Cliquenzeit mit Aggression und Gewalt gegen Abwertungen von deutscher Seite zur Wehr setzten, müssen sie jetzt Strategien entwickeln, die es ihnen ermöglichen sich gegen Diskriminierungen zu wehren und gleichzeitig von den Deutschen akzeptiert zu werden. Die Entwicklung solcher Strategien ist ein langwieriger und schmerzhafter Prozess. Die Informantinnen versuchen zunächst alles zu vermeiden, was die Vorurteile der Deutschen über Türken bestätigen könnte. Eine mögliche Strategie ist die Vermeidung von Kontakten und damit die Vermeidung von potenziell Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 193 Face bedrohenden Situationen. 152 Diese Strategie wählt eine Studentin; sie hält Distanz zu deutschen KommilitonInnen aus Angst, dass sie durch ihr Verhalten bei den Deutschen Vorurteile über Türken bestätigen könnte. 4860 DI: also ich/ ich hab angst irgendwelche vorurteile zu 4861 DI: verfestigen verstehste ↑ HOLT LUFT in die- ** >na< 4862 DI: ich glaub des is eher *2* dass ich * die gar nicht 4863 DI: ranlassen will dam/ damit sie * sich kein urteil 4864 DI: über mich bilden können Eine andere Strategie ist, das eigene Verhalten an Werten und Normen der Deutschen auszurichten. Eine Informantin, die immer wieder erlebt hat, dass sie von Deutschen in die Schublade Gastarbeiter oder Türkin kommt, vermeidet im Kontakt mit Deutschen alles, was diese veranlassen könnte, sie in diese Schublade zu stecken: 3489 YI: ich bin vorsichtig * im umgang mit deutschen 3490 YI: und ich achte immer drauf dass man * nicht schlecht 3491 YI: äh über mich redet dass man ähm * nicht schlecht 3492 YI: über die äh türkin redet * ich versuch immer mich 3493 YI: normgerecht zu verhalten und * ja so=n schlechtes 3494 YI: verhalten vermeide ich damit sie ja nicht kommen 3495 YI: und sagen äh- * es is halt >ähm< typisch türkisch * 3496 YI: es is einfach angst ↑ * wahrscheinlich dass man 3497 YI: a“ngegriffen wird Für die Sprecherin findet der Kontakt mit Deutschen in einem vorurteilsbeladenen Rahmen statt. Sie hat gelernt, dass von ihr als „Türkin“ negative Eigenschaften erwartet werden, und dass Deutsche alles, was an ihr nicht den deutschen Normen entspricht, als „typisch türkisch“ wahrnehmen. Da sie ein positives Bild von „Türken“ vermitteln will, tut sie alles, was den Normerwartungen der Deutschen entgegenkommt, d.h., sie richtet ihr Verhalten an einem den Deutschen zugeschriebenen Normen- und Wertekatalog aus, damit durch eine Verhaltensauffälligkeit nicht die Kategorie der „Türkin“ in Misskredit kommt: 3593 YI: ich glaub auch dass sie an mir beobachten wie 3594 YI: türkinnen so sind ↑ ich spüre das * und dann wollen 3595 YI: sie stereo * typen bilden * wie sind die türkinnen ↑ * 3596 YI: sie wollen sie wieder in ihre ähm schubladen haben 152 Zum Konzept des Face vgl. Goffman (1971). Das Face-Konzept wird unten in Teil III, Kap. 2. eingeführt und erläutert. Die „türkischen Powergirls“ 194 3597 YI: und die voll kriegen * und von daher will ich also 3698 YI: negatives verhalten vermeiden ↑ damit man die 3699 YI: türkinnen nich in diese schublade <reinstecken> kann Interessant ist, dass die Sorge, Vorurteile zu bestätigen und zu verstärken, sich nicht nur auf die eigene Person bezieht, sondern insgesamt auf die türkische Migrantenpopulation. Die Informantinnen stört es, wenn Türken unangenehm auffallen, wenn über sie negativ geredet oder geschrieben wird, und sie wünschen sich, dass andere Türken kein schlechtes Bild über Türken abgeben. Wenn es doch passiert, fühlen sie sich betroffen und verantwortlich: 460 DI: wenn die dann dieses- * wenn die so=n du“mmes bi“ld 461 DI: abgeben * ich fühl mich verantwortlich für die * 462 DI: doch wi“rklich ich fühl mich richtig verantwortlich 463 DI: für die ↓ Ganz ähnlich formuliert es eine andere Informantin: 1999 HÜ: ich glaub ich hab da wirklich voll die komplexe 2000 HÜ: wenn jetzt türken irgendwas falsch gemacht ham ↑ * 2001 HÜ: ähm * mit deutschen oder so * ich hab mich dann 2002 HÜ: wirklich für die türken geschämt ↑ * hab dann gedacht 2003 HÜ: mein go“tt ihr seid doch wi“rklich voll am arsch * 2004 HÜ: dann hab ich mich wi“rklich voll geschämt ↓ Die Informantin erkennt selbst, dass das sich Verantwortlich-Fühlen für das Fehlverhalten anderer, die mit ihr persönlich nichts zu tun haben, und mit denen sie sich nur über das ethnische Merkmal verbunden fühlt, bei ihr übermäßig ausgeprägt ist (ich hab da wirklich voll die komplexe). Sie erklärt sich ihre Haltung mit dem starken Wunsch, von Deutschen akzeptiert zu werden. Es sind vor allem folgende Vorurteile über Türken, die die Informantinnen stören: „Türken wollen sich nicht integrieren“, „sie wollen kein Deutsch lernen“ und „sie ziehen sich in ihre Ghettos zurück“: 1563 HÜ: und da waren voll die krassen aussagen * dass alle 1564 HÜ: türken gar kein gescheites deutsch sprechen können ↑ 1565 HÜ: und dass sie sich halt nicht integrieren können und 1566 HÜ: so sachen ↓ Eine andere Informantin hat von deutscher Seite ganz Ähnliches gehört: 1452 HL: dass es sie stört dass hier im jungbusch die ganze 1453 HL: zeit nur türkisch gesprochen wird * und dass die Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 195 1454 HL: türken sich so immer in ihre ghettos verziehen ↑ * 1455 HL: und wieso sie halt nich woanders wohnen und bla ↑ * Diesen Vorurteilen begegnen die Mädchen entweder argumentativ und versuchen sie durch Gegenbelege zu entkräften. Dem Vorwurf der Selbst- Ghettoisierung z.B. halten sie entgegen, dass es für türkische Familien äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, Wohnungen außerhalb des „Ghettos“ zu bekommen, weil Deutsche nicht an Türken vermieten. Oder sie versuchen durch die Hervorhebung eigener Leistungen einen Gegenbeleg zu liefern. Der Vorwurf nicht gut Deutsch zu sprechen trifft ja gerade auf die ehemaligen „Powergirls“ mit ihren hohen sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten nicht zu. Doch das Gegenarbeiten gegen dieses Vorurteil hat Konsequenzen; aus Angst es zu bestätigen hat eine Informantin Sprachhemmungen entwickelt: 1767 HÜ: wenn ich mit einigen leuten zusammen bin wo ich 1768 HÜ: halt denke oah jetzt muss ich mich besonders 1769 HÜ: anstrengen weil die halt voll die hohen erwartungen 1770 HÜ: haben ↑ * ähm dann- * merk ich dass ich absolut 1771 HÜ: kei“n deutsch sprechen kann Bei einer anderen Informantin führt die Strategie des demonstrativ gegenläufigen Verhaltens dazu, dass sie, wenn Deutsche in der Nähe sind, es vermeidet, mit ihrer Familie Türkisch zu sprechen, und ihre Deutschkompetenz hervorhebt: 884 DI: ich merke dass ich * sobald deutsche in der nähe 885 DI: sind anfange deutsch zu sprechen damit die auch 886 DI: merken dass wir deutsch sprechen ↓ Die Strategie des demonstrativen Gegenarbeitens gegen das Stereotyp des nicht Deutsch sprechenden Türken ist bereits zu einer routinierten Sprachpraxis geworden, die sie am folgenden Beispiel erläutert: Sie stand mit ihren Eltern, mit denen sie immer Türkisch spricht, an einem Bankschalter und beriet sich mit ihnen. Als sich Deutsche am Schalter anstellten, wechselte sie ins Deutsche und merkte erst an den Reaktionen der Eltern, dass sie die Sprache gewechselt hatte. Dieser Vorfall machte ihr die Regelhaftigkeit ihres Verhaltens bewusst: 481 DI: also ich weiß jetzt dass * eh sobald deu“tsche in 482 DI: der nä“he sind wenn ich mit meiner mutter oder mit 483 DI: meim vater unterwegs bin * dass ich dann anfang 484 DI: mit meinen eltern deutsch zu sprechen * um denen Die „türkischen Powergirls“ 196 485 DI: zu zeigen wir sind nicht von der sorte türken die 486 DI: kein wort deutsch können LACHT is doch krank oder ↑ Diese Schilderung zeigt, dass Begegnungen mit Deutschen im Rahmen eines festen bipolaren Kategorienschemas wahrgenommen und verarbeitet werden. Deutsche werden in selbstverständlicher Weise als potenzielle Träger der genannten Vorurteile kategorisiert und in Reaktion darauf übernimmt die Informantin in demonstrativer Weise Handlungsweisen, die dem den Deutschen unterstellten Bild über Türken maximal widersprechen. Sie setzt sich und ihre Familie in einer Art in Szene, von der sie annimmt, dass sie in Kontrast zu dem Bild der Deutschen steht. Dieses Verhaltensschema setzt sich ohne einen in der Situation hervorgebrachten Auslöser in Gang und wird nur durch die bereits habitualisierte Perspektive der Informantin auf die Situation gesteuert. Die Informantin erkennt selbst, dass es unangemessen ist, reale Situationen auf stereotype Unterstellungen, auf die in stereotyper Weise reagiert wird, zu reduzieren und sie distanziert sich durch Lachen und Selbstkritik davon is doch krank oder ↑ . Dann deckt sie das Motiv dafür auf: Ihrer Erfahrung nach gibt es Türken, deren Verhalten dem sozialen Vorurteil der Deutschen entspricht, und für diese Türken schämt sie sich. Sie kategorisiert sie als „asozial“, und macht sie verantwortlich für das schlechte Image, das Türken in der deutschen Gesellschaft haben: 153 887 DI: und das ist ein ← zeichen dafü: r → ** dass * ← ich 888 DI: mich schäme ↑→ * dass es solche türken gibt ja ↓ 889 DI: ich schäme misch nicht für mi“ch oder für meine 890 DI: e“ltern oder so ↓ * sondern für die“ türken die * 891 DI: ← einfach a“sozial sind →↓ Wie diese Beispiele zeigen, führen die Informantinnen auf ihrem Weg in die deutsche Gesellschaft einen ständigen Kampf gegen deutsche Vorurteile, die explizit geäußert, angedeutet oder von ihnen auch nur antizipiert werden. Die Auseinandersetzung mit Vorurteilen findet meist nicht offen statt, sondern verläuft unterschwellig; aufgrund der bisherigen Erfahrungen unterstellen die Informantinnen bei Deutschen ein festes Set an Vorurteilen, das ihnen den Orientierungsrahmen liefert, und sie entwerfen dazu ein positives „türkisches“ Gegenbild. Auch in dieser Lebensphase entwickeln die Mädchen ein Selbstbild auf der Folie des negativen Fremdbildes, ähnlich wie sie es in der Cliquenzeit taten. 153 Zur Kategorie des „asozialen Türken“ vgl. unten Teil III, Kap. 4.1.2.1 Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 197 Doch im Unterschied zur Cliquenzeit, in der sie die zentrale Eigenschaft des negativen Fremdbildes auffällig sein für sich übernahmen und positiv werteten, wählen sie jetzt die Eigenschaften, die in Kontrast zu dem negativen Fremdbild stehen. Sie sind nicht mehr die auffälligen Türkinnen, die das negative Fremdbild bestätigen, sondern eher überangepasst und tun alles, um dem negativen Fremdbild nicht zu entsprechen. Doch die ständige Selbstkontrolle aus Angst, Stereotype zu bestätigen, hat ihren Preis; sie ist kräftezehrend, führt zu Blockaden und erschwert den Kontakt mit Deutschen. 7. Neue Selbstverortung und neues Selbstbild 7.1 Die Absage an beide Bezugsgesellschaften Im Rahmen der Diskussionen im Mädchentreff bildet sich allmählich ein Selbstbild heraus, das nicht mehr in Abhängigkeit und auf der Folie von negativen Fremdbildern entwickelt wird, sondern das eine eigenständige, selbstbestimmte Qualität erhält. Dieser Prozess beginnt mit der allmählichen Abwendung von beiden Bezugsgesellschaften; er ist verbunden mit tiefer Verunsicherung und dem Gefühl nirgendwo hinzugehören (vgl. Teil III, Kap. 4.1) und löst Orientierungslosigkeit aus: 3391 DI: aber äh ehrlich * gesagt weiß ich selber ni“ch 3392 DI: was ich bin ↓ In diesem Prozess der Ablösung werden ausgrenzende Fremdbezeichnungen aus beiden Bezugsgesellschaften ebenso wie Identifikationsangebote diskutiert und hinterfragt. Die zentrale Ausgrenzungskategorie der deutschen Gesellschaft ist die Kategorie „Ausländer“. Die Mädchen hatten sie lange Zeit als Selbstbezeichnung übernommen, weil sie von Deutschen damit bezeichnet wurden. Bei Diskussionen darüber wird ihnen das mit der Kategorie implizierte Ausgrenzungs- und Abwertungspotenzial bewusst, und die Kategorie wird mit folgenden Argumenten für die Selbstbezeichnung verworfen: Wir sind hier geboren und hier aufgewachsen; wir haben unsere Familien und Freunde hier; wir kennen uns hier aus und wir wollen hier leben, alles Zuschreibungen, die im Widerspruch zur „Ausländer“-Kategorie stehen. Die Fremdbezeichnung „Ausländer“ wird offensiv zurückgewiesen und durch eine neue ersetzt: 76 DI: wei“ßt du mittlerweile empfinde ich des wort 77 DI: ausländer als ein ← schi“mpfwort ↓→ * wenn da- wenn 78 DI: da jemand redet und sagt au“sländer ja ↑ * dann Die „türkischen Powergirls“ 198 79 DI: sag ich immer äh <migra“nt ↓ > un=ganz äh <aggressiv> 80 DI: und die eh die <Julia> (=deutsche Studentin) hat 81 DI: sich total gewundert ↑ dass ich da so au“sraste * 82 DI: so sensibel bin ↓ * <migra“nt> Die Fremdbezeichnung „Ausländer“ wird durch die positive Selbstbezeichnung „Migrant“ ersetzt, die Eigenschaften ausdrückt, mit denen die Informantinnen sich identifizieren: „Migrant“ enthält weder eine Spezifizierung des Herkunftslandes noch des Aufnahmelandes und fokussiert den Aspekt des „Wanderns“. Für die Informantinnen beinhaltet „Migrant“ die Absage an ethnische Zugehörigkeiten und ein Selbstverständnis jenseits ethnischer Kategorien. Die Mädchen diskutieren auch über das Ausmaß, in dem sie an das eine oder andere Land gebunden sein wollen. Da sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, fühlen sie sich etwas mehr mit Deutschland verbunden als mit der Türkei: 1711 TE: isch fühl misch eher deutsch wie türkisch ↓ 1712 TE: * weil isch bin ja hier aufgewachsen isch bin 1713 TE: hier geborn Der Ort, den sie als „Heimatstadt“ bezeichnen und an dem sie sich wohl fühlen, ist für alle Informantinnen Mannheim. Der Herkunftsort der Eltern wird nie als „Heimatort“ bezeichnet: 2017 HY: und isch denk dass isch eine mannemarin bin ↓ isch 2018 HY: denk nischt dass isch aus/ äh isch komm aus aksaray 2019 HY: sag isch nie äh: / * wenn misch jemand fragt würd 2020 HY: isch sagen isch bin mannemarin weil isch bin hier 2021 HY: geborn ↑ * isch hab alles hier mitgekriegt * diese 2022 HY: stadt * isch kenn des alles hier ↑ isch fühl misch 2023 HY: hier in mannheim wohl so“ wie in meiner heimatstadt Das Gefühl der Verbundenheit mit Mannheim wird jedoch ausschließlich in lokal-räumlichen Kategorien ausgedrückt, durch die Verbundenheit mit dem Wohnort und dem Lebensumfeld in Mannheim: 1715 TE: ku“ck * wenn isch jetzt * eine woche lang 1716 TE: irgendwo hingehn würd ↓ * hei“delberg zum beispiel 1717 TE: da vermiss=sch schon mannheim ↓ * würd=sch: 1718 TE: eineinhalb monate in die türkei gehen * dann 1719 TE: vermiss isch mannheim ↓ Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 199 Das Gefühl der Verbundenheit bezieht sich nicht auf die „Deutschen“; zu ihnen fühlen sich die Informantinnen nicht zugehörig, und sie könnten sich nie als „deutsch“ bezeichnen: 2337 AR: ich lebe hier ↑ aber ich kann nicht sagen ich bin 2338 AR: deutsche * des kann ich nicht Das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit basiert auf den als unüberwindbar erlebten Unterschieden zwischen Deutschen und Türken, auf dem Gefühl des „Anders-Seins“ und auf den Erfahrungen der Ausgrenzung durch Deutsche. Diese über Jahre gewachsene Haltung kann auch durch die formal-juristische Zugehörigkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft, nicht verändert werden: 3065 YI: die unterschiede sind halt zu groß * immer noch 3066 YI: zu groß zwischen einer deutschen ↑ und einer 3067 YI: türkin ↓ also (...) * und deshalb kann ich mich 3068 YI: nicht als eine deutsche betrachten obwohl ich 3069 YI: meinen deutschen ausweis hab ↓ * es ändert nix an 3070 YI: dem gedanken dass man anders is ↑ * ich bin anders 3071 YI: als die deutschen ↓ * ich rede auch andere sachen 3072 YI: als die deutschen frauen Auch für andere Informantinnen ist der große soziale Abstand zwischen Deutschen und Türken das Hauptargument für die Absage an eine sozialemotionale Verbundenheit mit Deutschen: 3263 HI: irgendwie is da immer irgendwie so=n abstand 3264 HI: zwischen deutschen und türken ↓ halt bei mir ↓ 3265 HI: odda überhaupt bei meinen freunden ↓ * weil isch 3266 HI: kenn keine freundin die ne deutsche freundin hat ↓ Einem Zugehörigkeitsgefühl zu den „Deutschen“ steht vor allem die Haltung der Deutschen „Ausländern“ gegenüber im Wege, die die Informantinnen jahrelang als Ablehnung und Ausgrenzung erlebt haben: 3290 HI: was isch halt so blöd finde ist dass die- * 3291 HI: deutschen uns nischt habn wolln ↑ * dass viele 3292 HI: deutsche uns nischt habn wolln ↑ * halt 3292 HI: überhaupt keine ausländer haben wollen ↑ Wenn in der Schule oder im Studium Kontakte zu Deutschen gelegentlich zustande kommen, werden sie als aufwändig, kompliziert und mit einem hohen Potenzial an Missverständnissen erlebt. In solchen Beziehungen geraten die Mädchen immer wieder unter Rechtfertigungsdruck und müssen das, was für sie selbstverständlich ist - z.B. kein Kopftuch zu tragen, sich frei zu Die „türkischen Powergirls“ 200 bewegen, den Ehepartner selbst zu wählen usw. - erklären und begründen. Und immer sind sie es, die mit dem Vorwurf der „Überempfindlichkeit“ oder „Übersensibilität“ konfrontiert werden, wenn sie Fragen nach ihrer Herkunft, 154 nach Besonderheiten in ihrer Familie oder ihren Partnerschaften brüsk zurückweisen; Fragen, die sie als Übergriff empfinden, und die an Deutsche nie gestellt werden. Die ständige Ethnisierung und der damit verbundene Erklärungsdruck machen es ihnen schwer, sich in Gegenwart von Deutschen entspannt und wohl zu fühlen. Während die Informantinnen bei Diskussionen über eine partielle Zugehörigkeit zu Deutschland zwischen lokal-räumlichen und sozial-emotionalen Aspekten unterscheiden und sie sehr unterschiedlich bewerten, sind ihre Äußerungen über eine potenzielle Zugehörigkeit zur türkischen Gesellschaft ungebrochen und eindeutig: Es sind Absagen an die „Türkei“ und die „Türken“: 3392 DI: also ich * gehöre auf kein fall 3393 DI: zu den türken in der türkei Oder: 1711 TE: isch fühl misch auf kein fall türkisch Oder: 1957 AY: meiner meinung nach sind wir keine türken ↓ 1959 AY: meiner meinung nach ist die Hülya keine türkin und 1960 AY: isch bin keine türkin ↓ Oder: 1749 HÜ: mein va“ter fühlt sich als tü“rke und ausländer ↑ * 1750 HÜ: i“ch nicht ↓ Als Begründungen werden Argumente angeführt, wie sie oben (Kap. 6.3) bereits beschrieben wurden: Dass sie nicht in der Türkei aufgewachsen sind, nichts erlebt und keine Freunde haben; dass sie sich dort nicht auskennen, sich als fremd behandelt fühlen und dort nicht leben wollen. Da von den El- 154 Die Frage nach der Herkunft, wenn sie von Deutschen kommt, beantworten die Informantinnen meist durch: aus Mannheim. Mit dieser Auskunft sind die Fragenden in der Regel nicht zufrieden und haken nach: und woher kommst du wirklich? Solche Nachfragen sehen die Informantinnen als Indiz dafür, dass die Fragenden sie nicht als „Mannheimerinnen“ akzeptieren, sondern über den Herkunftsort der Eltern die lokale Zuschreibung relativieren wollen. Auf solche Fragen reagieren sie aggressiv. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 201 tern ebenso wie von türkischen Organisationen immer wieder ihr „Türkisch- Sein“ eingefordert wird, müssen sie sich ständig damit auseinandersetzen. In solchen Diskussionen unterscheiden sie kategoriell zwischen einem Türkeitürken, einem Vollbluttürken, und Migranten türkischer Herkunft in Deutschland und arbeiten die Unterschiede zwischen beiden heraus: 63 AY: wir kö“nn keine vollbluttürken sein * wir können 64 AY: nicht genauso empfinden wie ein normaler türke 65 AY: der in der türkei gebo“rn is ↑ in der türkei 66 AY: aufgewa“chsen is ↑ * des geht einfach nich HOLT 67 AY: LUFT weil wir * sind/ wir ham in diesem land nie 68 AY: gelebt ↑ außer sechs wochen lang in den ferien ↓ * 69 AY: aber * niemand der hier in deutschland geborn 70 AY: ist oder der hier lebt ↓ * kann sich als 71 AY: vollbluttürke bezeichnen ↓ * Die Informantinnen wehren sich gegen Vereinnahmungen durch türkeiorientierte Türken in ihrem Umfeld und liefern sich mit ihnen heftige Diskussionen über Zugehörigkeitsgefühle zur Türkei. Diese Türken werfen ihnen vor, dass sie sich von mitgebrachten Traditionen und Lebensentwürfen distanzieren und an deutschen Modellen orientieren, weil sie die für moderner halten. Das wird ihnen als Verleugnen der Herkunft und als Verrat an der Türkei vorgehalten. Solche Vorwürfe weisen sie mit dem Gegenvorwurf des „Möchte-Gern-Vollbluttürken“ zurück. So bezeichnen sie türkische Migranten, die glauben, sie könnten denken, fühlen und urteilen wie ein Türkei-Türke, die aber nur dumpf an alten Traditionen festhalten. Sie charakterisieren sie als Türken mit dieser Vollbluttürkenmentalität, als intolerant, eng und ungebildet, distanzieren sich von deren traditionellen Ansichten, den übermäßigen Verboten und dem Mythos der Jungfräulichkeit und verabscheuen die Dummtürkenmentalität: 2278 AY: also das muss isch sagn diese du“mmtürkenmentalität ↑ 2279 AY: diese u“ngebildete mentalität ↑ * des geht mir 2280 AY: einfach so auf den keks des kann isch ihnen gar 2281 AY: nicht sagen ↑ also dass die menschen so u“ngebildet 2282 AY: sind * ← des geht mir so“ auf den ke“ks → Die Informantinnen unterscheiden sehr genau zwischen einerseits Dumpfheit und Zurückgebliebenheit und andererseits einer echten, religiösen Haltung. Blinde Traditionstreue hat mit Religion nichts zu tun, sondern ist Merkmal einer intoleranten, auch nationalistischen Einstellung gepaart mit Unwissen und der Unfähigkeit Kritik zu ertragen. Die „türkischen Powergirls“ 202 Ein wesentlicher Grund für die Absage an beide Bezugsgesellschaften sind die gegenläufigen Anforderungen, die die Informantinnen in eine Dilemma- Situation bringen: Von den Deutschen fühlen sie sich als Türkin abgelehnt und als minderwertig behandelt, und aus der Migrantengesellschaft wird ihnen vorgeworfen, dass sie sich zu sehr den Deutschen zuwenden und nicht mehr genügend „Türkisch“ sind. Diesen Konflikt macht eine Informantin an ihrem Sprachverhalten und den Bewertungen der anderen darüber fest: 1898 HÜ: es war halt auch so dass es öfters vorgekommen is * 1899 HÜ: dass wenn ich jetzt nu“r deutsch geredet hab unter 1900 HÜ: türken dass=s dann hieß äh → wieso redest du die 1901 HÜ: ganz zeit deutsch ↑← du bist doch ne türkin ja ↑ * 1902 HÜ: und wenn ich in der bahn oder auf der straße bin 1903 HÜ: und so ↑ * und mit irgendwelschen leuten türkisch 1904 HÜ: rede ↑ dann denk ich wieder * jetzt musst du ja 1905 HÜ: deutsch reden ↑ * damit=s nicht heißt ← oh kuck ma 1906 HÜ: wieder die türken un so →↓ * und dann merke ich ↑ * 1907 HÜ: ich muss mich irgendwie verste“llen damit ich 1908 HÜ: integriert werde ↓ Die widersprüchlichen Anforderungen, die ihr von der deutschen und türkischen Seite entgegengebracht werden, führen sie in unlösbare Situationen: Wenn sie die Anforderungen der einen Seite erfüllt, führt das notwendigerweise zur Nichterfüllung der Anforderungen der anderen. Als Ausweg sieht sie nur die Verstellung, d.h., sie zeigt jeder Seite das, was sie sehen und hören will mit der Konsequenz, dass sie Zugehörigkeit mit jeweils anderen Mitteln nur vorspielt. 7.2 Das Selbstbild als „Deutsch-Türkin“ Nach der sozial-emotionalen Absage an beide Bezugsgesellschaften, machen die Mädchen sich jetzt auf die Suche nach einem Selbstbild außerhalb vorgegebener ethnisch-kultureller Kategorien: Sie wählen ein Konzept, ähnlich dem der kulturellen Hybridität, 155 das partielle Zugehörigkeit zu beiden Be- 155 Den Hinweis, dass das neue Selbstverständnis der Mädchen Ähnlichkeit zu dem Konzept kultureller Hybridität hat, verdanke ich Ulrich Reitemeier; zum Konzept kultureller Hybridität vgl. Park (1928), der das biologische Konzept der Hybridität auf soziale Verhältnisse und auf rassische und kulturelle Mischformen anwendet. Ein kulturell Hybrider „is a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples; never quite willing to break, even if he were permitted to do so, with his past and his traditions, and not quite accepted, because of racial prejudice, in the new society in which Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 203 zugsgesellschaften und die Aufnahme entsprechender Erfahrungen erlaubt, mit der Möglichkeit, daraus etwas Eigenständiges, Neues und Selbstbestimmtes zu entwickeln. Sie verstehen sich jetzt als „Türkin in Deutschland“ oder als „Deutschtürkin“. Exkurs 14: In der Migrationsliteratur wurden die von Migranten zu bewältigenden psychoemotionalen Herausforderungen noch wenig bearbeitet. Die wenigen Arbeiten, die sich mit emotionalen und psycho-sozialen Aspekten von Migration und Integration befassen, sind in Herwartz-Emden (2003, S. 18) angeführt. Eine in unserem Zusammenhang interessante Arbeit ist die von Hettlage-Varjas/ Hettlage (1984). Sie unterteilt den psychisch-emotionalen Prozess der Eingliederung in vier Phasen, deren letzte Phase die „bikulturelle Identität“ darstellt, die die Autoren als idealtypisch betrachten. Doch es fehlen bisher empirische Untersuchungen dazu, wie und unter welchen Voraussetzungen eine bikulturelle Identität erreichbar ist. In dem von Hettlage-Varjas beschrieben Modell müssen Migranten vier Entwicklungsphasen durchlaufen, um eine neue eigenständige bikulturelle Identität zu entwickeln: 1. die Phase der interkulturellen Orientierungslosigkeit und des Identitätsverlustes; 2. die Phase des tiefen Gespaltenseins entweder mit Integrationsverweigerung oder mit Überanpassung in der Aufnahmekultur und Entwertung oder Idealisierung der Herkunftskultur; 3. die Phase des Verlustes und der Trauerarbeit mit der reflektierten Krise der Entfremdung in der neuen Interpretation von Selbst und Umwelt; 4. die Phase der lebensgeschichtlichen Selbstverständlichkeit mit einem bikulturellen Selbstbild und einem Gefühl bikultureller Zugehörigkeit (zitiert nach Herwatz-Emden 2003, S. 20). Dieser Prozess, den die Autoren für erwachsene Migranten skizzieren, lässt sich weder in der Abfolge noch in der Bestimmung der einzelnen Phasen direkt auf die Identitätsentwicklung der „Powergirls“ übertragen. Der Entwicklungsprozess bei den „Powergirls“ ist viel mehr als dies in dem angeführten Vier-Phasen-Modell berücksichtigt ist, durch Reaktion auf und Verarbeitung von Haltungen und Anforderungen, die den Mädchen aus beiden Bezugswelten entgegengebracht werden, he now sought to find a place“, zitiert in Hughes (1984, S. 221). Charakteristisch für solche Menschen ist die Dilemma-Situation. Für ihre Auflösung gibt es mehrere Lösungsmöglichkeiten, die Hughes (1984), ein führender Vertreter der Chicago School, aufzählt. Folgende Lösungsmöglichkeiten lassen sich auf die Situation der Informantinnen anwenden (ebd., S. 223ff.): Entweder eine oder beide der Zugehörigkeiten „might be broadened and redefined as to reduce both the inner dilemma and the outward contradiction“ (ebd., S. 224); oder: „another solution is elaboration of the social system to include a marginal group as an additional category of persons with their own identity and defined position. A number of people of similar marginal position may seek one another's company, and collectively strive to get a place for themselves“ (ebd.). Die erste Möglichkeit ist eher eine fallbzw. gruppenbezogene Möglichkeit; eine vergleichbare Lösung haben die jungen Frauen gefunden. Die zweite kann daraus erwachsen, und über gemeinsames Handeln mit anderen könnte eine gesellschaftspolitische Aktion entstehen. Die „türkischen Powergirls“ 204 motiviert und gesteuert. Es gibt bei ihnen eine Phase der trotzigen ethnischen Selbstüberhöhung, die in Reaktion auf die erlebte Ausgrenzung durch die deutsche Schule erfolgt. Sie ist ein Akt der verzweifelten Gegenwehr und der Zuflucht in vertraute Modelle von Stärke und Handlungssouveränität. Eine Phase von Verlust, Orientierungslosigkeit und existenzieller Unsicherheit folgt bei den „Powergirls“ in Reaktion auf die Erfahrung, dass sie in beiden Bezugswelten abgelehnt und ausgegrenzt werden und sich nirgendwo dazu gehörig fühlen können. 156 Die Phase der „bikulturellen Identität“ haben auch sie erreicht. Exemplarisch für das Selbstbild als Deutsch-Türkin sind die folgenden Feststellungen: 1960 AY: wissen sie was wir sind * Hülya und ich ↑ * 1961 AY: meiner meinung nach sind wir deutschtürken ↓ Oder: 1761 HÜ: ich seh michha ja als eine <deutschtürkin> ↓ Oder: 2339 AR: ich bin türkin in deutschland(...) 2340 AR: aber ich fühl mich hier wie * in meinem eigenen 2341 AR: land LACHT ich hab zwei länder LACHT ja ↑ * 2342 AR: isch komm aus der türkei ↑ * und leb in deutschland 2343 AR: und das is auch wie mein land * ich bin hier 2344 AR: geborn und ich war immer hier ↓ In diesen Bezeichnungen kommt die Teilhabe an beiden Bezugsgesellschaften und gleichzeitig die Absage an eine totale Identifikation mit einer von beiden zum Ausdruck. Mit der Selbstbezeichnung als „Deutschtürkin“ ist die Vorstellung von etwas „Neuem“ und etwas „ganz Anderem“ verbunden, eine Vorstellung, die weder zu „Deutsch-Sein“ noch zu „Türkisch-Sein“ in direktem Bezug steht: 3394 DI: ich denke die türken hier in deutschland * wi“r eh 3395 DI: des is ähm → was weiß ich ← des sind we“der die 3396 DI: türken in der tü“rkei ↑ no“ch die deutschen hier 3397 DI: in deu“tschland ↓ des is glaub ich eh irgendwas * 3398 DI: <neu“es ↑ * ← was ga“nz a“nderes ← > ↓ Dieses neue positive Selbstverständnis jenseits der vorgefundenen ethnischkulturellen Kategorien „Türkisch“ oder „Deutsch“ ermöglicht ihnen jetzt auch die innere Distanzierung von Anforderungen aus beiden Bezugsgesell- 156 Zu Phasen der Entwicklung des Selbstbildes der „Powergirls“ vgl. unten Teil III, Kap. 4.1.1. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 205 schaften, deren Befolgung sie in unlösbare Konflikte bringen würde, und einen neuen Umgang mit diskriminierenden und abwertenden Handlungen. Aus dem neuen Selbstverständnis heraus gelingt es einer Informantin jetzt, Handlungen von Deutschen, die sie vorher als „rassistische Abwertung“ aufgefasst hätte, zu ignorieren, da sie sich hier integriert fühlt, auch ohne „Deutsch“ zu sein: 1666 HÜ: ich denke des is jetz so * wenn man sich nicht 1667 HÜ: integriert fühlt oder so ↑ * dass man denkt oah 1668 HÜ: <dass die solche sachen sagen ↑ liegt nur daran 1669 HÜ: dass ich jetzt ne ausländerin bin> ↓ oder so * 1670 HÜ: dass man das halt da drauf schiebt * aber ich 1671 HÜ: fühle mich integriert und ich fühle mich jetzt 1672 HÜ: nicht mehr ausgeschlossen und ich äh ich ignoriere 1673 HÜ: einiges- * und ich find des auch gar nich so: 1674 HÜ: schlimm ↑ * weil ich denk des sin halt einfach 1675 HÜ: <gestö“rte menschen ↓ > Aus der Perspektive der Informantin interpretieren nur die, die sich nicht integriert fühlen, negative Bemerkungen von Deutschen im ethnischen Deutungsrahmen; für sie wird jede abwertende Äußerung zur ausländerfeindlichen Aktion. Im Gegensatz dazu gelingt es ihr, die sich integriert fühlt, abwertende Bemerkungen zu ignorieren bzw. in ihrer Relevanz herabzustufen. Die Ursache für Abwertungen sieht sie jetzt nicht mehr bei sich, in ihrer Person und Herkunft, sondern beim Angreifer, den sie für gestört und für nicht voll zurechnungsfähig hält. Damit ist ihr eine entscheidende Verschiebung von Kausalität gelungen: vorher sah sie sich als Ursache für die negative Zuschreibung, jetzt sieht sie die Ursache in der Person des Angreifers. Abwertende Bemerkungen von Deutschen zu ignorieren oder sie nicht mehr so schlimm (zu) finden, diese neue Haltung ist erst auf der Basis des neuen, hybriden Selbstverständnisses möglich. Es erlaubt den Informantinnen, eigene Wege zu finden, ohne in Loyalitätskonflikte und Rechtfertigungszwänge zu kommen, weil sie nicht genug „Türkisch“ und zu sehr „Deutsch“, oder zu sehr „Türkisch“ und nicht genügend „Deutsch“ sind. Und es befreit sie von der Notwendigkeit, Zugehörigkeit vorzuspielen, wenn sie Konflikten und Rechtfertigungen ausweichen wollen. Auf der Basis des neuen Selbstbildes gelingt es ihnen auch, neue Strategien zu entwickeln, um souverän mit deutschen Vorurteilen umzugehen. Interaktiv besonders wirkungsvoll sind einerseits Verfahren des „Verarschens“, Die „türkischen Powergirls“ 206 d.h., deutsche Vorurteile ins Absurde zu steigern und die Deutschen dazu zu bringen, dass sie die Übertreibung glauben; 157 und andererseits Verfahren der „Perspektivenumkehr“, d.h., Deutsche mit Zuschreibungen zu konfrontieren, die sie normalerweise den „Ausländern“ zuschreiben. 158 Außerdem sind sie jetzt in der Lage, die Welt um sich sozio-semantisch zu ordnen und sich relevanten Anderen gegenüber selbstbewusst zu positionieren. 159 8. Zukunftsperspektiven Die Vorstellungen für die private und berufliche Zukunft sind bei allen Informantinnen positiv. Die meisten wollen weiterhin in Mannheim leben, wo sie ihre Familie und ihre Freunde haben: 2144 HÜ: also auf jeden fall ↓ * will ich in deutschland 2145 HÜ: bleiben ↓ (...) und ich denk schon dass ich hier 2146 HÜ: in mannheim bleiben will weil eben meine ganze 2147 HÜ: familie hier ist und die freunde und so ↑ Die Gymnasiastinnen wollen auf jeden Fall studieren. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, was sie beruflich machen wollen, wissen sie, dass sie gut sein wollen. Sie interessieren sich für Pädagogik, Architektur, Wirtschaftwissenschaft oder Sprachen. Diejenigen, die ein Lehrerstudium absolvieren, wollen gute Lehrerinnen werden: 1774 AR: meine zukunft ↑ * ich weiß nicht ↓ * ich will äh * 1775 AR: ich will auf jeden fall ne gute lehrerin werden * 1776 AR: hier * und auch erfolgreich sein * in meinem beruf ↓ Und sie wollen vieles besser machen, als die Lehrenden, die sie erlebt haben. Eine Informantin will auf keinen Fall die Verhaltensweise der deutschen Lehrer, unter denen sie gelitten hat, umkehren und jetzt rassistisch mit umgekehrten Vorzeichen sein: 195 DI: isch will ne gu“te lehrerin werdn un eh den 196 DI: migrantenkindern beibringen ↑ * was sie be“sser 197 DI: machen können ↓ * aber ich hab nicht vor sie“ zu 198 DI: bevorzugen und deu“tsche zu benachteiligen oder so ↓ 199 DI: nicht so eh- * wie wir frü“her die deu“tschen 200 DI: lehrer als ausländerfeindlich bezeichnet haben * 201 DI: vor so was hab ich wirklich angst ↓ 157 Vgl. dazu Keim (2002c). 158 Vgl. dazu unten Teil III, Kap. 2.4 und 4.2 - 4.4. 159 Vgl. dazu unten Teil III, Kap. 4.1. Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 207 Obwohl alle Informantinnen mit erzieherischem Beruf in den Schulen und Erziehungseinrichtungen des Stadtgebiets arbeiten wollen, um Migrantenkinder zu fördern, wollen sie auf keinen Fall dort wohnen. Sie wollen nicht unter den Hetztürken leben, die versuchen, ihnen ständig Vorschriften zu machen und sie zu kontrollieren. Und sie wollen nicht, dass ihre Kinder hier aufwachsen und den Einflüssen ausgesetzt sind, denen sie ausgesetzt waren: 2167 HÜ: wenn ich mir überleg dass ich später mal kinder 2168 HÜ: haben mö“chte ↑ * dann will ich auf keinen fall 2169 HÜ: an einem ort leben wo=s so viele ausländer gibt ↓ * 2170 HÜ: ich würd nich wollen dass mein kind hier im 2171 HÜ: jungbusch aufwächst * weil ähm (...) es kotzt mich 2172 HÜ: voll an wegen dieser scheiss erzie“hung die die 2173 HÜ: türken ihren kindern geben ↓ Einige haben auch sehr klare Vorstellungen dazu, wo sie in Zukunft wohnen wollen, und zwar am Rande der Stadt in besseren Wohngebieten: 4185 DI: ja hier in mannheim denk ich ↓ ja wir hätten 4186 DI: vielleicht gern in=ner vorstadt so so=n garten 4187 DI: und LACHT so ein haus mit garten und so LACHT 4188 DI: des wär net schlecht LACHT ja ↓ Eine andere ist nicht auf Mannheim oder Deutschland festgelegt: 1784 AR: ah: ich LACHT * ich will eigentlich gar nicht * in 1785 AR: deutschland leben und auch gar nicht * in der 1786 AR: türkei ↓ * also ich würd so gern in ita“lien leben Die Begründung für Italien ist, dass es dort Menschen gibt, die aussehen wie eine Mischung aus Deutschen und Türken, so=n mittelding zwischen deutschland und türkei; d.h., Menschen, die für die Informantin vertraute Züge haben, aber doch ganz anders sind. Eine möchte nach Amerika und eine andere könnte sich auch vorstellen irgendwo im Mittelmeerraum zu leben, aber auf keinen Fall in der Türkei. Wichtig ist ihr, dass sie dort, wo sie lebt, auch ihren Beruf ausüben kann und sie traut es sich zu, überall beruflich und sozial erfolgreich zu sein, weil sie es ja auch in Deutschland geschafft hat. Für alle Informantinnen ist es selbstverständlich zu heiraten und Kinder zu haben. Sie sind jedoch sehr sicher, dass sie deswegen nie ihren Beruf aufgeben würden, wie viele deutsche Frauen das tun. Dazu haben sie und ihre Familien zu viel in die Ausbildung investiert. Als Ehepartner kommen nur Die „türkischen Powergirls“ 208 „Deutschtürken“ in Frage, keine der jungen Frauen würde einen „Türken aus der Türkei“ heiraten. Mit dem würde sie nichts verbinden, der würde vieles, was für sie normal ist, ablehnen und nicht verstehen. Und vor allem würde er ihre Sprache, die Mischsprache, nicht sprechen. Exemplarisch dafür die apodiktische Feststellung: 410 FU: isch könnte nie“ einen mann lieben wenn er meine 411 FU: sprache nicht kann * die mi“schsprache * einen 412 FU: türken nich und auch keinen deutschen * ich könnte 413 FU: nie“ zu einem sagen ← ich liebe dich → * das klingt 414 FU: so hart ↓ * aber seni seviyorum klingt schö: n ↓ LACHT Von den ehemaligen „Powergirls“ sind vier bereits verheiratet, die anderen haben feste Freunde. Die jungen Männer sind Deutschtürken aus Mannheim, die die jungen Frauen seit Jahren kennen. In der Regel haben die Frauen studiert und die bessere Ausbildung, die Männer arbeiten in Lehrberufen. Diese Unterschiede stören die jungen Frauen nicht; für sie ist wichtig, dass der Mann ihren Freiraum respektiert und sie beim Studium und der Berufsausübung unterstützt. Auch nach der Heirat halten die ehemaligen „Powergirls“ enge Kontakte untereinander, besuchen sich regelmäßig und gehen auch ohne die Männer ins Café oder in die Disco. Heute sind die Eltern sehr stolz auf ihre Töchter und ihren beruflichen Erfolg. Die Töchter haben auch wieder enge Beziehungen zu den Eltern und ein neues Verständnis für sie entwickelt; sie akzeptieren ihre Lebensweise und respektieren ihre Lebensleistung. Das „Gastarbeiter“-Deutsch der Eltern, für das sie sich früher geschämt haben und das sie nicht verstehen konnten (was mich halt damals arg gestört hat * dass meine eltern nich gut deutsch sprechen konnten * das hat mich immer aufgeregt), können sie heute einordnen. Sie wissen, dass der Vater keine Kraft hatte, in seiner Freizeit Deutsch zu lernen; dass er Überstunden und Wochenendarbeiten machte, um die Familie zu ernähren und den Kindern die Ausbildung zu ermöglichen. Und sie sehen, dass es im Leben der Mutter keine Notwendigkeit gibt, Deutsch zu lernen, da in ihrem Alltag nur Türkisch gesprochen wird. Doch trotz des starken Selbstbewusstseins, das die jungen Frauen entwickelt haben, schmerzt es sie, dass sie immer wieder diese typischen Ausländerschwierigkeiten haben und von Deutschen ausgegrenzt werden. Bei bestimmten Anlässen, z.B. bei der Wohnungssuche, häufen sich solche Erlebnisse: Biografische Entwicklung, Gruppenkonstitutionsprozess, soziale Orientierungen 209 2061 HÜ: eigentlich fühl ich mich hier wohl * aber dann 2062 HÜ: gibt=s dann wieder sachen ← äh ausländerin ja ↑ 2063 HÜ: an ausländer vermieten wir keine wohnung ↓→ 2064 HÜ: oder so sachen oder- ← ja wo kommen sie denn 2065 HÜ: her ↑→ * ich hab=s echt satt zu hörn ↑ wo mein 2066 HÜ: name herkommt oder wo ich ursprünglich herkomme ↓ 2067 HÜ: das kotzt mich dann schon an irgendwie ↓ * 2068 HÜ: weil die leute sehn dich immer als ausländerin ↓ Die Wohnungssuche ist für die Informantinnen, die geheiratet haben oder bald heiraten wollen, ein ganz aktuelles Problem. Die Ablehnungen werden besonders deutlich in den Wohngebieten formuliert, in die sie so gerne ziehen würden. Sobald sie als „Ausländerin“ identifiziert sind - die Identifikation geht oft über den Namen, aber auch über den typischen Akzent (unten Teil III, Kap. 2.1.2) - haben sie bei den Vermietern kaum Chancen. Und damit schließt sich der Kreis: Bei der Verwirklichung ihres Wunsches das Ghetto zu verlassen, sehen sie sich von dem Typ des Deutschen gehindert, von dem sie die Vorwürfe der Ghettoisierung und Abschottung am meisten gehört haben: von Vertreten der deutschen Mittelschicht, zu der auch die ehemaligen Lehrer gehören. Für die Betroffenen ist das eine besonders schmerzliche Erfahrung. III. Der kommunikative Stil der „türkischen Powergirls“ Gegenstand von Teil III ist die Beschreibung des kommunikativen Stils der „türkischen Powergirls“, wie er sich mit der Konstitution der Gruppe und als Ausdruck ihres Selbstbildes als „Powergirl“ mit den Eigenschaften „türkisch“, „stark“, „aggressiv“ und „cool“ herausgebildet hat, und die Beschreibung der stilistischen Veränderungen im Laufe des Entwicklungsprozesses der Mädchen zu jungen Frauen. Im Fokus der Stilbeschreibung stehen die sprachlich-kommunikativen Ausdrucksdimensionen, in denen in besonderer Weise der Bezug zwischen Stileigenschaften, den umgebenden Lebenswelten, dem jeweiligen Selbstbild der Gruppe und den im Gruppenkonstitutionsprozess zu erledigenden Aufgaben erkennbar wird: Kommunikative Verfahren für den Umgang miteinander und mit Außenstehenden (Kap. 2.), die Verwendung verfügbarer sprachlicher Ressourcen und ihre Kombination als „eigene“ Sprache (Kap. 3.) und das System sozialer Kategorien als Ergebnis der sozialen Analyse des Lebensraums (Kap. 4.). 1. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils wurde in dem Projekt „Kommunikation in der Stadt“ entwickelt, 160 in dem die sozialstilistische Differenzierung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft (vom Bildungsbürgertum bis zu den „einfachen Leuten“ aus dem Arbeitermilieu) dargestellt wurde. In dem Folgeprojekt zu türkischen Migrantenjugendgruppen wird es auf bi- und multilinguale Kontexte übertragen und zur Beschreibung und Erklärung der in diesen Gruppen herausgebildeten Kommunikationsweisen und Sprachpraktiken verwendet. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils ist das z.Zt. umfassendste Stilkonzept. Es knüpft an Ansätze der linguistischen Stilistik an (vgl. Sandig 1986; Fix 2001), an ethnografische Arbeiten, die auf die Untersuchung von kulturellen Stilen ausgerichtet sind (z.B. Heath 1983), an soziologische (Soeffner 1986) und anthropologische Stilkonzepte und die der cultural studies (Irvine 2001; Clarke et al. 1979; Willis 1981), an Gumperz' rhetorische Konzeption von Sprachvariation (1982, 1994), an die neuere Stilforschung 160 Vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994) und Kallmeyer (1995a), Keim (1995a), Schwitalla (1995), Kallmeyer/ Keim (1996). Die „türkischen Powergirls“ 212 unter ethnomethodologischem und gesprächsanalytischem Einfluss 161 und an den kultursoziologischen Ansatz Bourdieus (1982) zur stilistischen Differenzierung in der Gesellschaft. Kommunikative soziale Stile, in denen sich sozial-kulturelle und interaktive Bedeutungen durchdringen, bilden die Brücke zwischen lokal stattfindenden Interaktionen und übergreifenden sozialen Strukturen, kulturellen Traditionen, Wissensbeständen und kulturell gebundenen Überzeugungen. In der linguistischen Stildiskussion wird mit „Stil“ der Zusammenhang von sehr unterschiedlichen Ausdrucksmitteln bezeichnet, die auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen über längere Strecken hinweg erscheinen. Sandig (1986, S. 31) z.B. bezeichnet Stil als „System, das auf die verschiedenen Dimensionen sprachlichen Handelns bezogen ist und das den Arten der Handlungsdurchführung differenzierenden sozialen Wert verleiht“. Stil als eine Kategorie des „Wie“ der Ausführung einer Handlung setzt eine Form von Wahl voraus, um bedeutsam zu sein. In der Linguistik wird stilistische Variation in der Regel als Wahl zwischen zwei oder mehr bedeutungsähnlichen Ausdrucksalternativen verstanden. Doch dieses Konzept greift zu kurz, wenn es um die Erfassung von gesellschaftlichen Kontexten geht, in denen eine Wahlmöglichkeit bei Handlungsweisen, die in kulturellen Traditionen und Überzeugungen gründen, meist nicht gegeben ist, da eine Veränderung der kommunikativen Praxis zu sozialer Auffälligkeit oder gar zum sozialen Ausschluss führen könnte. In solchen Kontexten haben Sprecher gerade dann keine Wahl zwischen Alternativen, wenn sie Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Welt ausdrücken wollen, sondern sie verwenden die dafür charakteristischen Ausdrucksformen. Um solche Zusammenhänge zu erfassen, eignen sich ethnografische und kulturanthropologische Konzepte, in denen Stil als komplexes, kulturgebundenes Ausdrucksverhalten verstanden wird, das alle Ausdrucksdimensionen durchdringt. Stilistische Kompetenzen und sozial-kulturelles Wissen über stilistische Bedeutungen werden im Laufe des Sozialisationsprozesses erworben und sind inhärenter Bestandteil des Sprach- und Kommunikationserwerbungsprozesses. Willis (1981), Clarke et al. (1979) und Hebdige (1979) beschreiben Gruppen von Jugendlichen und ihre unterschiedlichen Stile, die sie aus den ökonomischen, sozialen, kulturellen Voraussetzungen und den daraus entwickelten Selbstbildern der Jugendlichen 161 Diese Entwicklung wird im deutschsprachigen Bereich durch Veröffentlichungen von Hinnenkamp/ Selting (1989), Selting/ Sandig (1997), Jakobs/ Rothkegel (2001) und Keim/ Schütte (2002) dokumentiert. Der kommunikative Stil 213 erklären. Willis (1981) z.B. vergleicht zwei stark kontrastierende Jugendkulturen, die „Motorrad-Jungs“ und „Hippies“ und stellt auf der Basis seiner ethnografischen Untersuchung die innere Bedeutung des Stils dieser Kulturen dar. Die von den Gruppen ausgewählten materiellen Dinge ebenso wie ihr Sprache und Sprechweisen zeigen Parallelen zu ihrer Gefühlsstruktur und ihren Interessen und geben Hinweise darauf, wie die Gruppen ihre Positionen innerhalb der Gesellschaftsstruktur verstehen. Beide Gruppen bilden ihren Stil im Rahmen der sozialen Schicht aus, aus der sie kommen. Ähnlich umfassend ist das Stilkonzept von Irvine (2001), das alle semiotisch organisierten Ausdrucksmittel, die Personen für eine kohärente Selbstpräsentation verwenden, einschließt. Bei Irvine ist der Aspekt der sozialen Differenzierung zentral, wonach Stile „a system of distinction [konstituieren] in which a style contrasts with other possible styles and the social meaning signified by the style contrasts to other social meanings“ (ebd., S. 22). Irvines Stilkonzept zielt auf die Erfassung von Prozessen der sozialen Distinktion, und ihr Interesse richtet sich auf die Rekonstruktion der in einer bestimmten Kultur, im Vergleich zu anderen Kulturen, verankerten Prinzipien der Stilbildung. Sie unterscheidet drei semiotische Prozesse, die der Stilbildung zugrunde liegen (ebd., S. 33): die Ikonisierung („a linguistic feature depicts or displays a social group's inherent nature or essence“), die Rekursivität („meaningful distinctions are reproduced“) und die Reduktion („erasure“), d.h. das Ignorieren interner Variation um ein homogenes Bild nach außen darzustellen. Das Wirken dieser Prinzipien zeigt Irvine am Beispiel zweier kontrastierender Kommunikationsstile bei den Wolof, Dorfbewohnern im Senegal, am Stil der „high-ranking geer“ und der „low-ranking gewel“. Die unterschiedlichen Ausdruckssysteme spiegeln auf allen Ausdrucksebenen die in der Gesellschaft tradierten Vorstellungen über beide Gruppen und die ihnen zugeordneten gesellschaftlichen Aufgaben wider. D.h., die stilistischen Unterschiede sind motiviert durch die in dieser Kultur herrschende Ideologie, die die Verhaltenseigenschaften „laconic and austere“ (das Verhalten der geer) mit den Eigenschaften „impulsive and elaborated“ (dem Verhalten der gewel) kontrastiert und diese Eigenschaften aus den kulturell definierten Charaktereigenschaften der jeweiligen Sprecher ableitet (ebd., S. 37f.). Dadurch, dass Irvine alle Ausdrucksebenen berücksichtigt, „Stil“ an kulturgebundene Ideologien zu Ausdruckskontrasten rückbindet und den Analysefokus auf die Rekonstruktion von Stilbildungsprinzipen richtet, sind ihre Stilanalysen weit rezipiert worden. Doch das Stilkonzept ist statisch, und Die „türkischen Powergirls“ 214 Irvine zeigt nicht, wie Stilarbeit in Interaktionen stattfindet, wie Interaktanten sich stilrelevante Aspekte anzeigen und welche Bedeutung sie ihnen lokal zuordnen. Auch in dem Konzept des kommunikativen sozialen Stils ist Stil sozialfunktional definiert. Stile sind Mittel zum Ausdruck von sozial-kultureller Zugehörigkeit und von sozial-kultureller Abgrenzung, und Sprecher setzen Stilformen zur sozialen Positionierung in Relation zu relevanten Anderen ein. Stil dient als Mittel zum Ausdruck sozialer Präsenz auf wichtigen Schauplätzen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und bildet, im Sinne von Bourdieu (1982), das Kapital für die Auseinandersetzung mit anderen sozialen Welten. Repräsentanten sozialer Welten haben über ihr Auftreten im gesellschaftlichen Raum die Möglichkeit mit ihrem kommunikativen Stil auf andere Stile einzuwirken. Kommunikative Stile können als erfolgreich bewertet und nachgeahmt werden, oder sie können als Indikator für gesellschaftlichen Misserfolg ablehnt und karikiert werden. Stil wird als umfassendes und gleichzeitig „weiches“ Konzept gefasst: Stile sind prototypisch organisiert, sie werden um Kernbzw. Leitphänomene herum aufgebaut und haben unscharfe Grenzen. Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils ist durch folgende Eigenschaften bestimmt: a) In Übereinstimmung mit anderen Ansätzen wird Stil holistisch als Gestalt- Konzept definiert, in dem Elemente auf allen Ausdrucksebenen in homologer Weise miteinander kombiniert und sprachliche Ausdrucksmittel mit äußeren Merkmalen wie Aufmachung, Kleidung, Körperverhalten, geschmacklicher Ausrichtung usw. „gleichsinnig“ und einer zentralen „Logik“ folgend zu einer einheitlichen Gestalt, zu einem Bild, einer Figur bzw. einem Hyperzeichen formiert werden. Stil als Hyperzeichen erfordert eine gewisse Kontinuität und eine situationsübergreifende Rekurrenz. Diese stilistischen Aspekte sind in den cultural studies (Clarke et al. 1979; Willis 1981) und der soziologischen Forschung ebenso beschrieben (Soeffner 1986) wie in der interaktionalen Soziolinguistik (Hinnenkamp/ Selting 1989; Selting/ Sandig 1997; Keim/ Schütte 2002). b) Stile setzen ein gewisses Maß an Konventionalisierung voraus, für die es Charakterisierungen und Bezeichnungen gibt. In vielen Kulturen gibt es Bezeichnungen, die entweder mit spezifischen Kommunikationstypen verbunden werden - Selting/ Hinnenkamp sprechen von „Verhörstil“, „Interviewstil“, Diskussionsstil“, „Plauderstil“ u.a. - oder die mit bestimmten Der kommunikative Stil 215 Gruppen oder Milieus assoziiert werden, wie „Subkulturstile“ (vgl. Clarke et al. 1979; Willis 1981, 1982), „geschlechtsspezifische Stile“ (vgl. Tannen 1984; Günthner/ Kotthoff 1991, 1992), „ethnisch-kulturelle“ (vgl. Bierbach/ Birken-Silverman 2002; Kotthoff 2001a; Cindark 2005; Aslan 2005) und soziale Stile (vgl. auch Dittmar 1989). Außerdem gibt es Stilbezeichnungen zur Charakterisierung unterschiedlicher Handlungsdurchführungen, z.B. „persönlicher“ vs. „unpersönlicher Stil“, „höflicher“ vs. „unhöflicher“ Stil (vgl. Lüger 2001) oder „emphatischer Stil“ (Selting 1994). Aufgrund der Existenz von rollen-, status-, milieu- und beziehungsspezifischen Stilerwartungen können Interaktanten durch die Wahl unerwarteter Stile Situationen, Beziehungen und Aktivitäten neu definieren, und Abweichungen von Erwartungen sind in Relation zu Erwartungen erst interpretierbar. c) Stile werden zum Ausdruck sozialer Zugehörigkeit und zur Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Welten bzw. Gruppen eingesetzt. Prozesse der Differenzierung und Abgrenzung werden in der Forschung zu Jugendsprachen und Jugendkulturen beschrieben und als ‘Kontrasprache’ (Bausinger 1972), Gegensprache (‘anti-language’, vgl. Halliday 1976), ‘Jugendsprache’ (Henne 1986), Subkultur (‘subculture’ vgl. Widdicombe/ Wooffitt 1995), oder Gegenkultur (‘counter-culture’, vgl. Clarke et al. 1979; Willis 1982) konzeptionalisiert. Aspekte der sozialen Differenzierung sind auch für die Untersuchungen zentral, in denen Ethnizität als Ergebnis von Abgrenzung verstanden wird (vgl. Barth 1969; Schwitalla/ Streek 1989; Czyzewski et al. 1995), oder in Untersuchungen zur sozialen und ethnischen Kategorisierung (vgl. Sacks 1979; Hausendorf 2000). Aktivitäten der sozialen Differenzierung sind konstitutiv für die Konstruktion einer Gegenkultur durch die Herausbildung eines bestimmten Repertoires an sozialen Symbolen, Werten und Überzeugungen. Bei der Wahl der „richtigen“ Symbole rekurrieren Gruppen oft auf stilistische Ressourcen der sozialen Welten, die in Kontrast zu denen stehen, von denen sie sich absetzen wollen. Die unter a) c) angeführten Stileigenschaften Ganzheitlichkeit, Konventionalisierung und soziale Differenzierung lassen sich bei der Herausbildung eines Jugendgruppenstils sehr gut zeigen. Die „Powergirls“ versuchen auf allen Ausdrucksebenen ein Gegenbild zum Ausdrucksverhalten der relevanten Anderen herzustellen, von denen sie sich abgrenzen: im Kontrast zu dem Verhalten einer traditionellen jungen Türkin rekurrieren sie auf typisch Die „türkischen Powergirls“ 216 männliche Stilelemente, die sie aus ihrem „Ghettoumfeld“ kennen; und im Kontrast zu dem von deutschen (Gymnasial-)Lehrern erwarteten Schülerverhalten, entwickeln sie ihr Konzept von „Auffälligkeit“. In Orientierung an diesen beiden Bezugsgrößen entwickeln sie als Gegenbild den typischen „Powergirl-Stil“. d) Stile werden unter Aspekten der ästhetischen Performanz mit dem Ziel der Hochstufung sozialer Differenz entwickelt. In der soziologischen (vgl. Soeffner 1986) und kultur-anthropologischen Stilforschung (vgl. Clarke et al. 1979; Willis 1981; Irvine 2001; Kotthoff 2001b) werden diese Aspekte von Stil herausgearbeitet. Unter ästhetischer Performanz wird eine Vereinheitlichung von Eigenschaften mit dem Ziel einer holistischen Präsentation verstanden, wobei besonders die Merkmale hervorgehoben werden, die stark mit denen eines anderen sozialen Stils kontrastieren. In Irvines (2001) Stilkonzept kommt dieser Aspekt in dem semiotischen Prozess der Reduktion („erasure“) interner Variation zugunsten eines einheitlichen, scharf umrissenen Bildes nach außen, das stark mit anderen Bildern kontrastiert, zum Ausdruck. Aus dieser Perspektive ist Stil ein relationales Konzept; er existiert nur für Mitglieder einer Gruppe oder eines Milieus, die ihn in Relation zu dem Stil einer anderen Gruppe bzw. einem anderen Milieu interpretieren (vgl. auch Selting/ Hinnenkamp 1989; Auer 1989). Unter dem Aspekt der ästhetischen Performanz sind vor allem die Eigenschaften der „Powergirls“ von Interesse, die sie in ihrem Äußeren, ihrem Verhalten und ihren geschmacklichen Präferenzen in besonders augenfälliger Weise vom Bild der traditionellen jungen Türkin unterscheiden. e) Stile haben Kontextualisierungsfunktion, 162 d.h., für Gesprächsbeteiligte ebenso wie für Analysierende fungieren Stile als komplexe Interaktions- und Interpretationsressourcen. Die Verknüpfung von ethno-methodologischer Konversationsanalyse und interaktionaler Soziolinguistik mit dem Kontextualisierungskonzept bildet den Rahmen für die Analyse der lokalen Herstellung und Veränderung von Bedeutung durch Stile in Interaktionen. 163 Die Analyse bezieht dabei die lokal handlungsleitenden, sozialen und kulturellen Wissensbestände (die durch die ethnografische Untersuchung erfasst werden) in die Bedeutungsrekonstruktion mit ein. Durch die 162 Das gilt aber nicht umgekehrt, denn nicht jedes Kontextualisierungsmittel ist stilistisch relevant; vgl. dazu auch Auer (1989, S. 29ff.). 163 Vgl. dazu auch Selting/ Hinnenkamp (1989). Der kommunikative Stil 217 Verwendung eines bestimmten Stils oder durch Stilwechsel können die Interaktanten unterschiedliche Kontexte und „frames“ (Goffman 1974a), in denen dieser Stil Relevanz hat, herstellen. Die Analyse der zur Kontextualisierung eingesetzten stilistischen Mittel ermöglicht dann die Rekonstruktion dieser „frames“ und der sozial-kulturellen Wissensbestände. Das lässt sich sehr gut an den sozialen Kategorien aufzeigen, die die „Powergirls“ für die Bezeichnung und Bewertung relevanter Anderer aus der deutschen und türkischen Bezugswelt herausgebildet haben und auf die sie - neben der expliziten Nennung - vor allem durch die Verwendung sozial-stilistischer Mittel verweisen (Kap. 4.). f) Stile werden interaktiv hergestellt. Sprecher und Rezipienten nehmen an der Herausbildung von Stilen ebenso wie an ihrer Aufrechterhaltung und Veränderung teil. Stile sind nicht determiniert; sie werden als sozial und interaktiv bedeutsame Produkte hergestellt und können nach Bedarf auch an situative Erfordernisse angepasst werden. Über solche Anpassungen kann ein allmählicher Prozess der Stilveränderung einsetzen. Dieser Prozess der allmählichen Anpassung an neue Anforderungen lässt sich im Prozess des Erwachsenwerdens der „Powergirls“ beobachten. Für die Stilentwicklung prägend ist der interaktive Erfolg oder Misserfolg bestimmter Formen. Erfolgreiche Formen können Kerne für die weitere Stilentwicklung bilden, weniger erfolgreiche können in ihrer Funktion verändert oder ganz getilgt werden (vgl. Kap. 2.5). g) Stile haben unterschiedliche Erscheinungsformen, die sich hinsichtlich der Explizitheit der Stilthematisierung und -hervorhebung unterscheiden. Stil umfasst die alltägliche Normalität von Gruppen und ihren normalen Umgangston. Die alltäglichen Handlungsweisen sind geprägt durch Muster und Routinen, die in der Sozialisation erworben werden und die für die meisten Gesellschaftsmitglieder fraglos gegeben sind. 164 Dazu gehören auch sprachliche Routinen, die z.B. an einer Formulierungsmodalität der „fraglosen Sicherheit“ erkennbar sind. 165 Die routinierten Handlungsweisen verschaffen die Möglichkeit, dass Teilnehmer sich als „Gleichgesinnte“ wahrnehmen und sich durch schnellen Austausch von sich ergänzen- 164 Den Charakter tiefsitzender Prägungen betonen auch der soziolinguistische Kode-Begriff Bernsteins (1975) und der soziologische Begriff des Habitus von Bourdieu (1982), die die Disposition des Individuums aufgrund von sozialisatorischen Prägungen hervorheben. 165 Zur Formulierungsmodalität der „fraglosen Sicherheit“ vgl. Kallmeyer/ Keim (1994c) Die „türkischen Powergirls“ 218 den Äußerungen, z.B. Erzählfolgen oder spielerisch-frotzelnden Interaktionen, signalisieren, dass sie in ihrer eigenen Welt sind. Typisch für die Gruppe der „Powergirls“ sind z.B. Formen ritueller Anmache und ritueller Beschimpfung, für die türkische und deutsche Beschimpfungsformeln verwendet werden (vgl. Kap. 2.2.3 und 2.2.4). h) Neben den stilistischen Routinen gibt es auch hervorgehobene Stilisierungen (vgl. auch oben unter d)), in denen bestimmte Stilmerkmale in besonderer Weise überhöht werden. Das geschieht vor allem bei Abgrenzungshandlungen, bei Stildiskussionen und bei Kritik am Verhalten von Mitgliedern. Es können dann Merkmale, die in unmarkierter Form zum normalen Gruppenton gehören, mit anderen Merkmalen kombiniert, hervorgehoben und in Kontrast gesetzt werden zu Merkmalen anderer Welten, gegen die man sich aktuell abgrenzt. D.h., zur Hervorhebung von Zugehörigkeit bzw. von Nicht-Zugehörigkeit können je nach Anlass, Auslöser und Kontrastkategorie unterschiedliche Merkmale hervorgehoben werden, und dieselben Merkmale können je nach Verwendungskontext verschiedene Funktionen erfüllen. Die „Powergirls“ verwenden z.B., um sich von derben und groben „Ghettojugendlichen“ zu distanzieren, ethnolektale Merkmale in markierter, hervorgehobener Weise (durch Kookkurrenz von Merkmalen), obwohl das vereinzelte Auftreten solcher Merkmale auch zur eigenen Sprachpraxis gehört (Kap. 4.). Ethnolektale Merkmale können aber auch zur Symbolisierung der eigenen Herkunft aus dem „Ghetto“ im Kontrast zum erzieherischem Stil der Lehrenden verwendet werden, und Formen des höflichen Sprechens können zur Demonstration „guten Benehmens“ ebenso wie zur Markierung von Distanz gegenüber Erwachsenen eingesetzt werden (Kap. 2.3 - 2.5). Die jeweilige soziale und interaktive Bedeutung der flexibel eingesetzten stilistischen Mittel ist nur interaktionsanalytisch rekonstruierbar. i) Stile sind auf soziale Leitbilder bezogen. Das ist in rituellem Rahmen und bei Feiern beobachtbar, aber auch in Normdebatten und bei Kritik an Gruppenmitgliedern oder an Außenstehenden. Bei solchen Anlässen werden Leitbilder und für sie angemessene Ausdrucksweisen zumindest ansatzweise expliziert. Zwar sind Leitbilder Idealisierungen und nicht mit dem faktischen Verhalten gleichzusetzen; aber sie dienen den Beteiligten dazu, wesentliche Eigenschaften ihres kommunikativen Handelns und ihres Ausdrucksverhaltens auf den Punkt zu bringen. Der kommunikative Stil 219 1.1 Beschreibungsdimensionen für Stil Aufgrund der bisherigen anthropologischen und ethnografisch-soziolinguistischen Forschung und der Ergebnisse unserer Untersuchungen zu städtischen Gruppen können wir davon ausgehen, dass für die Herausbildung kommunikativer sozialer Stile folgende Aspekte des Kommunikationsverhaltens eine Rolle spielen, die auch Gegenstand der Stilbeschreibung der „Powergirls“ sind: - der Umgang untereinander und mit Außenstehenden: Dazu gehören Regeln für den Umgang mit Territorien und Thematisierungsregeln, Regeln für Lob und Kritik, für die Bearbeitung von Problemen und Regeln für die Herstellung von Gemeinsamkeit; - die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen, verschiedener Sprachen und Varietäten zur Äußerungsstrukturierung, zur Interaktionsorganisation und zur Symbolisierung sozialer Eigenschaften; - die Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien, das für die Selbst- und Fremddefinition wesentlich ist; dazu gehören Inhalt und Ausdrucksformen für kategoriendefinierende Merkmale ebenso wie die sprachlichen Verfahren für die Herstellung von Kategorien im Gespräch; die Analyse des Kategoriensystems ermöglicht die Rekonstruktion des sozio-semantischen Systems einer sozialen Gruppe; - die Bevorzugung bestimmter Kommunikationsformen und rhetorischer Verfahren für die Lösung von Interaktionsaufgaben sowie bestimmter Interaktionsmodalitäten; - die Bevorzugung einer bestimmten Sprachästhetik, lexikalisch (Metaphern, Phraseologismen, Formeln) und prosodisch (Rhythmik, Intonation, nicht-lexikalisierte Laute, Stimmführung und Lautstärke); - die Bevorzugung bestimmter Kleidung und bestimmter Gegenstände zum Ausdruck von Geschmack (Musik, Filme, Bilder, Zeitschriften), die äußere Aufmachung (Haare, Schminke, Schmuck), Gestik und Mimik. Diese Ebenen des Ausdrucksverhaltens geben Ressourcen an, die für die Stilbildung genutzt werden (können). Die jeweiligen Ausprägungen von Phänomenen auf diesen Ebenen und ihre Verknüpfung folgen Stilbildungsprinzipien, die zu strukturellen und ästhetischen Homologien und zu dem einheitlichen „Bild“ eines Gruppenstils führen. Die Herausbildung eines kommunikativen Stils ebenso wie seine sukzessive Veränderung lassen sich Die „türkischen Powergirls“ 220 besonders gut im Konstitutionsprozess von Jugendgruppen beobachten und bei der Entwicklung der Mitglieder ins junge Erwachsenenalter. Die Suche nach sozialer Identität ist in der Adoleszenz besonders stark ausgeprägt, und die Konstitution von Identität durch ein besonderes Ausdrucksverhalten, das Loyalität zu der Gruppe, zu der man gehören will, ausdrückt, und das zur sozialen Positionierung gegenüber relevanten Anderen aus der Jugend- und Erwachsenenwelt erfolgreich eingesetzt werden kann, wird als „das zentrale Thema des Jugendalters“ betrachtet (Androutsopoulos 2001c, S. 11). In der Zeit der Postadoleszenz gibt es mit der Eingliederung ins Berufsleben entscheidende Veränderungen durch neue berufliche und soziale Aufgaben, die neue Sprach- und Kommunikationsformen erfordern. Dazu gehören in vielen Berufszweigen die Beherrschung der Standardsprache und ein an konventioneller Höflichkeit ausgerichtetes Sozialverhalten. In der soziolinguistischen Forschung wurde für diesen biografischen Zeitabschnitt ein Rückgang des „Vernacular“, der umgangssprachlichen Orientierung, und eine Zunahme des Standard beobachtet (Chambers 1995, S. 178); detaillierte Forschung dazu gibt es derzeit nicht (vgl. Androutsopoulos 2001c, S. 21). In der folgenden Beschreibung des kommunikativem Stils der „Powergirls“ werden sowohl die Eigenschaften des Jugendgruppenstils beschrieben, als auch die Veränderungen, die sich im Prozess des Erwachsenwerdens beobachten lassen. Kernfragen bei der Herausbildung des Jugendgruppenstils sind: Was müssen die Jugendlichen tun, um ein echtes Mitglied ihrer sozialen Gruppe zu sein; was dürfen sie nicht tun, wenn sie als Mitglied ihrer Gruppe gelten wollen? Welche Eigenschaften müssen sie wählen, um sich klar gegen andere abzugrenzen und die soziale Position, die sie anstreben, in Relation zu anderen beanspruchen und verteidigen zu können. Fragen, die für die Veränderung von Stil relevant sind: Was müssen die Gruppenmitglieder verändern, um neue interaktive Anforderungen im Prozess des Erwachsenwerdens bewältigen zu können und neuen Leitmodellen zu entsprechen? Welche stilistischen Elemente können sie bewahren (ggf. mit Modifizierungen) zum Ausdruck von sozial-kultureller Kontinuität, welche müssen sie funktional verändern und auf welche müssen sie verzichten? Der kommunikative Stil 221 1.2 Kurzcharakterisierung des kommunikativen Stils der „türkischen Powergirls“ und seiner Veränderung Bezugsgröße für die Herausbildung des Jugendgruppenstils ist das sozialkulturelle Selbstbild, das die „Powergirls“ im Spannungsfeld zwischen familiären Einschränkungen und der Suche nach Freiräumen einerseits, und Erfahrungen von Marginalisierung und Diskriminierung durch relevante Vertreter der deutschen Schule andererseits, herausgebildet haben. Die „Powergirls“ versuchen auf allen Ausdrucksebenen ein Gegenbild zu dem Ausdrucksverhalten bzw. zu den Ausdruckserwartungen von relevanten Anderen aus beiden Bezugswelten (Migrantengemeinschaft und deutsche Schule) herzustellen, von denen sie sich abgrenzen. Im Vergleich zu dem traditionellen türkischen Frauenbild - der bescheidenen, sich unterordnenden jungen Frau, die sich an den Verhaltenserwartungen und -vorstellungen ihrer türkischen Familie ausrichtet und die das Leitmodell für die Erziehung der Töchter ist - wählen sie maximal kontrastierende Ausdrucksweisen: Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild der „traditionellen jungen Türkin“, die sich unauffällig, bedeckt (auch mit Kopftuch) und auf keinen Fall körperbetont kleidet, sind die „Powergirls“ modern, flippig, körperbetont gekleidet, geschminkt und gepierct, geben sich offen und offensiv, gehen in Lokale und Discos und haben „feste Freunde“. Dem zurückhaltenden, bescheidenen Verhalten der „traditionellen jungen Türkin“ setzen sie ein ungezügeltes, aufbegehrendes Verhalten entgegen und greifen dabei auf Stilmerkmale männlicher türkischer „Ghettojugendlicher“ zurück, die sie mit Stärke und Aggressivität verbinden, übernehmen männliche Anrede- und Ausdrucksformen, derb-drastische Beschimpfungsformeln und praktizieren drastische verbale Übertrumpfungsrituale. In Reaktion auf Ausgrenzungen durch deutsche Mitschüler und deutsche Lehrkräfte entwickeln sie eine schulische und soziale Anti-Haltung und definieren sich als „auffällig“ und „asozial“. Dabei orientieren sie sich an dem von deutschen (Gymnasial-)Lehrern erwarteten Schülerverhalten und entwickeln dazu ein Gegenbild, das durch Eigenschaften wie Undiszipliniertheit, Widerständigkeit, Schroffheit und Unhöflichkeit charakterisiert ist. Im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis als „Türkin“ steht die Orientierung an positiv bewerteten, „türkischen“ Eigenschaften“, die sie in Kontrast zu den negativ bewerteten deutschen Eigenschaften „Kälte“ und „Distanziertheit“ setzen: Das sind die Eigenschaften „Spontaneität“ und hohe „Expressivität“, die sich im unmittelbaren, überschäumenden Ausdruck von positiven (Freude, Zuneigung) und negativen Gefühlen (Ärger, Zorn, Wut) zeigen. Die Die „türkischen Powergirls“ 222 Mädchen bezeichnen diese Eigenschaften als temperamentvolles Verhalten. Zu den positiven „türkischen“ Eigenschaften gehört außerdem die Pflege besonders vertrauter, fürsorglicher Beziehungen untereinander. In Antizipation von Einschränkung und Ausgrenzung aus der Welt der Erwachsenen sind die „Powergirls“ in ständiger Anspannung und Abwehrbereitschaft, was stilistisch in einer besonderen Reaktionsschnelligkeit zum Ausdruck kommt, mit der Übergriffe abgewiesen, eigene Vorteile durch schnelles Zupacken gesichert und Benachteiligungen durch ungebrochene Aggression pariert werden. Aus der Außenperspektive erwecken die „Powergirls“ den Eindruck in ständiger Abwehr- und Angriffsbereitschaft zu sein. Kommunikative Wachheit, Schlagfertigkeit und Stärke kommen vor allem auch in dem virtuosen Gebrauch verschiedener sprachlicher Ressourcen, zum Ausdruck. Gruppensprache und damit „eigene“ Sprache sind deutsch-türkische Mischungen mit hoher struktureller und funktionaler Ausdifferenzierung, mit der die Mädchen sich gegenüber monolingualen Türken und Deutschen abgrenzen. Nach dem Auseinanderbrechen der ethnischen Clique ist für die Mädchen der Weg zu einer sozialen Neuorientierung offen. Im Jugendzentrum „Internationaler Jugendtreff“ finden sie neue Vorbilder und entwickeln ein neues Selbstbild, verstehen sich nicht mehr als „Türkinnen“ in Opposition zu „Deutschen“, wollen und können aber auch nicht „Deutsch“ sein, sondern definieren sich als etwas „Neues“, als „Deutsch-Türkinnen“, die als gut gebildete junge Frauen in der deutschen Gesellschaft erfolgreich werden wollen, aber gleichzeitig enge sozial-emotionale Bindungen an die Migrantengemeinschaft pflegen. Im Laufe dieser Entwicklung sind Veränderungen im „Powergirl“-Stil zu beobachten, die für die Bewältigung neuer Aufgaben notwendig sind, Veränderungen in der Nutzung sprachlicher Ressourcen und in der Verwendung kommunikativer Mittel und Verfahren. Die jungen Frauen lernen neue Umgangsformen, werden rücksichtsvoller, „höflicher“ im Umgang miteinander und lernen Rechte anderer zu respektieren. Auch sprachlich orientieren sie sich neu: Deutsch wird immer mehr zur dominanten Sprache im Alltag und deutsch-türkische Mischungen, früher das zentrale Mittel in der Ingroup-Kommunikation, werden in ihrer Funktion eingeschränkt. Im Laufe dieses Prozesses entwickeln die Mädchen ein komplexes System sozialer Kategorien für relevante Andere aus ihren Bezugswelten, auf die explizit mit Benennungen oder implizit über sozial-symbolisierende Sprach- und Stilvariation verwiesen wird. Der kommunikative Stil 223 1.3 Zum Aufbau von Teil III In Kap. 2. werde ich zunächst das Sprachrepertoire der „Powergirls skizzieren (Kap. 2.1) und dann die Merkmale herausarbeiten, die für den „Powergirl“-Stil, wie er in der ethnischen Clique herausgebildet wurde, charakteristisch sind (Kap. 2.2). Die Materialbasis dafür sind die Gesprächsaufnahmen zu Beginn meiner ethnografischen Arbeit, d.h. zu dem Zeitpunkt, als sich die ethnische Clique aufgelöst hatte und die Mädchen täglich im Internationalen Mädchentreff zusammen kamen. In dieser Lebensphase ist das in der Cliquenzeit herausgebildete Sprach- und Kommunikationsverhalten noch sehr stabil; das zeigen die Routinen in der Ingroup-Kommunikation, die zur Erledigung alltäglicher Interaktionsaufgaben (Aufforderungshandlungen, Kritik und Spiel) eingesetzt werden. Vor allem aber ist in dieser Lebensphase der stilistische Anpassungsdruck interessant, dem die Mädchen durch die intensiven Kontakte mit den Betreuerinnen ausgesetzt sind und der zu einer situationellen Ausdifferenzierung ihrer stilistischen Praxis und zu einer Schärfung ihres stilistischen Bewusstseins führt. Das wird in Kap. 2.3 dargestellt. In Kap. 2.4 ändert sich der analytische Fokus: Nicht das Kommunikationsverhalten der „Powergirls“ steht im Zentrum der Beschreibung, sondern die erzieherische Haltung und die kommunikativen Verfahren, die die primäre Bezugsperson der Mädchen, die Leiterin des Jugendzentrums, einsetzt und mit denen es ihr gelingt, die Mädchen zu einer sozialen Neuorientierung zu führen und ihnen neue Interaktionsformen nahe zu bringen. Obwohl durch diesen Fokuswechsel die Beschreibung des Kommunikationsstils der „Powergirls“ kurzzeitig unterbrochen wird, war es mir wichtig die kommunikativen Verfahren darzustellen, die sich im Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs als erfolgreich erweisen. In Kap. 2.5 wendet sich der Blick wieder den „Powergirls“ und ihrem Entwicklungsprozess zu. Hier werden die wesentlichen Veränderungen im Gruppenstil beschrieben, die während der mehrjährigen ethnografischen Arbeit beobachtbar sind. Diese Veränderungen werden durch den Einfluss der Leiterin, ebenso wie durch die Teilhabe an neuen sozialen Welten in Gang gebracht und sind durch neue interaktive und soziale Herausforderungen motiviert. In Kap. 3. erfolgt die Beschreibung der deutsch-türkischen Mischungen, der zentralen Kommunikationsform in der Gruppe, unter strukturellen und funktionalen Aspekten. Im Zentrum der Analyse stehen Sprachwechselmuster, die in Erzählungen und Diskussionen diskursive Funktionen erfüllen. In die- Die „türkischen Powergirls“ 224 sem Kapitel wird der Entwicklungsaspekt durch einen Vergleich des Sprachverhaltens der jüngeren Mädchen, die noch eng mit der Lebenswelt des „Ghettos“ verbunden sind, mit den älteren Mädchen, die das Gymnasium besuchen und sich in anderen sozialen Kontexten bewegen, beleuchtet. Die Ergebnisse des Vergleichs werden ergänzt durch Beobachtungen zu sprachlichen Veränderungen, die bei den jüngeren Mädchen nach dem Wechsel in höhere Schulen außerhalb des Stadtgebiets erkennbar sind. In Kap. 4.1 erfolgt die Beschreibung des Systems sozialer Kategorien. Die Materialbasis dafür bilden vor allem Interviews und Gespräche mit den älteren Mädchen. D.h., in diesem Kapitel wird aus der Perspektive von jungen Erwachsenen die soziale Analyse ihrer Lebenswelt dargestellt, die in Kategorien für relevante Andere aus der deutschen Gesellschaft und aus der Migrantengemeinschaft zum Ausdruck kommt. Im Anschluss daran (Kap. 4.2) werden die Sprachformen und Sprechweisen dargestellt, die eingesetzt werden, um soziale Bedeutung zu übermitteln und auf soziale Kategorien und soziale Kontexte zu verweisen. Das abschließende Kap. 5. fasst die biografische und soziale Entwicklung der Mädchen zusammen, rekonstruiert den Zusammenhang zwischen Lebenswelt, Selbstbild und kommunikativem Stil und arbeitet die für die Stilbildung relevanten Prinzipien heraus. 2. Umgang miteinander und mit Außenstehenden 2.1 Sprachrepertoire der „Powergirls“ Die Mädchen verfügen über ein reiches sprachliches Repertoire, das im Sinne Grosjeans (1982, 1995) „monolinguale“ und „bilinguale“ Sprachmodi umfasst. 166 Sie können sich in Gesprächen mit monolingualen Deutschen bzw. Türken im monolingualen Modus bewegen, wobei es für sie wesentlich leichter und selbstverständlicher ist, mit monolingualen Deutschen nur Deutsch zu sprechen als mit monolingualen Türken nur Türkisch. Mit bilingualen SprecherInnen bewegen sie sich in selbstverständlicher Weise im bilingualen Modus und variieren zwischen mehr oder weniger dichten Mi- 166 Die Bezeichung „monolingual“, „bilingual“ verwende ich in Anlehnung an Grosjeans Modell (1982) für das Sprachverhalten von Bilingualen. Er unterscheidet den monolingualen Modus, in dem ein Bilingualer mit einem Monolingualen in dessen Sprache spricht und seine zweite Sprache deaktiviert bleibt und den bilingualen Modus, in dem zwei Bilinguale miteinander kommunizieren, immer wieder wechseln und beide Sprachen ständig aktiviert sind. Der kommunikative Stil 225 schungen aus Deutsch und Türkisch. Im bilingualen Modus fühlen sie sich am wohlsten; Mischungen sind ihre natürliche Sprachform. Sie selbst charakterisieren ihr Sprachverhalten durch die Zuordnung von Sprache zu Situation: untereinander sprechen wir Mischmasch * mit Deutschen sprechen wir Deutsch und zuhause Türkisch oder Mischmasch. Nach meiner Beobachtung jedoch ist die Zuordnung zwischen Situation und Sprache und die Trennung zwischen den einzelnen Sprachformen komplexer, differenzierter und auch diffuser: Deutsch wird nicht nur mit Deutschen, sondern auch untereinander gesprochen. Neben Umgangsdeutsch kommen auch andere Deutschvarietäten vor wie „Gastarbeiterdeutsch“, ethnolektales Deutsch und „Mannheimerisch“, die zu sozial symbolisierenden Zwecken eingesetzt werden können und dann auf bestimmte soziale Kategorien und soziale Kontexte verweisen. Mit den Eltern und Verwandten der ersten Generation sprechen die Mädchen dialektal geprägtes Umgangstürkisch, das mit deutschen Insertionen und Routineformeln durchsetzt ist. In Bezug auf die Sprachpraxis gibt es Unterschiede zwischen den Mädchen, die mit den unterschiedlichen schulischen Lebenswelten zusammenhängen, in denen sie sich bewegen: - Die Jüngeren (14-16 Jahre alt) besuchen noch die Hauptschule des Stadtgebiets oder „ghettonahe“ Schulen mit einem hohen Migrantenanteil (bis zu 90%) und sind noch stark in das soziale Leben der Migrantenpopulation des Stadtteils eingebunden. In der multilingualen Klassengemeinschaft sind ethnolektale Formen (vgl. 2.1.2) zusammen mit Merkmalen des „Mannheimerischen“ die Normalform der Kommunikation. Umgangsdeutsch wird mit deutschsprachigen LehrerInnen und BetreuerInnen gesprochen. Im Gespräch mit Bilingualen werden Mischungen bevorzugt. - Die Älteren (17-19 Jahre) besuchen fast alle die Oberstufen von (Fach-) Gymnasien, bewegen sich in sozialen Kontexten außerhalb des Stadtgebiets und haben anderen sprachlich-kommunikativen Anforderungen zu genügen. Für sie ist standardnahes Deutsch in vielen Lebensbereichen die dominante Sprache geworden. Auch in Gesprächen untereinander finden längere Besprechungen zu schulischen, fachbezogenen Angelegenheiten, Diskussionen u.Ä. in Deutsch statt. Mischungen kommen bei Begrüßungen, Verabschiedungen, Verabredungen vor und vor allem beim privaten, intimen Austausch zwischen eng Befreundeten. Die „türkischen Powergirls“ 226 Mit dem Weg aus dem „Ghetto“-Umfeld in deutsch dominante Schul- und Lebenskontexte und damit verbundenen Veränderungen der sprachlichen Anforderungen und Alltagspraktiken lassen sich also folgende Veränderungen im sprachlich-kommunikativen Verhalten feststellen: Deutsch nimmt quantitativ einen großen Raum in Schule und Ausbildung ein, die Ausdrucksfähigkeit in Deutsch nimmt zu und wird fachlich ausdifferenziert. Der Anteil von Mischungen nimmt in der Alltagspraxis ab. Doch die symbolische Bedeutung der Mischungen als Ausdruck für den Migrationshintergrund und für ein hybrides Selbstkonzept bleibt erhalten (vgl. Teil II, Kap. 6.3, 7.2, 8.) Mischungen sind auch bei den jungen Paaren das bevorzugte Kommunikationsmittel. Im Folgenden werde ich das Deutsch der „Powergirls“ charakterisieren und die Merkmale hervorheben, die aus der Perspektive von Deutschen einen „Ghetto-Hintergrund“ signalisieren. 2.1.1 Jugendsprachliche Merkmale In der Forschung wird unter dem Begriff „Jugendsprache“ der Sprachgebrauch im „sozialen Alter der Jugend“ gefasst, der sich in bestimmten Bereichen vom Sprachgebrauch anderer Altersgruppen unterscheidet, und - je nach linguistischer Ausrichtung - unterschiedlich konzeptionalisiert wird: als Sondersprache, als Slang, als Varietät oder als gruppenspezifische Sprechstile. 167 Als charakteristische Merkmale des jugendlichen Sprachgebrauchs werden angeführt: die Bevorzugung bestimmter syntaktischer Strukturen (Ellipsen, Anakoluthe), die häufige Verwendung von Gesprächspartikeln, tag-questions, Vagheitsformeln und von Intensivierungspartikeln, 168 die Bevorzugung eines spezifischen Wortschatzes mit Tabu-Wörtern, die Bevorzugung und kreative Nutzung bestimmter Wortbildungsmuster, 169 und die Herausbildung spezifischer Sprech- und Kommunikationsstile, bei denen das Prinzip der „Bricolage“ eine große Rolle spielt. 170 Dabei wird mit Texten und Textmustern, die aus anderen Lebensbereichen stammen (z.B. Mediensendungen, Werbetexte, religiöse Texte u.a.) gespielt, sie werden ironisch verfremdet, umgedeutet und in neue Zu- 167 Einen guten Überblick über verschiedene Traditionen der Jugendsprachenforschung gibt Androutsopoulos (1998). 168 Vgl. dazu vor allem Willenberg (1984), Neuland (1987). 169 Z.B. Präfixe wie an-, ab- und umin anlabern, abtanzen und rumhängen; bestimmte Suffixe wie -mäßig in partymäßig, usw. 170 Vgl. dazu vor allem Schlobinski et al. (1993); vgl. auch Schwitalla (1988). Der kommunikative Stil 227 sammenhänge gebracht. Außerdem bevorzugen Jugendliche direktes, spontanes, expressives Sprechen und szenische Darstellungen mit schnellen Perspektivenwechseln. In den Gesprächsmaterialien der „Powergirls“ finden sich viele der als „jugendsprachlich“ beschriebenen Phänomene; so z.B. das szenische Erzählen mit schnellen Perspektivenwechseln, die häufige Verwendung von Ellipsen, von tag-questions, Diskursmarkern, Intensivierungs- und Vagheitspartikeln und die Verwendung derb-drastischer Ausdrücke. Dazu einige Beispiele: - Zitateinleitung durch Personalpronomen + so: isch so <cool> dedim (‘hab ich gesagt’); - die Verwendung des Adjektivs voll zur Intensivierung in voll wenig, voll die härte; - bestimmte tag-questions: weiß=du, weeschd und odder was; - die häufige Verwendung der Partikel halt und so und der Fortführungspartikel un so, odder so wie in: ich muss zehnmal überlegen was ich halt sagen möchte * weil ich halt angst hab mich zu verbabbeln un so * weißt du ↑ ; - Neubildungen wie rumzacken; - lautmalerische Formen blabla bzw. und bla; - Bewertungsausdrücke wie cool, geil, voll geil, scheiße, voll scheiße; - Beschimpfungsformeln wie halts maul, leck mich, verpiss dich. Einige dieser Merkmale treten im folgenden Beispiel einer 20-jährigen Sportstudentin auf: 456 HC: und dort warn wirklich sehr gute tänzer und <isch 457 HC: war schle“chteste ich konnt gar“ nix> >weiß=te ↓ < * 458 HC: des war voll schlimm für mich jedn tag dorthin zu 459 HC: gehn weißt du ↑ * des war irgendwie voll die qua“l 460 HC: aber isch hab gedacht wenn isch schon da bin dann 461 HC: machst=e durch ↓ Zu Beginn von Redebeiträgen werden häufig die Aufmerksamkeitsmarker ey oder hey verwendet, die in der Forschung als für Jugendliche typische Interjektion angeführt werden. 171 Im folgenden Beispiel, in dem eines der Mädchen darstellt, dass sie in der Schule immer wieder als „Türkin“ fertig gemacht wird, werden die Interjektion ey und derb-drastische Ausdrücke mehrfach gebraucht: 171 Vgl. Schlobinski et al. (1993), vgl. Androutsopoulos (1998). Die „türkischen Powergirls“ 228 153 HA: sagt mein lehrer-* HA benimm disch oder du 154 HA: fliegst gleisch raus ↓ wenn=s dir nisch pa“sst geh 155 HA: raus ↓ * lieber halt=sch mein=kla“ppe bevor=sch von 156 HA: kla“ssenzimmer rausgeh- * aber irgendwie von einer 157 HA: seite werd=sch die ganze zeit fe“rtischgemacht 158 HA: des=s |voll schei“ße ↓ | 159 HL: | ← e“y des sind | halt ki“nder leg disch 160 HA: + → nein des hat eh“rlisch nix 161 HL: nisch mit je“den an ↓→ 162 HA: mit kindern zu tun jeden tag mit au“sländern zu tun 163 HA: des=s voll schei“ße ↓← |>also isch mein-<| 164 HL: <ey der |schei“ßdes mit | 165 HL: den hu“ndn ja ↑ des kann dir doch wohl am arsch 166 HL: vorbeige“hn ↓ * wenn die so dumm sin dann lass sie 167 DI: |was misch am |<mei“sten> ankotzt 168 HL: doch einfach |denkn was die|wo“lln ↓ Die Darstellung aus der Schule schließt die Sprecherin HA mit dem drastischen Kommentar des=s voll scheiße ab (Z. 158), und auch die Rezipientin HL verwendet drastische Ausdrucksweisen wie den Bewertungsausdruck ey der schei“ß (Z. 164) und den Kommentar des kann dir doch wohl am arsch vorbei ge“hn (Z. 165f.). Der darauf folgende Beitrag von DI (Z. 167) wird mit der derben Bewertungsformel was misch am< mei“sten> ankotzt eingeleitet. Die angeführten Merkmale sind typisch für einen vertrauten, lockeren Umgang unter jüngeren Sprechern und sind für unterschiedliche Jugendgruppen in Deutschland belegt. Dass sie auch bei den „Powergirls“ vorkommen, zeigt ihr Eingebundensein in deutschsprachige Jugendszenen, die sie im schulischen Kontext und über Mediendarstellungen kennen lernen. Diese Merkmale charakterisieren die Sprecherinnen als „jugendlich“, verweisen aber nicht auf einen „Ghetto“-Hintergrund. Diesen Signalwert haben die im Folgenden dargestellten Merkmale des ethnolektalen Deutsch. 2.1.2 Ethnolektale Formen: „Ghettodeutsch“ Mit „Ghettodeutsch“ wird eine ethnolektale Form des Deutschen bezeichnet, die sich in dem Stadtgebiet unter Migrantenkindern und -jugendlichen unterschiedlicher Herkunft als lingua franca herausgebildet hat. Die Bezeichnung Ghettodeutsch stammt von türkischstämmigen Studierenden, die sich von dieser Sprachform distanzieren. Dazu folgendes Beispiel: Der kommunikative Stil 229 YA: dieses deutsch der ghettomenschen * das ist eine YA: verstümmelte sprache * gebildete menschen sprechen YA: so nicht [...] so reden türkische jugendliche die YA: dort unten wohnen 172 * die wollen sich als cool und YA: aggressiv zeigen Ein anderer Informant spricht von den Ghetto-Kids und ihrem schrecklichen Deutsch, das für ihn Ausdruck von mangelnder Bildung und ein Anzeichen für Unterschichtzugehörigkeit ist. Von solchen Jugendlichen distanziert er sich und verbietet auch seinem jüngeren Bruder den Kontakt mit ihnen. Sprecher dieser Sprachform nennen sie unser Ghettoslang; 173 deutsche Lehrkräfte und BetreuerInnen bezeichnen das besondere Deutsch als eine eigene Sprachform, die sie komisches Deutsch oder typische Stadtteilsprache nennen. 174 Damit verbinden die InformantInnen folgende Merkmale: gestoßenes Sprechen, rollendes / r/ , Einwortsätze und abgehackte, unvollständige Sätze, ohne Artikel und Präpositionen. Ähnliche Sprachformen haben sich auch in anderen Städten Deutschlands in jugendlichen Migrantenmilieus herausgebildet. Füglein (1999) beschreibt sie für Bamberg und München als ethnolektale Varietät des Deutschen, als „Kanak Sprak“, 175 und stellt folgende Charakteristika fest: elliptische Konstruktionen, Verberststellung und Ausfall verschiedener Elemente (Präpositionen, Artikel, der Proformen es und 172 Mit „dort unten“ verweist der Informant auf das von mir untersuchte Stadtgebiet, Mannheimer Unterstadt und Jungbusch. 173 Die Bezeichnung stammt von einem deutschen Hauptschüler, der auf die Frage, warum er so seltsam Deutsch spreche, antwortete: das ist eben unser Ghettoslang; vgl. Oberle (2006). 174 Die Bezeichnung „Ghettodeutsch“ lehnen sie ab. Das erfuhr ich bei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrende und Erziehende ebenso wie bei parteipolitischen Veranstaltungen, bei denen ich über unsere Projektergebnisse referierte. Die Bezeichnungen „Ghetto“ und „Ghettodeutsch“ trafen auf heftigen Widerspruch, obwohl ich darauf hinwies, dass es sich um Informantenbezeichnungen handelt. Anstelle der „Ethnokategorien“ bevorzugten sie harmlosere Bezeichnungen wie „Stadtteilsprache“ und „Stadtteil mit einem hohen Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund“. Bei Migranten der zweiten Generation jedoch wird die Bezeichnung immer gebräuchlicher und auch in öffentlichen Kontexten verwendet. In einer Fernseh-Talk-Show ( SWR 3, Backes, 28.10.2005 „Angst vor dem Islam“) verwendete eine die anwesenden GesprächspartnerInnen türkischer Herkunft mehrfach „Ghetto“ für typische Migrantenwohngebiete und „Ghettosprache“ für das dort praktizierte Deutsch. 175 Füglein (1999) übernimmt zur Bezeichnung der Sprachform, die die von ihr untersuchten Jugendlichen sprechen, die von dem Schriftsteller Feridun Zaimoğlu (1995) eingeführte Bezeichnung zur Sprache türkischer Jugendlicher in Deutschland. Die „türkischen Powergirls“ 230 des in Nominativ- und Akkusativposition), außerdem türkische Adressierungen, Droh- und Schimpfformeln. 176 Auffallend sei auch die Verwendung bestimmter Lexeme als Modal- und Verstärkungspartikel wie voll, normal, konkret und krass ebenso wie besondere prosodische und phonetische Eigenschaften, die die Autorin als „stakkatoartiges“ Sprechen mit „fremdländischem Akzent“ bezeichnet. „Kanaksprachliche“ Elemente sind nach Beobachtung der Autorin sozial markiert und werden vor allem von Jugendlichen mit niedrigem Bildungsgrad verwendet. Dirim/ Auer (2004) stellen unter Hamburger Jugendlichen ethnolektale Formen fest, die sich im prosodischen und phonetischen Bereich vom Umgangsdeutschen unterscheiden (z.B. Koronalisierung von / c/ zu / sch/ , gerolltes / r/ auch in Anlautclustern, silbenzählender Rhythmus), aber auch im morphosyntaktischen Bereich Besonderheiten haben, z.B. Wegfall von Präpositionen und Artikel, ungewöhnliche Verwendung von Adverbien und Präpositionen und unübliche Verbspitzenstellung (Kap. 6.3ff.). Nach Beobachtung der Autoren werden solche Formen sowohl von Migrantenjugendlichen als auch von deutschen Jugendlichen im Gespräch mit Migranten verwendet (Kap. 6.9). 177 Eine Sprachform, die strukturelle Ähnlichkeiten mit den ethnolektalen Varietäten in Deutschland hat, beschreibt Kotsinas (1998) als „Rinkeby-Schwedisch“, das sich unter Migrantenjugendlichen unterschiedlicher Herkunft (Türkisch, Griechisch, Chinesisch, Chilenisch und Schwedisch) in den Vororten Stockholms herausgebildet hat. Es hat typische Züge des Stockholmischen, 176 Z.B. Adressierungen wie hey lan (‘he Mann’) oder Droh- und Schimpfformeln wie hadi lan (‘los Mann’), siktir lan (‘verpiss dich Mann’) oder inek (‘Kuh’). 177 Auer (2003) bezeichnet ethnolektale Formen des Deutschen, die von türkischstämmigen Jugendlichen gesprochen werden, als „Türkenslang“. Er unterscheidet zwischen dem „primären Ethnolekt“, der in natürlichen Jugendgruppen, auf der Straße und in der Schule gesprochen wird, dem „sekundären Ethnolekt“, den medialen Verarbeitungen und Stilisierungen des primären Ethnolekts, und dem „tertiären Ethnolekt“, den ethnolektalen Formen, die deutsche Jugendliche zur Abgrenzung oder zur Karikatur von typischen Primärsprechern verwenden. Dabei können auch mediale Formen eine Rolle spielen. Wenn in typischen Migrantenwohngebieten auch nicht-türkische Jugendliche solche Formen sprechen, spricht Auer von „Deethnisierung“ des Ethnolekts, da er zur normalen Umgangssprache zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft wird. Die von mir verwendete Bezeichnung „Ghettodeutsch“ umfasst das, was Auer als „deethnisierten Ethnolekt“ bezeichnet. Meiner Beobachtung nach bildet und stabilisiert sich diese Sprachform in multilingualen Gemeinschaften, z.B. Schulklassen, in denen Türkischstämmige eine bedeutende Rolle spielen. Der kommunikative Stil 231 weicht aber in folgenden Bereichen davon ab: intonatorisch, rhythmisch und phonetisch (skandierendes Sprechen, gerolltes / r/ , Einebnung der Unterscheidung zwischen kurzen und langen Vokalen), morphologisch (Bevorzugung nur eines Genus, wenige Präpositionen, analytische Tempusbildung), abweichende Wortstellung und Übernahme von Slang- und Schimpfwörtern aus verschiedenen Sprachen. Während einige Jugendliche vorwiegend Rinkeby- Schwedisch sprechen, wechseln andere je nach situativen Anforderungen zwischen Schwedisch und Rinkeby-Schwedisch. Rinkeby-Schwedisch hat strukturelle Ähnlichkeit mit Varietäten, wie sie durch einen andauernden Kontakt zwischen Menschen verschiedener Ausgangssprachen entstehen und weltweit für multilinguale Kontexte beschrieben sind. Rinkeby-Schwedisch ist, so die Autorin, für die Jugendlichen ein Mittel zum Ausdruck einer eigenen Identität im multiethnischen Migrationskontext. Das ethnolektale Deutsch, das sich in Migrantengebieten in Mannheim herausgebildet hat, ist eine vereinfachte Form der deutschen Umgangssprache, in der einige Charakteristika relativ durchgängig, andere nur vereinzelt vorkommen. Relativ durchgängig kommen vor: - Wegfall von Präposition und Artikel in Lokal- und Richtungsangaben: z.B. isch muss toilette, isch geh schwimmbad; - Generalisierung der Verben gehen, kommen und vor allem machen: z.B. isch mach disch krankenhaus (‘ich schlag dich krankenhausreif’); - Verwendung von Formeln wie isch schwör zur Bestätigung und isch hass des zur negativen Bewertung; - Verwendung türkischer Formen zur Anrede (lan, moruk, ‘Mann’, ‘Alter’), zur Beschimpfung (siktir lan, 178 ‘verpiss dich, Mann’) und als Interjektionen und Diskursmarker; 179 - eine spezielle Art der Informationsvermittlung, die einen hohen Grad an geteiltem Wissen voraussetzt und nur einen geringen Teil dessen explizit macht, was für den Gesprächspartner zum Verständnis notwendig ist (vgl. unten Kap. 4.2.3); 178 Siktir ist eine verkürzte Version der Formel siktitir git (‘lass dich ficken und hau ab’). Die Bedeutung von siktir kann je nach Verwendungskontext mit ‘verpiss dich’ oder ‘verfick dich’ wiedergegeben werden. 179 Ähnliche Merkmale hat auch Füglein (1999) für die „Kanak Sprak“ beschrieben. Die „türkischen Powergirls“ 232 - ein Komplex phonologisch-prosodischer Merkmale, der zu einer besonderen Form des Sprechens führt, dem „gestoßenen“ Sprechen (vgl. dazu S. 228 ff.). Gelegentlich kommen vor: - Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen: z.B. gib mir kippe, isch war schlechteste, bevor=sch von klassenzimmer rausgeh; - Ausfall von Pronomina und suppletiven Elementen: z.B. wann has=du [sie] fotografiert; - andere Genera: z.B. rischtiges tee (richtiger Tee); - andere Verbrektion: z: B. wenn=sch mit ihm heirate (wenn ich ihn heirate); - andere Wortstellung: z.B. hauptsache lieb isch ihn (Hauptsache ich lieb ihn). Als Beispiel für ethnolektales Deutsch ein kurzer Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen 16-17-jährigen Jugendlichen aus einer Berufsvorbereitungsklasse. 180 Die türkischstämmigen Jungen Onur (ON) und Can (CA) sprechen mit dem arabischen Raffi (RA) über eine Gruppe Jugendlicher aus dem Jugendzentrum „Erlenhof“, mit denen sie im Streit liegen und die voll die Fische sind (= Idioten): 01 ON: die Erlenhof kommn * die sin voll die fische * also=sch 02 ON: schlag die irgenwann ma 03 CA: oh mann was=s * zu blöd mann 04 RA: has=du gehört was UR gesagt hat ↑ über uns gehetzt ↓ 05 CA: ja ↑ 06 CA: wer ↑ 07 RA: meins=u die sin fi/ die sin voll die fische un so 08 RA: dass uns schlagn wolln un so 09 CA: warum ↑ ja ↑ * komm wir 10 CA: schlagn die dann * wir treffn uns Friesnheimer Insel 180 Die Klassen im Berufsvorbereitungsjahr ( BVJ ) bestehen zu über 90% aus Migrantenjugendlichen. Die meisten haben keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss und kaum eine Chance auf eine qualifizierte Berufsausbildung. Im BVJ haben sie die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss nach zu machen bzw. sich auf eine Anlerntätigkeit vorzubereiten. Nach Meinung von Lehrenden ebenso wie von Jugendlichen selbst ist das BVJ ein Abstellgleis und ein Sammelbecken für loser. Der kommunikative Stil 233 11 RA: kä problem von mir aus ok ↓ 12 CA: ok ↑ * schicks=du kumpel 13 CA: von dem * soll zu Erlenhof gehn un sagn * wir treffn 14 CA: uns Friesenheimer Insel ok ↓ 15 RA: ok- Ethnolektale Merkmale sind Ausfall von Artikel und Präposition in Präpostionalphrasen, wie die Erlenhof kommen (die vom Erlenhof) oder wir treffen uns Friesenheimer Insel (auf der Friesenheimer Insel), Ausfall des Artikels in schicks=du kumpel von dem (den/ einen Kumpel) und in zu Erlenhof (zum Erlenhof); Ausfall des Personalpronomens in soll zu Erlenhof gehen (er soll gehen). Die Charakterisierung die sin voll die fische ist eine unter Mannheimer Jugendlichen übliche Formel für ‘das sind totale Idioten’. Zur Frage der Stabilität ethnolektaler Formen und des Repertoires der jugendlichen Sprecher - ob sie Umgangsdeutsch können und in welchen Situationen sie es verwenden - kann ich z.Zt nur einige Beispiele anführen. In einer 8. Hauptschulklasse, die zu 90% aus Migrantenjugendlichen besteht (und die auch einige der jüngeren „Powergirls“ besuchen), verwenden die Jugendlichen untereinander Ghettoslang. Das zeigt das folgende Beispiel aus einem Unterrichtsgespräch. Beteiligt sind der türkischstämmige Sozialpädagoge Güven (GÜ), die türkischstämmigen Jungen Ugur (UR), Cüney (CÜ) und Seif (SE) und die deutschen Jungen Ron (RO) und Tobias (TO). Dem Beispiel voraus geht die Diskussion über die nächste gemeinsame Unternehmung. Auf einen Vorschlag des Betreuers (GÜ) folgen viele Anregungen, dann stellt der deutsche Ron (RO) die Frage: 01 K& DURCHEINANDER 02 RO: <wann gehen wir ausflug Güven ↑ > 03 TO: nächstes jahr 04 GÜ: des wollt 05 GÜ: isch jetz gerade euch (vorschlagen? ) un dann hört kein mensch 06 UR: <ru“he jetz ↓ > 07 RO: wir gehen schwimmen ↓ 08 GÜ: zu wir wollen einfach ** 09 GÜ: dass * ihr sel|ber * wie-| * 10 SE: |(...)(...)| <Güven abı ↑ ** darf=sch was 11 Ü: großer Bruder 12 SE: sagn ↑ ** wann gehen wir schwimmbad ↑ 13 GÜ: >ja: ↓ < 14 TO: <ja“ geh Die „türkischen Powergirls“ 234 15 TO: schwimmbad> 16 CÜ: der will nur wegn seim körper langer 17 K: UNTERDRÜCKT LACHEND # 18 TO: hahaha 19 K: HÄMISCH 20 SE: wegn meim körper ↑ * → sch=scheiß drauf lan ← * sch=geh 21 K&: LACHEN Mann 22 SE: nur schwimmbad weil des sportlisch is lan * siktir lan 23 Ü: Mann verpiss dich Mann In Rons Frage wann gehen wir ausflug güven ↑ (Z. 02) fehlen Artikel und Präposition in der Richtungsergänzung. Noch bevor Güven antworten kann, liefert Tobias die Information (Z. 03). Er reagiert nur auf den Inhalt der Frage und nicht auf ihre grammatische Besonderheit. Auch Güven korrigiert die grammatische Form nicht, sondern beginnt seine Vorstellungen zu Freizeitunternehmungen darzustellen (Z. 04, 09). Er wird von Seif mit der Bitte um das Wort unterbrochen. Auch in Seifs Frageformulierung „wann gehen wir schwimmbad ↑ (Z. 12) fehlen Präposition und Artikel. Wieder schiebt sich Tobias dazwischen und fordert Seif mit hämischem Unterton auf: <ja“ geh schwimmbad> (Z. 14f.). Er initiiert einen Wechsel der Interaktionsmodalität von der vorherigen Aushandlung zu einem Frotzelspiel gegen Seif. Das Spiel wird von Cüney ratifiziert, der mit der Motivunterstellung der will nur wegen seim körper langer (Z. 16) das Spiel weitertreibt und auf Seifs Eitelkeit und seinen Stolz auf seinen bodygebildeten Körper anspielt, den er im Schwimmbad zur Schau stellen kann. Der angegriffene Seif weist die Unterstellung zurück und entkräftet sie, indem er den Schwimmbadwunsch mit seinem Interesse an Sport erklärt: wegn meim körper ↑ * sch=scheiß drauf lan * sch geh nur schwimmbad weil des sportlisch is lan * siktir lan (Z. 20, 22). In der gesamten Sequenz werden die grammatisch auffälligen Präpositionalphrasen weder von den deutschsprachigen Jungen noch vom Betreuer als Besonderheit behandelt, sondern als Normalform verwendet. Doch dieselben Jugendlichen können gegenüber deutschen Lehrenden auch ganz anders sprechen; sie verwenden z.B. Höflichkeitsformen, die Adressierung mit Herr X, Frau Y und grammatisch korrekte Lokal- und Richtungsangaben wie in der folgenden Bitte an die Klassenlehrerin: darf isch ma bitte auf die Toilette Frau Brand oder in einer Protestformulierung: isch hab die abba auf=m Hof gesehn Herr Wolf. Diese situationelle Differenzierung deutet daraufhin, dass für die Jugendlichen ethnolektale Formen gruppensprachliche Qualität ha- Der kommunikative Stil 235 ben; 181 sie signalisieren, dass die Jungen sich unter sich fühlen, in „ihrer“ Sprache reden und den erwachsenen Güven, den sie mit Güven abi adressieren, 182 nicht als störend, sondern als zu ihnen gehörig behandeln. 183 Bei den jüngeren „Powergirls“, die noch eng mit dem „Ghettokontext“ (Schule, Freundeskreis) verbunden sind, treten viele dieser ethnolektalen Merkmale auf. Die bei männlichen Jugendlichen beobachtbaren Adressierungen lan (‘Mann’), Langer und Mann gehören auch zum Normalton der jüngeren „Powergirls“. In deutschsprachigen Äußerungen erscheinen die deutschen Adressierungen Mann und Langer (vgl. dazu unten), in türkischsprachigen Äußerungen die Adressierung lan, wie im folgenden Beispiel: 184 01 HI: du wirs=dann madonna↑ 02 HL: +tama“m lan tamam↓ 03 Ü: klar, Mann, klar Oder im nächsten Beispiel: 657 HI: fami"lie=ne=lan↑ 658 Ü: was ist mit der Familie, Mann Auch die Intensivierungsformel isch schwör, die charakteristisch für junge Migranten aus dem „Ghetto“ ist und die auch in medialen Darstellungen Migrantenjugendlichen in den Mund gelegt wird, 185 verwenden die Mädchen häufig. Im folgenden Beispiel schildert eine Sprecherin ihre Erfahrungen aus der Schule und verwendet die Formel mehrfach zur Bekräftigung ihrer Schilderungen: 181 Neben „Ghettodeutsch“ verwenden die Jugendlichen auch Sprachformen, wie sie in den Medien als „Ausländerdeutsch“ dargestellt werden, z.B. in Filmen von Erkan und Stephan und in Produktionen des Comedy-Duos „Mundstuhl“. Das sind mediale Konstruktionen, die keine direkte Entsprechung in der Realität haben. Dirim/ Auer nennen solche Sprachformen „sekundären Ethnolekt“ (2004, Kap. 6.). Zur Verwendung medialer Sprachformen in den Gesprächen der Mannheimer Migrantenjugendlichen vgl. Keim (2003b). 182 Die Adressierung „Vorname + abi“ (= großer Bruder) ist eine vertraute türkische Form der Anrede für einen Älteren. 183 Diese Beobachtung der situationellen Differenzierung wird in einer exemplarischen Studie von Keim/ Knöbl (2007) bestätigt. Die Autoren zeigen, dass eine Gruppe wenig erfolgreicher Hauptschüler über ein weit ausdifferenziertes Repertoire verfügt, in dem ethnolektale Formen, sprachliche Mischungen und standardnahes Deutsch ganz bestimmte Funktionen erfüllen. 184 Die türkischen Formen sind fett gedruckt. 185 Vgl. z.B. Kaya Yanars Darstellung von Hakan in der Comedy Sendung „Was guckst du? “ ( SAT 1, Freitags, 21.15 Uhr). Die „türkischen Powergirls“ 236 766 HA: isch schwörbei mir is=s jeden tag so oder: 865 HA: bei je“dem scheiß * isch schwör * die finden für alles ne ausrede ↓ oder: 911 HA: die zwei jungs ↓ * isch schwör isch könnt die u“mbringen ↓ Auch grammatische Merkmale des „Ghettodeutsch“ kommen in den Gesprächen der „Powergirls“ vor und alternieren mit umgangssprachlichen Formen, wie in den folgenden Beispielen: 186 920 TE: ** isch mach ma=n beispiel * da warn deutsche in 921 TE: der klasse → isch hab nix gegen deutsche ga“r nix ← 922 TE: ** ← die ham tagelang die schule geschwänzt → * 923 TE: is nix passiert * sobald ein ausländer- * → egal 924 TE: wenn=s türke oder egal was war ← * vier tage ↑ 925 TE: nischt in der schule war * ham die schon brief 926 TE: gekriegt Grammatisch auffällig ist der Artikelwegfall in den Nominalphrasen türke (Z. 924) und brief (Z. 925) und der Wegfall des pronominalen er in egal was war (‘egal was er war’, Z. 924). Im nächsten Beispiel von derselben Sprecherin sind alle grammatisch notwendigen Elemente realisiert: 937 TE: nur bei sechs türke“n * >des warn tü“rkn kei“ne 938 TE: ausländer< HOLT LUFT wurde in=s zeugnis geschriebn 939 TE: zwanzisch mal gefehlt und der bla bla zwanzisch 940 TE: mal zu spät gekommn HOLT LUFT * < ← und bei den 941 TE: deu“tschen → > * die fast nie“ in der schule warn ↑ 942 TE: * nischt ma ein strisch ↓ * was/ was willst du 943 TE: daraus anderes seh=n ↑ Im folgenden Beispiel kommen Präpositionalphrasen ohne Artikel neben grammatisch korrekten Formen vor: 969 TE: als isch in der realschul war war=s auch * au“ch gut ↓ 970 TE: aber * als isch in der * humboldt real warwar=s nisch 971 TE: mehr so gut * da sin=se noch mehr ausländerfeindlisch * 972 TE: da“nn wo isch in der hau"ptschule war * sin=sie an mir 973 TE: rumgezackt <e“her> nischt weil=sch ausländerin bin 974 TE: sondern weil=sch * so stress hatte mit schule und so ↓ 186 Die abweichenden Formen sind unterstrichen. Die Alternation zwischen grammatisch korrekten und inkorrekten Formen beschreiben auch Dirim/ Auer (2004, Kap. 6. G). Der kommunikative Stil 237 975 TE: <wenn die: > Maier TE gesagt hat * hat jeder misch gekannt ↓ * 976 TE: isch war zum beispiel im haus * mein vadder is gekommn 977 TE: die ham misch in einer minute gefundn wo isch bin * 978 TE: die ham mi/ <je“der> hat misch in der schule gekannt 979 TE: dursch lehrer ↓ * die sind z/ klasse zu klasse gegangn 980 TE: ham erzählt TE is so TE is so ↓ Grammatisch auffällig ist der Wegfall der Determinative in den Präpositionalphrasen mit schule und dursch lehrer und eine ungewöhnliche Verwendung der Präposition in z/ klasse zu klasse (‘von Klasse zu Klasse’). Die Neubildung an jemandem rumzacken in sind an mir rumgezackt ist eher eine gruppensprachliche Form; die Partikelkombination e“her nischt (Z. 973) anstelle von nicht so sehr könnte durch dialektalen Einfluss erklärt werden. In dem folgenden gemischtsprachlichen Beispiel, in dem die Sprecherinnen klären, ob zwei Mädchen in der Hauptschule oder Realschule sind, alternieren Lokalangaben ohne Präposition und Artikel mit grammatisch korrekten Formen. Bei den Schulbezeichnungen alternieren Vollformen mit Kurzformen: Hauptschule wird zu Haupt und Realschule zu Real verkürzt, und in dieser Form auch in die türkische Struktur insertiert: 177 TE: ama äh überhaupt kim var ↑ daha ↑ *2¸0* die is 178 Ü: aber wen gibt es überhaupt noch 179 TU: Cemile ↓ 180 TE: aber realschule ↓ ikisi de mi 181 Ü: beide sind 182 RL: yeah ↓ 182 VA: Cemile is haupt ↓ 184 TE: hauptschulede ↑ 185 Ü: auf der Hauptschule 186 XW1: ikisi de (...)< 187 Ü: beide 188 TU: Meral realdan 189 Ü: Meral ist von der Real 190 TE: ah was ↓ 191 TU: ş eye dü ş tü ya mittlere reifeden ↓ * bvja ↓ 192 Ü: doch runter von der mittleren Reife aufs BVJ 193 TE: Cemile ↑ 194 TU: probezeiti ş =yapmadı ya ↓ Cemile=s in=a neuntn 195 Ü: sie hat doch die Probezeit nicht Dings gemacht 196 HC: sie is mittlere reife ↓ 197 TE: real ↑ 198 TU: klasse ↓ Cemile is in 199 TU: der Sickinga: hauptschule ↓ Die „türkischen Powergirls“ 238 Teslimes (TE) Formulierung die is aber realschule (Z. 177, 180) und Hicis (HC) Formulierung sie is mittlere reife (Z. 196) alternieren mit Turnas (TU) Formulierung Cemile=s in=a neuntn (Z. 194) und Cemile is in der Sickinga: hauptschule (Z. 198f.). Mit zunehmenden Kontakten mit Deutschsprachigen (in Schulen außerhalb des Migrantenwohngebiets) verschwinden „ghettosprachliche“ Merkmale. Im Deutsch der älteren Schwester von Teslime, die zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits studiert, kommen sie nicht mehr vor: 197 DI: ich hab nicht vor ausländer zu bevorzugen un=deutsche 198 DI: zu benachteiligen oder so * ähm ich bin überzeugt 199 DI: dass viele ↑ ähm ich mein * in der hauptschule sitzen 200 DI: ja fast nur eh *ausländer ↓ und ich hab das gefühl ↑ 201 DI: * die ausländer werden hier ähm * also die lehrer 202 DI: geben den ausländern hier das gefühl ähm * so in der 203 DI: art * ihr taugt nix * auch wenn sie des u“nbewusst 204 DI: machen * mit irgendwelchen dummen bemerkungen * wo 205 DI: die eigentlich gar nicht wissen * was sie damit 206 DI: a“nstellen ↓ Ethnolektale Formen (Ausfall von Artikel, Präpositionen und anaphorischen Pronomina, vereinzelt auch andere Genera und Kasus) finden sich im Sprachgebrauch der „Powergirls“ im Vergleich zu normgerecht produzierten Strukturen in nur geringem Ausmaß; sie treten in 2% bis 5% der Fälle auf. Doch trotz dieser geringen Auftretenshäufigkeit haben sie einen hohen sozialen Signalwert: Sie markieren die Sprache der Mädchen, machen sie für Deutschsprachige auffallend und signalisieren einen „Ghettohintergrund“. Neben den grammatischen Abweichungen gibt es auch Besonderheiten im prosodischen und phonologisch-phonetischen Bereich. Sie scheinen auch noch bei den Sprecherinnen durch, die ein grammatisch einwandfreies Deutsch sprechen. Diese Besonderheiten werden von deutschsprachigen Informanten als „gestoßenes“ oder „gereiztes“ Sprechen charakterisiert, 187 das eine Herkunft aus dem „Ghetto“ signalisiert. Konstitutive Merkmale sind vor allem folgende: 188 187 Ich spielte Ausschnitte aus den Interviews mit den Informantinnen Studierenden vor und ließ sie ihren Eindruck beschreiben. Die Befragten bezeichneten die Art des Sprechens als „aggressiv“ und „gereizt“, als „hervorgestoßen“ und als „Sprechen wie aus der Maschinenpistole“. Mit dieser Art des Sprechens verbanden die Befragten Sprecherinnen, die „aus dem Jungbusch“ kommen. 188 Für Anregungen bei der Identifizierung und Beschreibung dieser Merkmale danke ich Nina Behrend. Der kommunikative Stil 239 Auf der phonologisch-phonetischen Ebene: - die Tendenz zur Kürzung langer Vokale; dadurch ändert sich auch die Qualität der umgebenden Konsonanten; z.B. Fast-Tilgung eines folgenden / r/ wie in [ tHY ´ kIS ] (= türkisch) oder Fortisierung und Längung eines folgenden Frikativs wie in [ St “ as˘´ban ] (= Straßenbahn) - die Tilgung des initialen Vokals bei Personalpronomen ich und Fortisierung des [ S ]-Lauts in Kombinationen wie z.B. sch=hab [ S˘ap h ] oder hab=sch [ hapS˘ ], muss=sch [ mVs ´ S˘ ] - die Reduktion des zweiten Lauts bei Diphthongen und Akzentuierung des glottal stop bei anlautendem Vokal oder Diphthong, z.B. ausländer [ / ç V slEnda ] oder einma [ / a´ma ] - die Spannung und Fortisierung der stimmlosen Plosive [p, t, k] und Frikative [f, s, S ] vor allem in initialer Position - die deutliche Aspirierung von stimmlosen Plosiven - die deutliche Verstimmhaftung von stimmhaften Plosiven und zusätzliche Verstimmhaftung von Sonoranten - die Fast-Tilgung von / r/ nach kurzen Vokalen, z.B. dort [ dç ´ t h ] Auf der prosodischen Ebene: - ein hohes Sprechtempo und ein insgesamt gespanntes Sprechen - die Tendenz zu einem „stampfenden“ Rhythmus durch Gleichbehandlung von betonten und unbetonten Silben (silbenzählender Rhythmus) - die Tendenz zu planer Intonationskontur mit relativ wenigen Tonhöhenbewegungen, die in starkem Kontrast zu der für die Mannheimer Stadtsprache typischen intervallreichen Intonationskontur mit zweibzw. dreigipfliger Endkadenz steht. Als Beispiel für diese Art des Sprechens ein kleiner Ausschnitt aus einem Gespräch, in dem Teslime über ihre sozial-kulturelle Zugehörigkeit spricht. Der Ausschnitt ist in literarischer Umschrift transkribiert. Die angeführten phonologisch-phonetischen Merkmale, wie Kürzung von Vokalen, Fasttilgung des / r/ nach Vokal, Tilgung des initialen / i/ in / isch/ und Fortisierung des / sch/ sind alle realisiert: 689 TE: sch: =hab ma=zu den=gsagt isch f: ühl misch: eha deutsch 690 TE: wie tü(r)kisch: * dann ham die halt des → i(r)gndwie 691 TE: nisch: normal gefundn * weil=sch msch: eha deutsch Die „türkischen Powergirls“ 240 692 TE: f: ühl als tü(r)kisch: ← * <weil=sch: bin do=hiea 693 TE: au“f: gewachsn sch: =bin hier gebo“rn> (...)ku=ma ATMET 694 TE: TIEF wenn=sch: jetz → ei“ne woche lang i(r)gndwo 695 TE: hingehn wü(r)d * hei“delberg zum beispiel * dann 696 TE: vamiss=sch=schon mannheim ← (...) wü(r)d=sch: =scho 189 697 TE: ei“neinhalb monate in tü(r)kei gehn ↓ * <da 698 TE: vermiss=sch: ma“nnheim ↓ > * un w: enn=sch=n die 699 TE: tü(r)kei geh → s=s mia alles so f: remd ← Die prosodische Kontur der ersten Äußerungen sieht folgendermaßen aus: 190 o o o o o o o o o o o o o o o o o o o sch: =hab ma=zu den=gsagt isch f: ühl misch: eha deutsch wie tü(r)kisch: dann ham die - - - . - . - - - . - = - = . - - - o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o halt des → i(r)gendwie nisch: normal gefundn * weil=sch msch: eha deutsch f: ühl als tü(r)kisch: ← - - . . . - . - . - . . . . - - = - - - . Die Kookurrenz dieser Merkmale ist charakteristisch für das Sprechen der „Powergirls“ und für viele „Ghettojugendliche“. Vor allem die Fortisierung und Längung des Frikativs [S], die relativ plane Intonation und der hämmernde Rhythmus, der durch die Angleichung betonter und unbetonter Silben entsteht, machen den scharfen, fast zischenden Charakter aus. Das unterscheidet diese Sprechweise sehr deutlich von dem „Mannheimerischen“, das von Mannheimern selbst als breite, verwaschene Sprache und als Singsang bezeichnet wird. 191 Auch wenn die Sprecherinnen sich auf anderen Sprachebenen dem Standarddeutschen annähern, bleibt dieser typische „Akzent“ erhalten. Er kann sich abschwächen, bleibt aber für Mannheimer erkennbar und wird mit „Ausländersein“, „Türkischsein“ und den entsprechenden Wohngebieten assoziiert. Die enge Verbindung zwischen „gestoßenem“ Sprechen und „Ghettoherkunft“ basiert auf der Erfahrung, dass bei türkischstämmigen Jugendlichen, die in Wohngebieten und Schulen mit einem geringen Migrantenanteil aufgewachsen sind, diese Sprechweise nicht vor- 189 Die semantische Ausweitung der Partikel schon im Sinne der Verstärkungspartikel sogar kann als weiteres Merkmal von Deutsch als lingua franca gefasst werden. 190 Über der Sprecherzeile ist der Tonhöhenverlauf angegeben, unter der Sprecherzeile die rhythmische Struktur; dabei bedeuten: (-) mittlere Betonung, (=) starke Betonung und (.) schwache Betonung. 191 Vgl. dazu ausführlich Keim (1995a, Kap. 3.). Der kommunikative Stil 241 kommt. 192 Wie groß die Signalwirkung dieser Sprechweise ist, erfahren einige „Powergirls“, wenn sie nach Wohnungen außerhalb des Stadtgebiets suchen. Bereits am Telefon werden sie aufgrund ihres Tons als „Ausländerinnen“ oder „Türkinnen“ erkannt und als potenzielle Mieterinnen abgewiesen. Am Beispiel der „Powergirls“ wird deutlich, dass sich - mit Ausnahme der phonologisch-prosodischen Merkmale - ethnolektale Formen im Laufe des Erwachsenwerdens verlieren, wenn die Jugendlichen aufgrund schulischer und beruflicher Ziele den Weg aus dem „Ghetto“ gehen. Für sie sind ethnolektale Formen Übergangsphänomene, die in einer bestimmten Lebensphase zur Normalform in der Gruppenkommunikation gehören. Bei Jugendlichen jedoch, die langfristig im „Ghetto“ bleiben und nur geringen deutschsprachigen Anforderungen genügen müssen, kann sich „Ghettodeutsch“ zu einer Art Soziolekt entwickeln, den sie ins Erwachsenenleben mitnehmen und stabilisieren. Tendenzen in diese Richtung lassen sich bei einigen Jugendlichen in den Berufsvorbereitungsklassen beobachten (vgl. Beispiel oben, S. 221f.). Bei ihnen variieren ethnolektale Merkmale in wesentlich geringerem Maße mit Standardformen als bei den „Powergirls“. Ethnolektale Formen gehören zur normalen Sprachpraxis der jüngeren „Powergirls“, und alternieren mit standardnahen Formen. Sie können aber auch zur sozialen Symbolisierung verwendet werden; dann ändern sich Sprache und Sprechweise ab einem bestimmten Punkt in der Äußerungsproduktion und kontrastieren in auffälliger Weise zu vorangehenden und nachfolgenden Äußerungsformen. In solchen Fällen handelt es sich um Formen des Codeswitching, die eine rekonstruierbare interaktive und soziale Bedeutung haben. Solche auffallenden, markierten und durch bestimmte Kookkurrenzen charakterisierte Wechsel in Sprache und Sprechweise werden verwendet, um auf bestimmte soziale Typen oder Kategorien zu verweisen und bestimmte interaktive Funktionen zu erfüllen (vgl. unten Kap. 4.2.3.). 192 Das ist meine Beobachtung bei einigen türkischstämmigen Jungakademikern in Mannheim, die nicht im „Ghetto“ aufgewachsen sind. Diese Beobachtung bestätigen auch LehrerInnen, die Erfahrungen in Vorortschulen ebenso wie in „Ghetto“-Schulen haben. Die „türkischen Powergirls“ 242 2.2 Umgang miteinander Im Folgenden stelle ich die Umgangsformen dar, die die „Powergirls“ zu Beginn meiner Feldarbeit untereinander praktizierten. 193 Zu diesem Zeitpunkt waren die jüngeren 14-16 Jahre alt, die älteren zwischen 17 und 18 Jahren. Die älteren bewegten sich bereits seit einiger Zeit in sozialen Kontexten außerhalb des Stadtgebiets; zwei Gymnasiastinnen besuchten die 13. Klasse, andere die gymnasiale Mittelbzw. Oberstufe. Die übrigen Mädchen besuchten Schulen (Haupt- und Realschule) mit einem hohen Migrantenanteil und waren noch eng in das Leben im „Ghetto“ eingebunden. Für die Analyse des Umgangs der „Powergirls“ miteinander ebenso wie gegenüber Außenstehenden knüpfe ich an Goffmans Konzept des Territoriums (1974b) und an sein Face-Konzept an, 194 das von Brown/ Levinson (1987) weiter entwickelt und zu „positivem“ und „negativem Face“ ausdifferenziert wurde. Unter „positivem Face“ werden die Praktiken und Techniken gefasst, die dem Wunsch des Individuums nach Anerkennung, nach Selbstbestätigung und Unterstützung entgegenkommen, seinem „perennial desire that his wants (or actions/ acquisitions/ values resulting from them) should be thought of as desirable“ (vgl. ebd., S. 101). Das sind Aktivitäten wie Lob, Anerkennung und Komplimente. Das negative Face entspricht dem Bedürfnis, den eigenen Handlungsspielraum so wenig wie möglich einschränken zu lassen, d.h. „the basic claims to territories, personal preserves, rights to non-distraction - i.e. freedom of action and freedom from imposition“ (ebd., S. 61). Dafür ist das Konzept des Territoriums konstitutiv (vgl. Goffman 1974b, S. 54ff.): Territoriale Ansprüche betreffen das Recht des Individuums auf Unverletzbarkeit seiner Person und des von ihm besetzten bzw. ihm zugestandenen Raums und das Recht auf Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit. Dazu gehört auch das Recht auf Kontrolle über die Thematisierung persönlicher Fakten und über Art und Ausmaß der Themendurchführung. Über territoriale Festlegungen erfolgt die wechselseitige Positionierung der Interaktanten, z.B. größere Rechte für Führungsrollen oder Sonderrechte für bestimmte Gruppenrollen. 193 Die ethnische Clique hatte sich kurze Zeit vorher aufgelöst und die Mädchen waren noch relativ „neu“ im Jungendzentrum. 194 Nach Goffman ist „Face“ ein in „Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild“ (Goffman 1971, S. 10), das in der Interaktion immer wieder hergestellt und aufrechterhalten wird. Der kommunikative Stil 243 Die inhaltliche Bestimmung des „positiven“ und „negativen“ Face, also die Bestimmung der Bereiche, die Gegenstand von Lob und Anerkennung sein können ebenso wie territoriale Festlegungen dazu, was für wen in Relation zu welchen Interaktionspartnern als Privatbereich gilt, sind an sozial-kulturell bestimmte Normen und Konventionen gebunden. Aufgrund der bisherigen Forschung zu Höflichkeit 195 und zu kommunikativen sozialen Stilen 196 kann man davon ausgehen, dass für die Herausbildung von Kommunikationsstilen Aspekte des positiven und negativen Face relevant sind. Bei Lob und Komplimenten geht es darum, welche Bereiche gelobt und anerkannt werden und wie auf Lob und Anerkennung reagiert wird. Bei den „Powergirls“ werden Lob und Komplimente direkt, offen und mit dem Ausdruck ehrlicher Anerkennung gegeben, und sie werden mit Wohlgefallen, oft auch mit einer Dankesformel angenommen. In der Gruppe werden neue Kleidungsstücke, eine neue Schminke oder ein neues Piercing ausführlich begutachtet und es wird offen gesagt, ob der neue Schmuck der Trägerin steht oder nicht. Es gibt detaillierte Ratschläge, wie man sich „schöner“ kleiden kann oder welche Frisur, welche Schminke vorteilhafter ist. Bei solchen Besprechungen werden positive und negative Aspekte explizit und mit großem Engagement thematisiert. Dieser offene, direkte, ggfs. auch schonungslose Umgang miteinander kontrastiert zu dem von den Mädchen mit Abscheu beurteilten anschleimen (im Sinne von „sich bei jemandem lieb Kind machen“), das sie hinter gefälligem Verhalten vermuten. So verurteilen sie z.B. Mitschüler, die sich Lehrenden gegenüber besonders höflich und zuvorkommend verhalten, weil sie dahinter strategisches Handeln zum eigenen Vorteil vermuten. Um ja nicht der Verhaltenkategorie „sich anschleimen“ zugeordnet zu werden, bevorzugen die „Powergirls“ ein unverblümtes Sprechen nach dem Prinzip „offen sagen, was man vom anderen hält“. Aufgrund dieses Prinzips ist die Thematisierung von negativen Aspekten des Aussehens oder Verhaltens akzeptiert, Ratschläge und Verbesserungsvorschläge werden aufgenommen, denn die Rezipientin kann darauf vertrauen, dass sie ernst gemeint sind. Wenn die Mädchen z.B. gemeinsam in die Disco 195 Vgl. u.a. Fraser (1990), Blum-Kulka (1990), Kienpointner (1999). 196 Vgl. die Ergebnisse des Projekts „Kommunikation in der Stadt“, die in den Bänden 4.1- 4.4 „Kommunikation in der Stadt“ in der Reihe ‘Schriften des Instituts für Deutsche Sprache’, Mannheim (1994 und 1995) veröffentlicht sind, vor allem die Bände 4.3 und 4.4, Kap. 3. Die „türkischen Powergirls“ 244 ausgehen, helfen sie sich mit Kleidungsstücken oder Schminke aus. Dabei versuchen sie nicht sich gegenseitig zu übertreffen, sondern achten darauf, dass alle gut und attraktiv aussehen. Aufforderungen, Anweisungen und Kritik, Aspekte des negativen Faces, sind immer mit Eingriffen in Territorien verbunden und geben Hinweise darauf, wie Territorien festgelegt sind und ob sie respektiert oder missachtet werden. Der interaktive Aufwand im Umgang mit territorialen Grenzen gibt Aufschluss über die Qualität von Sozialbeziehungen, 197 und über die dabei verwendeten sprachlichen Mittel und Verfahren können wesentliche Aspekte des kommunikativen Stils erfasst werden. 2.2.1 Aufforderungen, Bitten, Anweisungen Für den alltäglichen Umgang miteinander entwickeln Gruppen Routinepraktiken, die oft formelhaften Charakter haben. Bei den „Powergirls“ bestehen solche Routinen aus zwei Zügen: a) der Anliegensäußerung (Bitte, Aufforderung) mit expliziter Referenz auf das Gewünschte, knapper, oft imperativischer Formulierung ohne Verwendung konventioneller Höflichkeitsformeln, aber in freundlichem Ton; und b) der Erfüllung oder der Ablehnung des Wunsches. Das Gewünschte wird entweder - begleitet durch einen verbalen Hinweis - ausgeführt, z.B.: 01 TE: Esra bring mir die zahnpasta 02 ES: die da ↑ * da oder abgelehnt. Wenn die Ablehnung für die Sprecherin unproblematisch ist, hat sie Charakteristika einer präferierten Version: 198 Sie erfolgt mit schnellem Anschluss, ohne Verzögerung, Abschwächung oder Entschuldigung, ist jedoch meist mit einer Begründung oder einer Inaussichtstellung des Gewünschten verbunden, wie im folgenden Beispiel: 01 DI: Hülya jetz komm endlich her- 02 HL: +<nei“n warte * ich mach 03 HL: des noch fertig * glei“ch > 197 Mit meiner Analyse bewege ich mich eher im Rahmen eines ethnomethodologisch-gesprächsanalytischen Ansatzes, wie ihn Arundale (1999) skizziert, als im Rahmen von Ansätzen, die sprechakttheorisch orientiert sind. Für einen Vergleich beider Ansätze vgl. Arundale, Kap. 3. 198 Zu präferierten und dispräferierten Äußerungsformen vgl.u.a. Pomerantz (1975). Der kommunikative Stil 245 Wird eine Aufforderung abgelehnt, und die Auffordernde akzeptiert die Ablehnung nicht, kann sie durch eine drängende zweite Aufforderung nachsetzen, wie z.B. jetz mach doch endlich oder mensch ich wart jetz nich mehr, und hat damit meistens Erfolg. Es gibt auch Aufforderungen oder Wunschäußerungen mit einer Präsequenz, in der geklärt wird, ob die Adressatin überhaupt die Möglichkeit hat, den Wunsch zu erfüllen. 199 Solchen Verfahren liegt die Gesprächsregel „Präferenz von Zusagen vor Absagen“ zugrunde; 200 d.h., um eine Absage zu vermeiden, werden in Präsequenzen die Voraussetzungen für die Erfüllung eines Wunsches getestet, bevor der Wunsch geäußert wird. Bei den „Powergirls” können solche Formen folgendermaßen aussehen: 01 HL: hast du platz ↑ ich tu meine 02 FA: ja * bisschen 03 HL: tasche bei dir rein tun okey ↑ 04 FA: ja okey ↓ Der Wunsch, der dritte Zug ich tu meine tasche bei dir rein tun okey↑ (Z. 01, 03), wird als Handlungsbeschreibung der Sprecherin formuliert, die nur durch die tag-question okey↑ abgemildert ist. D.h., die Sprecherin unterstellt, dass die Adressatin dem Wunsch entspricht, nachdem die Voraussetzung dafür (hier: das Vorhandensein von Platz) geklärt ist (Z. 02). Die angeführten Verfahren sind unabgeschwächt, und die Sprecherin kommt direkt und ohne Umschweife auf den Punkt. Die Verwendung solcher Verfahren bei der Beanspruchung anderer verweist auf soziale Nähe; die Initiierende rechnet mit dem selbstverständlichen Entgegenkommen der anderen und hält präventive Schutzmaßnahmen nicht für notwendig. Da solche Verfahren in der Gruppe die Regel sind, deutet das darauf hin, dass es keine Hierarchien gibt und dass territoriale Ansprüche gleich verteilt sind. Die Adressierte kann davon ausgehen, dass in einem vergleichbaren Fall ihrem Wunsch ebenso problemlos entsprochen wird, wenn die Voraussetzungen stimmen. Absagen werden akzeptiert, wenn die Voraussetzungen zur Wunscherfüllung nicht gegeben oder wenn ältere Ansprüche Dritter zu berücksichtigen sind. Der Umgang 199 Verfahren dieser Art sind in der gesprächsanalytischen Forschung ausführlich beschrieben. Sie bestehen aus vier Zügen: 1) Testen der Voraussetzung für die Wunscherfüllung, 2) Bestätigung der Voraussetzung, 3) Wunschäußerung und 4) Erfüllung; vgl. Levinson (1994), der die Präsequenzen, die Aufforderungen, Bitten, Einladungen u.Ä. vorausgehen, als „Vorbitte“ (ebd., S. 354ff.) und als „Voreinladung“ (ebd., S. 344) bezeichnet. 200 Vgl. zu Präferenzregeln vor allem Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1977), Atkinson/ Drew (1979), Pomerantz (1975), Levinson (1994, Kap. 6.3). Die „türkischen Powergirls“ 246 der Mädchen miteinander ist direkt, offen und familiär; sie unterstellen die Reziprozität territorialer Ansprüche und gehen von der wechselseitigen Berücksichtigung ihrer Ansprüche aus. 2.2.2 Formen der Kritik 2.2.2.1 Ordnungsrufe Störungen der Interaktion und momentane Rücksichtslosigkeit werden ebenfalls mit Routineverfahren bearbeitet, mit Ordnungsrufen. Sie sind in der Regel direkt an die Kritisierte adressiert, imperativisch und ohne Abschwächungen formuliert. Es können vertraut-familiäre Routineformeln sein wie Ruhe jetzt, hör mal auf oder halt die Klappe, wie im folgenden Beispiel: 23 DI: also diese wi“tzige selbstdarstellung ↑ * → hör mal 24 DI: auf da ← * ähm <diese se“lbstdarstellung> Didem wird gestört und weist die Störende durch → hör mal auf da ← zurecht. Da sie nach kurzer Pause die vorherige Äußerung wieder aufnimmt, kann man davon ausgehen, dass die Kritisierte ihr Verhalten stillschweigend geändert hat. D.h., der Ordnungsruf wird ohne verbale Reaktion befolgt, wenn die Gerügte ihn als angemessene Ermahnung auf eine von ihr verursachte Interaktionsstörung akzeptiert. Ordnungsrufe können gekontert werden, wenn die Adressatin die Rüge als nicht gerechtfertigt betrachtet. Auch diese Reaktionen sind direkt, oft auch unverblümt offen: 01 DI: <ey> jetz |mal ru“he | 02 HY: |<la“ss misch| jetz ausreden 03 HY: was so“ll des ↑ > 04 HI: <jawo“ll ↑ > * was so“ll=n des ↓ 05 DI: >was so“ll=n des ↓ < 06 K: GEHÄSSIG 07 HY: ** da is eine frau ERZÄHLT WEITER Als Hülya ein Erlebnis erzählt, das von den anderen mit Interesse verfolgt wird, wird sie von Didem ohne Entschuldigung oder Erklärung unterbrochen (<ey> jetz mal ru“he). Die Unterbrochene protestiert, besteht auf ihrem Rederecht (<la“ss misch jetz ausreden was so“ll des ↑ >, Z. 02f.) und wird von Hikmet unterstützt: <jawo“ll ↑ > * was so“ll=n des ↓ (Z. 04). Beide Sprecherinnen sehen Didems Intervention als Störung an und weisen sie gereizt zurück. Daraufhin zieht sich Didem zurück, äfft - leise sprechend - die beiden nach (>was so“ll=n des ↓ <, Z. 05) und überlässt der Erzählerin den Rederaum. Der kommunikative Stil 247 Ein Ordnungsruf wird auch gekontert, wenn der Rügenden die Berechtigung abgesprochen wird, andere zur Ordnung zu rufen: 405 K&: DURCHEINANDER 406 FA: kamera ↓ (... ... ... |...)| 407 TE: |<ey |könnt ihr mal 408 TU: kannst du“ mal die klappe 409 TE: die klappe halten ↑ > 410 FU: +klappe die zweite ↓ 411 TU: halten ↑ Der Ausschnitt stammt aus der Diskussion zu einem Videofilm, den die Gruppe plant. Zu Beginn des Ausschnitts macht Fatma (FA) einen Filmvorschlag, der aber in dem allgemeinen Durcheinander untergeht. Teslime (TE) kommt ihr zu Hilfe und versucht mit dem Ordnungsruf ey könnt ihr mal die klappe halten für Ruhe zu sorgen. Obwohl die Intervention in der aktuellen Situation gerechtfertigt ist, da der Film im Vordergrund der Gruppeninteraktion steht, kontert Turna (TU) den Ordnungsruf: kannst du“ mal die klappe halten ↑ (Z. 408, 411); d.h., sie akzeptiert nicht, dass Teslime zur Ruhe auffordert. Diese Reaktion ist nur auf dem Hintergrund der Gruppeninteraktionsgeschichte zu verstehen: Teslime gehört zu den Mitgliedern, die häufig stören, und die auch in der aktuellen Diskussion bereits mehrfach gestört hat. Dass ausgerechnet sie jetzt für Fatma Partei ergreift und andere zur Ordnung ruft, akzeptiert Turna nicht; d.h., sie weist die Verhaltenskritik zurück, weil sie von Teslime kommt. Der schnell einsetzende Kommentar Fulyas (FU) +klappe die zweite ↓ (Z. 410) entschärft die sich abzeichnende Spannung zwischen Turna und Teslime: Er basiert auf einem Wortspiel mit den beiden Bedeutungen von „Klappe“: a) derbe Bezeichnung für „Mund“ und b) die Bezeichnung für die Praxis bei Filmaufnahmen, wenn eine Szene mehrfach gedreht und die einzelnen Versionen als „Klappe die erste“, „Klappe die zweite“ usw. durchgezählt werden. Der Kommentar ist eine in der aktuellen Situation (Diskussion über den Videofilm) gelungene neue Rahmung des gereizten Abtauschs zwischen Teslime und Turna als filmische Szene, und es gelingt Fulya, die gespannte Interaktion zwischen den beiden zu beenden. 2.2.2.2 Derbe Formeln Übergriffe auf den Privatbereich anderer, z.B. die Verletzung von Distanzregeln durch aufdringliche Neugier, werden mit hoher Expressivität („giftiger“ Ton) und durch Verwendung drastischer Formeln zurückgewiesen, z.B. Die „türkischen Powergirls“ 248 durch halt=s Maul Langer, verpiss dich oder siktir lan (‘leck mich Mann’, ‘verfick dich Mann’). Die Drastik evoziert bei der Rezipientin keine beleidigte Reaktion oder den Rückzug aus der Interaktion, d.h., Drastik gehört zum normalen Umgangston in der Gruppe. Eine scharfe Zurechtweisung kann durch eine noch schärfere gekontert werden, wenn sie, wie im folgenden Beispiel, für nicht berechtigt erachtet wird: 01 HA: > → hosch gekifft ↑← < 02 TU: +halts: =mau=langer 03 HA: siktir lan 04 Ü: leck mich Mann 05 K SCHARF Da der Konsum von Haschisch in der Jugendeinrichtung streng verboten ist, ist Hatices (HA) Frage > → hosch gekifft ↑← < (‘hast du Hasch geraucht’), an die neben ihr sitzende Turna (TU) adressiert, heikel, auch wenn sie leise und schnell gesprochen ist. Die Adressierte weist die Frage sofort zurück: +halts: =mau=langer (Z. 02), d.h., sie behandelt sie als Übergriff. Sie hält entweder die Sprecherin für nicht berechtigt, eine solche Frage zu sellen, oder die Situation für zu riskant. Hatice akzeptiert die Zurechtweisung jedoch nicht, d.h., sie interpretiert die Situation anders und kontert mit einer noch schärferen Zurückweisung - scharfer, zischender Ton und drastische Formel - siktir lan (‘leck mich Mann’, Z. 03). 201 In einer Art „Topping“ 202 verstärkt sie auf der Inhalts- und der Ausdrucksebene, durch die drastische Formel und den Sprachwechsel ins Türkische, die Opposition zu Turna und signalisiert erhöhte Angriffsbereitschaft. 203 Da TU nicht reagiert - sie ignoriert oder akzeptiert das Topping -, wird der Fall nicht weiter verfolgt. Beide Parteien demonstrieren gespannte Angriffs- und Verteidigungsbereitschaft und beenden gleichzeitig die kritische Situation. Derb-drastische Formeln können zum Ausdruck offener Aggression ebenso wie zur spielerischen Kritik eingesetzt werden. Doch es gibt situative Grenzen für diese stilistischen Mittel: Die Mädchen versuchen sie in Anwesenheit 201 Die anwesenden Mädchen wissen, dass TU „kifft“; d.h., mit der Frage wird, falls sie von anderen überhört wird, nichts „Geheimes“ verraten. Deswegen scheint HA die Grenzverletzung auch für unerheblich zu halten und sie weist TU s Kritik zurück. 202 Formen des Topping sind charakteristisch für rituelle Drohungen und Beleidigungen, wie sie in männlichen Jugendgruppen, aber auch für bestimmte Frauengruppen beschrieben wurden; vgl.u.a. Labov (1972), Dundees et al. (1972), Schwitalla (1994), Keim (1995a, Kap. 5.); vgl. auch das „dissing“ im Rap und Hip-Hop. 203 Zu Sprachwechsel bei Widerspruch vgl. dazu unten Kap. 3.4. Der kommunikative Stil 249 von Betreuerinnen, die sie schätzen und von denen sie geschätzt werden wollen, zu vermeiden; das zeigt das folgende Beispiel. Vor dem Gesprächsausschnitt wird Teslime (TE), die ein tief ausgeschnittenes, eng anliegendes T-Shirt trägt, von Hülya (HÜ) darauf hingewiesen, dass ihr Hemd verrutscht ist. Teslime beginnt ihre Kleidung zu ordnen, und in diesem Augenblick kommt die von den Mädchen geschätzte Pädagogin Leyla (LE) dazu: 03 HÜ: kann man |doch sehen ↓ < | 04 TE: |(...) me“melerim| görünmesin ↓ ** 05 Ü: damit man meinen Busen nicht sieht 06 LE: was hast=e 07 TE: +die sagt meine busen kann man 08 LE: denn vo“r ↑ sag mal ↓ 09 HÜ: +>jetzt kann man=s 10 TE: se“hen ↓ isch schä“m misch dann ↓ 11 HÜ: wieder sehn ↓ auf der: - < * 12 TE: <görü“nmüyo oro“spu felek ↓ > 13 Ü: man kann nichts sehen du hurenhaftes Schicksal 14 HÜ: <li“nke seite la“n ↓ ökü“z ↓ > 15 Ü: O c h s e 16 TE: +<va“lla görünmüyo ↓ > 17 Ü: isch schwör es ist nichts zu sehen 18 HÜ: ta“bii görünüyo ↓ >ku“ck |(doch)< | 19 K: natürlich kann man was sehen 21 TE: |<a“mcık | beyin ↓ >*1,5* o 22 Ü: du Fotzenhirn ist 23 K: GEREIZT 24 HÜ: |>(... ...) ↓ < | 25 TE: bru“stwarze mi ↓ s: a“kat ↓ |>(...) burda ↓ <| 26 Ü: das etwa die Brustwarze du Behinderte hier 27 LE: +> → was is 28 TE: >rezil olduk ↓ < * si“ktir 29 Ü: wir haben uns total blamiert leck mich 30 LE: mit der ← < ** 31 HÜ: |görünüyo lan ↓ | 32 Ü: man kann sie sehen lan 33 TE: |orospu çocu ğ u ↓ | <hau ab ↓ > ** <görü“nmüyo ↓ > ** 34 Ü: du Hurenkind man kann sie nicht sehen 35 HÜ: <he“y wann gehen wir ↑ > * 36 K: ZU LE Die „türkischen Powergirls“ 250 Als Teslime unter ihr Hemd fasst, sieht das die Pädagogin und fragt amüsiert nach: was hast=e denn vor ↑ sag mal ↓ (Z. 06, 09). Daraufhin erklärt Teslime, dass sie auf Hülyas Hinweis ihr Hemd zurecht rückt: die sagt meine busen kann man se“hen ↓ isch schä“m misch dann ↓ (Z. 08, 11). Als Hülya mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist (+jetzt kann man=s wieder sehen ↓ auf der: -, Z. 10, 12), widerspricht Teslime in spielerisch-dramatisierender Weise: <gör“ün“müyo oro“spu felek ↓ > (‘man kann nichts sehen du hurenhaftes Schicksal’, Z. 13). 204 Die Formel oro“spu felek (‘du hurenhaftes Schicksal’) kontextualisiert eine Szene, wie sie in türkischen Soaps zu sehen ist, in der eine schicksalhafte Situation beklagt wird, die nur Unheil und Verderben bringt. Auf die Banalität der aktuellen Situation angewandt, hat die Formel komische Qualität und signalisiert eine spielerische Modalität. Als Hülya immer noch nicht zufrieden ist <li“nke seite la“n ↓ ökü“z (Z. 15) und ihre lautere Stimme, die starken Akzentuierungen, die Anrede lan (‘Mann’) und die Beschimpfung ökü“z (‘Ochse’), beginnende Ungeduld signalisieren, reagiert Teslime gereizt: <va“lla görünmüyo ↓ > (‘isch schwör, es ist nichts zu sehen’, Z. 17). Doch als Hülya insistiert (ta“bii görünüyo ↓ >ku“ck doch<, ‘natürlich kann man sehen’, Z. 19), reagiert Teslime mit einem ärgerlichen Ausbruch a“mcık beyin ↓ *1,5* o bru“stwarze mi ↓ s: a“kat (‘du Fotzenhirn, ist das etwa die Brustwarze, du Behinderte’, Z. 21, 25). Auf den Ausbruch von Grobheit reagiert Leyla verwundert +> → was is mit der ← < (Z. 27, 30). Daraufhin steigt Teslime aus der Interaktion mit Hülya aus und zeigt mit dem selbst-reflexiven Kommentar >rezil olduk ↓ < (‘wir haben uns total blamiert’, Z. 28), dass es ihr peinlich ist, dass Leyla die derb-drastischen Beschimpfungen miterlebt hat. Mit einer letzten Beschimpfung si“ktir orospu çocuğu ↓ (‘leck mich, du Hurenkind’) 205 * <hau ab ↓ > (Z. 28, 33), beendet sie die Interaktion mit Hülya und wendet sich ab. Bei diesem alltäglichen Ereignis werden eine Reihe von derb-drastischen Formeln eingesetzt, und der metakommunikative Kommentar rezil olduk (‘wir haben uns total blamiert’) weist auf ihre Verwendungsregeln hin: Sie sind spezifisch für den Umgang untereinander. Wie tief sie im Stil der „Powergirls“ verwurzelt sind, wird dadurch deutlich, dass Teslime direkt nachdem sie die Derbheit der Mädchen beklagt hat, wieder eine derbe Formel 204 Bei der Feststellung in Deutsch ( HL ) und der Zurückweisung in Türkisch ( TE ) folgen die beiden Sprecherinnen dem Sprachwechselmuster bei Widerspruch, vgl. dazu ausführlich unten Kap. 3.3.4; ganz ähnlich auch die folgende Sequenz. 205 Es gibt sehr viele drastische Wortverbindungen mit oruspu (‘Hure’). Der kommunikative Stil 251 gebraucht. In Gegenwart von Außenstehenden, von denen die Mädchen geschätzt werden wollen, versuchen sie sie zu vermeiden. Sie wissen sehr genau, dass sie aus der Außenperspektive wegen ihrer gruppenspezifischen Redeweisen als „grob“ und „ordinär“ beurteilt werden. Und dieses Bild wollen sie Erwachsenen, die sie schätzen, nicht vermitteln; 206 wenn es doch passiert, empfinden sie Scham. D.h., charakteristische Eigenschaften des „Powergirl-Stils“ haben nur in Bezug auf die Ingroup Identifikationskraft; dieselben Eigenschaften werden in Interaktionen mit positiv bewerteten relevanten Anderen versteckt, da die Mädchen wissen, dass sie ihnen gegenüber andere Sprech- und Verhaltensweisen einsetzen müssen; d.h., sie kennen stilistische Unterschiede und ihre sozialen Bedeutungen. 2.2.2.3 Harte Kritik Wenn ein Gruppenmitglied durch wiederholtes Fehlverhalten den Ärger der anderen auf sich zieht und nach mehrfachen Rügen keine Verhaltensänderung zeigt, werden Strafmaßnahmen eingesetzt, wie z.B. der Angriff auf einen heiklen Punkt im Privatbereich der „Missetäterin“. Mit solchen Verfahren reagieren die „Powergirls“ auf Verstöße, die in das Sozialgefüge der Gruppe eingreifen, z.B. auf Verstöße gegen die Gleichwertigkeit aller Gruppenmitglieder. Im folgenden Beispiel geht es um eine Verhaltensauffälligkeit von Teslime (TE), die durch Extravaganz eine Sonderrolle in der Gruppe durchzusetzen und durch rücksichtsloses Verhalten ihren territorialen Bereich auszuweiten versucht. Das erzeugt Ärger bei den anderen, und sie „bestrafen“ Teslime für ihre Rücksichtslosigkeit. Zur Situation: Die Gruppe plant im Rahmen einer Wochenendfreizeit einen Ausflug. Zur verabredeten Zeit sind alle versammelt, der Bus steht bereit, und der Fahrer drängt zur Abfahrt. Nur Teslime fehlt. Sie wird gerufen, meldet sich aber nicht. Der Transkriptausschnitt beginnt, als die Zimmernachbarin (BE) gefragt wird, ob sie etwas von Teslime weiß: 206 Die Einschätzung der Powergirls, dass ihre Ausdrucksweisen aus der Außenperspektive negativ beurteilt werden, wurde bestätigt, als ich das Gesprächsmaterial türkischsprachigen InformantInnen vorstellte. Aus deren Perspektive sind solche Formeln ungewöhnlich und völlig unpassend für Mädchen und werden als sehr ordinär beurteilt. Die „türkischen Powergirls“ 252 04 HI: Teslime nerde khız ↑ 05 Ü: Mädel, wo ist Teslime 06 BE: >soyunce“kmi ş ↓ < 07 Ü: sie wollte sich umziehen 08 HY: |<o: h ↓ jetzt mach doch ↓ >| 09 HA: |<herkes o“nu bekliyo ↓ >| 10 Ü: alle warten nur auf sie 11 TU: +<Teslime: wir warten auf di: sch ↑ > * 12 K: SCHREIEND 13 HY: yoksa 14 Ü: oder begeht 15 K&: LACHEN 16 HY: intihar mı ediyo ↑ ** 17 Ü: sie etwa Selbstmord 18 TU: e“ndlich ↓ do kummt die ↓ ** 19 HA: nie“mand mehr ↓ 20 TU: |ja wie: ↑ | 21 SI: >die kommt ↓ < ** 22 NA: |wer fehlt| noch ↑ * 23 TU: allee hopp allee ↓ ** ← mo“delimiz ge“ldi ↓→ *2,0* 24 Ü: unser Model ist gekommen 25 TE: he“ ↑ *2,0* 26 DI: he“: ↓ 27 K: ÄFFT NACH 28 TU: + → hosch hasch geraa: chd ↑← * 29 TE: halt=s mau“l langer ↓ <sana ne ↑ > 30 Ü: was geht dich das an 31 TU: +dei aa“g sin zu ↓ 32 TU: → re“zile bak lan ↓ * > ş a“ka yapıyom ↓← < 32 Ü: du Schamlose, Mann is doch nur Spaß 34 TE: istersem içerim 35 Ü: ob ich rauche oder 36 TE: istersem |içmem ↓ | 37 Ü: nicht ist meine Sache 38 TU: | ← ha“lts| maul langer ↓→ 39 NA: leu“t ↑ isch verda“mm 40 NA: euch gleich zum hier bleiben ↓ isch glaub anders kommt 41 NA: ihr nich runter ↓ 42 HA: <ja: ↓ > 43 TU: nei“n ↓ Auf die Frage antwortet die Zimmernachbarin, dass Teslime sich vor dem Ausflug noch umziehen wollte. Hatice (HA) und Hülya (HY) kommentieren die Information mit Unmutsäußerungen (<herkes o“nu bekliyo ↓ >, ‘alle warten nur auf sie’, Z. 09 und <o: h ↓ jetz mach doch ↓ >, Z. 08), und Turna Der kommunikative Stil 253 (TU) ruft noch einmal sehr laut nach Teslime (<Teslime: wir warten auf di: sch ↑ >, Z. 11). Als wieder keine Antwort erfolgt, spielt Hülya mit der Vermutung yoksa intihar mı ediyo ↑ (‘oder begeht sie etwa Selbstmord, Z. 13, 16) auf Teslimes Extravaganz und auf ihre Vorliebe für dramatische Auftritte an. Der Kommentar nimmt ein Motiv aus türkischen Soap-Operas auf, in denen die Heldin bei (Liebes-)Problemen zu dramatischen Mitteln greift, ihre Verzweiflungstat aber so inszeniert, dass ihr nicht wirklich etwas zustößt und sie beim Selbstmordversuch noch vor Eintreten des Todes gefunden wird. Auf diese übertrieben dramatisierende Vermutung über mögliche Hintergründe für Teslimes Fehlen reagieren die anderen mit Lachen. Dann erscheint Teslime, neu gekleidet, aufwändig geschminkt und frisiert. Ihr Erscheinen wird zuerst von Turna bemerkt (e“ndlich ↓ do kummt die ↓ , Z. 18), dann von Sibel (<die kommt<, Z. 21). Während die Betreuerin (NA) mit dem Aufbruch beschäftigt ist (wer fehlt noch, Z. 22), wendet sich Turna an Teslime, die sich für ihr Zuspätkommen nicht entschuldigt, und fordert mit der dialektalen Formel ja wie: ↑ (Z. 20) eine Erklärung, im Sinne von „ja was soll denn das“. Teslime reagiert nicht, und Turnas nächste Äußerung allee hopp allee ↓ (Z. 23), eine französische Formel, mit der man zur Eile auffordert, verdeutlicht, dass Teslime trotz Verspätung keine Eile zeigt. Als sie wieder nicht reagiert, spielt Turna in ironisch-kritischer Weise auf ihre Aufmachung an: ← mo“delimiz ge“ldi ↑→ (‘unser Model ist gekommen’, Z. 23) und macht sich über sie lustig. Darauf reagiert Teslime zunächst nicht (Z. 23), und die dann folgende Rückfrage he“ ↑ (Z. 25) signalisiert, dass sie die Äußerung nicht verstanden hat. Darauf verschärft Didem (DI) die Situation; sie klärt Teslime nicht auf, sondern äfft sie nach he“: ↓ (Z. 26) und verspottet sie. Jetzt wendet sich Turna mit der Frage + → hosch ha“sch geraa: chd ↑ (‘hast du Hasch geraucht’, Z. 28) direkt an Teslime. Sie wechselt das Thema und äußert eine Vermutung über die Hintergründe von Teslimes Abwesenheit, die äußerst brisant ist: 207 Turna drängt Teslime in Anwesenheit der Betreuerin dazu, auf die Thematisierung ihres Haschrauchens zu reagieren. Die veränderte Sprechweise, die dialektale Ausdrucksweise und die unerwartete Thematisierung eines heiklen Punktes haben überfallartigen Charakter. 207 Die Frage ist heikel, weil Teslime am Abend vorher tatsächlich Haschisch geraucht hat, und sie, wenn die Betreuerin davon erfährt, sofort abreisen müsste. Die „türkischen Powergirls“ 254 Darauf reagiert Teslime mit einer groben Zurechtweisung halt=s mau“l langer ↓ (Z. 29). Doch Turna setzt nach und liefert eine Plausibilisierung für ihre Vermutung, indem sie auf Teslimes geschwollene Augen als Indiz für „Kiffen“ hinweist: dei aa“g sin zu: ↓ (‘deine Augen sind zu’, Z. 31); d.h., sie verstärkt den Verdacht. Auf diese Herausforderung verbittet sich Teslime jede Einmischung (<sana ne ↑ >‘was geht dich das an’, Z. 29), und Turna steckt zurück, indem sie den Angriff als nicht-ernst rahmt ( → re“zile bak lan ↓ * şa“ka yapıyom ↓ ← ’ ‘du Schamlose, Mann, is doch nur Spaß’, Z. 32). Doch Teslime reagiert nicht auf die Herabstufung, sondern verteidigt ihr Territorium: istersem içerim istersem içmem ↓ (‘ob ich rauche oder nicht ist meine Sache’, Z. 34, 36). Auf die Verteidigung des eigenen Territoriums, nachdem sie vorher selbst Grenzen überschritten hat, wird Turna wieder aggressiv: ← ha“lts maul langer ↓→ (Z. 38). Doch noch bevor sich die Aggression steigern kann, greift die Betreuerin ein, droht beiden Konsequenzen an (leu“t ich verda“mm euch gleich zum hier bleiben, Z. 39f.) und beendet die Auseinandersetzung. Die Kritik an Teslimes Verhalten, an ihrer Extravaganz und Rücksichtslosigkeit erfolgt hier nicht explizit und offen, sondern indirekt über die heikle Verdächtigung, dass sie „kifft“, obwohl es verboten ist. Dieses Verfahren wird jedoch erst eingesetzt, nachdem Teslime auf mehrfache Aufforderungen und ironische Anspielungen nicht reagiert und keine Erklärung oder Entschuldigung für ihre Verspätung geliefert hat; d.h., die Mädchen geben ihr mehrfach Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Erst nachdem sie diese nicht genutzt hat, steigern sie das Kritik- und Bestrafungsverfahren. Teslime kann die Thematisierung des heiklen Punktes abwenden, indem sie der Angreiferin generell das Recht abspricht, sich in ihren Privatbereich einzumischen. Der Angriff hat sie jedoch gewarnt, und sie weiß, womit sie rechnen muss, wenn sie sich weiterhin rücksichtslos verhält: mit einer noch härteren Bestrafung und ggf. einer offenen Entblößung. 2.2.3 Spielerische Aggression und rituelle Beschimpfungen Spielerisch modalisierte Formen verbaler Aggression sind beliebte Kommunikationsformen in Jugendgruppen. Konstitutiv für solche Spiele sind zwei „Spieler“, die sich in einer geregelten Sequenzstruktur wechselseitig angrei- Der kommunikative Stil 255 fen und zu übertrumpfen versuchen, 208 dafür manchmal vorgegebene Strukturmuster verwenden, 209 und ein Publikum, das die Formen verbaler Aggression als gelungen oder misslungen bewertet. Konstitutiv ist außerdem, dass die Zuschreibungen in den verbalen Angriffen auf die Person des Angegriffenen nicht wirklich zutreffen. 210 Auch die „Powergirls“ verwenden spielerische Formen verbaler Aggression. Bei der Form, die ich hier vorstellen möchte, handelt es sich um einen besonderen Typ Spiel, und zwar um den verbalen Abtausch bei Tisch- und Brettspielen, bei Tavla, 211 Tischfußball und Billard. Bei solchen Spielen sind meist auch Zuschauer dabei, doch sie sind kein konstitutiver Bestandteil des Spiels, während der verbale Wettkampf zwischen den Gegnern konstitutiv ist. 212 In vielen türkischen Männerlokalen im untersuchten Stadtgebiet werden solche Spiele täglich gespielt. Dabei wird der Gegner mit Herabsetzungstechniken und derben sexuellen Beschimpfungen gereizt und übertrumpft. Frauen der ersten Migrantengeneration spielen solche Wettkampfspiele nicht, und für traditionelle junge Türkinnen sind sie äußerst ungehörig. Bei den „Powergirls“ jedoch sind Tavla, Tischfußball und Billard zusammen mit verbalen Beschimpfungen sehr beliebt und fester Bestandteil des Freizeitvergnügens. Dabei werden auch drastische, sexuelle Formeln aus der Welt der Männer verwendet. 213 Für die Analyse spielerischer Aggression knüpfe ich an Goffmans Rahmenkonzept an, 214 in dem „primäre“ Rahmen, die nach praktischen Alltagsregeln konstituiert werden, von „sekundären“ Rahmen unterschieden werden, in 208 Z.B. bei „sounding“, vgl. Labov (1972), rituellen Beschimpfungen türkischer Jugendlicher, vgl. Dundees et al. (1972) und Tertilt (1996) und „dissen“, vgl. Deppermann (2007). 209 Das gilt nur für „sounding“, in dem die einzelnen „sounds“ eine kanonische Form haben und der zweite „sound“ sich auf den ersten beziehen muss. 210 Das gilt für „sounding“ und rituelle Beschimpfungen unter türkischen Jugendlichen. 211 Tavla ist ein türkisches Brettspiel, ähnlich dem Spiel Backgammon. 212 Ein türkischstämmiger Informant berichtete, dass er einmal mit einem deutschen Kollegen Tavla spielte, der den rituellen Abtausch nicht beherrschte. Für ihn war es sehr schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren, da Spielzüge und verbales Reizen für ihn untrennbar zusammen gehörten. 213 Dundees et al. (1972) haben drastische Formeln bei rituellen Beschimpfungen unter männlichen türkischen Jugendlichen beschrieben, und Tertilt (1996) beschreibt die Formeln, die von türkischen Jugendlichen in Frankfurt verwendet werden. Bei diesen rituellen Beschimpfungen handelt es sich jedoch nicht um spielbegleitende Rituale wie im vorliegenden Beispiel. 214 Vgl. Goffman (1981). Die „türkischen Powergirls“ 256 denen andere als die praktischen Alltagsregeln gelten. Die Annahmen, Erwartungen und Verpflichtungen, die mit Handlungen im „primären“ Alltagsrahmen verbunden sind, sind im sekundären Rahmen nur zum Teil gültig; sie werden modifiziert, suspendiert oder durch andere ersetzt. Rahmenänderungen werden durch Kontextualisierungsmittel und -verfahren angezeigt und Beginn und Ende eines Rahmens werden markiert. Markierungen können auf allen Ausdrucksebenen vorgenommen werden; bei mehrsprachigen Sprechern kann auch der Wechsel der Sprache zur Kontextualisierung eines Rahmenwechsels fungieren. Bei dem hier vorgestellten Spiel bildet das Billardspiel den „primären“ Rahmen; im „sekundären“ Rahmen erfolgen verbale Angriffe, mit denen die Kontrahentinnen versuchen sich zu reizen, zu beschimpfen und zu übertrumpfen. Die Züge im sekundären Rahmen sind dabei auf die im primären Rahmen bezogen. Welche Qualität die verbalen Züge haben, die die „Powergirls“ bei solchen Spielen verwenden, werde ich im Folgenden zeigen. Hatice (HA) spielt gegen Teslime (TE) und führt. Vor dem Transkriptausschnitt kommentiert Hatice ihre erfolgreichen Stöße mit Charakterisierungen wie das war gut oder ich hab dein ball getroffen u.Ä. Teslime reagiert darauf nicht, sondern verfolgt das Spiel wortlos. Ihre Schweigsamkeit veranlasst Hatice dazu sie herauszufordern: Sie stellt sich in aufreizender Stellung vor den Billardtisch, lacht siegessicher, spricht „verführerisch“ und initiiert ein „Sexy-Spiel“. Damit beginnt der Ausschnitt: 101 HA: seksi oyun yapalım ↓ *1,5* STÖßT, TRIFFT 102 Ü: spielen wir mal sexy 103 K: SÜßLICHE STIMME 104 TE: → >oruspu< ← 105 Ü: hure 106 HA: STÖßT, TRIFFT NICHT >a ğ zını * sikyim< 107 Ü: ich ficke deinen mund 108 K: SCHARF 109 TE: STÖßT, TRIFFT NICHT → allah belamı vermesi: n ↓← 110 Ü: allah soll mich nicht verfluchen 111 HA: LACHT niye ↑ * ha: * ben an/ anladım niye versin ↓ 112 Ü: warum, ah ich habe verstanden warum er dich verfluchen soll 113 TE: STÖßT, TRIFFT NICHT → >siktir< ← 114 Ü: verfick dich 115 HA: STÖßT, SINGT 116 HA: TRIFFT NICHT a ğ zına sikyim 117 Ü: ich ficke in deinen mund 118 TE: STÖßT, TRIFFT Der kommunikative Stil 257 119 HA: → des is do=normalerweise ein faul gell ↑ * dass du 120 K: ÄRGERLICH 121 HA: mein stein zuerschd triffschd ← Hatices Herausforderung wird explizit als Spiel gerahmt seksi oyun yapalım ↓ (‘spielen wir mal sexy’, Z. 101) und hat doppelten Erfolg. Sie trifft die Kugel und ihr gelingt es, Teslime aus der Reserve zu locken. Die reagiert auf den gelungenen Stoß mit der drastischen Beschimpfung oruspu (‘Hure’, Z. 104), leise und unterdrückt gesprochen. Das kann als Kommentar zu Hatices „Sexy-Verhalten“ oder als Kommentar zu ihrem guten Spielzug verstanden werden; d.h., oruspu kann als Kontextualisierungsmittel und als initialer Zug zu einem verbalen Wettkampf fungieren. Wie der weitere Interaktionsverlauf zeigt, erhält oruspu diese Funktion: Hatice reagiert nicht auf die Beschimpfung, sondern stößt die nächste Kugel. Als sie nicht trifft, kommentiert sie das leise und mit scharfer Stimme: >ağzını * sikyim< (‘ich ficke deinen Mund’, Z. 106). Mit dieser Formel, die unter türkischen Männern gebraucht wird und auf die „sexuelle Erniedrigung des Gegners“ zielt, 215 ratifiziert Hatice das rituelle Spiel und setzt es durch eine Art Topping fort. Teslime stößt die nächste Kugel. Als sie auch nicht trifft, bittet sie mit einer religiösen Formel, die nicht zum Repertoire formelhafter Beschimpfungen gehört, dass Gott sie wegen ihres schlechten Spiels nicht verfluchen möge (Z. 109). Hatice versteht sie zunächst nicht (niye ↑ ‘warum’, Z. 111), doch als sie zu verstehen beginnt, bestätigt sie Teslimes schlechtes Spiel durch die positive Version der religiösen Formel (ha: ben an/ anladım niye versin ↓ , ‘ah, ich habe verstanden, warum er dich verfluchen soll’, Z. 111). Als Teslime beim nächsten Stoß wieder nicht trifft, kommentiert sie das mit der Beschimpfungsformel siktir (‘verfick dich’, Z. 113), d.h., sie nimmt das verbale Duell (das durch die religiöse Formel unterbrochen wurde) wieder auf und treibt es weiter. Dann ist Hatice am Zug, tanzt, während die Kugel rollt, mit lasziven Bewegungen und singend vor Teslime herum - d.h., sie bleibt im sexy-Spiel - und kommentiert, als auch ihre Kugel nicht trifft, das mit einer noch drastischeren Formel: 216 ağzına sikyim (‘ich ficke in deinen Mund’, Z. 116). 215 Tertilt (1996) hat verbale Duelle beschrieben, die auf die sexuelle Erniedrigung des Gegners dadurch zielen, dass er in die weibliche Rolle gedrängt wird. 216 Nach Auskunft meiner türkischsprachigen Informanten ist die zweite Version ağzına sikiyim mit der Dativ-/ Direktivergänzung, markiert durch die Endung -a, etwas drastischer als die erste Version ağzını sikiyim mit ağzın im Akkusativ, markiert durch die Endung -ı. Die „türkischen Powergirls“ 258 Beim nächsten Zug trifft Teslime, und Hatice beschuldigt sie des Foul- Spiels: →des is do=normalerweise ein faul gell ↑ dass du mein stein zuerschd triffschd ← (Z. 119, 121). Damit initiiert sie eine Änderung der Interaktionsmodalität vom rituellen Abtausch zur ernsten Anschuldigung. Der Beginn der neuen Modalität wird auf mehreren Ausdrucksebenen signalisiert: durch ärgerliches, schnelleres und lauteres Sprechen, durch den Sprachwechsel ins Deutsche und durch den metakommunikativen Kommentar zum Spielzug der Gegnerin. 217 Hatice verlässt den rituellen türkischsprachigen Spielrahmen und spricht jetzt wie ein Mannheimer Kind, das einem anderen Foul-Spiel vorwirft. 218 Der verbale Abtausch folgt dem Verlauf des Billardspiels. Die Spielerinnen kommentieren jeden Stoß mit einer Schimpfbzw. Drohformel, die auf die schlechte Qualität des Stoßes zielt und gleichzeitig der Provokation der Gegnerin dient. Dadurch, dass die Mädchen solche Spiele auch in der Öffentlichkeit spielen und dabei rituelle Beschimpfungen praktizieren, die aus der Welt der Männer stammen, signalisieren sie sehr deutlich, dass sie keine traditionellen jungen Türkinnen sind und sich an einem maximal kontrastierenden Leitbild orientieren. Dazu bevorzugen sie Spiele und verbale Aktivitäten aus der Welt der Männer, deren Derbheit und Drastik weiblichen Verhaltensmodellen, die in der Öffentlichkeit präsentiert werden, diametral entgegenstehen. In diesem Stilbildungsprozess kommt das von Irvine (2001) angeführte Prinzip der „iconicity“ sehr deutlich zum Ausdruck (vgl. oben Kap. 1.): Durch die Wahl ungewöhnlicher und maximal kontrastierender Stilmittel wird - gleichsam als Abbild der inneren Einstellung - die oppositive Haltung überaus klar und bildhaft signalisiert. 2.2.4 Zusammenfassung: Charakteristika des Umgangs miteinander Der Umgang miteinander ist familiär und durch große Nähe und Vertrautheit charakterisiert. Gegenseitiges Lob ist direkt, offen und aufrichtig; Verstecken der eigenen Meinung hinter gefälligen Formulierungen wird als „an- 217 Die Äußerung hat Merkmale des Mannheimerischen wie Palatalisierung des / s/ in / st/ im Auslaut und die Lenisierung von Fortes in zuerschd triffschd, die tag-question gell. 218 Die Kontextualisierung als spielerisches Beschimpfungsritual erfolgt durch folgende Mittel und Verfahren: explizite Rahmung als „Sexy-Spiel“; leises, gespielt drohendes Sprechen, ohne expressive Akzentuierungen und Dehnungen; Singen, Lachen und Tanzen; Verwendung männlicher, türkischsprachiger Beschimpfungs- und Drohformeln mit Steigerung der Drastik; Markierung von Beginn und Ende des rituellen Spiels durch Sprachwechsel: zunächst Wechsel ins Türkische, dann ins Deutsche. Der kommunikative Stil 259 schleimen“ abgelehnt. Kritik bei momentanen Interaktionsstörungen ist offen, direkt und unverblümt. Für die „Powergirls“ sind die Gültigkeit des Gleichheitsgrundsatzes und die wechselseitige Respektierung territorialer Ansprüche wichtig, ebenso wie die erfolgreiche Verteidigung des eigenen Territoriums. Sie zeigen ständige Bereitschaft zu Angriff und Verteidigung, begleitet durch drastische Formeln und Ausdruck negativer Emotionen (Ärger, Zorn, Wut). Auf das Streben einzelner nach einem Sonderstatus reagieren sie durch Angriffe auf den Privatbereich der „Missetäterin“; auch dabei können negative Emotionen unabgeschwächt ausgedrückt werden (drohen, sich angiften und anschreien). Adressierungen, drastische Beschimpfungsformeln und sexuelle Beschimpfungs- und Drohrituale stammen aus dem Repertoire männlicher Gruppen. Auffallend ist, dass einige Gruppenmitglieder die Grenzen der anderen immer wieder austesten, auch auf die Gefahr hin, dass sie dabei massiv zurückgewiesen werden. Mitglieder wie z.B. Teslime schützen sich nicht durch Vorsichtsmaßnahmen, sondern sie bleiben bei dem kritisierten Verhalten und verschärfen provokativ den Konflikt. Ihre Handlungsweisen scheinen auf dem Prinzip zu basieren: ausreizen und testen, was man den anderen zumuten kann und in wieweit sie die Dreistigkeit tolerieren. Dadurch, dass die Mädchen in einem Umfeld leben, in dem sie immer wieder mit An- und Übergriffen rechnen müssen, verfolgen sie das Geschehen mit gespannter Aufmerksamkeit und setzen sich schlagkräftig zur Wehr. Formulierungen, die das negative Face berücksichtigen, Abschwächungen und Entschuldigungen, kommen in der Ingroup-Kommunikation kaum vor. 2.3 Umgang mit Außenstehenden 219 Im Mädchentreff lernen die „Powergirls“ „höflichere“ Umgangsformen. Im Umgang mit der Leiterin Naran sprechen sie in freundlichem Ton, auf Übergriffe folgen Angebote zur Wiedergutmachung und auch explizite Entschuldigungen. Werden Vorschläge oder Hinweise Narans abgelehnt, geschieht das meistens in einer weniger aggressiven Form, ohne derb-drastische Formeln. Auch im Umgang mit anderen Außenstehenden, deutschen und türkischen 219 Das von mir dokumentierte Material umfasst Situationen, in denen die Mädchen mit der Leiterin Naran, mit deutschen und türkischen Sozialpädagoginnen, mit Hausaufgabenhelferinnen, mit PassantInnen auf der Straße und mit mir interagieren. Situationen in der Schule konnte ich nicht aufnehmen. Die „türkischen Powergirls“ 260 Sozialpädagoginnen, Hausaufgabenhelferinnen, die ihnen vertraut sind und von denen sie Anerkennung und Unterstützung erfahren, verwenden die „Powergirls“ in der Regel „höflichere“ Formen als im Umgang untereinander (vgl. oben Kap. 2.2.2.2) Interessant sind Fälle der Zweifachadressierung, also Fälle, in denen sowohl Gruppenmitglieder als auch Außenstehende adressiert und dabei stilistische Differenzen entweder herab- oder hochgestuft werden. Werden stilistische Unterschiede relevant gesetzt und hoch gestuft, werden die Merkmale, die die Unterschiede besonders deutlich hervortreten lassen, gebündelt, zugespitzt, ggf. auch überhöht, um die Kontraste klar herauszustellen. In solchen Prozessen wird das von Irvine (2001) beschriebene Stilbildungsprinzip der „erasure“ deutlich, d.h., stilinterne Variation wird zugunsten eines klar umrissenen Bildes reduziert und in Kontrast zum Stil der anderen präsentiert. Bei Herabstufungen werden stilistische Unterschiede eingeebnet und die Differenz zwischen Gruppenmitglied und Außenstehenden minimiert. Hochstufungen ebenso wie Herabstufungen stilistischer Kontraste fungieren als Kontextualisierungsverfahren, mit denen zusätzliche Rahmen eröffnet und spezifische Bedeutungen hergestellt werden. 2.3.1 Herabstufung stilistischer Differenz Im folgenden Beispiel geht es um die Adressierung einer Außenstehenden, der Ethnografin (KL), und gleichzeitig um die Adressierung von Gruppenmitgliedern, mit denen die Sprecherin Teslime (TE) sich in einer Konkurrenzsituation sieht. Zur Situation: Bei einem Wochenendausflug ins Landschulheim hat die Ethnografin, die als einzige mit dem Auto fährt, angeboten, Gepäck der Mädchen mitzunehmen. Sie stellt zum verabredeten Zeitpunkt das Auto im Hof des Mädchentreffs ab und geht in das Büro der Leiterin. Als sie in den Hof zurückkommt, sind der Kofferraumdeckel und die Türen des Autos weit geöffnet und das gesamte Gepäck davor gestapelt. Teslime beginnt gerade mit dem Einpacken und Hülya (HL) steht mit zwei Taschen in der Hand neben ihr. Der Transkriptausschnitt beginnt, als die beiden KL sehen: 01 HL: hallo frau Klein 02 TE: <frau Klein i“sch mach des auto 03 TE: sch=ma“ch des ja“ 04 KL: du machst des alles ↑ ku=ma ob Der kommunikative Stil 261 05 KL: des noch zugeht ja 06 TE: +jaja des |geht | gi“b * isch mach 07 HL: |ja(...)| 08 TE: <du“> fass eh fass/ ← isch sa“k dir du“ okey ↑→ * du 09 TE: fa“ss=nix an isch ma“ch des so okey ↑ 10 KL: du machs=des also [Kurze Unterbrechung, SI, SE und AY kommen dazu] 21 SI: Teslime ↑ * Teslime der korb der |muss rein | 22 TE: |ja mome“nt| 23 TE: sch=mach schon a“lles * kein problem 24 KL: <machs=du> * 25 KL: s=muss nur noch zugehn gell ↑ 26 HL: ja: des geht |schon| 27 TE: |SI | 28 TE: krieg=sch deine decke sch=mach=s hier drauf weil 29 KL: >kommt des noch rein ↑ < 30 TE: des nimmt voll viel platz weg 31 TE: moment isch mach 32 AY: un die spiele wem=man die vorne 33 AY: hinlegt da kam=ma auch hier ta“schen- 34 KL: da kam=ma 35 KL: au=noch |taschen/ | 36 TE: |<frau Klein macht | des was aus wenn des hier 37 TE: net zu“geht ↑ > PACKT EIN 38 KL: eh probier=s ma Hülya begrüßt die Ethnografin mit hallo frau Klein, und Teslime macht das Angebot: <frau Klein i“sch mach des au“to sch=ma“ch des> (Z. 02f.). Dass beide kein Wort dazu sagen, dass sie KLs Auto ohne vorherige Absprache in Beschlag nehmen, zeigt, dass sie ihr Einverständnis voraussetzen. Teslime startet mit ihrer Äußerung gerade als Hülya Anstalten macht, die beiden Taschen in das Auto zu packen; d.h., sie reagiert nicht nur auf KLs Erscheinen, sondern auch auf Hülyas Absicht, die mit ihrer Absicht, alles alleine zu packen, konkurriert. Teslimes Äußerung ist zweifach adressiert: explizit an KL mit dem Angebot, das Auto zu packen, und implizit an Hülya, dass sie sich nicht einmischen soll (der Kontrastakzent auf i“sch in i“sch mach des etabliert den Kontrast zur Konkurrentin). Die Äußerung hat durch die einfache syntaktische Struktur, machen als Proform für packen und das stark rhythmisierte Sprechen Merkmale des „Ghettodeutsch“ (vgl. oben Kap. Die „türkischen Powergirls“ 262 2.1.2). Auf KLs erstaunte Nachfrage (du machst des alles ↑ , Z. 04) bekräftigt Teslime, dass sie alleine packt (ja“, Z. 03) und räumt KLs Bedenken aus (Z. 05), ob der Kofferraumdeckel zugeht (ku=ma ob des noch zugeht, Z. 04f.). Die folgende an KL adressierte Sequenz ist assertorisch formuliert, stark rhythmisch gesprochen und hat einfache Strukturen: Dem Imperativ g“ib folgt die Beschreibung eigener Handlung isch ma“ch, dann die Aufforderung du“ fass eh fass/ (Z. 08), die abgebrochen wird, und dann die Äußerung isch sa“k dir du“ okey ↑ (Z. 08), in der Teslime der Ethnografin das „Du“ anbietet, gefolgt von der Aufforderung du fa“ss=nix an und abschließend nochmals die Beschreibung eigner Handlung isch ma“ch des so (Z. 08f.). Das „Du“-Angebot wird nicht eingeleitet oder vorbereitet, sondern Teslime sagt KL, dass sie sie duzt, sie handelt es nicht aus. Nur die tagquestion (okey ↑ , Z. 09) ist eine Form des nachträglichen Einverständniseinholens. Die Sequenz hat den Charakter einer Instruktion: - die Sprecherin teilt Entscheidungen mit, die einen Eingriff in das Territorium der Adressatin bedeuten (Bestimmung über ihr Auto, Bestimmung der Anredeform); - die Entscheidungen sind assertorisch formuliert, es gibt keine abschwächenden oder rechtfertigenden Handlungen; - der territoriale Eingriff wird als selbstverständlich behandelt, die Zustimmung der Betroffenen stillschweigend vorausgesetzt und durch das Du-Angebot soziale Nähe zu ihr hergestellt. Teslime behandelt KL wie ein Gruppenmitglied, verwendet ethnolektale Merkmale (Ausfall der Präposition in isch sa“k dir du), und der Umgang mit Territorium relevanten Aspekten erinnert an die direkten und unkomplizierten Formen, die die „Powergirls“ untereinander verwenden (vgl. Kap. 2.2). Dass Teslime sie einer Außenstehenden gegenüber gebraucht, hängt mit der gleichzeitigen Adressierung von Hülya zusammen, der Teslime ebenso wie der Ethnografin Anweisungen erteilt. Dass ihrem Handeln Gruppeninteraktionsregeln zugrunde liegen, wird durch eine kontrastierende Handlung gegen Ende des Gesprächsausschnitts deutlich, in der sie nur die Ethnografin adressiert. Während sie versucht, auf dem Rücksitz des Autos noch Reisetaschen zu verstauen und das nur möglich ist, wenn die Abdeckplatte zum Kofferraum aus der Halterung genommen wird, wendet sie sich an KL mit der Frage <frau Klein macht des was aus wenn des hier net zu“geht ↑ (Z. 36f.). Dieses Mal weist sie nicht an, sondern sie fragt nach KLs Meinung und lässt ihr Raum, über Dinge Der kommunikative Stil 263 zu entscheiden, die sie betreffen. Und sie führt die Handlung erst aus (Z. 37), nachdem sie die Erlaubnis dazu erhalten hat (eh probier=s ma, Z. 38). D.h., Teslime verwendet, wenn sie nur KL adressiert, andere stilistische Elemente, als in der Interaktion vorher; sie ist „höflicher“ und sichert sich die Zustimmung, bevor sie in den Bereich der Adressierten eingreift. Ein Vergleich der beiden Interaktionskonstellationen verdeutlicht, dass in der vorangehenden Sequenz die Zweifachadressierung zur Herabstufung stilistischer Differenzen führte, der Gruppenstil die Äußerungen prägte und damit die Botschaft an die Gruppe deutlich in den Vordergrund gerückt wurde. Gleichzeitig erging an KL die Botschaft, wie ein Gruppenmitglied behandelt zu werden. Aus dieser Interaktionssequenz können folgende Gruppeninteraktionsregeln für den Umgang mit Territorien rekonstruiert werden: Bei Konkurrenz mit anderen gilt die Regel „wer zuerst kommt, hat Vorrang“. Dieser Vorrang wird durch unmittelbares Handeln verdeutlicht, durch schnelles Zupacken und ohne Begründung dafür, dass man den Vorrang will. Die Akteurin geht davon aus, dass die anderen ihren Vorrang aufgrund des unmittelbaren, effektiven Handelns akzeptieren. Da die anderen Mädchen in der aktuellen Situation nicht intervenieren, kann man davon ausgehen, dass sie unterstellen, dass in einem vergleichbaren Fall, wenn eine von ihnen schneller als Teslime agiert, sie den Vorrang erhält. Das unaufwändige Akzeptieren des Vorrangs einer Akteurin basiert auf dem Gruppenkonsens über die „prinzipielle Gleichheit“ aller. In diese Richtung weisen auch die Beiträge Hülyas, in der aktuellen Situation die Konkurrentin von Teslime, die, obwohl sie zurückgedrängt wurde, sie (in Reaktion auf KLs Befürchtung, dass der Kofferraumdeckel nicht zugeht) zweimal unterstützt (Z. 07 und 26). Mit ja: des geht schon (Z. 26) stellt sie klar, dass KLs Befürchtung unbegründet ist und dass sie volles Vertrauen in Teslimes Fertigkeiten hat. D.h., wenn der Vorrang unter den Konkurrentinnen geklärt ist, kooperieren die anderen mit derjenigen, die sich durchgesetzt hat. 2.3.2 Kommunikation mit der Leiterin: Hochstufung stilistischer Differenz In Interaktionen mit Naran, die in Anwesenheit anderer Gruppenmitglieder stattfinden, kommen häufig stilistische Differenzen zwischen dem „Powergirl- Stil“ und Narans Stil als Erzieherin und Lehrerin in den Fokus. Das geschieht vor allem in Ausgleichshandlungen gegenüber Naran, die auf Übergriffe er- Die „türkischen Powergirls“ 264 folgen. In solchen Handlungen werden stilistische Differenzen relevant gesetzt, oft auch überhöht und dann mit unterschiedlichen Bewertungen verbunden. 2.3.2.1 Ausgleichshandlungen Ausgleichshandlungen (Goffman 1971) erfolgen auf interaktive Zwischenfälle, wenn Grenzübertritte, z.B. Verletzung des Rederechts, Imageangriffe oder persönliche Verletzungen, passiert sind. Der Grenzübertritt kann von der „Missetäterin“ selbst-initiiert ausgeglichen werden oder andere - die Betroffene oder andere Anwesende - fordern zum Ausgleich auf. Ausgleichshandlungen bestehen aus Wiedergutmachungsangeboten, oft in Verbindung mit einer Entschuldigung, einer Erklärung oder einem Versprechen zur Besserung. Der Zwischenfall ist erst dann beigelegt, wenn die „Geschädigte“ den Ausgleich annimmt. Wenn Grenzübertritte gegenüber Naran passieren, werden sie in der Regel von Naran selbst gerügt, gelegentlich tun das auch andere Anwesende. Auf die Rüge erfolgt ein Wiedergutmachungsangebot, das a) implizit sein kann und z.B. durch markiert „höfliches“ Sprechen bei Folgehandlungen signalisiert wird, b) eine explizite Entschuldigung oder c) ein explizites Schuldeingeständnis enthalten kann. a) Höfliche Folgehandlung Im nächsten Beispiel erfolgt auf eine Rüge Narans die Ausgleichshandlung durch eine markiert höflich formulierte Bitte. Zur Situation: Bei einem Aufenthalt im Landschulheim versucht Naran organisatorische Dinge zu klären, kann sich aber kein Gehör verschaffen, weil die Mädchen sie ständig unterbrechen. Daraufhin erzwingt sie sich das Rederecht, rügt die Mädchen, wirft ihnen Disziplinlosigkeit vor und fährt dann mit der Information fort: 01 NA: für den fernsehraum ← krieg ich schlü“ssel ↓→ * → das 02 NA: heißt we=ma ← a“bends noch was unternehmen wir ham 03 NA: selbst die möglichkeit a“bzuschließen ↓ 04 TE: >sch will was 05 TE: fragen< ← darf isch bitte am donnerstag * 06 NA: >bitte< 07 TE: entweder elf uhr morgens oder zehn uhr abends Der kommunikative Stil 265 08 TE: fernseh kucken ↓→ s=is sehr wichtig 09 HL: KICHERT LEISE 10 NA: >sehr wichtich ↑ wir kuckn mal< Nach der Information über die Nutzung des Fernsehraums (Z. 01-03) meldet sich Teslime, die vorher namentlich gerügt worden war, mit leiser Stimme zu Wort: >sch will was fragen< (Z. 05) und bittet um das Rederecht, obwohl allen klar ist, dass Naran die Organisationsagenda noch nicht beendet hat. Die explizite Bitte ums Rederecht und das zurückhaltende Sprechen kontrastieren mit ihrem vorherigen, lauten und undisziplinierten Verhalten. Naran gewährt ihr das Rederecht (>bitte<, Z. 06), und Teslime trägt ihr Anliegen mit einer noch stärker kontrastierenden Formulierung vor: ← darf isch bitte am donnerstag * entweder elf uhr morgens oder zehn uhr abends fernseh kucken ↓→ * s=is sehr wichtig (Z. 05, 07f.) Das ist eine markiert höfliche Bitte, charakterisiert durch langsameres, deutliches Sprechen, Modalverb dürfen, die bitte-Formel und die Begründung für das Anliegen (s=is sehr wichtig). In Reaktion auf die vorangegangene Verhaltenskritik führt Teslime ein Verhalten vor, das dem, das Naran gefordert hatte, entspricht und als Angebot zur Wiedergutmachung verstanden werden kann. Narans Reaktion zeigt, dass sie das so versteht: Mit >sehr wichtich ↑ wir kuckn mal< (Z. 10) stellt sie die Erfüllung der Bitte in Aussicht, d.h., sie nimmt das Wiedergutmachungsangebot an und zeigt, dass Teslime mit einem „höflichen“ Verhalten Erfolg hat. Interessant ist die Reaktion von Hülya (HL) auf Teslimes Äußerung: Sie kichert leise (Z. 09), d.h., der von Naran eingeforderte Stil aus dem Mund eines „Powergirls“ klingt für sie komisch. Mit dem Kichern drückt sie symbolisch soziale Distanz zu Stilelementen aus, die zu Naran gehören, ihr aber fremd sind. b) Explizite Entschuldigung Im nächsten Beispiel erfolgt auf eine Rüge Narans die explizite Entschuldigung sowohl in Richtung Naran als auch in Richtung der Gruppenmitglieder, denen gegenüber sich die „Missetäterin“ ebenfalls rücksichtslos verhalten hat. Zur Lösung dieser komplexen Aufgabe nutzt die Sprecherin wieder die stilistische Differenz zwischen Gruppenformen und „höflichen“ Formen. Das Ereignis findet bei demselben Landschulheimaufenthalt statt. Auf Bitten der Mädchen erlaubt Naran, dass sie die Zimmerverteilung selbst organisie- Die „türkischen Powergirls“ 266 ren; doch das klappt nicht und es gibt heftigen Streit. Naran beendet den Streit, ruft die Mädchen zusammen und kündigt an, dass sie die weitere Organisation selbst in die Hand nehmen wird. Damit beginnt der Ausschnitt: 103 NA: also isch möcht auf kei“nen fall dass wir noch 104 NA: mal so planlos vorgehn wie ebn ↓ 105 HI: ja ich möcht 106 NA: >ja< * 107 HI: was sagen bitte ↓ also vorhin oben ne" ↑ 108 HI: da ← gab=s so kleine → schdreidischkeidn ↑ 109 K: SÜFFISANT # 110 NA: klei"n ↑ * | → gut dass 111 HA: ja |(... ...) | 112 HI: |oder gro"ße ↑ | * |und ich 113 NA: wir hier im wald sind ← | 114 K: AMÜSIERT # 115 HI: ← möschte misch hier|mit äh: bei: : 116 HI: denjenigen die isch so: verletzt hab → 117 HA: macht nix 118 HI: entschuldigen ne ↑ +die sache is 119 HI: gegesse ↓ 120 ES: |(...) | isch verzeih dir >nich ↓ < 121 K&: |KICHERN| 122 HI: >okay ↓ * isch hoff=s< 123 ES: LACHT *3* Nach Narans Ankündigung meldet sich Hikmet (die vorher zu den Aggressivsten gehörte) zu Wort: ja ich möcht was sagen bitte (Z. 105, 107). Das ruhige Sprechen, die Bitte um das Rederecht ebenso wie die Formulierung mit Modalverb mögen, Konjunktiv und die bitte-Formel kontrastieren deutlich mit dem vorherigen Schreien, sie spricht „höflich“. Naran gewährt ihr das Rederecht, und Hikmet entschuldigt sich - an alle Betroffenen adressiert - für die vorherigen Grobheiten. Die Interaktionssequenz besteht aus folgenden Zügen: - HI stuft den Streit herab: also vorhin oben ne ↑ da ← gab=s so kleine → schdreidischkeidn ↑ (Z. 107f.); herabstufende Mittel sind die neutrale Formulierung (da gab=s), in der die Akteurin ebenso wie die „Opfer“ der Aggression ausgespart sind, und die Herabsetzung des Streits (so kleine schdreidischkeidn); Der kommunikative Stil 267 - auf NAs erstaunte Nachfrage klei“n ↑ (Z. 110) korrigiert sich Hikmet zu oder gro“ße (schreidischkeidn, Z. 112); - auf das Eingeständnis, dass es gro“ße (schreidischkeidn) gab, reagiert NA mit dem spielerisch modalisierten Kommentar gut dass wir im Wald hier sind (Z. 110, 113); damit referiert sie auf die Lage des Landschulheims, am Waldrand und ohne direkte Nachbarn im Sinne von „ein Glück, dass uns hier niemand hören kann“; - überlappend damit folgt HIs explizite Entschuldigung: und isch ← möschte misch hiermit äh: bei: : denjenigen die isch so: verletzt hab → entschuldigen ne ↑ * (Z. 115, 118); mit der Entschuldigung ist ein offenes Eingeständnis des Vergehens, andere so: verletzt zu haben, verbunden. Die Entschuldigung ist in Richtung Naran gesprochen, und die hochstufende Sprech- und Formulierungsweise (langsameres Sprechen, Artikulation des Schwa-Lauts in möschte, Partikel hiermit, Demonstrativpronomen denjenigen und Hervorhebung der Verletzung durch Partikel so: ) verleihen ihr einen gewichtigen Charakter. Sie erfolgt, nachdem Naran die Herabstufung in Hikmets Darstellung moniert hatte (Z. 110). D.h., Hikmet kommt der Erwartung Narans entgegen und stuft das Schuldeingeständnis ebenso wie die Wiedergutmachung in besonderer Weise hoch. Aus der Retrospektive kann jetzt auch die vorherige Herabstufung des Streits (Z. 107f.) gedeutet werden: Sie erfolgte in Richtung Gruppenmitglieder im Sinne von: ‘für uns ist der Streit nur eine Kleinigkeit, auch wenn Naran darin ein großes Fehlverhalten sieht’. Das Bemühen um Herabstufung wird auch in der anschließenden Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern deutlich: Hatice (HA), das „Opfer“ von Hikmets Aggression, nimmt das Wiedergutmachungsangebot an und stuft das Vergehen herab (macht nix, Z. 117). Hikmet dankt für die Annahme und beendet die Angelegenheit mit der saloppen Formel die sache is gegesse (Z. 118f.) im Sinne von „die Sache ist für uns erledigt“. Der knappe Austausch zwischen den beiden kontrastiert mit der aufwändigen, hochstufenden Formulierung in Richtung Naran. D.h., auch in diesem Verfahren werden für die Herstellung der Zweifachadressierung unterschiedliche stilistische Mittel eingesetzt: die förmlich-höfliche Hochstufung in Richtung Naran und die saloppe Herabstufung in Richtung Gruppe. Die Kombination aus Elementen beider Stile hat für die anderen Mädchen wiederum komischen Effekt, sie kichern (Z. 122). D.h., auch hier markieren die Gruppenmitglieder die stilistischen Differenzen, bewerten sie und stellen Die „türkischen Powergirls“ 268 symbolisch Distanz zu den von Naran eingeforderten Stilelementen her. Das wird in der Folge noch deutlicher, als Esra, eine weitere Streitbeteiligte, die Initiative zum Modalitätenwechsel ins Spielerische aufnimmt, lachend die Annahme der Entschuldigung verweigert (isch verzeih dir nich LACHT, Z. 120f.) und Hikmet mitspielt (>okey ↓ * isch hoff=s<, Z. 123). Mit dieser spielerischen Nachbereitung machen die Mädchen den Kontrast überaus manifest und signalisieren, dass Narans stilistische Präferenzen nicht zu ihnen passen. Das wird im nächsten Beispiel noch deutlicher, in dem die Mädchen einen erzieherischen Diskurs, den Naran anstrebt, durch den Modalitätenwechsel ins Spiel abwenden. c) Schuldeingeständnis und Spiel Als Didem (DI) aus einem negativen Erlebnis mit Deutschen eine allgemeine Haltung von Deutschen gegenüber Ausländern ableiten will, warnt Naran ernst und nachdrücklich vor stereotypem Denken. In Konkurrenz dazu versucht Hatice (HA) eine „lustige Geschichte“ zu platzieren, doch Naran besteht auf der Beibehaltung des Themas und der ernsten Modalität: 01 NA: <pass mal auf ↓ * |pass mal auf>| ich will/ |meinäh| 02 HA: |(...)(...) | |TRÖTET | 03 K&: DURCHEINANDER 04 NA: <hörd=emal zu: ↓ * ← ihr müsst → >/ |wir | 05 HA: +isch hör 06 K&: KURZES LA|CHEN| 07 NA: kritisiern oft dinge die wir selbst au“ch machen ↓ 08 HA: +haj|a“ | 09 NA: |ja“ ↑ | * ← des verallgemei|nern ↓→ | 10 HA: | → wenn |die“=s nich 11 HA: machen * machen wir des au=net ↓← LA|CHT UNTERDRÜCKT| 12 K: |MISSFALLENSRUFE| 13 NA: nee ↓ nee ↓ → du fängst erst=ma bei di“r an um bei dir 14 K: VORWURFSVOLL 15 NA: |was zu verbessern ← | 16 HA: |<ah wa“s ich | hab doch nur scheiß gelabert ↓ > 17 K: # 18 NA: ja bevor man beim andern |ansetzt| 19 HL: |önce | ba ş ındaki ş eyi 20 Ü: nimm du erstmal des ding 21 K: ZU HA Der kommunikative Stil 269 22 HL: çıkartsana ↓ 23 Ü: vom kopf runter 24 HA: >niye< ** 25 Ü: warum 26 HY: | >(...)| (...)< 27 ES: | ← des | 28 ES: drückt deine gehi“rnzellen zusammn un dann 29 K&: LACHEN 30 ES: kannst du nisch mehr denken ↓→ 31 K&: # 32 DI: ja: aber du“ mit 33 K: LEICHT LACHEND 34 DI: deinem mit deinem- |>baseballding<| 35 K: # 36 ES: | → i“sch laber- |isch laber 37 ES: doch kee schei“ße ← * >öldürürüm ha ↑ < LACHT 38 Ü: ich bring dich um 39 ES: |LEICHT| 40 NA: |du nee| des thema is schon echt >interessant< 41 HA: <do“ch eh“rlich ↓ valla> ↓ ** 42 Ü: isch schwör Auf Narans Ordnungsruf <pass mal auf ↓ (Z. 01) reagiert Hatice mit einem Trompetenlaut und hindert Naran am Weitersprechen. Daraufhin ruft Naran zur Ordnung <hörd=emal zu: ↓ (Z. 04) und hat auch Erfolg. Als sie fortfahren will ( ← ihr müsst>, Z. 04), wird sie wieder von Hatice gestört, die den Ordnungsruf wörtlich nimmt und zurückmeldet: isch hör (Z. 05). Das löst bei einigen Mädchen Lachen aus (Z. 06). Naran beginnt zum dritten Mal und stellt in ernstem Ton fest: wir kritisieren oft dinge die wir selbst au“ch machen ↓ (Z. 04, 07). Noch bevor sie ihre Äußerung abgeschlossen hat, reagiert Hatice in schnoddrigem Ton haja“ (Z. 08), im Sinne von: ‘is halt so’. Naran ignoriert sie und präsentiert dann den zentralen Punkt der vorangegangenen Diskussion: ← des verallgemeinern ↓→ (Z. 09), d.h. die unberechtigte Generalisierung eines negativen Erlebnisses. Sie wird wieder von Hatice unterbrochen, die dagegen hält: → wenn die“=s nich machen machen wir des au=net ↓← (Z. 10f.). Mit dieser schlichten Verhaltensregel im Sinne von: ‘wenn die nicht differenzieren, tun wir das auch nicht’ unterläuft sie den moralischen Diskurs, den Naran initiiert hat. Hatice arbeitet mehrfach Narans Absicht entgegen und signalisiert - noch verstärkt durch das unterdrückte Lachen -, dass sie sich nicht auf die ernste Interaktionsmodalität einlassen will. Die „türkischen Powergirls“ 270 Die darauf folgenden Missfallensäußerungen der anderen (Z. 12) zeigen, dass Hatice zu weit gegangen ist. Als Naran sie in vorwurfsvollem Ton zur Verhaltensänderung auffordert (nee ↓ nee ↓ → du fängst erst=ma bei di“r an um bei dir was zu verbessern, Z. 13, 15), bietet Hatice eine Ausgleichshandlung an; sie gesteht ihre Schuld ein, kritisiert ihr Verhalten und setzt sich selbst herab: <ah wa“s ich hab doch nur scheiß gelabert (Z. 16). Doch noch bevor Naran ihre Äußerung zu Ende gebracht hat (bevor man bei anderen ansetzt, Z. 18), wird sie von Hülya unterbrochen, die Hatice auffordert, das breite Stirnband, das sie wie eine Piratin um den Kopf gebunden hat, abzunehmen (önce başındaki şeyi çıkartsana, ‘nimm du erstmal das Ding vom Kopf runter’, Z. 19, 22). Hatice versteht den Hinweis nicht (Rückfrage niye ‘warum’, Z. 24) und Esra klärt sie auf: ← des drückt deine gehi“rnzellen zusammn un dann kannst du nisch mehr denken ↓→ (Z. 27f., 30). Mit dem unvermittelten Wechsel von Thema und Sprache erfolgt ein Wechsel der Interaktionsmodalität zum Spiel: Hülya und Esra arbeiten zusammen und weisen Hatice wegen ihres dummen Verhaltens Naran gegenüber zurecht; dazu verwenden sie das Bild vom eingezwängten und denkunfähigen Kopf. Das Spiel wird von den anderen durch Lachen ratifiziert und weitergeführt (Z. 29-39). In diesem Beispiel fordern die Mädchen durch Missfallensäußerungen eine Ausgleichshandlung von Hatice ein, die dann auch erfolgt. Narans vorwurfsvolle Belehrung jedoch brechen sie durch den Wechsel der Interaktionsmodalität in Spielerische ab und kritisieren Hatice im Spiel für ihr ungehöriges Verhalten. Nach dem Ende des Spiels (Z. 39) knüpft Naran mit du nee des thema is schon echt >interessant< (Z. 40) noch einmal an den vorherigen Erziehungsdiskurs an und signalisiert gleichzeitig (Abschwächungspartikel schon und zunehmend leiseres Sprechen), dass sie ihn beenden will. Auf das Abschlusssignal reagiert Hatice durch Hochstufung von Narans Thema (<do“ch eh“rlich ↑ valla> ↓ , Z. 41; lauteres Sprechen, starke Akzentuierung, Bekräftigungspartikel in Deutsch und Türkisch), und damit beenden beide den rituellen Ausgleich. Das Beispiel zeigt, dass die Mädchen Grenzverletzungen gegenüber Naran, sobald die Entschuldigung der Missetäterin vorliegt, lieber spielerisch als im ernsten Diskurs bearbeiten; sie äußern Kritik, aber ohne moralischen Zeigefinger. Der kommunikative Stil 271 2.3.2.2 Verbale Spiele mit der Leiterin Wenn Naran bei den Spielen Tavla oder Tischfußball beteiligt ist, hat der Spiel begleitende verbale Abtausch eine andere Qualität, als wenn die Gruppenmitglieder untereinander spielen. Die Spielzüge sind ebenfalls in Türkisch, doch die spielerische Aggression ist hinter freundlich-ironischen Kommentaren oder liebevoll-hinterhältigen Angeboten versteckt und drastische Beschimpfungs- oder Drohformeln, wie sie beim Spiel untereinander vorkommen, werden gegenüber Naran nicht verwendet. In dem Tavlaspiel, das ich im Folgenden vorstelle, spielt Naran gegen Teslime. Die Spiel begleitenden Äußerungen Teslimes sind, ganz im Gegensatz zu den drastischen Formeln in Spielen untereinander (vgl. oben Kap. 2.2.3), freundlich, auch liebevoll formuliert. Dieser auffällige Unterschied hat auch mit der Spezifik der Aufnahmesituation zu tun: Die Videokamera läuft, und ihr Einfluss wird manifest, als Teslime ein Mädchen, das lautstark redet, durch schrei nicht so wir werden gefilmt korrigiert; oder wie im folgenden Beispiel, als Teslime sich mit einem verlegenen Blick zur Kamera selbst kontrolliert (vgl. unten Z.233). Der folgende Transkriptausschnitt zeigt die Vorbereitung auf einen spielerischen Höhepunkt, an dem Teslime die Gegenerin schlägt. Der Ausschnitt beginnt mit einem Kommentar Teslimes zu einem Spielzug von Naran: 184 TE: bir çıkartmadın mı ↑ *1,5* çıkamadın ↓ ** 185 Ü: bist du nicht rausgekommen? du bist nicht rausgekommen 186 NA: +mua ↓ >öptüm seni ↓ < 187 Ü: ich küsse dich 188 K: KUSSLAUT 189 TE: +<a“ltı karde ş im du“r> 190 Ü: sechs meine Freundin warte 191 NA: +<bä“h ↓ > ** 192 TE: hayatım ↓ hadi ↑ zarların iyi de ğ il 193 Ü: mein Schatz los schlecht gewürfelt 194 NA: >(...) bir * so jetzt genug ↓ < * ah ↓ 195 Ü: eins 196 TE: di=mi ↓ 197 Ü: nicht wahr 198 NA: |dur kız ↓ | du“r ↓ spie“l ↓ * bu da altı ↓ oh ↓ a“l 199 Ü: warte Mädchen warte und hier sechs, nimm ihn doch 200 TE: |uu: h ↑ | Die „türkischen Powergirls“ 272 201 NA: hayatım ↓ a“l ↓ ooh: ↑ *2,5* 202 Ü: mein Schatz, nimm 203 K: GRINSEND 204 TE: +vurucam bunu hayatım ↓ 205 Ü: mach ich doch glatt mein Schatz 206 NA: → bir iki üç ← * <ri“siko: > * tı tı tı ↑ tı ↓ 207 Ü: eins zwei drei 208 K: TRIUMPHLAUTE 209 TE: ü“çten 210 Ü: und was hast Nach dem gelungenen Spielzug verspottet Naran die Gegnerin durch einen angedeuteten Kuss und die schwärmerische Äußerung +mua ↓ >öptüm seni ↓ < (‘ich küsse dich’, Z. 186), worauf Teslime mit einer freundlich formulierten Warnung reagiert (kardesim du“r hayatım, ‘meine Freundin, warte, mein Schatz’, Z. 189, 192), 220 die Naran spöttisch zurückweist: <bä“h ↓ > (Z. 191). Beim nächsten Würfeln hat sie jedoch Pech, was Teslime zu einem schadenfrohen Kommentar veranlasst (zarların iyi değil di=mi, ‘schlecht gewürfelt, nicht wahr’, Z. 192, 196). Als Teslime am Zug ist, verfolgt Naran ihre Spielzüge aufmerksam (Z. 194, 198), macht in liebenswürdigem Ton den Vorschlag, einen ihrer Steine zu kassieren (a“l hayatım ↓ a“l ↓ , ‘nimm ihn doch, mein Schatz, nimm ihn’, Z. 198, 201), und Teslime befolgt den Rat (+vurucam bunu hayatım’ ‘mach ich doch glatt mein Schatz’, Z. 204). Doch mit dem nächsten Zug wird klar, dass sie von Naran reingelegt wurde: Naran kassiert zwei ihrer Steine, droht ihr mit <ri“siko: > (Z. 206) und stößt einen Triumphschrei aus. Diese Runde geht an Naran. Doch Teslimes Rache folgt direkt im Anschluss: 211 TE: ü“çten de haber ver ↓ 212 Ü: was hast du mit der drei vor 213 NA: yok kız ↓ üç oynadım zaten ↓ i“ki 214 Ü: nein Mädchen die drei hab ich schon gespielt 215 NA: oynamam lazım ↓ 216 Ü: die zwei muss ich spielen 217 TE: çok aufpassen yapmıyom ba“k ↓ * sana 218 Ü: ich hab nicht aufgepasst kuck 219 NA: ya * benim dürüstlü ğ üme 220 Ü: was du vertraust auf meine 221 TE: güveniyorum onun için ↓ 222 Ü: ich vertraue dir 220 Im Gegensatz zur sonst üblichen Anrede Narans als abla (‘große Schwester’) wird sie im Rahmen des Spiels als kardeşim (‘meine Freundin’) und hayatım (‘mein Herz’, ‘mein Schatz’) adressiert. Der kommunikative Stil 273 223 NA: güveniyosun ↓ hı“yar ↓ 224 Ü: Ehrlichkeit du Trottel 225 TE: hı“yar o ğ lu hıyar ↓ kaç tane 226 Ü: du Sohn eines Trottels wie viel 227 NA: aah: ↓ 228 K: ABFÄLLIG 229 TE: açı ğ ın var ↓ * <+al i ş te NA“ poku yedin ↓ * oh 230 Ü: offene Steine hast du hier NA jetzt bist du am Arsch oh 231 TE: alla: h ↓ > çık çıkı çık çıkı |çık| 232 K: mein Gott FREUDENTANZ 233 K: VERLEGENER BLICK ZUR KAMERA 234 HA: | oh| amanım ↓ *1,5* 235 Ü: oh mein Gott 236 K: LACHEND ZU TE Zunächst macht Teslime Naran darauf aufmerksam, dass sie noch nicht zu Ende gezogen hat (ü“çten de haber ver ↓ , ‘was hast du mit der drei vor’, Z. 211), ein Hinweis, den Naran immer noch triumphierend korrigiert (yok kız ↓ üç oynadım zaten ↓ i“ki oynamam lazım ↓ , ‘nein Mädchen, die drei habe ich schon gespielt, die zwei muss ich spielen’, Z. 213, 215). Darauf fordert Teslime die Gegenerin heraus und schlägt sie in drei Zügen: - sie räumt ein, dass sie sich geirrt hat und verbindet das mit einer Hochstufung von Narans Vertrauenswürdigkeit (çok aufpassen yapmıyom ba“k * sana güveniyorum onun için ↓ , ‘ich hab nicht aufgepasst, kuck ich vertraue dir’, Z. 217, 221), die im Rahmen des Wettkampfspiels eine Herabsetzung bedeutet: Naran wird als „harmlos und ohne Raffinesse spielend“ typisiert und als Gegnerin abqualifiziert, da man es sich bei ihr erlauben kann nicht aufzupassen. Wie Narans Reaktion zeigt, fühlt sie sich angegriffen; sie verhöhnt Teslime und verwendet dabei eine Beschimpfungsformel (ya * benim dürüstlüğüme güveniyosun ↓ hı“yar ↓ ‘was, du vertraust auf meine Ehrlichkeit du Trottel’, Z. 119, 223). - Teslime überbietet die Beschimpfung nach den Regeln des Topping hı“yar oğlu hıyar (‘du Sohn eines Trottels’, Z. 225) und zeigt, dass Naran schlecht gespielt hat (kaç tane açığın var ↓ , ‘wieviel offene Steine hast du’, Z. 228). 221 Darauf reagiert Naran mit einem verächtlichen Ausruf aah: ↓ (Z. 227). - Jetzt schlägt Teslime zu. Mit <+al işte NA“ poku yedin ↓ * (‘hier Naran, jetzt bist du am Arsch’, Z. 229) kassiert sie Narans Steine und drückt mit dem Triumphruf alla: h ↓ und einem angedeuteten Freudentanz (rythmi- 221 Offene Steine bedeutet ‘ungeschützte’ Steine, die die Gegnerin kassieren kann. Die „türkischen Powergirls“ 274 sche Zischlaute çık çıkı çık çıkı çık, Fingerschnalzen und wiegende Schulterbewegungen, Z. 231) ihre Siegesfreude aus. Den ungebrochenen Ausdruck von Siegesfreude kommentiert eine Zuschauerin amüsiert mit oh amanım (‘oh mein Gott’, Z. 234). Mit einem Blick zur Kamera kontrolliert Teslime sofort ihr impulsives Verhalten und wendet sich mit distanziert-freundlichem Gesichtsausdruck wieder dem Spiel zu. Dieser Ausschnitt aus dem Tavlaspiel hat im Vergleich zu Spielen, an denen nur Gruppenmitglieder beteiligt sind (vgl. oben Kap. 2.2.3) folgende Eigenschaften. Für das Reizen, Ablenken und Hereinlegen der Gegnerin verwenden beide Spielerinnen eher „weibliche“ Ausdrucksmittel wie - die freundlich formulierten Kommentare und Ratschläge, - die Anredeformen kardeşım, hayatım und kızım, - die Geste des angedeuteten Kusses und der triumphierende Freudentanz mit Tanzbewegungen. Doch der Austausch ist nur an der Oberfläche liebenswürdig, die Herabsetzung der Gegnerin und der Angriff auf sie erfolgen verdeckt und indirekt. Nur an einer Stelle werden die wechselseitigen Angriffe grob, unter Verwendung „männlicher Formen“: Auf die Abqualifizierung ihrer Spielkompetenz reagiert Naran mit der Beschimpfung (hıyar, ‘Trottel’, Z. 223), die von Teslime getoppt wird (hıyar oglu hıyar, ‘Sohn eines Trottels’, Z. 225). Die Niederlage Narans stellt Teslime mit der derben Formel al işte NA“ poku yedin (‘hier Naran, jetzt bist du am Arsch’, Z. 229) fest. Interessant ist, dass die Initiative zum stilistischen Wechsel von freundlichen zu derben Formulierungen von Naran ausgeht, Teslime den Wechsel ratifiziert und ihn in der derben Ausdrucksweise eines „Powergirls“ fortführt. Die sofortige Selbstkorrektur erfolgt zwar mit Blick zur Kamera, doch auch in Spiel-Interaktionen ohne Videoaufzeichnung werden in Wettkampfspielen mit Naran ähnliche sprachliche Mittel und Verfahren verwendet, wie in dem Beispiel hier. Wenn derbere Ausdrucksweisen vorkommen, setzt Naran dafür den Maßstab. Im Beispiel hier gibt sie die Qualität für Derbheit vor; in anderen Situationen kommt es vor, dass sie korrigierend eingreift, wenn aus ihrer Perspektive die Ausdrucksweise zu ordinär wird. Der kommunikative Stil 275 2.3.2.3 Kritik gegenüber der Leiterin Kritik gegenüber Naran wird offen und direkt geäußert; der Ton ist vorwurfsvoll, aber ohne derbe Ausdrucksweisen. Kritik kommt vor, wenn eines der Mädchen sich ungerecht behandelt fühlt; dann können Fragen nach den Hintergründen für Narans Entscheidung auftreten, z.B. Naran abla warum darf die das machen und isch nischt, oder es sind explizite Negativbewertungen, z.B. Naran abla des find isch aber scheiße dass wir des jetz machen sollen. Es gibt aber auch Fälle, in denen Kritik in rüdem Ton geäußert wird, wenn Naran aus der Perspektive der Kritisierenden z.B. ihre rollengebundenen Aufgaben nicht angemessen erledigt. Das zeigt das folgende Beispiel. Es stammt von einem Wochenendausflug, an dem die „Powergirls“ ihren ersten Videofilm drehen wollen. 222 Die Mädchen verabreden sich zur Filmvorbesprechung, doch zum vereinbarten Zeitpunkt erscheinen nur wenige. Naran unternimmt nichts, um die Fehlenden herbeizuholen, sondern beginnt demonstrativ in einem Buch zu lesen; d.h., sie zeigt, dass sie sich um die Planung des Films nicht kümmern wird. Daraufhin wendet sich Didem, die großes Interesse an dem Film hat, an Naran und bittet, mit der Filmvorbereitung anzufangen. Damit beginnt der Transkriptausschnitt: 07 DI: ← ach NA abla ↓→ komm dreh“=mer 08 NA: ja: 09 K: UNGEDULDIG 10 DI: doch was → oder oder- ← ma“chen irgendwas 11 DI: → sonst |(... ... ... ... ... ... ...) ← | 12 K: |DURCHEINANDER | 13 NA: <warum sagst=es denn mi: r ↑ was machen 14 NA: alle andern ↑ 15 DI: <ja du bisch hier die 16 NA: (also) |als ob ihr 17 DI: lei“terin do: “ ↑ > |bisch du 18 K: SCHREIT FAST SCHARF 19 NA: auf/ ← auf | mi“sch hö“ren tätet ↓→ 20 DI: keine leiterin ↑ | 21 DI: +natü“rlich me“nsch ↑ 22 SI: → kuck mal die hälfte 222 Vgl. ausführlich zu dieser Situation das folgende Kapitel 2.4. Die Aufnahme entstand etwa 6 Monate nach Beginn meiner ethnografischen Arbeit. Die „türkischen Powergirls“ 276 23 NA: ja die sin ja 24 SI: von den mädels is weg DI ← 25 NA: auch/ gu“t dann setzt eusch hi“n ↑ und die 26 NA: die da: sind ↑ die machn nochmachn=w/ 27 NA: machen was- * inso|fern- | 28 DI: | → darf| i“ch jetz mal 29 DI: des ← äh: m so die leiterin bisschen spielen 30 NA: ja des darfst du ↓ 31 DI: so ↓ okay ↓ Didem adressiert Naran als die für den Film verantwortliche Person und fordert zur Initiative auf (Z. 07, 11). Doch Naran weist die Verantwortung zurück (<warum sagst=es denn mi: r>, Z. 13), indem sie auf das offensichtlich mangelnde Interesse der übrigen Mädchen verweist (was machen alle andern ↑ , Z. 13f.). Darauf schreit Didem sie an: <ja du bisch hier die <lei“terin do: “> (Z. 15, 17), fokussiert ihre Leitungsrolle, verbindet damit den impliziten Vorwurf, dass sie sie nicht ausfüllt und etabliert für Naran die Verpflichtung, sich zu ihrem Rollenverständnis zu äußern. Doch noch bevor Naran sich äußern kann, unterbricht Didem sie noch einmal und stellt jetzt ihre Rolle als „Leiterin“ in Frage: bisch du keine leiterin ↑ (Z. 17, 20). Damit greift sie weit in Narans Bereich ein. Doch Naran weist sie nicht zurück, sondern nennt als Motiv für den Rückzug aus der Verantwortung, dass sie sich in der Leitungsrolle nicht akzeptiert sieht (als ob ihr auf/ auf micht hören tätet, Z. 16, 19). Darauf stuft Didem Narans Autorität hoch (natü“rlich me“nsch, Z. 21), und es gelingt ihr, dass Naran die Verantwortung übernimmt (gu“t dann setzt euch hi“n und die die da: sind die machen nochmachen=w/ machen was- * insofern, Z. 25-27). Doch da die Art der Formulierung mangelnde Entschlossenheit signalisiert (Abbruch, Wiederholung, machen was, unklarer Anschluss mit insofern-, Nichtbeendigung der Äußerung), bittet Didem um die Übergabe der Leitungsrolle: darf i“ch jetz mal des äh: m so die leiterin bisschen spielen so (Z. 28f.). Dieses Mal spricht sie „höflich“ und mildert ihre Bitte mit einer Reihe abschwächender Elemente ab (Partikel jetzt, mal, so, bisschen, Verzögerungen, Abbruch, Modalverb dürfen, euphemistische Formulierung leiterin spielen). Naran entspricht der Bitte: ja des darfst du (Z. 30), überlässt Didem ihr Territorium und gibt ihr die Möglichkeit, die Leitungsrolle auszuprobieren. Der kommunikative Stil 277 In dieser Sequenz verwendet Didem eine Kombination aus unterschiedlichen stilistischen Elementen, die in der aktuellen Situation zum Erfolg führen: - Die Kritik an NA ist unabgeschwächt rüde, d.h., Sprech- und Formulierungsweise gehören zum Stil der „Powergirls“; - nachdem Naran die rüde Zurechtweisung akzeptiert hat, formuliert Didem die Bitte um die Übergabe der Leiter-Rolle aufwändig und mildert den Eingriff in Narans Verantwortungsbereich durch „höfliche“ Mittel ab. Nach der Übernahme der Leitungsrolle gelingt es Didem, die anderen zur Mitarbeit an dem Film zu motivieren und von ihnen in der Autoritätsrolle akzeptiert zu werden (vgl. unten Kap. 2.4.1). Mit der Übergabe der Leitungsrolle gibt die Leiterin Didem Gelegenheit, Strategien und Verfahren auszuprobieren, mit denen sie die Gruppenarbeit organisieren und sich Autorität und Akzeptanz in der Gruppe verschaffen kann; Naran macht sie zur Assistentin bei der Organisation und Durchführung eines Gruppenprojekts und unterstützt sie bei der Durchführung ihrer Aufgabe (vgl. unten Kap. 2.4). 2.3.3 Zusammenfassung: Charakteristika des Umgangs mit Außenstehenden Charakteristisch für die Kommunikation mit Außenstehenden, der Leiterin und anderen Personen, die die Mädchen schätzen, sind folgende Stilelemente: - bei Bitten werden „höflichere“ Formen verwendet, die Zustimmung der Adressierten eingeholt; - bei Zweifachadressierungen - einerseits an die Außenstehenden und andererseits an die Gruppenmitglieder - kann die Differenz der Kommunikationsstile herabgestuft oder hochgestuft und mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden werden; - in Ausgleichshandlungen, die auf Rügen der Leiterin erfolgen, werden stilisitsche Unterschiede hochgestuft und markiert „höfliche“ Formen verwendet, die in Kontrast zu dem (von der Leiterin vorher gerügten) „Powergirl“-Stil als „fremd“ bewertet werden; - für die Nachbereitung von Übergriffen auf die Leiterin bevorzugen die Mädchen spielerische Formen vor erzieherischen Diskursen; - bei Wettkampfspielen mit der Leiterin werden Herabsetzungen, Täuschungen und Angriffe in liebenswürdig-weiblichen, türkischsprachigen Die „türkischen Powergirls“ 278 Formulierungen verpackt; wenn derbere Formen auftreten, setzt die Leiterin dafür den Maßstab; - bei ernster Kritik an der Leiterin (wegen mangelnder Rollenausfüllung) kann der Eingriff in ihr Territorium auch in rüdem Ton erfolgen. 2.4 Exkurs: Naran als neues Leitmodell Bevor ich mit der Beschreibung des kommunikativen Stils der „Powergirls“ fortfahre, werde ich die Rolle der Leiterin Naran betrachten, die sie im Entwicklungsprozess der Mädchen einnimmt. Im Lauf ihrer Erziehungs- und Aufklärungsanstrengungen wird sie für die Mädchen zur engen Vertrauten und zum neuen Leitmodell, an dem sie sich bei der Herausbildung eines neuen Selbstbildes orientieren und an dem sie ihr kommunikatives Verhalten auszurichten beginnen. Ihr gelingt es, die perspektivische Abschottung, 223 die die Mädchen in Reaktion auf Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen entwickelten, aufzubrechen und sie zu kritischer Selbstreflexion ebenso wie zur Übernahme sozialer Verantwortung zu veranlassen. Der im Folgenden analysierte Gesprächsausschnitt gehört zu den „Schlüsselsituationen“ des Aufklärungsdiskurses, in dessen Verlauf die Mädchen Narans Perspektive übernehmen und die von ihr vorgeführten argumentativen und kommunikativen Verfahren zu praktizieren beginnen. In solchen Interaktionen wird Naran zur moralischen Autorität und zum Vorbild. 2.4.1 Übertragung von Verantwortung Bei der Übertragung von Verantwortung kann Naran sich auf das in der türkischen Lebenswelt tief verankerte und äußerst wirksame Abla-Modell stützen. Nach diesem Modell übertragen Eltern an die älteste Tochter die Verantwortung für die jüngeren Geschwister, d.h., die älteste Tochter übernimmt die Versorgung und Erziehung der Jüngeren in allen Bereichen des täglichen Lebens, wenn die Mutter diese Pflichten nicht selbst übernehmen kann. Die Abla (‘ältere Schwester’) ist den Eltern Rechenschaft schuldig und die Jüngeren wissen, dass sie den Anordnungen und Ratschlägen der Abla zu folgen und sie bei der Ausübung ihrer Pflichten zu unterstützen haben. Für die Jüngeren ist die Abla Autorität und Vorbild zugleich. Bei bestimmten Gelegenheiten überträgt Naran die Abla-Rolle an eines der älteren Mädchen, d.h., sie macht sie zu ihrer Assistentin und unterstützt sie 223 Zum Konzept der „Perspektivenabschottung“ vgl. Keim (1996). Der kommunikative Stil 279 bei der Ausübung der Rolle. Mit der Übertragung der Rolle ist die Orientierung am Verhalten der Leiterin und an ihren Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraktiken verbunden, deren Umsetzung sie genau kontrolliert. Der im Folgenden analysierte Gesprächsausschnitt schließt an die oben bereits eingeführte Situation (Kap. 2.3.2.3) an, in der Naran die Verantwortung für die Planung und Durchführung eines Videofilms an Didem, das älteste Mädchen, überträgt. 224 Die Situation entstand während einer Wochenend- Freizeit, 225 als die Mädchen die Idee hatten, einen Videofilm über die Gruppe zu drehen, in dem sie in ernsten und witzigen Szenen Probleme ihrer Lebenswelt darstellen wollten. Didem führt sich folgendermaßen als Moderatorin ein: 01 DI: isch hab jetz des wort okey ↑ ** Naran abla hat misch 02 DI: jetzt beauftragt [...] Mit dem Verweis auf die Autorisierung durch Naran übernimmt sie die Leitung der Planungsdiskussion, und die Mädchen folgen ihrer Führung ohne Widerspruch. Die unaufwändige und von den anderen fraglos akzeptierte Übernahme von Autorität funktioniert auf der Basis des Abla-Modells. Für die Zeit der Planungsdiskussion ist Didem die Abla, was in der Adressierung durch die Jüngeren zum Ausdruck kommt: 515 HA: äh Didem abla ↑ * tanzen und ding is doch gleisch- Das zeigt sich auch an der hohen Akzeptanz, auf die Didems Entscheidungen und Begründungen treffen. Als sie über das Thema „Ausländerfeindlichkeit“ als Filmthema abstimmen lässt, kommt ein Einwand von Hikmet: 288 DI: <ausländerfeindlischkeit> 289 HI: <e“y isch will was sa“gen> 290 DI: <wer i“s=n dafür der soll sisch mal jetz me“lden ↓ 291 DI: ← eins |zwei drei vier ↑ fünf ↑→ | ja |fünf| 292 HI: |wa“s: den au“sländerscheiß-| blöd * |<öh: | 293 HI: erle“b ich doch jeden tag → für was brauch ich des 224 Der Rollenübertragung ging eine kurze Auseinandersetzung zwischen Didem und Naran voraus, vgl. Kap. 2.3.2.3. 225 Die Aufnahme entstand etwa 6 Monate nach Beginn meiner ethnografischen Arbeit. Die älteren Mädchen waren 18-19 Jahre alte, die jüngsten 15. Die Sitzung konnte ich auf Video aufzeichnen. Das ist die erste dokumentierte Gruppendiskussion mit Naran über aktuelle Probleme der Mädchen in der Schule und der Familie. Die „türkischen Powergirls“ 280 294 DI: < ← ja des wird doch gezei“gt den 295 HI: aufzunehmen ↓← > * 296 DI: leuten ↓→ > <ja: “ ↓ > 297 HI: +ach so“ ö“ffentlich ↑ okey ↓ 298 DI: |se“chs ↓ | 299 HI: |LACHT LEICHT| ** die wolln mal sehn wie=s uns 300 K: GESPIELT WEINERLICH 301 DI: |sechs| ** des is die mehrheit 302 HI: |geht ↓ | Als Hikmet das Thema „Ausländerfeindlichkeit“ mit dem Argument zurückweist, dass sie die alltäglichen negativen Erfahrungen nicht auch noch als Filmgegenstand bearbeitet sehen will (Z. 292f., 295), begegnet Didem dem Einwand mit dem Argument, dass genau dieses Thema öffentlich dargestellt und den (mehrheitlich deutschen) Rezipienten in einem von Türkinnen gemachten Film vorgestellt werden soll (Z. 294, 296). Das überzeugt Hikmet und sie stimmt dem Vorschlag zu (okey ↓ , Z. 297). Noch während Didem die Stimmen auszählt, expandiert Hikmet das Thema zu einem Szenenkondensat, in dem sie mit vor Kummer verzerrtem Gesicht und weinerlicher Stimme die Perspektive eines Deutschen karikiert, der der festen Überzeugung ist, dass „Migrantenkinder es nicht schaffen“ und diese Überzeugung in einer entsprechenden Filmszene gespiegelt sehen will: die wolln mal sehen wie=s uns geht (Z. 299, 302). Hikments kreative Verarbeitung zeigt, dass es Didem gelungen ist, ihre Kooperativität für die Themenbearbeitung zu sichern. Nachdem Didem die Moderatorenrolle übernommen hat, zieht sich Naran aus der Diskussion zurück und spielt in unmittelbarer Nähe zu den Diskutantinnen Tavla. D.h., sie gehört offiziell nicht zur Diskussionsrunde, kann aber in der Rolle einer By-Standerin das Interaktionsgeschehen visuell und auditiv verfolgen, 226 bei Bedarf auch in das Interaktionsgeschehen eingreifen und dann „onstage“ agieren. 227 Zunächst hält sie sich jedoch im Hintergrund (spielt weiter 226 Vgl. dazu Goffmans (1981) „participation framework“; hier unterscheidet er zwischen ratifizierten und nich-ratifizierten Rezipienten. Ratifiziert sind der adressierte und der mitadressierte Rezipient (S. 133). Nicht-ratifizierte Zuhörer sind die „over-hearers“ („inadvertent“ oder „non-official“ listeners) oder „by-standers“ (ebd., S. 132). 227 Die Bezeichnungen „off-stage“ und „on-stage“ stammen aus Goffmans Theater-Metapher zur Charakterisierung menschlicher Interaktion (1971). „On-stage“ sind Interaktionen im Vordergrund, „off-stage“ sind Interaktionen, die metaphorisch ausgedrückt hinter dem Vorhang stattfinden und sich durch Stichwortgeben, Rückversichern u.Ä. auf die Interak- Der kommunikative Stil 281 Tavla), kommentiert aber Diskussionsbeiträge und Entscheidungen aus dem „off“ und steuert so den Diskussionsverlauf mit. 228 Durch die Beteiligung aus dem „off“ zeigt sie, dass sie die Interaktion - trotz des Tavla-Spiels - verfolgt und kontrolliert. Vor allem signalisiert sie Didem, dass sie sie bei der Ausübung der Moderatorenrolle und bei Planungsentscheidungen für Filmszenen unterstützt. Redebeiträge aus dem „off“ sind leiser, zurückhaltend gesprochen und - das wird auf der Videoaufzeichnung deutlich - mit abgewandtem Blick. Dazu folgendes Beispiel: Als Didem die Diskussion zum Thema „Ausländerfeindlichkeit“ mit einer Entscheidung abschließt, erhält sie Unterstützung durch Naran: 868 DI: und und * da“ wir ja jetzt die türken si“nd 869 DI: müssen wir eh/ wolln wir auch über die tü“rken ein: 870 K: HOCH # 871 NA: +>ja genau“ warum auch ni“ch ↑ < 872 DI: film drehn ↓ 873 HL: <jo ↓ > 874 HI: <ja ↓ > In der Rolle der Tavla-Spielerin (konzentrierter Blick auf das Spielbrett) bestätigt Naran, leise und verhalten sprechend, Didems Entscheidung (+>ja genau“ warum auch ni“ch ↑ , Z. 871) und stärkt damit ihre Position. Das führt auch dazu, dass Hülya und Hikmet, die vorher gegen Didems Vorschlag argumentierten, die Entscheidung jetzt akzeptieren (Z. 873f.). Mit Verfahren aus dem „off“ respektiert Naran die Handlungssouveränität Didems, liefert ihr aber gleichzeitig - metaphorisch ausgedrückt - das „Sicherheitsnetz“ für ihr Handeln. Naran agiert solange aus dem „off“, wie ihre Assistentin keine Anzeichen von Unsicherheit erkennen lässt. Wenn Didem jedoch in argumentative Bedrängnis gerät, greift sie ein. Das zeigt das folgende Beispiel. Als Hikmet feststellt, dass „Ausländerfeindlichkeit“ vor allem „Türkenfeindlichkeit“ bedeutet, da Deutsche mit der Bezeichnung „Ausländer“ an erster Stelle „Türken“ assoziierten, entwickelt sich eine kurze Argumentation: tionen im Vordergrund auswirken, dort aber nicht ratifiziert werden müssen. Beiträge aus dem „off“ sind leiser, zurückhaltender, ggf. auch geflüstert. 228 Sie gibt bei Szenenvorschlägen zustimmende (>des is gut ja< oder des thema von gestern abend is ganz gut) oder witzige (genügend bäuche ham=wer ja) Kommentare. Die „türkischen Powergirls“ 282 852 HI: <ich find=s blö“d äh wem=man ausländer| sagt 853 NA: |>so is=es aber<| 854 DI: |ja weil sie- | 855 HI: denkt man gleich an tü“rken> 856 HA: ja 857 DI: |weil die türken die in deutsch|land sind die 858 HA: |<die fallen so au“f> | 859 DI: meh“rzahl sind |(...)( )| und wenn deu“tsche über 860 HI: |<ja u“nd ↑ >| 861 DI: ausländer schimpfen meinen sie ja auch meistens die 862 DI: tü“rken: =un nischt- ** äh=und nischt eh ** 863 NA: |ja des is die | realitä“t |aber auch HI ↑ | 864 DI: |>grad die anderen ↓ <| |des i“s halt | so ↓ 865 NA: +des i“s die realität ↓ 866 HI: ja ↓ Hikmets Feststellung <ich find=s blö“d äh wem=man ausländer sagt denkt man gleich an tü“rken> (Z. 852, 855) kommentiert Naran zunächst wieder aus dem „off“, leise und verhalten gesprochen: >so is=es aber< (Z. 853). Simultan damit beginnt Didem mit einer Begründung (ja weil sie-, Z. 854), wird von Hatice gestört (<ja die fallen so au“f>, Z. 858) und fährt danach mit ihrer Formulierung fort (weil die türken die in deutschland sind die me“hrzahl sind, Z. 857, 859). Doch die von Hatice und Didem angeführten Argumente als Begründungen dafür, dass vor allem Türken als „Ausländer“ wahrgenommen werden, überzeugen Hikmet nicht; sie unterbricht Didem und fragt gereizt <ja u“nd ↑ > (Z. 860). Darauf expandiert Didem die vorangegangene Feststellung zu einer allgemeinen Regel: und wenn deu“tsche über ausländer schimpfen meinen sie ja auch meistens die tü“rken=un nischt- (Z. 859, 861f.). Als sie durch Formulierungsschwierigkeiten Unsicherheit signalisiert (längere Pause, Verzögerungspartikel, Abbruch, Wiederholung des letzten Teilsegments, Verzögerungspartikel, Z. 862), kommt Naran ihr zu Hilfe. An Hikmet adressiert, bekräftigt sie Didems Position und stuft sie hoch: ja des is die realitä“t aber auch HI ↑ (Z. 863). Narans Unterstützung und die enge inhalts- und ausdrucksseitige Kooperation zwischen ihr und Didem sind erfolgreich, denn Hikmet zeigt sich überzeugt (ja ↓ , Z. 866). Mit einer nachdrücklichen Reformulierung schließt Naran die Argumentation ab: des i“s die realität (Z. 865). Ein Vergleich mit dem voran- Der kommunikative Stil 283 gegangenen Beispiel zeigt, dass Naran ihre Assistentin aus dem „off“ unterstützt, solange sie mit Bestimmtheit agiert, dass sie aber dann eingreift, wenn sie Unsicherheit zeigt. Das nächste Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Didem ihr argumentatives und ihr Ausdrucksverhalten an Naran ausrichtet. Als Naran vorschlägt, in einer Filmszene das stereotype Bild der Deutschen über Türken („alle türkischen Männer sind Machos“) durch eine gegenläufige Szene aufzubrechen, vervollständigt Hatice die von Naran projizierte syntaktische Struktur mit einer eigenen Idee: 776 NA: unsere mei“nung i“st ← a“lle * türkischen männer sind 777 NA: machos ↓ und dann könnt man anschließend- * hm 778 HA: +die 779 NA: | → ja von ganz/ ← | 780 HA: wah“rheit zeigen von einer fami“|lie wo es wirklisch| 781 NA: |ja | nee“ d/ es gi“bt nichts 782 HA: rischtisch is ↓ so gu“t|is<| 783 NA: richtiges |oder falsches| es gibt u“nterschiede ↓ * 784 DI: |ja e“ben ↓ | 785 NA: >verstehste ↑ < * sind so viele- * viele möglichkeiten Hatices Idee ist, dem Stereotyp über den türkischen Familienvater ein Familienbild entgegenstellen, das der „Wahrheit“ entspricht und das die richtige und gute türkische Familie zeigt. Der Kategorisierung in „richtig“ und „falsch“ widerspricht Naran und belehrt Hatice: nee“ d/ es gi“bt nichts richtiges oder falsches * es gibt u“nterschiede ↓ * >verstehste ↑ < (Z. 781, 783, 785). Im Modus tiefer Überzeugung (nachdrückliches Sprechen, apodiktische Generalisierung, Existenzaussagen) verwirft sie das dichotom strukturierte, stereotype Bewertungsschema und plädiert für eine differenzierte Betrachtungsweise. Die Belehrung erfolgt direkt und unabgeschwächt; Naran spricht als moralische Autorität. Als Hatice kurz darauf ihre Szenenidee fortführt, dabei aber Narans Belehrung (noch) nicht umsetzt und wieder von „Wahrheit“ spricht, greift Didem ein. Dabei übernimmt sie Narans inhaltliche Position und belehrt jetzt ihrerseits Hatice: 807 DI: a/ aber <e“sası ge: ben-> gi“bt es doch gar nisch 808 Ü: die Wahrheit 809 DI: kuck dir mal Zeyneps familie an kuck dir mal dei“ne Die „türkischen Powergirls“ 284 810 NA: |jede fami|lie von uns |is a“nders ↓ | 811 DI: |familie an ↓ | |du kannst doch| nich sagen ↑ 812 DI: die e“chte familie zeigen ↓ isch mein |is nicht(...)| 813 HA: |nicht e“chte | 814 NA: |<nei“n eine a“ndere>| andere 815 DI: |<nei“n (ne andere>) | 816 HA: nicht e“chte äh: |(...) | 817 NA: möglichkeit |ja ↓ | 818 DI: |ja ↓ | 819 HA: <a“ndere möglischkeit ↓ > In dieser Sequenz wird deutlich, wie sehr Naran zum Modell für Didems Handeln geworden ist. Didem belehrt Hatice in ähnlicher Weise, wie Naran das vorher getan hat (nachdrückliches Sprechen, Existenzaussage die Wahrheit g“ibt es doch gar nisch (Z. 807f.), Formulierung im Regelformat du kannst doch nich sagen, Z. 811). Die weite Übereinstimmung kommt nicht nur inhalts- und ausdrucksseitig, sondern vor allem auch in der engen interaktiven Zusammenarbeit zum Ausdruck: Als Didem anhand lebensnaher Beispiele (Hatices Familie und die ihrer Freundin Zeynep) die Inadäquatheit von „wahr-falsch“-Dichotomien veranschaulicht, wenn sie auf soziale Strukturen angewendet werden (Z. 807, 812), wird sie durch Narans simultan geäußerte Feststellung jede Familie von uns is a“nders (Z. 810) inhaltlich unterstützt. Dann arbeiten beide gemeinsam mit Hatice, bis sie die vorgegebene Formulierung übernimmt und damit zu erkennen gibt, dass sie verstanden hat. Hatices Lernprozess wird von beiden eng kontrolliert, und argumentativ wird solange nachgesetzt, bis die Lernende das gewünschte Ergebnis produziert (a“ndere möglischkeit, Z. 819). 2.4.2 Aufklärungsdiskurs Die Diskussion über die Planung des Films entwickelt sich bald zu einer mit großem Interesse und hohem Involvement geführten Diskussion über zentrale Probleme aus dem Alltag der Mädchen. Der Verlauf der Diskussion wird jetzt wesentlich von Naran bestimmt; sie setzt thematische Relevanzen und ergreift mehrfach die Gelegenheit zum Aufklärungsdiskurs, in dessen Verlauf sie die Mädchen zum Hinterfragen von Stereotypen und Vorurteilen, zur Selbstreflexion und zum Erkennen eigenen Fehlverhaltens anzuregen versucht. Dabei wählt sie die Themen „Familiäre Situation“ und „Ausländerfeindlichkeit“, die zu den zentralen Konfliktbereichen gehören: einerseits die Der kommunikative Stil 285 Auseinandersetzung mit der Familie über traditionelle Verhaltensmodelle für junge Frauen und andererseits die Auseinandersetzung mit Deutschen und deren ausgrenzendem Verhalten (vgl. oben Teil II). a) Hinterfragen negativer Fremdbilder Das im Folgenden vorgestellte Verfahren wendet Naran im Anschluss an eine Diskriminierungserzählung an, die mit einer tiefen Betroffenheitsbekundung abgeschlossen wird. Sie hinterfragt das Deutungsschema, in dem das Ereignis verarbeitet wird, und die zentrale Kategorie, unter der es gefasst wird. Didem beendet die Schilderung eines Erlebnisses, in dem sie sich als „Ausländerin“ abgelehnt und abgewertet fühlte, mit einem emotionalen Ausbruch, der sich noch steigert, als Esra sich über ihre Verletzlichkeit wundert: 229 1431 DI: aber tro“tzdem tut des weh ↓ und tro“tzdem regt 1432 K: ERREGT 1433 DI: misch des auf ↑ 1434 K: # 1435 ES: warum soll des dir weh“tun ↓ 1436 DI: <es tu“t mir halt weh ↓ > * isch: desda 1437 K: HOCH, ERREGT # 1438 NA: | ← warum empfindet ihr | euch denn als 1439 DI: |>kann isch auch nichts dafür< | 1440 NA: au“sländer → *1,5* 1441 DI: eh weil des uns jeden tag 1442 DI: ei“ngeklickert wird ↑ |weil desweil wir weil wir| 1443 HA: |<nei: n wir wir | Noch überlappend mit Didems Reaktion (Z. 1436, 1439) stellt Naran die für den weiteren Diskussionsverlauf entscheidende Frage: warum empfindet ihr euch denn als au“sländer (Z. 1438, 40). Das ist eine Frage nach dem Selbstverständnis, das auf der negativen Fremdkategorie „Ausländer“ basiert, die die Mädchen in selbstverständlicher Weise übernommen haben. Mit dem Hinterfragen der Kategorie „Ausländer“ initiiert Naran eine intensive Reflexion und löst eine mit hohem Involvement geführte Diskussion aus, die nachhaltig auf die weitere Arbeit am Selbstbild wirkt. Für einige Mädchen ist diese Diskussion der Auslöser für eine intensive Beschäftigung mit bisher fraglos gegebenen Gewissheiten (vgl. unten Kap. 4.1.1). 229 Vgl. auch die ausführliche Analyse unten Kap. 4.1. Die „türkischen Powergirls“ 286 Die Bedeutung, die Naran der kritischen Hinterfragung der Kategorie „Ausländer“ beimisst, wird direkt im Anschluss deutlich. Als Hatice mit einem Themen- und Modalitätenwechsel die Nachdenklichkeit zu beenden versucht, die durch Didems emotionalen Ausbruch entstanden ist, wird sie von Naran unterbrochen (Z. 1495): 1491 HA: zum beispielbaksana ↑ * des warn tü“rke 1492 K: schau mal 1493 HA: der gesagt hat- * → wie soll isch sa“gen ↑← wir 1494 NA: |ich würd gern | dieses thema 1495 HA: machen au“ch |manchmal fehler-| 1496 NA: |> → tut| mir leid aber ← < aber isch würd gern 1497 HA: |>ups< | 1498 K: KOMMENTAR ZU NA,DIE SIE UNTERBROCHEN HAT 1499 NA: dieses thema mal wei“ter ← be/ bespre“chen → weil- 1500 NA: >sowie fühlt ih“r eusch denn hier-< *1,5* 1501 HL: |also ich | fühl mich genauso wie DI- 1502 ES: |also i“ch-| am a“nfang 1503 HL: |die hat mir aus der seele >geredet<| 1504 ES: |hab ich mich vo“ll darüber | geärgert Auf die Unterbrechung durch Naran reagiert Hatice mit einem erstaunten Ausruf >ups< (Z. 1497); d.h., der Eingriff kommt für sie unerwartet und überraschend. Simultan dazu entschuldigt sich Naran >tut mir leid aber-< (Z. 1496) und begründet den Eingriff mit der Relevanz des Themas: <aber isch würd gern dieses thema mal wei“ter ← be/ bespre“chen → weil- (Z. 1496; 1499). Dann stellt sie vorsichtig und verhalten die persönliche Frage >sowie fühlt ich“r eusch denn hier-< (Z. 1500). Wie die weiteren Züge zeigen, akzeptieren die Mädchen Narans Vorgehen: Hatice steckt wortlos zurück, Hülya und Esra beantworten die Frage und sprechen offen von ihren verletzten Gefühlen; sie ratifizieren die Fortführung des Themas und der Interaktionsmodalität. b) Intelligente Abwehrverfahren Das Thema „Ausländerfeindlichkeit“ generiert eine ganze Reihe von Diskriminierungserzählungen. Eine davon ist besonders ausgebaut: Didem wurde von zwei älteren deutschen Frauen, bei denen sie arbeitete, mit einem Ereignis konfrontiert, bei dem zwei türkische Männer mit dem Messer aufeinander losgegangen waren. Als die Deutschen Didems Meinung zu dem Vorfall hören wollten, wurde sie wütend, weil sie das Verhalten von wildfremden Männern Der kommunikative Stil 287 beurteilen sollte, nur weil es Türken waren. Die Deutschen nahmen den Fall zum Anlass, um „Südländer“ als heißblütige Schläger zu kategorisieren, von denen sie sich Didem gegenüber scharf abgrenzten. Damit machten sie Didem zur Vertreterin der ethnischen Kategorie „Türke“ und befragten sie zu einem negativ bewerteten türkischen Verhalten. Didem nahm die Fremdzuschreibung an, fühlte sich als Türkin beschämt und zutiefst verletzt: isch war fast am heu“len ↓ * isch war so“ fertig ↓ (Z. 1072). Darauf präsentiert Naran, die lange Zeit still zugehört hatte, ein Verfahren für den Umgang mit verletzendem Verhalten: 1072 DI: isch war fast am heu“len ↓ * isch war so“ fer|tig ↓ | 1073 NA: |nee | 1074 NA: <da“ muss man> → pass mal auf ↓← da mu“ss man genug 1075 NA: selbstsicherheit ← haben ↑→ also gewitzt genug 1076 NA: → sein=un sagen ← ** < ← ou“ da muss ich ihnen 1077 NA: den streit von meinen zwei deutschen nachbarn> 1078 K&: MEHRERE LACHEN LEISE 1079 NA: erzähln ↓ * da“s müssen sie sich anhörn ↓ * 1080 NA: → (weißte) ← * < ← da mu“ss man einfach echt coo“l 1081 NA: bleiben ↓ > * das muss man lernen ↓→ Anstelle der Übernahme der negativen Fremdzuschreibung schlägt Naran den Gegenangriff vor, eine Retourkutsche, die auf der Fall-Umkehr basiert; sie rät Didem, den Deutschen einen vergleichbar skandalösen Fall mit deutschen Akteuren entgegenzuhalten (Z. 1076f., 1079). Der Vorschlag gefällt den Mädchen; sie reagieren mit leisem Lachen (Z. 1078). Interessant sind die Rahmung des Retourkutschen-Verfahrens und das Formulierungsformat. Als notwendige Voraussetzungen für einen Akteur, der das vorgestellte Verfahren praktiziert, führt Naran an: Er muss genug selbstsicherheit ← haben → und gewitzt genug sein (Z. 1075f.); das sind Eigenschaften, die Didem (noch) nicht erworben hat, die Naran jedoch gelernt hat: Sie hat genug Selbstsicherheit erworben und ist jetzt genügend gewitzt, um mit einer solchen Retourkutsche echt cool reagieren zu können (Z. 1080). Das Verfahren ist im Format einer Maxime formuliert und hat durch die mehrfache Verwendung des Modalverbs müssen sowohl in der Festlegung notwendiger Voraussetzungen (da muss man Selbstsicherheit haben, da muss man gewitzt sein), als auch in der Forderung das muss man lernen (Z. 1081) den Charakter einer eindringlichen Unterweisung. Der Auftrag an Didem lautet: Wenn du dich nicht weiterhin von vorurteilsbehafteten Angrif- Die „türkischen Powergirls“ 288 fen verletzen und den Angreifer gewinnen lassen willst, ist es unbedingt erforderlich, dass du ein schlagkräftiges Abwehrverfahren, so eines wie ich dir vorgeführt habe, erlernst. Kurze Zeit später demonstriert Naran das Retourkutsche-Verfahren an einem anderen Beispiel. Als Hülya mit einem weiteren Diskriminierungserlebnis beginnt, wird sie von Naran unterbrochen: 1253 HY: und was i“sch blö“d finde weißt du ↑ * isch werde- 1254 HY: ← wi“rklisch → isch werde von je“dem zweiten 1255 HY: deutschen gefragt warum isch nisch ko“pf trag äh 1256 NA: |frag |se doch mal ob sie 1257 HY: kop“ftuch trage ↑ * ob ich |[...]| 1258 NA: nich äh warum sie nich in die ki“rche gehn ↑ [...] Nachdem Hülya mit Relevanzhochstufung (Negativbewertung blöd, Modalpartikel wi“rklisch, langsameres und nachdrückliches Sprechen) und Generalisierung (von je“dem zweiten deutschen, Z. 1254f.) das diskriminierende Verhalten von Deutschen eingeführt hat, unterbricht Naran und wendet das Umkehr-Verfahren auf den aktuellen Sachverhalt an: Die Frage der Deutschen nach dem fehlenden Kopftuch deutet sie als religiös motivierte Frage im Sinne von „bist du keine Muslima, weil du kein Kopftuch trägst? “, kehrt sie mit einer entsprechenden christlichen Symbolik um und wendet sie gegen den Frager (Z. 1265f.). Sie übt das Verfahren ein und macht es den Rezipientinnen vertraut. Dann erfolgt die explizite Belehrung: 1268 NA: <ihrihr mü“sst euch- ** ← ihr müsst anfangen nicht 1269 NA: immer nur zu schlucken ↑→ und aggressiv → zu wern ↑← 1270 NA: ihr müsst euch ge“genargumente überlegen ↓ Naran nennt zunächst die Verfahren, die die Mädchen bisher in Reaktion auf diskriminierende, verletzende Äußerungen verwendeten: schlucken, d.h. ignorieren und sich abwenden, dabei aber zutiefst verletzt sein, und aggressiv wern, d.h. die Verletzung durch Beschimpfung oder tätliche Gegenwehr zeigen. Das sind genau die Abwehrverfahren, durch die sich die Mädchen bisher in der Schule „auffällig“ gemacht haben und durch die sie an ihrer Ausgrenzung mitgewirkt haben (vgl. oben Teil II). Im Format einer eindringlichen Anweisung (ihr mü“sst) fordert Naran dazu auf, diese Verfahren aufzugeben und neue, intelligentere zu erlernen: schlagfertige Gegenargumente, mit denen man den Angreifer verblüffen und ihn intellektuell schlagen kann. Der kommunikative Stil 289 Dann hebt Naran die Lernbarkeit solcher intelligenter Verfahren hervor und belegt das anhand der eigenen Biografie: 1271 NA: das: iseben=n le: rnprozess ich hab als- ** als 1272 NA: ich noch jün“ger war hat mich das au“ch nur aufgeregt 1273 NA: ← und oft bin ich stumm geblieben ↑ ** weil ich mich 1274 NA: nich weh: rn konnte → *2* 1275 HA: darf ich was sa“gn ↓ <letztens Sie legt offen, dass sie in ihrer Jugend diskriminierende Erfahrungen in ähnlicher Weise verarbeitete, wie die Mädchen das jetzt tun. Durch diese Ähnlichkeitsrelation fundiert sie die Vorbildfunktion, die sie für die Mädchen hat: An ihrem Beispiel können sie lernen, was sie selbst erreichen können, um ihre Situation positiv zu verändern, wenn sie sich von ihrem Verhalten leiten lassen. Die engagierte, intensive Belehrung hinterlässt tiefen Eindruck bei den Rezipientinnen; es folgt eine nachdenkliche Pause. Auffallend ist der nächste Zug von Hatice: Mit einer „höflichen“ Formel bittet sie um das Rederecht: darf ich was sa“gn und startet erst dann mit einer weiteren Diskriminierungserzählung. Es ist das erste Mal im Verlauf dieser Diskussion, dass Hatice, eines der jüngeren Mädchen, sich mit Mitteln konventioneller Höflichkeit zu Wort meldet und explizit um das Rederecht bittet. Bisher beteiligte sie sich entweder durch einen Start „in medias res“ oder sie leitete ihre Beiträge durch gruppensprachliche Formeln der Aufmerksamkeitssicherung ein, z.B. durch Interjektion ey oder hey wisst ihr und ey isch schwör. Die Veränderung in Hatices Verhalten an dieser Stelle zeigt die Wirkung, die Narans eindringliche Belehrung hinterlassen hat: Interaktionsmodalität und Ausdrucksverhalten haben sich verändert, Hatice ist ernster, nachdenklicher und „höflicher“ geworden. c) Hinterfragen ethnischer Stereotype In dieser Diskussion versucht Naran mehrmals die Mädchen dazu zu motivieren, stereotypes Denken nicht nur bei anderen zu sehen, sondern auch das eigene Verhalten daraufhin zu überprüfen. Eine Gelegenheit bietet sich, als Didem und Esra sich in ein Streitgespräch über angemessene Reaktionen auf vorurteilsverhaftetes Verhalten von Deutschen verstricken. Esra plädiert dafür, dass man sich über ethnische Stereotype nicht aufzuregen brauche, während Didem immer wieder hervorhebt, dass stereotype Zuschreibungen wehtun, auch wenn die Zuschreibung nicht auf einen persönlich zutrifft. Naran Die „türkischen Powergirls“ 290 ergreift Partei für Didem, bekundet Verständnis dafür, dass es weh tut, wenn man nur als Angehörige einer negativ bewerteten ethnischen Kategorie gesehen wird. Dann fährt sie fort: 2008 NA: mich störn auch viele sachen → vor allen dingen ← 2009 NA: wenn=s irgendwie ← un“reflektiert un un“gerechfertigt 2010 NA: ist → also wenn mal < ← ein“er wa/ eine“r oder eine“ ↑ 2011 NA: was macht ↑ dann heißt es gleich alle ↓ > → wa“s * 2012 HI: ja 2013 NA: was mi“ch immer stört ↓ * aber des scheint so=n 2014 NA: allge-/ des is für mich immer so=n ← allgemeines 2015 NA: phänomen ↑→ * von den me“nschen des-/ < ← wi“r machen=s 2016 NA: auch ↓→ > → lass mich mal ausreden ← ** <wenn euch was 2017 K: ZU HA,DIE SICH ZU WORT MELDET 2018 NA: → von denen ← * von irgendeiner deu“tschen nich passt 2019 NA: ← scheiß deu“tsche ↓→ * ne ↑ > 2020 K: BETONT ABFÄLLIG 2021 ES: → ja aber das ← mei“nen 2022 ES: wir doch gar net ernst ↓ * 2023 NA: >ja vielleicht meinen 2024 NA: sie=s doch au=nich ernst ↑ < Naran beschreibt zunächst, dass sie das ungerechtfertigte Verallgemeinern ärgert also wenn mal ← <einer wa/ einer oder eine“ ↑ was macht ↑ dann heißt es gleich a“lle ↓ > → (Z. 2010f.). Dann generalisiert sie stereotype Sehweisen, die Didem und Esra in der vorangegangenen Argumentation auf Deutsche bezogen hatten, als allgemein menschliche Wahrnehmungsmuster (aber des scheint so=n allge-/ des is für mich immer so=n ← allgemeines phänomen ↑→ * von den me“nschen, Z. 2013-2015). Die Generalisierung ermöglicht dann auch die Zuschreibung an die eigene ethnische Gruppe, die direkt im Anschluss folgt: Mit großem Nachdruck (langsamer, lauter, starke Akzentuierung) stellt Naran fest: < ← wi“r machen=s auch ↓→ > (Z. 2015f.). Den Unterbrechungsversuch von Hatice, die sich gerade ungeduldig zu Wort meldet, wehrt sie entschieden ab (→lass mich mal ausreden ← , Z. 2016) und liefert dann, wieder in nachdrücklichem Ton, den empirischen Beleg: <wenn euch was → von denen ← * von irgendeiner deu“tschen nich passt ← scheiß deu“tsche ↓→ * ne ↑ > (Z. 2016, 2018f.). Sie deckt auf, dass sie die stereotypen Sehweisen und Bewertungsmuster, die die Mädchen den Deutschen zuordnen, auch bei ihnen beobachtet hat. Damit hat sie Erfolg. Esra ratifiziert die Zuschreibung, d.h., sie gesteht zu, dass auch sie stereotyp bewertet, wenn das Der kommunikative Stil 291 Verhalten von Deutschen sie stört, stuft die eigene stereotype Sehweise jedoch als nicht ernst gemeint herab ( → ja aber das ← mei“nen wir doch gar net ernst, Z. 2021f.). Darauf reagiert Naran mit dem Hinweis, dass man auch den Deutschen zubilligen müsse, dass stereotype Äußerungen nicht ernst gemeint sein könnten. D.h., sie achtet auf eine gleichwertige Behandlung der Fälle. Narans Nachhaken und ihr Insistieren auf Selbstreflexion sind erfolgreich: Im Folgenden führen die Mädchen Belege für ihr Verhalten gegenüber Deutschen an, reflektieren es, arbeiten Unterschiede heraus und gestehen selbstkritisch ein, dass auch sie stereotype Bewertungen gegenüber anderen Migrantengruppen verwenden, z.B. scheiß Albaner. 230 Kurze Zeit später macht Naran auf ein Strukturmuster aufmerksam, das mit den Machtverhältnissen zwischen Mehrheit und Minderheit in einer Gesellschaft zusammenhängt: Wenn in einer Auseinandersetzung zwischen Angehörigen von Mehrheit und Minderheit die Sachargumente ausgehen, rekurriert der Mehrheitsangehörige häufig auf die Vormachtstellung seiner Gruppe und verwendet ethnische Beschimpfungen, um den anderen zum Schweigen zu bringen. In diesem Muster deutet sie das Erlebnis der Mädchen vom vorangegangenen Tag, als sie in der Straßenbahn aus Versehen eine Deutsche anstießen, die sie dann als „scheiß Ausländer“ beschimpfte: 2216 NA: ja ↑ und da“nn fing des a“n ↓ mit ausländer 2217 NA: < → ja weil ← * ← weil sie kei: ne anderen argumente 2218 K: BESONDERS LANGSAM UND PRONONCIERT 2219 NA: mehr gefu: nden hat ↓ > → * ja ↑ * und dann i“s des thema 2220 NA: scheiß ausländer gekommen des sind die auf die man 2221 NA: immer ru“mhacken kannja ↑ * also immer auf=ne 2222 NA: ← mi“nderheit ↑→ * ja ↑ die nich so viel schutz genie“ßt 2223 NA: in einem land * ← kam=man schön drau“f → * Naran stellt die ethnische Beschimpfung als typisches Muster dar, das Mehrheitsangehörige verwenden, die argumentativ nicht mehr weiter kommen, aber das „letzte Wort“ behalten wollen (Z. 2216f., 2219). Dann generalisiert sie das Muster, das für Angehörige der Mehrheit risikoarm ist, weil Minderheiten einen geringeren gesellschaftlichen Schutz genießen (Z. 2219-2223). 230 Vgl. auch Narans Erfolg, als sie den „Powergirls“ vorwarf, dass sie sich den italienischen Mädchen im Mädchentreff gegenüber ähnlich ausgrenzend verhielten, wie sie selbst sich von Deutschen behandelt fühlten. Dieser Vorwurf traf sie sehr und sie änderten ihr Verhalten gegenüber den Italienerinnen; vgl. oben Teil I, Kap. 3.2. Die „türkischen Powergirls“ 292 Mit der Erklärung des Verhaltens der deutschen Frau - eines singulären Falles - durch ein allgemeines Verhaltensmuster zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen wird der Fall neu gerahmt, und das singuläre Verhalten kann durch die neue Rahmung als weniger verletzend gedeutet werden. Im Anschluss daran nutzt Naran die von ihr selbst hergestellte generelle Betrachtungsweise, um wieder zur kritischen Selbstreflexion hinzuführen: 2224 NA: des is ← genauso wie in der türkei ↑→ wenn zum 2225 NA: beispiel die ku: rden oder aleviten von der mehrheit 2226 NA: >beschimpft werden ↓ < * des is genau“ des gleische 2227 NA: in >grün ↓ < Die Verarbeitungsformen von ungleichen Machtverhältnissen zwischen Mehrheit und Minderheit, die sie bei den Deutschen zeigte, führt sie jetzt auch bei den Türken vor, die ebenfalls ethnische (Kurden) und religiöse (Aleviten) Minderheiten benachteiligen und unterdrücken. Narans Argumentation folgt auch hier wieder dem folgenden Aufklärungsmuster: Ein singulärer Fall wird durch ein zugrunde liegendes allgemeines Muster erklärt, das dann auch auf das eigene Verhalten oder das Verhalten der eigenen ethnischen Gruppe angewendet und zur kritischen Reflexion genutzt werden kann. Über die Hervorhebung allgemeiner Muster versucht sie die Mädchen dazu zu bringen, dass sie ausgrenzendes und verletzendes Verhalten nicht nur als Spezifik der Deutschen zu sehen. Der weitere Diskussionsverlauf zeigt, dass Narans Bemühungen, stereotype Sehweisen und Beurteilungen aufzubrechen, Erfolg haben. Als die Mädchen über das aufdringliche Verhalten albanischer Männer sprechen, initiiert Didem die kritische Auseinandersetzung mit Verhaltensmustern in der eigenen ethnischen Gruppe. D.h., sie zeigt, dass sie von Naran gelernt hat: 2620 HY: wenn isch in der stadt bin ↑ und da äh macht misch 2621 HY: einer an * des spielt keine ro“lle ob des=n 2622 DI: |<ja un was is denn| mit unse|ren tü“rken ↓ 2623 HY: alba“ner |is oder [...] ↓ | 2624 DI: ← ja was is mit unseren tü“rken ↓ mit unseren 2625 DI: türkischen männern → * die zwischen dreißisch und 2626 DI: fünfzisch sind ↑ und verheiratet ↑ zuhause haben 2627 DI: sie eine tochter die seschzehn siebzehn ist ↑ > * 2628 DI: und dann machen sie die leute ↑ * äh auf der straße 2629 DI: am paradeplatz anw: eil sie denken dass es grad Der kommunikative Stil 293 2630 NA: | ← ja → | 2631 DI: deu“tsche sind ↓ *|deu“t |sche <mädschn ↓ > * 2632 HI: → woher weißt du des- *|hast| du mi“tgekriegt ↓← 2633 DI: |ja“ ↓ | 2634 NA: |nee des is mi“r | 2635 DI: |die“ hat die“ hat des| Noch überlappend mit Hülyas Feststellung (dass jede Anmache sie stört, nicht nur die von Albanern), beschreibt Didem das Verhalten, das gerade an den Albanern scharf kritisiert worden war, auch als typisch für türkische Männer, die als Väter heiratsfähiger Töchter deutsche Mädchen belästigen, von denen sie annehmen, dass sie im Gegensatz zu türkischen Frauen, sexuell freizügig sind. Dabei spricht sie - ähnlich wie Naran - nachdrücklich und in belehrendem Ton (mehrfache Hochstufung des thematischen Objekts, langsameres, lauteres und deutlich artikulierendes Sprechen). Die Beschreibung des Verhaltens türkischer Männer basiert auf der Umkehr der ethnischen Konstellation, die den bisherigen Diskriminierungserzählungen zugrunde lag, und in der die Deutschen die „Täter“ und die Türken die „Opfer“ waren. Diese Darstellung stößt auf gespanntes Interesse der anderen, und Hikmet fragt sofort nach dem empirischen Beleg. Als Didem auf Naran verweist, die das als junges Mädchen erlebte, weil sie für eine Deutsche gehalten wurde, wird Naran zur Erzählung gedrängt. Über die Erfahrung Narans, die von den Türken als Deutsche betrachtet und behandelt wurde, erleben die Mädchen eine perspektivische Erweiterung, da sie jetzt (durch Naran in der Rolle einer Deutschen) eine Deutsche in der Opferrolle sehen, in die sie durch Türken gebracht wurde¸ d.h., das schlichte „schwarz-weiß“-Deutungsschema, in dem Deutsche die „schwarze“ und Türken die „weiße“ Seite vertreten, greift nicht mehr. Das Ereignis ruft vor allem auch wegen der Doppelmoral türkischer Männer Empörung hervor. In der türkischen Gemeinschaft wird von Ehefrauen und Töchtern absolut „ehrenhaftes“ Verhalten gefordert und Verstöße werden von den Männern mit äußerster Härte geahndet (vgl. oben Teil II). In Narans Erzählung sprechen türkische Männer minderjährige Mädchen aus einer anderen ethnischen Gruppe an, weil diese dem genannten Ehrenkodex nicht unterliegen. Die Empörung der Mädchen über das Verhalten von Männern aus der eigenen ethnischen Gruppe nimmt Naran jetzt zum Anlass, um die zugrunde liegenden patriarchalischen Strukturen der türkischen Gemeinschaft in den Fokus zu bringen und kritisch zu beleuchten. Damit rührt sie an die Ursachen für die innerfamiliären Konflikte der Mädchen. Die „türkischen Powergirls“ 294 d) Kritik an traditionellen Geschlechterrollen Der Weg dazu führt wieder über eine generalisierende Feststellung zu gesellschaftlichen Traditionen, in denen Naran das Verhalten der Männer begründet sieht: 2717 NA: ich=erleb bei vie“len ← südländischen mä“nnern ↑ * ja ↑ 2718 NA: wo bei den frau“en verbo“ten is → mit den mä“nnern 2719 NA: zusa“mmen zu sein ← bis zur ho“chzeitsnacht ↑ * da 2720 NA: sind die- * doch auch unsere männer ↑ ständig auf 2721 NA: der geilen tou“r ↓→ Die Regeln einer Gesellschaft, die jungen Frauen und Männern jeglichen Kontakt vor der Ehe verbietet, betrachtet Naran als einen der Gründe dafür, dass unsere Männer ständig auf der geilen Tou“r sind (Z. 2720). Solche Regeln führen in der türkischen Gemeinschaft zu einer eklatanten Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen, wenn es um Fragen der „Ehre“ (namus) und der „Anständigkeit“ geht. Die Last der „Ehre“ liegt bei den Mädchen und Frauen. Das bedeutet für sie, dass mit Beginn der Pubertät ihr Bewegungsraum außerhalb der Familie stark eingeschränkt wird und sie zur strikten Unterordnung unter Regeln und Vorschriften, die der Aufrechterhaltung der Familienehre und des Familienansehens dienen, verpflichtet werden. 231 Im Gegensatz dazu erfahren die jungen Männer kaum eine Einschränkung ihres Bewegungsraums; sie können voreheliche sexuelle Erfahrungen dort machen, wo sie die Gelegenheit dazu sehen, z.B. bei Mädchen aus anderen Ethnien. 232 231 Diese Regeln können in den türkischen Familien des untersuchten Stadtgebiets sehr unterschiedlich sein, je nachdem ob sich die Familie als eher „modern“ oder eher „traditionell religiös“ versteht; vgl. dazu oben Teil I, Kap. 2.3. In einem jedoch stimmen viele Familien überein: Sie streben danach, ihre Töchter möglichst jung zu verheiraten, da das Gebot der Jungfräulichkeit immer noch einen hohen Stellenwert hat. Je älter und beruflich selbstständiger die Mädchen werden, desto schwieriger wird es für die Familien, ihren außerhäuslichen Umgang zu kontrollieren. Zu den Verhältnissen in den Familien der „Powergirls“ vgl. oben Teil II, Kap. 4. 232 Bei einem selbst entworfenen Theaterstück türkischer Jugendlicher in Mannheim spielte dieses Thema eine zentrale Rolle. Die Mädchen fürchteten, dass ihre Freunde zu Prostituierten gehen oder zu deutschen Mädchen, die sich mit ihnen leichtfertiger einließen als türkische Mädchen das tun dürften; vgl. auch die Interviews mit türkischen Erziehern, die berichteten, dass türkische junge Männer deutsche Mädchen anmachen würden, in der Annahme, dass die im Gegensatz zu türkischen Mädchen sexuell freizügig seien. Der kommunikative Stil 295 Mit großem Nachdruck bestätigt Naran die Mädchen in ihrem Aufbegehren gegen eine Tradition, die Mädchen restriktiv behandelt, während sie Jungen viele Freiheiten zugesteht. Sie, die selbst aus einer sehr traditionellen Familie stammt und bereits früh verheiratet wurde, schildert mit Eindringlichkeit das Dilemma junger Frauen, die vor der Ehe dem Jungfräulichkeits- und Anständigkeitsgebot unterworfen und in der Ehe dann dem Vorwurf der Unerfahrenheit ausgesetzt sind. An der eigenen Biografie führt sie das Leid eines Mädchens vor, das erleben muss, dass der Ehemann ihr Unaufgeklärtheit vorwirft, die die türkische Gemeinschaft von ihr gefordert hat, und sie mit sexuell erfahrenen Frauen betrügt. 233 Und es macht sie besonders wütend, dass diese Art zu leben nicht in ihrer eigenen Entscheidung lag, sondern ausschließlich von den Regeln der türkischen Gemeinschaft bestimmt wurde: 2974 NA: <ich hab=s (=jungfräulich in die Ehe gehen) ni“ch 2975 NA: für mich gemacht ↓ * ich hab=s für meine e“ltern 2976 NA: gemacht ↑ ich hab=s für die scheiß türkische 2977 NA: gesellschaft gemacht → und alle drumherum ← ich hab=s 2978 NA: nich für mi“ch gemacht- * ich hab nie“ die wahl 2979 NA: gehabt darüber zu entschei“den Gegen die Unterordnung unter die Regeln der türkischen Gemeinschaft und gegen die Eingeschränkheit des Lebens für Mädchen und Frauen kämpft sie an. Dadurch, dass sie die eigenen leidvollen Erfahrungen schonungslos ausbreitet und die Konsequenzen aufzeigt, kann sie die Mädchen, die selbst in ähnliche familiäre Probleme verstrickt sind, darin bestärken, sich nicht in vorgegebene Muster einzwängen zu lassen, sondern weiterhin die Kraft aufzubringen, neue Wege auszuprobieren und sie eigenständig zu gehen. Dadurch, dass sie selbst den Entwicklungsprozess von einem traditionellen türkischen Mädchen zu einer eigenständigen, berufstätigen Frau durchgemacht hat, wirkt sie auf die Mädchen in hohem Maße überzeugend und hat für sie Vorbildcharakter. 2.4.3 Fazit: Verfahren im Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs In dem vorgestellten Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs verwendet Naran folgende Techniken und Verfahren: 233 Ähnliche Erfahrungen berichteten auch Informantinnen aus dem Stadtgebiet, vgl. oben Teil I, Kap. 2.3.1. Die Darstellungen in Kelek (2005) verweisen in die gleiche Richtung. Die „türkischen Powergirls“ 296 - Sie schafft Anlässe zur Übernahme von sozialer Verantwortung; dabei unterstützt sie die Mädchen „off“ oder „on stage“ und kontrolliert ihr Agieren. - Sie setzt thematische Prioritäten, die hohe Relevanz für die Mädchen haben (Kernprobleme in Familie und Schule) und insistiert auf der Einhaltung der Themen. - Sie motiviert zum Sprechen über schmerzliche Diskriminierungserfahrungen und löst damit die Bereitschaft aus, bessere Verarbeitungsmöglichkeiten und -verfahren zu erlernen. - Sie führt intelligente Abwehrverfahren vor und übt sie ein: „Retourkutsche mit Fallumkehr“. - Stereotype Denk- und Verhaltensmuster bricht sie mit folgendem Verfahren auf: Über die Analyse eines negativen Erlebnisses und die Generalisierung des zugrunde liegenden Handlungsmusters wird die Anwendung auf andere Fälle möglich - und damit auch auf das eigene Handeln. Darüber erfolgt die Anregung zur Selbstreflexion. - Durch die Darstellung der Außenperspektive auf das Verhalten von Angehörigen der eigenen Ethnie gelingt das Aufbrechen des gewohnten Bewertungsschemas: „wir, die Türken, sind die Guten und die Opfer, die anderen, die Deutschen, sind die Bösen und die Täter“. - Die eigene biografische Entwicklung fungiert als „Anschauungsmaterial“ für Belehrung und Aufklärung und dient gleichzeitig als „Beleg“ für die Wirksamkeit der gelehrten Inhalte und Verfahren. In dem vorgeführten Gesprächsausschnitt zeigen die Reaktionen der Mädchen, dass Narans Aufklärung erfolgreich ist. Sie zeigen hohes Interesse, sind offen und kooperativ, lassen sich von den vorgestellten Denk- und Handlungsweisen überzeugen und beginnen, sie zu übernehmen. Naran ist zur neuen Leitfigur geworden und zum Bezugspunkt für allmählich einsetzende Veränderungen im kommunikativen Stil der „Powergirls“. Das wird vor allem am Ausdrucksverhalten von Didem, die von Naran zu ihrer Assistentin gemacht wurde, deutlich; sie orientiert sich auf der inhaltlichargumentativen ebenso wie auf der Ausdrucksebene an Narans Handeln. Das werde ich im folgenden Kapitel zeigen. Der kommunikative Stil 297 2.5 Stilistische Veränderungen 2.5.1 Sprechweise als Moderatorin vs. „Powergirl-Stil“ Die folgende Darstellung basiert auf derselben Situation, die in den vorangehenden Kapiteln (2.3.2.3 und 2.4) bereits eingeführt wurde: Naran hat Didem die Verantwortung für die Planung des Videofilms übertragen. Mit der Übernahme der Rolle sind für Didem neue Interaktionsanforderungen verbunden: Sie muss selbstständig die inhaltliche Planung des Films leiten; sie muss den thematischen Verlauf der Diskussion steuern, die Gruppenmitglieder immer wieder auf anstehende Planungsaufgaben fokussieren und konkurrierende Nebenaktivitäten, störende Initiativen zum Wechsel von Thema und Interaktionsmodalität u.Ä. abwehren; sie muss Einwände gegen Vorschläge geregelt bearbeiten, und vor allem muss sie spontanes, kreatives Ideensammeln und szenisches Ausagieren von Ideen mit zielorientiertem Handeln verbinden. Bei der Bewältigung dieser Aufgaben verwendet Didem sprachliche Verfahren und Mittel, die den Disziplinierungs- und Belehrungstechniken, die Naran verwendet (vgl. Kap. 2.4), sehr ähnlich sind: Sie spricht mit Nachdruck, lauter, langsamer, mit starken Akzentuierungen und deutlich artikulierend; sie verwendet komplexere syntaktische Konstruktionen, keine derbe Lexik und spricht standardnah. Das wird bereits bei der Übernahme der neuen Rolle deutlich, als Didem vor der Aufgabe steht, die Aufmerksamkeit der Gruppenmitglieder auf die Filmplanung zu fokussieren. Dabei ändert sich ihre Sprech- und Formulierungsweise: 234 46 DI: wir ham jetz- * ← diese paar li“sten ja ↑ die- * 47 DI: einige von euch ausgefüllt haben und die andern 48 DI: noch nicht →↑ Als sie unterbrochen wird, spricht sie noch lauter, nachdrücklicher und überdeutlich artikulierend: 63 DI: gu: t ↓ * <also die the“men ↑ die nischt 64 DI: ← öffentlisch si“nd ↓→ > ** die themen die nicht 65 DI: öffentlich sind ↓ ** si“nd- ** zum beispiel- ** 234 Um Didems Ausdrucksverhalten in der Moderatorenrolle konzeptionell zu erfassen, verwende ich die Bezeichnung „Sprech- und Formulierungsweise“ anstelle des in der Gesprächsforschung häufig verwendeten Terminus „Gesprächsstil“, da „Stil“ im Rahmen dieser Arbeit als „sozialer Stil“ gefasst wird. Zu „Gesprächsstilen“ vgl. den Überblickartikel von Betten (2001). Die „türkischen Powergirls“ 298 66 DI: von der HI striptease ↑ ** kleine- * 67 DI: theaterstücke ↓ *1,5* un=dann noch mo“deschau- Diese Art zu sprechen kontrastiert stark zu dem für die Gruppe charakteristischen Umgangston, und Didem gelingt es damit, sich Gehör zu verschaffen und die Aufmerksamkeit der Mädchen zu sichern. Die nachdrückliche (langsamer, lauter sprechend, deutliche Artikulation, starke Akzentuierungen), standardnahe Sprechweise mit komplexen Formulierungen verwendet sie in der Rolle der Moderatorin, die die Diskussion über den Film leitet. Doch sie bleibt nicht durchgehend bei dieser Art zu sprechen, sondern wechselt mehrfach zwischen dem Sprechen als Moderatorin und dem Sprechen als Gruppenmitglied. Solche Wechsel kommen in bestimmten strukturellen Positionen vor: bei selbstreflexiven Kommentaren bzw. bei Kommentaren zu Beiträgen anderer und bei spielerisch-kritischen Nachfragen. a) Wechsel zum Gruppenstil in Kommentaren Bereits bei der Auflistung der Themen, kurz nach dem vorherigen Transkriptausschnitt findet ein solcher Wechsel bei einem selbstreflexiven, metalinguistischen Kommentar statt: 71 DI: und dann noch des geisterhaus ↓ also- ** die 72 DI: geschischte die hier dann- *1,5* >stattgefunden ↑ < 73 DI: ** ← stattfinden sollte ↓→ * >oder so ähnlich * 74 K: BESONDERS DEUTLICH 75 DI: scheiß deutsch< LACHT LEICHT 76 K: LEICHT LACHEND 77 HI: ega“l ↓ Als Didem den letzten Szenenvorschlag auf der Liste zu erläutern beginnt, hat sie Formulierungsprobleme, angezeigt durch Abbruch, längere Pause, dem probeweisen Formulieren der Verbform >stattgefunden ↑ < (Z. 72) und dem leiseren, vorsichtigen Sprechen mit Frageintonation. Nach einer weiteren Pause erfolgt die Selbstkorrektur zu ← stattfinden sollte ↓→ (Z. 73), langsamer gesprochen und besonders deutlich artikuliert. Wieder leiser und zurückgenommen drückt sie in dem selbstreflexiven Kommentar ihre Unsicherheit über die richtige grammatische Form aus (>oder so ähnlich) und schließt den Formulierungsprozess mit dem derben metalinguistischen Kommentar scheiß deutsch< (Z. 75) ab. Der kommunikative Stil 299 Der Bewertungsausdruck scheiß, der zum Normalton in der Ingroup gehört, kontrastiert mit der elaborierten Ausdrucksweise, die Didem in der Ausfüllung der Moderatorenrolle verwendet. Der Kommentar scheiß deutsch (Z. 75) ist spielerisch modalisiert (leiser, zurückgenommenes Sprechen, leichtes Lachen); Didem weist selbst-ironisch auf die sprachlichen Schwierigkeiten hin, die sie als „Powergirl“ mit der neuen Aufgabe hat, nämlich elaboriert zu formulieren, und erhält Unterstützung von Hikmet (Z. 77). Auch im folgenden Beispiel wird der Unterschied zwischen dem Sprechen als Moderatorin und dem Sprechen als Gruppenmitglied deutlich. Bei der Bewertung der Szenenvorschläge unterscheiden die Mädchen zwischen solchen, die sie nur in der Gruppe und solchen, die sie in der Öffentlichkeit zeigen wollen. Zu Beginn des Transkriptausschnitts fragt Didem, welche Szenen zu welcher Kategorie gehören sollen: 80 DI: was- * wollt ihr auf kei“nen fall und was: äh 81 DI: findet ihr ist eine gute idee für ni“scht 82 DI: öffentlich ↓ 83 HA: <vergewa“ltigung ↓ > * 84 HL: ← nei: n des 85 DI: > → find=sch au=scheiße 86 HL: find=sch scheiße ↓→ * 87 DI: sch=hab kein bock in wald zu gehn< → *1,5* Die Frage was [ … ] findet ihr ist eine gute idee für ni“scht öffentlich (Z. 80, 82) ist langsamer und deutlich artikulierend gesprochen, standardnah formuliert und hat ein komplexes Format. Der Vorschlag Hatices (Z. 83) trifft sofort auf Widerspruch, den Hülya mit ← nei: n des find=sch scheiße → (Z. 84, 86), einer Äußerung im Stil der Gruppe (Bewertungsausdruck scheiße, verschliffenes Sprechen), kundtut. 235 Didem stimmt Hülya zu und übernimmt dabei ihre Sprech- und Formulierungsweise: > → find=sch au=scheiße sch=hab kein bock in wald zu gehn< → (Z. 85, 87). Sie spricht als Gruppenmitglied, verwendet dazu die üblichen Ausdrucksmittel (schnelleres, verschliffenes Sprechen, Bewertungsausdruck scheiße, ‘jugendsprachlicher’ Phraseologismus kein bock haben) und verstärkt aus der Gruppenperspektive die negative Bewertung des Vorschlags. 235 Zu den gruppensprachlichen phonologisch-phonetischen und prosodischen Merkmalen vgl. oben Kap. 2.1. Die „türkischen Powergirls“ 300 Dieses Muster wird auch im folgenden Beispiel deutlich, als Didem den Szenenvorschlag eines Gruppenmitgliedes vorstellt und ihn dann kommentiert: 152 DI: also ö“ffentlisch ↓ * ← öffentlisch ↑→ * einen 153 DI: kleinen film drehen ↓ * > → tolles programm muss ja 154 DI: voll geil sein → < LACHT LEICHT Der erste Äußerungsteil, der sich auf den Filmvorschlag bezieht, wird deutlich artikuliert und langsam gesprochen. In dem ironischen Kommentar dazu wechselt Didem zum Gruppenstil: Sie spricht schneller, salopper unter Verwendung des ‘jugendsprachlichen’ Ausdrucks voll geil (Z. 154). Im ersten Äußerungsteil spricht sie in der Rolle der Moderatorin, im zweiten als Gruppenmitglied, das den Vorschlag eines anderen Mitgliedes kommentiert und negativ bewertet. b) Spielerisch-kritische Frage nach Hintergründen Eine weitere Position für den Wechsel in gruppensprachliche Formen ist das Hinterfragen von unerwarteten oder unverständlichen Entscheidungen anderer. Als Didem über einen Szenenvorschlag abstimmen lässt, fragt sie Hikmet, die als einzige gegen den Vorschlag stimmt, nach dem Grund für die Ablehnung; dabei wechselt sie in gruppensprachliche Formen: 558 DI: ZÄHLT STIMMEN AUS ei“ns zwei drei“ ↑ ** vie“r ↓ * 559 DI: >fünf sechs sieben ↓ < ** sieben von acht- >ou ↓ < * 560 K: ERSTAUNT 561 DI: → wieso bisch=n du dagege mädel ↑← 562 HI: → fami“lieyeyi ne 563 Ü: was soll ich mit der 564 HI: yapcam lan [..] ↓← 565 Ü: familie machen lan 566 DI: di“ng >äh< * des is HI ↑ genau 567 DI: des was vo“rhin war des köm=mer dann 568 DI: verö“ffentlischen- * wa/ des is jafür die 569 DI: vo“rurteile abbauen ↓ * des is- ** damit die 570 DI: leute nich sagen <äh> alle türken sind so“ ↑ * zum 571 K: GESPIELT ABFÄLLIG 572 DI: beispiel alle türkischen eltern sind streng ↑ ** 573 DI: das is ja fa“lsch ↑ ** |und die können/ die 574 HI: HUSTET |=HUSTET 575 DI: brauchen dann auch nicht zu sagen a“lle türken Der kommunikative Stil 301 576 DI: → weil man differenzie“rn muss es gibt solsche und 577 DI: solsche ↓← |nischt ↑ | 578 HI: +okay → alles |klar ← | Die Frage an Hikmet →wieso bisch=n du dagege mädel ↑← (Z. 561) hat einen vertraut-familiären Charakter mit einigen Merkmalen des Mannheimerischen (Palatalisierung von / s/ in / st/ im Auslaut und Tilgung des / t/ , Tilgung des Endnasals in dagegen, Reduktion von denn zu n) und der Adressierung mädel. Didem fragt als Ältere eine Jüngere nach ihren Handlungsmotiven. Hikmets Reaktion → fami“lieyeyi ne yapcam lan ↓← (‘was soll ich mit der Familie, Mann’, Z. 562, 64) ist aggressiv-abwehrend (Adressierung lan, die gereizte Sprechweise, die Frage was soll ich); sie drückt ihren Unmut über den Szenenvorschlag in dem für die Gruppe charakteristischen Ton aus, und der Wechsel ins Türkische verstärkt den Widerspruch. Didems Reaktion ist interessant: Sie beginnt mit di“ng (Z. 566), einer Proform, die ihr mit der Verzögerungspartikel äh und der Pause Raum für die Planung des folgenden Beitrags schafft, 236 und erörtert den Szenenvorschlag ausführlich. Sie ordnet ihn in die bisherigen Planungsentscheidungen ein (genau des was vo“rher war des köm=mer dann verö“ffentlichen, Z. 566, 568), dann in den übergeordneten thematischen Rahmen (des is jafür die vo“rurteile abbauen ↓ , Z. 568f.), begründet das (damit die leute nicht sagen <äh> alle türken sind so“ ↑ Z. 569f.), verdeutlicht ein typisches Vorurteil (zum beispiel alle türkische eltern sind streng ↑ , Z. 570, 572) und schließt dann mit dessen Bewertung ab: das is ja fa“lsch ↑ (Z. 573). Im Formulierungsprozess spricht sie zunehmend standardnäher und nachdrücklicher und steigert sich bei der Darstellung des erzieherischen Zwecks der Szene in einen dozierenden Ton - ohne sprechsprachliche Merkmale und elaboriert formuliert - der sehr stark an Narans Sprechen als Erzieherin erinnert (vgl. Kap. 2.4): und die können/ die brauchen dann auch nicht zu sagen a“lle türken → weil man differenzie“ren muss es gibt solsche und solsche ↓← (Z. 573, 575-577). Didem belehrt Hikmet, spricht als Autorität und hat, wie Hikmets Reaktion zeigt (+okey → alles klar ← , Z. 578), damit auch Erfolg. 236 Das ist ein typisches Verfahren, das von Migrantenjugendlichen im untersuchten Stadtgebiet in unterschiedlichen Funktionen verwendet wird, z.B. zum Anzeigen von Wortsuche oder Formulierungsproblemen, aber auch als ‘Platzhalter’ bei der Beanspruchung oder Verteidigung des Rederechts. Zu Beginn eines Turns hat ding äh mit nachfolgender Pause häufig Platzhalterfunktion; es verschafft dem Sprecher Raum für den Formulierungsprozess. Zur Beschreibung vom ding als Platzhalter vgl. auch Kern/ Selting (2006). Die „türkischen Powergirls“ 302 Mit der Frage nach den Hintergründen für die Ablehnung des Szenenvorschlags in vertraut-familiärem Ton bewegt sich Didem auf die Gesprächspartnerin zu, die durch die Verwendung gemischtsprachlicher Formen die sprachliche Annäherung ratifiziert und ihren Unmut über den Vorschlag aufdeckt. Darauf erläutert Didem den Vorschlag in verschiedenen Aspekten und schlüpft dabei wieder in die Rolle der Moderatorin, die aufklärt. Das Zusammenspiel zwischen der Herstellung von sozialer Nähe einerseits und belehrender Autorität andererseits wird in dieser Sitzung mehrfach deutlich und macht den Erfolg von Didems Rollenkonstitution aus: Bei der Ausführung von rollengebundenen Organisations- und Planungsaufgaben, die mit Leitungskompetenz und Autorität zu tun haben, verwendet sie standardnahe und elaborierte Formen, die an die Formen erinnern, die Naran im Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs verwendet; zur Herstellung einer nahen, vertrauten Beziehung als Basis für Akzeptanz in der Gruppe verwendet sie gruppensprachliche Formen. Dieses Zusammenspiel von sprachlichen Mitteln und Verfahren, die unterschiedliche Rollen und Beziehungsqualitäten kontextualisieren, ist auch im weiteren Entwicklungsprozess zu beobachten, doch die Qualität gruppensprachlicher ebenso wie elaborierter Formen ändert sich. Das werde ich im folgenden Kapitel darstellen. 2.5.2 Arbeit am Stil in der Ingroup-Kommunikation Eineinhalb Jahre später ergibt sich für die „Powergirls“ eine ähnliche Situation wie die in den vorangegangen Kapiteln beschriebene. Die Stadt Mannheim schreibt einen Filmwettbewerb aus und fordert alle Jugendeinrichtungen zur Teilnahme auf; Jugendgruppen sollen eigenständig einen Videofilm herstellen, ihn in der Öffentlichkeit präsentieren, und die besten Filme werden mit einem Geldpreis prämiert. Die „Powergirls“ entscheiden sich, an dem Wettbewerb teilzunehmen und einen Film über sich selbst zu machen. Der Film hat für sie hohen Stellenwert, da sie darin die Chance sehen, sich in der Öffentlichkeit als moderne junge Frauen darzustellen und dem stereotypen Bild über junge Türkinnen in Deutschland entgegenzuarbeiten. 237 Im Laufe der eineinhalb Jahre hat sich in der Gruppe einiges verändert; die älteren Mädchen haben das (Fach-)Gymnasium abgeschlossen und die jüngeren die Realschule oder das Fachgymnasium erreicht; d.h., alle Mädchen 237 Im Zusammenhang mit diesem Film finden intensive Diskussionen über das neue Selbstbild der Gruppe als selbstbewusste „Deutsch-Türkinnen“ statt; vgl. Teil. II, Kap. 6. und unten Kap. 4.1.1. Der kommunikative Stil 303 bewegen sich jetzt auch in sozialen Welten außerhalb des „Ghettos“. Im Laufe dieses Prozesses werden neue Stilmittel in die Gruppe gebracht, und das Filmprojekt treibt den Entwicklungsprozess erheblich voran. Da Naran sich weder bei der Planung noch bei der Durchführung des Projektes beteiligt, weil der Film ein Produkt der Jugendlichen sein soll, muss die Gruppe das selbst in die Hand nehmen. Dabei erleben die „Powergirls“ wie schwer es ist, ein größeres und langfristiges Unternehmen gemeinsam zu planen und zu organisieren; sie erleben, dass die bisher praktizierten kommunikativen Mittel und Verfahren nicht ausreichen, um den Prozess des Filmprojekts zu strukturieren, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen und diese über längere Arbeitsphasen umzusetzen. Vor der ersten Planungssitzung bestimmt die Gruppe, dass Didem, die zu diesem Zeitpunkt bereits Studentin ist, die Sitzungen leiten und insgesamt für die Organisation des Projekts verantwortlich sein soll. Die erste Planungssitzung liefert eine sehr gute Vergleichsbasis zu dem Ereignis 1,5 Jahre vorher. Auch bei dem früheren Ereignis handelte es sich um eine Sitzung zur Planung eines Videofilms; auch damals fungierte Didem als Moderatorin, wurde aber von Naran unterstützt, die den Planungsprozess mitsteuerte (vgl. Kap. 2.4). In der jetzigen Situation muss Didem eigenständig und ohne Narans Unterstützung die Moderatorenaufgabe bewältigen, und die Gruppenmitglieder müssen, ohne die regulierende Autorität Narans, ihr impulsives, undiszipliniertes Interaktionsverhalten kontrollieren, auftretende Spannungen lösen und kooperativ an dem Planungsprozess mitarbeiten. Die Sitzung beginnt erwartungsvoll und freundlich. Doch bereits nach kurzer Zeit entsteht aufgrund von Undiszipliniertheit und unbearbeiteter Spannungen zwischen einzelnen Mitgliedern eine ernste Krise, die Didem mit verschiedenen Verfahren zu bewältigen sucht, aber scheitert. Erst mit der Einführung neuer Disziplinierungs- und Reflexionsverfahren gelingt es, die Sitzung erfolgreich zu Ende zu führen und den weiteren Planungsprozess zu sichern. Diese Phasen der Sitzung - der freundliche Beginn, die Krise, die Einführung eines neuen Ordnungsverfahrens und die Reflexion des bisherigen Verhaltens - werden in den folgenden Kapiteln dargestellt. 2.5.2.1 Der freundliche Beginn Der Umgangston zu Beginn der Sitzung ist familiär-freundlich. Das wird bereits in einer kleinen Szene kurz nach der Begrüßung deutlich, als Teslime verspätet in den Raum kommt, während Didem gerade die Liste der Teil- Die „türkischen Powergirls“ 304 nehmerinnen an dem Filmprojekt zusammenstellt. Teslime holt sich einen Stuhl, will sich zu ihren Freundinnen setzen und fordert die daneben Sitzenden auf zu rücken. Parallel dazu führt Didem die Auflistung fort, ruft einige Mädchen namentlich auf und trägt sie in die Liste ein. Die Hauptaktivität, die Auflistung der Projektteilnehmerinnen und die Nebenaktivität, das Platzbeschaffen und Stühlerücken, laufen kurze Zeit parallel: 164 TE: > → rutsch ma bitte ↑ damit isch in eure höhe komm ↓ ** 165 TE: çekil bi ordan biraz sonra gine oturursun ↓← < 166 Ü: geh mal ein bisschen da weg du kannst dich später 167 Ü: wieder hinsetzen 168 K&: STÜHLERÜCKEN 169 DI: <haydi ↓ Su“na ↑ * Tu“rna ↑ > 170 Ü: also 171 EM: → bu tarafa ↑← 172 Ü: hierher 173 TE: >az gaysana 174 Ü: Kumpel rutsch mal 175 TE: arkade ş ↓ < >kay kay ↓ < 176 Ü: ein bisschen rutsch rutsch 177 DI: <Fulya ↓ > ** Fa“dime ↓ 178 FA: otursana ↑ 179 Ü: setz dich doch 180 K&: LACHEN 181 DI: <Te“slime ↓ > 182 TE: du kriegst schon noch=was ↓ 183 FA: >ne gıcı: k< 184 Ü: wie nervig 185 DI: → also ↑← * we“r ← will noch ↑→ Teslime drängt sich zwischen zwei Mädchen und fordert sie auf, etwas zur Seite zu rücken: >→rutsch ma bitte ↑ (Z. 164). Die Aufforderung ist durch das leise, unterdrückte Sprechen im Vergleich zu Didems lautem und deutlichem Sprechen als Nebenaktivität kontextualisiert. Die Äußerung hat durch die Bitteformel und die Begründung für das Anliegen damit isch in eure höhe komm (Z. 164) Merkmale konventioneller Höflichkeit. Die Reformulierung in Türkisch (Z. 165) ist ebenfalls abgemildert, durch Heckenausdrücke (biraz und az ‘ein bisschen’) und eine Vertröstung auf später (sonra gine oturursun ‘du kannst dich später wieder hinsetzen’). Die folgenden Züge zwischen Emine (EM), Fatma (FA) und Teslime haben familiär-freundliche Qualität (Z. 171-178), d.h., die Mädchen stellen gemeinsam eine in freundlichem, z.T. auch höflichem Ton durchgeführte Nebenaktivität her. Da das Stühlerücken Didem stört, ruft sie Teslime namentlich zur Ordnung (Z. 181); Der kommunikative Stil 305 die reagiert spielerisch-ausweichend, und stellt ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erst für später in Aussicht (du kriegst schon noch=was ↓ , Z. 182). Die anderen lachen, Fatma kommentiert Teslimes Reaktion kritisch (ne gıcı: k, ‘wie nervig’, Z. 184) und Didem setzt die Namensauflistung fort. Diese kleine Szene macht Folgendes deutlich: Die Zuspätkommende entschuldigt sich nicht; sie unterbricht aber auch nicht die laufende Interaktion, sondern verschafft sich unaufwändig in einer Nebenaktion mit mehrfach abgeschwächten Formulierungen den Platz, den sie haben möchte. Die anderen reagieren kooperativ und gewähren ihr den Platz. Die im Vordergrund agierende Didem lässt die Nebenaktivität zunächst geschehen. Erst nachdem die Lautstärke steigt, ruft sie Teslime zur Ordnung, jedoch nicht explizit, sondern implizit (nur durch namentliche Adressierung). Teslime folgt dem Ordnungsruf und Didem führt ihre Organisationsaufgabe fort, d.h., sie betrachtet die Störung als beigelegt. Beide Akteurinnen, Didem und Teslime, erreichen ihre Ziele, ohne dass die Störung manifest gemacht und offen behandelt wird. Jede ist mit der Verfolgung ihrer Absichten beschäftigt und nimmt dabei den Raum der anderen nur so weit wie notwendig in Anspruch. Der dabei verwendete Umgangston ist familiär-freundlich, auch unter Verwendung konventioneller Höflichkeitsformen. 2.5.2.2 Krise a) Versuche zur Herstellung von Ordnung Die freundliche Atmosphäre zu Beginn der Sitzung hält jedoch nicht lange an. Als Didem um Vorschläge für den Film bittet, starten die Mädchen fast gleichzeitig, jede versucht sich durch größere Lautstärke durchzusetzen; wenn eine das Wort hat, wird sie unterbrochen noch bevor sie ihre Idee hat präsentieren können. Gleichzeitig werden Nebenaktivitäten (z.B. verhandeln über Zigarettenrauchen, erkundigen nach nicht Anwesenden) lauter und störender. Didem versucht zunächst mit Ordnungsrufen wie seid ma ruhig oder lass sie aussprechen und ruhe jetzt Ordnung herzustellen. Da sie damit keinen Erfolg hat, werden die Ordnungsrufe drängender, sind jedoch, wie das folgende Beispiel zeigt, weiterhin erfolglos: 890 K&: DURCHEINANDER 891 DI: KLOPFT AUF DEN 892 TU: <Hatce is die Zehra noch unten ↑ > Die „türkischen Powergirls“ 306 893 K&: DURCHEINANDER 894 DI: TISCH <ru“he ↑ > 895 K: SEHR LAUT 896 TU: <Ha“tce> ↓ 897 HA: <Zehra is schon (... ...) Didem klopft auf den Tisch, fordert mit lauter Stimme zur Ruhe auf (Z. 891, 894), kann sich aber kein Gehör verschaffen, da Turna weiter mit Hatice laut durch den Raum redet. Kurz danach startet Didem einen weiteren Versuch, indem sie laut schreit: 912 K&: DURCHEINANDER 913 DI: <jetz hört doch mal zu“ mensch ↓ seid doch ru“hisch ↓ > 914 K: SCHREIEND 915 K&: DURCHEINANDER 916 FU: <dann zieht sie auf einmal in eine andere stadt ↓ (...) Doch auch damit hat sie nur für einen kurzen Moment Erfolg, das Durcheinanderreden nimmt kurzfristig ab, Fulya kann mit ihrem Beitrag starten, verliert sich aber schnell wieder im erneut ansteigenden Lärm (Z. 916). Kurze Zeit später spitzt sich die Situation zum ersten Mal zu, als die Mädchen sich nur noch anschreien und sich dann über den Lärm beklagen: 1122 K&: DURCHEINANDER 1123 HA: <Te“slime Ze“hra ↓ > *2,0* <sa ğ ırım evet ↓ > 1124 Ü: ich bin taub ja 1125 SU: <die 1126 SU: stören uns die ganzen zeit ↓ und die schrei“en 1127 K&: DURCHEINANDER 1128 TU: ja“ ↓ halt=s maul 1129 SU: voll ↓ meine ohren isch schwör ↓ 1130 K&: DURCHEINANDER 1131 DI: KLOPFT AUF DEN TISCH <wir haben 1132 DI: hier gerade eine besprechung falls ihr das nischt 1133 DI: mitbekommen ha“bt ↓ und wer nischt dazu gehört 1134 DI: bitt isch raus zu gehen ↓ > du wolltest was sagen ↑ 1135 SU: genau ↓ 1136 DI: jetz mach ma weiter ↓ 1137 HA: yani i/ isch/ zum beispiel ↓ 1138 Ü: also Auf die Beschwerde von Hatice (<sağırım evet ↓ , ‘ich bin taub ja’, Z. 1123) und Suna (die stören uns die ganz zeit ↓ und die schrei“en voll ↓ meine ohren isch schwör ↓ , Z. 1125f., 1129), reagiert Turna mit einer groben Zurechtwei- Der kommunikative Stil 307 sung: ja” ↓ halt=s maul> (Z. 1128). Die Zurückweisung der berechtigten Beschwerde birgt die Gefahr einer weiteren Eskalation in sich, und Didems Reaktion zeigt, dass sie den krisenhaften Charakter erkennt. Sie klopft auf den Tisch, verwendet dieses Mal keinen Ordnungsruf, sondern ein aufwändigeres Verfahren: Sie definiert die Situation als besprechung und bittet die Teilnehmer, die diese Definition nicht akzeptieren, den Raum zu verlassen. Im Kontrast zu den gruppensprachlich formulierten Vorgängerbeiträgen (Intensivierung durch Adverb voll, die Formel isch schwör, der derbe Ordnungsruf halt=s maul) spricht Didem in elaborierter Form, höflich und mit großem Nachdruck: <wir haben hier gerade eine besprechung (…) wer nischt dazu gehört >bitt isch raus zu gehen (Z. 1131-1134). Sie spricht als Autorität, etabliert den Interaktionsrahmen für die anstehende Planungsaufgabe und kündigt bei Nichtakzeptanz Sanktionen an. Sie erhält Unterstützung von Suna, die sich vorher beklagt hatte (genau ↓ , Z. 1135). Wie der weitere Verlauf zeigt, hat Didem mit diesem Verfahren Erfolg: Sie übergibt das Wort an Hatice, die vorher nicht zu Wort gekommen war: du wolltest was sagen ↑ jetzt mach ma weiter ↓ (Z. 1134, 1136). Hatice übernimmt das Rederecht, präsentiert ihren Vorschlag und kann ihn auch zu Ende führen. b) Gemeinsame Abwehr von Störmanövern: Wirksamkeit des „Powergirl-Stils“ Bald darauf wird Didem mit einem weiteren Problem konfrontiert. Bereits zu Beginn der Sitzung gab es unterschwellige Spannungen zwischen zwei Fraktionen, eine um Turna, die andere um Suna, einem ehemaligen Gruppenmitglied, das neu zum Filmprojekt gestoßen ist. Turna und ihre Freundinnen wollen Suna nicht an dem Projekt beteiligen. Das erklären sie jedoch nicht explizit, sondern wenden „Vertreibungsverfahren“ an, indem sie Sunas Beiträge unterbrechen, herabsetzen oder zurückweisen, um sie dadurch zum Rückzug zu bringen. Didem versucht Sunas Rederecht zu schützen (lasst jetzt mal die Suna aussprechen ↓ oder jetz lass sie doch mal erklären, Z. 1316), wird von Sibel unterstützt (sie wird=s erklären, Z. 1317), hat aber wenig Erfolg. Die Situation eskaliert, als Teslime Turna in scharfem Ton zurechtweist (Z. 1320): 1316 DI: jetzt lass |sie doch mal erklären ↓ | vielleischt 1317 SI: | → sie wird=s erklären ↓← | Die „türkischen Powergirls“ 308 1318 DI: |kommt=s| ja gleisch ↓ 1319 TU: <was geht disch des an isch hab 1320 TE: |<hey“ ↑ >| 1321 K: SCHARF ZU TU 1322 TU: doch bloß gefragt ↓ > 1323 SU: ja- * och: isch sag nix mehr ↓ 1324 TU: ü“ff git be |(... ... ...)| 1325 Ü: lass mich in Ruhe 1326 HA: |o: h was macht| ihr alle so dumm an langer ↑ 1327 DI: |ihr haltet jetzt a“lle die | klappen ↓ |alle 1328 HA: |(... ...) wenn einer redet ↓ | 1329 TE: | → <hey“ 1330 DI: aber auch alle ↑ | |und 1331 TE: Tu“rna du kannst disch gleisch verpi“sse ↑ > ← | |her 1332 Ü: du 1333 DI: die Suna spricht jetzt aus ↓ | 1334 TU: <bei jedem scheiß TU 1335 TE: bi ş eye bi ş ey buluyon ↓ | 1336 Ü: hast immer nur zu meckern 1337 TU: TU TU ↓ > 1338 TE: <ha“lt doch dei klappe * si“ktir lan> 1339 Ü: verfick dich Mann 1340 K: SCHARF ZU TU 1341 TE: <hadi ↓ Suna anlatsın ↓ Suna ↑ > 1342 Ü: los Suna du sollst erzählen Suna 1343 DI: |+was |meinst du mit entwicklung ↑ 1344 SU: wir |könnt/ | wir 1345 SU: könnten ja- * die arbeitswelt so darstelln ↓ wie Die Sequenz hat folgenden Verlauf: - TE ruft TU in scharfem Ton zur Ordnung <hey“ ↑ > (Z. 1320); TU verbittet sich die Zurechtweisung (<was geht disch des an) und rechtfertigt, dass sie SU unterbrochen hat: isch hab doch bloß gefragt ↓ > (Z. 1319, 1322). - Darauf kündigt SU den Rückzug aus der Interaktion an: ja- * och: isch sag nix mehr ↓ (Z. 1323); TU setzt TE gegenüber nach <üff git be> (‘lass mich in Ruhe’, Z. 1324). - Jetzt schalten sich HA und DI ein: HA kommentiert das Verhalten TUs und deckt es als Störmanöver auf: oh was macht ihr alle so dumm an langer ↑ (…) wenn einer redet ↓ (Z. 1326, 1328); überlappend damit ruft DI - Der kommunikative Stil 309 dieses Mal in scharfem Ton - zur Ordnung: ihr haltet jetzt a“lle die klappen ↓ a“lle aber auch a“lle ↑ (Z. 1327, 1330) und weist SU das Rederecht zu: und die Suna spricht jetzt aus ↓ (Z. 1330, 1333). - Der Streit zwischen TE und TU eskaliert: Noch überlappend mit DIs Ordnungsruf weist TE Turna in scharfem Ton zurecht: →<hey“ Turna du kannst disch gleisch verpi“sse ↑ > ← her bi şeye bi şey buluyon ↓ (‘du hast immer nur zu meckern’, Z. 1329, 1331, 1335). Turna wehrt sich (Z. 1334, 1337), und darauf wird TE noch schärfer: <ha“lt doch dei klappe * si“ktir lan (‘verfick dich Mann’, Z. 1338). - Im Anschluss fordert TE Suna zum Sprechen auf: hadi ↓ Suna anlatsın ↓ Suna ↑ (‘los Suna, du sollst erzählen’, Suna, Z. 1341); SU übernimmt das Rederecht wir könnt/ (Z. 1344), wird von Didem (die sie zur Erklärung der vorherigen Äußerung auffordert +was meinst du mit entwicklung ↑ , Z. 1343) kurz gestört, fährt dann aber mit der Darstellung ihres Szenenvorschlags fort (Z. 1344f.). Das Vertreibungsspiel, das Turna und ihre Freundinnen mit den ständigen Störungen inszenieren, ist erfolgreich, denn Suna, das „Opfer“ des Vertreibungsspiels, ergreift die Initiative zum Ausstieg aus der Interaktion (Z. 1323). Der Rückzug des „Opfers“ veranlasst jedoch Hatice und Didem zur Intervention; Hatice kritisiert das Störverhalten, und Didem stetzt sich massiv für Sunas Rederecht ein. Doch erst Teslime gelingt es, Suna wieder in die Interaktion einzubinden, nachdem sie sich gegen die Hauptstörerin Turna durchgesetzt und sie mit drastischen Mitteln zurückgepfiffen hat. Die Intervention von Teslime verhindert den Ausschluss von Suna und ihr gelingt es auch sie, zusammen mit Didem, in die Hauptaktivität der Planungssitzung zurückzuleiten. In diesem Beispiel geht es um einen Beziehungskonflikt zwischen zwei Fraktionen, bei dem der Gruppenausschluss von Suna auf dem Spiel steht. Die Moderatorin kann mit den von ihr verwendeten sprachlichen Mitteln und Verfahren den Konflikt nicht entschärfen. Erst der massive Widerstand aus der Gruppe gegen die „Missetäterin“ ist erfolgreich, der mit ähnlich drastischen Mitteln geführt wird, wie sie die Missetäterin bei dem Vertreibungsverfahren einsetzte; d.h., erst der Kampf mit gleichen Waffen führt zum Erfolg, zum Rückzug der Misstäterin und zum Wiedereinstieg des Opfers. Kurz nach diesem Ereignis setzt die Moderatorin ein erzieherisches Verfahren ein, das eine Verhaltensänderung bei Turna bewirkt, aber das „Opfer“ der Aggression erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit bringt. Didem prä- Die „türkischen Powergirls“ 310 sentiert einen Vorschlag für eine Filmszene, in der die Aggression gegen Suna thematisiert und offen kritisiert werden könnte. 1359 K&: DURCHEINANDER 1360 DI: <vielleischt sollten wir en film darüber 1361 DI: drehn ↑ dass ihr |unfähig seid| jemanden aussprechen 1362 FU: |(... ...) | 1363 DI: zu lassen ↑ > und dass ihr- * vor allem die Suna 1364 DI: irgendwie total unterdrü“cken wollt ↑ 1365 SU: >ja isch kann 1366 SU: nisch mehr ↓ < *2* Didem bezeichnet die Störmanöver gegen Suna verpackt in einer Filmszene explizit als jemanden total unterdrücken wollen. Die kritische Thematisierung des Fehlverhaltens gegenüber Suna hat zweifachen Effekt: Sie bewirkt, dass sich Turna in der folgenden Interaktion zurückhält und gegenüber Suna nicht mehr aggressiv wird. Andererseits jedoch wird Suna in der Rolle des „Opfers“ in den Fokus gebracht und das, was ihr angetan wurde, wird offen thematisiert. Dadurch entsteht für sie, da es um ihr Erleben geht, ein erheblicher Druck zur Stellungnahme. Mit >ja isch kann nicht mehr ↓ <, (Z. 1365f.) bestätigt sie Didems Feststellung, dass sie von den anderen total unterdrückt wurde und zeigt gleichzeitig, wie tief sie verletzt ist. Auf das Eingeständnis folgt betretenes Schweigen. 2.5.2.3 Einführung eines neuen Verfahrens Die bisher angeführten Verfahren, mit denen Didem versucht, eine Interaktionsordnung herzustellen, haben meist nur kurzfristige Wirksamkeit. Auch das letzte Verfahren, das explizite Thematisieren von Fehlverhalten, ist nur in Bezug auf die Beziehungsgestaltung zwischen Turna und Suna wirkungsvoll. Als nach einiger Zeit erneut Unordnung entsteht, führt Didem ein neues Disziplinierungsverfahren ein, das sie in der akademischen Welt im Zuge ihrer Ausbildung kennen gelernt hat: 1526 DI: <| isch hab ein vor|schlag ↓ > ein moment ↓ 1527 FU: |un=dass die leut/ | ein satz ↓ 1528 K&: LACHEN 1529 DI: ganz kurz ↓ | ganz kurz ↓ | nur nur 1530 FU: isch hab au“ch |ein vorschlag ↓ | Der kommunikative Stil 311 1531 K&: LACHEN 1532 DI: zunur allgemein ↓ isch hab grad/ wir haben in an 1533 DI: der uni haben wir äh so ein ding ähm * ein ein 1534 DI: seminar ↑ * in psychologie und zwar haben wir dort 1535 DI: irgendein stock ↑ und n/ nur der jenige der grad 1536 DI: diesen stock in der hand hat ↑ |darf red|en ↓ und 1537 FU: da|rf reden ↓ | 1538 DI: des machen wir jetzt mit diesen ding hier 1539 DI: |ja ↓ | 1540 FU: | al|lahını ↓ des is bei uns in der 1541 Ü: oh mein gott 1542 TU: >ay ne gıcık ↓ < 1543 Ü: wie blöd 1544 K&: LACHEN LACHEN UND HERUMALBERN 1545 FU: clique ganz schlecht ↓ 1546 SE: mhm ↓ 1547 DI: <wenn=s eusch nischt pa“sst dann könnt ihr gehen ↓ > 1548 K: BETONT Didem unterbricht die aktuelle Sprecherin Fulya und verschafft sich auf Fulyas Protest hin mit Nachdruck Rederaum: <isch hab ein vorschlag ↓ ein moment ↓ * ganz kurz ↓ * ganz kurz ↓ . Dann stellt sie das Verfahren vor, das sie an der Universität gelernt hat: Das Rederecht wird durch das Halten eines Stockes symbolisch ausgedrückt, und die Sprecherin, die den Stock in der Hand hält, hat das Rederecht (Z. 1535f.). Didem nimmt einen Bleistift vom Tisch, hält ihn hoch und weist ihm die Symbolik des Stocks zu: und des machen wir jetzt mit diesem ding hier ja ↓ (Z. 1536, 1539). Der Vorschlag wird von den jüngeren „Powergirls“ sofort zurückgewiesen: Fulya reagiert mit einem erstaunt-entsetzten Ausruf allahını ↓ (‘oh mein Gott’, Z. 1540), Turna mit dem negativen Kommentar ay ne gıcık (‘wie blöd’, Z. 1542) und Fulya mit dem Kommentar: des is bei uns in der clique ganz schlecht (Z. 1540, 1545). Vor allem der letzte Kommentar macht die soziale Bedeutung des Verfahrens deutlich: Es wird von den Mädchen als stilistisches Mittel aus einer anderen sozialen Welt abgelehnt, zu der sie nicht gehören und über deren interaktionsregulierende Verfahren sie sich lustig machen (1544). Die Moderatorin besteht jedoch auf dem Verfahren und erklärt, dass sie es für das einzig wirksame Mittel hält, um eine Interaktionsordnung durchzusetzen. D.h., aus ihrer Perspektive sind stilistisch neue, aus einer anderen sozialen Welt stammende Verfahren notwendig, um die Fortführung der Planungssitzung zu ermöglichen. Die „türkischen Powergirls“ 312 1549 K&: KURZES DURCHEINANDER 1550 DI: tamam mı ↑ * des is=n 1551 Ü: okay 1552 DI: einziges cha“os hier ↓ un=des is die einzige 1553 DI: möglischkeit o/ eusch mal irgendwie zum schweigen 1554 DI: zu bringen ↑ * und du willst jetzt grad was 1555 HA: ah ↓ 1556 K&: KURZES DURCHEINANDER 1557 DI: sagen ↑ und alle anderen 1558 DI: halten jetzt die klappe ↓ 1559 FU: ja also isch woll/ LACHT 1560 DI: <Fu“lya ↓ > 1561 FU: → okay okay ← äh isch wollt sagen da können Didem leitet das Resumee mit der Partikel tamam mı ↑ (‘okay’) ein, bezeichnet den aktuellen Interaktionszustand als ein einziges cha“os hier ↓ (Z. 1552) und begründet die Einführung des Verfahrens mit un=des is die einzige möglischkeit o/ eusch mal irgendwie zum schweigen zu bringen ↓ (Z. 1552- 1554). Sie spricht als Autorität und formuliert in der elaborierten Sprechweise der Moderatorin. Dann übergibt sie Fulya, die sich zu Wort gemeldet hatte, den „Stab“ und weist ihr das Rederecht zu: und du willst jetzt grad was sagen ↑ (Z. 1554-1557), d.h., sie praktiziert das neue Verfahren ohne die Zustimmung der Rezipientinnen abzuwarten. Auf diese Demonstration von Autorität reagieren die andern überrascht (Z. 1556). Mit der Formel und alle anderen halten jetzt die klappe ↓ (Z. 1557f.) fordert sie zum Schweigen auf. Fulya, die den Stab bekommen hat, beginnt zu sprechen ja also isch woll/ (Z. 1559), wird jedoch von Didem gestört, die den Akt der Rederechtübergabe jetzt demonstrativ in Szene setzt und Fulya namentlich aufruft. Fulya akzeptiert die Störung ( → okay okay ← , Z. 1561), die Didem zu Demonstrationszwecken vornahm, und setzt dann ihren Beitrag fort. Damit ratifiziert sie das Verfahren, das ihr zur Durchsetzung des Rederechts verhalf. In dem Beitrag, mit dem sie das neue Verfahren einführt, kombiniert Didem verschiedene stilistische Elemente. Bei der Erläuterung und Ausführung des neuen Verfahrens verwendet sie eine sprechsprachlich abgeschwächte, aber elaborierte Ausdrucksweise und spricht in nachdrücklichem Ton. Als sie die Gruppenmitglieder direkt adressiert und zur Ordnung ruft, verwendet sie eine familiäre Formel (und alle anderen halten jetz die klappe), die auch Der kommunikative Stil 313 Teslime vorher verwendet hatte. D.h., sie kombiniert unterschiedliche stilistische Ausdrucksmittel, ist damit erfolgreich und wird von den Rezipientinnen akzeptiert. Im Unterschied zu der Planungssitzung eineinhalb Jahre vorher, in der Didem noch „jugendsprachliche“ Formen wie voll blöd, kein bock haben oder derbe Ausdrücke wie scheiße und voll scheiße verwendet hatte, kommen solche Formen in der jetzigen Sitzung nicht vor. Die hier verwendeten Ordnungsrufe sind zunächst freundlich und höflich, z.B. redet bitte einer nach dem anderen oder seid doch mal bitte still, steigern sich dann zu mensch seid doch ma ruhig oder hört doch ma zu, und mit ihr haltet alle die klappe bewegt sie sich am weitesten auf den Gruppenstil zu. Im Vergleich zu den derben Ordnungsrufen der Gruppenmitglieder untereinander wie halt=s maul, verpiss dich oder siktir lan (‘leck mich’, ‘verfick dich’) verwendet Didem eher gemäßigte Formulierungen. D.h., sie unterscheidet in der jetzigen Sitzung gruppensprachliche Mittel, die zu ihrer Rolle als Moderatorin passen, von derben Ausdrucksformen, die die Mädchen untereinander verwenden. Durch die Kombination von elaborierten Ausdrucksformen mit moderaten gruppensprachlichen Formen ohne derb-drastische Qualität konstituiert Didem in dieser Sitzung das Sprechen als Moderatorin, das auch von den „Powergirls“ akzeptiert wird. Vor allem aber haben sich die Verfahren zur Durchsetzung von Ordnung verändert. Wurden in der früheren Sitzung Ordnungsrufe als zentrale Verfahren zur Herstellung von Ordnung eingesetzt, haben die in der jetzigen Sitzung verwendeten Verfahren einen wesentlich höheren Grad an Explizitheit und Reflektiertheit: Didem definiert Grenzen, droht bei Grenzüberschreitungen Sanktionen an und thematisiert Fehlverhalten. Vor allem aber gelingt es ihr ein neues, aus einer anderen sozialen Welt übernommenes Verfahren zur Herstellung von Ordnung und zur Einübung von Selbstdisziplin einzuführen und es auch durchzusetzen. Im weiteren Verlauf der Planungssitzung gibt es mehrere Hinweise darauf, dass das neue Verfahren Erfolg hat. Es ermöglicht die geregelte Organisation der Planungsdiskussion und bei momentanen Störungen eine unaufwändige, versachlichte Wiederherstellung der Ordnung ohne aggressive Ausbrüche. Das zeigt das folgende Beispiel, in dem eines der Mädchen ein anderes auffordert, das Rederecht einer dritten zu berücksichtigen, die gerade den Stab in der Hand hält: Die „türkischen Powergirls“ 314 1828 TU: |odda 1829 GÜ: was mit der familie abgeht und so- * ni|scht 1830 FU: turna sie hat den ding in 1831 TU: wir können so ma|chen ↑ 1832 GÜ: jeder ist glück/ | 1833 FU: der hand ↓ * 1834 GÜ: nischt jeder ist glücklisch mit ihrer 1835 K&: LACHEN 1836 TU: okay ↓ 1837 GÜ: familie ↑ mit jeder freundin auch net ↓ An einem übergaberelevanten Punkt in Gülsens Äußerung was mit der familie abgeht und so- (Abschluss der syntaktischen Struktur, Abschlussformel und so und kurze Pause, Z. 1829) beginnt Turna mit der Präsentation einer neuen Idee (Z. 1828, 1831), während - überlappend damit - Gülsen mit ihrem Turn fortfährt (Z. 1832). Turna hat Gülsens Äußerung zwar nicht unterbrochen, sie hat jedoch ihr Rederecht missachtet. Das zeigt Fulyas Intervention, als sie auf den Stab in Gülsens Hand hinweist (Turna sie hat den ding in der Hand (Z. 1830, 1833). Gülsen behandelt Fulyas Intervention als Maßnahme zur Sicherung ihres Rederechts und setzt ihren Beitrag fort. Auf die unaufwändige Sicherung von Rechten, ohne Schreien, ohne Aggressionen und Beschimpfungen, reagieren die anderen mit Lachen, und Turna akzeptiert die Zurückstellung (okay ↓ , Z. 1836). Die Gruppenmitglieder praktizieren das neue Verfahren, fordern es bei Nichtbeachtung ein, und die Missetäterin respektiert es. 2.5.2.4 Reflexion des bisherigen Verhaltens und Praktizieren neuer Interaktionsformen a) Reflexion des bisherigen Verhaltens Mit der Übernahme neuer, Selbstdisziplin erfordernder Verfahren erfolgt auch eine kritische Reflexion der bisherigen Undiszipliniertheit. Das wird deutlich, als Teslime den Vorschlag macht, in dem geplanten Film eine Diskussionsszene einzubauen, in der die Diskutantinnen sich undiszipliniert verhalten. Der Szenenvorschlag und die Art und Weise seiner Herstellung zeigen die Reflexion des eigenen Verhaltens: 2076 TE: >okay isch wollt was sagn ↓ < ** und 2077 TE: dann können wir/ äh eine szene zeigen gell ↑ 2078 TU: LACHT Der kommunikative Stil 315 2079 TE: zum beispieldie turna hat grad/ w/ will 2080 TE: was/ grad was erzählen ↑ dann fang isch an zu 2081 TE: erzähln ↑ isch unterbrech sie und dann wird des 2083 TE: gefilmt * |(... ...)| wart mal ↓ da“nn ↓ wo isch 2084 TU: |(... ...)| 2085 TE: fertisch bin und äh dann zeigen wir wie wir 2086 TE: sind ↑ dann will die schon wieder erzähln * 2087 TE: fängt sie an und zuletzt |(kommt ... ... ...) | 2088 TU: |un=dann streiten wir ↓ | Teslime entwirft eine Filmszene, in der Turna gerade das Wort hat, aber von ihr unterbrochen wird. Mit dieser Filmidee spielt sie auf den aktuellen Stand ihrer Beziehung zu Turna an. 238 Bereits bei Nennung ihres Namens reagiert Turna mit Lachen, d.h., sie antizipiert die Fortführung der Filmszene. Als Teslime dann mit der Ausgestaltung der Szene beginnt, versucht Turna mitzuarbeiten (Z. 2084), wird aber von Teslime mit wart mal (Z. 2083) unterbrochen. Noch bevor Teslime die Formulierung dieses Szenenteils zu Ende gebracht hat, wird sie ihrerseits von Turna unterbrochen, die die Szene mit: un=dann streiten wir ↓ (Z. 2088) abschließt. Bei der Präsentation der Filmszene enaktieren beide Sprecherinnen die Beteiligungsrollen, die für die Filmszene vorgeschlagen werden: Turna reagiert, Teslimes Szenenvorschlag antizipierend, vorschnell mit einem Beitrag und wird unterbrochen (Z. 2084); sie liefert dann aber die Quintessenz der Szene, dabei Teslime unterbrechend (Z. 2088). D.h., der Inhalt der Szene und ihre interaktive Herstellung verhalten sich strukturhomolog zueinander: Die beiden Interaktantinnen praktizieren lokal das Interaktionsverhalten, das sie in der Filmszene als gruppenspezifisches, sozialstilistisches Charakteristikum vorführen wollen. Durch die Thematisierung und Beschreibung des eigenen Verhaltens und durch die Idee, es als Filmszene der Öffentlichkeit zu präsentieren, ironisieren sie ihr Verhalten und distanzieren sich davon. b) Praktizieren neuer Interaktionsformen Mit dem sukzessiven Erlernen von Interaktionsdisziplin kommen auch neue Ausdrucksformen in die Gruppe, und bei der Bitte ums Rederecht oder bei Rederechtsverletzungen z.B. verwenden die Sprecherinnen jetzt auch For- 238 Turna und Teslime haben sich in dieser Sitzung bereits mehrfach gestritten, vgl. das Beispiel oben Kap. 2.5.2.2, Absatz b). Die „türkischen Powergirls“ 316 men konventioneller Höflichkeit untereinander. Interessant ist der folgende Fall, in dem höfliches Sprechen strategisch eingesetzt wird: Hatice versucht Didem, die gerade den Stab in der Hand und damit das Rederecht hat, zu unterbrechen und verwendet dabei eine höfliche Ausdrucksweise: 1688 DI: alles mit sisch bringt * freundinnen treffen ↑ über 1689 DI: |probleme redn ↑ | nei“n ↓ jetz nich ↓ * 1690 HA: | ← da“rf ich dir mal | was sagen →↑ 1691 K: LEICHT LACHEND 1692 DI: und als <letztes> ähm- * heute und früher so wie Mit der Bitte ums Rederecht greift Hatice weit in Didems Rechte ein, die, nach bisher geltender Regel solange den floor besetzen kann, solange sie den „Stab“ in der Hand hält. Hatices Äußerung enthält Merkmale konventioneller Höflichkeit, wie Modalverb dürfen, abschwächende Partikel dir mal (Z. 1690), Frageform, und ist durch das leichte Lachen und das langsamere und bedeutungsvolle Sprechen spielerisch modalisiert. Hatice signalisiert, dass sie weiß, dass sie Regeln verletzt, und dass sie die Verletzung durch markiert höfliches Sprechen herabstuft. Sie agiert strategisch und testet, ob Didem zulässt, dass sie die Rederechtsregel durch höfliches Sprechen bricht. Didem jedoch weist Hatice in bestimmten Ton zurück (nei“n ↓ jetz nich ↓ , Z. 1689) und fährt mit ihrem Beitrag fort (Z. 1692). Gegen Ende der Sitzung versucht Fadime, die bisher zu den am wenigsten disziplinierten Mädchen gehörte, mit einer höflichen Bitte die Moderatorin zu unterbrechen und ist dabei erfolgreich. Als Didem die Ausdauer und Zuverlässigkeit der Mädchen während der Filmproduktion einfordert, meldet sich Fadime zu Wort: 2553 DI: folgendes ↓ wenn wir damit/ mit diesem film 2554 DI: anfangen ja ↑ dann springt kei“ne von eusch ab ↓ ** 2555 DI: jemand der äh also ihr solltet zuverlässig sein ↓ 2556 DI: zu jedem |treffen auch kommen ↓ | |ja ↓ | 2557 FA: |darf isch noch was sagen ↑ | bitte ↑ |also| 2558 FA: das nächste mal * also wer meint er kann nisch äh Noch bevor Didem die Äußerung abgeschlossen hat (Z. 2556), bittet Fadime mit konventionellen Höflichkeitsformen (Modalverb dürfen und bitte-Formel) um das Rederecht (darf isch noch was sagen ↑ bitte ↑ , Z. 2557). Die Äußerung Der kommunikative Stil 317 ist ernst-bittend und hat keine Merkmale ironischer oder spielerischer Modalisierung. Die Adressierte gewährt die Bitte und die Sprecherin präsentiert ihren Vorschlag. Hier findet ohne Markierung und ohne Anzeichen von Distanz eine Interaktion statt, in der eines der jüngeren „Powergirls“ den höflichen Umgangston praktiziert. Auch Entschuldigungsformeln werden eingeführt. Als Didem eine aktuelle Sprecherin unterbricht, entschuldigt sie sich und stellt deren Rederecht wieder her: 2322 DI: |+<od|da odda moment ihr könntet äh- 2323 SU: des war ab|ba/ | o“h ↓ 2324 K ÄRGERLICH 2325 DI: was auf/ entschuldigung ↓ * du bist dran Didem unterbricht Sunas Beitrag mit einem neuen Vorschlag. Suna reagiert mit einem ärgerlichen Ausruf o“h ↓ (Z. 2323), und Didem entschuldigt sich für die Unterbrechung (entschuldigung ↓ , Z. 2325). Dann gibt sie Suna mit du bist dran das Rederecht zurück. Dass bei Verletzung des Rederechts explizit um Entschuldigung gebeten wird, ist neu in der Gruppe. Die Inkorporation neuer stilistischer Mittel ist ein dynamischer Prozess, der sich nicht in linearer Form fortentwickelt. Jedes neue Element wird ausprobiert und bewertet, ob es zu den aktuellen Vorstellungen der Gruppe über einen Kommunikationsstil passt. Dass nicht jedes neue Element auch akzeptiert wird, zeigt ein weiteres Beispiel aus dieser Sitzung. Als Didem die Sitzung mit einer Beendigungsformel schließt, provoziert sie distanzierende Reaktionen. 2705 DI: <jeder spült jetz seine tasse ↓ > * <danke dass ihr 2706 DI: da wart ↑ > |danke | für eure kooperation ↓ 2707 TU: |bitte ↓ | 2708 FA: <hu: ↓ > 2709 K&: ENDE DER BESPRECHUNG 2710 DI: *1,5* auf wiedersehen ↓ Nach der Aufforderung, den Sitzungsraum in Ordnung zu bringen, schließt Didem die Sitzung mit der Formel: <danke dass ihr da wart ↑ >(Z. 2705/ 06). Diese Formel wird üblicherweise bei Sitzungsende verwendet, wenn der Vorsitzende oder Moderator zur Sitzung einberufen hat. Darauf reagiert Turna mit der bitte ↓ -Formel (Z. 2707) eine Reaktion, die nicht in das Ab- Die „türkischen Powergirls“ 318 schlussritual passt, in dem keine Antwort erwartet wird. Turnas Reaktion kontextualisiert ein anderes Ritual, und zwar den rituellen Austausch von „Dank und Akzeptieren des Danks“, dessen zweiten Teil sie produziert. Diese Reaktion hat eine nicht-ernste, spielerische Qualität, mit der Turna signalisiert, dass sie sich über die Beendigungsformel lustig macht. Der Grund dafür könnte sein, dass sie weiß, dass das Riutal nicht zu Didems Rolle in der Situation passt: Nur der Einladende, in unserem Fall die Leiterin Naran, kann das Ritual verwenden, aber nicht die gewählte Moderatorin. Oder aber die Formel erscheint ihr zu förmlich und zu wenig zu den anderen Stilmitteln zu passen. Auch die nächste Formel danke für eure kooperation (Z. 2706) ruft Überraschung hervor. Es ist interessant, dass gerade Fadime, die kurze Zeit vorher den höflichen Umgangston praktizierte, sich jetzt von Didems Ausdrucksweise mit dem amüsierten Ausruf <hu: ↓ > (Z. 2708) distanziert; die anderen Mädchen reagieren überrascht (längere Pause). Diese Reaktionen zeigen, dass die Mädchen, die Didems Ausfüllung der Moderatoren- Rolle akzeptieren und bereits selbst höfliche Formen verwenden, dann neue stilistische Mittel und Verfahren ablehnen, wenn sie nicht zu ihren Vorstellungen von einem situationsangemessenen Verhalten passen. Sie arbeiten mit Didem bei der Konstitution eines für die Gruppe akzeptablen Stils für die Durchführung von Planungsaufgaben zusammen; doch sie lehnen die zu formale Situationsdefinition ab, die Didem am Ende der Sitzung initiiert. 2.5.3 Zusammenfassung: Stilistische Veränderungen Eine Gegenüberstellung der beiden Gesprächsereignisse, zwischen denen ein Abstand von 1,5 Jahren liegt, macht Folgendes deutlich: Das sprachlichkommunikative Verhalten Didems als Moderatorin ist verändert und auch das Sprach- und Kommunkationsverhalten der Gruppenmitglieder untereinander hat neue Züge. Wurden früher elaborierte, „höfliche“ Ausdrucksweisen vor allem Außenstehenden gegenüber verwendet und dann oft als „fremd“ und „nicht zu uns gehörig“ kontextualisiert, kommen sie jetzt auch in der Ingroup-Kommunikation vor, ohne Distanzmarkierungen. Vor allem jedoch hat sich das stilistische Bewusstsein geschärft: Die Gruppe beginnt den typischen „Powergirl“-Stil selbstkritisch zu betrachten, selbstironisch zu kommentieren und Distanz dazu aufzubauen. Doch es gibt (immer noch) Situationen, in denen nur die Verwendung charakteristischer „Powergirl“- Stilelemente zum Erfolg bei der Lösung von Interaktionsaufgaben führt; das hat die gemeinsame Bearbeitung des Beziehungsproblems zwischen Turna Der kommunikative Stil 319 und Suna gezeigt. Veränderungen im Ingroup-Stil sind vor allem in Bezug auf folgende Stildimensionen beobachtbar: Regeln des Sprechens: - der Umgangston untereinander ist „höflicher“ geworden, die Gruppenmitglieder beginnen Rederechtsregeln zu respektieren, sich bei Übergriffen zu entschuldigen und den Ausbruch von Emotionen zu kontrollieren; - es werden neue Verfahren zur Herstellung von Interaktionsordnung (Verfahren zur Selbstdisziplin) und zur Beziehungsregulierung (explizite Thematisierung von Fehlverhalten) eingeführt und auf ihren Erfolg hin ausprobiert. Ausdrucksverhalten, Ästhetik und Geschmack: - neben den derb-drastischen Formeln zur Interaktions- und Beziehungsregulierung gibt es zunehmend auch Routinen mit konventionellen Höflichkeitsformen; - die Akzeptanz derb-drastischer Formeln verschiebt sich allmählich; Didem z.B. verwendet in der Moderatorenrolle keine derben Formulierungen mehr, und auch bei Gruppenmitgliedern wie Teslime, die früher bevorzugt derb-drastische Routinen gebrauchte, gehören jetzt auch familiär-freundliche Ausdrucksweisen zur Normalform (vgl. den freundlichen Ton zu Beginn der Sitzung). 3. Deutsch-Türkisches Mixing 239 3.1 Beschreibungskonzepte Der in mehrsprachingen Gesellschaften beobachtete Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen innerhalb von Gesprächen hat seit Beginn der 70er-Jahre zu einer reichen Forschung geführt. 240 In der Soziolinguistik etablierten Blom/ Gumperz (1972) mit ihrer Untersuchung zur sozialen Bedeutung des Wechsels zwischen Dialekt und Standard in einer Dorfgemeinschaft in Norwegen das Thema Code-switching als Forschungsgegenstand. Sie zeigten, dass die Verwendung der einen oder anderen Varietät von sozialen Situationen abhängt und eng mit der sozialen Identität der Dorfbewohner verknüpft 239 Das folgende Kapitel basiert auf Kallmeyer/ Keim/ Aslan/ Cindark (2002) und ist eine überarbeitete und erweiterte Version des Abschlussberichts für das DFG -Projekt. 240 Vgl. z.B. die Sammelbände von Auer (1998), Heller (1988), Jacobson (1998), Milroy/ Muysken (1995) und Pütz (1997). Die „türkischen Powergirls“ 320 ist; Dialekt ist für sie der „we-code“, Standard der „they-code“. Fragen des Zusammenhangs zwischen Sprachwahl und sozialer Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Macht oder gesellschaftlicher Marginalität waren von da an bevorzugte Themen in der Soziolinguistik. Myers-Scotton (1993) betrachtet aus makrosoziolinguistischer Perspektive die gesellschaftliche Verteilung von Sprachen und zeigt, dass aufgrund der sozialen Bedeutungen von Sprachen mit der jeweiligen Sprachwahl Rechte und Pflichten verbunden sind, an denen sich Gesprächspartner orientieren und die die situativ adäquate Sprachwahl steuern. Mit der Arbeit von Poplack (1980) kommen grammatische Aspekte des Code-switching in den wissenschaftlichen Fokus, Fragen nach den strukturellen Positionen, an denen innerhalb von Sätzen gewechselt werden kann, nach universell geltenden grammatischen Beschränkungen für Sprachwechsel (vgl. u.a. Poplack 1980; Myers-Scotton 1993; Muysken 1997) und Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Typen des Sprachwechsels und der Sprachkompetenz bilingualer Sprecher (Poplack 1980; Muysken 1997). Ausgehend von der Erkenntnis, dass bei intrasentenziellem Sprachwechsel die grammatischen Regeln beider Sprachen berücksichtigt werden, formulierte Poplack folgenden Zusammenhang zwischen der bilingualen Kompetenz eines Sprechers und der von ihm bevorzugten Typen von Wechseln: Sprecher, die innerhalb syntaktischer Einheiten wechseln, beherrschen in hohem Maße die grammatischen Regeln beider Sprachen, 241 während Sprecher, die an syntaktischen Rändern wechseln, nur in einer der beiden Sprachen kompetent sein müssen, während in der anderen Sprache auch geringere Fähigkeiten ausreichen. 242 Doch beide Untersuchungsansätze, der makro-soziolinguistische ebenso wie der grammatische, können nur einen Teil der empirisch beobachtbaren Fälle von Code-switching und die sie steuernden Regularitäten erklären. Der grammatische Ansatz fokussiert den intrasentenziellen Wechsel und interessiert sich nur am Rande für intersentenzielle Wechsel; und makro-soziolinguistische Ansätze können die Fälle von Code-switching nicht erklären, in denen keine soziale Bedeutung verhandelt wird. Auf der Basis von Konversationsanalyse und Kontextualisierungsansatz (Gumperz 1982; Auer 1986) 241 Poplack (1980, S. 615f.) „True bilinguals prefer intrasententiell code-switching“. 242 Es genügt z.B. die Verwendung von Verknüpfungspartikeln, Diskursmarkern, formelhaften Wendungen u.Ä. Der kommunikative Stil 321 versuchen interaktive Ansätze diese Lücke zu schließen. Ausgehend von der empirischen Erkenntnis, dass übergeordnete Aspekte einer Gesprächssituation das Sprachwechselverhalten nie total steuern, sondern dass immer lokale Aushandlungen möglich sind, rekonstruieren sie die mit einem Sprachwechsel jeweils lokal hergestellte interaktive und soziale Bedeutung; 243 dabei kommen auch intersentenzielle Code-switchings in den Blick, und die mit dem Sprachwechsel verbundenen Funkionen können wesentlich differenzierter beschrieben werden als mit makro-soziolinguistischen Modellen. Während lange Zeit Code-switching der übergeordnete Begriff für viele Sprachwechselphänomene war (Poplack 1980; Heller 1988; Myers-Scotton 1993 u.a.), werden in interaktionistischen ebenso wie in neuern grammatischen Arbeiten verschiedene Grade der Verknüpfungsintensität zwischen zwei Sprachen auch begrifflich getrennt. Auer (1999) unterscheidet zwischen Code-switching, Code-mixing und „fused lects“. Unter Code-switching fasst er die in der Interaktion lokal bedeutungsvollen Wechsel, die Kontextualisierungsfunktion haben und zusätzliche interaktive oder soziale Bedeutung signalisieren. Je häufiger die Sprecher zwischen den Sprachen wechseln, desto mehr geht die Qualität als Kontextualisierungshinweis verloren, die einzelnen Sprachwechsel haben geringe oder keine Bedeutung mehr, und es entsteht der Eindruck eines gemischtsprachlichen Codes (Auer 1999, S. 320ff.), den er als Code-mixing bezeichnet. 244 Wenn Mischungen eine Stabilität im grammatischen Sinne erreicht haben und die Verwendung von Elementen aus der einen und der anderen Sprache festen Regeln folgen, handelt es sich um „fused lects“. Ähnlich wie Auer unterscheidet auch Franceschini (1998) zwischen „starken“ Funktionen des Alternierens im Codeswitching, bis hin zu „schwachen“ oder keinen Funktionen im Code-mixing. Nach Franceschini betreffen starke Funktionen „changes in participant constellation, turn-taking, topic change, side remarks, or contrastive devices like 243 Die erste gesprächsanalytisch ausgerichtete Untersuchung zu Code-switching war Auer (1984). Weitere Arbeiten folgten, z.B. Sebba (1993). Vgl. vor allem auch die Beiträge in dem von Auer (1998) herausgegebenen Sammelband und die Analysen von Bierbach/ Birken-Silverman (2002), Hinnenkamp (2005), Kallmeyer/ Keim (2003a), (2004) und Keim (2002a-c), (2003b). 244 Das sind prototypische Konzepte; bei der konkreten Analyse von Sprachdaten ist es oft schwierig, eine klare Zuordnung zu dem einen oder anderen Konzept vorzunehmen, eine Schwierigkeit, auf die auch Auer verweist. In unserem Material gibt es viele Falle, die im Bereich zwischen Switching und Mixing im Sinne von Auer einzuordnen sind. Die „türkischen Powergirls“ 322 topicalisation and reported speech“ (Franceschini 1998, S. 60). Im Codemixing generiert die Alternation keine lokale Bedeutung mehr, d.h., Code-mixing „behaves more like a unique code than like two different ones“ (ebd., S. 61). Auch bei Meeuwis/ Blommaert (1998, S. 76) gibt es das Konzept des „mixed code“ als übergeordneten Begriff, den sie als einen „code in its own right“ verstehen. Eine adäquate Analyse setzt eine „monolectal view of code-switching“ voraus, die nicht bei jedem Wechsel nach dessen Funktionalität fragt, sondern den unmarkierten, normalen Gebrauch des Wechsels erfasst. Backus (1996) spricht in seiner Untersuchung zur türkischstämmigen Sprechergemeinschaft in Holland von bilingualen Lekten, die Codecharakter haben; nach seiner Beobachtung können Codes Mischungen aus zwei oder mehr Sprachen sein. 245 Aus grammatischer Perspektive verwendet Muysken (1997, 2001) den Begriff des „mixing“ nur für intrasentenzielle Wechsel. Diese untergliedert er in drei Typen: die „alternierenden“ Wechsel an den Rändern von Sätzen (z.B. Partikel, Diskursmarker, tags), die „insertierenden“ Wechsel, d.h. lexikalische Einbettungen von Elementen einer Sprache in die grammatische Struktur der anderen Sprache, und außerdem die „congruent lexicalization“ in Fällen, in denen die Strukturen beider Sprachen gleich sind und an jeder Stelle innerhalb eines Satzes gewechselt werden kann. Myers-Scotton (1993) dagegen lehnt den Terminus „mixing“ für dichte Sprachwechsel mit dem Hinweis ab, dass in der Sprachkontaktforschung der Terminus „mixed languages“ nur auf ganz wenige sprachliche Sonderformen angewandt wird, die durch langfristige und spezifische Sprachkontaktbedingungen entstanden sind. 246 Sie spricht in Fällen, in denen der ständige Wechsel zwischen Sprachen oder Varietäten zur „Normalität einer Sprechergemeinschaft“ gehört, von „code-switching as the unmarked choice in contrast to classical codeswitching as the marked choice“ (Myers-Scotton 2002). Das Code-switching „as the unmarked choice“ im Sinne von Myers-Scotton ist vergleichbar dem Konzept des „mixed code“ bei Meeuwis/ Blommaert, Backus und Francheschini bzw. dem Konzept des Code-mixing bei Auer. 245 Vgl. Backus (1996, S. 8): „Nothing prevents a code from being made up of more than one language.“ 246 In „mixed languages“ sind Kontakterscheinungen grammatikalisiert und systematisch: z.B. stammen die grammatischen Strukturen aus der einen am Kontakt beteiligten Sprache und das Lexikon aus der anderen. Als Beispiele für „mixed languages“ werden immer wieder Ma'a und Michif angeführt. Der kommunikative Stil 323 Seit Beginn der 90er-Jahre gibt es in Europa Untersuchungen zu bilingualen Gruppen oder Gemeinschaften mit Türkisch als einer der beteiligten Sprachen. Joergensen, Holmen und Can untersuchen in einer Längsschnittstudie in Dänemark (Koege) das Sprachverhalten und die Sprachentwicklung bilingualer Migrantenkinder türkischer Herkunft und ihre Kompetenz in beiden Sprachen. Ausgehend von Blom/ Gumperz' Unterscheidung zwischen „wecode“ und „they-code“ stellt Joergensen (1998) fest, dass für die Elterngeneration Türkisch der „we-code“ und Dänisch der „they-code“ ist, die zweite Generation dagegen eine bilinguale Identität entwickelt und für sie Codeswitching zum „we-code“ wird. Auch Backus (1996) zeigt, dass bei jugendlichen Migranten in Holland Code-switching die am meisten verwendeten Sprachformen sind, 247 wobei die Sprecher in Abhängigkeit vom Alter, in dem sie Niederländisch lernten, große Unterschiede im Sprachwechselverhalten zeigen: - die „erste Generation“, die erst nach dem 12. Lebensjahr Niederländisch zu lernen begann, ist dominant türkischsprachig, und die Rolle von Niederländisch ist begrenzt; es kommen vor allem intrasentenzielle Wechsel vor, niederländische Lexeme werden in türkische Strukturen eingebettet; 248 - in der Gruppe der „mittleren Generation“ (intermediate generation), die im Alter von 6-11 Jahren Niederländisch lernte, ist Sprachwechsel stark verbreitet, mit etwa gleichen Anteilen von inter- und intrasentenziellen Wechseln. Oft ist Türkisch die Matrixsprache 249 mit vielen Insertionen aus dem Niederländischen; 250 bei dicht aufeinander folgenden Wechseln entstehen Formen von Mixing; 247 Auch in anderen Migrantenpopulationen sind Mischungen weit verbreitet; vgl. z.B. die Untersuchungen von Jacobson (1990) zu Spanischsprechern in den USA , von Bentahila/ Davies (1995) zu arabisch-französisch Zweisprachigen in Marokko, von Nishimura (1995) zu kanadischen Japanischsprechern. 248 Das sind vor allem Nomina, darunter viele „cultural borrowings“ (kulturbezogene lexikalische Übernahmen); wenn größere syntaktische Einheiten in Niederländisch auftreten, sind es Zitate von Niederländischsprechern. 249 Matrixsprache nach Myers-Scotton (1993) ist die Sprache, die die morphologischen und syntaktischen Regeln liefert, nach denen übernommene Elemente eingebettet werden. 250 Am häufigsten werden Nomina und Adjektive aus dem Niederländischen in türkische Strukturen eingebettet; es gibt aber auch Einbettungen von mehrgliedrigen Konstituenten ( NP s und PP s). Sehr häufig werden niederländische Verben mit dem yapmak-Hilfsverb (= machen, tun) verbunden und es gibt einige „ragged switches“, bei denen eine doppelte morphologische Markierung vorliegt (z.B. met de begeleiding ile). Die „türkischen Powergirls“ 324 - in der Gruppe der „zweiten Generation“, die vor dem Schulalter Niederländisch lernte, wird Niederländisch häufiger als Türkisch verwendet; 251 auch hier kommen Wechsel sehr häufig vor, aber vor allem intersentenzielle Wechsel. Nach Beobachtung von Backus lernen Migrantenkinder Sprachmischungen als ihre natürliche Umgangssprache in der Kommunikation untereinander. Wenn sie außerdem intensive Beziehungen zu monolingualen Sprechern haben, lernen sie zwischen monolingualen und bilingualen Situationen zu unterscheiden. Vor dem Hintergrund einer in deutschen Bildungsinstitutionen häufig vertretenen Auffassung, dass sprachliche Mischungen „doppelte Halbsprachigkeit“ der Sprecher signalisieren, heben Dirim (1995) und Hinnenkamp (2005) die gemischtsprachlichen Fähigkeiten bilingualer Migranten hervor. 252 Vor allem Hinnenkamp zeigt die Virtuosität von türkischen Jugendlichen im Gebrauch und in der „harmonischen“ Verbindung von Türkisch und Deutsch. Neben Code-switching - im Anschluss an Auer der interaktiv bedeutungsvolle Sprachwechsel - beschreibt er sehr dichte Sprachmischungen, die er „Code-Oszillieren“ nennt, und Neubildungen, die er als „kreole“ Formen bezeichnet. 253 Nach seiner Beobachtung sind Mischvarietäten nicht Ausdruck mangelnder Kompetenz in zwei Sprachen, sondern Ausdruck eines neuen deutsch-türkischen Selbstbewusstseins. Die „Powergirls“ haben für ihre Praxis des Sprachmischens eigene Bezeichnungen wie „Mischmasch“, „Mixsprache“ oder „Mischsprache“ und unterscheiden zwischen „Mischsprache“ als normaler Sprachform unter Bilingualen im Unterschied zu Deutsch bzw. Türkisch gegenüber monolingualen Sprechern. Exemplarisch dafür ist ein Ausschnitt aus einem Fernsehinterview, das die SWR3-Redaktion mit den „Powergirls“ durchführte. Auf die 251 Das verwendete Türkisch ist im Wesentlichen grammatisch korrekt. 252 Dirim (1995) bezeichnet die Mehrsprachigkeit von Kindern, für deren Sprachverhalten code-switching innerhalb einer Äußerung typisch sei, nicht als „doppelseitige Halbsprachigkeit“, sondern als eine „lebensweltliche Zweisprachigkeit“, die sie als „kulturelles Kapital“ betrachtet. 253 Zu „kreolen“ Formen rechnet er die deutsch-türkischen Verbkonstruktionen mit yapmak, in denen ein infinites Verb aus der Mehrheitssprache in Verbindung mit einer flektierten Form des Verbs yapmak gebracht und das türkische Konstruktionsmuster Adj./ Nomen + yapmak zu VERB inf. (aus der Mehrheitssprache) + yapmak fin. erweitert wird; vgl. unten Kap. 3.2.2. Der kommunikative Stil 325 Frage des Interviewers was redst du zuhause de“nn ↓ * hier in Mannheim ↓ antwortet Tura (sie spricht für die Gruppe) 06 TU: also zuhause mit meinen eltern red isch türkisch ↑ 07 TU: aber wenn isch mit meinen geschwistern und mit mein=n 08 TU: freunden rede rede isch- * fünfzig zu fünfzig ↓ also 09 TU: mal türki: sch ↓ mal deutsch ↓ automatisch kommt dann 10 TU: türkisch und auch deutsch ↓ also=s=is eher ne mixsprache ↓ 11 TU: rein deutsch oder rein türkisch mit meinen freunden 12 TU: kann=sch- * ni“scht ↓ weil des kommt immer 14 TU: automatisch ↓ Und ihre Freundin Fulya ergänzt: 15 FU: des=s halt so=n/ → wie die Turna schon gesagt hat ← 16 FU: des is ne mixsprache ↓ Die Mixingpraxis ist die Normalform in der Gruppe. Auf die Frage des Interviewers bringt euch des vorteile oder nachteile ↑ sind sich beide Mädchen einig: 27 FU: vorteile ↓ * | nach|teile au“ch ↓ aber 28 TU: eh vo“r|teile| ja“ ↓ * 29 FU: auch vorteilein der hinsicht dass man- ** halt- 30 FU: > ← mehr wortschatz hat ↓→ < >dass man mehr wörter kennt ↓ 31 TU: und dass uns die eltern un=die lehrer nicht verstehn ↓ Mixing hat für die Mädchen vor allem Vorteile; es erweitert ihr Ausdrucksvermögen, fungiert als Gruppensprache und wird von monolingualen Außenstehenden nicht verstanden. Im Folgenden wird der Begriff „Mischung“ oder „Mixing“ als Teilnehmer- Kategorie zur Erfassung von deutsch-türkischen Sprachwechselmustern verwendet, die auf Interaktions- und Diskursphasen bezogen sind. Diese Mischungen werden unter strukturellen Aspekten analysiert, d.h., die lexikalischen und syntaktischen Anteile - Wörter und grammatische Strukturen - aus beiden Sprachen werden quantitativ erfasst, ebenso wie die Muster für die Verknüpfung von Elementen aus beiden Sprachen. Dabei wird zwischen „intersentenziellem“ und „intrasentenziellem“ Wechsel unterschieden, und die intrasentenziellen Wechsel werden im Anschluss an Muysken mit den die Kategorien „insertional“, „alternational“ und „congruent lexicalization“ analysiert (Kap. 3.2). Die „türkischen Powergirls“ 326 In Auseinandersetzung mit Auers Kriterien für Code-switching und Codemixing und Franceschinis Gewichtungskriterien für „starke“ und „schwache“ Funktionen werden die Sprachwechsel unter qualitativem Aspekt im Hinblick auf die Funktionen analysiert, die sie zur Strukturierung von Darstellungen und Interaktionen oder zum Verweis auf soziale Eigenschaften und soziale Kontexte ausfüllen können. 254 In Kap. 3.2 werden die Sprachwechsel strukturell beschrieben, in Kap. 3.3 im Hinblick auf interaktions- und darstellungsstrukturelle Funktionen und in Kap. 4.2.1 - 4.2.3 im Hinblick auf sozial-symbolisierende Funktionen. 3.2 Bestandteile und Strukturen des Mixing Die deutschen Anteile im Mixing der „Powergirls“ haben dieselben Strukturen wie das monolinguale Deutsch der Sprecherinnen (vgl. oben Kap. 2.1), d.h., sie bewegen sich zwischen standardnahen, jugendsprachlichen und ethnolektalen Formen. Das Türkische der „Powergirls“ wurde von Cindark/ Aslan (2004) und Sirim (2003) ausführlich beschrieben; 255 ihre Ergebnisse werde ich im Folgenden kurz zusammenfassen. 3.2.1 Migrantentürkisch Die meisten Untersuchungen zum Türkisch von Migrantenkindern in Deutschland basieren auf schriftlichen Daten und stellen - im Vergleich zum Standardtürkischen - erhebliche Auffälligkeiten im Türkisch der Kinder fest. 256 Ein solcher Vergleich lässt jedoch außer Acht, dass die meisten Kin- 254 Strukturelle und funktionale Aspekte von Sprachwechsel wurden in allen Projekten aus der DFG -Forschergruppe zu „Sprachvariation - strukturelle und funktionale Parameter“, untersucht, die von 2000-2004 an der Universität Mannheim und dem Institut für Deutsche Sprache bestand. Das Projekt von Tracy/ Lattey fokussierte strukturelle Aspekte, während die Projekte von Androutsopoulos, Bierbach/ Birken-Silverman, Kallmeyer/ Keim und Müller vor allem funktionale Aspekte untersuchten; zu Veröffentlichungen vgl. die Homepage der DFG -Forschergruppe, Universität Mannheim/ IDS , Mannheim ( www. ids-mannheim.de/ prag/ sprachvariation ). 255 Sema Aslan, Ibrahim Cindark und Emran Sirim sind MitarbeiterInnen in dem Projekt „Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile“ und haben das Türkische der Powergirls und der Europatürken untersucht. Cindark/ Aslan (2004) bezeichnen das gesprochene Türkisch der Migrantenkinder und -jugendlichen als „Migrantentürkisch“. 256 Aydin Aytemiz (1990) vergleicht die schriftlichen Deutsch- und Türkischkenntnisse bilingualer Schüler mit denen monolingualer Schüler aus Deutschland und der Türkei. Die untersuchten bilingualen Kinder zeigen Defizite in beiden Sprachen; der Autor bezeichnet Der kommunikative Stil 327 der in Deutschland kein Standardtürkisch lernen, sondern die dialektalen Varietäten, die in der Familie gesprochen werden. Außerdem ist Türkisch für die Kinder eine gesprochene und keine geschriebene Varietät. 257 Von daher ist das geschriebene Standardtürkisch nicht die adäquate Vergleichsnorm, um Aussagen über Veränderungen im Türkisch der Kinder in Deutschland zu machen. Carol Pfaff (1991, 1999), die zu den wenigen AutorInnen gehört, die das gesprochene Türkisch der Kinder untersucht, zeigt, dass die türkische Morphologie stabil und relativ unbeeinflusst von deutschsprachigen Strukturen ist. Nur bei deutschdominanten Kindern zeigen sich Besonderheiten im Syntaxbereich: Die zur Bildung von Nebensätzen notwendigen Partizip- und Gerundiumformen fehlen und die Rektion türkischer Verben ist teilweise verändert. Rehbein (2001), der für das Türkische charakteristische Bereiche wie Definitheit, Subordination, Deixis, Anaphora und Konnektivität - allerdings anhand von schriftlichen Texten - untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass das Türkische sich unter dem Einfluss des Deutschen zu einer Kontaktsprache entwickelt und die für synthetische Sprachen charakteristischen Merkmale zugunsten von Merkmalen analytischer Sprachen zurückgehen. 258 sie als in beiden Sprachen „halbsprachig“. Sari (1995) untersucht die Bildung komplexer Sätze im schriftlichen Türkisch von Migrantenkindern und zeigt, dass dass-, ob- und weil- Sätze ähnlich wie im Deutschen gebildet werden, also voran- oder nachgestellt, und nicht durch morphologisch-syntaktische Integration. Menz verwendet in ihrer Magisterarbeit (1995) im Wesentlichen schriftliche Daten und stellt semantische, syntaktische und lexikalische Veränderungen im Türkischen der Migrantenjugendlichen fest, die sie als Interferenzen aus dem Deutschen beschreibt. Cabadağ (2001) wählt schriftliches Übersetzungsmaterial als Datenbasis und kommt zum Ergebnis, dass das „Diasporatürkisch“ in Deutschland in den Bereichen der Verbmorphologie, der Lexik und Orthografie Einflüsse aus dem Deutschen zeigt. 257 Der so genannte „Muttersprachenunterricht“ für Migrantenkindrer, in dem sie Standardtürkisch lernen könnten, findet - zumindest in Baden-Württemberg - am Nachmittag statt, ist nicht versetzungsrelevant und wird von vielen Kindern nicht angenommen. 258 „It seems apparent that the complex construction of stem and suffixes [...] is not maintained in bilingual speech situations [...]. The tendency is towards developing a concept of words as whole and compact expressions instead of suffixes, a tendency which is characteristic of analytic languages“ (Rehbein 2001, S. 15). „We see a tendency to adopt some construction principles of the inflecting of analytic languages of Europe“ (ebd., S. 16). Gleichzeitig hebt der Autor hervor, dass es sich bei diesen „Veränderungen“ um Strukturen handelt, die auch im Türkeitürkischen vorkommen, dort jedoch eher peripher sind bzw. in anderer Weise verwendet werden, als von den bilingualen Migranten (ebd.). Die „türkischen Powergirls“ 328 Cindark/ Aslan (2004) untersuchen im Türkisch der „Powergirls“ und der „Europatürken“ drei grammatische Bereiche, die in der bisherigen Forschung als auffallend hervorgehoben wurden: die Verbrektion und die Verwendung von anaphorischen Pronomina und von Fragepartikeln in Entscheidungsfragen. Sie zeigen, dass im Gesprächsmaterial der „Powergirls“ zwischen 94% und 97% der Fälle korrekt produziert und nur 3-6% der Fälle auffällig sind. 259 Eine genaue Analyse der Auffälligkeiten zeigt, dass die meisten durch Übergeneralisierung einer im gesprochenen Türkisch geltenden Regel erklärt werden können, und nur in einigen Fällen (auch) Interferenzen aus dem Deutschen eine Rolle spielen könnten. Regeln, die in einem türkischen Dialekt möglich/ üblich sind oder Regeln des Türkischen, die nur unter besonderen Bedingungen gelten, werden im Türkischen der Migranten übergeneralisiert, wobei Einflüsse aus dem Deutschen verstärkend wirken können. Die Autoren sehen keine eindeutigen Anzeichen für die Herausbildung eines „Deutschlandtürkisch“, da die Jugendlichen die morphologischen und syntaktischen Regeln des Türkischen in hohem Maße beherrschen. Die Abweichungen von der Norm in 3-6% der untersuchten Fälle genügen allerdings, um die Jugendlichen für türkeitürkische Sprecher auffällig zu machen. 260 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Sirim (2003): Die „Powergirls“ beherrschen die türkischen Strukturen im Wesentlichen und zeigen nur in 2-7% der untersuchten Fälle Auffälligkeiten, 261 die sie ähnlich wie Cindark/ Aslan durch eine Ausweitung bzw. Generalisierung von Regeln, die im gesprochenen Türkeitürkisch nur unter bestimmten Bedingungen gelten, erklärt. Die Ergebnisse der genannten AutorInnen zeigen also, dass die untersuchten morphologisch-syntaktischen Bereiche in hohem Maße dem gesprochenen Umgangstürkisch entsprechen, d.h., dass die „Powergirls“ die türkische Grammatik im Wesentlichen beherrschen und es nur in wenigen Fällen 259 Für die „Powergirls“ wurden 3 Stunden Aufnahmen von Familiengesprächen und Gesprächen mit den Eltern herangezogen. Die Vergleichsnorm für Auffälligkeiten ist das gesprochene Umgangstürkisch. Dazu wurde die (wenige) Forschungsliteratur zum gesprochenen und dialektalen Türkisch herangezogen, ergänzt durch Befragungen türkeitürkischer InformantInnen. 260 Eine türkeitürkische Informantin, der das Material vorgelegt wurde, stellte z.B. fest, „dass die Fragepartikel fehlt“, obwohl sie nur in 3% der Fälle fehlte; die 97% richtigen Realisierungen fielen ihr nicht auf. D.h., im Urteil eines kompetenten Sprechers werden geringe Abweichungen zu grundlegenden Defiziten generalisiert, während normgerechte Formen nicht in den Blick kommen. 261 Sirim bezieht noch mehr Gesprächsmaterial in ihre Analyse ein als Cindark/ Aslan. Der kommunikative Stil 329 (zwischen 3% und 7%) Auffälligkeiten gibt. Im Bereich der Lexik dagegen gibt es größere Unterschiede zu gesprochenen Varietäten in der Türkei. Sirim stellt in vielen Sach- und Wissensbereichen lexikalische Lücken, semantische Unter- und Überdifferenzierungen, Wort-für-Wort-Übertragungen aus dem Deutschen, auffallende Bildungen bei Kollokationen und Phraseologismen, sowie den Gebrauch veralteter Formeln fest. 262 Zu den Fach- und Sachbereichen, die die „Powergirls“ in der Schule lernen, fehlt der entsprechende türkische Wortschatz; d.h., über den Einfluss von Schule und Ausbildung ist die Ausdrucksfähigkeit der „Powergirls“ im Deutschen wesentlich ausdifferenzierter als im Türkischen. Für eine Ausdifferenzierung im Türkischen gibt es im Alltag der Mädchen auch keine Notwendigkeit, da der Wechsel ins Deutsche jederzeit möglich ist. Lexikalische Lücken im Türkischen sind jedoch keineswegs allein die Ursache oder die Motivation für die ausgeprägte Mixingpraxis der „Powergirls“. In vielen Fällen, in denen deutsche Wörter in türkische Strukturen eingebettet werden, handelt es sich um alltäglichen Wortschatz, über den die Sprecherinnen auch im Türkischen verfügen. 263 D.h., die Verwendung deutscher Wörter in türkischen Strukturen kann nur in einem Teil der Fälle mit einer lexikalischen Lücke erklärt werden; in den übrigen Fällen kennen die Sprecherinnen die Lexeme in beiden Sprachen. Dass das deutsche Wort zuerst gewählt wird, hängt mit Alltagsroutinen, mit Präferenzen oder besonderen Konnotationen zusammen. Umgekehrt gibt es auch thematische Bereiche, in denen die Sprecherinnen türkische Bezeichnungen präferieren, weil - wie sie sagen - das Türkische besser klingt, ihnen vertrauter ist, und sie einen bestimmten Sachverhalt, ein Gefühl nur in Türkisch ausdrücken können. Aus der intensiven Mixingpraxis lassen sich also keine einfachen Rückschlüsse auf das lexikalische Wissen der Sprecherinnen in beiden Sprachen ziehen. 262 Ich verweise auf Sirim (2003, S. 84ff.). Der Wortschatz ist auch nach Aussage der Mädchen der Bereich, in dem sie bei Besuchen in der Türkei auffallen und der am häufigsten zu Sprachwechseln ins Deutsche führt (vgl. dazu oben Teil II, Kap. 6.3). 263 Zur Semantik der deutschen Wörter im Mixing der „Powergirls“ vgl. Balci (2005). Die Autorin unterscheidet bei den Insertionen zwischen a) „cultural borrowings“, für die es im Türkischen keine Entsprechung gibt (Bezeichnungen für Ausbildungsgänge, Institutionen, Feste, u.Ä.) und die aus dem Deutschen übernommen werden müssen; und b) „core borrowings“, spontane Entlehnungen, für die es im Türkischen eine Entsprechung gibt. Die meisten Insertionen im Material der „Powergirls“ sind „core borrowings“. In vielen Fällen von „core borrowings“ kennen die Mädchen auch den türkischen Ausdruck. Die „türkischen Powergirls“ 330 3.2.2 Enge Verknüpfungen Charakteristisch für das Mixing der „Powergirls“ ist der dichte Wechsel zwischen Elementen aus beiden Sprachen, durchschnittlich wird nach jedem fünften bis sechsten Wort gewechselt. Bei insertierendem Wechsel mit spontanen oder kulturellen Entlehnungen werden die entlehnten Elemente syntaktisch und morphologisch in die Matrixsprache integriert. Typisch für das Mixing ist ein schnelles, sehr flüssiges, selbstverständliches Sprechen. Elemente aus beiden Sprachen können sehr dicht miteinander verknüpft werden, wie im folgenden Beispiel: 264 01 ME: o da konu ş ma=de gan=zeit ben=d=böyl=aptım 02 Ü: er hat auch nich gesprochen die ganze zeit und ich hab so gemacht Der Höreindruck von Einheitlichkeit kommt durch die prosodische Kontur zustande, die Elemente aus beiden Sprachen ohne Segmentierung überspannt: 265 __________________________________________________ ___________________________o_______________o______ ____o__o__o_____o___o__o________o__o___o______o___ _____________o____________________________________ → o da konuşma = de gan = zeit ben de böyl = aptım ↓ - - - . - - - - - - - = - Außerdem werden Anteile aus beiden Sprachen überblendet, so dass einer lautlichen Einheit zwei unterschiedliche grammatische Kategorien zugrunde liegen. Die grammatisch vollständige Version der Äußerung sieht folgendermaßen aus: o da konuşmadı die gan=zeit, d.h., in der verkürzten Version fallen - das türkische Morphem für 3. Pers. Sg. Prät: dı und - der deutsche feminine Artikel: die zusammen und werden phonetisch als [d ´ ] realisiert. Bezogen auf die türkische Struktur erfüllt [d ´ ] also die Funktion der 3. Pers. Sg. Prät., bezogen auf die deutsche Struktur die Funktion des femininen Artikels. 264 Die türkischen Elemente sind fett gedruckt. 265 Die Zeichen über der Sprecherzeile zeigen den Intonationsverlauf, die Zeichen unter der Sprecherzeile die rhythmische Struktur: (-) mittlere Betonung, (.) leichte Betonung, (=) starke Betonung. Der kommunikative Stil 331 Neben Verschleifungen mit Überblendungen kommen auch Mischungen aus Elementen beider Sprachen vor, die bereits eine stabile Struktur haben. Das ist die Verknüpfung eines deutschen Verbs im Infinitiv mit einer finiten Form der türkischen Verben yapmak oder etmek (tun, machen). 266 Im Türkischen gibt es periphrastische Bildungen aus N/ Adj + yapmak oder etmek. Im Mixing werden solche Strukturen erweitert zur Kombination aus deutschem Verb im Infinitiv und yapmak oder etmek. Im folgenden Beispiel wird austeilen mit einer flektierten Form von yapmak kombiniert: 267 a) 01 TE: ben bizim okulda austeilen yapsaydım * be vier eins 02 Ü: wenn ich [sie] in unserer schule ausgeteilt hätte die b-4-1 03 TE: und zwei gelirdi 04 Ü: und 2 wären gekommen Strukturbeschreibung: austeilen yapsaydım dt.inf.Verb 1.Pers.Sg.Prät.Konj. von yapmak wörtlich: austeilen hätte ich gemacht Übersetzung: ich hätte ausgeteilt Im nächsten Beispiel wird teilnehmen mit einer Form von etmek kombiniert: b) 01 ZE: misswahlda tei“lnehmen >etmi ş ↓ < 02 Ü: sie hat an einer Misswahl teilgenommen Strukturbeschreibung: teilnehmen etmiş dt.inf.Verb 3.Pers.Sg.Prät. von etmek wörtlich: teilnehmen tat sie Übersetzung: sie nahm teil/ hat teilgenommen Vereinzelt kommen auch morphologische Doppelungen bei der Pluralbildung vor, wie z.B. in kinderler, datenler, wobei an das deutsche Pluralmorphem zusätzlich das türkische angehängt wird. 268 Im folgenden Beispiel treten an das deutsche Pluralmorphem das türkische und außerdem das türkische Dativmorphem -a: 266 Hinnenkamp (2005) fasst sie als „kreole“ Formen. Solche Konstruktionen werden auch für andere türkischstämmige Milieus in Europa beschrieben, vgl. Backus (1996) für die Niederlande, Joergensen (1998) für Dänemark. 267 Die Mischkonstruktion ist unterstrichen, die türkischen Elemente sind fett. 268 Morphologische Doppelungen kommen häufig in Sprachkontaktsituationen vor; vgl. dazu auch Backus (1996). Die „türkischen Powergirls“ 332 01 ZE: und doktor röntgen bilderlara daha bakmamı ş 02 Ü: der arzt hat sich die röntgenbilder noch nicht angesehen Strukturbeschreibung: bild - er - lar - a dt.Nom. + dt.Pl. + tk.Pl. + tk.Dat. 3.2.3 Unterschiedliche Variationsprofile 269 Das Mixing der „Powergirls“ ist keine homogene Sprachform: Es gibt Sprecherinnen, die in habitualisierter Weise mehr türkisches, andere, die in habitualisierter Weise mehr deutsches Sprachmaterial verwenden. Diese Unterschiede hängen mit schulischen und sozialen Erfahrungen und Anforderungen zusammen: Die Mädchen, die mehr deutsches Sprachmaterial verwenden, besuchen Schulen außerhalb des „Ghettos“ und bewegen sich in sozialen Kontexten, in denen Deutsch die dominante Sprache ist. Die Mädchen, die mehr türkisches Material verwenden, besuchen (noch) die „Ghetto“-Hauptschule mit einem Migrantenanteil von über 90%. Mit zunehmenden deutschsprachigen Anforderungen in Schule und Ausbildung steigt also der Deutschanteil im Mixing. Mädchen, die zur Zeit des Besuchs der 9. Hauptschulklasse (noch) hohe türkische Anteile haben, haben nach Abschluss der Realschule auch ihr Sprachverhalten verändert: Die deutschsprachigen Anteile im Mixing ebenso wie die Fähigkeit, flüssig und grammatisch unauffällig Deutsch zu sprechen, nehmen deutlich zu. Die Sprecherinnen, die habituell mehr türkische Lexeme und türkische Strukturen verwenden, kombinieren die Elemente aus beiden Sprachen in anderer Weise als Sprecherinnen, die deutsche Lexeme und deutsche Strukturen bevorzugen. Wir haben für beide Gruppen exemplarische Vertreterinnen ausgewählt und ihr Sprachverhalten in verschiedenen Kommunikationssituationen (längere Interaktionssequenzen mit Erzählungen, Informationsaustausch und „situational talk“) unter strukturellen Aspekten untersucht, und für beide Sprechertypen die Verwendung von Türkisch und Deutsch nach der Häufigkeit von Wörtern und syntaktischen Strukturen aus beiden Sprachen und nach der Verwendung unterschiedlicher Wechseltypen codiert und gemessen (inter- und intrasentenziellen Wechsel; bei intrasentenziellen Wechseln die Unterscheidung zwischen Insertionen, Alternationen und „congruent lexicalization“). Dann haben wir die Sprecherinnen nach der Verwendungshäufigkeit von 269 Die strukturelle Analyse wurde von Emran Sirim ausgeführt. Der kommunikative Stil 333 deutschem bzw. türkischem Material auf einem Kontinuum zwischen den Polen „Deutsch“ und „Türkisch“ angeordnet, wobei die Pole selbst - solange die Sprecherinnen im Mixing sind - nicht erreicht werden. Für das Sprechen „nahe am türkischen“ bzw. „nahe am deutschen Pol“ gibt es typische Variationsprofile, die sich hinsichtlich der Verteilung von Elementen aus beiden Sprachen und hinsichtlich der Sprachwechseltypen unterscheiden. 3.2.3.1 Variationsprofil „nahe am türkischen Pol“ Bewegen sich Sprecherinnen nahe am türkischen Pol, sind bis zu 70% der Lexik und der syntaktischen Strukturen Türkisch, der Rest ist Deutsch (einige sind nicht zuzuordnen). 52% der Wechsel sind intersentenziell und 44% der Wechsel sind intrasentenziell (4% Restkategorie). Bei den intrasentenziellen Wechseln besteht der größte Teil aus Insertionen (61%), die meisten morphologisch integriert, die übrigen sind Alternationen (39%), z.B. narrative Konnektoren, Diskursmarker, tags, u.Ä. Variationsprofil „nahe am türkischen Pol“: Lexik: 70% Türkisch 25% Deutsch Rest 5% Syntax: 70% Türkisch 28% Deutsch Rest 2% Wechseltyp: 52% interst. 44% intrast. Rest 4% Intrasentenziell: 61% Insertionen 35% Alternationen 4% con.lex. Tabelle 1 Zur Illustration ein kleiner Ausschnitt aus einer Erzählung, die Meline, eine Sprecherin, die sich in habitualisierter Weise nahe am türkischen Pol bewegt, 270 an ihre Freundin Zeynep adressiert. Unter dem Transkriptblock wird in einer extra Zeile der Typ des Wechsels (WT) in abgekürzter Schreibweise notiert, intersentenziell (interst.) und intrasentenziell (intrast.), und bei den intrasentenziellen Wechseln die alternierenden (alt.), insertierenden (insert.) Wechsel ebenso wie die congruent lexicalization (con.lex.) unterschieden: 586 ME: ş imdik ↓ | ← bizim okulda ş imdik treppeler var ya 587 Ü: jetzt in unserer schule sind doch so Treppen jetzt WT: insert. 588 ME: hani ↑ * ben ş imdi ikinci kattayım Emelde 589 Ü: ich bin jetzt im zweiten Stock und Emel 270 Zur Zeit der Aufnahme besucht sie die 8. Hauptschulklasse im „Ghetto“. Die „türkischen Powergirls“ 334 590 ME: a ş a ğ ıdaki katta ↓ bana bahıyo böyle tamam mı ↑ 591 Ü: ist im unteren Stockwerk und schaut mich so an okay 592 ME: +< → dur dur bekle bekle ↓← > * 593 Ü: halt halt warte warte 594 K: ZU ZE 595 ZE: nimm ma die“ langer ↓ WT: interst. interst. 596 ME: ondan son/ >orası çok bu sefer ↓ < * und die hat so 597 Ü: und dann/ diesmal ist das mehr 598 K: ZU ZE WT: interst. 599 ME: doppelte oberteile angehabt tamam mı ↑ * böyle 600 Ü: okay so WT: alt./ tag 601 ME: durchsichtig biraz ↑ * üsttekini kaldırdı böyle 602 Ü: ein bisschen das obere hat sie so hochgehoben WT: con.lex. 603 ME: >içini gösterdi bana< * so aus scheiß böyle 604 Ü: hat mir das darunter gezeigt so hat sie WT: interst. alt. 605 ME: yaptı ↑ ** ben <e“h> sen öyle mi ↑ ben de 606 Ü: gemacht ich aha ist das alles ich habe 607 ME: >tittelerimi açtım böyle ↓ < <kimse yoh yani ↓ > * 608 Ü: auch meine Titten geöffnet also es ist keiner da WT: insert. Meline erzählt von einem Ereignis in der Schule. Nach der einleitenden Sequenz (sie steht im zweiten Stock, ihre Freundin Emel im unteren Stockwerk und schaut zu ihr hoch) wird sie von der Rezipientin Zeynep unterbrochen, die ihr Nüsse anbietet (Z. 595). Meline weist sie jedoch zurück (Z. 592), fährt mit der Erzählung fort (Z. 596), bricht ab, macht noch eine Bemerkung zu den Nüssen und führt dann endgültig in die Erzählung zurück (die Mädchen heben ihr Oberteil hoch und entblößen sich für kurze Zeit). In dem kleinen Erzählausschnitt haben fast alle Segmente türkische Strukturen, nur eines hat eine deutsche Struktur: und die hat so doppelte oberteile angehabt (Z. 596, 599). In dem Gesprächsausschnitt gibt es folgende Wechseltypen: a) intersentenzielle Wechsel: - Der erste Wechsel kommt mit Beginn der Nebenaktivität vor, als ZE der Erzählerin Nüsse anbietet nimm ma die“ langer (Z. 598), der zweite als ME das Angebot zurückweist dur dur bekle bekle (‘halt halt warte warte’, Z. 592). Der Sprachwechsel ins Deutsche hebt die Trennung zwischen der Der kommunikative Stil 335 Nebenaktivität „Nüsse anbieten“ und der Hauptaktivität „erzählen“ hervor. Der Sprachwechsel ins Türkische bei der Zurückweisung des Angebots folgt den Sprachwechselmustern bei Zurückweisungen (vgl. Kap. 3.3.4). - Der nächste Wechsel erfolgt bei der endgültigen Rückführung in den Erzählstrang: Nach der Nebenaktivität nimmt die Erzählerin durch den Erzählkonnektor ondan son/ die Erzählung wieder auf, unterbricht sich, schiebt einen Kommentar zu den Nüssen nach >orası çok bu sefer ↓ < (‘diesmal ist das mehr’, Z. 596) und führt dann nach einer kurzen Pause in die Erzählung zurück. Dabei wechselt sie ins Deutsche und die hat so doppelte oberteile angehabt (Z. 596, 599). Die intersentenziellen Wechsel sind lokal motiviert und haben diskursive Funktionen: Sie dienen der besseren Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenaktivität, der markierten Rückführung in den Erzählstrang und der Hervorhebung von Widerspruch (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.4). b) intrasentenzielle Wechsel: - Insertionen: Das deutsche Lexem Treppe ist in die türkische Struktur insertiert und morphologisch integriert (Z. 586); es erhält das der Vokalharmonie entsprechende türkische Pluralmorphem treppe-ler. Auch das deutsche Wort Titte ist insertiert und morphologisch integriert (Z. 607); es wird mit dem türkischen Plural-, Possessiv- und Akkusativmorphem verbunden, die alle der Vokalharmonie folgen: Strukturbeschreibung: titte - ler - im - i dt.Nom + tk.Pl. + tk.Poss. + tk.Akk. - Alternation: so aus scheiß böyle yaptı (‘so aus Scheiß, so hat sie gemacht’, Z. 603, 605). Prosodisch bildet das gesamte Segment eine Einheit. Das deutsche Teilsegment verstehen wir als links versetzte Modalangabe zu dem Kernsatz böyle yaptı. Nach den von Muysken (1997) angeführten Kriterien entspricht dieser Wechseltyp eher der Alternation (switch at periphery, adverbial construction). Auch die türkische tagquestion tamam mı (‘okay’), die an die deutsche Äußerung die hat so doppelte oberteile angehabt (Z. 596, 599) angehängt ist, haben wir als alternierenden Wechsel codiert. - Congruent lexicalization: böyle durchsichtig biraz (‘so durchsichtig ein bisschen’, Z. 599, 601): Das gesamte Segment ist eine nachgestellte Präzisierung zur vorangehenden Äußerung. Da es für diesen Fall im gesprochenen Türkisch und Deutsch durch Rechtsversetzung vergleichbare Die „türkischen Powergirls“ 336 Strukturen gibt (vgl. böyle şeffaf biraz und so durchsichtig ein bisschen), und an jeder Stelle gewechselt werden kann, haben wir diesen Wechsel als congruent lexicalization codiert . Adressieren Sprecherinnen, die sich in habitualisierter Weise näher am türkischen Pol bewegen, bilinguale Gesprächspartnerinnen, die Deutsch präferieren, z.B. die Betreuerin Naran, bewegen sie sich in Richtung Mitte des Kontinuums, d.h., sie verwenden mehr deutsche Lexik und deutsche Strukturen. Das wird sehr deutlich, als die Erzählerin aus dem vorherigen Beispiel dieselbe Geschichte kurze Zeit später Naran erzählt: 796 TU: anlatsana ↓ * 797 Ü: erzähl doch 798 ME: ku“ck [...] wir warn in der schule ja ↑ WT: interst. Adressierg. von NA 799 ME: ondan sonra- * sind=a so stöckwerke ↑ * ben ikinci 800 Ü: und dann ich bin im WT: insert. interst. 801 ME: kattayım bi tane kız arkada ş ım a ş a“ ğ ıda duryo ↓ und 802 Ü: zweiten Stock und eine Freundin steht unten WT: interst. 803 ME: isch kuck so nach unten ↓ * die hat so doppelte 804 NA: mhm ↓ 805 ME: oberteile so bissel durchsichtig ↓ on=sonra 806 Ü: dann hat WT: interst. 807 ME: kaldırdı birisini bana böyle >yaptı ↓ < dann sieht 808 Ü: sie eins hochgemacht und so zu mir gemacht WT: interst. 809 NA: mhm ↓ 810 ME: s/ ds sieht ja keiner und so ↓ Nach der türkischsprachigen Aufforderung von Turna (Z. 796), beginnt Meline die zweite Version ihrer Geschichte auf Deutsch. In dem Transkriptausschnitt gibt es vor allem intersentenzielle und nur einen intrasentenziellen Wechsel in der Äußerung ondan sonra- * sind=a so stöckwerke (Z. 799), bei der der türkische Erzählkonnektor in die deutsche Struktur sind=a so stöckwerke insertiert ist (vgl. die Inversion nach dem Konnektor). Außerdem sind im Vergleich zur vorherigen Erzählung die deutschen Anteile erheblich gestiegen: ein Großteil der Lexik ist deutsch (63%) und etwas mehr Sätze haben Deutsch als Matrixsprache (60%). D.h., mit der Adressierung der Geschichte an die Betreuerin wechselt Meline zu einem Mixing, das sich zunächst über die Mitte des Kontinuums hinaus in Richtung deutscher Pol Der kommunikative Stil 337 bewegt, sich im weiteren Verlauf der Erzählung jedoch auf der Mitte des Kontinuums ‘einpendelt’. Dabei sind die lexikalischen und strukturellen Anteile aus beiden Sprachen fast ausgeglichen: 48% der Lexik sind Deutsch, 44% Türkisch, 52% der Satzstrukturen sind deutsch und 45% Türkisch; einige sind nicht eindeutig zuzuordnen. Der Anteil der intersentenziellen Wechsel erhöht sich (67%) und der Anteil der intrasentenziellen Wechsel nimmt ab (33%). Dazu der tabellarische Überblick: Bewegung in der Mitte des Kontinuums: Lexik: 48% Dt 46% Tk 6% sonstige (z.B. Abbrüche) Syntax: 51% Dt 46% Tk 3% Rest Wechseltyp: 67% interst. 33% intrast. Tabelle 2 3.2.3.2 Variationsprofil „nahe am deutschen Pol“ Das Variationsprofil „nahe am deutschen Pol“ sieht folgendermaßen aus: Bis zu 70% der Lexik und bis zu 60% der syntaktischen Strukturen sind deutsch, der Rest ist Türkisch. Die meisten Wechsel sind intersentenziell. Auch die Typen der intrasentenziellen Wechsel ändern sich: Nur ca. 40% sind syntaktisch und morphologisch integrierte Insertionen und 60% sind Alternationen, Temporaladverbien, Diskursmarker, narrative Konnektoren, Abtönungs- und Fortführungspartikel. Variationsprofil nahe „am deutschen Pol“: Lexik: 70% Deutsch 30% Türkisch Syntax: 60% Deutsch 40% Türkisch Wechseltyp: 65% intersentenziell 35% intrasentenziell Intrasentenziell: 40% Insertionen 60% Alternationen Tabelle 3 Zur Illustration ein Ausschnitt aus der Erzählung einer Sprecherin, die sich in habitualisierter Weise nahe am deutschen Pol bewegt. 271 271 Die Sprecherin ist zum Zeitpunkt der Aufnahme in der 11. Klasse Gymnasium. Die „türkischen Powergirls“ 338 57 AY: Zeynebi de gördüm ↓ die arme die hat fast=en 58 Ü: ich habe auch Zeynep gesehen WT: interst. 59 AY: herzinfarkt bekommen ↓ LACHT bahnda göryom böyle 60 Ü: ich sehe sie in der Bahn WT: insert. 61 NA: |ah ja ↓ | 62 AY: yapıyo ↓ ** LACHT die hat |gedacht| mir is was 63 Ü: sie macht so WT: interst. 64 AY: passiert ↓ * → ts des war so schlimm ↓← die Arzu musst 65 NA: +mhm ↓ 66 AY: noch kurz zur schule ihre bücher abgeben i ş te ↑ 67 Ü: halt WT: alt. 68 AY: RÄUSPERT SICH neyse ben haltestellede duryom ↑ * die 69 Ü: nun ich stehe an der Haltestelle WT: insert. alt. 70 AY: ga: nze zeit insanlar na“sıl bakıyo ↓ wie die mich 71 Ü: wie die Leute schauen WT: interst. 72 AY: angeguckt habn des gibt=s net ↓ * böyle yapıyo ↓ * 73 Ü: er/ sie macht so WT: interst. 74 AY: dann sin so kleine kinder babalarını itekliyorlar 75 Ü: sie stumpen ihre väter an WT: interst. interst. 76 AY: und so ↓ papa schau ma: l falan filan ne bilyom neydi ↑ 77 Ü: und so was weiß ich WT: alt. alt. In diesem Ausschnitt überwiegen die deutschen Strukturen (9) nur knapp die türkischen (8); aber der Anteil der deutschsprachigen Lexik ist höher (72%) als der der türkischsprachigen (28%). Und es gibt wesentlich mehr intersentenzielle als intrasentenzielle Wechsel. Die intersentenziellen Wechsel dienen vor allem der Strukturierung der Erzählung (vgl. ausführlich Kap. 3.3.3). Bei den intrasentenziellen Wechseln gibt es mehr Alternationen als Insertionen: - die morphologisch integrierten Insertionen: bahnda (‘in der Bahn’, Z. 59) und haltestellede (‘an der Haltestelle’, Z. 68); in beiden Fällen wird an ein deutsches Lexem die türkische Kasusendung des Lokativs angehängt; Der kommunikative Stil 339 - die Alternationen: das Temporaladverb die ganze Zeit ist in die türkische Struktur insanlar nası“l bakıyo (‘wie die Leute schauen’, Z. 68-70) eingebettet, die türkische Partikel işte (‘halt’) in die deutsche Struktur (Z. 66), ebenso wie die Fortführungspartikel und so (Z. 74) und falan filan (‘und so’, Z. 76) an die türkische bzw. deutsche Struktur angehängt werden. Ein Vergleich zwischen dem Sprechen „nahe am türkischen“ und „nahe am deuten Pol“ ergibt folgende Unterschiede: - nahe am türkischen Pol können über 70% des Sprachmaterials (Lexik und syntaktische Strukturen) türkisch sein, nahe am deutschen Pol tendieren die Zahlen in die umgekehrte Richtung; - nahe am türkischen Pol sind inter- und intrasentenzielle Wechsel ähnlich hoch, nahe am deutschen Pol kommen intersentenzielle Wechsel deutlich häufiger vor als intrasentenzielle Wechsel; - am türkischen Pol gibt es vor allem morphologisch und syntaktisch integrierte Insertionen, am deutschen Pol kommen neben Insertionen auch viele Alternationen vor, vor allem Adverbien, Partikel, Erzählkonnektoren, Diskursmarker. Das bedeutet, dass nicht nur der prozentuale Anteil von Sprachmaterial (Lexik und syntaktische Strukturen) aus der einen oder anderen Sprache etwas über die Position auf dem bilingualen Kontinuum aussagt, sondern auch der Typ des Wechsels: Mit der Bewegung in Richtung „deutscher Pol“ nehmen intersentenzielle Wechsel zu und der Typ intrasentenzieller Wechsel wird ausdifferenziert. Bewegen sich SprecherInnen vom türkischen Pol zur Mitte des Kontinuums, sind die Anteile aus beiden Sprachen relativ ausgeglichen; der Anteil der intersentenziellen Wechsel jedoch nimmt erheblich zu und ist fast so hoch wie beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“. Ein Vergleich der Ergebnisse unserer Strukturanalyse mit der Untersuchung von Backus, der verschiedene Mischungstypen beschreibt und sie unterschiedlichen Sprechertypen - nach dem Alter, in dem sie Niederländisch erworben haben - zuordnet, ergibt Folgendes: Das Mixing der „Powergirls“, die sich nahe am deutschen Pol bewegen, hat Ähnlichkeiten mit dem Mixing, das Backus für die Sprechergruppe der „zweiten Generation“ beschreibt (die vor dem Schulalter Niederländisch erwirbt); und das Mixing der „Powergirls“, die sich nahe am türkischen Pol bewegen, hat Ähnlichkeiten mit dem Mixing, das Backus für die „intermediate generation“ beschreibt Die „türkischen Powergirls“ 340 (die Niederländisch im Alter von 6-11 Jahren erwirbt). Doch die „Powergirls“ haben alle dieselben sprachlichen Voraussetzungen: Sie sind in Mannheim geboren, im untersuchten Migrantenwohngebiet aufgewachsen und alle in dieselbe Grundschule gegangen, d.h., sie hatten bis zum Alter von 10-11 Jahren dieselben Spracherwerbsbedingungen. Dass sie sich trotzdem in ihrer Mixingpraxis unterscheiden, kann nicht mit dem Alter, in dem sie Deutsch erworben haben, in Zusammenhag gebracht werden, sondern nur mit dem unterschiedlichen sozialen und schulischen Umfeld, in dem sie sich nach der Grundschule bewegten und mit den unterschiedlichen deutschsprachigen Anforderungen, denen sie genügen mussten. Die Sprecherinnen, die sich nahe am deutschen Pol bewegen, besuchen das Gymnasium außerhalb des „Ghettos“ und müssen wesentlich höhere deutschsprachige Leistungen erbringen als die Sprecherinnen, die sich nahe am türkischen Pol bewegen und zum Zeitpunkt der Datenaufnahme (noch) die „Ghetto“-Hauptschule besuchen. Es ist also nicht das Alter zur Zeit des Deutscherwerbs der entscheidende Faktor, sondern entscheidend sind das Lebensumfeld und die sprachlichen Anforderungen, mit denen die Kinder konfrontiert sind. 3.3 Funktionen der Sprachwechsel im Mixing In der Forschung zu bilingualen Gesprächen sind Sprachwechsel, die darstellungsstrukturierenden oder interaktionsorganisatorischen Funktionen dienen, mehrfach beschrieben, 272 z.B. Sprachwechsel bei der Formulierungsarbeit, Sprachwechsel im Zusammenhang mit dem Wechsel des Adressaten (wobei die sprachliche Präferenz des Adressaten berücksichtigt wird), Sprachwechsel zusammen mit dem Wechsel des Themas oder des Aktivitätstyps, Sprachwechsel zur Hervorhebung von Widerspruch und Sprachwechsel zum Verweis auf spezifische Referenzwelten. Solche funktionalen Sprachwechsel kommen auch bei den „Powergirls“ vor, ebenso wie bei den anderen im Rahmen unseres Projektes untersuchten Migrantengruppen, bei den „Unmündigen“ und den „Europatürken“. 273 Was jedoch die Mixingpraxis der Powergirls auszeichnet, ist eine hohe funktionale Ausdifferenzierung der Wechsel, die auf den hohen Stellenwert verweist, den Mixing für die Gruppe hat. Dabei können Typen von Sprachwechsel unterschieden werden, die un- 272 Vgl. dazu u.a. die Arbeiten von Auer (1984), Franceschini (1998), Muysken (2001), Bierbach/ Birken-Silverman (2002), Birken-Silvermann (2005), Lattey/ Tracy (2005), Hinnenkamp (2005). 273 Vgl. dazu die Arbeiten von Cindark (2005) und Aslan (2005). Der kommunikative Stil 341 terschiedlich „starke“ Funktionen (im Sinne Franceschinis 1998) bzw. unterschiedlich starke Kontextualisierungsfunktion (im Sinne Auers 1999) haben können: 274 - Sprachwechsel, die der Interaktionsorganisation dienen; dazu gehören neben den Wechseln im Zusammenhang mit sprachlichen Präferenzen des Adressaten auch Wechsel zur Unterscheidung verschiedener Aktivitäten und zur Eröffnung eines neuen thematischen Fokus (Kap. 3.3.1); - Sprachwechsel, die der Strukturierung von Darstellungen dienen; dazu gehören Sprachwechsel zur Fokussierung bestimmter Strukturelemente und zur Konturierung mehrgliedriger Strukturen, z.B. zur Unterscheidung von Hintergrund-Vordergrund, Feststellung-Begründung und zur Trennung verschiedener Perspektiven (Kap. 3.3.2); - Genretypische Sprachwechselmuster, d.h. Muster, die für Erzählungen und für Auseinandersetzungen charakteristisch sind (Kap. 3.3.3 und 3.3.4). Die unter dem ersten Punkt gefassten Wechsel gehören zu den Funktionstypen, die Auer und Franceschini unter Code-switching fassen, 275 d.h., mit ihnen wird zusätzliche interaktive und/ oder soziale Bedeutung signalisiert. Wenn sie jedoch - wie in der Mixingpraxis der „Powergirls“ - in lokalen Kontexten mit dichten Wechseln auftreten, ist ihre Signalfunktion weitaus geringer. D.h., die interaktionale Bedeutung der Sprachwechsel hängt weniger vom Typ ab als vielmehr von der lokalen Umgebung, in der sie auftreten. Die unter dem zweiten und dritten Punkt gefassten Wechsel haben vor allem darstellungstrukturierende Funktion und die mit dem Wechsel verbundene zusätzliche Bedeutung ist in vielen Fällen eher „schwach“ (im Sinne von Franceschini 1998). Bei dem von Auer (1999) angenommenen Kontinuum zwischen den Sprachwechseltypen des Code-switching, Code-mixing und Code-fusing könnte man diese Wechsel folgendermaßen lokalisieren: Im Hinblick auf die Kontextualisierunsgskraft bewegen sie sich zwischen dem Code-switching und dem Codemixing; im Hinblick auf die Musterhaftigkeit und Stabilität der Anwendung jedoch bewegen sie sich zwischen dem Code-mixing (als dem relativ ungeregelten Mischen von Sprachen) und dem Code-fusing (als der grammatisch 274 Zu Formen und Funktionen von Sprachwechsel bei den „Powergirls“ vgl. auch Kallmeyer (2000), Kallmeyer/ Keim (2003a), Keim (2003a, b). 275 Auer (1998) fasst sie unter dem Konzept des Code-switching, Franceschini (1998) schreibt ihnen „starke“ Funktionen zu. Die „türkischen Powergirls“ 342 geregelten Verbindung von Elementen aus zwei Sprachen), da die Mischungsmuster bei einigen Sprecherinnen bereits eine relativ hohe Stabilität und Vorhersagbarkeit erreicht haben. Unter bestimmten lokalen Bedingungen können die angeführten Muster von Sprachwechsel auch miteinander kollidieren. Das ist z.B. der Fall, wenn der Wechsel des Adressaten und der Wechsel des Themas zusammenfallen, und die Berücksichtigung der sprachlichen Präferenzen des Adressaten zu einer anderen Sprachwahl führen würde, als die lokal zur Herstellung von Kontrast notwendige Sprachwahl. In solchen Fällen müssen die Sprecherinnen Prioritäten setzen und entscheiden, welchem Sprachwechselmuster sie folgen wollen. 3.3.1 Sprachwechsel zur Interaktionsorganisation In Gesprächen unter Bilingualen hängen Sprachwechsel häufig mit der Berücksichtigung sprachlicher Präferenzen der Beteiligten zusammen. 276 Wenn Sprecher A weiß, dass Sprecher B die Sprache x bevorzugt oder ggf. auch besser beherrscht, wird er ihn unter normalen Bedingungen von Höflichkeit in dieser Sprache adressieren. Auch im Material der „Powergirls“ spielt die Berücksichtigung sprachlicher Präferenzen eine Rolle, vor allem bei Adressierungen an die Leiterin Naran. Da es zu ihrer Aufgabe gehört, die Mädchen in Deutsch zu fördern, gilt die Sprachregelung, dass Naran mit den Mädchen Deutsch spricht und dass sie von den Mädchen in Deutsch adressiert wird. Dieser Adressatenbezug wurde in dem Gesprächsausschnitt, der in dem vorangehenden Kapitel analysiert wurde, sehr deutlich, als die Erzählerin bei der Adressierung von Naran sich zum deutschen Pol hinbewegt. Auch im folgenden Beispiel spielt der Äußerungszuschnitt auf unterschiedliche Adressaten eine Rolle. Der Transkriptausschnitt beginnt, als im Anschluss an eine Erzählung Narans Lachen und Kommentare der Mädchen folgen: 374 ZE: |des is was anderes ↓ * |(... ... ...) | 375 ME: |<susun bi ya: ↓ | Ü: seid doch mal ruhig 376 K LACHEN |DURCHEINANDER | 276 Das wird in der Forschung mehrfach beschrieben. Solche Sprachwechsel fassen Blom/ Gumperz (1972) unter dem situationellen „Code-switching“; vgl. auch Auers Unterscheidung (1984) in personen- und gesprächsbezogene Sprachwechsel; vgl. auch die Arbeiten von Franceschini (1998), Bierbach/ Birken-Silverman (2002) und Lattey/ Tracy (2005). Der kommunikative Stil 343 377 ME: NA abla wie alt warst du ↑ > 378 NA: vierzehn ↓ oder sechzehn ↓ Narans Erzählung ist in Deutsch, ebenso wie Zeyneps (ZE) Kommentar dazu (Z. 374). In das Lachen und Durcheinander (Z. 376), das dem Erzählabschluss folgt, meldet sich Meline (ME) zu Wort, ruft die Mädchen zur Ordnung und adressiert sie in Türkisch <susun bi ya: ↓ (‘seid doch mal ruhig’, Z. 375). Dann wendet sie sich an Naran mit einer Nachfrage zur Erzählung und wechselt dabei ins Deutsche: NA abla wie alt warst du ↑ (Z. 377); Naran beantwortet die Frage ebenfalls in Deutsch (Z. 378). Der adressatenbezogene Sprachwechsel fällt hier auch mit einem Wechsel des Aktivitätstyps zusammen: Der Aktivitätstyp „zur Ordnung rufen“, an die Mädchen adressiert, ist in Türkisch formuliert, die „Rückführung in die Erzählung“, an Naran adressiert, ist in Deutsch. Doch die Berücksichtigung von Sprecherpräferenzen kann zugunsten anderer interaktiver Aufgaben auch zurückgestellt werden. In der folgenden Situation kollidiert die Sprachpräferenzregel mit der interaktiven Anforderung, unterschiedliche Aktivitätstypen voneinander zu trennen. Dem Beispiel geht eine Erzählung von Naran in Deutsch voraus, und der Ausschnitt beginnt mit ihrem Kommentar zu dem erzählten Ereignis: 418 NA: a: h aber spass hat=s trotzdem gemacht ↓ ** 419 ZE: Sökeyi gördün mü ↑ 420 Ü: hast du Söke gesehn 421 NA: +ts ↓ * Söke ↓ 422 K: VERNEINEND 423 TU: kimi ↑ * 424 Ü: wen Narans Kommentar hat abschließenden Charakter (fallende Endkadenz): a: h aber spass hat=s trotzdem gemacht ↓ (Z. 418). Nach der längeren Pause fragt Zeynep nach einem Mädchen namens Söke, d.h., sie wechselt das Thema und den Aktivitätstyp von der vorangegangenen Erzählung zu einer Information über Söke, die bisher nicht thematisiert war. Mit der Frage wechselt Zeynep ins Türkische sökeyi gördün mü ↑ (‘hast du Söke gesehen’, Z. 419). Da Naran die Frage beantwortet, war sie adressiert. Mit der verneinenden Äußerung ts: (Z. 421) ratifiziert sie den Themen- und Aktivitätswechsel; dabei übernimmt sie zwar Zeyneps Sprache nicht, baut aber auch keine Op- Die „türkischen Powergirls“ 344 position zu ihr auf. 277 Auch die anschließende Frage von Turna in Türkisch kimi (‘wen’, Z. 423) beantwortet sie. Das Beispiel zeigt, dass interaktionsstrukturierende Aufgaben, die routinemäßig durch Sprachwechsel bearbeitet werden, Priorität haben vor der Berücksichtigung von Sprachpräferenzen; Naran selbst behandelt sie als untergeordnet. Die Priorität interaktionsrelevanter Anforderungen vor der Berücksichtigung sprachlicher Präferenzen wird auch im folgenden Beispiel deutlich. Als Naran den türkischsprachigen Mädchen gerade eine Geschichte erzählt, wird sie von Rosa, einem italienischen Mädchen, unterbrochen, das um Erlaubnis zum Telefonieren bittet: 408 NA: dreißisch ↑ ** und die * dritte oder die zweite war 409 NA: eine frau über vierzich ↓ * die hat natürlich auch 410 NA: ihre |leute in der jury- |jury sitzn ↓ ** 411 RO: |NA abla darf ich anrufen ↑ | 412 NA: <ja: ↓ > * wenn du dreißig pfennig zahlst darfst=e ↓ 413 ZE: Izmirde miydi ↑ Ü: war es in Izmir 414 NA: Edik Edik ↓ * e: dikteydi ↓ ** Ü: Edik in Edik war es Als Rosa Naran unterbricht (Z. 411), adressiert sie sie in Deutsch, der einzig möglichen Interaktionssprache zwischen den beiden. Nachdem Naran der Bitte entsprochen hat (Z. 412), führt Zeynep mit der Frage nach einem narrativen Detail wieder in die Erzählung zurück: Izmirde miydi ↑ (‘war es in Izmir’, Z. 413); dabei wechselt sie ins Türkische. An dieser Stelle berücksichtigt sie nicht Narans Präferenz für Deutsch, sondern führt Naran aus der Nebenaktivität mit Rosa in die Hauptaktivität Erzählen zurück, von der Rosa durch die Verwendung von Türkisch ausgeschlossen wird. Da Naran die Frage ebenfalls in Türkisch beantwortet Edik Edik ↓ * e: dikteydi ↓ ** (‘Edik, in Edik war es’, Z. 414), ratifiziert sie die Rückführung in die Erzählinteraktion unter Türkischsprachigen. Die Berücksichtigung der Sprachpräferenzregel wurde in dieser Situation zugunsten von interaktionsorganisatorischen Aufgaben zurückgestellt: gemeinsam stellen die Mädchen und Naran eine Interaktionssituation unter Türkischsprachigen her und schließen Anderssprachige aus. 277 Wenn Naran Zeyneps Sprachwahl nicht akzeptiert hätte, hätte sie in Deutsch antworten können. Der kommunikative Stil 345 Im nächsten Beispiel weicht Naran aus strategischen Gründen selbst von der Präferenz für Deutsch ab. Sie schaltet sich mit einer türkischen Äußerung in ein laufendes Gespräch zwischen zwei Mädchen ein, die gerade Türkisch sprechen: 782 ME: hö: rezil oldum ↓ 783 Ü: ich hab mich so blamiert 784 TU: LACHT ondan sana ne lan ↓ *2,5* 785 Ü: was geht sie dich an mann 786 NA: neyden konu ş yorsunuz ↓ *2,0* 787 Ü: wovon redet ihr 788 K: LACHEND 789 TU: anlatsana ↓ * 790 Ü: erzähl doch 791 ME: ku“ck ma 792 K: ZU NA 793 ME: wir warn in der schule ja ↑ Der Ausschnitt beginnt mit Melines türkischsprachigem Kommentar zu einem Ereignis, das sie gerade erzählt hat: hö: rezil oldum (‘ich hab mich so blamiert’, Z. 782). Turnas Reaktion auf die Selbstanschuldigung der Freundin ist ebenfalls in Türkisch ondan sana ne lan (‘was geht sie dich an Mann’, Z. 784). Naran, die gerade in den Raum kommt, muss die Kommentare der Mädchen gehört haben und fragt nach: neyden konuşyorsunuz (‘wovon redet ihr’, Z. 786). Sie nimmt die Sprache der Mädchen (Türkisch) auf, versucht in das Gespräch, das - gemessen an den beiden Kommentaren - eine eher heikle Qualität vermuten lässt, einzudringen und schwächt den Eingriff durch Lachen ab. Mit der Übernahme von Türkisch bewegt sich Naran sprachlich auf die beiden zu und schwächt ihr neugieriges Eindringen zusätzlich ab. Nach einer Pause erfolgt die Reaktion: Ebenfalls in Türkisch fordert Turna die Freundin auf, das Ereignis auch Naran zu erzählen. Meline kommt der Aufforderung nach, beginnt mit der Erzählung und wechselt - jetzt Narans Sprachpräferenzen berücksichtigend - ins Deutsche. Das Beispiel zeigt, wie bravourös die Beteiligten ihre Bilingualität einsetzen: Naran passt sich bei der Bewältigung einer besonderen interaktiven Aufgabe - dem Eindringen in ein möglicherweise heikles Gespräch - an die aktuelle Interaktionssprache der Mädchen an. Und sie hat Erfolg, die Mädchen lassen sie zu. Meline ihrerseits „belohnt“ Naran dafür, dass sie sich auf sie zubewegt hat dadurch, Die „türkischen Powergirls“ 346 dass sie Narans Präferenzen berücksichtigt und die Erzählung in Deutsch beginnt. 278 Die Beispiele zeigen, dass die Sprecherinnen sprachliche Präferenzen berücksichtigen, dass sie sie aber zugunsten interaktiver Anforderungen, denen sie lokal Priorität geben, auch zurückstellen. Vorrang kann die Wiederherstellung einer unterbrochenen Interaktionskonstellation haben (Naran wird in Türkisch adressiert und ratifiziert die Sprachwahl); Naran kann auch selbst ihre Präferenzen zugunsten der sprachlichen Annäherung an eine bestehende Interaktionskonstellation zurückstellen, an der sie sich beteiligen will. 3.3.2 Darstellungsstrukturierung durch Sprachwechsel 3.3.2.1 Formulierungsarbeit Eine in vielen bilingualen Gemeinschaften verbreitete Funktion von Sprachwechsel ist der Wechsel im Zusammenhang mit Formulierungsarbeit: 279 Korrekturen, Reformulierungen, Abbrüche und Neuanfänge sind bei bilingualen Sprechern häufig mit Sprachwechsel verbunden. Sprachwechsel im Zusammenhang mit Formulierungsarbeit sind immer markierte Wechsel, d.h., sie haben interaktive Bedeutung und verweisen auf die Mühe des Formulierungsprozesses. Bei den „Powergirls“ finden die Sprachwechsel meist von Türkisch zu Deutsch statt, d.h., ein türkischsprachiges Segment wird abgebrochen und in Deutsch reformuliert oder korrigiert. Im folgenden Beispiel beginnt die Sprecherin in Türkisch, hat dann deutliche Formulierungsprobleme und wechselt ins Deutsche: 01 TU: < ← eh sen de yeme all|ah → | 02 Ü: dann iss doch auch nicht mensch 03 ZE: | ey | yemecem ↓ * ay: ş / sinirler- 04 Ü: ey ich esse nicht ey n/ meine nerven 05 ZE: ş ey oldu ↓ * isch zitter voll ↓ isch brauch irgendwas ↓ 06 Ü: sind dings geworden 278 In der vorangehenden, an die Freundin gerichteten Erzählung bewegte sich Meline in einem Mixing, das nahe am türkischen Pol lag; die jetzt folgende, an Naran adressierte Erzählung ist in Mixing mit hohen deutschen Anteilen; vgl. dazu oben Kap. 3.2. 279 Solche Wechsel nennt Poplack „flagged switches“; auch bei anderen Autoren werden Sprachwechsel in diesen Funktionen beschrieben, vgl. u.a. Muysken (1997), Backus (1996), Lattey/ Tracy (2005). Der kommunikative Stil 347 Zu Beginn des Ausschnitts fordert die Sprecherin Turna (TU) ihre Freundin Zeynep (ZE) in Türkisch auf, die auf dem Tisch liegenden Nüsse nicht unkontrolliert in sich hineinzustopfen. Die Gerügte weist den Vorwurf des Hineinstopfens zurück yemecem (‘ich esse nicht’, Z. 03), hat jedoch, als sie den Sachverhalt darstellen will, dass sie die Nüsse als eine Art Beruhigungsmittel für ihre angespannten Nerven benutzt, Formulierungsprobleme: ** ay: ş/ sinirler şey oldu ↓ (‘ey d/ meine Nerven sind Dings geworden’, Z. 03, 05). Die Formulierungsschwierigkeiten werden angezeigt durch längere Pause, Wortabbruch ş/ (für şey, ‘dings’), dann die Proform şey anstelle eines passenden prädikativen Elements in der Struktur sinirler şey oldu (‘meine Nerven sind Dings geworden’, Z. 03, 05). Danach wechselt sie ins Deutsche, reformuliert den Sachverhalt durch ich zitter voll ↓ und begründet ihr ungezügeltes Essen: isch brauch irgendwas ↓ (Z. 05). Erst mit dem Wechsel ins Deutsche gelingt ihr die Darstellung des Sachverhalts. 3.3.2.2 Konturierung von Strukturteilen In Ereignis- oder Sachverhaltsdarstellungen werden häufig die einzelnen Strukturteile durch Sprachwechsel von einander getrennt; z.B. können nach einer Feststellung die darauf folgende Begründung, nach einem Bericht der darauf folgende Kommentar oder die Reformulierungsäußerung nach einer Bezugsäußerung mit Sprachwechsel verbunden sein. 280 Durch die Dichte und Auftretenshäufigkeit haben die Wechsel meist nur geringe Kontextualisierungskraft; sie dienen rhetorischen Zwecken und strukturieren Äußerungen ebenso wie umfassendere Sachverhaltsdarstellungen. Bei den „Powergirls“ erfolgt der Wechsel meist von Türkisch zu Deutsch und nur in einigen wenigen Fällen von Deutsch zu Türkisch, wie im folgenden Beispiel: BE: isch weiß nischt ob wir besuch bekommen ona ba ğ lı * Ü: davon hängt es ab Auf eine Bitte der Freundin um ein Treffen reagiert Behiye (BE) mit der angeführten Äußerung. Sie legt dar, dass eine Beantwortung der Bitte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich ist, da die Voraussetzungen für eine Entscheidung noch unklar sind. Die Formulierung der eigenen Unsicherheit erfolgt in Deutsch isch weiß nischt ob wir besuch bekommen, die Begründung dafür in Türkisch ona bağlı (‚davon hängt es ab, ob ich kommen 280 Solche Wechsel beschreiben auch Bierbach/ Birken-Silvermann (2002) und Lattey/ Tracy (2005). Die „türkischen Powergirls“ 348 kann’). Die wenigen Wechsel von Deutsch zu Türkisch kommen bei den jüngeren Sprecherinnen vor, die noch eng mit der Lebenswelt des „Ghettos“ verbunden sind und deren Mixing oft auch hohe türkische Anteile hat. 281 Die meisten Wechsel jedoch, die der Konturierung von unterschiedlichen Strukturteilen dienen, erfolgen von Türkisch zu Deutsch, d.h., der erste Strukturteil ist in Türkisch, der zweite in Deutsch. Sie haben also folgende Struktur: 282 erster Äußerungsteil: Türkisch → zweiter Äußerungsteil: Deutsch - Feststellung/ Bericht - Kommentar - Bitte - Begründung - Bezugsäußerung - Reformulierung ….. ….. Dazu die folgenden Beispiele: a) Sprachwechsel zwischen Bitte und Begründung: 01 GL: Hatce ↑ * gitcen mi Ş ükrüyeyle oraya ↓ ** die heult fast 02 Ü: gehst du mit Ş ükrüye dahin Die Sprecherin bittet ihre Schwester Hatce, mit der kleinen Schwester Şükrüye zum Arzt zu gehen. Sie begründet ihre Bitte damit, dass die kleine Schwester schon fast heult. Die Bitte ist in Türkisch formuliert, die Begründung dafür in Deutsch. b) Sprachwechsel zwischen Bericht und Kommentar: 01 TU: benim belim a: riyo ya ↑ ** doctor beina gittim 02 Ü: mein kreuz tut doch weh zu Doktor Bein bin ich gegangen 03 TU: < ← sch=weiß net ob des sti: mmt ↑ aber → > Turna berichtet von einem Arztbesuch; sie hatte Kreuzschmerzen und suchte den Arzt Dr. Bein auf. Diese Information ist in Türkisch. Darauf folgt ein vorweggenommener Kommentar, in dem die Erzählerin ihre Unsicherheit zur Diagnose des Arztes ausdrückt < ← sch=weiß net ob des sti: mmt ↑ aber → > (Z. 03). Der Kommentar ist in Deutsch. Durch den Sprachwechsel von Türkisch zu Deutsch werden die Strukturteile Bericht und Kommentar konturiert 281 Die Sprecherin BE ist zum Zeitpunkt der Aufnahme in der 8. Hauptschulklasse. 282 Diese Strukturen kommen vor allem in narrativen Darstellungen vor. Sie werden unten Kap. 3.3.3 ausführlich dargestellt. Der kommunikative Stil 349 und zusammen mit Veränderungen in der Sprechweise (lauter, langsamer) deutlich voneinander abgehoben. c) Wechsel zwischen Bezugsäußerung und Reformulierung: 01 HA: ya beni beklesenize ↓ * ne kadar gıcıksınız * <hallo“ 02 Ü: wartet doch auf mich was seid ihr blöd 03 HA: könnt ihr nich kurz warten isch will doch mit> Die Szene spielt sich in der Umkleidekabine einer Turnhalle ab. Hatce zieht sich um, als ihre beiden türkischsprachigen Freundinnen den Raum verlassen wollen. Hatce bittet die Freundinnen, auf sie zu warten. Als die weiter gehen, beschimpft sie sie. Die Bitte und die Beschimpfung sind in Türkisch formuliert ya beni beklesenize ↓ * ne kadar gıcıksınız (‘wartet doch auf mich * was seid ihr blöd’, Z. 01). Nachdem Hatce keinen Erfolg hat, wechselt sie ins Deutsche und fordert die Freundinnen nochmals auf, auf sie zu warten. Mit der Reformulierung verleiht sie der Bitte mehr Gewicht: Sie spricht lauter und nachdrücklicher (Aufmerksamkeitsappell hallo, starke Akzentuierung), begründet die Bitte (isch will doch mit>, Z. 03) und durch den Wechsel ins Deutsche erweitert sie gleichzeitig den Zuhörerkreis. Vorher waren Bitte und Beschimpfung eine Interaktion zwischen den türkischsprachigen Mädchen, jetzt werden auch die übrigen Anwesenden (Italienerinnen, Kroatinnen) in die Situation einbezogen. D.h., mit dem Wechsel ins Deutsche erweitert Hatce den Rezipientinnenkreis und erhöht den sozialen Druck auf die Freundinnen, da jetzt alle Anwesenden auf deren Unhöflichkeit aufmerksam gemacht werden. Der Sprachwechsel hat hier nicht nur darstellungsstrukturierende, sondern durch die Erweiterung der Rezipentinnen auch interaktive und soziale Funktion. Im Folgenden werde ich anhand eines größeren Gesprächsausschnitts das Zusammenspiel verschiedener Funktionen von Sprachwechsel zeigen. Der Transkriptausschnitt ist Teil eines längeren Gesprächs zwischen Turna (TU), einer 15-jährigen Realschülerin, und Hace (HC), einer 20-jährigen Sportstudentin. Turna erzählt von ihren Rückenproblemen und dem Rat eines Arztes und Hace versucht die Freundin dazu zu bringen, dem Rat zu folgen, indem sie ihre eigene Erfahrung und ihr eignes Wissen als Sportstudentin einbringt. Der Beginn des Ausschnitts wurde oben unter b) bereits eingeführt: 01 TU: +benim belim a: rıyo ya ↑ ** doctor beina gittim 02 Ü: mein kreuz tut doch weh zu Doktor Bein bin ich gegangen Die „türkischen Powergirls“ 350 03 TU: < ← sch=weiß net ob des sti: mmt ↑ aber- → > ne diyo 04 Ü: weißt du 05 TU: biliyon mu ↑ isch muss mein bauch so trainiern weeschd ↑ 06 Ü: was er sagt 07 HC: <genau ↓ > onun ş imdi dedi ğ i bau“chu/ * du has=doch keine 08 Ü: was er jetzt meint den bauch / 09 HC: muskeln nur fett un=so ↓ ← bö“yle gidiyo ↑→ * wenn du=s 10 Ü: verläuft hier so 11 K: ZEIGT AUF MUSKEL 12 HC: trainie: rst ↑ * dann wird=s stra“ffer ↓ o zaman buran da 13 Ü: dann wird das teil 14 K: ZEIGT IHRE BAUCH- 15 HC: ş =oluyo ↓ *3* ku=mal isch mach nisch nur tanzen sch=mach 16 Ü: hier so 17 K: MUSKELN 18 HC: ← au“fwärmung ↑ aerobic ↑ und (.......) Die Äußerung Turnas besteht aus verschiedenen Erzählstrukturteilen, die durch Sprachwechsel voneinander getrennt werden: - Orientierungssequenz in Türkisch: benim belim a: rıyo ya ↑ ** doctor beina gittim (‘mein Kreuz tut doch weh, bin ich zu Doktor Bein gegangen’, Z. 01); - Vorweggenommener Kommentar in Deutsch: < ← isch weiß net ob des sti: mmt ↑ aber- → > (durch langsameres, lauteres Sprechen hervorgehoben), in dem TU Zweifel an der Diagnose des Arztes ausdrückt; - Rückleitung in die Ereignisdarstellung durch die Frage in Türkisch: ne diyo biliyon mu ↑ (‘weißt du was er sagt’, Z. 03, 05); der nochmalige Wechsel zeigt die Orientierung der Sprecherin an dem Wechselmuster: Kommentare werden durch Sprachwechsel von anderen Strukturteilen unterschieden; - Zitat des Arztes in Deutsch: isch muss meinen bauch so trainieren weeschd ↑ (Z. 05); da der Name des Arztes (Dr. Bein) vermuten lässt, dass er mit TU Deutsch gesprochen hat, wird durch das deutschsprachige Zitat die damalige Situation in der Erzählung vergegenwärtigt; mit der tag-question weeeschd fordert TU die Partnerin zur Reaktion auf. 283 283 Die tag-question weeeschd wird von den „Powergirls“ häufig verwendet, sowohl in deutschsprachigen als auch in türkischsprachigen Formulierungen (vgl. TE sanki hiperak- Der kommunikative Stil 351 Durch die Sprachwechsel werden die narrativen Strukturteile von dem Kommentar und dem Zitat des Arztes abgegrenzt. Auch in dem Beitrag von Hace kommen dicht aufeinander folgende Wechsel vor, die eine interne Systematik erkennen lassen: - Zustimmung zur Darstellung der Freundin in Deutsch: <genau ↓ > (Z. 07); HC übernimmt die Sprache des letzten Segments der Vorrednerin und hebt damit die Übereinstimmung hervor; 284 - Reformulierung des Arzt-Zitats in Türkisch: onun şimdi dediği bau“chu/ (‘was er jetzt meint den Bauch’, Z. 07) mit morphologisch integrierter Einbettung des deutschen Lexems Bauch; danach erfolgen Äußerungsabbruch und eine kurze Pause; - Adressierung an TU in Deutsch und Beschreibung von TUs körperlichem Zustand: du has=doch keine muskeln nur fett un=so ↓ (Z. 07, 09); HC bestätigt aus ihrer Perspektive die Diagnose des Arztes und trennt durch Sprachwechsel die zitierte ärztliche Sicht (Türkisch) von der eigenen (Deutsch); der Wechsel hebt den Unterschied zwischen dem Zitat des Arztes und der Adressierung an die Freundin hervor; - anatomische Demonstration in Türkisch: ← bö“yle gidiyo ↑→ (‘das verläuft hier so’, Z. 09); dabei zeigt HC den Verlauf der Bauchmuskulatur an ihrem Körper (Handlung begleitendes Sprechen); - an TU adressierter Ratschlag in Deutsch: wenn du=s trainie: rst ↑ * dann wird=s stra“ffer ↓ (Z. 09, 12); - nochmals Demonstration am eigenen Körper in Türkisch: o zaman buran da ş=oluyo ↓ (‘dann wird das Teil hier so’, Z. 12, 15); HC zeigt dabei auf ihre gut ausgebildeten Bauchmuskeln (Handlung begleitendes Sprechen); - an TU adressierte Erläuterung in Deutsch: ku=mal isch mach nisch nur tanzensch=mach ← au“fwärmung ↑ aerobic ↑ und [...] (Z. 15, 18); HC stellt sich als kompetent im sportlichen Bereich dar und bestärkt damit die fachliche Qualität ihres Ratschlags. Wie die Analyse der beiden Redebeiträge zeigt, dient der Sprachwechsel vor allem der lokalen Kontrastierung verschiedener Strukturteile, verschiedener Perspektiven und Aktivitätstypen: im ersten Redebeitrag der Unterscheidung tif weeschd ↑ ‘ TE verhält sich wie hyperaktiv weißt du’); neben weeeschd und weißt du kommt auch die türkische Version biliyon mu (‘weißt du’) vor. 284 Mit der Sprachübernahme bei Turnwechsel werden Kooperativität mit der Partnerin und Zustimmung zu ihrer Äußerung signalisiert, vgl. dazu ausführlich unten Kap. 3.3.4. Die „türkischen Powergirls“ 352 zwischen narrativen Sequenzen einerseits und kommentierenden/ bewertenden bzw. zitierenden Sequenzen andererseits und im zweiten Redebeitrag der Unterscheidung zwischen verschiedenen Perspektiven (der des Arztes und der eigenen) und verschiedenen Aktivitätstypen, den direkt an die Freundin gerichteten appellativen, auf Überzeugung angelegten Handlungen einerseits und den anatomischen Demonstrationen (mit Handlung begleitendem Sprechen) andererseits. Es gibt keine, dem Gesprächsausschnitt übergeordnete stabile Zuordnung zwischen Sprache einerseits und Handlungsbzw. Strukturtyp andererseits. Im ersten Beitrag z.B. ist eine direkte Adressierung an die Freundin in Türkisch (Z. 03), im zweiten Beitrag sind die direkten Adressierungen in Deutsch. Aber es gibt eine auf den jeweiligen Beitrag bezogene interne Systematik im Sprachwechselverhalten der beiden Sprecherinnen, mit der es ihnen gelingt, einerseits einzelne Strukturteile zu konturieren und gegen andere abzugrenzen, andererseits die verschiedenen Perspektiven und Rollen (z.B. als beratende Freundin und als Expertin) zusätzlich zu trennen. Durch die hohe Dichte haben die Wechsel nur geringe Kontextualisierungskraft; sie dienen vor allem der internen Strukturierung der Redebeiträge. 3.3.3 Sprachwechselmuster in Alltagserzählungen In der Ingroup-Kommunikation der „Powergirls“ sind Alltagserzählungen wichtige Kommunikationsformen und mit hohem interaktivem und emotionalem Involvement verbunden. Für Alltagserzählungen haben die Mädchen spezifische Sprachwechselmuster ausgebildet. Einige kommen bei allen Gruppenmitgliedern vor, andere kommen eher beim Sprechen „nahe am türkischen“ oder „nahe am deutschen Pol“ vor. 3.3.3.1 Allgemeine Muster Zu den allgemeinen Mustern gehören folgende: a) Redewiedergaben in Erzählungen werden in der Sprache der Referenzsituation formuliert, d.h., Ereignisse, in denen Deutsch gesprochen wurde, werden in szenischen Darstellungen in Deutsch, Ereignisse, in denen Türkisch gesprochen wurde, werden in Türkisch und Ereignisse zwischen Bilingualen werden in Mixing wiedergegeben. Der kommunikative Stil 353 b) Szenische Darstellungen werden durch Sprachwechsel gerahmt. Bei einer Redewiedergabe in Deutsch z.B. erfolgen Redeeinleitung und/ oder -ausleitung in Türkisch. c) Bei szenischen Darstellungen zwischen bilingualen Akteuren erscheinen auch Muster, die primär in anderen Kontexten hervortreten, wie die Sprachwechselmuster zum Ausdruck von Konsens bzw. Dissens: zur Hervorhebung von Übereinstimmung erfolgt bei Turnwechsel auch die Übernahme der Vorrednersprache, zur Hervorhebung von Dissens erfolgt bei Turnwechsel der Wechsel in die zur Sprache der Vorrednerin kontrastierende Sprache. Diese Muster, die den in der Sozialpsychologie beschriebenen Konvergenzbzw. Divergenzprinzipien ähnlich sind, 285 werden auch bei Redewiedergaben im Rahmen von szenischen Darstellungen angewendet: Stimmt ein in der Szene dargestellter Akteur mit einem anderen überein, übernimmt er dessen Sprache; stimmt er nicht über ein, wechselt er in die andere Sprache. Inhaltliche Übereinstimmung wird durch Sprachübernahme, inhaltliche Divergenz durch Sprachwechsel markiert. Im folgenden Beispiel, in dem die Sprecherin eine Szene zwischen sich und ihrer Freundin präsentiert, wird inhaltliche Übereinstimmung folgendermaßen hervorgehoben: 646 ME: mach bitte: ↓← söyledi Sandraya göster ↓ Sand/ 647 Ü: sie hat gesagt zeig es Sandra 648 ME: zeig=s Sandra ↓ >zeig< * ja: oke: einmal dedim ↓ 649 Ü: habe ich gesagt Die Erzählerin ME zitiert die Freundin, von der sie aufgefordert wird: Sandraya göster ↓ (zeig es Sandra) Sand/ zeig=s Sandra ↓ >zeig< (Z. 646, 648). Das Zitat ist in Mixing formuliert. Im Kontrast zur vorangehenden deutschen Äußerung (mach bitte) ist die Einleitung zu dem Zitat in Türkisch: söyledi (‘sie hat gesagt’, Z. 646). Der erste Teil des Zitats ist in Türkisch Sandraya göster (‘zeig es Sandra’, Z. 647), die Reformulierung dann in Deutsch zeig=s Sandra ↓ > zeig< (Z. 648). Nach der kurzen Pause erfolgt die Wie- 285 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Giles/ Bourhis/ Taylor (1977), Giles (1979) und Taylor/ Giles (1979), die im intergruppalen bzw. interethnischen Kontakt feststellten, dass bei einem Sich-Einlassen auf die andere Gruppe auch eine sprachliche Annäherung stattfindet, starke Abgrenzung zur anderen Gruppe dagegen mit der Hervorhebung sprachlicher Unterschiede einhergeht; vgl. die „language accommodation theory“ von Giles (1979). Hinnenkamp (2005) beschreibt ebenfalls dieses Muster. Die „türkischen Powergirls“ 354 dergabe eigener Rede, in der die Erzählerin der Aufforderung der Freundin zustimmt. Diese zustimmende Äußerung ist in Deutsch: ja: oke: einmal (Z. 648), d.h. die Erzählerin übernimmt in dem Eigenzitat die Sprache der Freundin, die sie im letzten Teil ihrer Äußerung verwendete. Der kurze Dialog ist gerahmt durch die türkische Redeeinleitung söyledi (‘sie hat gesagt’, Z. 646) und durch die türkische Redeausleitung dedim (‘ich habe gesagt’, Z. 648); beide Strukturteile, Redeeinleitung und -ausleitung, rahmen den Dialog. Der Sequenz liegt folgendes Sprachwechselmuster zugrunde: 286 Redewiedergabe der Freundin: RE - Fremdzitat Tk Tk + Dt Redewiedergabe der Erzählerin: Eigenzitat (Zustimmung) - RA Dt Tk Die Sprachwahl am Ende des Fremdzitats (Dt) und im Eigenzitat (Dt) stimmt überein. Im nächsten Beispiel, das aus derselben Erzählung stammt, wird ein kurzer Dialog zwischen der Erzählerin und ihrer Freundin dargestellt, in dem Dissens zwischen den Akteurinnen ausgedrückt wird, der noch zusätzlich durch Sprachwechsel hervorgehoben wird: 629 ME: ** < → danach hat=se/ mach noch mal 630 K: HOCH 631 ME: mach noch mal ş unlara göster ş unlara göster ↓ 632 Ü: zeig es denen zeig es denen 633 K: HOCH 634 ME: nein nein nein des kommt nur einmal vor dedim ↑← > * 635 Ü: hab ich gesagt Zu Beginn des Ausschnitts zitiert die Erzählerin die Freundin, die sie mit Nachdruck dazu auffordert, die vorherige Handlung zu wiederholen. Das Zitat der Freundin ist in Mixing, der erste Teil ist in Deutsch mach noch mal mach noch mal (Z. 629, 631), der zweite in Türkisch şunlara göster şunlara göster ↓ (‘zeig es denen zeig es denen’, Z. 631). Auf diese dringliche Aufforderung reagiert die Erzählerin mit einer deutlichen Absage: nein nein nein des kommt nur einmal vor dedim (‘habe ich gesagt’, Z. 634). Die Wiederga- 286 Die folgenden Abkürzungen werden verwendet: Redeeinleitung ( RE ), Redeausleitung ( RA ), Deutsch (Dt) und Türkisch (Tk). Der kommunikative Stil 355 be eigener Rede ist in Deutsch formuliert. Der Sprachwechsel ins Deutsche im Kontrast zu dem direkt vorangehenden türkischsprachigen Teil des Zitats der Freundin hebt die Absage hervor; und mit der türkischen Redeausleitung dedim im Kontrast zum deutschen Zitat wird die Szene gerahmt. Hier liegt folgendes Sprachwechselmuster zugrunde: Redewiedergabe der Freundin: RE - Fremdzitat Dt Dt + Tk Redewiedergabe der Erzählerin: Eigenzitat (Widerspruch) - RA Dt Tk Der Kontrast liegt zwischen der Sprachwahl am Ende des Fremdzitats (Tk) und der Sprachwahl im Eigenzitat (Dt). Außer diesen Variationsmustern, die bei allen Sprecherinnen vorkommen, gibt es Variationsmuster, die charakteristisch sind für Sprecherinnen, die sich nahe am türkischen Pol bewegen bzw. für Sprecherinnen, die sich nahe am deutschen Pol bewegen. 3.3.3.2 Variationsmuster beim Sprechen „nahe am türkischen Pol“ Da beim Sprechen nahe am türkischen Pol bis zu 75% der Lexik und der syntaktischen Strukturen Türkisch sein können, können in solchen Umgebungen deutsche Formulierungen markierende Funktionen übernehmen. So wird Deutsch zur Trennung zwischen der Hauptaktivität „Erzählen“ und Nebenaktivitäten wie „zur Ordnung rufen“, „Süßigkeiten anbieten“ usw. verwendet. Das wurde oben bereits dargestellt. Beim Sprechen „nahe am türkischen Pol“ ist die sprachliche Verteilung auf Haupt- und Nebenaktivität stabil: die Hauptaktivität ist dominant Türkisch, die Nebenaktivität Deutsch. Dieses Muster wurde in dem oben (Kap.3.2.3.1 ) bereits angeführten Beispiel verdeutlicht, in dem Meline (ME) in Türkisch von einem Ereignis aus der Schule erzählt und von der Freundin (ZE) unterbrochen wird, die Nüsse auf den Tisch schüttet, sie ihr anbietet und dabei Deutsch spricht: 287 589 ME: ben ş imdi ikinci kattayım Emel de 590 Ü: ich bin jetzt im zweiten Stock und Emel Hauptaktivität „Erzählen“: Tk 287 Unter der letzten Zeile eines Blocks werden die Funktionen der Äußerungsteile und die verwendete Sprache Türkisch (Tk) und Deutsch (Dt) angegeben. Die „türkischen Powergirls“ 356 591 ME: a ş a ğ ıdaki katta ↓ bana bahıyo böyle tamam mı ↑ 592 Ü: ist im unteren Stockwerk und schaut mich so an ok 593 ZE: nimm ma die“ langer ↓ 594 K: ZU ME Nebenaktivität „Nüsse anbieten“: Dt 595 ME: +< → dur dur bekle bekle ↓← > 596 Ü: halt halt warte warte 597 K: ZU ZE Nebenaktivität „Nüsse ablehnen“: Tk Der Sprachwechsel hebt die Trennung der Nebenaktivität „Nüsse anbieten“ von der Hauptaktivität „Erzählen“ hervor. Nach der Zurückweisung des Nüsse-Angebots (Z. 595) - dabei folgt Meline den Sprachwechselmustern bei Widerspruch - führt sie wieder in die Hauptaktivität „Erzählen“ zurück. Das geschieht in zwei Schritten und ist mit Sprachwechsel verbunden: 598 ME: ondan son/ >orası çok bu sefer ↓ < * und die hat so 599 Ü: und dann dies Mal ist es mehr 600 K: ZU ZE Rückführg Erz.: Tk Nebenaktivität: Tk Rückführg. Erz.: Dt 601 ME: doppelte oberteile angehabt tamam mı ↑ 602 Ü: okay tag-question Die Erzählerin beginnt die Rückführung in die Hauptaktivität mit dem türkischen Erzählkonnektor ondan son/ (‘und dann’, Z. 598), bricht ab und schiebt einen Kommentar zu den auf dem Tisch liegenden Nüssen nach, leiser und ebenfalls in Türkisch >orası çok bu sefer< (‘dies Mal ist es mehr’, Z. 598). Im Kontrast zu dem türkischen Kommentar führt sie dann mit einer deutschsprachigen Formulierung in die Erzählung zurück, d.h., sie verwendet Deutsch zur markierten Rückführung in die Hauptaktivität. Die darauf folgende Erzählsequenz ist wieder dominant Türkisch. Die schematische Darstellung der sequenziellen Abfolge sieht folgendermaßen aus: Hauptaktivität „Erzählung“ Tk Nebenaktivität „Nüsse anbieten“ Dt Zurückweisung der Nüsse Tk Rückführung in Hauptaktivität Tk Kommentar zu Nüssen Tk Markierte Rückführung in Hauptaktivität Dt Fortführung der Hauptaktivität Tk Der kommunikative Stil 357 Deutsch dient also sowohl zur Markierung des Wechsels von der Hauptin die Nebenaktivität als auch zur markierten Rückführung in die Hauptaktivität, nachdem die erste Rückführung gestört war. Deutsch wird außerdem zur Grobstrukturierung der Ereignisdarstellung und Ereignisverarbeitung verwendet, zur Markierung einer neuen Episode, zur Markierung eingeschobener Handlungserläuterungen und bei der Ausgestaltung des Erzählhöhepunktes. a) Episodenbeginn: 628 ME: kapattım gene durdum öyle ↓ < ** < → danach hat=se 629 Ü: ich hab wieder zugemacht und so gewartet Ende 1.Episode: Tk Beginn 2. Episode: Dt Die vorangehende Episode endet mit einer Handlungsbeschreibung der Erzählerin in Türkisch kapattım gene durdum öyle ↓ < (‘ich habe wieder zugemacht und so gewartet’, Z. 628). Nach einer längeren Pause erfolgt ein prosodischer (größere Lautstärke, schnelleres Sprechen) und sprachlicher Wechsel (Deutsch) mit dem - das wird aus dem Nachfolgenden deutlich - die nächste Erzählepisode beginnt. Der Beginn der neuen Episode ist mit dem Wechsel in Sprache und Sprechweise verbunden. b) Handlungserläuterung: 200 ME: o da yapıyo aynısını ↓ ben böyle klopfn ediyom 201 Ü: er macht auch das Gleiche ich klopfe so Fremdhandlung: Tk Eigenhandlung: Tk 202 ME: o da klopfn ediyo ↓ ** isch wollte wi/ d/ 203 Ü: er klopft auch Fremdhandlung: Tk Plausibilisierung der Eigenhandlung: Dt 204 ME: damit er re: det ↓ dass isch weiß wer des is ↓ ne ↑ 205 ME: ob=s der bruder is oder Kamer ↓ ** o da konu ş ma=die 206 Ü: er hat auch nicht Fremdhandlung: Tk 207 ME: gan=zeit ↓ ben de böyl=aptım ↓ ** 208 Ü: gesprochen und ich habe so gemacht Eigenhandlung: Tk Die Handlungsdarstellungen zu Beginn des Ausschnitts, die Fremdhandlung ebenso wie die Eigenhandlung, sind türkisch strukturiert mit der Insertion des deutschen Verbs klopfen: ben böyle klopfn ediyom o da klopfn ediyo ↓ Die „türkischen Powergirls“ 358 (‘ich klopfe so, er klopft auch’, Z. 200-203). 288 Davon abgehoben ist die deutschsprachig formulierte Plausibilisierung eigener Handlung: isch wollte wi/ d/ damit er re: det ↓ dass isch weiß wer des is ↓ ne ↑ ob=s der bruder is oder Kamer ↓ (Z. 202-205). Die anschließende Fortführung der Handlungsdarstellung (Z. 205, 207) ist wieder in Türkisch mit einer prosodisch und phonetisch eng eingebundenen deutschen Temporalangabe. Die Strukturteile Handlungsdarstellung und Handlungsläuterung sind durch Sprachwechsel voneinander getrennt. c) Steigerung und Detaillierung am Erzählhöhepunkt: Die Erzählerin setzt folgende Situation in Szene: Als sie im Schultreppenhaus ihrer Freundin ihr neues Oberteil vorführt und sich dabei aus Versehen entblößt, wird sie, gerade als sie das Oberteil herunterziehen will, sich aber noch nicht bedeckt hat, von einem türkischen Jungen überrascht, der sie entgeistert anstarrt: 652 ME: ← tam a"çtım böyle ↑→ * hab isch so gemacht ↑ 653 Ü: habe ich gerade so aufgemacht Handlung: Tk Detaillierung: Dt + Geste 654 ZE: +hat 655 ME: +ja: ↓ tam ← kapa"tı"ca"m → ş öyle ş uramda 656 Ü: ich wollt es gerade zumachen das oberteil 657 ZE: man gesehn ↑ Handlungsabsicht: Tk situatives Detail: Tk 658 ME: ş imdi oberteil → ş unun ş urası var ya ↑← * <ist hier ↑ > * 659 Ü: ist so bei mir jetzt, da ist doch dieses Dings Hintergrund: Tk Steigerg: Dt + Geste 660 K&: LACHEN 661 ME: bahıyom Ismail ge: li: yo: ↓ LACHT ben böyle hi: ↑ 662 Ü: sehe ich Ismail kommt ich so 663 K: ERSCHRECKT Handlungsfortführung: Tk RE: Tk RW Nach der prosodisch hervorgehobenen (langsames Sprechen, starke Akzentuierung) Handlungsdarstellung ← tam a“çtım böyle →↑ (‘ich habe gerade so aufgemacht’, Z. 652) folgt die gestisch verdeutlichte Detaillierung des kleinschrittig dargestellten Handlungsablaufs, die mit Wechsel ins Deutsche verbunden ist: hab isch so gemacht ↑ (Z. 652). Die gespannte Nachfrage der Rezipientin +hat man gesehn ↑ (Z. 654, 657) beantwortet die Erzählerin 288 Das ist wieder ein Beispiel für die Mischkonstruktionen, bestehend aus: deutschem infinitem Verb + finitem türksichem Verb etmek (machen). Der kommunikative Stil 359 ebenfalls in Deutsch (+ja: ↓ , Z. 655). Bei der Zuspitzung zum Höhepunkt tritt das vorherige Wechselmuster nochmals auf. Die Beschreibung des für die Ereignisschilderung zentralen situativen Details beginnt in Türkisch mit einer deutschen Insertion: şöyle şuramda şimdi oberteil (‘das Oberteil ist so bei mir jetzt’, Z. 655, 658). Auf die ebenfalls in Türkisch formulierte Hintergrunderläuterung, → şunun şurası var ya ↑← (‘da ist doch dieses Dings’, Z. 659) folgt die prosodisch markierte und gestisch verdeutlichte Präsentation des zentralen Details in Deutsch: <ist hier ↑ > (Z. 658). Im gesamten Segment sind nur die beiden Strukturteile in Deutsch, in denen szenische Details hervorgehoben und gestisch verdeutlicht werden. Die übrigen Strukturteile sind Türkisch (mit deutscher Insertion). Zusammenfassend: In Erzählungen, in denen sich die Sprecherinnen nahe am türkischen Pol bewegen, d.h. vor allem türkische Lexik und türkische Strukturen verwenden, wird Deutsch in bestimmten Strukturpositionen benutzt: - zur markierten (zweiten) Rückführung in die Hauptaktivität, wenn die erste Rückführung gestört war; - zur Trennung der Handlungserläuterung von der Handlungsdarstellung und - zur Steigerung und Detaillierung bei der Ausgestaltung des Höhepunktes. Die übrigen narrativen Sequenzen sind türkisch strukturiert und können deutsche Insertionen enthalten. 3.3.3.3 Variationsmuster beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“ Auch beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“ ist die Verteilung beider Sprachen auf bestimmte Segmente eines Erzählereignisses geordnet. Da der Anteil deutscher Lexik und deutscher Strukturen groß ist, können türkische Elemente markierende Funktion haben. So wird der Beginn der Ereignisdarstellung mit einem türkischen Element markiert, Szenen werden mit türkischen Elementen (Redeeinleitungen oder Partikeln) gerahmt. Wenn die narrativen Sequenzen eine zweiteilige Struktur haben, sind die beiden Strukturteile durch Sprachwechsel voneinander getrennt, mit einer relativ festen Sprachverteilung: der erste Teil ist in Türkisch, der zweite, hervorgehobene Teil in Deutsch. Diese Erzählmuster werde ich am Beispiel einer längeren Erzählung zeigen, in der die 17-jährige Gymnasiastin Aynur (AY) ihre Er- Die „türkischen Powergirls“ 360 fahrungen bei einem Schulprojekt darstellt. In dem Schulprojekt sollen die Schülerinnen als Rollstuhlfahrerinnen erkunden, wie die Umwelt auf Behinderte reagiert und auf welche Schwierigkeiten Behinderte in der Öffentlichkeit stoßen. Das Erzählangebot wird ratifiziert und nach kurzen Erläuterungen beginnt Aynur mit der Erzählung. Die Erzählung besteht aus einer Aneinanderreihung von Erzählepisoden, in denen die Erzählerin ihre Erlebnisse schildert, die sie als Rollstuhlfahrerin gemacht hat. Die Abfolge der Episoden folgt dem Verlauf der Fahrt im Rollstuhl. Die einzelnen Erzählepisoden bestehen im Wesentlichen aus der Beschreibung von Handlungen, Beobachtungen der Erzählerin und Reaktionen von Passanten, denen sie begegnet, aus kurzen szenischen Darstellungen mit Redewiedergaben und Kommentaren. Der Beginn der Handlungsdarstellung und damit der Beginn der ersten Erzählepisode wird im Kontrast zu vorangehenden deutschsprachigen Beiträgen durch den narrativen türkischen Konnektor neyse (‘nun’) markiert, und das erste Erzählsegment endet mit der türkischen Partikel işte (‘halt’): 47 NA: +ja ↓ * 48 AY: wir habn fünf rollstühle 49 TE: sieht man den fleck ↑ 50 NA: mhm ↓ 51 AY: bekommn ↑ pro rollstuhl ä: h * zwei person ↓ neyse 52 Ü: nun Ereignisdarst. 53 AY: hab isch misch hingesetzt ↓ i ş te morgens ↓ ja ↓ ** 54 Ü: halt Eigenhandlung Partikel Durch die türkischen Partikel am Anfang und am Ende des ersten Erzählsegments entsteht im Kontrast zu den vorangehenden deutschen Beiträgen eine Rahmung des Beginns der Ereignisdarstellung. Auch die folgenden Erzählepisoden werden mit dem türkischen Konnektor neyse (‘nun’) eingeleitet, d.h., diese Partikel hat in der gesamten Erzählung eine starke Rahmungsfunktion. Rahmungsfunktion haben auch die türkische Fortführungspartikel falan filan (‘und so’) ebenso wie die deutsche Entsprechung und so. Die Fortführungspartikel können einem Zitat folgen und es von einem Folgezitat abgrenzen, wie im folgenden Beispiel: Der kommunikative Stil 361 82 AY: wolln sie in die bahn soll isch sie tragn falan filan ↓ 83 Ü: und so Fremdzitat Partikel 84 AY: isch so ne: diyom ↓ * isch wart hier nur ↓ * 85 Ü: sage ich RE Zitat RA Zitat Dem Fremdzitat wolln sie in die bahn soll isch sie tragen folgt die Partikel falan filan (‘und so’) und trennt das Fremdzitat von dem direkt folgenden Eigenzitat, das in Deutsch eingeleitet und nach den Regeln der Rahmung in Türkisch ausgeleitet wird: isch so ne: diyom (‘sage ich’). Durch die türkischen Elemente wird die Szene strukturiert. Im nächsten Beispiel folgt auf eine Handlungsdarstellung ein nicht eingeleitetes Fremdzitat; beide Strukturelemente sind durch die Fortführungspartikel und so getrennt, und das Fremdzitat wird durch die Partikel falan filan abgeschlossen: 74 AY: babalarını itekliyorlar und so ↓ papa schau ma: l falan filan 75 Ü: sie stumpen ihre Väter an und so Fremdhandlung Fremdzitat Partikel Die Partikeln haben Abgrenzungsfunktion und sind meistens mit Sprachwechsel verbunden. 289 Die Erzählepisoden haben eine sehr ähnliche Struktur. 290 Sie beginnen mit der Rahmungspartikel neyse (‘nun’) und der Darstellung einer Handlung der Erzählerin. Diese ersten Erzählkomponenten sind gemischt oder türkisch strukturiert. Dann folgen Darstellungen anderer Akteure, Darstellungen ihrer Perspektiven oder ihrer Folgehandlungen. Diese Episodenteile sind in der Regel in Deutsch realisiert. Das Handlungsgerüst, d.h., was die Erzählerin tut, wo sie sich befindet oder wohin sie sich bewegt, ist also durchgehend gemischt oder Türkisch, der Rest ist Deutsch. Diese Episodenstrukturierung wird mit der ersten Episode eingeführt: 53 AY: neyse hab isch misch hingesetzt ↓ i ş te * morgens ↓ ja ↓ 54 Ü: nun halt Eigenhandlung 289 In 75% der Fälle sind die Fortführungspartikel mit Sprachwechsel verbunden; von insgesamt 21 Fällen haben nur 4 keinen Sprachwechsel. 290 Das gilt für die ersten 5 Episoden, in denen die Sprecherin ihre Darstellung selbstständig gestaltet. Danach nehmen Aktivitäten der RezipientInnen zu, die fast ausschließlich in Deutsch sind, wodurch sich auch das Sprachwechselverhalten der primären Erzählerin ändert. Die „türkischen Powergirls“ 362 55 AY: ZEYNEBi de gördüm ↓ die arme die hat fast=en 56 Ü: ich habe auch Zeynep gesehen Eigenwahrnehmung Fremdreaktion 57 AY: herzinfarkt bekommen ↓ LACHT bahnda göryom 58 Ü: ich sehe sie in der Bahn Eigenwahrnehmung 59 NA: |ah ja ↓ | 60 AY: böyle yapıyo ↓ ** LACHT die hat |gedacht| mir is was 61 Ü: sie macht so Fremdperspektive 62 AY: passiert ↓ * → ts des war so schlimm ↓← Kommentar Das erste Episodensegment, in dem die Erzählerin mit der Ereignisdarstellung beginnt, hat eine gemischte Struktur (Z. 53). Das erste Erlebnis - sie begegnet ihrer Freundin Zeynep, die nichts von dem Rollstuhlprojekt weiß - ist in Türkisch formuliert: Zeynebi de gördüm ↓ (‘ich habe auch Zeynep gesehen’, Z. 56). Die Reaktion der Freundin auf den Anblick der Erzählerin im Rollstuhl wird in Deutsch dargestellt: die arme die hat fast=en herzinfarkt bekommen (Z. 55, 57). Nach dem Lachen (Z. 57) reformuliert die Erzählerin die gesamte Sequenz nach demselben Variationsmuster: Das, was die Erzählerin sieht, wird in Türkisch formuliert: bahnda görüyüm böyle yapıyo ↓ (‘ich sehe sie in der Bahn, sie macht so’, Z. 57f., 60f.); die Reaktion der Freundin, die Darstellung ihrer Perspektive beim Anblick der Erzählerin im Rollstuhl, wird in Deutsch formuliert: die hat gedacht mir is was passiert ↓ (Z. 59, 61). Die Kommentare der Erzählerin zu dargestellten Ereignissen sind durchgehend in Deutsch. Das wird in diesem Beispiel deutlich, in dem der deutschsprachige Kommmentar → ts des war so schlimm ↓← (Z. 61) auch auf ein in Deutsch formuliertes Erzählstrukturelement folgt. Im nächsten Beispiel folgt der deutsche Kommentar auf ein türkisches Segment (Z. 78, 80): 76 AY: und so ↓ papa schau ma: l falan filan ne bilyim neydi ↑ * 77 Ü: und so was weiß ich was noch Fremdzitat Partikel Fortführungsformel 78 AY: → auf jedn fall acayip ↓ das hat misch schon ziemlich 79 Ü: komisch Kommentar Modalisierung Kommentarfortführung 80 AY: mitgenommn ↓← Der kommunikative Stil 363 Der Kommentar ist in Deutsch mit dem modalisierenden türkischen Adjektiv acayip (‘komisch’, Z. 78, 80). Interessant ist die Selbstkorrektur der Erzählerin in der dem Kommentar direkt folgenden Äußerung: 80 AY: mitgenommn ↓← dann sind so/ önce birisi geldi ↓ eh 81 Ü: als erstes ist einer gekommen Fremdhandlung Korrektur + Fremdhandlung Die Äußerung dann sind so/ önce birisi geldi ↓ (‘als erstes ist einer gekommen’, Z. 80) leitet die nächste Episode ein. Die Korrektur betrifft die inhaltliche Seite, die Erzählerin korrigiert sich von da sind so zu önce birisi geldi (‘als erstes ist einer gekommen’). Die Korrektur betrifft aber auch die Sprachwahl. Die Korrektur von Deutsch zu Türkisch beim Beginn einer Erzählepisode entspricht dem vorher beschriebenen Strukturmuster, wonach Erzählepisoden mit einem türkischen Element beginnen. Die Selbstkorrektur ist ein Beleg für dieses Muster und für seine Stabilität. In zweiteiligen Strukturen der Informationsverarbeitung ist der erste Strukturteil in Türkisch formuliert, der zweite in Deutsch. Der erste Strukturteil kann eine einfache Handlungsdarstellung, eine Hintergrundinformation oder die Darstellung einer Voraussetzung sein, der zweite Strukturteil kann eine Detaillierung oder Präzisierung, eine Vordergrunddarstellung oder die Folge einer Voraussetzung enthalten. Da der zweite Strukturteil aufgrund der sequenziellen Position hervorgehoben ist, wird diese Hervorhebung durch den Sprachwechsel ins Deutsche verstärkt. Das Variationsmuster sieht also folgendermaßen aus: Handlungsdarstellung: Türkisch → Detaillierung/ Präzisierung: Deutsch Hintergrundinformation: Türkisch → Vordergrunddarstellung: Deutsch Voraussetzung: Türkisch → Folge: Deutsch Das erste Muster lässt sich an folgendem Beispiel zeigen. Die Handlungsdarstellung ist in Türkisch formuliert: adam kapıyı açıp tutyo (‘der Mann hält die Tür auf’), die darauf folgende Detaillierung in Deutsch: der steht so an der wand: 97 AY: adam khapıyı açıp tutyo ↑ der steht so an der wand ↑ 98 Ü: der Mann hält die Tür auf Fremdhandlung Detaillierung Die „türkischen Powergirls“ 364 In einem anderen Beispiel erscheint die Voraussetzung in Türkisch: sonra yoruldum (‘dann bin ich müde geworden’), die Folge in Deutsch: isch bin grad so stehengeblieben: 117 AY: sonra yoruldum isch bin grad so stehngebliebn 118 Ü: dann bin ich müde geworden Voraussetzung Folge Solche Variationsmuster für zweiteilige Strukturen mit fester Zuordnung zwischen Sprachen und Funktionen sind charakteristisch für Sprecherinnen, die sich nahe am deutschen Pol bewegen. Zusammenfassend: Für das Sprechen nahe am deutschen Pol sind folgende Variationsmuster charakteristisch: - die Erzählepisoden werden durch türkische Partikel gerahmt und die Darstellung der Handlung der Erzählerin ist in Türkisch oder in einer gemischten Struktur; (zwei Korrekturen, in der die Erzählerin die deutsche Struktur am Episodenbeginn abbricht und ins Türkische wechselt, zeigen die Stabilität dieses Musters); - zweiteilige Darstellungsstrukturen sind mit einem stabilen Variationsmuster verknüpft, der erste Teil ist türkisch strukturiert, der zweite ist in Deutsch. Im analysierten Beispiel sind diese Muster in den Erzählsegmenten, in denen die Erzählerin die Darstellung im Wesentlichen selbständig gestaltet, deutlich erkennbar. In den darauf folgenden Episoden werden diese Muster durch Interventionen der Rezipientinnen durchbrochen, vor allem durch Folgeerzählungen der Leiterin, die durchgängig in Deutsch sind. Da Deutsch dann über eine längere Gesprächsphase die Interaktionssprache wird, nimmt auch in der Darstellung Aynurs, als sie wieder zu ihrem Erzählstrang (Fahrt im Rollstuhl) zurückleitet, Deutsch deutlich zu. Nur das Variationsmuster für szenische Rahmung bleibt erhalten. Das ist in der folgenden Episode, in der Aynur ihren Besuch bei McDonald's schildert, erkennbar: 410 NA: wieder wegkuckn dann is das auch schlimm ↓ 411 AY: +und im 412 AY: mcdonald´s hab isch dann auch gefragt wie isch jetzt 413 AY: auf die toile"tte gehn soll ↓ * dedim/ kız dedi Ü: sagte ich/ das Mädchen sagte 414 AY: ah dedi isch kenn disch dedi ↓ hast du einen unfall Ü: sagte sie sagte sie Der kommunikative Stil 365 415 AY: gehabt falan filan ↑ ** isch so dedim isch kann ja Ü: und so sagte ich 416 AY: jetzt nisch sagn dass isch=en un“fall hatte oder so ↓ 417 AY: und morgn lauf isch dann wie“da in den mcdonald´s 418 AY: ganz normal heiter ↓ * sonra dedim ↓ böyle böyle Ü: dann sagte ich so und so 419 AY: dedim ↓ isch mach halt ein projekt falan filan ↑ Ü: sagte ich und so 420 AY: dedim aber dedim wenn isch jetzt wirklich behindert Ü: sagte ich sagte ich 421 AY: wär dedim und auf die toilette gehn wollt wie soll Ü: sagte ich 422 AY: isch des machn ↑ sonra dedi wir habn ei“nen Ü: dann sagte sie Die die Dialoge rahmenden türkischen Elemente sind sonra dedim, dedim, sonra dedi, dedi und falan filan. In allen Episoden dieser Erzählung ist das Muster der szenischen Rahmung stabil und Mixing wird, wenn auch mit minimalen Mitteln, präsent gehalten. Das zeigt, dass Mixing konstitutiv für die Kommunikationsform „Erzählen“ ist, auch bei Sprecherinnen, die andere Diskursmuster in Deutsch durchführen (z.B. Diskussionen, vgl. unten Kap. 3.3.4). 3.3.3.4 Bewegungen auf dem Kontinuum Wenn sich Sprecherinnen, die sich „nahe am türkischen Pol“ bewegt haben, zur Mitte des Kontinuums hinbewegen, folgen die Variationsmuster tendenziell einem Balancebzw. Spiegelungs-Prinzip. Ausschlaggebend ist die Herstellung einer ausgeglichenen Mischung beider Sprachen bzw. das Vermeiden der Dominanz nur einer Sprache (vgl. oben Kap. 3.2.3.1). Bei Bewegungen in Richtung Mitte des Kontinuums wird in beide Richtungen gewechselt und es gibt keine stabile Zuordnung zwischen Sprache und diskursiver Funktion. Sind z.B. mehrere Vorgängerbeiträge (z.B. zur Klärung eines Sachverhalts) türkisch formuliert, erfolgen die zusammenfassende Präzisierung und ein Kommentar dazu in Deutsch und umgekehrt. Bewegen sich Sprecherinnen von der Mitte des Kontinuums in Richtung „deutscher Pol“ lassen sich wieder stabilere Zuordnungen zwischen Sprache und diskursiver Funktion beobachten. Die Sprecherinnen orientieren sich Die „türkischen Powergirls“ 366 dann an den Variationsmustern, die charakteristisch für das Sprechen nahe am deutschen Pol sind. Die Verwendung zweiteiliger Strukturen mit einer festen Zuordnung der Sprachen nimmt zu. Das zeigt das folgende Beispiel. Die Sprecherin Zeynep, die zu den jüngeren „Powergirls“ gehört, besucht seit einiger Zeit die Realschule außerhalb des Stadtgebiets. Der Einfluss des Deutschen im schulischen Alltag schlägt sich auch in der Gruppeninteraktion nieder. Solange Zeynep in der „Ghetto“-Hauptschule war, bewegte sie sich häufig am türkischen Pol; nach einiger Zeit in der Realschule nehmen die deutschen Anteile im Mixing zu, und sie verwendet zweiteilige Strukturen, in denen der erste Teil in Türkisch und der zweite Teil in Deutsch formuliert ist. In den folgenden Beispielen werden im ersten Strukturteil Voraussetzungen, im zweiten Strukturteil Reaktionen und Folgen dargestellt: ZE: bi yani ş hareketini görseler almayız derler * Ü: wenn sie ein falsches Verhalten von mir sehen würden Voraussetzung ZE: was soll ich dann machen ↑ Reaktion Oder ZE: be ş dakka Ebertin yanına gir * Ü: geh fünf Minuten zu Ebert rein Voraussetzung ZE: dann kriegst du alles was du willst Folge Diese zweiteiligen Strukturen mit dem Variationsmuster - der erste Teil in Türkisch, der zweite, hervorgehobene Teil in Deutsch - sind charakteristisch für das Sprechen „nahe am deutschen Pol“; d.h., Zeynep beginnt dieselben Variationsmuster zu vewenden wie die Gymnasastinnen. 3.3.4 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit Auch bei der sprachlichen Gestaltung von Diskussionen und Aushandlungen verhalten sich die Mädchen, die stabile schulische und soziale Kontakte außerhalb des „Ghettos“ haben, anders als die Mädchen, die sich vor allem in der „Ghetto“-Gemeinschaft bewegen. Die Mädchen mit stabilen Kontakten nach „draußen“, die Gymnasiastinnen, bevorzugen Deutsch als Interaktionssprache, die anderen eher Mixing. Das unterschiedliche Sprachverhalten in Diskussionen und Aushandlungen werde ich an zwei Beispielen vorstellen. Der kommunikative Stil 367 In den Gruppendiskussionen, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits vorgestellt wurden (Kap. 2.3 - 2.5) und in denen über ein Gruppenprojekt (Videofilm) verhandelt wurde, ist Deutsch die Interaktionssprache. Wenn in diesen Situationen Türkisch verwendet wird, dann in Nebenaktivitäten, bei spielerischen oder kritischen Kommentaren zu Inhalt oder Durchführungsweise der Hauptaktivität oder zum Verhalten anderer. Türkisch fungiert in diesen Situationen als Kontextualisierungsmittel für eine zusätzliche interaktive und/ oder soziale Bedeutung. Dazu ein Beispiel aus der oben (Kap. 2.3) bereits dargestellten Diskussion zu dem Videofilmprojekt. Im Transkriptausschnitt stellt die Moderatorin Didem (DI) gerade einen Szenenvorschlag vor: 164 DI: und äh des was wir heute gesehen haben 165 DI: |diese familien- | diese ver|schiedenen | 166 HI: |> ş eke“r ver lan ↓ <| 167 Ü: gib mir ein Bonbon Mann 168 K: ZU HL 169 HL: |>verme“m lan ↓ <| 170 Ü: nein Mann 171 DI: |familiensitua|tionen- ** |diese | 172 HL: |>was ↑ <| 173 DI: verschiedenen- ** < ← familiensituationen 174 K: STAKKATO 175 DI: darstellen → > <und dann ham wir 176 HL: >geliyorlar< *1,5* 177 Ü: jetzt dreht sie durch 178 DI: no“ch ↓ > ** also- * ich hab überlegt wir könnten die 179 DI: Tura ta“nzen lassen die tanzt >ja so toll ↑ < und 180 HC: ja- Parallel zu Didems Redebeitrag in Deutsch, in dem sie den Vorschlag für den Film präsentiert (Z. 164, 175), fordert Hikmet in Türkisch von Hülya Süßigkeiten >şeke“r ver lan ↓ > (‘gib mir ein Bonbon Mann’, Z. 166f.), eine Forderung, die Hülya ablehnt: >verme“m lan ↓ > (‘nein Mann’, Z. 169f.). Im Kontrast zur Hauptaktivität wird die Interaktion zwischen den beiden durch leiseres Sprechen, Wechsel des Themas, vertraut-derbe Anredeform lan und Sprachwechsel ins Türkische als Nebenaktivität kontextualisiert. Die Nebenaktivität stört die primäre Sprecherin Didem; das zeigt ihre Formulierungsarbeit mit Abbruch, mehrfachem Neuansatz, Wiederholungen, lauterem, langsamem und stakkatoartigem Sprechen, Merkmale, die für die Abwehr von Störungen charakteristisch sind. Das veränderte Sprechverhalten von Didem motiviert Hülya zu der kritischen Nebenbemerkung: >geliyorlar< Die „türkischen Powergirls“ 368 (‘jetzt dreht sie durch’ 291 Z. 176f.). Die Äußerung ist leise in Richtung Hikmet gesprochen; sie ist ein Kommentar zu Didems Verhalten und mit Sprachwechsel ins Türkische verbunden. Die Sprachwechsel ins Türkische kontextualisieren zusammen mit anderen Merkmalen die eine Aktivität als Nebenaktivität, die andere als kritischen Kommentar zum Verhalten der primären Akteurin. Im Rahmen der Hauptaktivität „Diskussion“ kommen Sprachwechsel ins Türkische nicht vor, auch nicht in Widerspruchsäußerungen, wie der weitere Gesprächsverlauf zeigt: 175 DI: darstellen → > <und dann ham wir 176 HL: >geliyorlar< *1,5* 177 Ü: jetzt dreht sie durch 178 DI: no“ch ↓ > ** also- * ich hab überlegt wir könnten die 179 DI: Turna ta"nzen lassen die tanzt >ja so toll ↑ < und 180 HC: ja- 181 DI: des dann äh zeigen ↑ |also| 182 HY: |des | war aber mei“ne idee ↓ * 183 DI: +ja genau ↓ * hab=ich geraubt 184 HC: +nei“n des war 185 HY: <also-> 186 HC: mei“ne |idee gestern ↓ | <ey: Hülya ↓ > * des 187 K: ENERGISCH 188 HY: |ja: du ↑ | des war/ 189 HC: war mei“ne idee und da hast du danach noch gesagt/ 190 K: # 191 DI: |okay ↑ hier-| 192 HI: +< → is doch ega“l |sie soll |tanzen ↓← > ** Didem präsentiert den Vorschlag, im Videofilm Turna mit einer Tanzeinlage auftreten zu lassen, als ihre Idee, als das, was sie sich überlegt hat (vgl. Z. 178). Dazu gibt es sofort Widerspruch: Hülya behauptet, dass sie die Idee mit der Tanzeinlage hatte (Z. 182), worauf Hici die Idee auch für sich reklamiert (Z. 184, 186). Es entzündet sich ein kurzer Disput zwischen Hülya und Hici (Z. 186, 189) über die Ideen-Urheberschaft, den Hikmet mit der Forderung abbricht, dass Turna tanzen soll, ganz gleich, wer die Idee hatte. Die Interaktion findet in Deutsch statt, die Widerspruchsäußerungen sind nicht mit Sprachwechsel ins Türkische verbunden. 291 Wörtlich bedeutet geliyorlar „sie kommen gerade“; im Verwendungskontext kann die Äußerung formelhafte Bedeutung haben, im Sinne von „jetzt kommen die Verrücktheiten“ oder „jetzt verliert sie die Nerven“. Der kommunikative Stil 369 Im Unterschied zu den Gymnasiastinnen, die bei Diskussionen Deutsch präferieren, verwenden die Gruppenmitglieder, die (noch) die „Ghetto“-Hauptschule besuchen, beide Sprachen mit relativ stabilen Sprachwechselmustern zur Hervorhebung von Konsens oder Dissens: Stimmt eine Sprecherin mit der Vorrednerin überein, übernimmt sie in ihrem Turn die Sprache der Vorrednerin. Die Sprachübernahme kann sich auch nur auf die im letzten Äußerungssegment der Vorrednerin verwendete Sprache beziehen. Stimmt eine Sprecherin jedoch nicht mit der Vorrednerin überein, wechselt sie mit ihrem Turn auch die Sprache. Um die Stabilität dieser Muster zu verdeutlichen, greife ich auf eine Auseinandersetzung zwischen zwei 14 und 15 Jahre alten Schwestern zurück. Die jüngere Gülsen (GL) ist zum Zeitpunkt der Aufnahme noch in der Hauptschule, Hatice (HA) ist im ersten Jahr in der Realschule. Der Disput entwickelt sich in folgender Situation: Hatice sitzt mit einer deutschen Betreuerin bei den Hausaufgaben, als Gülsen in den Raum kommt und sie auffordert, mit der kleinen Schwester Şükrüye, die zu Hause wartet, zum Arzt zu gehen. Hatice weigert sich, weil sie zuerst ihre Hausaufgaben zu Ende bringen will. Gülsen besteht jedoch darauf, dass Hatice sofort nach Hause kommt. Die Interaktion steigert sich zum Streit, in dem Hatice sich durchsetzt; sie bleibt bei den Hausaufgaben und Gülsen verlässt den Raum. In der Auseinandersetzung geht es um einen Konflikt zwischen Hatices schulischer und familiärer Verpflichtung. Für Hatice hat die schulische Verpflichtung Priorität; sie will der familiären Verpflichtung erst nachkommen, nachdem sie ihre Hausaufgaben erledigt hat. Als Argument dafür benutzt sie eine Anweisung des Onkels, die ihr zeitlich Spielraum lässt. In der Position, die Gülsen in Vertretung der Familie einnimmt, hat die familiäre Verpflichtung Priorität vor der schulischen. Die Auseinandersetzung lässt sich in drei Phasen gliedern: in der ersten geht es um eine Klärung der Positionen; in der zweiten erfolgt eine Steigerung mit mehrfachen Reformulierungen und Expansionen der konträren Positionen, mit Vorwürfen und Rechtfertigungen; und die dritte Phase endet mit Beschwörungen, Beschimpfungen und der Niederlage Gülsens. 3.3.4.1 Klärung von Positionen Die Klärung der Positionen geschieht in 3 Runden. Die erste Runde besteht aus Anliegensformulierung, Nachfrage, Begründung und Absage des Anliegens: Die „türkischen Powergirls“ 370 01 GL: Hatce ↑ * gitcen mi Ş ükrüyeyle oraya ↓ ** |die |heult 02 Ü: gehst du mit Ş ükrüye dahin 03 HA: >ne|den<| 04 Ü: warum 05 GL: fast ** 06 HA: nee: ↓ Als Gülsen den Raum betritt, formuliert sie ihr Anliegen an die ältere Schwester in Türkisch: Hatce ↑ * gitcen mi Şükrüyeyle oraya ↓ ** (‘Hatce gehst du mit Şükrüye dahin’, Z. 01). Die Formulierung zeigt, dass das Thema zwischen den beiden Mädchen bereits etabliert ist, und dass die Sprecherin davon ausgeht, dass die Adressierte weiß, wohin sie mit Şükrüye gehen soll. Durch die Verwendung von Türkisch initiiert Gülsen die Interaktion zwischen den Schwestern und schließt die deutsche Betreuerin aus. Hatce ratifiziert die Herstellung der neuen Interaktionskonstellation durch Sprachübernahme in der Rückfrage neden (‘warum’, Z. 03). Gülsen begründet ihre Aufforderung und wechselt dabei ins Deutsche die heult fast (Z. 01, 05). Hatices Absage an Gülsen ist ebenfalls in Deutsch nee: ↓ (Z. 06). Die Interaktion besteht aus einer rahmenden und einer eingeschobenen Sequenz. Die Verteilung der Sprachen auf die einzelnen Turns sieht folgendermaßen aus: 292 01 GL: Frage/ Aufforderung Tk Initiative 03 HA: Nachfrage Tk Rückfrage 01/ 05 GL: Begründung Dt Antwort 06 HA: Absage Dt Reaktion Die Sprachenverteilung in der rahmenden und in der eingeschobenen Sequenz ist dieselbe: der in Türkisch formulierten Initiative (Z. 01, 03) folgt die Reaktion in Deutsch (Z. 05, 06). Damit wird bereits in der ersten Runde der inhaltliche Kontrast zwischen den beiden Positionen durch den Sprachenkontrast verstärkt. Dieser Zusammenhang lässt sich auch in der zweiten Aushandlungsrunde zeigen: 05 GL: dedi ki ↓ * saat üçte yola çıkcakmısınız ↓ 06 Ü: sie hat gesagt dass ihr um drei losgeht 07 HA: nee: ↓ 292 Die kurze Sequenz besteht aus einem „Nachbarschaftspaar“ mit eingebetteter Einschubsequenz. Der kommunikative Stil 371 08 HA: <ü“çte: ↑ > isch weiß nisch mal wo des 09 Ü: um drei 10 GL: < ← ah ja ↑→ > 11 HA: a“rzt is ↓ * Nach der Absage (nee: ↓ ) präsentiert Gülsen eine Hintergrundinformation und zitiert die kleine Schwester: dedi ki ↓ * saat üçte yola çıkcakmısınız ↓ (‘sie hat gesagt, dass ihr um drei losgeht’, Z. 05f.). Das Zitat ist in Türkisch, d.h., Gülsen folgt dem Sprachverwendungsmuster bei Redewiedergaben, die in der Sprache der Referenzsituation wiedergegeben werden (im vorliegenden Fall Türkisch). Darauf reagiert Hatce mit einer überraschten Nachfrage <ü“ çte: ↑ > (‘um drei’, Z. 08), und erhält eine nachdrückliche Bestätigung: < ← ah ja ↑→ > (Z. 10). Jetzt begründet Hatice die vorherige Absage: ich weiß nisch mal wo des a“rzt is ↓ (Z. 08, 11). Nachfrage (Z. 08) und Bestätigung (Z. 10) bilden wieder eine Einschubsequenz, ausgelöst durch das Zitat der kleinen Schwester (Z. 05). In der rahmenden und der eingeschobenen Sequenz sind wieder die Initiativen in Türkisch, die Reaktionen mit Widerspruchscharakter in Deutsch formuliert. Die Sequenz im schematischen Überblick: 05 GL: Zitat der Schwester Tk Initiative 08 HA: Nachfrage Tk Rückfrage 10 GL: Bestätigung Dt Antwort 08/ 11 HA: Begründung für Absage Dt Reaktion Die dritte Runde hat eine andere Interaktionsstruktur: 11 HA: a“rzt is ↓ * üç buçukta 12 Ü: er hat um halb 13 GL: hasan amcanınkine gitcek ↓ 14 Ü: sie geht zu dem von Onkel Hasan 15 HA: dedi ↓ *2* <isch ka“nn net mann isch muss 16 Ü: vier gesagt 17 HA: hau“saufgaben machen ↓ üç buçuk dedi ↓ > 18 Ü: er hat halb vier gesagt 19 GL: isch kann 20 HA: +pe“sch ↓ * die hat pe“sch ↓ * 21 GL: au“=nischts dafür ↑ Gülsen klärt auf, zu welchem Arzt die kleine Schwester gehen muss (Z. 13) und entkräftet damit die Absage Hatices; im Kontrast zu Hatice, die vorher Deutsch verwendet hatte (Z. 08, 11), formuliert sie jetzt in Türkisch. Hatices Die „türkischen Powergirls“ 372 Reaktion darauf hat eine dreiteilige Struktur: Sie beginnt mit dem Zitat des Onkels üç buçukta dedi (‘er hat um halb vier gesagt’, Z. 11, 15), dann folgt die explizite Absage <isch ka“nn net mann isch muss hau“saufgaben machen ↓ und - zur Stärkung der eigenen Position - wiederholt sie das Zitat des Onkels: üç buçuk dedi (‘er hat halb vier gesagt’, Z. 17f.). Der Hauptteil der dreiteiligen Struktur, die explizite Absage, ist - im Kontrast zu Gülsens türkischsprachiger Äußerung - in Deutsch formuliert. Damit folgt Hatice wieder dem Muster für Divergenz. Im nächsten Turn weist Gülsen darauf hin, dass sie im Auftrag der Familie handelt, und wirbt um Verständnis (isch kann au“=nischts dafür, Z. 19, 21), und Hatice verstärkt die Absage: pe“sch ↓ * die hat pe“sch ↓ ( Z. 20). Interaktionsstruktur und Sprachenverteilung sind hier folgendermaßen: 13 GL: Hintergrund/ Aufklärung Tk 11/ 17 HA: Zitat des Onkels - Absage - Zitat des Onkels Tk + Dt + Tk 19/ 21 GL: Entschuldigung/ Rechtfertigung eigenen Verhaltens Dt 20 HA: Verstärkung der Absage Dt Gülsens Rechtfertigung (Z. 19, 21), in Deutsch formuliert, ist inhaltlich auf das in Deutsch formulierte Argument Hatices (Z. 15, 17) bezogen, d.h., Gülsen bewegt sich sprachlich auf die Schwester zu und folgt dabei dem Variationsmuster für Konvergenz. Abschließend bekräftigt Hatice, ebenfalls in Deutsch, ihre Position. Den Sprachwechseln in der ersten Phase der Auseinandersetzung liegen folgende Variationsmuster zugrunde: - Herstellung einer neuen Gesprächskonstellation durch den Wechsel zu Türkisch; - Variationsmuster bei Redewiedergaben (die kleine Schwester und der Onkel werden in Türkisch zitiert); - unterschiedliche Positionen in kontrastierenden Sprachen: Gülsen formuliert ihr Anliegen in Türkisch, Hatice die Gegenposition in Deutsch; - werben um Verständnis wird mit Sprachübernahme verbunden. Der kommunikative Stil 373 3.3.4.2 Steigerung und moralischer Diskurs Die zweite Phase besteht aus vier sich steigernden Runden, in denen zunächst Lösungsvorschlage präsentiert, dann aber verworfen, bereits bekannte Positionen expandiert, Verhaltensweisen hinterfragt und Handlungsmaximen angeführt werden. Nachdem die vorangegangene Aushandlungsphase mit einem inhaltlichen und sprachlichen Aufeinander-Zubewegen endete, präsentiert Gülsen jetzt einen Lösungsvorschlag in Türkisch, Hatice soll zuhause anrufen und Bescheid sagen, dass sie nicht kommen kann: 22 GL: o zaman telefon aç eve ↓ *2,5* 23 Ü: dann ruf sie zuhause an 24 SE: ruf du“ doch an jetzt- * 25 GL: *1,5* |para yok ↓ | * 26 Ü: kein Geld 27 SE: |=RÄUSPERT SICH| bende var ↑ sen anrufen yap ↓ ** 28 Ü: ich hab Geld ruf du nur an Hatice reagiert auf den Lösungsvorschlag nicht. Nach längerer Pause mischt sich Serpil (SE) eine Freundin Hatices, ein und macht einen Gegenvorschlag in Deutsch (Z. 24): nicht Hatice, sondern Gülsen selbst soll zuhause anrufen. Dagegen wehrt sich Gülsen mit dem Argument, dass sie kein Geld hat; dabei wechselt sie in Türkisch. Serpil entkräftet das Argument und bietet ihr Geld an. Sie bewegt sich auf Gülsen zu und übernimmt auch ihre Sprache (Türkisch, Z. 27). Die Interaktionstruktur und die Sprachverteilung sehen folgendermaßen aus: 22 GL: Lösungsvorschlag Tk 24 SE: Gegenvorschlag Dt 25 GL: Absage + Begründung Tk 27 SE: Angebot Tk Doch Gülsen weist das Geldangebot zurück und drängt auf eine schnelle Lösung des Konflikts. Von da an gewinnt die Auseinandersetzung an Intensität und Schärfe, angezeigt durch höhere Lautstärke, schnelle Sprecherwechsel, intensivierende Partikel, antagonistische Gegenüberstellung, Wiederholung bekannter Positionen und Beschimpfung. Doch gleichzeitig versuchen beide Kontrahentinnen noch immer eine Annäherung der Positionen. Das Zusammenspiel zwischen Verschärfung der Auseinandersetzung bei gleichzeitigem Die „türkischen Powergirls“ 374 Bemühen um Verständigung spiegelt sich auch in der Verwendung von Elementen aus beiden Sprachen; in einigen Turns beginnen die Sprecherinnen mit Sprachübernahme und wechseln dann in die kontrastierende Sprache. Mit Nachdruck (lauteres Sprechen, Interjektion ya) weist Gülsen auf die Dringlichkeit einer Lösung hin: 29 GL: açsanıza ya siz ↑ * <ya a ğ lıyo evde oturup ya ↑ > * 30 Ü: ruft ihr doch an jetzt, Mensch die sitzt zuhause und weint 31 HA: <üç buçuk dedi hasan amca ↓ > 32 Ü: Onkel Hasan hat halb vier gesagt 33 GL: bilmiyom die hat um drei“ 34 Ü: ich weiß nicht 35 GL: gesa: gt ↓ +o zaman ona sor- 36 Ü: dann frag sie 37 HA: +< ← nei“n ↓→ > >üç buçuk dedi ↓ < 38 Ü: halb vier hat er gesagt 39 HA: +ko: mm ↓ üç buçuk +>halt=s maul mann ↓ < 40 Ü: halb vier 41 GL: +o zaman ona sor ↓ 42 Ü: dann frag sie Gülsens Hinweis (<ya ağlıyo evde oturup ya ↑ >, ‘Mensch die sitzt zuhause und weint’, Z. 29) setzt Hatice nochmals und mit Nachdruck (lauter, bestimmtes Sprechen) das Zitat des Onkels entgegen (<üç buçuk dedi hasan amca ↓ > ‘Onkel Hasan hat um halb vier gesagt’, Z. 31). Dem widerspricht Gülsen mit dem Zitat der kleinen Schwester: bilmiyom die hat um drei“ gesa: gt ↓ (Z. 33, 35). Der erste Teil der Äußerung ist Türkisch bilmiyom (‘ich weiß nicht’), doch das Zitat ist in Deutsch. Das ist das erste Mal, dass eine der Sprecherinnen von dem bisher beobachteten Muster bei Zitaten abweicht; obwohl in der Referenzsituation mit Sicherheit Türkisch gesprochen wurde, wird die kleine Schwester in Deutsch zitiert. D.h., hier wird das Wechselmuster für Zitate durch das Widerspruchsmuster überlagert; das Zitat dient als Gegenargument und folgt dem entsprechenden Wechselmuster. Hatice hält dagegen und verwendet dasselbe Variationsmuster wie die Schwester, d.h., sie übernimmt zunächst deren Sprache und wechselt dann innerhalb des Turns: < ← nei: n ↓→ > * >üç buçuk dedi ↓ < (‘halb vier hat er gesagt’, Z. 37). Daraufhin steigt Gülsen aus der Konfrontation aus und präsentiert nochmals einen Lösungsvorschlag zur Klärung des Falles: +o zaman ona sor ↓ (‘dann frag sie’, Z. 35). Dabei übernimmt sie die Sprache mit der Hatices Turn endete. Doch Hatice reagiert mit einem Gegenvorschlag und wirbt dafür, Der kommunikative Stil 375 dass die beiden sich auf Hatices Version einigen: +ko: mm ↓ üç buçuk (‘halb vier’, Z. 39). Da Gülsen insistiert (+o zaman ona sor ↓ , ‘dann frag sie’, Z. 41), wird Hatice grob: +>halt=s maul mann ↓ < (Z. 39). Die Verlaufsstruktur und die Sprachenverteilung in diesem Segment sehen folgendermaßen aus: 29 GL: Reformulierung des Lösungsvorschlags Tk 31 HA: Zitat des Onkels (Hochstufung der eigenen Position) Tk 33 GL: Einräumung + Zitat der Schwester (Gegenposition) Tk + Dk 37 HA: genervter Protest + Zitat des Onkels (Eigenposition) Dt + Tk 35 GL: Aufforderung zur Klärung Tk 39 HA: Vorschlag zur Einigung auf Eigenposition Dt + Tk 41 GL: erneute Aufforderung zur Klärung Tk 39 HA: Drohformel Dt Auffallend in dieser Runde ist die Übernahme der Sprache der Vorrednerin zu Beginn des Turns und dann der Wechsel innerhalb des Turns. Hier wird das Muster des Aufeinander-Zugehens im ersten Turnteil mit dem Widerspruchsmuster im zweiten Turnteil kombiniert. Die Kombination der beiden Muster findet in der Phase der Auseinandersetzung statt, in der die Kontroverse an Intensität zunimmt, in der aber gleichzeitig die Bemühung um eine Lösung erkennbar ist, auch wenn die Lösungsvorschläge weit auseinander liegen. Die Sprachübernahme auch bei gesteigerter Intensität der Auseinandersetzung verleiht den Äußerungen eine fast beschwörende Qualität. In der folgenden Runde entwickelt sich ein moralischer Diskurs über ein angemessenes Handeln im aktuellen Konfliktfall. Verbunden damit ist eine weitere Steigerung der Auseinandersetzung (weite Überlappungen, schnelle Turneinsätze, heftiges, lautes Sprechen). Nach der kurzen Pause wendet sich Gülsen mit einem warnend-drohenden Ordnungsruf an die Schwester: 43 HA: <ma“nn wegen der dummen → kuh“ soll isch meine 44 GL: <Hatice: “> ** 45 HA: hau“saufgaben> net machen|langer ← | 46 GL: |<ya: | niye versprechen 47 Ü: warum hast du es dann 48 GL: yaptın o zaman ↑ > 49 Ü: versprochen 50 HA: +<isch ha“b=ihr net versprochen ↓ Die „türkischen Powergirls“ 376 51 HA: hasan amca |dedi | 52 Ü: Onkel Hasan hat es gesagt 53 GL: |< ← ja: >| du sollst dann ver/ → sa“gen dass 54 GL: |du nicht ka“nnst| |<ga“r| net ↓ > 55 HA: |isch ha“b gesagt| isch hab hau“saufgaben ded|im | 56 Ü: hab ich gesagt 57 HA: LACHT LEICHT >verpi“ss disch mann< 58 GL: ** >lüg net< < +nei“n > Auf die mit der namentlichen Adressierung verbundene Drohung (Akzentuierung und Längung des Endvokals, laute Stimme) drückt Hatice Empörung darüber aus, dass von ihr eine Verletzung der schulischen Pflichten verlangt wird: <ma“nn wegen der dummen →kuh“ soll isch meine hau“saufgaben> net machen langer ← (Z. 43, 45). Gülsen jedoch hält Hatice vor, dass sie sich selbst dazu verpflichtet hat, die familiäre Aufgabe zu übernehmen: <ya: niye versprechen yaptın o zaman ↑ > (warum hast du es dann versprochen, Z. 46, 48). Im Kontrast zu Hatices Empörungsäußerung in Deutsch ist Gülsens Vorhaltung in Türkisch formuliert. Hatice widerspricht und stellt klar, dass ihr der Auftrag vom Onkel erteilt wurde, sie aber nichts versprochen hat (+<isch ha“b=ihr net versprochen ↓ hasan amca dedi>, ‘Onkel Hasan hat es gesagt’, Z. 50f.). Der Widerspruch ist in Deutsch, der Auftrag des Onkels wieder in Türkisch formuliert. Gülsen setzt nach und hält Hatice die Verletzung einer Handlungsmaxime vor: <←ja: > du sollst dann ver/ → sa“gen dass du nicht ka“nnst (Z. 53f.); das ist - im Kontrast zu Türkisch vorher - in Deutsch formuliert. Hatice entkräftet den Vorwurf und weist darauf hin, dass sie die Handlungsmaxime erfüllt hat: isch ha“b gesagt isch hab hau“saufgaben dedim (Z. 55). In Übereinstimmung mit dem Vorgängerturn formuliert sie ebenfalls in Deutsch. Gülsen bestreitet, dass Hatice richtig gehandelt hat (<ga“r net ↓ >, Z. 54) und droht ihr (>lüg net<, Z. 58). Hatice lacht Gülsen aus, beschimpft sie (verpi“ss disch mann , Z. 57) und Gülsen schreit zurück (+<nei“n>, Z. 58). Interaktionsstruktur und Sprachenverteilung sind in dieser Runde folgendermaßen: 43/ 45 HA: Empörung Dt 46/ 48 GL: Vorhaltung Tk 50/ 51 HA: Widerspruch + Klarstellung (Zitat des Onkels) Dt + Tk 53/ 54 GL: neue Vorhaltung Dt Der kommunikative Stil 377 55 HA: Rechtfertigung: RE + Eigenzitat + RA Dt + Tk 54 GL: Bestreiten Dt Pause, Nachbereitung: 58 GL: Warnung Dt 57 HA: Drohformel Dt 58 GL: Zurückweisung Dt Auch in dieser Sequenz folgen die Sprachwechsel im Wesentlichen den bisher festgestellten Mustern für Widerspruch (Z. 43-54), für Bestätigung (Z. 54/ 55) und der Rahmung von Zitaten. Interessant ist die Sprachverteilung in der Nachbereitungsphase: In diesem Abtausch sind Warnung (Z. 58) und Drohung (Z. 57) in derselben Sprache (Deutsch), ebenso wie die vehemente Zurückweisung (Z. 58). Die nächste Runde beginnt mit einer gesteigerten, dritten Vorhaltung an Hatice. Hier schreibt Gülsen ihr die Schuld an dem aktuellen Konflikt zu, da sie rechtzeitig hätte sagen müssen, dass sie zum angegebenen Zeitpunkt für familiäre Angelegenheiten nicht zur Verfügung stehen kann: 59 GL: hasan amca ya önceden söyliyecektin |gelmiyeceksin diye ↓ | 60 Ü: du hättest Onkel Hasan früher sagen müssen, dass du nicht kommst 61 HA: |ba ş lattırma | 62 Ü: ich warn dich 63 HA: siktir git- *1,5* >kal< * das jahr 64 Ü: verfick dich, hau ab dann bleib 65 GL: gitmiyom lan ↑ * 66 Ü: ich geh nicht Mann 67 K: LIEST AB Im Kontrast zum vorangegangenen deutschsprachigen Abtausch von Drohformeln wechselt Gülsen ins Türkische. Darauf reagiert Hatice mit der türkischen Drohformel başlattırma (‘ich warn dich’, Z. 61), und dann mit einer derben Beschimpfungsformel siktir git- (‘verfick dich, hau ab’, Z. 63). Gülsen widersetzt sich gitmiyom lan ↑ (‘ich geh nicht Mann’, Z. 65). Darauf steigt Hatice aus der Auseinandersetzung aus (>kal< ‘dann bleib’, Z. 63), wendet sich demonstrativ den Hausaufgaben zu und ignoriert Gülsen. Die gesamte Sequenz ist in Türkisch. Das in der vorherigen Runde beobachtete Wechselmuster bei Beschimpfungen und Reaktionen darauf, die in derselben Sprache formuliert werden, tritt auch hier auf. In der vorherigen Run- Die „türkischen Powergirls“ 378 de werden „Warnung - Drohung - Zurückweisung“ in Deutsch, in dieser Runde werden „Beschimpfung - Zurückweisung“ in Türkisch realisiert. 3.3.4.3 Ende der Auseinandersetzung Während Hatice vorliest, bleibt Gülsen im Zimmer und verhält sich still. Nach kurzer Zeit unterbricht sie Hatices Tätigkeit, nimmt den vorherigen Disput wieder auf und erinnert Hatice nochmals an die familiäre Verpflichtung. Damit löst sie einen kurzen, heftigen Abtausch unverändert gegensätzlicher Positionen aus: 74 HA: achtzehn|hundertachtundseschzisch| wird als bewegung 75 K: LIEST AB 76 HA: des modernen- |(... ...)| 77 K: LIEST AB 78 GL: |<Hatce ↓ | a ğ lıyo evde diyorum sana 79 Ü: ich sag dir sie weint zuhause 80 HA: <+mir ega“l mann ↓ > ** | ← üç buçuk| 81 Ü: er hat halb 82 GL: <ja: > du sollst- |<(...)> | 83 K: GENERVT, MIT HOHER STIMME 84 HA: dedi ↓→ <vallahı üç buçuk dedi ↓ > 85 Ü: vier gesagt isch schwör er hat halb vier gesagt 86 GL: <lü“g nicht Hatce ↓ > 87 HA: |(... ...) ↓ | <halt=s maul> * produk/ ** was nochmal- 88 K: WENDET SICH WIEDER IHREN 89 GL: |<geb net so an>| 90 HA: pro|duktions(methoden)-| 91 K: HAUSAUFGABEN ZU 92 GL: |<Hati“ce: | * akılsız ↓ 93 Ü: Dummkopf Die Erinnerung an die häusliche Situation formuliert Gülsen - im Kontrast zum Vorlesen - in Türkisch. Darauf reagiert Hatice abweisend mit einer deutschsprachigen Formel: <+mir ega“l mann ↓ ** (Z. 80). Gülsen schreit fast, wird aber von Hatice unterbrochen, die wieder mit Nachdruck den Onkel zitiert: ← üç buçuk dedi ↓→ (‘er hat halb vier gesagt’, Z. 80, 84). Darauf bezichtigt Gülsen sie der Lüge (<lü“g nicht Hatce ↓ >, Z. 86), und Hatice schwört die Wahrheit zu sagen (vallahi üç buçuk dedi ↓ , ‘isch schwör, er hat halb vier gesagt’, Z. 84). Das weist Gülsen mit der Drohformel <geb net an> (Z. 89) zurück, die im pfälzischen Sprachgebrauch die Bedeutung hat ‘reiß deinen Schnabel nicht so weit auf’. Hatice kontert mit einer derberen Der kommunikative Stil 379 Formel (<halt=s maul>, Z. 87). Danach wendet sie sich von Gülsen ab und wieder dem Vorlesen zu. Mit einem drohend gesprochenen <Hati“ce: > und, als die Angesprochene nicht reagiert, verlässt Gülsen mit der Beschimpfung akılsız (‘Dummkopf’, Z. 92) den Raum. In dieser Sequenz ist wieder das Wechselmuster für Opposition vorherrschend, wie das folgende Schema zeigt. Abgeschlossen wird die Sequenz durch den Abtausch von Drohformeln, die wieder in derselben Sprache formuliert sind: 78 GL: Reformulierung der häuslichen Situation Tk 80 HA: Abweisung Dt 82 GL: Anweisung/ Vorwurf Dt 80/ 84 HA: Zitat des Onkels (Eigenposition) Tk 86 GL: Bezichtigung der Lüge Dt 84 HA: Schwurformel + Zitat des Onkels Tk 89 GL: Drohformel Dt 87 HA: Drohformel Dt HA: endgültiger Ausstieg aus Interaktion (Vorlesen) 92 GL: Beschimpfung Tk Zusammenfassend: Die gesamte Auseinandersetzung findet im Kontrast zur deutschsprachigen Tätigkeit Hatices (den Hausaufgaben mit der deutschen Betreuerin) statt. Gülsen ist die Initiatorin der Auseinandersetzung und sie ist die Initiatorin jeder neuen Runde. Die Opposition zu Hatices Tätigkeit spiegelt sich in Gülsens Sprachverwendung: Sie beginnt die Auseinandersetzung in Türkisch, ebenso wie sie jede neue Runde in Türkisch startet. Aber Türkisch ist nicht ihre durchweg präferierte Sprache; innerhalb der Runden folgt sie im Wesentlichen denselben Variationsmustern wie Hatice. Die Sprachverwendung bei Sprecherwechsel folgt entweder dem Sprachübernahmemuster oder dem Sprachwechselmuster. Tendenziell erfolgt Sprachübernahme beim Zugehen auf die Kontrahentin oder bei inhaltlicher Übereinstimmung mit ihrer Position. Sprachwechsel erfolgt bei Opposition und Widerspruch. In einer gesteigerten Phase der Auseinandersetzung können auch beide Muster innerhalb von Turns kombiniert werden: Trotz einer übergreifenden, oppositiven Haltung kann im ersten Turnteil die Sprache der Vorrednerin übernommen werden, im zweiten Turnteil dann erst der Wechsel erfolgen. Dieses Muster tritt in der von der Interaktionsdynamik her intensivsten Phase der Auseinanderset- Die „türkischen Powergirls“ 380 zung auf (hohes Involvement, schnelle Wechsel, lautes Sprechen) und signalisiert trotz Gegensätzlichkeit der Positionen den Versuch des wechselseitigen Aufeinander-Zugehens. In der Dynamik der Auseinandersetzung können auch andere Wechselmuster (z.B. das Muster für Redewiedergaben) von dem oppositiven Muster überlagert werden. Paarig organisierter Droh- oder Beschimpfungsabtausch ist in derselben Sprache formuliert. 3.4 Ausdifferenzierte Sprachwechselmuster: Merkmale des „Powergirl“-Stils Viele der in der Gruppe praktizierten Sprachwechselmuster sind in der Forschung zu Code-switching beschrieben, d.h., die Sprecherinnen verwenden Muster, die auch für andere Bilinguale und für andere Sprachenkonstellationen belegt sind. Was die Gruppe jedoch vor anderen auszeichnet, ist die Konsequenz, mit der diese Muster angewandt werden. Sie verleihen den Mischungen eine Geordnetheit und Durchstrukturiertheit, die für andere Gruppen (zumindest bisher) nicht belegt sind. Die mit den Wechseln verbundenen Funktionen sind je nach Auftretenskontext unterschiedlich stark bzw. schwach: Bei hoher Wechseldichte handelt es sich um eher schwache Funktionen. Ist für bestimmte Interaktionssequenzen die Interaktionssprache Deutsch oder Türkisch, nimmt die Kontextualisierungkraft eines Sprachwechsels zu, er wird auffälliger und kann dann eine stärkere Funktion ausfüllen. Ein zentrales Ergebnis der Analyse ist, dass sich die Mixingmuster im Zusammenhang mit der sozialen und schulischen Entwicklung der Sprecherinnen sowohl unter quantitativen als auch qualitativen Aspekten ändern. Beim Sprechen „nahe am türkischen Pol“, das vor allem bei Mädchen, die noch fest in der „Ghetto“-Gemeinschaft verankert sind, vorkommt, ist Türkisch häufiger die Matrixsprache als Deutsch; es wird mehr türkische als deutsche Lexik verwendet, und es werden bestimmte Sprachwechseltypen bevorzugt. In Erzählungen wird Deutsch zur Markierung folgender interaktionsorganisierender und darstellungsstrukturiender Funktionen eingesetzt: - zur Differenzierung von Haupt- und Nebenaktivität; - zur markierten Rückleitung in die Hauptaktivität; - für Bewertungen, Kommentare und Motiverklärungen und - zur Steigerung, Emphase und Detaillierung am Höhepunkt der Erzählung. Der kommunikative Stil 381 Die Wechsel in diesen Funktionen finden häufig, aber nicht durchgängig statt, d.h., sie sind nicht regelhaft. Doch wenn ein Wechsel ins Deutsche stattfindet, dann in diesen Strukturpositionen. Auch in Diskussionen und Auseinadersetzungen werden die in bilingualen Gemeinschaften weit verbreiteten Muster - bei inhaltlicher Opposition Sprachwechsel und bei Übereinstimmung Sprachübernahme - häufig, aber nicht regelhaft verwendet. Beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“ kommen sie nicht (mehr) vor. Beim Sprechen „nahe am deutschen Pol“ ist Deutsch häufiger die Matrixsprache, es wird mehr deutsche als türkische Lexik gebraucht und es werden andere Sprachwechseltypen bevorzugt. Türkisch wird vor allem in folgenden Funktionen verwendet: - Zur Rahmung von Erzählungen bzw. Erzählepisoden und zur Formulierung des Handlungsgerüsts und - es gibt eine Präferenz für Sprachwechsel bei zweigliedrigen Informationsstrukturen, mit dem ersten Teil in Türkisch und dem zweiten, fokussierten Teil in Deutsch. Bewegen sich Sprecherinnen in der Mitte des Kontinuums, sind die Zuordnungen zwischen Sprache und Funktion weniger stabil und die Bedeutung des Balancebzw. Spiegelungsprinzips nimmt zu. Sprecherinnen, die sich „nahe am deutschen Pol“ bewegen, verwenden in Diskussionen bevorzugt Deutsch als Interaktionssprache; Türkisch wird in Nebenaktivtitäten, Kommentaren u.Ä. gebraucht. Zwischen dem Sprechen „nahe am türkischen“ und am „deutschen Pol“ gibt es folgende Gemeinsamkeiten: Bei allen Sprecherinnen werden szenische Darstellungen durch Variationsmuster gerahmt, Redeeinleitung bzw. -ausleitung kontrastieren mit den Redewiedergaben, und die Redewiedergaben entsprechen der Sprachverwendung in den Referenzsituationen. D.h., die Muster für szenische Darstellungen sind relativ stabil; sie werden auch noch verwendet, wenn andere Muster nicht mehr auftreten. Die folgende Übersicht zeigt die Unterschiede in den strukturellen und funktionalen Variationsmustern beim Sprechen „nahe am türkischen“ oder „nahe am deutschen Pol“: Die „türkischen Powergirls“ 382 Sprechen „nahe am türkischen Pol“ Sprechen „nahe am deutschen Pol“ Strukturelle Muster Strukturelle Muster ca.75% Türkisch / 25% Deutsch ca. 70% Deutsch / 30% Türkisch inter- und intrasentenzielle Wechsel ausgeglichen Präferenz für intersentenzielle Wechsel vor allem Insertionen neben Insertionen auch Alternationen Muster beim Erzählen Muster beim Erzählen Wechsel ins Deutsche: Wechsel ins Türkische: Markierte Rückleitung in die Erzählung zur Erzählrahmung Fokussierungsmuster für Folgeelemente: Darstellung des Handlungsgerüsts Motiv-/ Hintergrunderläuterungen erster Teil von zweiteiligen Strukturen Detaillierung/ Steigerung Muster in Aushandlungen Muster in Aushandlungen Sprachwechsel bei Opposition Aushandlung in Deutsch, auch bei Widerspruch Sprachübernahme bei Übereinstimmung Wechsel ins Türkische bei Nebenaktivitäten und Nebenbemerkungen zum Verhalten der Akteurinnen Kombination beider Muster bei gesteigerter Intensität Abtausch von Drohformeln in derselben Sprache Da die „Powergirls“ im Vergleich zu den anderen von uns untersuchten Gruppen und im Vergleich zu den in der Forschung bisher beschriebenen Migrantengruppen eine hohe Ausdifferenzierung von Sprachwechselmustern ausgebildet haben, betrachte ich das als deutlichen Hinweis auf den hohen Stellenwert, den Mixing für die Gruppe hat. Es ist, das bestätigen alle Sprecherinnen das zentrale Kommunikationsmittel in der Gruppe, über das sich Der kommunikative Stil 383 die Mitglieder gegenüber relevanten Anderen aus beiden Bezugsgesellschaften, der deutschen Gesellschaft und der türkischen Migrantengesellschaft, sprachlich abgrenzen. Mixing ist „ihre Sprache“. Auch in späteren Entwicklungsphasen, nachdem sich alle Mädchen auch in sozialen Welten außerhalb des „Ghettos“ bewegen, bleibt Mixing das für sie angenehmste und leichteste Kommunikationsmedium (vgl. oben Teil II, Kap. 6.3). Auch die Sprecherinnen, die eine sehr hohe Deutschkompetenz erworben haben, bevorzugen Mixing immer noch für den privaten, intimen Austausch. 4. Soziale Kategorisierung und Sprachvariation 4.1 Soziale Kategorien Gesellschaftsmitglieder kategorisieren sich und andere unter Benutzung eines Systems von Kategorien, die in ihrer sozialen Welt für die Orientierung und für die Selbst- und Fremddefinition zur Verfügung stehen. Solche Kategorien beziehen sich auf unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft, auf Geschlechtszugehörigkeit, auf Alter und Generationendifferenz, auf soziale Schichtung und Hierarchie, auf mit bestimmten gesellschaftlich definierten Rollen verbundene Aufgaben und Pflichten, auf moralische Bewertungen u.Ä. Konstitutiv für Kategorien sind kategoriengebundene Eigenschaften und Handlungsweisen, die das angeben, was man als Kategorienangehöriger zeigt und tut. Bei sozialen Kategorien sind sowohl die kategoriengebundenen Charakteristika, die Organisation von Kategorien in Kategoriensystemen und die Festlegung der Relationen zwischen Kategorien sozial und kulturell gebunden als auch die für die Kategorisierung verwendeten Ausdrucksformen. Für die Kategorisierungsanalyse knüpfe ich an die Arbeiten von Sacks (1972, 1979, 1992) an. Sacks entwickelte einen methodischen Apparat zur Erschließung des Hintergrundwissens, das Gesprächsteilnehmer bei der sozialen Kategorisierung und bei der Bedeutungsfestlegung von Ausdrücken zur Selbst- und Fremddefinition aktivieren. Die Bedeutung erschließt sich erst über die Zugehörigkeit einer Kategorie zu einer kulturell determinierten Kategorienkollektion und über ihre Position innerhalb eines Kategoriensystems. Bestimmte soziale Kategorien werden von Gesellschaftsmitgliedern als zusammengehörig betrachtet; sie bilden eine Kollektion, in die nicht jede beliebige andere Kategorie aufgenommen werden kann. Wenn eine Kollektion eine geschlossene Einheit bildet, ist sie ein System, in dem Kategorien Die „türkischen Powergirls“ 384 in Relation zueinander definiert sind. Nach Sacks gibt es eine begrenzte Anzahl von Kategorien, die so genannten „Basiskategorien“, denen die meisten Gesellschaftsmitglieder zugeordnet werden können; das sind Kategorien wie Geschlecht, Alter, Konfession, Ethnie. Solche Kategorien sind „inference rich“, d.h., über sie erschließt sich ein weites Hintergrundwissen über Personen, die ihnen zugeordnet werden (Sacks 1992). In Gesprächen erscheinen Basiskategorien im Zusammenhang mit der Selbst- und Fremdzuordnung meist als zweiwertige Klassifikationsmuster, z.B. „Frau“ vs. „Mann“, „Kind“ vs. „Erwachsener“, „Deutscher“ vs. „Ausländer“ u.Ä.; d.h., Sprecher unterscheiden dichotomisch zwischen „ich/ wir“-Zuordnungen und „du/ ihr“- Zuordnungen. Sacks' Arbeiten zu Kategorisierungen sind vor allem wissenssoziologisch orientiert; den Prozess der sprachlichen Realisierung berücksichtigen sie kaum. In neueren linguistisch-gesprächsanalytischen Arbeiten, die die Kategorisierungsanalyse weiterentwickelt haben, stehen die sprachliche Realisierung von Kategorienzuschreibungen und Kategorisierungsprozessen im Gespräch im Fokus der Untersuchung; das sind vor allem die Arbeiten aus dem Mannheimer Projekt „Kommunikation in der Stadt“ 293 und Arbeiten, die im Rahmen der Bielefelder Forschergruppe „Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch“ 294 entstanden sind. Grundlegende Annahme dieser Arbeiten ist, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie und soziale Identität nicht - zumindest nicht ausschließlich - „objektiv“ gegeben sind, so dass Handlungen davon determiniert werden, sondern dass sie in Gesprächen konstituiert, durch Handlungen hervorgebracht und von anderen bestätigt, modifiziert oder abgelehnt werden. Prozesse der Selbst- und Fremdkategorisierung sind eng mit dem Identitätsmanagement in Gesprächen verknüpft. Nach Antaki/ Widdicombe (1998, S. 3) bedeutet eine Identität haben, „being cast into a category with associated characteristics and features“. Die Selbst- oder Fremdzuordnung zu bestimmten Kategorien hat Konsequenzen für Interaktionen, da mit der Kategorienzuordnung bestimmte Eigenschaften und Handlungen erwartbar und relevant gesetzt sind, die im Interaktionsverlauf eingelöst, modifiziert oder in Frage gestellt werden können. Kategorisierungen sind perspektivisch und 293 Vgl. vor allem Kallmeyer/ Keim (1994b), Keim (1995a, Kap. 4.3 u. 6.), Schwitalla (1995, Kap. 4. u. 6.). 294 Vgl. die Untersuchungen in Czyzewski et al. (1995), vor allem Drescher/ Dausendschön- Gay (1995), Hausendorf (2000); zu Prozessen der sozialen Kategorisierung vgl. auch die Untersuchung von Schilling (2001). Der kommunikative Stil 385 abhängig von der lokalen Relevantsetzung spezifischer Kategorienaspekte: Eine Person kann sich oder andere verschiedenen sozialen Kategorien zuordnen und damit verschiedene Aspekte/ Facetten von Identität in den Fokus bringen. Es können nur bestimmte Aspekte einer Kategorie hervorgehoben, andere im Hintergrund belassen werden, oder es kann an der inhaltlichen Füllung von Kategorienbezeichnungen gearbeitet werden. Auf dem Hintergrund sozial-kultureller Wissenssysteme der Beteiligten ist die jeweils spezifische Bedeutung von Kategorien und kategorienrelevanten Eigenschaften aus den lokalen Herstellungsbedingungen und -prozessen rekonstruierbar. Den Begriff der sozialen Kategorie verwende ich im Folgenden dann, wenn Gesprächsbeteiligte zur Charakterisierung von Personen und ihren Eigenschaften und Handlungsweisen einen festen Bestand von Inhaltsfiguren und Ausdrucksweisen verwenden, die in einem System organisiert sind. Unter dem Prozess der sozialen Kategorisierung im Gespräch verstehe ich die Art und Weise, wie Gesprächsbeteiligte auf der Basis ihres sozialen Wissens sich und andere typisieren und bewerten und die Relationen zwischen Personen in überschaubare Zusammenhänge bringen. Dabei kann die Zuordnung zu Kategorien durch die explizite Bezeichnung mit Kategoriennamen erfolgen; sie kann aber auch mithilfe der Präsentation kategoriengebundener Merkmale in szenischen Darstellungen, in Illustrationen, Zitaten, Beispielbelegen u.Ä. erfolgen. Kategorielle Zuordnungen können durch bloße Benennungen erfolgen, sie können aber auch zu Kategorisierungsprozessen expandiert werden, in denen in relevanten Ereignissen offenkundig gewordene Merkmale zu kategorienrelevanten Merkmalen verarbeitet werden. 295 Dabei spielt polyphones Sprechen eine entscheidende Rolle: 296 Sprecher setzen die Akteure ihrer Darstellung als Angehörige bestimmter sozialer Typen oder Kategorien in Szene und über die Art und Weise dieser Inszenierung bringen sie ihre Bewertung zum Ausdruck. 297 295 Vgl. dazu Keim (1995a, Kap. 6.); zu den expandierten Durchführungsweisen gehören in der dort beschriebenen sozialen Gruppe folgende Prozessstadien: a) indexikale Falldarstellung und Bewertung; b) Herausarbeiten typischer Merkmale; c) Generalisierung durch Verwendung von formelhaften Formulierungen und Sprichwörtern; d) Nennung des Kategoriennamens. 296 Vgl. Günthner (1999), die die Mehrperspektivität in Redewiedergaben als „polyphony“ und „layering of voices“ bezeichnet. 297 Solche Kategorisierungsprozesse werden in Kap. 4.2 dargestellt. Die „türkischen Powergirls“ 386 Auch für die kategorielle Selbstzuordnung gibt es verschiedene Verfahren; sie reichen von der expliziten Benennung über eher implizite Formen, z.B. durch die Markierung von Kontrast zu negativ bewerteten Fremdkategorien bis zur pragmatischen Verdeutlichung von kategoriengebundenen Merkmalen. Im letzten Fall werden kategorierelevante Merkmale enaktiert, d.h., die Beteiligten sprechen und handeln wie ein Kategorienangehöriger. Sozialstilistisch relevant sind neben der Organisationsstruktur von Kategorienkollektionen und den Bezeichnungen für Kategorien auch Inhalt und Ausdrucksformen für kategoriengebundene Merkmale und vor allem die sprachlichen Mittel und Verfahren, die bei der gesprächsweisen Herstellung von Kategorien zur Selbst- und Fremdzuordnung verwendet werden. 298 Die Art und Weise der Kategorisierungsarbeit kann Aufschluss über die Relevanz geben, die die Beschäftigung mit Selbst- und Fremdbildern für eine Gruppe hat. Steht die Arbeit am Selbstbild in Reaktion auf negative Fremdbilder im Fokus der Kategorisierungsarbeit, erfolgt sie also in Reaktion auf Außenzuschreibungen, arbeitet die Gruppe am Selbstbild in Reaktion auf relevante Andere und versucht ihre Position zu ihnen (neu) zu bestimmen. Dieser Prozess wird in 4.1.1 dargestellt. Ordnet eine Gruppe dagegen die Welt um sich herum in Relation zu ihren zentralen Eigenschaften und Werten, steht die Arbeit an den Fremdbildern - in Relation zum positiven Selbstbild - im Fokus. In solchen Fällen hat die Gruppe ein (für eine bestimmte Lebensphase) befriedigendes Selbstbild erreicht und setzt sich zu entsprechenden Eigenschaften und Werten anderer in Relation. Diese Kategorisierungsleistungen werden in 4.1.2 beschrieben. 4.1.1 Phasen der Entwicklung des Selbstbildes Den Entwicklungsprozess der „Powergirls“ habe ich in Teil II nachgezeichnet und dabei auch ihre Arbeit am Selbstbild skizziert. Das Selbstbild der Gruppenmitglieder hat sich über mehrere Phasen hin entwickelt, wie sich aus den biografischen Schilderungen rekonstruieren und durch Beobachtungen während des Beobachtungszeitraums (ca. 5 Jahre) stützen lässt: a) Im Kindesalter herrscht das ungebrochene Selbstbild als „Türkin“ vor. b) In der frühen Jugend sind zwei Bezugsgrößen für die Weiterentwicklung des Selbstbildes entscheidend: zum einen die Auseinandersetzung mit 298 Vgl. Keim (1995a, Kap. 6.); vgl. Schwitalla (1995, Teil A, Kap. 6. und Teil B, Kap. 6.). Der kommunikative Stil 387 traditionellen Erwartungen und Anforderungen aus der Migrantengemeinschaft und zum anderen die Verarbeitung der in der deutschen Schule erfahrenen Abwertungen und Ausgrenzungen; beide führen zu dem Selbstbild als „türkische Powergirls“. c) In der späteren Jugend erfolgt die Absage an beide Bezugsgesellschaften, verbunden mit einem Gefühl des „Nirgendwo-Hingehörens“. d) Den jungen Erwachsenen gelingt die Entwicklung eines neuen, hybriden Selbstbildes als „Deutsch-Türkin“. Diese Entwicklungsphasen werde ich, vorangegangene Darstellungen zusammenfassend, kurz charakterisieren und nur Phase c) anhand eines charakteristischen Gesprächsausschnitts detaillierter behandeln. Zu a): Die Selbstdefinition als „Türkin“ im Kindesalter erfolgt auf der Basis der Familienzugehörigkeit und der Familiensprache. Die Eltern sind Türken, Familiensprache ist Türkisch, also verstehen sich die Kinder als „Türken“ und werden von anderen auch so gesehen. In dieser Phase werden sozialkulturelle Zugehörigkeit und Sprache als Einheit betrachtet und in Kontrast zu anderen ethnisch-sprachlichen Zugehörigkeiten gesetzt, zu „Italienern, die Italienisch sprechen“, „Griechen, die Griechisch sprechen“, „Polen, die Polnisch sprechen“ usw. Exemplarisch für diese ungebrochene Selbstdefinition ist das folgende Beispiel: 1736 TE: früher hab isch immer gesagt * isch bin tü“rkin ↑ 1786 TE: * meine eltern sin türken un wir spreschen zu 1787 TE: hause tü“rkisch Auf der Basis dieses ungebrochen positiven und selbstverständlichen Selbstbildes sind mit der negativen Fremdzuschreibung als „Türkin“ oder „Ausländerin“ keine identitätsrelevanten Probleme verbunden. Abwertungen durch Deutsche, die die Informantin gelegentlich erfährt, sind unproblematisch und prallen an ihr ab: 1748 TE: und von wegen ausländerfeindlichkeit gell ↑ 1749 TE: des is mir voll am asch vorbei gegangen was die 1750 TE: gesagt ham * we=ma in der straßenbahn warn ** 1751 TE: wenn irgend so=n deutsches kam so in der art ja ihr 1752 TE: ausländer verpisst euch * des hat mich gar net 1753 TE: interessiert ich hab mich gar net ma aufgeregt Die „türkischen Powergirls“ 388 Das ethnische Selbstbild ist stabil, solange die Informantinnen im „Schutzraum“ der Migrantengemeinschaft leben und solange diese keine Anforderungen an sie stellt, die sie als einschränkend und ungerecht erleben. Zu b): Die zweite Entwicklungsphase beginnt mit der Pubertät und mit dem Übergang in Schulen außerhalb des „Ghettos“ (vgl. Teil II, Kap. 3., 4. und 5.). Bei den Kindern, die nach der vierten Klasse in höhere Schulen außerhalb des „Ghettos“ wechseln, beginnt diese Phase bereits in der späten Kindheit/ frühen Jugend; bei anderen Informantinnen, die erst später in höhere Schulen wechseln, beginnt die Auseinandersetzung mit negativen Fremdbildern etwas später. In Reaktion auf die Bemühungen der Eltern, die Mädchen nach dem Leitbild der „traditionellen jungen Türkin“ zu erziehen, orientieren die Mädchen sich an den Leitbildern ihrer männlichen Altersgenossen und entwickeln derbe, wilde und aggressive Verhaltensweisen. In Reaktion auf die in höheren Schulen erlebte Hilf- und Orientierungslosigkeit und in Reaktion auf Abwertungen und Ausgrenzungen durch Deutsche erfolgt die trotzige Selbstbehauptung als „Türkin“; die Mädchen sind „stolz Türkin zu sein“: Sie schließen sich in der ethnischen Clique zusammen, verhalten sich wie aggressive, coole Straßenjungen und orientieren sich an Symbolen für „türkische Stärke“ (dem damals erfolgreichen Fußballclub „Galataseray“ und den nationalistischen „Grauen Wölfen“). Die bewusste und übersteigerte Selbstethnisierung bis hin zur Aggression gegen Angehörige der Ethnie, von der sie Ausgrenzung erfahren, sind typische Reaktionen auf die negativen Erfahrungen im schulischen Umfeld. (vgl. Teil II, Kap. 5.). In der ethnischen Clique fühlen sich die Mädchen stark und unangreifbar; und mit der Clique gelingt es ihnen, sich Gelegenheiten zu verschaffen, in denen sie sich denen überlegen fühlen können, die sie als minderwertig ablehnen. Diese Phase endet mit dem Auseinanderfallen der devianten, ethnischen Clique. Zu c): Die folgende Phase ist geprägt von der Suche nach einem neuen Leitbild. Dabei spielt der Einfluss des Jugendzentrums, an dem sich die Mädchen nach dem Auseinanderfallen der Clique zusammenfinden, eine entscheidende Rolle vor allem die deutsch-türkische Leiterin, die bald zu ihrerm Vorbild wird. Das ist die Phase der intensiven Auseinandersetzung mit negativen Zuschreibungen von außen, sowohl von Deutschen als auch von Türken und türkischen Migranten; und es ist die Phase der intensiven Arbeit am Selbstbild in Reaktion auf negative Fremdbilder (vgl. Teil II, Kap. 6.). In Der kommunikative Stil 389 dieser Phase lösen sich die Informantinnen aus ethnischen Bindungen und durchleben dabei ein Gefühl des „Nirgendwo-Hingehörens“. Eine Schlüsselsituation für die Auseinandersetzung mit dem negativen Fremdbild „Ausländerin“ entsteht bei einer Diskussion über „Ausländerfeindlichkeit“, als die Leiterin Naran die Frage stellt: 299 18 NA: warum empfindet ihr euch denn als au“sländer- *2* 19 DI: eh weil des uns jeden tag ei“ngeklickert wird ↑ weil 20 DI: des/ weil wir damit immer wieder konfrontiert werden Narans Frage nach den Hintergründen dafür, dass die Mädchen das negative Fremdbild „Ausländer“ übernehmen (warum empfindet ihr euch denn als au“sländer, Z. 18), ist der Auslöser zur Selbstreflexion. Didem (DI) begründet die Übernahme der „Ausländer“ -Kategorie mit eh weil des uns jeden tag ei“ngeklickert wird (Z. 19). Die passivische Formulierung und die Bezeichnung eingeklickert charakterisieren die dargestellte Relation zwischen dem „Agens“, den Deutschen, und „uns“, den Migrantinnen, als asymmetrisch. Die Deutschen sind die Definitionsmächtigen, die „uns“ als „anders“ und „nicht-dazugehörig“ definieren und diese Definition bei „uns“ durchsetzen (es uns einklickern). Dieser Prozess der asymmetrischen Beziehungsgestaltung gehört zur Alltagserfahrung der Beteiligten: weil des/ weil wir damit immer wieder konfrontiert werden (Z. 20). Am Beispiel eines Erlebnisses vom Vortag (einige Gruppenmitglieder fahren in der Straßenbahn, rücken, als eine Mutter mit Kinderwagen einsteigen will, zur Seite und stoßen aus Versehen zwei ältere Leute an, die sie als scheiß ausländer beschimpfen) wird dann die Kategorie „Ausländer“ fokussiert, und es werden zwei unterschiedliche Reaktionen dargestellt, die sie bei den Mädchen hervorruft: 26 ES: isch: fand des so“: lustig mit den 27 DI: ey isch hätt/ isch 28 ES: |scheiß |au“slän|dern| +isch 29 DI: |hab da-| |isch| hab da fast geheu“lt 30 ES: fand des so: lustig hätt misch to“tlache könne- * 31 ES: weil wenn je“mand schon mit so=ner mei“nung kommt 32 ES < ← scheiß auslä“nder ↓→ > * diesem mensch 33 ES: ka“m=man doch gar nischt mehr helfen ↓ * oder ↑ 299 Das Folgende ist eine stark gekürzte Version der Analyse der gesamten Gesprächssequenz, die die Arbeit am Selbstbild zum Gegenstand hat; vgl. Keim (2002c). Die „türkischen Powergirls“ 390 34 DI: aber tro“tzdem tut des weh ↓ und tro“tzdem regt misch 35 K: ERREGT 36 ES: warum soll des dir weh“tun ↓ 37 DI: des auf es tu“t mir halt 38 K: # HOCH # 39 DI: weh ↓ isch: des/ da kann isch auch nichts >dafür< Didem (DI) und Esra (ES) enaktieren zwei kontrastierende Reaktionen auf herabsetzendes Verhalten von Seiten der Deutschen, die sie über Generalisierungen zu typischen Reaktionsweisen machen: - Esra enaktiert die Überlegene, die auf den Vorfall belustigt reagiert. Überlegenheit demonstriert sie durch Lachen in der Stimme, durch die Hervorhebung von Belustigung (so: “ lustig, Z. 26 und 30) und die Steigerung zu isch hätt misch to“tlache könne (Z. 30). Sie setzt ihre Reaktion sowohl zu Didem in Kontrast als auch zu einer auf die Beschimpfung scheiß ausländer viel eher zu erwartende, wütende Reaktion und begründet das folgendermaßen: weil wenn je“mand schon mit so=ner mei“nung kommt < ← scheiß au“sländer ↓→ > * diesem mensch ka“=man doch gar nischt mehr helfen ↓ * (Z. 31/ 33). Die Art der Formulierung (wenn - dann-Format) zeigt, dass Esras Haltung auf reicher Erfahrung basiert und sie sie dann einnimmt, wenn sie auf Deutsche trifft, die sich stereotypenverhaftet zeigen und dadurch selbst disqualifizieren. - Im Kontrast dazu enaktiert Didem die Betroffene. Zu Esras Lachen kontrastiert das erregte Sprechen (höher, lauter), zu ihrer Belustigung die Feststellung isch hab da fast geheu“lt (Z. 29) und der Ausdruck von Schmerz aber trotzdem tut des weh, und trotzdem regt misch des auf (Z. 34, 37). Auf der syntaktischen Ebene wird der Kontrast durch die zweifache Verwendung des Oppositionsmarkers aber tro“tzdem markiert im Sinne von: „auch wenn das Verhalten der Deutschen stereotypenverhaftet ist, erlebe ich sie trotzdem als verletzend.“ Auf Esras Nachfrage warum soll des dir we“htun (Z. 36) reagiert Didem mit einer ‘letzten‘ Begründung: es tu“t mir halt weh ↓ isch: des da kann isch auch nichts >dafür< (Z. 37, 39). Durch die apodiktische Generalisierung wird die ausgedrückte Empfindung zu einer typischen: Didem enaktiert das Leiden unter der Ausgrenzung aufgrund ethnischer Kriterien, die bei jedem Anlass, der zu ihren Ungunsten gedeutet werden kann, relevant gesetzt werden. Der kommunikative Stil 391 Esra, die Ältere der Gesprächsbeteiligten, führt eine „reife“ Reaktionsweise vor und demonstriert den distanzierten Umgang mit Herabsetzung und Ausgrenzung auf der Basis eines starken Selbstbewusstseins. Ihre Haltung wird von Naran bestärkt. Didem dagegen zeigt die Reaktion einer verunsicherten und zutiefst verletzten Jugendlichen, die vergeblich nach Anerkennung von Seiten der Deutschen sucht. Esra und Naran bohren weiter, hinterfragen Didems Selbstbild als „Ausländerin“ und bringen sie zu einer intensiven Auseinandersetzung damit (vereinfachte Transkription): 40 ES: du kannst dir doch deine eigene 41 ES: mei“nung bildn is doch scheiß|ega“l was der 42 NA: |du lebst 43 ES: andere sagt| 44 NA: doch hier ↑ | 45 DI: +aber isch isch füh“l misch au=nisch 46 DI: als deutsche ↑ ** 47 NA: ja wie so“lln wie soll sisch |denn=n 48 ES: |was 49 NA: deutscher fühlen ↑ | |wo wills/ wie soll | 50 ES: heißt=n deutsche-| ja genau“ |<wie solln sisch die → | 51 NA: sisch=ne deutsche fühln ↑ 52 DI: isch wei“ß es nisch aber 53 DI: isch fühle ← misch hier nisch <woh“l> * und wenn=sch 54 DI: misch in einem land nischt woh“lfühle ↑ * dann fühle 55 DI: isch misch dort als au“sländerin ↓→ und isch- * 56 DI: denke isch bin auch in der türkei“ eine ausländerin * 57 K: HOCH 58 DI: → isch bin ü“berall eine ausländerin ← 59 K: HOCH # 60 ES: >des is ja wohl 61 DI: | <ni“r|gendswo bin isch diejenige die die- * 62 ES: |klar ↓ <| 63 DI: die zu diesem l/ ← äh die ähm → * da in de“s 64 DI: land ↑ oder in diese stadt gehö“rt- ** hier in 65 DI: deutschland bin isch die → ausländerin ↑ ja wo gehör 66 DI: isch denn hi“n ↑← * nirgendswohin ↑ *2* 67 DI: >über|allhin ↑ < | 68 ES: |>niemands|land< 69 HL: also ich fühl mich genauso wie Die „türkischen Powergirls“ 392 70 HL: Didem die hat mir aus der seele gesprochen ↓ 71 K: ZUSTIMMUNG Mit den Fragen nach Aspekten des Selbstbildes als „Ausländerin“ etablieren Esra und Naran für Didem eine starke Verpflichtung, dazu Stellung zu nehmen. Wie Didems Formulierungsarbeit zeigt (Abbrüche, Neustarts, Wortsuche, Z. 61, 63; mehrfache Fragen nach der Zugehörigkeit, Z. 63-66) ist die Thematik in hohem Maße problembeladen. Emotionale Betroffenheit wird durch starke Modulationen, große Tonhöhensprünge (Z. 56, 58), starke Akzentuierungen auf den für die Definition der Kategorie entscheidenden semantischen Einheiten (wo“hlfühle, türkei“, ü“berall, ni“rgendswo) und durch den mehrfachen Wechsel der Sprechweise zum Ausdruck gebracht. Didem beginnt mit - der Feststellung, nicht zu wissen, wie sich Deutsche fühlen isch weiß es nisch (Z. 52); - dann folgt die Feststellung aber isch fühle ← misch hier nisch <wo“hl> (Z. 52/ 53); das ist eine negative Aussage über ihr Leben in Deutschland mit Fokussierung des Befindlichkeitsaspekts; - darauf folgt eine Formulierung, in der eine kausale Verbindung zwischen dem negativen Befinden und der Nicht-Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, hergestellt wird: und wenn=sch misch in einem Land nischt wo“hlfühle dann fühle ich misch dort als au“sländerin ↓ (Z. 53-55). Die „Ausländer“-Kategorie wird zur Bezeichnung für ein negatives Grundempfinden in Deutschland; - dann folgt der Blick auf das Herkunftsland der Eltern und das Gefühl, das sie dort empfindet: und isch- * denke isch bin auch in der türkei“ eine ausländerin (Z. 55f.); d.h., sie fühlt sich auch in dem Land, dessen Staatsbürgerin sie ist, als Ausländerin. In dieser Verwendung von „Ausländer“ geht das allgemeinsprachliche Definitionselement (nicht zur Nation gehörig) verloren und „Ausländerin“ wird zum Ausdruck für ein negatives Grundempfinden in beiden Bezugsgesellschaften; - mit der Feststellung: → ich bin ü“berall eine ausländerin ← (Z. 58) wird die Erfahrung generalisiert, und „Ausländer“ wird zur existenziellen Kategorie eines Menschen, der „nirgendwo dazu gehört“. In diesem Prozess verliert die Kategorie „Ausländer“ die Bedeutung als Kontrastkategorie zu „nationaler Zugehörigkeit“ und wird umdefiniert zu einer Kategorie für ein negatives sozial-emotionales Grundempfinden, für Der kommunikative Stil 393 „nirgendwo-dazu-gehören“. Die von Didem ausgedrückte Erfahrung wird explizit von Esra (>des is ja wohl * klar ↓ <, Z. 60, 62) und Hülya bestätigt (ich fühl mich genauso wie Didem, die hat mir aus der Seele gesprochen, Z. 69f.) und auch andere stimmen zu (Z. 71). Damit ist der vorgeführte Prozess der Selbstdefinition als „nirgendwo-dazu-gehören“ charakteristisch für Migrantenjugendliche mit dem Erlebens- und Erfahrungshintergrund der Gesprächsbeteiligten. Die Arbeit am Selbstbild erfolgt in Reaktion auf das negative Bild (scheiß ausländer), das den Beteiligten von Seiten der Deutschen immer wieder entgegengebracht wird. Die Relation zwischen „uns“ und „ihnen“ ist asymmetrisch festgelegt, „sie“ sind die Definitionsmächtigen und bringen „uns“ dazu, ihre Definition zu übernehmen. Dann wird die Kategorie „Ausländer“ aus dem nationalen Bezug herausgelöst und zur Erlebenskategorie gemacht, durch die eine allgemeine Außenseiter-Erfahrung ausgedrückt wird. Die tiefernste und bewegte Art des Sprechens über die eigene existenzielle Unsicherheit und Nicht-Zugehörigkeit ist typisch für die jungen Migrantinnen, die in ständiger Auseinandersetzung mit beiden Bezugswelten leben. 300 Sie haben (noch) keine Bezeichnung, um ihre sozial-kulturelle Eigenständigkeit auszudrücken, und verfügen (noch) über keine geeigneten Verfahren, um sie gegenüber relevanten Anderen aus der Welt der Deutschen und der Welt der Migranten zu behaupten. Erst nachdem sie sich im weiteren Entwicklungsprozess allmählich aus der Abhängigkeit von beiden Bezugswelten lösen, gelingt es ihnen, angeregt und unterstützt durch Naran, zu einem neuen, eigenständigen Selbstbild zu kommen (vgl. zu diesem Prozess Teil II, Kap. 6 und 7). Zu d): Gegen Ende der Beobachtungszeit - die Powergirls sind junge Erwachsene - haben sie sich ein neues sozial-kulturelles Selbstverständnis erarbeitet. Sie verstehen sich als weder Deutsch noch Türkisch, sondern als „etwas ganz anderes“, „etwas Neues“, als „Deutsch-Türkinnen“ (vgl. zu diesem Prozess Teil II, Kap. 7.2.). Mit diesem neuen positiven Selbstbild können sie sich jetzt offensiv und mit Überlegenheit gegen Versuche der Ausgrenzung und Abwertung zur Wehr setzen; die ihnen von Deutschen 300 Auch im weiteren Gruppenkonstitutionsprozess werden Diskriminierungserfahrungen mehrfach in der hier vorgeführten Art verarbeitet. In Gesprächen mit anderen Migrantenjugendlichen kommen solche Erfahrungen und Empfindungen des „Nirgendwo-Hingehörens“ ebenfalls zum Ausdruck. Die „türkischen Powergirls“ 394 entgegengebrachte „Ausländer“-Kategorie weisen sie ebenso zurück wie den Vorwurf der Türken, „die türkische Herkunft zu verleugnen“. Mit dem Erreichen des neuen Selbstverständnisses sind die jungen Frauen auch in der Lage, die „Welt“ um sich herum sozio-semantisch in einem Kategoriensystem zu ordnen und sich in Relation zu relevanten Anderen aus beiden Bezugsgesellschaften zu setzen. 4.1.2 Relevante soziale Kategorien aus der Perspektive der erwachsenen „Powergirls“ Die im Folgenden dargestellten sozialen Kategorien reflektieren die Spezifik der Erfahrungen und die soziale Selbstpositionierung der Informantinnen in Relation zu relevanten Anderen. Die Kategorisierungen erfolgen aus der Perspektive junger Frauen, die ihren Platz und ihre Rolle sowohl in Relation zur Migrantengemeinschaft als auch in Relation zur deutschen Lebenswelt weitgehend gefunden haben. Das Kategoriensystem hat eine gewisse Stabilität erreicht. In den Gesprächen kristallisierten sich drei Themenkomplexe heraus, die in hohem Maße mit sozialer Fremd- und Selbstkategorisierung verbunden sind und die intensiv und mit hohem Involvement bearbeitet werden: - die türkische Umwelt, ihre Normen, Werte und Leitmodelle; - die deutschen Bildungsinstitutionen, die deutsche Umwelt mit ihren Vorurteilen gegenüber Migranten; - die eigene Haltung gegenüber und der Umgang mit relevanten Anderen aus der türkischen und deutschen Lebenswelt. Innerhalb dieser drei Themenkomplexe lassen sich die für die Powergirls relevanten sozialen Kategorien verorten, und ihre Definition und Bewertung steht in direktem Zusammenhang mit einschneidenden Erfahrungen. Bei der gesprächsweisen Verarbeitung dieser Erfahrungen gibt es große Überschneidungen zwischen den einzelnen Darstellungen, aber auch Unterschiede in der Gewichtung und der Darstellungsintensität, die mit der individuellen Situation der jeweiligen Sprecherin zusammenhängen. 301 301 Bei der folgenden Darstellung der Kategorien für Türken und für Deutsche gibt es Überschneidungen mit den Ausführungen in Teil II. Die Darstellung hier ist stark verkürzt und überblickartig; Details können oben in Teil II nachgelesen werden. Der kommunikative Stil 395 4.1.2.1 Kategorien für Türken a) „Zurückgebliebene Türken“ Ein zentraler Problembereich für die „Powergirls“ sind Angehörige der türkischen Migrantengemeinschaft, die sich an mitgebrachten, z.T. auch verhärteten traditionellen Normen und Werten und an traditionellen Geschlechter- und Familienrollen orientieren. Die kategorielle Bezeichnung für solche Menschen ist der/ die „zurückgebliebene Türke/ in“, neutralere Bezeichnungen sind der „traditionelle“ oder „konservative“ Türke. Die Kategorie bezieht sich auf Angehörige der ersten Migrantengeneration, die in einer Art Rückwärtsgewandtheit aus Angst vor Überfremdung besonders starr an mitgebrachten Vorstellungen festhalten und sich gegen jede Veränderung wehren (vgl. Teil I, Kap. 2.). Aus der Perspektive der „Powergirls“ sind charakteristische Merkmale der „zurückgebliebenen Türken“: - sie erziehen die Töchter streng nach traditionellen Regeln; - achten auf traditionelle Kleidung (Kopftuch, kein Schmuck, keine Schminke); - verbieten den Töchtern ein Leben außerhalb der Familie, vor allem den Kontakt mit jungen Männern; - setzen Verbote auch mit Gewalt durch; - „missbrauchen“ den Islam zum Durchsetzen von Verboten; - wollen keinen Kontakt mit Deutschen und verbieten ihn den Töchtern; - sprechen schlecht Deutsch („Gastarbeiterdeutsch“, vgl. unten Kap. 4.2) und - kontrollieren andere Familien bezüglich der Einhaltung von Regeln und Vorschriften. Die angeführten Merkmale werde ich mit einigen Beispielen belegen; zunächst die einengenden Vorschriften für Töchter: 2401 SÜ: des=s sehr schlimm HOLT LUFT fragen siejeden ä: : hm 2402 SÜ: jugendlichen [...] keine von mein freundinnen darf 2403 SÜ: von ihren eltern erwischt werdn wenn sie mit einem 2404 SÜ: jungen reden * wenn sie mit denen ausgehn * wenn sie 2405 SÜ: sich offen kleiden HOLT LUFT manche dürfen sich nicht 2406 SÜ: mal schminken nicht mal ohrringeso große ohrringe 2407 SÜ: dürfen manche wirklich nicht ↑ * sie dürfen nicht weg Die „türkischen Powergirls“ 396 Hier werden die kategoriengebundenen Merkmale der „zurückgebliebenen Türken“ im Umgang mit ihren Töchtern exemplarisch angeführt; sie verbieten ihnen mit Jungen zu reden und mit ihnen auszugehen, sich offen zu kleiden, sich zu schminken und Schmuck zu tragen (wobei große Ohrringe besonders verwerflich sind), und sie verbieten ihnen das Haus alleine zu verlassen. Es gibt Töchter, die sich diesen Geboten unterordnen; viele widersetzen sich jedoch, einige mit offenem Widerstand, die meisten heimlich und versteckt. Ein Leben, das durch Verstecken und Lügen geprägt ist, bleibt oft bis ins Erwachsenenalter charakteristisch, denn „zurückgebliebene Türken“ versuchen auch erwachsene Töchter rigide und einengend zu behandeln. Das beschreibt eine Informantin am Fall einer jungen geschiedenen Frau, die wieder bei den Eltern lebt 3780 HI: so so rischtisch so- * zurückgebliebene 3781 HI: türken so- ** ja die sind vo“ll behi“ndert ↑ 3782 HI: weißt du wie schlimm die sind ↑ ** wirklisch die 3807 HI: die töchter haben sisch so lügen äh ausgedacht 3808 HI: was sie den eltern halt sagen können weil die 3809 HI: ins kino gehen wollten um acht uhr ↓ [...] 3810 HI: isch mein die sind äh * >dreiundzwanzig ja< [...] Auch an diesem Beispiel wird die Haltung der „zurückgebliebenen Türken“ deutlich, die auf die physische Einschränkung ebenso wie die soziale Isolation der Töchter zielt, aus Angst, dass sie außerhalb des Hauses schädlichen Einflüssen ausgesetzt sind; aber auch aus Angst, dass Nachbarn vermuten könnten, dass die Eltern den jungen Frauen Freiräume zubilligen. Die Empörung der Informantin (isch war voll unter schock) und die negativen Bewertungen richten sich nicht nur gegen die Eltern, sondern auch gegen die Töchter, die als Erwachsene lügen, um Verbote zu umgehen, anstatt sich dagegen zu wehren: 3826 HI: <ja“ die (=Töchter) sind blö: d ↑ > isch weiß nischt ↓ * 3827 HI: die sind ähm des=is nischt mehr normal ↑ [...] 3828 HI: also mansche die sind wirklisch <kra“nk> ↓ ** 3829 HI: isch war vo“ll unter schock * ja ↓ * 3830 HI: dass die überhaupt ähm sisch lügen 3831 HI: ausgedacht haben damit sie rausgehen können ↓ Die Informantinnen empört besonders, wenn Eltern die Verbote religiös begründen. Das löst bei einigen eine intensive Beschäftigung mit religiösen Der kommunikative Stil 397 Fragen aus, sie lesen den Koran und diskutieren mit Islam-Kundigen. 302 Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass viele Vorschriften nicht auf dem Koran basieren, und dass die Eltern die religiöse Begründung nur vorschieben, um bei den Kindern Verbote durchzusetzen: 4609 SÜ: dann wird der islam benu“tzt für diese verbote * 4610 SÜ: weil die eltern denken * wenn wir sagen des is 4611 SÜ: sünde ↑ dann werden die kinder nisch widersprechen ↑ 4612 SÜ: ja ↑ * und dann wird/ dann wird der islam schlecht 4613 SÜ: gemacht ↑ den kindern gegenüber ↑ Die typische Reaktion eines Vaters, der erfährt, dass die Tochter die mit dem Islam begründeten und von der türkischen Umwelt kontrollierten Vorschriften bricht, ist offene Gewalt: 2346 TE: mein vadder hat dann angefangen zu prügeln * also er 2347 TE: wollte mich * umbringen weil des eine schande ist * 2348 TE: für die fami“lie * für sein sta“mm [.. .] des is bei 2349 TE: den türken so Eine andere junge Frau fasst aus der Rückschau, nachdem sie sich gegen den Vater durchgesetzt und es sich erkämpft hat, dass ich halt auch weggehen darf oder einen freund haben darf, ihre Erfahrungen mit dem Vater und der streng kontrollierenden türkischen Umwelt zusammen. Auch für sie ist „prügeln“ ein charakteristisches Merkmal des „zurückgebliebenen Türken“: 2329 HL: und die die halt auch prügeln und so ↑ die: / die 2330 HL: find ich richtig zurückgeblieben [...] die keine 2331 HL: konflikte lösen können indem sie reden ↑ sondern 2332 HL: einfach ähmi“mmer mit der faust und so ↑ Und ihr abschließendes Urteil über das Verhalten dieser Türken: 2345 HL: solche türken sind einfach zurückgeblieben ↓ Die Bewertungsausdrücke spiegeln die negativen Emotionen, die Angehörige der Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“ bei den jungen Frauen hervorrufen. Die Bezeichnungen reichen von sehr schlimm, behindert, kotzt mich an, (vgl. oben) bis zu ekelhaft, Aggress haben gegen und hassen wie in den folgenden Beispielen: 302 Mehrere Wochenendfreizeiten, die vom internationalen Mädchentreff organisiert wurden, waren religiösen Fragestellungen und der „Rolle der Frau im Islam“ gewidmet. Von den Organisatorinnen wurden aufgeklärte Islam-KennerInnen eingeladen, die die Mädchen informierten und mit ihnen diskutierten. Die „türkischen Powergirls“ 398 2367 SÜ: dadurch dass diese türken so * wirklich so 2368 SÜ: ekelhaft warn * [...] für=ne zeitlang hab isch 2369 SÜ: wirklich so=n * aggress gehabt gegenüber den türken oder: 1334 TE: ich hab unsere familie gehasst * [...] ich hab=s 1338 TE: gehasst nachhause zu gehen Der Kampf gegen die restriktiven Vorschriften in den Familien war für die meisten Informantinnen hart, unerbittlich und langfristig (vgl. dazu ausführlich oben Teil II, Kap. 4): 427 SÜ: isch hab immer das gegenteil gemacht * isch 428 SÜ: hab wirklisch seh“r hart kämpfen müssen * gegen 429 SÜ: die ga“nzen türken Alle „Powergirls“ haben es geschafft, sich gegen die Vorschriften der Eltern bzw. des türkischen Umfeldes durchzusetzen, entweder durch offene Rebellion oder durch ein Doppelleben - zuhause die „brave Tochter“, draußen das „freie Leben“ - (vgl. oben Teil II, Kap. 4.2 und 4.3). In diesem Prozess ist es ihnen auch gelungen, die Eltern zu verändern. Als junge Erwachsene nehmen sie die Eltern explizit aus der Kategorie der „zurückgebliebenen Türken“ heraus und ordnen sie einer „Sonderkategorie“ zu; eine Informantin bezeichnet sie als „die verlorene Generation“. Die jungen Frauen wissen, dass die Eltern aus der Perspektive von Deutschen immer als die „typische türkische Mama“ oder der „typische türkische Papa“ (traditionelle Kleidung und schlechtes Deutsch) gesehen werden und sie verteidigen sie gegen dieses Bild. Dabei arbeiten sie die Eigenschaften heraus, die die Eltern durch Veränderung erreicht haben und die sie vom „zurückgebliebenen Türken“ unterscheiden: - die Eltern sind großzügiger und toleranter (geworden); - sie räumen (jetzt) den Kindern wesentlich größere Freiräume ein; - sie haben sich hier eingerichtet und wollen in Ruhe und Frieden leben; - sie sind offener gegenüber Deutschen (geworden). Die jungen Frauen erkennen die enorme Leistung der Eltern an, die mit einem Koffer und zwei Hosen in Deutschland ankamen, sich in relativ kurzer Zeit eine gesicherte Existenz aufgebaut und es geschafft haben, sich den neuen Lebensverhältnissen anzupassen. Einige sind auch stolz auf die Eltern. Der kommunikative Stil 399 b) Die „asoziale Türkin“ und der „Macho“ Von ähnlicher Bedeutung wie die „zurückgebliebenen Türken“ sind die „asoziale Türkin“ und der „Macho“. Angehörige dieser Kategorien gehören zur zweiten Migrantengeneration, sind biologisch und ideell die Kinder der „zurückgebliebenen Türken“ und Gleichaltrige, an denen sich die „Powergirls“ am meisten reiben und von denen sie sich scharf abgrenzen. Angehörige beider Kategorien haben die Wertorientierungen, Normen, Einstellungen und Verhaltensvorschriften der Eltern internalisiert und weiterentwickelt; sie distanzieren sich von Deutschen und sprechen bevorzugt Türkisch. Die weibliche Kategorie wird oft (von Lehrern und Pädagogen der Migrantengemeinschaft) als „traditionelle junge Türkin“ bezeichnet; die „Powergirls“ bezeichnen sie als „asoziale Türkin“. Die Merkmale der Kategorie stehen in maximalem Kontrast zu den Merkmalen der „Powergirls“: - sie sind bescheiden, gehorsam, zurückhaltend; - sie leben auf das Haus und die Familie beschränkt; - sie ordnen sich den Entscheidungen der Familie unter (auch bei der Partnersuche); - sie bedienen ältere und männliche Familienmitglieder; - sie richten sich in ihrer Rolle ein, ohne den Versuch zu unternehmen, etwas zu verändern. Der Ausdruck negativer Emotionen beim Sprechen über Personen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, ist stark expressiv und drastisch, ähnlich wie beim Sprechen über „zurückgebliebene Türken“: 1359 DI: sie kotzt mich an * wir können uns überhaupt nicht 1360 DI: leiden HOLT LUFT ich war für sie so die schlampe ja 1361 DI: die sich rumgetrieben hat * nie der mama geholfen 1362 DI: hat ↑ weil ich einfach so in die stadt ↑ gegangen bin 1363 DI: verstehs=de * des is ja auch schon rumtreiben bei 1364 DI: solchen leuten jaja ** und äh für sie war ich so 1365 DI: eine ↑ [...] aber sie saß immer brav zu hause ↑ * ähm 1366 DI: hat immer des getan was die eltern gesagt haben ** 1367 DI: isch hab sie voll gehasst ja * und sie misch auch Die „türkischen Powergirls“ 400 Die Informantin führt an einer jungen Nachbarin die kategoriengebundenen Eigenschaften der „asozialen Türkin“ an, die tut was die Eltern sagen und sich auf das Haus beschränkt. Das relativ ungebundene Leben eines „Powergirls“, das die Informantin sich erkämpft hat, wird von der „asozialen Türkin“ total abgelehnt und sie wird als Schlampe beurteilt, die sich rumtreibt. Die wechselseitige Ablehnung der Mädchen, die sich an maximal kontrastierenden Leitbildern orientieren, wird drastisch beschrieben durch sie kotzt mich an und isch hab sie voll gehasst und sie misch auch. Bei der Partnerwahl überlassen junge Frauen, die zur Kategorie der „asozialen Türkin“ gehören, den Eltern die Wahl eines Ehemanns. Typischerweise wird entweder ein Türke aus der Heimatregion der Eltern oder ein junger Mann aus der Migrantengemeinschaft gewählt, der „türkische Macho“, die männliche Komplementärkategorie. Die passive Unterordnung der „asozialen Türkin“ unter die ihr zugeschriebene Rolle empört die „Powergirls“ ganz besonders, da sie von „Macho“- Männern gefordert wird, die eine frauenverachtende Haltung zeigen: 2354 HÜ: was mich so aufregt * dass einige männer darauf 2355 HÜ: bestehn mei“ne freundin muss jungfräulich sein ↓ * 2356 HÜ: dass sie die frau eben als- * äh als=n stück 2357 HÜ: fleisch oder sowas ansehn ja ↑ * des regt mich 2358 HÜ: voll auf ↓ * → dabei sie wollen ja regelmäßig 2359 HÜ: irgendwelche frauen abschleppen ↑← nutzen einige 2360 HÜ: frauen auch noch aus ↑ und die“ mä“nner ↑ * so 2361 HÜ: ma“chos ↑ ja ↑ * die ← <ko“tzen mich nur einfach an> ↓→ Angehörige der Kategorie des „türkischen Macho“ sind durch Merkmale bestimmt, die auch charakteristisch für junge Männer sind, die aus der Heimatregion der Eltern nachgeholt werden: - sie sind Verfechter der traditionellen Familienstruktur und des traditionellen Frauenbildes; - sie sind nationalistisch orientiert. Bei der Kategorie des in der Migrantengemeinschaft sozialisierten Türken kommen dazu noch folgende Merkmale: - sie sind ungebildet, haben oft keinen Hauptschulabschluss; - sie halten sich trotzdem für die Besten; - sie gehen keiner geregelten Arbeit nach und - sind faul und kiffen. Der kommunikative Stil 401 Die Powergirls lehnen sowohl den aus der Türkei geholten Türken als auch den in Mannheim aufgewachsenen „Macho“ als potenzielle Partner ab. Männer, die der Kategorie angehören, werden als armselig und als Menschen, die einen ankotzen, beurteilt. 3084 HI: die sind halt so faul ↓ die habn nischt 3085 HI: mal n ha/ hauptschulabschluss ↑ * die kiffen nur 3086 HI: noch ↓ gehen nischt arbeiten ↓ * die sind für misch 3087 HI: irgendwie so armselisch ↓ * und so aufgeblasen ↓ oder: 1083 DI: und was mich auch noch voll ankotzt is ähm * sind 1084 DI: die die ← tü“rkischen ju“ngs → die so: * mit der 1085 DI: tü“rkischen ke“tte da also mit dem mond und dem 1086 DI: ste“rn da 303 * und die der meinung sind äh sie sind 1087 DI: die besten * so ma“chos halt Die Informantin ordnet auch einen ehemaligen Klassenkameraden, der ein Mädchen aus der Türkei geheiratet hat, der Kategorie zu: 1119 DI: sie“ hat=n ko“pftuch an * er is=n macho ↑ * und die 1120 DI: ← si“nd ve“rhei“ratet → und * sie“ is aus der türkei 1121 DI: hergebracht worden [...] und die gehörn zu den 1122 DI: a“sozialen türken Die „asoziale Türkin“ und der von den Eltern ausgewählte Mann, der aus der Türkei geholte ebenso wie der in Deutschland sozialisierte „Macho“, bilden ein Paar, das mitgebrachte und verhärtete Familientraditionen weiterlebt und fortschreibt. Mit einer besonderen Variante des „türkischen Macho“ muss sich eine andere Informantin auseinandersetzen. Das sind junge Migranten, die sich für „Vollbluttürken“ halten, weil sie glauben, so zu denken und zu fühlen wie ein in der Türkei sozialisierter Türke. Aus der Perspektive der Informantin jedoch zeigen diese jungen Männer nur die typischen Merkmale des „Macho“: Sie sind dumm und ungebildet, halten sich aber trotzdem für die Besten und sie sind übersteigert nationalistisch (Bozkurttürken). Von ihnen kommt der Vorwurf, dass die modernen „Powergirls“ ihre türkische Herkunft verleugnen: 303 Türkische Kette, Mond und Stern sind Symbole der nationalistischen Gruppe „Graue Wölfe“. Die „türkischen Powergirls“ 402 2066 AY: dann is halt dazugekommen dass die mir gesagt 2067 AY: ham * isch * äh * isch würd versuchen irgendwie 2068AY: wie die deutschen zu sein weil die moderner wärn 2069 AY: isch würd versuchen * irgendwie also mein land zu 2070 AY: verleugnen oder so Das Verhalten dieser jungen Männer sieht die Informantin durch Verbotsgläubigkeit, Engstirnigkeit und Rückwärtsgewandtheit geprägt: 2251 AY: des sin fanatiker denk isch * und diese vie“len 2252 AY: verbote * dass man das ← ma“chen mu“ss → [... ] isch 2253 AY: kann dazu nur sagen diese du“mmtürkenmentalität 2254 AY: wir leben jetzt im einundzwanzigsten jahrhundert 2255 AY: und meiner meinung nach sollt man da mansche sachen 2256 AY: viel rationaler und toleranter ansehn c) „Möchte-Gern-Moderne“ Eine weitere Negativkategorie für türkische Migranten sind die „Möchte- Gern-Modernen“. Mit dem Eintritt ins universitäre Leben lernen die Informantinnen türkischstämmige KommilitonInnen kennen, die sich in Organisationen wie MATÖD und den „Europatürken“ engagieren. Das sind Organisationen türkischstämmiger Jungakademiker, die in Mannheim und bundesbzw. europaweit vertreten und vernetzt sind. 304 Die meisten Mitglieder dieser Organisationen sind Nachkommen ehemaliger „Gastarbeiter“, die sich jedoch von ihren Herkunftsmilieus getrennt haben und mit dem Bild des „gebildeten, kultivierten und weltläufigen Türken“ dem negativen Bild des „Gastarbeiter“- Türken entgegenzuarbeiten versuchen. Mitglieder dieser Gruppen distanzieren sich sehr deutlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die aus typischen Migranten-„Ghettos“ kommen und halten sich für sozial höher stehend, wenn ihre Familien aus eher urbanen Regionen der Westtürkei kommen und nicht aus ländlichen Regionen, aus denen der typische „Gastarbeiter“ kommt. Charakteristische Merkmale für diese Kategorie sind: - sie werten Türken ab, die aus ländlichen Regionen Ost- oder Mittelanatoliens kommen; - sie sprechen übertrieben Hochtürkisch und - sie stellen sich als besonders „europäisch“ dar. 304 Zur Beschreibung der „Europatürken“ vgl. Aslan (2005). Der kommunikative Stil 403 Aus der Sicht der Informantinnen haben die „Möchte-Gern-Modernen“ gerade die Eigenschaften nicht, die den „modernen Migranten“ (vgl. unten unter d)) auszeichnen. Sie sind vorurteilsbehaftet, arrogant und orientieren sich an Äußerlichkeiten: 983 DI: und so diese möchte gern ähm modernen LACHT 984 DI: die hass ich auch LACHT die sind so die leute 985 DI: die ähm ** die- HOLT LUFT aus dem we“sten 986 DI: aus der türkei kommen ja und die dann HOLT 987 DI: LUFT * ähm ** die sagen dann nich * ← ich hör 988 DI: mir jetzt erstmal deine einstellung an → *2* und 989 DI: dann entscheid ich darüber ob ich was von dir will 990 DI: oder so * sondern * die gehn einfach nur * wenn=se 991 DI: schon hörn ich komm aus äh * mittelanatolien ja ↓ ** 992 DI: da is man für sie äh schon abgestempelt als * 993 DI: äh a“sozial ↓ so bau“ern ↓ [...] ja und äh * die reden 994 DI: dann übertrie“ben ho“ch*türkisch ↓ * ja ↓ des kotzt 995 DI: mich voll an * des kann ich überhaupt nich ab haben 996 DI: ja und die sind so übertrie“ben europäisch weißte ↑ Die Eigenschaften der „Möchte-Gern-Modernen“ werden im Kontrast zu den Eigenschaften herausgearbeitet, die diese der Informantin, deren Eltern aus Mittelanatolien stammen, in stereotyper Weise unterstellen: Sie wechseln - im Kontrast zu einem ihr unterstellten mittel- oder ostanatolischen Dialekt - in markiertes Hochtürkisch und heben - ebenfalls im Kontrast zu einem ihr unterstellten engen, bäuerischen Weltbild - ihre Weltläufigkeit hervor: die sind so übertrie“ben europäisch. Ein derart arrogantes und andere durch stereotype Unterstellungen abwertendes Verhalten wird ähnlich drastisch abgeurteilt wie die Verhaltensweisen der vorherigen Negativkategorien, des „zurückgebliebenen Türken“, der „asozialen Türkin“ und des „Macho“: des kann ich überhaupt nich abhaben, des kotzt mich au“ch voll an und die hass ich auch. Nur ist die Äußerungsmodalität hier anders: Die Informantin macht sich lustig über die „Möchte-Gern-Modernen“ und geht ihnen aus dem Weg, während sie gegen Angehörige der beiden anderen Negativkategorien aus ihrem familiären und sozialen Umfeld lange Zeit hart kämpfen musste. Auch aus der Rückschau spricht sie über sie mit Empörung und Abscheu. Die „türkischen Powergirls“ 404 d) „Moderne“ Migranten Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit relevanten Anderen aus der eigenen Migrantengeneration tauchen auch Positivkategorien auf, die jedoch - im Gegensatz zu den Negativkategorien - wesentlich weniger intensiv und expandiert behandelt werden. Die Positivkategorien haben große Ähnlichkeit mit den Informantinnen selbst bzw. mit ihrem Leitbild: Es sind moderne und tolerante Jugendliche und junge Erwachsene aus der türkischen Migrantenpopulation; sie bilden die Kontrastkategorie zur „asozialen Türkin“, dem „Macho“ und den „Möchte-Gern-Modernen“ und haben die folgenden Eigenschaften: - sie haben eine realistische Selbsteinschätzung; - sie sind großzügig und tolerant gegenüber Menschen anderer Herkunft; - sie respektieren emanzipierte Frauen und schätzen sie hoch; - sie orientieren sich an normalen Rollenmustern für Frauen und Männer. Zielorientiertheit und eine realistische Selbsteinschätzung, die an Angehörigen dieser Kategorie hervorgehoben werden, sind Eigenschaften, die die erwachsenen „Powergirls“ auch für sich reklamieren: 3118 HI: die haben=n ziel ↓ * die habn ne vorstellung ↓ ** 3119 HI: die sind/ die wissen halt wie sie zufrieden sein 3120 HI: können ↓ und mit was sie zufrieden sein können ↓ * 3121 HI: da“s find=sch gut ↓ Eine andere Informantin hebt die Toleranz gegenüber anderen ethnischen oder religiösen Gruppen hervor und stellt dabei explizit den Bezug zur Gruppe der „Powergirls“ her: 1324 DI: die sind genauso eingestellt wie wir äh 1325 DI: die wehren sich auch gegen diese türkische struktur 1326 DI: die ah → die jungs die dürfen alles die mädels nix ← 1327 DI: * also die die sind genauso drauf wie wir * die mag 1328 DI: ich die toleranten die ja * also die nich so drauf 1329 DI: sind äh der is kurd äh der is alevit * und des=s=n 1330 DI: deutscher mit dem ich nichts zu tun haben will Die für die jungen Frauen zentrale Eigenschaft des „modernen Migranten“ ist eine im Vergleich zur traditionellen türkischen Familienstruktur total veränderte Einstellung zum Zusammenleben von Frau und Mann. Leitbild ist Der kommunikative Stil 405 ein auf Gleichwertigkeit gegründetes Rollenverständnis, wie es die Informantinnen bei jungen deutschen Paaren beobachtet haben: 2399 HÜ: also so eingestellt sein wie die deutschen halt ↓ 2400 HÜ: quasi das/ das is für mich normal ja ↓ dass man jetzt/ 2401 HÜ: ähm dass man sich die hausarbeit zu hause teilt ↑ 2402 HÜ: dass man halt nich unbedingt ne jungfrau sein muss ↓ 2403 HÜ: dass man in discotheken gehen kann als frau ja* ↑ 2404 HÜ: und halt etwas emanzipierter is Das Modell für „Normalität“ sind Paare, in denen die Partner sich die Hausarbeit teilen und die Frau dieselben Freiheiten genießt wie der Mann. Welchen Stellenwert diese kategoriengebundenen Merkmale für die Informantinnen haben, wird deutlich, wenn sie über aktuelle oder zukünftige Partner sprechen: Männer, die sie nicht erfüllen, kommen als Partner nicht in Frage bzw. müssen - wenn sie sich nicht daran orientieren - mit Trennung rechnen. 4.1.2.2 Kategorien für Deutsche Die Powergirls lernen Deutsche mit dem Eintritt in die Bildungsinstitutionen kennen, d.h., die Auseinandersetzung mit ihnen findet vor allem im Zusammenhang mit der Verarbeitung schulischer Erfahrungen statt. Die Schule ist für sie „deutsch“, und die dort gemachten Erfahrungen sind durch „Deutsche“ geprägt. Die schulischen Erfahrungen der Powergirls und die wechselseitige Verstärkung schulischer und häuslicher Probleme wurden oben bereits ausführlich dargestellt und mit Auszügen aus den Gesprächen belegt. Im Folgenden fasse ich wesentliche Eigenschaften der Kategorien, die auf „Deutsche“ angewendet werden, und charakteristische Formulierungen für die diese Kategorien definierenden Eigenschaften zusammen. a) Der „gestörte“ oder der „behinderte Lehrer“ Bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Schule ist die zentrale Negativkategorie die des „gestörten“ bzw. „behinderten Lehrers“. Alle Informantinnen haben über Jahre hinweg Erfahrungen mit Angehörigen dieser Kategorie gemacht, mit z.T. schwerwiegenden Konsequenzen für die weitere schulische und persönliche Entwicklung. Für die Negativkategorie des Lehrers gibt es übereinstimmende Bezeichnungen: 689 HI: ja ne lehrerin ↓ die war wirklisch voll behindert ↓ Die „türkischen Powergirls“ 406 oder: 1402 HÜ: es gibt eben gestörte menschen auf der welt ↑ * wie 1403 HÜ: zum beispiel einige lehrer von mir oder: 153 TE: die ham mir einfach so=n eintrag gegeben * weil sie 154 TE: so ge“stört sind Für den „gestörten“ oder „behinderten Lehrer“ gibt es drastische Bewertungsausdrücke wie der spinnt echt, ist krank, voll blöd oder gemein: 1564 HÜ: wo ich wirklich gedacht hab <mei“n gott der typ 1565 HÜ: spinnt doch echt ↓ oder: 165 HI: ja isch weiß nischt die warn halt irgendwie kra“nk ↓ oder: 62 TE: (die lehrer) in meiner schule ↓ * die sind voll blöd 63 TE: die lehrer dort sind vo“ll blö“d ↓ * und: 683 HI: isch konnt=s noch nie verstehn wie- * leute ↑ 684 HI: die gebildet sind ↑ so- * gemein sein können ↓ Die kategoriengebundenen Merkmale des „gestörten Lehrers“ sind folgende: - sie sehen die türkische Migrantenpopulation stereotyp negativ und verachten sie; - sie beurteilen und behandeln türkische Schüler ungerecht und nicht ihren Fähigkeiten entsprechend; - sie sprechen ihnen Lernfähigkeit und schulischen Erfolg ab. Das ungerechte, ausgrenzende und verachtende Verhalten des „gestörten“ Lehrers gegenüber den türkischstämmigen Mädchen hat schwerwiegende Konsequenzen. Der „gestörte Lehrer“ - verursacht bei den Betroffenen Orientierungslosigkeit und Selbstzweifel; - aus Angst, den Vorurteilen des „gestörten Lehrers“ zu entsprechen, verlieren die Betroffenen ihre Spontaneität, entwickeln Hemmungen und Sprechblockaden. Der kommunikative Stil 407 Damit fungieren Angehörige der Kategorie des „gestörten Lehrers“ für die Informantinnen zum einen als „gate-keeper“, die ihnen den Zugang zu einem höheren Bildungsabschluss und damit zum sozialen und beruflichen Aufstieg erschweren oder gar verweigern, und zum anderen als Verursacher massiver psychischer Probleme. Die Negativstereotypen, die die Informantinnen von Lehrern dieser Kategorie immer wieder hören, sind folgende: - die Türken sprechen nur Türkisch und können kaum Deutsch, auch nicht nach langer Aufenthaltsdauer; - sie wollen sich nicht integrieren und - sie leben im „Ghetto“. Das führt eine Informantin folgendermaßen aus: 1449 HÜ: des kommt auch vor dass lehrer halt auch- * ähm dass 1450 HÜ: sie halt vo“ll viel kritisiern wieäh ja dass es 1451 HÜ: sie voll stört dass in der Breitenstraße ↑ und hier 1452 HÜ: im Jungbusch die ganze zeit nur türkich gesprochen 1453 HÜ: wird und dass sich die türken immer in ihre ghettos 1454 HÜ: verziehn ↑ wieso sie halt nich wo anders wohnen und 1555 HÜ: bla ↑ * dass die alle halt gar kein deutsch * kein 1556 HÜ: gescheites deutsch sprechen können ↑ und dass sie 1557 HÜ: sich halt nicht integrieren und so sachen eben ↓ Auch wenn die türkischstämmigen SchülerInnen dagegen halten, dass türkische Migranten in anderen Stadtgebieten auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnungen bekommen und dass deutsche Vermieter türkische Interessenten mit dem Argument: „Türken nehmen wir nicht“ ablehnen, bleiben solche Lehrer bei ihrer Meinung und sprechen den Türken die Schuld an der „Ghettosituation“ zu. D.h., die jungen Frauen erleben solche Lehrer als unfähig oder unwillig, Erfahrungen anderer ernst zu nehmen, neue Informationen zu verarbeiten und die vorgefasste Meinung zu überdenken. Dem Stereotyp kein gescheites Deutsch sprechen ebenso wie dem Vorwurf der Integrationsunwilligkeit halten die Informantinnen entgegen, dass dies auf sie selbst ja nicht zutreffe. Aber auch das hält Lehrer dieser Kategorie nicht davon ab, immer wieder solche Stereotype zu produzieren. Das Formulierungsformat wird zwar modifiziert zu „du bist ja vielleicht anders, aber die Türken allgemein ...“, doch die mit dem Stereotyp ausgedrückte Geringschätzung und Verachtung der ethnischen Gruppe bleibt dieselbe. Aus der Die „türkischen Powergirls“ 408 Perspektive der Informantinnen ist für solche Lehrer charakteristisch, dass sie die Verantwortung für eine gesellschaftlich äußerst unbefriedigende Situation einseitig den Türken zuschreiben. Dass sich die Informantinnen durch „gestörte Lehrer“ ungerecht und nicht ihren Fähigkeiten entsprechend beurteilt fühlen, wurde oben (Teil II, Kap 3. und 5.) ausführlich dargestellt. Oben wurde auch angeführt, dass die Informantinnen aus Angst, sie könnten den Vorurteilen „gestörter Lehrer“ entsprechen, es nicht mehr wagten sich zu äußern. Dafür noch einige Beispiele: 1825 HÜ: ich kann mich mit dem nicht mehr unterhalten ↑ und 1826 HÜ: auch keine smalltalks mit ihm führn ↑ * weil-/ des 1827 HÜ: sind halt wirklich die simpelsten sachen * wenn 1828 HÜ: ich jetzt irgendwie sagen will ich möchte mein 1829 HÜ: heft abgeben oder so ↑ dann überleg ich wirklich wie 1830 HÜ: kann ich des gut ausdrücken ↓ dass er jetzt halt 1831 HÜ: nicht denkt was sucht=n die hier im deutsch LK ja ↑ 1832 HÜ: kann noch nich mal gescheit deutsch sprechen oder so ↓ Für die Informantin wird der Umgang mit dem Deutschlehrer zur ungeheuren Anstrengung. Eine andere Informantin hat aus Angst, etwas Falsches zu sagen, Sprechhemmungen entwickelt und beobachtet an sich eine fortdauernde Verschlechterung der Deutschfähigkeiten. Die Ursache dafür sieht sie in der „gestörten Lehrerin“, die ihr voll die komplexe gemacht hat: 1805 HI: aber isch konnt ä: h besser deutsch sprechen ↑ * → die 1806 HI: hat mir voll die komplexe gemacht ← isch konnt gar 1807 HI: nischt mein mund aufmachen im unterricht ↑ weil isch 1808 HI: angst hatte ↑ dass isch irgendwas falsch sage ↑ „Gestörte Lehrer“ verursachen bei den Betroffenen Wut, tiefe Selbstzweifel und Selbsthass. Eine Informantin, die sich immer wieder gegen Herabsetzungen wehrte, wurde von der Klassenlehrerin als psychisch instabil und verhaltensauffällig beurteilt. Das führt bei ihr zu einer verschärften Gegenwehr, die eine neue Spirale von Restriktion und Gegenwehr auslöst, bis die Informantin sich selbst verrückt und psycho fühlt: 844 TE: [...] die ham misch verrückt gemacht richtig * psycho * 845 TE: verrückt ham die misch gemacht die lehrer Der kommunikative Stil 409 Eine andere Informantin hat als Technik, um mit den ständigen Erniedrigungen umgehen zu können, das Verdrängen bzw. Vergessen so weit entwickelt, dass ihr aus der Rückschau gerade die Äußerungen und Handlungen „gestörter Lehrer“ nicht mehr einfallen, die sie in der aktuellen Situation als schlimm und krass erlebte: 1584 HÜ: <und da gab=s halt auch wirklich kra“sse sachen> 1585 HÜ: an die kann ich mich aber nicht mehr erinnern 1586 HÜ: <was ich eigentlich auch ganz positiv finde ↑ > ** 1587 HÜ: weil- * wenn ich so sachen ni“cht vergesse dann- 1588 HÜ: HOLT LUFT hab ich halt immer so ne wut in mir ↓ Informantinnen, die besonders stark unter Angehörigen der Kategorie des „gestörten Lehrers“ gelitten haben und die aufgrund unüberwindbarer Probleme mit ihnen die Schule verließen, kommen zu endgültigen, absolut negativen Urteilen. Eine Informantin spricht ihnen Menschlichkeit ab, eine andere kann den Lehrern niemals verzeihen, was sie ihr angetan haben, und eine dritte schreibt nach schweren Auseinandersetzungen in der Schule in ihr Tagebuch: ich hasse das leben ich will sterben. Aus dem Bereich der Schule gibt es auch positive Kategorien, über die jedoch wesentlich weniger und weniger expandiert gesprochen wird. Positive Kategorien sind der „gute Lehrer“ und der „nette Deutsche“. b) Der „gute Lehrer“ Wenn die Informantinnen auch von guten Erfahrungen mit Lehrenden sprechen, werden folgende Eigenschaften besonders hervorgehoben: - sie sind freundlich zu den Informantinnen; - ermutigen sie und - helfen ihnen bei Schwierigkeiten. Exemplarisch dafür ein kurzer Ausschnitt aus dem Gespräch mit einer Abiturientin, die - obwohl auch sie über Lehrer klagt - hervorhebt, dass sie ihren schulischen Erfolg besonders einer Lehrerin zu verdanken hat, die ihr Mut gemacht hat und die Vertrauen in ihre Lernfähigkeit zeigte: Die „türkischen Powergirls“ 410 680 DI: unsere mathelehrerin * die war echt gut * die hat 681 DI: immer gesagt Didem du scha“ffst das * streng dich mehr 682 DI: an * und zu der konnt ich auch kommen * und sie 683 DI: fragen wenn/ eh wenn ich was nich verstanden hab * 684 DI: wenn ich die“ nich gehabt hätt * e“hrlich * ich hätt 685 DI: das abi ni“ch geschafft ↓ Bei guten Lehrenden werden die Informantinnen auch gute Schülerinnen, weil sie Anregungen, Ermutigungen und Unterstützung bekommen. c) Der „nette Deutsche“ Damit werden einige KlassenkameradInnen oder KommilitonInnen bezeichnet, die - die Informantinnen annehmen und respektieren; - die anerkennen, was Migrantenkinder leisten müssen, um in Schule oder Studium gut zu sein. Positiv bewertete deutsche MitschülerInnen kommen aus Mittelschichtfamilien, sind liberal, tolerant und fühlen sich auf keinen Fall Kindern aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien gegenüber überlegen: 283 HÜ: in der klasse die sind ja auch wirklich alle- * 284 HÜ: kinder von irgendwelchen akademikern ja ↑ [...] 285 HÜ: aber die sind: wirklich sehr sehr nett was ich halt 286 HÜ: nie“ gedacht hätte ↓ und ich hab halt gedacht die 287 HÜ: sind voll arrogant oder so- * halten sich für etwas 288 HÜ: besseres * aber die sind wirklich sehr sehr nett Mit „netten Deutschen“ sind auch gemeinsame Unternehmungen möglich: 717 HÜ: wir unternehmen auch * öfters was zusammen [...] 718 HÜ: und wenn sie sich irgendwie treffen * oder weggehn 719 HÜ: wollen dann heißt ah hast du lust mitzugehn Und „nette Deutsche“ akzeptieren und respektieren sie: 714 HÜ: also ich- ** wurde immer angenommen * und 715 HÜ: war halt immer willkommen Von einigen erfährt sie Anerkennung und Bewunderung dafür, dass sie nach einem heftigen Streit mit dem Vater zuhause auszog, sich ein Zimmer mietete und jetzt - neben der Schule (sie ist in der 12. Klasse Gymnasium) - den Lebensunterhalt selbst verdient: Der kommunikative Stil 411 734 HÜ: sie hat mir erzählt dass die ähm Chris gesagt hätte ↑ 735 HÜ: dass die gerne so sein würde wie ich oder so * isch 736 HÜ: wei“ß jetzt halt auch nicht wieso * weil=sch misch 737 HÜ: irgendwie reif verhalten würde ↓ d) Der „dumme Deutsche“ Neben der zentralen Negativkategorie des „gestörten Lehrers“ gibt es noch weitere Negativkategorien für Deutsche, die jedoch nicht mit derselben emotionalen Intensität bearbeitet werden. Angehörigen dieser Negativkategorien sind die Informantinnen nicht in demselben Maße ausgesetzt und deren abwertendes Verhalten ist für sie nicht mit ähnlich weit reichenden Konsequenzen verbunden, wie im Fall des „gestörten Lehrers“. Personen, die die Informantinnen in ihrem Wohnumfeld, auf der Straße, in Geschäften oder in öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen, und die sie abweisend und abwertend behandeln, werden der Kategorie des „dummen Deutschen“ oder auch des „Nazis“ zugeordnet. Dabei ist der „dumme Deutsche“ die etwas harmlosere Variante des „Nazis“. Die kategoriengebundenen Merkmale für „dumme Deutsche“ sind folgende: - sie sind ausländerfeindlich; - sprechen breiten Mannheimer Dialekt und - sind anspruchslos, schlicht und wenig gebildet. Eine Sprecherin beschreibt solche Deutschen, von denen sie ausländerfeindliches Verhalten erfahren hat, folgendermaßen: 213 DI: des sin so zwei alte tanten * un die reden so 214 DI: ← ma“nnheimerisch → un so ja ↑ * un des sin auch 215 DI: so nazis un so * ja ↑ Eine andere Informantin beschreibt solche Leute folgendermaßen: 2845 HÜ: so leute die jetzt halt nich wissen was sie reden ↑ 2846 HÜ: die * älter ↓ sind und so ↓ ** mannemer ↓ * und so 2847 HÜ: diale“ktsprecher ↑ Menschen gegenüber, die sich derart dumm und ablehnend verhalten, fühlen sich die erwachsenen „Powergirls“ überlegen: 08 ES: die leu“te * die scheiß ausländer gesagt ham ** 09 ES: → des warn sowieso irgendwie/ die sa“hn schon Die „türkischen Powergirls“ 412 10 ES: irgendwie dumm aus ← * also klug sahn die gar 11 ES: net aus * und überhaupt wie sie re: dn ↓ * 12 ES: und überall so voll tätowiert * un überhaupt 13 ES: die aussprache <ey“ ma“nn ey“ * schei: ß druff> 14 K: GROB, BREIT 15 ES: un wenn jemand schon so dumm anfängt ↑ un misch 16 ES: dumm anmacht ↑ * >auf so was hör isch gar net< ↓ Die Charakterisierung von Angehörigen der Kategorie erfolgt - neben ihrem Äußeren, dumm aussehen und tätowiert sein - vor allem über ihre Sprache und Sprechweise: <ey“ ma“nn ey“ * schei: ß druff> (Z. 13). Die Adressierung ey“ ma“nn ey“ mit tiefer Stimme, breit und mit vorgeschobenem Unterkiefer gesprochen, Akzent auf jeder Silbe, wobei Kopf und Schultern bei jedem Akzent hin- und herbewegt werden, zusammen mit der derben Formel schei: ß druff in Mannheimerisch (Rückverlegung und Längung des Diphthongs in schei: ß und Monophthongierung in druff) evozieren einen unbeholfen sprechenden und ausladend gestikulierenden Sprecher. Das ist typisch für eine Person, die dumm aussieht und dumm handelt. Durch die Wahl von Elementen des Mannheimerischen wird die „dumme“ Person zum „dummen deutschen Mannheimer“. Personen, die in dieser Weise auftreten, werden ausgelacht und ihre Beleidigungen ignoriert. e) Die „Kartoffel“ Damit werden jüngere deutsche Männer bezeichnet, denen die Informantinnen in Cafés oder Discos begegnen und die ihnen sehr unangenehm auffallen. Angehörige der Kategorie „Kartoffel“ sind schlichte, ungehobelte und wenig gebildete junge Deutsche, die „stinken“ und „wie die Schweine saufen“. Mit Angehörigen der Kategorie „Kartoffeln“ müssen die Informantinnen sich nicht wirklich auseinandersetzen; sie gehen ihnen aus dem Weg oder ignorieren sie, d.h., sie sind in ihrem Leben nicht wichtig. Der kommunikative Stil 413 4.1.3 Kategorien im Überblick Das folgende Kategorienschema zeigt die Kategorien für Türken und Deutsche: Kategorien für Türken Erste Migrantengeneration Negativkategorien Positivkategorien „zurückgebliebene Türken“ Eltern - erziehen Töchter nach strengen Regeln - großzügiger, toleranter - setzen Verbote mit Gewalt durch - räumen Freiraum ein - wollen keinen Kontakt mit Deutschen - offener gegen Deutsche - sprechen schlecht Deutsch - sprechen schlecht Deutsch - kontrollieren andere Familien („hetzen“) Zweite Migrantengeneration Negativkategorien Positivkategorien „asoziales Paar“ „Möchte-gern-Moderne“ „Moderne Migranten“ „Powergirls“ - abwertend gg. Osttürken - offen, tolerant - leben frei - übertrieben Hochtürkisch - modernes Frauenbild - geg. trad. Rollen - übertrieben europäisch - weltläufig - gebildet - berufl. Erfolg - hybrides Selbst- bild „tk. Macho“ „asoziale Türkin“ - trad. Rolle - trad. Rolle - nationalistisch - Unterordnung unter Familie - ungebildet - wenig gebildet - faul, kiffen - passiv, bescheiden - übersteigertes - verzichtet auf Veränderg. Selbstbild Die „türkischen Powergirls“ 414 Kategorien für Deutsche Negativkategorien Positivkategorien „gestörter Lehrer“ „dumme Deutsche“ „guter Lehrer“ „nette Deutsche“ - behandeln Migran- - Vorurteile - unterstützen - respektieren ten als dumm und - ungebildet, schlicht Migrantenkinder Migranten lernunfähig - ausländerfeindlich - machen Mut - akzeptieren und - machen sie auf- - Dialektsprecher - respektieren sie - unterstützen sie fällig - entmutigen sie - lehnen sie ab Wie der Überblick zeigt, sind die beiden Kategoriensets für die Migrantenpopulation und die Mehrheitsgesellschaft unterschiedlich ausgebildet; die Kategorien für die Migrantenpopulation sind weiter ausdifferenziert als die für Deutsche, und für die Migrantengemeinschaft gibt es mehr negative als positive Kategorien. Diese Ausdifferenzierung des Kategoriensystems zeigt, dass es für die „Powergirls“ mehr Problembereiche und mehr Reibungspunkte mit türkischen Migranten gibt, als mit Deutschen. Das Kategorientableau spiegelt das Gewicht und die Bedeutung der relevanten Anderen wider, die für die Herausbildung eines neuen Selbstbildes der „Powergirls“ konstitutiv sind: Die Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Welt der Migration und mit den mitgebrachten, verhärteten traditionellen Familienstrukturen einerseits und andererseits mit der aus der Mehrheitsgesellschaft erfahrenen Abwertung und Ausgrenzung durch die Kategorie des „gestörten Lehrers“. Die unterschiedliche Ausdifferenzierung des Kategoriensystems zeigt auch, dass mit relevanten Anderen aus der türkischen Gemeinschaft intensivere Auseinandersetzungen stattfinden: Während die Kategorien für Deutsche, vor allem die Negativkategorien (der „gestörte Lehrer“ und der „dumme Deutsche“), durch Haltungen und Handlungsweisen charakterisiert sind, die sie den Informantinnen gegenüber zeigen, also durch Haltungen und Handlungsweisen „uns gegenüber“, reflektieren die Eigenschaften der Kategorien für Türken eine tiefer gehende Analyse der Sozial- und Famili- Der kommunikative Stil 415 enstruktur der türkischen Migrantengemeinschaft. Die Kategorien sind durch Eigenschaften definiert, die in der Alltagskultur der türkischen Migranten, ihren Werten, Normen und Überzeugungen gründen. Sie spiegeln die Beziehungsstruktur zwischen Eltern und Kindern wider, ebenso wie die Haltungen der 1. Migrantengeneration zur Migration und zum Aufnahmeland. Die patriarchalische Familien-und Ehestruktur wird durch die Kategorienkonstellation des „asozialen Paares“ abgebildet. Die Kategorien sind komplementär organisiert, mit der männlichen Kategorie des „Macho“ als Initiativkategorie und der „asozialen Türkin“ als der Reaktivkategorie. Die unterschiedlich strukturierten Kategoriensets für Deutsche und für Türken spiegeln den aktuell erreichten Verarbeitungsstand von Erfahrungen mit Angehörigen aus beiden Bezugswelten. 4.2 Sprachvariation, soziale Kategorien und soziale Kontexte Gegenstand der folgenden Kapitel ist der sozial-symbolisierende Einsatz von Sprachvariation als einem zentralen Ausdrucksmittel bei der sprachlichen Selbst- und Fremddarstellung. 305 Bei den Formen von Variation, wie sie hier interessieren, handelt es sich um Code-switching im Sinne von Auer (1999); d.h., Code-switching dient als Kontextualisierungsverfahren zur Herstellung von interaktiver und sozialer Bedeutung. Dabei findet von einer etablierten Interaktionssprache aus der Wechsel in eine andere Varietät statt, oder in die etablierte Interaktionssprache wird eine klar kontrastierende und markierte Konstruktionseinheit eingeschoben. Markiertheit wird durch die Verknüpfung von Ausdruckselementen hergestellt, die auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen liegen und in wesentlichen Eigenschaften gesteigert sein können. Die dabei entstehenden Ausdrucksmuster verweisen auf sozial-kulturell festgelegte Sprachstereotype und werden mit expliziten oder impliziten Bewertungen verbunden. Die Bedeutung des Wechsels wird interaktiv und lokal konstituiert und sie erschließt sich über die linguistisch-gesprächsanalytische Rekonstruktion der Interaktions- und Bedeutungskonstitution. Variation in sozial-symbolisierender Funktion, also Variation zum impliziten Verweis auf soziale Kategorien oder soziale Kontexte, tritt vor allem in Redewiedergaben auf. Dabei setzen Sprecher sich und/ oder andere Akteure 305 Die Analyse sozial-symbolisierender Variation wurde im Projekt „Kommunikation in der Stadt“ eingeführt und ausführlich beschrieben; vgl. Kallmeyer/ Keim (1994a) und Keim (1995a, Kap. 4.3). Die „türkischen Powergirls“ 416 durch eine konventionalisierte, sozial-kulturell bedeutsame Kombination von Ausdruckselementen als Angehörige einer bestimmten sozialen Kategorie in Szene und verbinden mit der Redewiedergabe Bewertungen eigener und fremder Handlungen. In einer sozial-symbolisierenden Äußerung werden also zwei unterschiedliche Perspektiven zum Ausdruck gebracht: die Perspektive der in der Geschichte handelnden Person und die der Sprechenden, die die Person in der Geschichte und deren Handlungen bewertet. Diese Mehrperspektivität kann durch stimmliche und prosodische, lexikalische und pragmatische Mittel und durch Varietätenwechsel - innersprachlich oder zwischen Sprachen - zum Ausdruck gebracht werden. Durch eine besondere Hervorhebung, Konturierung und Überzeichnung bestimmter Eigenschaften werden die handelnden Personen als grob oder arrogant, als ängstlich oder draufgängerisch, als hysterisch oder cool u.Ä. charakterisiert. 306 In den Gesprächen der „Powergirls“ werden vor allem folgende Deutschvarietäten zur sozialen Symbolisierung eingesetzt: „Gastarbeiterdeutsch“, „Mannheimerisch“ und „Ghettodeutsch“. In solchen Fällen werden Personen und ihre Handlungsweisen szenisch vorgeführt; durch den Inhalt ihrer Äußerungen, die verwendete Varietät und die Verknüpfung mit anderen Ausdrucksmitteln zu komplexen Variationsmustern verkörpern sie Angehörige bestimmter sozialer Kategorien, zu denen sich die Sprecherinnen positionieren, mit denen sie sich identifizieren oder von denen sie sich distanzieren. Solche Symbolisierungen sind an mündliche Präsentationen gebunden. In den folgenden Kapiteln werde ich die wesentlichen sozial-symbolisierenden Funktionen darstellen, die „Gastarbeiterdeutsch“ (Kap. 4.2.1), „Mannheimerisch“ (4.2.2) und „Ghettodeutsch“ (4.2.3) in den Gesprächen der „Powergirls“ ausfüllen können. 4.2.1 Die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“ 307 Unter „Gastarbeiterdeutsch“ wird in der Spracherwerbsforschung der 70er- und 80er-Jahre in Deutschland das ungesteuert erworbene Deutsch von ArbeitsmigrantInnen verstanden, die von der Mitte der 50erbis Anfang der 70er-Jahre als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Das Deutsch wurde 306 In der Forschung wird diese Mehrperspektivität auch als polyphones Sprechen bezeichnet; vgl. dazu vor allem Günthner (1999), die in präzisen Detailanalysen das Wirken dieser unterschiedlichen „Stimmen“ aufzeigt. 307 Das folgende Kapitel ist die überarbeitete Version von Keim (2002a). Der kommunikative Stil 417 am Arbeitsplatz gelernt und es reichte in der Regel aus, um sich in der Arbeitswelt und auch im Alltag zurechtzufinden. Die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ ist keine Bezeichnung der Sprecher selbst, sondern eine Bezeichnung aus der Perspektive von Deutschen. Das „Gastarbeiterdeutsch“ ist keine homogene Sprachform. 308 Es besteht aus mehr oder weniger vereinfachten, pidginisierten Varietäten des Deutschen mit charakteristischen Merkmalen wie: Ausfall von Artikel, Präposition, Personalpronomen und Kopula, Ausfall der Verbflexion (Numerus, Tempus, Modus, Person), Negationspartikel „nix“ vor dem Verb und Verbendstellung. Diese Merkmale treten unabhängig von der jeweiligen Ausgangssprache der SprecherInnen auf. Ähnlich wie bei Pidginsprachen ist das Lexikon beschränkt, einzelne Sprachformen werden übergeneralisiert, es werden nur einfache syntaktische Strukturen verwendet, Vor- und Nachzeitigkeit wird durch Temporaladverbien ausgedrückt, und es gibt nur wenige Verknüpfungselemente zwischen Äußerungen. Bei vielen MigrantInnen der ersten Generation ist diese rudimentäre Sprachform fossilisiert. Auch die meisten Eltern der „Powergirls“, die als junge Erwachsene nach Deutschland kamen, sprechen diese fossilisierte Form des Deutschen. Bevor ich mit der Analyse der Verwendung von „Gastarbeitdeutsch“ bei den „Powergirls“ beginne, möchte ich zunächst eine türkische Frau aus der ersten Migrantengeneration vorstellen und anhand eines Ausschnitts aus einem Gespräch mit ihr einige Charakteristika von „Gastarbeiterdeutsch“ herausarbeiten. Die Informantin Fulya ist die Mutter von zwei „Powergirls“. 4.2.1.1 Das „Gastarbeiterdeutsch“ einer Angehörigen der ersten Migrantengeneration Fulya kam Anfang der 70er-Jahre zu ihrem Mann nach Mannheim, der bereits seit einigen Jahren in Deutschland arbeitete. Die Familie hat acht Kinder, und Fulya war viele Jahre mit Hausarbeit und Kindererziehung beschäftigt. Seit einigen Jahren arbeitet sie als Putzfrau mit türkischen und italienischen Frauen zusammen. Fulya lebt in ihrem türkischen Verwandten- und Freundeskreis und hat kaum Kontakt zu Deutschen. Zur Zeit des Ge- 308 Zur Beschreibung des „Gastarbeiterdeutsch“ vgl. vor allem Clyne (1962), Heidelberger Forschungsprojekt „Pidgin-Deutsch“ (1975), Meisel (1975), Keim (1982, 1984). Im Folgenden übernehme ich die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ zur Charakterisierung der Sprachform von Sprechern der ersten Migrantengeneration. Die „türkischen Powergirls“ 418 sprächs ist sie Ende vierzig. Das Gespräch findet in der Wohnung der Familie statt, und außer Fulya und der Interviewerin (IN) ist noch die älteste Töchter Hülya (HY) anwesend. Während des Gesprächs kommt die bevorstehende Hochzeit von Hülya zur Sprache. Der Gesprächsausschnitt beginnt mit Fulyas Kommentar (des=s alles schwer ja ↑ ), nachdem sie erzählt hat, dass für ihren Mann der Wegzug der Tochter sehr schmerzlich ist: 01 FU: SEUFZT des=s alles schwer ja ↑ muss jaja ↓ 02 IN: für sie auch ↑ 03 FU: muss gehen gell ↑ alle * mädchen odda sohn- 04 IN: ja hm ja klar 05 FU: muss heiraten un dann weg 06 IN: alle gehen weg gehen se weg ↓ 07 IN: abba sie geht nich weit weg ↓ sie bleibt in Mannheim- 08 FU: +<ich sagn des bissele gleich da wohne * |komm | * nix 09 IN: |LACHT| 10 FU: will * des: eh neckarau un rheinau gehen> 11 IN: +wo willstn/ 12 K: ZU HY 13 FU: >schade ↓ * hexe is * 14 IN: da willste hin ↑ * weit weg LACHT 15 FU: kleine hexe LA|CHT | meine acht kinder gell ↑ 16 IN: |LACHT| 17 HY: anne- 18 Ü: mutter 19 FU: des i/ isch denken alle eh viele des: - * eh isch denkn 20 FU: alle klein so is vier drei jahre un des is LACHT 21 IN: jaja“ 22 FU: so gro“ße 23 IN: jaja * des is abba bei müttern immer so * 24 FU: hm 25 IN: ma sieht die kinder immer klein und die bleibn 26 FU: jaja“ 27 IN: immer kinder >ja ↓ < Fulyas Deutsch zeigt viele der typischen Merkmale von „Gastarbeiterdeutsch“: Ausfall der Verbflexion in ich sagn des bissele gleich da wohne (‘ich meine, die soll da in der Nähe wohnen’, Z. 08), Ausfall der Präposition und Verbendstellung in des: eh neckarau […] gehen (‘sie geht nach Neckarau’, Z. 10), Ausfall des Personalpronomens und Negation vor dem Verb in Der kommunikative Stil 419 nix will (‘sie will nicht’, Z. 08, 10). Außerdem gibt es Einflüsse des Mannheimerischen in dem Pronomen des (das) 309 und beim Ausfall des Endnasals in wohne (wohnen); muss (Z. 01, 08, 05) und is (Z. 20) werden übergeneralisiert und die Lokalangabe „in der Nähe“ wird umschrieben durch bissele gleich da (Z. 08). Diese reduzierte, durch grammatische Abweichungen und fehlende Verknüpfungselemente charakterisierte Sprachform ist an mündliche Produktion gebunden, in der prosodische, stimmliche, gestische und mimische Mittel die „Lücken“ füllen können. Durch die Verwendung dieser Sprachform präsentiert sich Fulya als Migrantin der ersten Generation, die im Gespräch mit einer Deutschen „Gastarbeiterdeutsch“ spricht. Wie der Gesprächsausschnitt zeigt, werden dadurch bei der Partnerin Kommunikationsmechanismen aktiviert, die - Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt - im Kontakt mit nicht-kompetenten Sprechern eine besondere Rolle spielen: - größere Toleranz gegenüber Verletzungen der Konversationsmaximen „Klarheit“ und „Relevanz“: als FU z.B. auf die Nachfrage von IN für sie auch ↑ (Z. 02) im Sinne von ‘ist der Weggang der Tochter für Sie auch schwer’ mit muss jaja ↓ (Z. 01) antwortet, fragt IN nicht nach dem Bezug dieser Äußerung zur vorangehenden Frage, sondern zeigt durch bestätigende Rückmeldung ja (Z. 04), dass sie abwartet und der Sprecherin weiterhin Rederaum einräumt; - erhöhte Bereitschaft zur Normalisierung und Vervollständigung: IN ergänzt den Rhema-Teil in FUs Äußerung alle * mädchen odda sohn- (Z. 03) durch ja klar alle gehen weg (Z. 04, 06); daraufhin reformuliert FU zu muss heiraten un dann weg (Z. 05); sie zeigt, dass IN die Äußerung in ihrem Sinne vervollständigt hat, und IN vervollständigt FUs Äußerung nochmals: gehen se weg ↓ (Z. 06); - erhöhte Bereitschaft zur Inferenzenbildung und zum verstärkten Rückgriff auf als geteilt unterstelltes Wissen: ambivalente oder unklar formulierte Äußerungen werden versuchsweise normalisiert und der Partnerin zur Ratifizierung angeboten: IN reformuliert die Darstellung von FU (Z. 15-22) und generalisiert deren Erfahrung als typische durch: jaja * 309 Die Realisierung des neutralen Artikels bzw. Demonstrativpronomens das als des ist nicht nur auf die Mannheimer Region beschränkt, sondern gilt für ein größeres Sprachgebiet Südwestdeutschlands. Die Verwendung von des anstelle des femininen Demonstrativ- oder Personalpronomens sie oder die ist eine für „Gastarbeiterdeutsch“ typische Übergeneralisierung. Die „türkischen Powergirls“ 420 des is abba bei müttern immer so * ma sieht die kinder immer klein und die bleiben immer kinder (Z. 23, 25, 27); FU ratifiziert die Beschreibung INs und drückt ihr volles Einverständnis aus jaja“ (Z. 26). Die Interaktion zwischen FU und IN zeigt, dass es - Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt - auch mit eingeschränkten sprachlichen Mitteln gelingen kann, komplexe Sachverhalte zu verhandeln, emotionale Befindlichkeit auszudrücken und perspektivische Übereinstimmung herzustellen. 4.2.1.2 Funktionen von „Gastarbeiterdeutsch“ in den Gesprächen der „Powergirls“ Wenn Angehörige der zweiten Generation „Gastarbeiterdeutsch“ verwenden, das nicht „ihre“ Sprache ist, sondern die der Eltern, kann damit ein Interpretations- und Deutungsrahmen (mit-)eröffnet werden, in dem die Beziehungen zwischen erster und zweiter Generation und der Kontrast zwischen unterschiedlichen sozialen Orientierungen, Erfahrungen und Bewertungen relevant gesetzt werden. „Gastarbeiterdeutsch“ gehört zu den konstitutiven Eigenschaften der sozialen Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“ (vgl. Kap. 4.1). Normalerweise unterscheiden die Mädchen sehr genau zwischen ihren Eltern, die „Gastarbeiterdeutsch“ sprechen, und den „zurückgebliebenen Türken“ und nehmen die Eltern aus der Negativkategorie aus (vgl. Kap. 4.1.2.1). Doch wenn sie die Eltern kritisieren und sich von ihnen distanzieren wollen, dann können sie sie in die Nähe der Negativkategorie bringen. Das geschieht vor allem durch die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“; d.h., wenn die Mädchen in Gegenwart ihrer Eltern „Gastarbeiterdeutsch“ verwenden, steht die Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“ im Hintergrund. Außerdem ist die Verwendung von Gastarbeiterdeutsch an die Anwesenheit von Deutschen gebunden; 310 in den Gesprächen der „Powergirls“, die in Abwesenheit der Ethnografin aufgezeichnet wurden, kommt es nicht vor. D.h., für seine Verwen- 310 In einer anderen Gruppe, die wir in unserem Projekt untersuchten, wird „Gastarbeiterdeutsch“ ohne Anwesenheit von Deutschen verwendet; es wird spielerisch eingesetzt und dient der Hervorhebung und Vergewisserung eines gemeinsamen Migrationshintergrunds; vgl. das Gesprächsmaterial der „Unmündigen“, das Ibrahim Cindark (i.Vorb.) analysierte. Der Vergleich zeigt, dass die untersuchten Migrantengruppen verschiedene Verwendungsbedingungen für Sprachformen herausgebildet haben und unterschiedliche soziale Bewertungen damit verbinden. Der kommunikative Stil 421 dung scheint konstitutiv zu sein, dass eine Deutsche (Mit-)Adressatin oder Rezipientin ist. „Gastarbeiterdeutsch“ wird in den folgenden Funktionen verwendet: - zur Kritik an den Eltern (4.2.1.2.1); - zur Distanzierung vom sozialen Status der Mutter (4.2.1.2.2) und - zur Symbolisierung des „groben Gastarbeiters“ (4.2.1.2.3). 4.2.1.2.1 Kritik an den Eltern Das Gespräch, aus dem das folgende Beispiel stammt, findet in Fulyas Wohnung statt. Beteiligt sind Fulya (FU), die Tochter Teslime (TE) und die Ethnografin (IN). In einem vorangegangenen Gespräch hatte Teslime ausführlich über die innerfamiliären Probleme und über ihre, von den Eltern stark abweichende soziale Orientierung gesprochen. 311 Vor dem Gesprächsausschnitt berichtet Fulya über die neue Wohnung, die die Familie gekauft hat. Obwohl die Wohnung sehr groß ist, kann nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer beanspruchen, und die Mutter sieht vor, dass sich je zwei Töchter ein Zimmer teilen. Auf die Frage der Ethnografin, ob Teslime zu ihrer Schwester Kimet (KI) ins Zimmer zieht, entwickelt sich folgendes Gespräch: 01 IN: gehst mit KI zusammen in=s zimmer net ↑ 02 TE: nee: >mi=der 03 IN: LACHT |LEICHT| 04 TE: do=net <|isch |will keins 05 FU: <sieben kinder alle 06 FU: willen alle extra zimmer> |isch/ | 07 IN: die wollen/ |jedes| will=n 08 FU: |isch was| machen ↑ 09 IN: |zimmer | 10 TE: +<ja“: was machen ↑ > hier sitzn wohin 11 Ü: ÄFFT NACH # 12 TE: gehn ↑ ** 13 FU: çadır ne kız almanca ↑ çadırın adı 14 Ü: zelt wie heißt das auf deutsch mädchen wie 15 FU: |ne ↑ | jaja LACHT 16 Ü: heißt zelt 17 TE: |zelt| is gud 18 IN: zelt is gut * alle in=s zelt 19 K: LACHEND # 311 Zu Teslimes Entwicklung und zu ihren Problemen mit den Eltern vgl. oben Teil II, Kap.4.3 Die „türkischen Powergirls“ 422 Teslime verneint, dass sie mit Kimet ein Zimmer bezieht (nee: , Z. 02) und expandiert nach der erstaunten Rückfrage net ↑ (Z. 01) zu mi=der do=net (Z. 02, 04). Auf diese Absage reagiert IN mit leichtem Lachen. 312 Dann macht TE deutlich, dass sie grundsätzlich nicht bereit ist, das Zimmer zu teilen: isch will keins (Z. 04). Sie widersetzt sich damit offen dem Plan der Mutter und bringt sie interaktiv in Reaktionszwang. Fulya reagiert mit einer Erläuterung: sieben kinder alle willen alle extra zimmer (Z. 05f.). Sie deckt auf, dass sich die Kinder ihrem Plan widersetzen, und mit einer Geste der Ratlosigkeit (isch was machen, Z. 08, im Sinne von ‘was soll ich machen’) verdeutlicht sie die Ausweglosigkeit der Situation: Die Wünsche der Kinder stehen den Plänen und finanziellen Möglichkeiten der Eltern diametral entgegen. Exkurs 16: Der hier skizzierte Konflikt zwischen Eltern und Kindern hat sozial-kulturelle Dimensionen. Für die Kinder hat der Wunsch nach einem eigenen Zimmer einen hohen, sozialen Symbolwert. Sie erfahren von deutschen Lehrern, dass ein „eigenes Zimmer“, in dem man ungestört lernen, spielen und Freunde einladen kann, zur Normalität einer bildungsorientierten Familie gehört; und sie wissen, dass die Lehrer die schlechten Schulleistungen der Migrantenkinder auch darauf zurück führen, dass sie kein „eigenes“ Zimmer haben. 313 Der Wunsch der Kinder nach einem angemessenen Wohnen hängt aber nicht nur mit dem damit verbundenen Sozialprestige zusammen, sondern er ist auch Ausdruck einer grundlegend anderen Lebensorientierung. Während sich viele Eltern in Deutschland mit eingeschränkten Wohnverhältnissen zufrieden geben, weil sie Geld für die Rückkehr in die Türkei sparen und dort investieren, sind die Kinder auf ein Leben in Deutschland hin orientiert und wollen sich hier einrichten. Sie lehnen Einschränkungen wegen einer späteren Rückkehr rundweg ab. In vielen Familien wurde dieser Konflikt im Laufe der Jahre im Sinne der Kinder gelöst: Die Eltern investieren jetzt auch in eine Zukunft der Kinder in Deutschland (vgl. oben Teil I, Kap. 1.2.2). Noch bevor die Ethnografin auf Fulyas Klage antworten kann, schiebt sich Teslime dazwischen <ja“: was machen ↑ > (Z. 10), wechselt Sprache und Sprechweise und zitiert die letzte Äußerung der Mutter. Dann fährt sie in 312 Zwischen den Schwestern gibt es ständig Reibereien, und direkt vor dem Gespräch hatte sich TE über einen Streit mit KI beschwert. 313 Das erfuhr ich von den „Powergirls“. Von Lehrenden hörte ich, dass in Migrantenfamilien keine „lernfreundliche“ Atmosphäre herrsche, da meist mehrere Geschwister sich ein Zimmer teilten. Die häuslichen Bedingungen machen die Lehrenden für die schlechten Schulleistungen der Kinder (mit-)verantwortlich und fordern die Eltern immer wieder auf, bessere Lernbedingungen zu schaffen. Der kommunikative Stil 423 „Gastarbeiterdeutsch“ fort: hier sitzen wohin gehen (Z. 10, 12). Die gepresste Stimme, das lautere, scharfe Sprechen, die Akzentuierung und Längung des initialen <ja“: und die wörtliche Wiederholung vermitteln den Eindruck des gehässigen Nachäffens. Teslime karikiert die Rat- und Hilflosigkeit der Mutter in Bezug auf den Konflikt in der Familie, in dem zwei sehr unterschiedliche Perspektiven aufeinanderprallen: - einerseits die der Eltern, die aufgrund der großen Kinderzahl (die in traditionellen Familien als wünschenswert betrachtet wird) in der Migration mit Problemen der Wohnraumbeschaffung, der Versorgung und Ausbildung der Kinder zu kämpfen haben; - andererseits die der Kinder, die die finanziellen Einschränkungen der Eltern nicht akzeptieren. 314 Mit der Formulierungsfortführung hier sitzen und wohin gehen (im Sinne von ‘hier sitze ich wohin soll ich gehen’) bleibt Teslime in der Sprache der Mutter und charakterisiert sie als ratlos angesichts der auf sie zukommenden innerfamiliären Schwierigkeiten. In der Äußerung kommen zwei Perspektiven zum Ausdruck, die Sicht der Mutter, ihre Hilflosigkiet, und die Bewertung der Tochter, die durch die Karikatur zum Ausdruck gebracht wird: Teslime kritisiert die Mutter und distanziert sich von ihr gegenüber der deutschen Gesprächspartnerin. Bei der Karikatur der Mutter werden zwei Charakteristika relevant gesetzt: ihre Sprache, das „Gastarbeiterdeutsch“, und ihre „Ratlosigkeit“ angesichts der Forderungen der Kinder. Das sind die Charakteristika, die die „Powergirls“ sehr oft an ihren Müttern kritisieren 315 und mit denen sie sie auch in die Nähe der Kategorie der „zurückgebliebenen Türken” bringen. Da Teslime diese beiden Merkmale relevant setzt, eröffnet sie einen kategoriell aufgeladenen Interpretationsrahmen und bringt die Mutter in die Nähe dieser Negativkategorie. 316 314 In Gesprächen wird deutlich, dass die jungen Frauen sich oft wegen der beengten Wohnverhältnisse geschämt haben, andere Kinder nach Hause einzuladen. 315 So wollte beispielsweise HY lange Zeit nicht, dass ich mit ihrer Mutter Kontakt aufnehme; später legte sie offen, dass sie verhindern wollte, dass ich erfahre, wie „schlecht“ ihre Mutter Deutsch spricht. 316 In anderen Gesprächszusammenhängen charakterisiert TE ihre Mutter ganz anders und setzt sie in Kontrast zur Kategorie der „zurückgebliebenen Türkin“. Die „türkischen Powergirls“ 424 Auf die Face-bedrohende Aktivität der Tochter reagiert die Mutter durch: çadır ne kız almanca ↑ çadırın adı ne ↑ (‘Zelt, wie heißt das auf Deutsch Mädchen, wie heißt Zelt’, Z. 13-15). Sie wechselt ins Türkische und fragt die Tochter nach dem deutschen Wort für çadır (‘Zelt’). Die Bedeutung der Äußerung wird aus dem weiteren Gesprächsverlauf deutlich: Fulya initiiert mit dem Vorschlag ‘Zelt’ als die für die Familie geeignete Unterkunft einen Modalitätenwechsel ins Nicht-Ernste und signalisiert, dass sie aus der kritischen Situation aussteigt. Aufgrund einer lexikalischen Lücke im Deutschen kann sie die entsprechende Formulierung jedoch nicht produzieren und wendet sich mit der Bitte um Übersetzung an die Tochter. Die reagiert kooperativ: Sie erfüllt die Bitte, liefert in zelt is gud (Z. 17) das fehlende Wort und ratifiziert durch die positive Bewertung den Modalitätenwechsel ins Spielerische. Durch die Übersetzung schafft sie auch für die Ethnografin die Möglichkeit zur Ratifikation: zelt is gut * alle in=s zelt (Z. 18). Das abschließende Lachen löst den bedrohlichen Zwischenfall auf. Bei der Bitte um Übersetzungshilfe rekurriert Fulya auf eine tief eingespielte Kooperationsroutine zwischen Angehörigen der ersten und zweiten Migrantengeneration. Im Kontakt mit Deutschen brauchen die Eltern sprachliche Hilfe, die die Kinder in selbstverständlicher Weise liefern. In der aktuellen Situation unterstützt Teslime die Mutter bei der Auflösung der potenziell bedrohlichen Situation, die sie selbst (mit-)hergestellt hat und liefert damit eine Art Wiedergutmachung. 4.2.1.2.2 Distanzierung vom sozialen Status der Mutter Auch das folgende Beispiel stammt aus der Familie von Fulya. Fulya hat die „Powergirls“ und die Ethnografin zu einer Gartenparty eingeladen. Im Garten legen die Mädchen türkische Musik auf und beginnen zu tanzen; Fulya kümmert sich als einzige um die Essensvorbereitungen. Als die Ethnografin Hilfe anbietet, ruft Fulya die Tochter Hülya (HY) und fordert sie in Türkisch auf, ebenfalls bei der Vorbereitung zu helfen. Hülya wendet sich ärgerlich ab, holt aber trotzdem Wasser und Lappen und beginnt, die Gartentische abzuputzen. Als die Ethnografin ihr helfen will, reagiert sie folgendermaßen: [HY PUTZT DEN TISCH AB] 01 IN: HY kann ich dir en bissel helfen ↑ 02 HY: <ni“x * i“sch putzn * Der kommunikative Stil 425 03 HY: ausländer i“mmer putzn * nix deu“tsche> LA|CHT 04 IN: |LACHT| 05 K: PUTZT 06 K: WEITER, SCHNEIDET GRIMASSEN IN RICHTUNG MUTTER Hülya weist das Angebot zurück (nix) und begründet das folgendermaßen: isch pu“tzn * ausländer i“mmer putzn * nix deu“tsche. Die Äußerung ist in „Gastarbeiterdeutsch“ 317 und so laut gesprochen, dass die in der Nähe arbeitende Mutter sie hören kann, d.h., sie ist zweifach adressiert, ebenso wie die direkt folgende Grimassierung in Richtung Mutter, die auch die Ethnografin sehen kann. In der Erklärung dafür, dass sie die Putzarbeit ausführt (ausländer i“mmer putzn * nix deu“tsche) kontrastiert Hülya zwei Kategorien: „Ausländer putzen immer“ vs. „Deutsche putzen nie“. Damit ist auch eine klare Hierarchie zwischen den beiden Kategorien impliziert: „Deutsche“ putzen nicht selbst, sondern lassen von „Ausländern“ putzen. Hülya ordnet sich der Ausländer-Kategorie zu, die Ethnografin der Kontrastkategorie „Deutsch“ und verweigert ihr die für Ausländer typische Tätigkeit. Hülya stuft das kleine Hilfsangebot ungewöhnlich hoch und ordnet es in einen ethnisch definierten Interpretationsrahmen ein. Die übertriebene Hochstufung ebenso wie die plakative, auf ein Merkmal reduzierte Definition der Kategorien „Ausländer“ und „Deutsche“ kontextualisieren eine nicht-ernste Interaktionsmodalität, die durch das anschließende Lachen bestätigt wird. Auffallend an Hülyas Formulierung ist die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“. Sie enaktiert eine typische „Gastarbeiterin“, die für sich die charakteristische Tätigkeit „putzen“ reklamiert. Auf die implizite Rüge der Mutter, die nicht zulassen wollte, dass die Ethnografin als Gast bei der Vorbereitung hilft, während die Tochter tanzt, reagiert die Tochter durch das Spiel in der Rolle der „Gastarbeiterin“. Durch die besondere Definition der Spiel-Kategorie verweist sie gleichzeitig auf die reale Tätigkeit der Mutter, die als Putzfrau arbeitet. D.h., in der Rolle der „Ausländer-Putzfrau“ setzt sie die Mutter, ihre Tätigkeit ebenso wie ihre traditionelle Sicht auf die Ethnografin (als Gast) herab, karikiert sie und distanziert sich davon. Da die Äußerung von der Mutter gehört werden kann, lässt Hülya sie miterleben, wie sie sich über sie lustig macht. 317 Hülya ist zum Zeitpunkt der Aufnahme im ersten Semester an der Universität. Die „türkischen Powergirls“ 426 4.2.1.2.3 Spiel mit der Kategorie des „Gastarbeiters“ Diente in den bisherigen Beispielen der Wechsel zu „Gastarbeiterdeutsch“ vor allem zur Hervorhebung von Distanz und Kritik gegenüber den Eltern in Gegenwart einer Deutschen, wird im folgenden Beispiel „Gastarbeiterdeutsch“ zur Symbolisierung des „groben Gastarbeiters“ eingesetzt, und zwar in einem Spiel, das auf Kosten der Ethnografin geht. In dem Spiel werden typische Vorurteile von Deutschen gegenüber Migranten aufgespießt und die Ethnografin (IN) damit konfrontiert. Das Gespräch, aus dem der Ausschnitt stammt, findet im Mädchentreff statt. Teslime (TE) und (IN) sprechen über Kindererziehung. Am Nebentisch spielen Hikmet (HI) und Esra (ES) Tavla. Zwischen Teslime und IN entwickelt sich ein Diskurs über unterschiedliche Erziehungsprinzipien in deutschen und türkischen Familien am Beispiel des Taschengeldes für Kinder. Nach kurzer Zeit steigt die am Nebentisch spielende Hikmet in das Gespräch ein, initiiert eine spielerische Interaktion, die von Teslime ratifiziert wird und an der sich auch Esra beteiligt. Das Spiel wird in der Rolle des „Gastarbeiter“- Türken durchgeführt und wendet sich gegen IN. Im Anschluss an das Spiel erfolgt eine Aufklärung über seine Hintergründe. Der Gesprächsausschnitt besteht aus drei Interaktionssequenzen: a) dem Diskurs über Erziehungspraktiken und der Etablierung einer ethnisch-kulturellen Kategorien-Konstellation „Deutsche“ vs. „Türken“; b) dem Spiel mit der „Gastarbeiter“-Kategorie und c) der Aufdeckung von Spiel-Hintergründen. a) Diskurs im Rahmen der Kategorien-Konstellation „Deutsche“ vs. „Türken“ (Z. 01/ 15): 01 TE: → des find isch abba bei den deutschen ned gut gell ↑← 02 TE: bei türken is so ↓ egal wie alt du bist * bei hundert 03 TE: prozent oder achzich prozent so * egal wie lange du 04 TE: auf die schule gehst egal ob du verheiratet bis ← die 05 TE: eltern geben dir geld → * egal was/ |ja egal was (...)| 06 IN: |bei deutschn is=s| 07 IN: nich so 08 TE: ja un des find isch scheiße * odda man kriegt 09 TE: zehn mark im monat odda hundert mark ↓ so bestimmte Der kommunikative Stil 427 10 TE: summe bei mir is net/ bei uns is net so 11 IN: ihr kriegt mehr ↑ 12 TE: nä: * wenn=sch zum beispiel zu meim vadder geh * sag 13 TE: sch=will eh sch=brauch geld dann gibt=a=s mir ↓ 14 IN: hm 15 TE: is dann egal ab wann=sch zu ihm geh In der ersten Äußerung generalisiert Teslime die Erziehungspraxis (die monatliche Zahlung des Taschengeldes, mit dem die Kinder zurecht kommen müssen), über die IN vorher berichtet hatte, für alle „Deutschen“ und bewertet sie negativ: des find isch abba bei den deutschen ned gut gell ↑ (Z. 01). Dann führt sie im Kontrast dazu aus, wie das bei „Türken“ ist: Durch dreifache Reihung (egal wie alt du bist [...] egal wie lange du auf die Schule gehst egal ob du verheiratet bis, Z. 02-04) stellt sie typisierend dar, dass türkische Eltern sich immer für ihre Kinder verantwortlich fühlen und immer für sie sorgen. Die Generalisierung dieses Orientierungsmusters für die Türken schafft den Rahmen zu einer vergleichbaren Generalisierung für die Deutschen, die IN liefert: bei deutschn is=s nich so (Z. 06f.). Damit ist der ethnisch-kulturelle Gesprächsrahmen mit den entsprechenden Interaktionsrollen ratifiziert: Teslime spricht als Vertreterin der „Türken“ und IN als Vertreterin der „Deutschen“. Im nächsten Turn bewertet Teslime die Praxis der Deutschen nochmals negativ (scheiße, Z. 08) und illustriert dann die Praxis in ihrer Familie: sie kann ihren Vater jederzeit um Geld bitten und muss nicht bis zum Ablauf eines Monats warten (Z. 10-15). Durch die mehrfache Kontrastierung zwischen „deutschem“ und „türkischem“ Muster und die stabile Rollenverteilung zwischen den Gesprächspartnerinnen werden sie zu Vertreterinnen der jeweiligen Ethnie. b) Spiel mit dem „groben Gastarbeiter“ (Z. 16-38) Die Illustration für die „türkische“ Seite (Z. 10, 15) macht eine entsprechende Illustration für die „deutsche“ Seite erwartbar. Doch bevor Teslime mit ihrem Turn zu Ende ist und IN reagieren kann, greift die bisher nicht beteiligte Hikmet in die Interaktion ein und schiebt sich dazwischen: 15 TE: |ihm geh| abba des=s 16 HI: |<abba | die deutschen machen diszipli“n> 17 K: HARTES GESTOßENES STAKKATO # 18 TE: irgendwie schro“tt 19 HI: <nix schro“tt deutsche gut machen> 20 K: SCHREIT FAST # Die „türkischen Powergirls“ 428 21 HI: LACHT deutsche schicken 22 K: GESTOßEN 23 IN: LACHT wie redest=n du ↑ 24 K&: LACHEN 25 HI: kinder auf straße damit le“rnen 26 K: # 27 ES: auf die straße ↓ 28 K&: LACHEN 29 IN: des is bei uns halt so +ne auf/ auf die straße 30 K: LACHEND # 31 HI: ja: ↑ LACHT 32 IN: schickn se nich auf die straße ↑ ne: 33 TE: LA|CHT HELL| 34 HI: |LACHT | do=spaß 35 K: LACHEND 36 HI: gemacht |LACHT| 37 K: # 38 IN: LACHT aber des haste schön gesagt |LACHT| 39 TE: wo du Mit dem Turn besetzt Hikmet die strukturelle Position, die IN für die „deutsche“ Seite hätte ausfüllen können. Auffallend ist, dass Hikmet für die deutsche Seite Partei ergreift, aber aus der Perspektive eines „Gastarbeiters“ spricht: abba die deutschen machen diszipli“n (Z. 16). Die Äußerung ist durch Wechsel in Sprache und Sprechweise markiert: - Prosodisch-phonetisch: lautere Stimme, Stakkato-Sprechen mit Akzent auf jeder Silbe und Kürzung von Vokalen; es entsteht der Eindruck des herausgepressten Sprechens; - Lexikalisch: Die Formulierung machen disziplin im Sinne von „achten auf Disziplin“ oder „erziehen zur Disziplin“ ist durch die Konstruktion von machen + Nomen ein Charakteristikum des „Gastarbeiterdeutsch“. 318 - Semantisch: Die Deutschen werden als „diszipliniert“ charakterisiert und das wird (in Opposition zu TEs Negativbeurteilung durch scheiße) positiv bewertet. 318 Die Generalisierung von machen ist für viele „Gastarbeiterdeutsch“-Varietäten charakteristisch und vor allem die Generalisierung der Konstruktion „Nomen + machen“ wie z.B. isch telefon machen (= telefonieren) oder nix kontroll machen (= nicht kontrollieren), u.Ä. vgl. Meisel (1975), Heidelberger Forschungsprojekt „Pidgin Deutsch“ (1975) und Keim (1982, 1984). Der kommunikative Stil 429 - Pragmatisch: TE wird unterbrochen und die Widerspruchsäußerung wird ihr mit Vehemenz entgegengeschleudert. Diese durch das Vorangehende nicht motivierte heftige Reaktion lässt den in Szene gesetzten Akteur als „grob“ und „ungehobelt“ erscheinen. Durch den Wechsel in Sprache und Sprechweise wird Perspektiven- und Sprecherwechsel kontextualisiert: Hikmet schlüpft in die Rolle eines „Gastarbeiters“ mit geringer Ausdrucksfähigkeit und präsentiert eine schlichte, positive Sicht auf Deutsche. Durch die prosodische und stimmliche Überzeichnung drückt sie gleichzeitig ihre eigene Perspektive auf einen solchen Sprecher aus, sie karikiert ihn. Hikmet steigt in den etablierten ethnischkulturellen Diskurs ein und übernimmt in der Rolle des „ungehobelten Gastarbeiters“ die argumentative Vertretung der „deutschen“ Seite. Mit abba des=s irgendwie schrott (Z. 15, 18) weist Teslime die zitierte „Gastarbeiter“-Meinung zurück. Sie reagiert nur auf den Inhalt der Äußerung, aber nicht auf den auffälligen Perspektiven- und Rollenwechsel. Sie ratifiziert diesen Wechsel, d.h., er kommt für sie nicht überraschend und stellt kein Deutungsproblem dar. Auch mit der nächsten Äußerung bleibt HI in der Rolle des „Gastarbeiters“; sie widerspricht nochmals und treibt die symbolisierende Darstellungsweise weiter: nix schro“tt * deutsche gut machen (‘das ist kein Schrott, die Deutschen machen das richtig’, Z. 19). Das positive Stereotyp über die Deutschen wird beibehalten, und die Figur des groben „Gastarbeiters“ deutlich in Szene gesetzt: - Prosodisch: gestoßenes, schreiendes Sprechen; - morphosyntaktisch: Markierung als „Gastarbeiterdeutsch“ durch die Verwendung der Negationspartikel nix anstelle des Pronomens „kein“ in der NP schrott, die Endstellung des Verbs und die Tilgung von Kopula, Artikel und Akkusativpronomen; - pragmatisch: Der heftige Widerspruch erfolgt unabgeschwächt (keine metakommunikativen Hinweise, keine Modalisierungen, keine Abschwächungen) und erweckt den Eindruck von plötzlich ausbrechender Aggression. Der in dieser Inszenierung dargestellte „Gastarbeiter“ wird als „unkontrolliert“ und „mit geringer Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit“ charakterisiert. Durch seine ungebrochen positive Sicht auf Deutsche hat er auch naive Züge. Die „türkischen Powergirls“ 430 Die mit der Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“ konstituierte soziale Bedeutung ist komplex: Durch die spielerische Modalisierung (Lachen in Z. 21, 23f.) drücken die Beteiligten Distanz zu dem in Szene gesetzten „Gastarbeiter“ aus. Die vorgeführte Kategorie hat Ähnlichkeiten mit der Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“, doch es fehlen die mit traditionellen türkischen Orientierungen verbundenen Merkmale (traditionelle Werte, Ablehnung von Deutschen, eingeschränkte Lebensweise); fokussiert werden nur die geringe sprachliche Fähigkeit und das grobe Verhalten. Das sind die Aspekte, von denen die Beteiligten annehmen, dass sie aus der Perspektive der Deutschen die zentralen kategoriellen Merkmale eines „Gastarbeiters“ sind. D.h., die vorgeführte Kategorie ist eine Kategorie der Deutschen und entspricht deren „Gastarbeiter“-Stereotyp. Gemeinsam etablieren die Beteiligten folgende Kontrastkonstellation: Kritik am Verhalten der Deutschen formuliert Teslime, deren Zugehörigkeit zur zweiten Migrantengeneration durch den Kontrast zum „Gastarbeiter“ und seiner Sprache verdeutlicht wird, und die Verteidigung der „deutschen“ Seite erfolgt durch den von Hikmet in Szene gesetzten „Gastarbeiter“, ein typischer Vertreter der ersten Generation. Durch die Übernahme der Interaktionsrolle von IN erhält das Spiel eine deutliche Botschaft: IN wird zum by-stander einer ethnisch gerahmten, spielerischen Interaktion gemacht und die Rolle der „Deutschen“ wird durch eine soziale Kategorie neu besetzt, die von den Deutschen als ungebildet und kommunikationsunfähig abgewertet wird. Darauf reagiert IN mit einem Zug „außerhalb des Spiels“, mit einem Kommentar (wie redest=n du, Z. 23), ratifiziert die by-stander-Rolle und zeigt, dass sie Probleme mit dem Verstehen des Spiels hat. Hikmet treibt das Spiel weiter und lässt den „Gastarbeiter“ ein weiteres Mal sprechen: deutsche schicken kinder auf die straße damit le“rnen (Z. 21, 25). Wie die weitere Interaktion zeigt, wird dieser Spielzug für IN zur „Falle“: Nach den beiden positiven Stereotypen über Deutsche („die Deutschen achten auf Disziplin“ und „die Deutschen machen das gut“) ist ein weiteres positives Stereotyp erwartbar. Doch die Äußerung Hikmets ist eher negativ: Den Deutschen wird ein Verhalten zugeschrieben, das diese den Ausländern zuschreiben und negativ bewerten. 319 D.h., Hikmet betreibt eine Umkehrung von Stereo- 319 In Gesprächen mit älteren Deutschen aus dem Stadtteil wurde mir mehrfach erklärt, dass die ausländischen Eltern, da sie selbst kein Deutsch könnten, ihre Kinder auf die Straße schicken würden, damit sie dort Deutsch lernen. Das Ergebnis sei die grobe „Gassensprache“ der Kinder. Der kommunikative Stil 431 typen; sie lässt den „Gastarbeiter“ ein Stereotyp auf Deutsche anwenden, das Deutsche auf „Gastarbeiter“ anwenden. Diesen Spielzug quittieren die Mädchen mit Lachen und anerkennendem Kommentar (ES, Z. 27). IN tappt in die Falle und bestätigt die Negativzuschreibung an die Deutschen (des is bei uns halt so, Z. 29). Erst die lauernde Nachfrage von Hikmet (ja: ↑ , Z. 31) und ihr Lachen lösen eine Korrektur aus: ne auf die straße schicken se nich (Z. 29, 32). 320 Durch die Wiederholung des Korrektursegments auf die straße ↑ und die nochmalige Negation ne: (Z. 32) wird der „Fehler“ hervorgehoben ebenso wie die Absicht ihn zu korrigieren. 321 Auf die Bemühung, den „Reinfall“ auszugleichen, reagiert Teslime mit hellem Lachen (Z. 33) und Hikmet stuft das Spiel, das auf INs Kosten ging, herab (do=spaß gemacht, Z. 34, 36). c) Aufklärung: Im Anschluss deckt Teslime auf, dass Hikmet bereits früher ein ähnliches Spiel getrieben hat: 38 IN: aber des haste schön gesagt LACHT 39 TE: wo du des erste 40 TE: mal hier warst ↑ da hat die dann extra viel scheiße 41 TE: geredet ja die“ 42 IN: wer ↑ sie ↑ was haste da gesagt ↑ weiß ich 43 IN: ga=nich mehr 44 TE: was machs=u da“ kommen du heute zum ers/ 45 K: GESTOßENES SPRECHEN,TIEFER # 46 IN: has=du des gesagt ↑ hm ↓ 47 TE: LACHT ja die hat doch so scheiße 48 TE: gemacht dass du akzeptierst 49 HI: nix do: “ 50 IN: was haste da 51 HI: <die lügen> ja 52 IN: gesagt die lügen ↑ LACHT wer redet=n so ↑ 320 IN versteht die Nachfrage HI s als Einladung zur Korrektur (fremdinitiierte Selbstkorrektur); zu den Reparatur-Mechanismen in Gesprächen vgl. Schegloff et al. (1977). 321 HI s Spiel, die für die Partnerin überraschende negative Charakterisierung der eigenen Gruppe, auf die sie nicht adäquat reagiert und „reinfällt“, erinnert an Verfahren der Perspektivenumkehr, die in politisch-emanzipatorisch orientierten MigrantInnengruppen verwendet werden, um deutsche Gesprächspartner zu verunsichern und zu provozieren; zu solchen Verfahren vgl. Kallmeyer (2002), Keim (2005b), Cindark (2005). Die „türkischen Powergirls“ 432 53 HI: |ausländer| <auslända: * nix albaner: > 54 TE: die |albaner | 55 IN: LACHT welsche 56 IN: ausländer redn so ↑ du redest doch nich so LACHT 57 HI: no: Die Zeitangabe wo du das erste mal hier warst ↑ (Z. 39, 40) referiert auf den ersten Besuch der Ethnografin. Teslime führt vor, dass Hikmet damals die „grobe, ungebildete Gastarbeiterin“ vorspielte (was machs=u da“ kommen du heute zum ers/ , Z. 44), in der Absicht, von der Ethnografin akzeptiert zu werden (die hat doch so scheiße gemacht dass du akzeptierst, Z. 47f.). Das Spiel spiegelt die von den Mädchen erlebten Vorurteile von Deutschen über Migranten; Hikmet kommt diesen Vorurteilen ironisch-offensiv entgegen und charakterisiert sie als stereotyp. Auf die deutsche Adressatin wirkt das Spiel verunsichernd, da sie mit dem stereotypen Blick von Deutschen auf Migranten konfrontiert wird. Dass Teslime die Situation, die gut zwei Jahre zurückliegt, hier anführt, zeigt die Relevanz dieses Spiels (vermutlich wurde öfter darüber gesprochen). Außerdem zeigt die Art seiner Durchführung, dass es eine Routine-Spiel ist: Teslime beteiligt sich in selbstverständlicher Weise daran und ratifiziert die Rolle, in die Hikmet schlüpft. Bei der Offenlegung des Spiels spricht Teslime durchgehend für Hikmet. Erst danach schaltet sich Hikmet wieder ein, bleibt aber in der Rolle des „Gastarbeiters“ und führt das Spiel fort. Sie reagiert nicht auf INs Frage nach dem früheren Verhalten (was haste da gesagt, Z. 42, 52), sondern bezichtigt Teslime der Lüge: <die lügen> (Z. 51), d.h., sie weigert sich, die Hintergründe des damaligen Spiels mit aufzudecken und bleibt in der aktuellen Spielrolle. 322 Auf die Frage nach den sprachlichen Hintergründen des Spiels: wer redet=n so ↑ (Z. 52). antworten die Mädchen fast gleichzeitig, verweisen jedoch auf unterschiedliche Kategorien: Teslime nennt die albaner (Z. 54) und Hikmet die ausländer (Z. 53). Aus der Sicht der „Powergirls“ stehen die „Albaner“ in einer hierarchisch gegliederten Migrantenpopulation an letzter Stelle; mit ihnen wollen sie nichts zu tun haben. Teslime nimmt - mit dem Verweis auf 322 Die Gründe für HI s Weigerung können vielfältig sein. Mit Sicherheit spielen Face- Belange aller Beteiligten eine Rolle: TE hat mit der Hintergrundinformation Dinge aufgedeckt, die zur einer Störung der Beziehung aller Beteiligten führen können; für HI ebenso wie für IN könnte eine weitere Thematisierung des Spiels peinlich sein. Der kommunikative Stil 433 die Albaner - die eigene ethnische Gruppe aus der Negativcharakterisierung aus, doch Hikmet lässt mit <auslända: * nix albaner: > (‘Ausländer * nicht nur die Albaner’, Z. 53) den Bezug zur eigenen Gruppe offen. Das Sprechen und Verhalten von „Gastarbeitern“ bildet für beide Mädchen im Gespräch mit Deutschen das Material für Spiel und Karikatur. Damit distanzieren sie sich vom typischen „Gastarbeiter“, aber auch von Deutschen, die MigrantInnen ausschließlich unter der Kategorie des „Gastarbeiters“ fassen. Dadurch, dass Hikmet in die Rolle des von Deutschen abschätzig beurteilten „Gastarbeiters“ schlüpft und IN damit irritiert, gelingt ihr lokal eine Umkehr der Dominanzverhältnisse zwischen Angehörigen von Minderheit und Mehrheit. Und darin liegt der besondere Reiz des Spiels: In Erstkontakten mit Deutschen können Spiele dieser Art als Test für die Haltung gegenüber MigrantInnen eingesetzt werden; die deutschen Gesprächspartner werden mit einem in der Mehrheitsgesellschaft verbreiteten und herabsetzenden Denken über MigrantInnen konfrontiert und interaktiv „gezwungen“ sich dazu zu verhalten. 4.2.1.3 Schlussbemerkung Wie die Beispiele zeigen, kann „Gastarbeiterdeutsch“ in verschiedenen Gesprächskontexten zum symbolischen Verweis auf soziale Eigenschaften und soziale Kategorien verwendet werden. Dabei gibt es keine einfache Zuordnung zwischen Sprache und sozialer Kategorie, sondern je nach Gesprächskontext, Adressatin, Rezipientin und Perspektivierung der Sprecherinnen kann „Gastarbeiterdeutsch“ verschiedene Funktionen ausfüllen. Es dient den Sprecherinnen zur Selbstpositionierung in Relation zur Migrantenpopulation und zur Mehrheitsgesellschaft; und es dient zur Relevantsetzung und Bewertung spezifischer sozialer Eigenschaften und Orientierungen bei beiden Bezugspopulationen. Konstitutiv für die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“ ist die Adressierung bzw. (Mit-)Adressierung an die Ethnografin als „Deutsche“. Mit dem symbolisierenden Gebrauch von „Gastarbeiterdeutsch“ ist immer - auch bei spielerischer Modalisierung - ein kritisches, aufdeckendes Potenzial verbunden. „Gastarbeiterdeutsch“ dient zur Symbolisierung der Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“ - einer Kategorie aus der Perspektive der „Powergirls“ - ebenso wie zur Symbolisierung des „Gastarbeiters“ - einer Kategorie aus Die „türkischen Powergirls“ 434 der Perspektive von Deutschen. In Bezug zu den Eltern wird über die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“ eine Nähe zum „zurückgebliebenen Türken“ hergestellt. Damit kann - die Perspektiven- und Orientierungsdivergenz zwischen den Mädchen und den Eltern verdeutlicht und auf die eher traditionellen Orientierungen der Eltern aufmerksam gemacht werden; - die Differenz zwischen dem sozialen Status der Eltern und dem sozialen Aufwärtsstreben der Mädchen hervorgehoben werden; und - die mangelnde Anpassung der Älteren an Sprache und Kommunikation der Mehrheitsgesellschaft kritisch beleuchtet werden. In Bezug auf deutsche Gesprächspartner kann „Gastarbeiterdeutsch“ symbolisierend eingesetzt werden - um die Migrantenpopulation hierarchisch zu gliedern mit dem „groben Gastarbeiter“ (Albaner oder allgemein Ausländer) am unteren Ende der Hierarchie; - um sich Deutschen gegenüber als nicht-zugehörig zur Kategorie des „Gastarbeiters“ darzustellen; - um die deutschen Gesprächspartner mit deren stereotypem Bild von Migranten zu konfrontieren und sie zu provozieren; und - sie zur Stellungnahme zu dem negativen Stereotyp zu „zwingen“. 4.2.2 Die Verwendung von „Mannheimerisch“ 4.2.2.1 Das „Mannheimerische“ Die dialektale Varietät, die in dem Stadtgebiet, in dem die „Powergirls“ leben, gesprochen wird, wird aus der Perspektive von Mannheimern aus anderen Stadtgebieten als die breiteste, derbste und auch ordinärste Form der Mannheimer Stadtsprache charakterisiert. 323 Die deutsche Bevölkerung des Stadtteils, die im unmittelbaren Umfeld der „Powergirls“ wohnt, besteht aus „kleinen Leuten“ - wie sie sich selbst bezeichnen - aus Arbeitern, Handwer- 323 Die erste Beschreibung des Mannheimerischen hat Bräutigam (1934) durchgeführt. Zur Beschreibung des Innenstadtgebiets, seiner Bevölkerung und der dialektalen Varietät, die dort in der 80er- und 90er-Jahren gesprochen wird, vgl. Keim (1995b). Das Stadtgebiet hat den volkstümlichen Namen „die Filsbach“, das derbe Mannheimerisch der Filsbachbevölkerung heißt „Filsbacherisch“. Der kommunikative Stil 435 kern und kleinen Geschäftsleuten. Der Stadtteil ist traditionell ein Arbeiterstadtteil, in den in den 70er-Jahren viele Migranten mit ihren Familien zugezogen sind (vgl. Teil I, Kap. 1.) Zwischen deutschen und Migrantenfamilien gibt es nur vereinzelt Kontakte und die Beziehungen zwischen den Gruppen sind tendenziell distanziert. Die „Powergirls“ fühlen sich von Deutschen aus ihrem sozialen Umfeld oft abgelehnt und ausgegrenzt, sie bezeichnen sie als „dumme Deutsche“ (vgl. Kap. 4.1.2.2). Die Mannheimer Stadtsprache gehört zum Rheinfränkischen; typische Merkmale des Mannheimerischen sind Ausfall des Endnasals, Aufhebung der Differenz zwischen [x]- und [ S ]-Laut (z.B. isch ‘ich’), Lenisierung von Fortes (mudda ‘Mutter’), Monophthongierung von Diphthongen (z.B. laafe, raache ‘laufen, rauchen’), Nasalierung, Rückverlegung und Längung von Vokalen und Diphthongen ( / ç‚ ˘ gemachd ‘angemacht’, r ç‚ ˘I ‘rein’) und vor allem die „singende“ Sprechmelodie mit großen Tonintervallen und mehrgipfliger Endkadenz. Zur Illustration des „breiten“ Mannheimerischen ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit einer Bewohnerin des Stadtteils, 324 einem Stadtteiloriginal, die nach Meinung ihrer Umwelt „echtes breites Mannemerisch“ spricht. Im Gesprächsausschnitt erzählt die Sprecherin von einer Ausflugsfahrt: 01 GE: un isch mach misch eleg ç‚ ˘ nd ↓ ä eleg ç‚ ˘ ndes kleed 02 Ü: und ich mache mich elegant ein elegantes kleid 03 GE: / ç‚ ˘ ghabd ↓ misch schi“gg gemachd ↓ * geba: de un zureschd 04 Ü: angehabt mich schick gemacht gebadet und zurecht 05 GE: gemachd ↓ * na haww=sch gsa: d du ↑ horsch em ç‚ ˘↑ isch möschd 06 Ü: gemacht da hab ich gesagt du hör mal ich möchte 07 GE: gern mo=wisse wu isch üwwerhaubd schlo: f * ob ma des 08 Ü: gern mal wissen wo ich überhaupt schlafe ob man das 09 GE: hodel siehd wu isch schlo: f ↓ * mer laafe niwwer un 10 Ü: Hotel sieht in dem ich schlafe wir laufen rüber und 11 GE: gugge nuff ** haww=sch sa: d du ↑ mer sehe gar kä zimmer 12 Ü: sehen hinauf da hab ich gesagt du, wir sehen gar keine Zimmer Charakteristisch für breites Mannheimerisch ist vor allem die Längung, Rückverlegung und Nasalierung von Vokalen in eleg ç‚ ˘ nd (‘elegant’, Z. 01) 324 Die Sprecherin bezeichnet sich selbst als „Königin der Filsbach“ und wird auch von anderen so bezeichnet. Sie trat in einem Film über den Stadtteil als „typische Filsbacherin“ auf und spricht nach Meinung ihrer Umwelt „echtes Filsbacherisch“. Die „türkischen Powergirls“ 436 und schlo: f (‘schlafe’, Z. 07), Nasalausfall, Nasalierung, Längung und Rückverlegung des Vokals in / ç‚ ˘ gehabt (‘angehabt’, Z. 03), die Monophthongierung in laafe (‘laufen’, Z. 09) und kä (‘kein’, Z. 11), der Ausfall des Endnasals in laafe (‘laufen’, Z. 09), gugge (‘kucken’, Z. 11), sehe (‘sehen’, Z. 11), die Rückverlegung und Verdunkelung von helleren Vokalen in wu (‘wo’, Z. 07) und mo (‘mal’, Z. 07) usw. Die Kookkurrenz solcher Merkmale zusammen mit der typisch „singenden“ Sprechweise ist charakteristisch für das breite Mannheimerisch. Aus der Sicht der „Powergirls“ ist „Mannheimerisch“ nicht „ihre“ Sprache. Während viele MigrantInnen der zweiten und dritten Generation den lokalen Dialekt ihres Lebensumfelds angenommen haben, 325 distanzieren sich die „Powergirls“ explizit davon, wie sie in einem Beitrag im lokalen Fernsehen (SWR 3) ausführen. Auf die Frage des Interviewers, ob sie Mannheimerisch sprechen, antworten die Mädchen: 45 IN: un mannemarisch ↑ *2* 46 TU: mannemarisch ↑ isch weiß net also- 47 FU: |wenn | wir ernst reden eigentlich nich ↓ * 48 TU: selten |aber-| 49 FU: so wenn wir- 50 TU: aber wenn wirspaß miteinander haben 51 FU: wollen |dann machen wir schon hammerhart ↓ | 52 TU: dann |reden wir schon extrem so: ↓ | 53 TU: mannemarisch also wenn man spa“ß miteinander haben 54 TU: will dann- * ist mannemarisch halt * wenn man es auf 55 TU: mannemarisch reden würde * also würd=s viel/ also macht 56 TU: es mehr spaß ↓ dann lachen wir auch <se“hr> darüber ↑ * 57 TU: aber wenn es um ernste themen ← geht dann eher lieber 58 TU: deutsch ↓→ oder türkisch ↓ oder beides ↓ 325 In der Öffentlichkeit, in Politik und Fernsehen, kann man Migranten der 2. und 3. Generation Bayrisch, Berlinisch, Schwäbisch oder Kölsch sprechen hören. Aufgefallen ist mir das vor allem an jungen Männern; junge Frauen dagegen scheinen eher zu standardnäheren Formen zu tendieren. Möglicherweise gibt es auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede im Sprachgebrauch wie bei gleichaltrigen Deutschen. So hat Peter Auer bei deutschen, gut ausgebildeten, jungen Frauen eine Tendenz zur Standardsprache festgestellt; sie verwenden viel eher lokal unmarkierte Sprachformen als ihre männlichen Altergenossen, vgl. Vortrag bei der IDS -Jahrestagung 2004. Der kommunikative Stil 437 Die beiden Mädchen unterscheiden sehr klar, welche Varietäten sie für welche Gelegenheiten bzw. für welche Interaktionsmodalität bevorzugen: Ernste Angelegenheiten werden in Deutsch, Türkisch und Mixing bearbeitet, Mannheimerisch ist für sie die Varietät zum Spaß machen, Blödeln und Lachen. D.h., wenn Mannheimerisch verwendet wird, sind damit besondere interaktive und soziale Funktionen verbunden. Obwohl die Mädchen Mannheimerisch nicht als ihre Gruppensprache verstehen, gibt es in ihrem Deutsch Einflüsse der Mannheimer Stadtsprache, z.B. in den für den gesamten (kur-)pfälzer Raum typischen Verschleifungen ham=ma (‘haben wir’), sim=ma (‘sind wir’), ku=ma (‘kuck mal’), bei den Interjektionen alla, alla hopp, 326 den tag-questions gell (‘nicht wahr’) und weeschd (‘weißt du’); manchmal werden Endnasale getilgt wie in ma wolle (‘wir wollen’), Fortes zu Lenes wie in vadder (‘Vater’) und / st/ im Auslaut zu / schd/ bzw. / sch/ wie in hasch=de (‘hast du’) oder kannsch=de (‘kannst du’). Die für den kurpfälzischen Sprachraum typische Reduzierung der Differenz zwischen [c]- und [sch]-Laut kommt ebenfalls vor, doch in spezifischer Weise modifiziert: der [ S ]-Laut wird nach vorne verlagert, palatalisiert und fortisiert; 327 außerdem kommen sprechsprachliche Merkmale wie die Tilgung des Endkonsonants bei is (‘ist’), sin (‘sind’), jetz (‘jetzt’), ma (‘mal’) u.a. vor und die e-Apokope bei der 1.Pers.Sg. z.B. hol=sch, mach=sch. 4.2.2.2 Funktionen des „Mannheimerischen“ in den Gesprächen der „Powergirls“ 328 Da „Mannheimerisch“ nicht die „Sprache“ der „Powergirls“, sondern die der umgebenden deutschen Bevölkerung ist, können Formen des Mannheimerisch durch systematische Verknüpfung mit prosodischen, lexikalischen und pragmatischen Ausdrucksmitteln zu komplexen Variationsmustern kombiniert werden, die eine spezifische interaktive und soziale Bedeutung kontextualisieren; Mannheimerisch kann zum Anzeigen von Kritik, die sich gegen Deutsche aber auch gegen die Eltern richtet, zum Anzeigen von Spiel und 326 alla und alla hopp sind feste Formeln im (kur-)pfälzischen Sprachbereich mit je nach Kontext unterschiedlicher Bedeutung, z.B. Aufforderung, Verabschiedung usw. 327 Ob dabei Interferenzen aus den Herkunftsdialekten der Eltern eine Rolle spielen, müsste von turkologischer Seite aus untersucht werden. Ich beschränke mich hier auf die Charakterisierung von phonologisch-phonetischen Besonderheiten und versuche keine Erklärungen zu geben. 328 Das Folgende ist die überarbeitete Version der Analyse in Kallmeyer/ Keim (2003b). Die „türkischen Powergirls“ 438 Blödelei und zum Verweis auf soziale Kategorien verwendet werden. Im Gegensatz zu „Gastarbeiterdeutsch“ ist die sozial-symbolisierende Verwendung von Mannheimerisch nicht an die (Mit-)Adressierung von Deutschen gebunden. In den aufgezeichneten Materialien spielt die Adressierung von Deutschen zwar eine Rolle; doch die „Powergirls“ verwenden Mannheimerisch auch in Gesprächen untereinander, um - wie sie selbst sagen - Spaß zu machen oder wenn wir uns über Deutsche lustig machen. In den nächsten Kapiteln werde ich die Verwendung der Mannheimer Stadtsprache in folgenden Funktionen darstellen: - zur Zurechtweisung der Mutter (4.2.2.2.1); - zur spielerischen Kritik an deutschen Betreuerinnen (4.2.2.2.2); - zum subversiven Boykott gegenüber deutschen Betreuerinnen (4.2.2.2.3) und - zur Symbolisierung der Kategorie des „dummen Deutschen“ (4.2.2.2.4). 4.2.2.2.1 Zurechtweisung der Mutter Formeln in Mannheimerisch kommen als Ordnungsrufe vor, z.B. her uff (‘hör auf’) oder he: r emo: l (‘hör mal’), als derbe Zurechtweisungen wie halt=s maul oder halt die gosch. Dass derbe Mannheimer Formeln auch gegenüber den Eltern eingesetzt werden können, zeigt der folgende Gesprächsausschnitt. Das Gespräch findet in der Wohnung von Fulya (FU) während des Mittagessens statt. Anwesend sind Fulya, ihre Tochter Teslime, Teslimes Tante und die Ethnografin. Fulya spricht über die bevorstehende Hochzeit der ältesten Tochter und thematisiert dann auch die baldige Heirat Teslimes: [MITTAGESSEN] 01 Te: yiyecen mi yenge ↑ vallah ↑ 02 Ü: willst du essen tante wirklich 03 YA: yo ↓ yimicem 04 Ü: nein ich will nichts 05 FU: vleisch nä/ nächste 06 FU: jahre * T/ Tes/ Teslime heirate 07 TE: >o: : h hald=s gosch< 08 K: ABFÄLLIG 09 FU: hohoho ** 10 K: LACHT TIEF 11 IN: Te“slime LACHT LEISE 11 K: VORWURFSVOLL 12 K&: PAUSE, THEMENWECHSEL Der kommunikative Stil 439 Der Transkriptausschnitt beginnt mit einer auf das Essen bezogenen Frage Teslimes an die Tante, ob sie ihr noch etwas anbieten kann. Die Tante lehnt das Angebot ab (Z. 03) und Teslime reagiert mit dem Ausruf vallah (‘wirklich’, Z. 01). An die Ethnografin gewandt nimmt Fulya das Thema „Hochzeit“ wieder auf und deutet eine mögliche Heirat Teslimes im kommenden Jahr an: vleisch nä/ nächste jahre * T/ Tes/ Teslime heirate (Z. 05, 06). 329 Auffallend ist, dass Fulya bei der Nennung des Zeitpunkts für die Hochzeit und beim Namen der Tochter stottert. Diese Formulierungsschwierigkeiten können - betrachtet man den weiteren Interaktionsverlauf - als ausdrucksseitige Spiegelung von Problemen gedeutet werden, die die Mutter mit Teslimes Heirat hat: Die Eltern wollen, dass Teslime, die seit längerem eine feste Beziehung mit einem jungen Mann hat, aus Gründen der „Ehre“ möglichst schnell heiratet. Doch sie lehnt das ab. Die offene Beziehung zwischen den jungen Leuten ist Klatschgegenstand in der türkischen Gemeinschaft, und die Eltern werden verurteilt, weil sie dulden, dass die Tochter „Schande“ über die Familie bringt (vgl. oben Teil II, Kap. 4.3). Das Thema „Heirat“ ist äußerst brisant, und durch die bevorstehende Hochzeit der älteren Schwester Hülya kommt Teslime stark unter familiären Druck. Noch bevor die Ethnografin, an die Fulya sich gewandt hat, antworten kann, schiebt sich Teslime dazwischen und fordert die Mutter auf zu schweigen: >o: : h hald=s gosch< (‘oh , halt die Klappe’, Z. 07). Die Zurechtweisung ist grob, leiser gesprochen und in abfälligem Ton. Teslime untersagt der Mutter über ihre Heirat zu sprechen, und die Grobheit deutet auf die konfliktbeladene Interaktionsgeschichte zwischen Mutter und Tochter hin. Durch die Verwendung einer deutschen Formel (TE hätte die Mutter auch mit einem türkischen Ordnungsruf „zurückpfeifen“ können) ist die Äußerung an die Ethnografin mitadressiert, d.h., Teslime weist auch ihr gegenüber auf die Konfliktbeladenheit des Themas hin. Für die Mutter bedeutet die grobe Zurechtweisung in Gegenwart einer Außenstehenden eine starke Face-Verletzung. Sie reagiert mit betroffenen Lachen (Z. 09), und die Ethnografin schaltet sich mit einer durch leises Lachen abgeschwächten Ermahnung (Z. 11) ein. Wie der weitere Interaktionsverlauf zeigt, hat Teslime jedoch Erfolg mit der groben Zurechtweisung: Auf den Zwischenfall erfolgt eine längere Pause und dann der Wechsel des Themas, d.h., das für Teslime äußerst unangenehme Thema „Heirat“ wird nicht weiter verfolgt. Das rüde 329 Zu den Charakteristika des Deutsch von Fulya vgl. 4.2.1.1. Die „türkischen Powergirls“ 440 Verhalten signalisiert die enorme Anspannung, unter der Teslime steht. Dass die Mutter sich dagegen nicht verwahrt, zeigt, dass sie in der aktuellen Situation das Übergehen der Face-Verletzung einer offenen Auseinandersetzung vorzieht. 4.2.2.2.2 Spielerische Kritik an deutschen Betreuerinnen In den nächsten Beispielen geht es um die Verwendung von „Mannheimerisch“ bei der Kritik am Verhalten von deutschen Sozialpädagoginnen. Die Beispiele stammen aus Aufzeichnungen bei einem Landschulheimaufenthalt. Die Gruppe, die sich - wie oben bereits ausgeführt (Kap. 2.5) - an einem Videofilm-Wettbewerb in Mannheim beteiligte, plante, um intensiv arbeiten zu können, ein Arbeitswochenende. Gleich nach der Ankunft im Landschulheim wurden tiefgreifende Divergenzen zwischen den „Powergirls“ und den Sozialpädagoginnen des Heims offenkundig, als diese ihre Vorstellungen zum Verlauf des Wochenendes und zu den Arbeiten am Film vortrugen. Die Vorgaben stießen auf massiven Protest: Die „Powergirls“ wollten die Arbeit am Film selbst bestimmen und empfanden die beiden Deutschen als „Lehrerinnen“, die ein schulähnliches Programm durchziehen und ihnen vorschreiben wollten, wie sie das Wochenende zu verbringen und den Film zu machen hatten. Da die Betreuerinnen sich nicht auf die Ideen der Mädchen einlassen wollten, boykottierten diese das Programm der Pädagoginnen und setzten Schritt für Schritt ihre eigenen Vorstellungen durch. Die Betreuerinnen waren durch das aggressive und aus ihrer Perspektive unmögliche Verhalten der Mädchen zunächst rat- und fassungslos, dann verärgert und zogen sich aus der Filmarbeit zurück. Daraufhin hatten die Mädchen freie Hand; sie entwickelten die Filmideen aus Spielen, Musik und Tänzen und weiteten sie zu Filmszenen aus. Jede Szene wurden solange gedreht (auch bis spät in die Nacht), bis die Spielerinnen mit dem Ergebnis zufrieden waren. Der Film wurde ein Erfolg und gewann beim Wettbewerb den ersten Preis. Im Folgenden werde ich einige Verfahren vorstellen, mit denen die Mädchen den Versuch der Pädagoginnen, ihren Plan durchzusetzen, störten. Dabei spielt der Wechsel in „Mannheimerisch“ eine zentrale Rolle. Der folgende Gesprächsausschnitt stammt aus der ersten Sitzung zur Planung des Films, die die Pädagoginnen nach der ersten großen Auseinandersetzung mit den Mädchen einberufen hatten. Zur vorgesehen Zeit erscheinen nur wenige. Es kommt zu Unmutsäußerungen, und die Pädagoginnen werden Der kommunikative Stil 441 aufgefordert, für einen pünktlichen Beginn zu sorgen. Als Didem (DI) die Fehlenden holen soll, lehnt sie das ab, und es entwickelt sich folgende Interaktion: 01 DI: ey isch hab jetz keine lust jetz wieder hoch 02 DI: zu gehn * das soll ma jemand anderes jetz 03 DI: erledigen ho“pp ↑ 04 ME: isch hab schon geschrien * 05 ME: un=die Fatma auch 06 TE: < → ma“nn sch=will 07 K: ÄRGERLICH, 08 TE: keine zeit wegen denen verschwenden hey: ↓← > 09 K: VORWURFSVOLL # 10 ME: → mann was soll des ↑ * wir können 11 ME: genau ohne die vier |(anfangen) ← | 12 DI: |<ja e“ben |* wer geht 13 K: BITTEND 14 DI: die nochmal ru: fn ↑ > 15 K: # 16 TE: ← jetz schbie: le ma tavla: “ odda 17 K: MANNHEIMERISCH 18 TE: so: * will=sch aa noch=n |middags|schlo: f mache: ↑→ 19 K: # 20 ME: hajo: 21 K: MANNHEIMERISCH Didem gibt die Aufforderung, die Fehlenden zu holen, weiter, trifft jedoch auf Ablehnung. Meline begründet das damit, dass sie und ihre Freundin bereits vergeblich gerufen haben (isch hab schon geschrien * un= die Fatma auch, Z. 04f.). Teslime stört, dass alles zu lange dauert (< → ma“nn sch=will keine zeit wegen denen verschwenden hey: ↓← >, Z. 06, 08), und Meline pflichtet bei ( → mann was soll des ↑ , Z. 10). Dann plädiert sie dafür, ohne die Fehlenden anzufangen (wir können genau ohne die vier (anfangen), (Z. 10f.). Didem bestätigt diese Möglichkeit (<ja e“ben, Z. 12), versucht jedoch noch einmal die anderen dazu zu bringen, für einen gemeinsamen Beginn zu sorgen (wer geht die nochmal ru: fn ↑ , Z. 12, 14). Doch weder die Mädchen noch die Pädagoginnen unternehmen etwas. Da wendet sich Teslime an ihre Sitznachbarin mit dem Vorschlag: jetz schbie: le ma tavla: “ odda so: (‘jetzt spielen wir Tavla oder so’, Z. 16, Die „türkischen Powergirls“ 442 18). 330 Dabei wechselt sie in Mannheimisch, signalisiert durch breites, langsames Sprechen, überdeutliche Konturierung der typischen zwei- und dreigipfligen Endkadenz, Längung der Vokale (in schbie: le und so: ) und Tilgung des Endnasals. Nach kurzer Pause folgt, ebenfalls in „Mannheimerisch“, die Frage: ← will=sch aa noch=n middagsschlo: f mache: ↑→ (Z. 18) (mit Monophthongierung in aa (‘auch’), Längung, Rückverlegung und Nasalierung des Vokals in schlo: f, Tilgung des Endnasals, Längung und Vorverlegung des Schwa-Lauts in mache: ). Meline stimmt in Mannheimerisch zu hajo: (Z. 20). Beide kündigen ihre Mitarbeit am Filmprojekt für längere Zeit auf, und verwenden dazu dieselben sprachlichen Mittel. Da Teslime eine der Hauptakteurinnen in dem geplanten Film sein soll, könnte ihr Ausstieg zu Beginn der Planung das Filmvorhaben gefährden und wäre in ernster Modalität eine Drohung. Doch die Interaktion ist spielerisch modalisiert, angezeigt durch den nicht-ernsten Inhalt der Frage - „Mittagsschlaf halten“ gehört nicht zum Normalverhalten der Mädchen -, durch den Wechsel in Mannheimerisch und durch das der Drohung entgegenlaufende Verhalten: die beiden blicken grinsend in Richtung der Sozialpädagoginnen und bleiben sitzen. Sie drohen spielerisch mit dem Ausstieg. Kurz darauf wird „Mannheimerisch“ wieder in spielerischen Interaktionen eingesetzt. Nachdem die Pädagoginnen sich endlich auf die Suche nach den fehlenden Mädchen gemacht und den Raum verlassen haben, präsentiert Hatice (HA) einen Vorschlag, der den Beginn der Filmplanung noch weiter verschiebt: 01 HA: he wisst ihr was ↑ bis die fertich sin könn=wa in 02 HA: unsere zimmer gehen 03 TE: <hajo: ← ma kenne zigaredde raache 04 K: GRÖLT 05 TE: ge“he: * do: was is=e: n ↑ 06 K: # ZEIGT UNTER DEN TISCH 07 Öz: wo is=n die Sonja ↑ 08 ME: (...) LACHT 09 K&: LACHEN,DURCHEINANDER LACHEN 10 ME: dü ş ünsene Sonja gitmi ş uyuyomu ş KICHERT 11 Ü: stell dir vor Sonja wäre gegangen und würde schlafen 12 TE: hajo: konn soi 13 K: LACHEN, DURCHEINANDER 330 Tavla ist die türkische Bezeichnung für das Brettspiel „Backgammon“. Tavla gehört zu den beliebtesten Spielen der Mädchen, das sie stundenlang spielen können. Der kommunikative Stil 443 Der Vorschlag, in die Schlafzimmer zu verschwinden, bedeutet, dass der Versammlungsraum leer ist, wenn die Betreuerinnen zurückkommen. Diesen subversiven Vorschlag treibt Teslime weiter: <hajo: ← ma kenne zigaredde raache ge“he: (Z. 03, 05) und fordert zur Übertretung der Hausordnung auf und zur Missachtung eines wichtigen Ordnungspunktes, den die Betreuerinnen deutlich hervorgehoben hatten. Teslime wechselt wieder in Mannheimerisch (übermäßig langsames Sprechen, Monophthongierung und Tilgung des Endnasals in raa: che ge“he: , Vokallängung und Hervorhebung der dreigipfligen Endkadenz in hajo: und gehe: ). Die anderen lachen und produzieren weitere gegen die Betreuerinnen gerichtete Phantasien. Als Özlem (ÖZ), die gerade in den Raum kommt, nach der Betreuerin Sonja fragt (Z. 07), weist Teslime unter den Tisch (deiktische Partikel do: und Geste, Z. 05), im Sinne von: ‘Sonja sitzt unter dem Tisch’. Alle lachen und reden durcheinander. Auf Teslimes Nachfrage (was is=e: n ↑ , Z. 05) spinnt Meline das Spiel fort: Sonja hat sich der Auseinandersetzung durch Rückzug ins Bett entzogen und den Mädchen das Terrain überlassen (düşünsene Sonja gitmiş uyuyomuş KI- CHERT, ‘stell dir vor Sonja wäre gegangen und würde schlafen’, Z. 10). In den spielerischen Aktivitäten verwendet Teslime durchgehend Formen des Mannheimerischen. Die Konsistenz der Verwendung zeigt, dass sie mit dieser Sprachform vertraut ist und sie während einer längeren Interaktion durchhalten kann. Die spielerische Interaktion findet in Abwesenheit der Betreuerinnen statt und geht auf ihre Kosten. 4.2.2.2.3 Subversiver Boykott gegenüber deutschen Betreuerinnen „Mannheimerisch“ kommt auch in direkten Adressierungen an die Betreuerinnen vor und wird in Sequenzen, die die Initiativen der Betreuerinen stören, verwendet. Im folgenden Beispiel, das an die vorher beschriebene Situation anschließt, wird es eingesetzt, um den Beginn der Sitzung zur Planung des Films zu boykottieren. Als endlich alle beisammen sitzen, versucht Sonja (SJ) die Planungssitzung zu eröffnen. Sie startet mit einer Eröffnungssequenz, kann sich aber kein Gehör verschaffen. Nach einiger Zeit wird sie von der Ethnografin unterstützt, die sich an Teslime, die am lautesten redet, wendet, und bittet, Sonja zu Wort kommen zu lassen: 01 IN: Teslime * die Sonja will jetz ma kurz was sagn * jetz 02 IN: lass ma gra=die Sonja 03 SJ: <also gutn mo“rgn> 04 TE: +<gude mo: ge: > 05 K: GRÖLT Die „türkischen Powergirls“ 444 06 TU: Teslime sanki hiperaktif weeschd ↑ 07 Ü: Teslime ist wie hyperaktiv weeschd 08 K: LACHEN LACHEN 09 SJ: ey kann ich ma kurz was sagn dann könnt ihr wieder redn 10 TE: < ← ha: jo: → > 11 K: PROTEST IN MIXING (DURCHEINANDER) 12 TE: <ha: jo: > * 13 K: LEISES LACHEN, PAUSE, DANN STELLT SJ 14 K: DAS PROGRAMM VOR Nach der Intervention der Ethnografin übernimmt Sonja den Turn, markiert den Einstieg in die Sitzungseröffnung durch Diskursmarker also und begrüßt alle: gutn mo“rgn> (Z. 03). Noch bevor die Adressatinnen mit der zweiten Grußformel antworten können, reagiert Teslime laut grölend: gude mo: ge: (Z. 04); dabei wechselt sie in Mannheimerisch (Tilgung des Endnasals, Lenisierung der Fortis, Längung und Nasalierung des Vokals in mo: ge: ) und benutzt die Grußformel zur Störung der Initiative von Sonja. Die anderen lachen und Turna (TU) vergleicht in Teslime sanki hiperaktif weeschd ↑ (‘Teslime ist wie hyperaktiv, weißt du’, Z. 06f.) das Verhalten Teslimes mit dem eines hyperaktiven Kindes, das ungebremst agiert und die anderen nervt. Das ist keine Kritik, sondern eine Art „augenzwinkerndes“ Offenlegen des provozierenden Verhaltens gegenüber Sonja, das die anderen durch Lachen bestätigen. Durch den Wechsel in Türkisch kann Sonja das gegen sie gerichtete Einverständnis zwischen den Mädchen nicht verstehen. Dann fordert sie mit ey kann ich ma kurz was sagn dann könnt ihr wieder redn (Z. 09) zur Ruhe auf. Teslime nimmt die formelhafte Aufforderung wörtlich und antwortet mit < ← ha: jo: → > (Z. 10) im Sinne von: „ja, du kannst was sagen“. In Kombination mit dem Grölen ist das eine weitere Provokation, Teslime stört Sonjas Absicht, mit dem Programm zu beginnen. Dieses Mal protestieren die anderen, d.h., aus ihrer Perspektive hat Teslime die Provokation überzogen. Da der Protest in Mixing realisiert ist, 331 ist Sonja wieder von der Interaktion über Teslimes Verhalten ausgeschlossen. Das Spiel endet mit einer nochmaligen Provokation (<ha: jo: >, Z. 12), und nach einer Pause kann Sonja mit dem Programm beginnen. Elemente des „Mannheimerischen“ werden in Äußerungen verwendet, in denen die Sprecherin die Initiativen der Pädagogin durch Provokation und Boykott zu unterlaufen versucht. Die hartnäckig provokative Haltung zeigt 331 Die Äußerungen sind leider wegen des Durcheinanderredens nicht transkribierbar, doch als Protestäußerungen in Mixing verstehbar. Der kommunikative Stil 445 sie in Reaktion auf die Absicht der Pädagogin, die Planung des Films nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und die Wünsche und Interessen der Mädchen nicht zu berücksichtigen. 4.2.2.2.4 Symbolisierung des „dummen Deutschen“ Im nächsten Beispiel, das kurz nach der im vorangegangenen Kapitel dargestellten Interaktion folgt, spielt die Kategorie des „dummen Deutschen“ die zentrale Rolle der subversiven Auseinandersetzung mit den Pädagoginnen. Als auf Sonjas Programmvorschlag Unmutsäußerungen und Protest folgen, wendet sich Teslime an die neben ihr sitzende Meline (ME), und beginnt folgendes Spiel: 39 K&: DURCHEINANDER 40 TE: <hajo: : * mer kenne dschogge gehe: * hey du=ned 41 TE: schloofe * LACHT >[...]< ** 42 TE: <ey Meline: : * donn du=mer in die kirsch gehe un donn 43 TE: dschogge: * nemm doin foddo un donn sim=mer zum 44 TE: middagesse widda do: * geh mer schloofe: [...] 45 ME: hajo: 46 TE: ma gehe in die kirsch un dono: ch geh mer 47 TE: dschogge un donn middagesse un donn schönheitsschloof 48 ME: dschogge mi dem bu: isch konn ned emo laafe 49 TE: awoo: 50 ME: hajo: he: r ↑ 51 HI: ey die monnemer sin doch alle hie“r odda ↑ 52 TE: hajo: 53 ME: jo: jo: 54 K: LACHEN Die gesamte Spielinteraktion, die von Teslime initiiert und von Meline ratifiziert wird, ist in „Mannheimerisch“; sie hat folgende Ablaufstruktur: - TE beginnt mit der Interjektion hajo: , deren übertreibende Intonation einen Wechsel in Sprache und Sprechweise und eine nicht-ernste Interaktionsmodalität signalisieren; - dann folgt das erste Spielangebot: TE macht der Freundin den Vorschlag: mer kenne dschogge gehe (‘wir können joggen gehen’, Z. 40), und als Die „türkischen Powergirls“ 446 diese nicht reagiert, ruft sie sie scherzhaft zur Ordnung: hey du=ned schlo: fe; (‘hey tu nicht schlafen’, Z. 40, 41); - darauf folgt ein zweites Spielangebot: TE lacht laut auf und präsentiert eine neue Idee: donn du=mer in die kirsch gehe und donn dschogge: * […] donn sim=mer zum middagesse widda do: * geh mer schloofe (‘dann tun wir in die Kirche gehen und dann joggen, dann sind wir zum Mittagessen wieder da, dann gehen wir schlafen’, Z. 42-44); - die Freundin ratifiziert den spielerischen Vorschlag: hajo: (Z. 45); - daraufhin expandiert TE die Spielidee: ma gehe in die kirsch un dono: ch geh mer dschogge un donn middagesse un donn schönheitsschloof (wir gehen in die Kirche und danach gehen wir joggen und dann Mittagessen und dann Schönheitsschlaf’, Z. 46f.); - diesen Vorschlag weist ME mit der Begründung zurück: dschogge mi dem bu: isch konn ned emo laafe (‘joggen mit dem Jungen? ich kann nicht einmal laufen’, Z. 48). Als TE den Einwand zurückstuft awoo: (‘ach was’, Z. 49), besteht ME auf ihrer Sicht hajo: he: r (‘natürlich, hör mal’, Z. 50); - darauf folgt eine abschließende Interpretation und Bewertung der Spielszene durch HI: ey die monnemer sin doch alle hie“r odda ↑ (Z. 51), im Sinne von: „Die Mannheimer sind doch alle bescheuert“. Die beiden Darstellerinnen stimmen nachdrücklich zu (ha: jo: , Z. 52 und jo: jo: , Z. 53) und die anderen lachen (Z. 54). Die in der Szene dargestellten Handlungsmuster haben sozialtypische Qualität. TE entwirft ein Programm zum Zeitvertreib, das nicht aus ihrer eigenen Lebenswelt stammt. Es ist ein Sonntagsprogramm, das typisch ist für eine soziale Welt der Deutschen mit festem Tages- und Wochenrhythmus, wo zum Sonntag normalerweise der Kirchgang gehört, etwas Sport treiben (kein aufwändiger, teurer oder gefährlicher Sport), Essen und Schlafen nach dem Essen. Die in dieser sozialen Welt lebenden Deutschen werden als relativ anspruchslos und in einem festen, schlichten Schema lebend charakterisiert. Mit schönheitsschloof präsentiert Teslime ein sozial typisierendes Detail: Hier spricht eine Frau, die auf ein sportlich-jugendliches Aussehen bedacht ist und viel dafür unternimmt. Dagegen ist die Person, die ME verkörpert, familiär gebunden und hat die Verantwortung für die Betreuung eines Kin- Der kommunikative Stil 447 des. Die beiden Sprecherinnen verhandeln hier zwei typische weibliche Lebensprogramme, die durch ähnliche Eigenschaften geprägt sind, durch einen festen Ablauf und inhaltlich bescheidene Zielorientierungen. Das Spielmaterial nehmen die Mädchen aus einer sozialen Welt, die sie aus ihrem Lebensumfeld kennen, aus der Welt des derben, schlichten, Dialekt sprechenden Mannheimers. Mit dem dargestellten Handlungsmuster, der verwendeten Sprache und Sprechweise setzen sie die soziale Kategorie des „dummen Deutschen“ in Szene, der sich mit dem Sprechen und Verstehen schwer tut und in einer engen und unflexiblen Welt lebt. Im Zentrum des Spiels steht der Kontrast zwischen dem Leben des „dummen Deutschen“, einem Leben in fester Ordnung, eingepasst in ein enges Wochenprogramm mit bescheidenen Zielen (Schönheitsschlaf als Form von Luxus) und den Mädchen als kreativen Spielerinnen. Diese Kontrastherstellung hat direkte Bezüge zur aktuellen Situation, dem Drängen der Mädchen nach einem in ihrem Sinne kreativen Wochenende und den engen, starren Vorgaben der Pädagoginnen. Mit der Symbolisierung des „dummen Deutschen“ reagieren sie auf die in der aktuellen Situation offenkundig gewordene Enge der Pädagoginnen und ihre Unfähigkeit, und sie in der Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu unterstützen. Die Symbolisierung ist eine übertreibende Spiegelung der an den deutschen Betreuerinnen wahrgenommenen Eigenschaften, und sie ist gleichzeitig eine Art Bestrafung für ihr herabsetzendes Urteil. Das Spiel hat in der konkreten Situation subversiven Charakter. Es entwickelt sich in einer Nebenkommunikation, kommt dann aber in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit und verarbeitet die Divergenz zwischen eigener Fähigkeit und entgegengebrachter Abwertung. Diese Divergenz erleben die „Powergirls“ in Beziehungen zu deutschen Lehrenden und Betreuenden, die ihre Fähigkeiten nicht erkennen, und sie als störend, ungehörig und undiszipliniert ablehnen. Die Divergenz erleben sie aber auch im Kontakt mit typischen „dummen Deutschen“ aus der direkten Nachbarschaft, von denen sie als „scheiß Ausländer“ beschimpft werden. Die tiefere Bedeutung des Spiels ist das Aufzeigen der eigenen Überlegenheit durch Spott und Lächerlichmachen von Eigenschaften der Anderen, von denen sie sich abschätzig behandelt fühlen. Die „türkischen Powergirls“ 448 4.2.2.3 Schlussbemerkung Die Beispiele zeigen, dass die Verwendung von Formen der Mannheimer Stadtsprache vielgestaltig ist. Sie werden zur Kontextualisierung von Blödelei und Spiel verwendet, wobei in den analysierten Beispielen das Spiel auf Kosten von Deutschen geht. Die „Powergirls“ machen bestimmte Verhaltensweisen ihrer deutschen Bezugspersonen (Lehrende/ Betreuende) lächerlich und distanzieren sich davon. Gegenüber den Eltern können Formen Mannheimer Stadtsprache zur Zurechtweisung eingesetzt werden. Sie dienen jedoch vor allem zur Symbolisierung der Kategorie des „dummen Deutschen“, d.h., Deutschen aus dem direkten Lebensumfeld, die sie als inkompetent, eng, schlicht und grob erlebt haben, und die sich ihnen gegenüber abschätzig und „ausländerfeindlich“ verhalten. 4.2.3 Verwendung von „Ghettodeutsch“ 4.2.3.1 Das „Ghettodeutsch“ im Stadtgebiet Die Merkmale des „Ghettodeutsch“ wurden oben (Kap. 2.1.2) bereits ausführlich behandelt. Zur Erinnerung: „Ghettodeutsch“ ist eine vereinfachte Form des Umgangsdeutschen, vor allem charakterisiert durch Ausfall von Präposition und Artikel in Präpositionalphrasen, Ausfall des Artikels in Nominalphrasen, Ausfall von anaphorischen und suppletiven Pronomina, andere Genera, Generalisierung einfacher Verben (gehen, kommen, machen), Verwendung von Formeln wie isch schwör zur Bestätigung und isch hass des zur negativen Bewertung; Verwendung türkischer Formeln zur Anrede, Begrüßung, Verabschiedung, Beschimpfung und als Interjektionen und Diskursmarker. Angriffs- und Verteidigungsbereitschaft werden durch eine aggressive Sprechweise verdeutlicht. Außerdem gibt es eine spezielle Art der Informationsvermittlung, die einen hohen Grad an geteiltem Wissen voraussetzt und nur einen geringen Teil dessen explizit macht, was für den Gesprächspartner zum Verständnis notwendig ist. Die Lehrkräfte in den „Ghetto“-Schulen kämpfen vergeblich gegen Formen des „Ghettodeutsch“ und beklagen, dass auch in den oberen Klassen Schüler immer noch fragen darf=sch toilette oder ihr Zuspätkommen durch: sch=war doktor mit meim mutter entschuldigen. Nach meiner Beobachtung können Schulkinder bereits sehr früh zwischen „ghettosprachlichen“ und standardnahen Formen unterscheiden. In den Sprachförderkursen, die wir in den 1. Klassen von Schulen mit hohem Migrantenanteil durchführen, ist bereits nach kurzer Der kommunikative Stil 449 Förderzeit Umgangsdeutsch die Normalform in der Kindergruppe geworden. 332 Das zeigen folgende Beispiele. Sie stammen aus einer 1. Klasse mit 100% Migrantenkindern. Im ersten Beispiel betrachten ein albanisches Mädchen Erma (ER) und ein türkischer Junge Tugay (TU) Faschingsfotos von ihrem Freund Dennis und kommentieren die Fotos folgendermaßen: 01 ER: Dennis hat sich verkleidet als eine frau un der Ahmnet 02 ER: hat ihn geheiratet * so=n spie: l 03 TU: ja ey kuck ehm der 04 TU: hat sich verkleidet zu eim frau * der hat sich 05 TU: geschminkt * geschminkt↑ des war der * isch wusste 06 TU: gar nischt dass des der Dennis is Mit Ausnahme der Präpositionalphrase zu eim frau (Z. 04) entsprechen die Sprachformen beider Kinder nativen Formen Gleichaltriger. Das ist auch im nächsten Beispiel der Fall, in dem Erma und Tugay sich über Dennis (DE) lustig machen, weil er ständig auf die Toilette gehen will. Erma schlägt vor, dass Dennis eine Windel bekommt, was er entrüstet ablehnt: 01 DE: nei“n 02 ER: doch wenn du kaka machst oder pipi * machst du 03 ER: da drauf 04 IN: du kriegst ne windel wenn du dauernd auf=s 05 IN: klo musst 06 ER: am baby macht ma des immer 07 TU: oder du gehst 08 TU: ins krankenhaus * weil du immer pipi machen musst 09 TU: >vielleicht hat=a magen un 10 IN: ja vielleicht is=a krank 11 TU: darmgrippe< <vielleicht hat=a ma: gen un 12 IN: bitte↑ 13 TU: da“rmgrippe> 14 IN: mhm↓ Auch hier zeigen die Kinder, dass sie die deutschen Strukturen im Wesentlichen erworben haben und auch komplexere Sachverhalte problemlos ausdrücken können. Interessant ist jedoch, dass dieselben Kinder auch „ghetto- 332 Eine Beschreibung der Förderkurse und die Darstellung des Fördererfolgs an einem Beispiel erfolgt in Keim (2007a); vgl. auch die Vorträge von Keim/ Aslan bei der DGfS in Mainz, 28.02.2004; vgl. die Fortbildungsveranstaltungen von Keim/ Aslan in Mannheim, Juni 2004 und September 2004. Die „türkischen Powergirls“ 450 sprachliche“ Formen verwenden, in Formulierungen wie isch muss toilette und isch bin erste klasse, die sie von älteren SchülerInnen gehört haben. Nach meiner Beobachtung lernen die Kinder bereits in diesem Alter die soziale Bedeutung der unterschiedlichen Sprachformen kennen: „ Ghettosprachliche“ Formen „gehören“ den SchülerInnen, sind für sie normale Sprachformen. 333 . Sobald die Kinder oppositive Haltungen gegenüber Lehrenden einnehmen, werden dafür auch ethnolektale Formen verwendet, von denen sie wissen, dass die Lehrenden sie ablehnen. 334 Im Deutsch der jüngeren „Powergirls“ alternieren Elemente des „Ghettodeutsch“ mit standardnahen Formen. In Situationen mit deutschen Lehrenden und Betreuenden können „ghettosprachliche“ Elemente in markierter Form verwendet werden; d.h., dann wird durch die Kookkurrenz mehrerer Elemente ein lokaler Kontrast zu vorangehenden und nachfolgenden Sprachformen hergestellt, und es wird ein Wechsel in Sprache und Sprechweise signalisiert. „Ghettosprachliche“ Formen können je nach kontextuellen Voraussetzungen und Bezügen entweder zur Identifizierung mit der Jugendszene des Stadtgebiets und ihren spezifischen Kommunikationsformen oder aber zur Distanzierung davon eingesetzt werden. Die Sprachbewegungen zwischen standardnahem Deutsch und ghettosprachlichen Formen und die verschiedenen Verwendungsweisen lassen sich sehr gut an einem längeren Gespräch, das in der Umkleidekabine der Schulsporthalle zwischen 14-15-jährigen Hauptschülerinnen der 8. Klasse und ihrer deutschen Sportlehrerin Carola stattfindet, darstellen. 335 Zwei Mädchen, Hafize und Özlem, gehören zum Zeitpunkt der Aufnahme zu den „Powergirls“. Mit Ausnahme von Nol, die aus einer deutsch-thailändischen Familie stammt, sind die beteiligten Mädchen türkischer Herkunft. Im Verlauf des Gesprächs zwischen den Mädchen und Carola werden verschiedene Themen behandelt und verschiedene Interaktionsmodalitäten hergestellt. Das Sprachverhalten der Mädchen verändert sich in Abhängigkeit von Thema, Interaktionsmodalität (z.B. Ernst, Spiel, Ironie) und Perspektivierung und mit der Distanzierung von oder Identifikation mit dem verhandelten Sachverhalt oder Ereignis. Dabei ist folgender Zusammenhang beob- 333 Vgl. dazu Keim (2005a), vgl. auch Keim/ Knöbl (2007). 334 Von älteren Schülern weiß ich, dass sie „ghettosprachliche“ Formen Lehrenden gegenüber dann einsetzen, wenn sie sie ärgern wollen. 335 Das Folgende ist eine überarbeitete und erweiterte Version von Kallmeyer/ Keim (2003a). Der kommunikative Stil 451 achtbar: Wenn die Mädchen in ernster Modalität über ein Thema sprechen, das sie bewegt und bei dem sie Carola als Vertraute behandeln und um ihr Verständnis werben, verwenden sie untereinander und gegenüber Carola relativ standardnahe Sprachformen. Markiert „ghettosprachliche“ Formen dagegen kommen vor, wenn sie mit Carola ein Doppelspiel treiben oder wenn sie Verhaltenskritik an einem Gruppenmitglied üben, die Kritisierte als „derbes Ghettokind“ charakterisieren und sich von ihr distanzieren. 4.2.3.2 Ernste Interaktionsmodalität ohne ghettosprachliche Formen Ich werde zunächst einen Gesprächsausschnitt darstellen, in dem in ernster Interaktionsmodalität ein wichtiges Thema verhandelt wird, das verletzende Verhalten türkischer Jungen gegenüber den Mädchen. Das Thema entwickelt sich, als Carola vorschlägt, mit den Mädchen zu einer Disco-Party in den „Jugendkeller Jungbusch“ zu gehen, die von türkischen Jungen veranstaltet wird. Zu Carolas Überraschung lehnen die Mädchen ab und führen verschiedene Begründungen an: 66 CO: |am a“chtnzwanzigsten-| 67 EM: ich komm auch |nich so gerne in den | jungbusch ↓ 68 NO: da kann ich |net | 69 CO: |ihr seid alle grad voll |hart drauf ↓ 70 HA: mm * ich kann |eh“ nich ↓ ich darf da net ↓ | 71 HA: nee ich da/ * darf ich darf eh“ net ↓ von sieben 72 HA: bis dreinzwanzisch uhr und isch: → würd bestimmt 73 HA: >au=net dort hingehn mein bruder is dort ↓← < 74 HA: ** thh * ich geh doch net mit ihm auf die pa“rty ↑ 75 K: MISSBILLIGENDER LAUT Nol (NO) lehnt ab, weil sie zum genannten Termin keine Zeit hat (Z. 68), Emine (EM) drückt ganz allgemein ihre Unlust über den Veranstaltungsort aus (Z. 67), 336 und Hafize (HA) führt als Entschuldigungsgrund an, dass sie abends Ausgehverbot hat, deckt dann aber als eigentlichen Grund auf, dass ihr älterer Bruder ebenfalls auf der Party ist (Z. 71-74). Die Mädchen meiden Veranstaltungen, auf denen ihre Brüder auftauchen, da sie sich kontrolliert fühlen. Etwas später jedoch legen sie voller Empörung offen, dass sie den Discokeller meiden, weil die Jungen dort voll die Assis sind: 336 Die Referenz „in den Jungbusch“ ist hier eine Abkürzung für die Jugendeinrichtung im Jungbusch; zum Stadtteil Jungbusch vgl. oben Teil I, Kap. 1 Die „türkischen Powergirls“ 452 190 GL: <des sin vo“ll die a“ssis ↓ > 191 EM: < ← des si“nd assis → > 192 HA: kei“ner is dort hi“ngegangen und is wieder 193K: ERREGT 194 HA: rischtisch rausgekommen mit seim eignen na“men ↓ je“der 195 K: # 196 HA: de“r dort hingegangen is * wurde als hure beschimpft ↓ 197 CO: ja ihr |redet jetzt von ju“ngs oder mädels ↓ | 198 HA: |die brauchen mir des nich beizubringen ↓ | 199 CO: meint |ihr jetz-| 200 HA: |< ← jungs ↓→ >| 201 ÖZ: |ah die | |ju“ngs ham | die mädschn damit- * 202 K: ERREGT # 203 HA: ja“ provo|ziert * [...] 204 ÖZ: <ja“ ↓ überhau“pt- * → je“des 205 ÖZ: mädchen was dort hingegangen is äh: hat man dann 206 ÖZ: später gemerkt ← > * na: äh er meint zum beispiel 207 ÖZ: jetz- * äh“=sie=s doch → sowieso die hure ↓ * 208 ÖZ: aber des warn die“jenigen die ← >äh< die ju“ngs die 209 ÖZ: ihr=n namen als=ne hure beigebracht haben- Wenn die Mädchen eine Einladung in den Discokeller annehmen, verlieren sie ihren guten Namen, weil die Jungen dann schlecht über sie reden und sie als Hure beschimpfen. Den Vorgang des Namensverlusts beschreibt Hafize metaphorisch: „ohne den eigenen Namen wieder rauskommen“ (Z. 192f.). Als Corinna ungläubig reagiert, illustriert Özlem mit einer generalisierten Szene das verwerfliche Verhalten der Jungen (Z. 204-209): Sie setzt einen Jungen in Szene, der ein Mädchen abfällig als Hure bezeichnet, das er durch sein Verhalten erst dazu ermutigt hat, sich auf ihn einzulassen. In der gesamten Schilderung gibt es keine ethnolektalen Merkmale. Auffallend sind allerdings einige Formulierungen bei der Darstellung des Verlusts des guten Rufs. Die Konstruktion nicht mit seinem eigenen namen rauskommen (vgl. Z. 192f.) erinnert an türkische Phaseologien, die im Zusammenhang mit der Beschreibung von Ehrverlust oder Verlust des guten Rufs gebraucht werden, wie adımla çıkmak = wörtl.: mit meinem (guten) Namen (aus einer schwierigen Situation) herauskommen oder şerefimle çıkmak = mit meiner Ehre herauskommen. D.h., bei der Formulierung dieses Zusammenhangs scheinen türkische Konzepte und ihre sprachliche Realisierung Der kommunikative Stil 453 eine Rolle zu spielen. Bei der Konstruktion den Namen als Hure beibringen (vgl. Z. 209), die Özlem verwendet, liegen keine Einflüsse aus dem Türkischen vor. Das scheint eine Formulierung zu sein, die sich unter den Mädchen herausgebildet hat, denn etwas später im Gespräch formuliert Hafize in ähnlicher Weise: alle fünf jungs ham dann über sie gehetzt und haben * ← ihr=en namen als hure beigebracht →↓ . In dieser Interaktion, in der die Mädchen ernst und empört beleidigendes Verhalten anderer verarbeiten und um Carolas Verständnis werben, gibt es zwar Auffälligkeiten im phraseologischen Bereich, aber keine typisch ghettosprachlichen Merkmale. 4.2.3.3 Subversives Spiel gegenüber der Lehrerin Im Unterschied dazu werden in der folgenden Gesprächssequenz, in der Carola den Mädchen Aufgaben für das Volleyball-Training zuteilt, ethnolektale Formen strategisch eingesetzt. Zur Situation: Da eines der Mädchen, Nol, beim letzten Training unentschuldigt gefehlt hatte, gibt Carola ihr zur Strafe eine Zusatzaufgabe; sie soll die Sporthalle für das Training umbauen. Dagegen wendet Nol ein, dass das nicht geht, da sie sofort die Sporthalle verlassen muss, weil sie vor der Halle auf ihren kleinen Bruder warten muss (der vom Kindergarten kommt), um ihm den Hausschlüssel zu geben. Wie etwas später deutlich wird, nimmt sie die Fürsorge für den kleinen Bruder zum Vorwand, um sich vor der Strafarbeit zu drücken, die ihr Carola zugeteilt hat. In der Aushandlungsphase verwendet Nol ghettosprachliche Formen und die unter „Ghettojugendlichen“ typische Darstellungsstruktur: Es werden Vordergrundelemente des Sachverhalts präsentiert und Plausibilisierungen oder Hintergrundinformationen, die das Verständnis für Nicht-Eingeweihte sichern helfen, werden ausgelassen. Die Präsentation von Information in kleinen Schüben erfordert die ständige Mitarbeit der Rezipientin, da sie das zum Verständnis Notwendige Zug um Zug erfragen muss. Mit diesem Verfahren provoziert Nol die Sportlehrerin und setzt durch (unterstützt durch die anderen Mädchen), dass sie den Unterricht verlassen darf. Die Bearbeitung von Nols Anliegen geschieht in folgenden Schritten: a) der Darstellung des Sachverhalts (warum Nol den Raum verlassen muss), b) der Kritik an Nols Darstellungsweise und c) der Aufdeckung des subversiven Spiels durch Nol. Die „türkischen Powergirls“ 454 a) Darstellung des Sachverhalts Noch während Carola mit einem anderen Mädchen, Özlem, über das Volleyball-Training spricht, beginnt Nol ihre Anliegen darzustellen. Mit Beginn der Interaktion zwischen Nol und Carola findet eine parallel laufende Nebeninteraktion zwischen Emine und Behiye in Türkisch statt, in der sie Nols Anliegen kommentieren und Hintergründe offen legen. 620 CO: dann wird=s spiel heut besser sein ↑ * die Alina 621 CO: |is net da ↑ | hm ↑ 622 NO: |< ← Carola → > | >mein bruder kann 623 ÖZ: |weil wir weniger| sind ↓ ** 624 NO: nich nach hause ↓ | * die laufen hier gleich vorbei ↓ < 625 CO: und da“nn ↑ 626 EM: +>ya e ş ek ko ş turur gibi< 627 Ü: als ob sie esel treiben würde 628 BI: |>biz 629 Ü: wir 630 NO: |>isch 631 CO: >die solln doch 632 BI: top oynarız< kendisi ne (...icmek? ) | 633 Ü: spielen Ball was sie will (ist rauchen? ) 634 NO: muss rausgehn schlüssel geben ↓ <| ** 635 CO: kli“ngeln ↑ < 636 BI: |istiyo onu (... ... ...) | 637 Ü: sie will das machen (...) 638 NO: |aber sie wissen doch nicht-| * >davon ↓ < 639 K&: GEKICHER 640 CO: < ← was ↓→ > * 641 HA: |dass sie hier| ist ↓ 642 NO: | ← äh dass- → | dass 643 CO: ← wieso ↑→ * <du machst immer=n * 644 NO: isch=b/ hier bin ↓ 645 CO: blö“des zeu“g aus ↓ des g/ des macht mich ra“send ↓ * 646 K: HOCH 647 K&: ALLE KICHERN 648 CO: ← ni“chts → is normal bei der ↓ e“cht ↓ *2* ← was heißt 649 K: HOCH GENERVT 650 CO: |dein bruder läuft hier vorbei ↓ | dann soll=er doch 651 K: # 652 HA: |hele de gel sen onu bana sor| 653 Ü: wem sagst du das 654 CO: vorbei“laufen ↓→ * der |kann doch ru“mlaufen zu=d/ | 655 NO: |>nein der wei“ß nix ↓ | Der kommunikative Stil 455 656 CO: <wa“s> hat=se gesagt- 657 NO: meine mutter hat mir gesagt-< * 658 NO: >ja dass ich den=n schlü“ssel geben muss-< 659 ÖZ: ja sonst 660 CO: |wie“ denn ↓ | 661 HA: |<erzäh“l| |doch mal ge|schei“t lan ↓ 662 K: SCHREIT FAST 663 ÖZ: kommn die nich |rei“n ↓ | Überlappend mit Carolas und Özlems (ÖZ) (Z. 623) Redebeiträgen, adressiert Nol Carola namentlich (Z. 622), spricht lauter, langsamer und erhält nach einer Pause ihre Aufmerksamkeit (hm ↑ , Z. 621). Sie fährt dann fort: >mein bruder kann nich nach hause ↓ * die laufen hier gleich vorbei ↓ < (Z. 622, 624). Nol wechselt unvermittelt das Thema, ohne Plausibilisierung oder Entschuldigung dafür, dass sie in die Diskussion über das Volleyballspiel eingreift und Carola aus der Interaktion mit Özlem herauslöst. Noch bevor Carola reagiert, kommentiert Emine in einer Nebenbemerkung (leiser, Wechsel in Türkisch, das Nol und Carola nicht verstehen) den Beitrag: +>ya eşek koşturur gibi< (‘als ob sie Esel treiben würde’, Z. 626). Mit dem Bild von Nol, die die Jungen wie Esel vor sich hertreibt, macht sie sich lustig über sie. Carola reagiert auf Nols Äußerung mit der Nachfrage und da“nn ↑ (Z. 625) und zeigt, dass ihr die Relevanz der Äußerung nicht klar ist und sie eine Erläuterung erwartet. Darauf liefert Nol die nächste Information: >isch muss rausgehen schlüssel geben ↓ < (Z. 630, 634). Implizit ist das eine Bitte bzw. Forderung an Carola, sie aus dem Unterricht zu entlassen, damit sie den Jungen den Hausschlüssel geben kann. 337 Simultan dazu deckt Behiye (BI) gegenüber Emine in Türkisch auf, wie sie Nols Anliegen versteht: >biz top oynarız< kendisi ne (…icmek? ) (‘wir spielen Ball, was sie will (is rauchen? )’, Z. 628, 632), nämlich als Ausflucht, um sich vor der Aufgabe, die ihr Carola aufgetragen hat, zu drücken. Carola reagiert mit einem Alternativvorschlag: die solln doch klingeln (Z. 631, 635), den Nol sofort mit der Begründung zurückweist: aber sie wissen doch nicht davon (Z. 638); d.h., ihr Problem lässt sich nicht in der Weise lösen, wie Carola vorgeschlagen hat. Simultan setzt Behiye die Nebenaktivi- 337 Die in die laufen hier vorbei (Z. 624) bezieht sich auf Nols Bruder Nei und dessen Freund Andreas, das macht Hafize etwas später deutlich, vgl. unten Z. 667. Dass der Bruder nicht allein ist und mit einem Freund an der Halle vorbeiläuft, wird nicht explizit gesagt; es ist nur durch das Pronomen im Plural zu erschließen. Die „türkischen Powergirls“ 456 tät fort und kommentiert wieder in Türkisch Nols Verhalten: istiyo onu (…) (‘sie will das machen (…)’, Z. 636). Carola hat Nols Einwand nicht verstanden und fragt nach ← wa: s ↓→ (Z. 640); durch langsameres Sprechen, Dehnung und sinkende Endkadenz signalisiert sie beginnende Ungeduld. Darauf kichern die Mädchen und Hafize liefert das fehlende Informationsstück dass sie hier ist ↓ ( Z. 641), das Nol bestätigt: ← äh dass- → dass isch=b/ hier bin ↓ (Z. 642, 644). Die Art und Weise, wie Nol ihr Anliegen präsentiert, zwingt Carola zu Nach- und Hintergrundfragen, d.h., die zum Verstehen notwendige Information muss Zug um Zug hervorgebracht werden. Die Beiträge Nols berücksichtigen das mangelnde Hintergrundwissen von Carola nicht und machen die Relevanz des Anliegens nicht explizit. Diese Art der Präsentation erfordert auf Seiten der Adressatin eine hohe Inferenzleistung und erschwert das Verstehen. Nol präsentiert ihr Anliegen als eine Art Rätsel und gibt auf Nachfragen nur soviel Information, dass Carola der Rätsellösung ein Stückchen näher kommen kann. Jetzt reagiert Carola mit einem expressiven Kommentar zu Nols Verhalten: ← wieso ↑→ * <du machst immer=n blö“des zeu“g aus ↓ des macht mich ra“send ↓ * ← ni“chts → is normal bei der ↓ e“cht (Z. 643, 646, 648). Sie charakterisiert Nols Verhalten als außerhalb des „Normalen“ stehend ( ← ni“chts → is normal bei der ↓ ) und bewertet es negativ (macht mich ra“send ↓ ). Die spielerische Modalisierung schwächt zwar die negative Bewertung ab, doch Carola zeigt, dass Nol sie nervt. Die anderen amüsieren sich (kichern) über diesen Ausbruch von Gereiztheit, und Hafize stimmt Carolas Charakterisierung zu (hele de gel sen onu bana sor, ‘wem sagst du das’, Z. 652). Durch die Verwendung von Türkisch konstituieren die türkischsprachigen Mädchen eine die Vordergrundinteraktion kommentierende und bewertende Nebeninteraktion. Als Carola nochmals klar macht, dass sie den Zusammenhang nicht versteht ( ← was heißt dein bruder läuft hier vorbei ↓ dann soll=er doch vorbei“laufen ↓→ * der kann doch rumlaufen, Z. 648, 654), liefert Nol wieder ein Stückchen Information >nein der wei“ß nix ↓ ( Z. 655), fährt nach kurzer Pause fort: meine mutter hat mir gesagt-< (Z. 657) und bricht ab. Da sie nicht fortfährt, fragt Carola nach: <wa“s> hat=se gesagt- (Z. 656). Erst dann präsentiert Nol, dass sie von der Mutter den Auftrag bekommen hat, Der kommunikative Stil 457 dem kleinen Bruder den Hausschlüssel zu geben. D.h., auch nachdem Carola gezeigt hat, dass sie genervt ist, bleibt Nol bei der bisherigen Art der Informationsvermittlung und lässt Carola das Wesentliche erfragen. Auf Carolas Frage reagiert Özlem mit einer Erläuterung: ja sonst kommn die nich rei“n ↓ (Z. 659, 663) die zeigt, dass sie Nols Darstellung verstanden, hat. b) Kritik an Nols Darstellungsweise Jetzt schaltet sich Hafize ein, wendet sich an Nol und weist sie zurecht: 660 CO: |wie“ denn ↓ | 661 HA: |<erzäh“l| |doch mal ge|schei“t lan ↓ 662 K: SCHREIT FAST 663 ÖZ: kommn die nich |rei“n ↓ | 664 HA: die mutter is → di“ng ↑← ** äh sie muss geschäftlisch 665 K: # 666 HA: was tun ↑ die is gegangen ↓ ja ↑ hat derre gemeint wenn 667 HA: ding ↑ * Nei und äh Andreas vorbei“gehn ↓ dann 668 HA: gib denen den schlüssel ↓ * 669 NO: >genau ↓ < 670 CO: |wie“ vorbeigehn ↓ | 671 K: GENERVT 672 HA: |und Nei und Andreas ↓ | * lan ↑ die laufen doch vom 673 K: ZU CO 674 K&: GELÄCHTER 675 HA: ding |äh: | → tschuldigung ↓← * |die laufen doch 676 EM: |lan ↑ | *2* 677 ÖZ: |die gehn doch 678 HA: vom äh | vom ← ding hort → äh äh nach hause ↓ * 679 ÖZ: nach hau“se ↓ | 680 CO: | ← wa“nn ↓→ | 681 HA: laufen hier |vorbei ↓ |* 682 NO: ← gleich → die ham vier aus ↓ 683 HA: |RÄUSPERT SICH je“tz-| * und die muss äh kurz 684 EM: |>is schon vier ↓ < | 685 HA: rau“sgucken ↑ wenn die vorbei“ 686 NO: > → s=schon vier ↓← < 687 HA: gehen * muss sie schlüssel geben weil die sonst 688 HA: nich nach hause reinkommen ↓ >capice ↑ < 689 K: ITAL.AUSSPRACHE 690 CO: >okay ↓ < Die „türkischen Powergirls“ 458 Hafice rügt die Freundin für ihre Art der Sachverhaltsdarstellung: <erzäh“l doch mal geschei“t lan ↓ (Z. 661) und deckt damit auf, dass Nol über mehrere Darstellungsformen verfügt, gegenüber Carola jedoch die unpassende gewählt hat. Dann präsentiert sie Nols Problem: die mutter is → di“ng ↑← ** äh sie muss geschäftlisch was tun ↑ die is gegangen ↓ ja ↑ hat derre gemeint wenn ding ↑ * Nei und äh Andreas vorbei“gehen ↓ dann gib denen den schlüssel ↓ (Z. 664, 666-668). Die knappe Darstellung des Sachverhalts entspricht der inneren Logik, gibt Hintergrundinformationen (sie muss geschäftlich was tun) und hat außer der fehlenden Präposition in hat (zu) derre gemeint (Z. 666) keine der typisch ghettosprachlichen Merkmale. Nol stimmt der Darstellung zu (genau ↓ Z. 669). Interessant ist Carolas Reaktion; sie spricht weiterhin genervt, behält ihre bisherige Fragepraxis bei (wie“ vorbeigehn ↓ , Z. 670) und zeigt, dass auch Hafizes Darstellung Inferenzen notwendig macht, die sie nicht leisten kann oder nicht leisten will. Da diese Hintergründe jedoch bereits vorher genannt worden waren (vgl. die laufen hier gleich vorbei ↓ , Z. 624), hätte Carola erschließen können, dass die Jungen an der Sporthalle vorbeilaufen. Carola behält also ihre Nachfragepraxis bei, obwohl sie hätte verstehen können. Auf diese Überdehnung der Fragepraxis reagiert Hafize ungehalten (lauteres Sprechen, Adressierung lan): <lan ↑ die laufen doch vom ding äh: / *2* → tschuldigung ↓← * die laufen doch vom äh vom ← ding hort → äh äh nach hause ↓ * laufen hier vorbei ↓ (Z. 672, 678, 681), und weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Hintergründe für das Verstehen nicht hätten explizit gemacht werden müssen, und dass Carola die einmal notwendig gewordene Fragepraxis jetzt übertreibt. Unter stilistischem Aspekt ist die Adressierung Carolas durch lan (‘Mann’) und die Reaktion der Gruppe darauf interessant: Emine fordert zur Reparatur auf (Wiederholung der Anrede in fragender Intonation, lan ↑ , Z. 676) und löst bei Hafize eine Entschuldigung gegenüber Carola aus ( → tschuldigung ↓← , Z. 675). Auf die Aufforderung zur Reparatur reagieren die anderen mit Lachen. Die Routinehaftigkeit der Bearbeitung - die Aufforderung zur Reparatur, das Lachen und die sofortige Wiedergutmachung - zeigen, dass es sich hier um ein häufiges Vorkommnis handelt, das in routinierter Weise bearbeitet wird. Hier zeigen die Mädchen wieder, dass sie zwischen verschiedenen Kommunikationsstilen unterscheiden: Der kommunikative Stil 459 - einem, den sie untereinander verwenden und in dem die Anrede lan üblich ist: als HA die Freundin NO rügt, erzä“hl doch mal geschei“t lan ↑ (Z. 661) wird die Adressierung lan nicht repariert; und - einem, den sie im Kontakt mit Außenstehenden verwenden, im vorliegenden Fall gegenüber Carola. Carola fragt noch einmal nach (←wa“nn ↓ →, Z. 680), Nol beantwortet die Frage und Emine und Hafize nennen den Zeitpunkt (je“tz-, Z. 683). Dann schließt Hafize die Sachverhaltsdarstellung ab: und die muss äh kurz rau“sgucken ↑ * wenn die vorbei“gehen * muss sie schlüssel geben weil die sonst nich nach hause reinkommen ↓ (Z. 663, 685, 687f.). Auch diese Darstellung folgt dem Handlungsverlauf und präsentiert alle notwendigen Informationen. Nur die Sequenz muss sie schlüssel geben enthält grammatische Merkmale des „Ghettodeutsch“ (Ausfall von Artikel und Pronomen). Carola reagiert mit einem zustimmenden Signal (>okay ↓ <, Z. 690); d.h., der Sachverhalt ist für sie jetzt in befriedigender Weise geklärt und sie erlaubt Nol den Raum zu verlassen. c) Aufdeckung des Spiels Direkt im Anschluss an die Klärung des Sachverhalts deckt Nol ihr Spiel auf: 693 NO: also das heißt ihr geht scho=mal ho“ch ↑ umbauen KICHERT 694 K&: ALLE LACHEN 695 HA: un dann räumst |du ab ne ↑ KICHERT | 696 ÖZ: |dann darfst du abbaun ↓ | Hier zeigt Nol, dass es ihr mit der (vorgeschobenen oder echten) Fürsorge für den kleinen Bruder gelungen ist, sich von den Aufgabe, die Carola ihr zugewiesen hatte (die Turnhalle für das Volleyball-Training umzubauen), befreien zu lassen. Mit süffisantem, spöttischem Unterton zieht sie für die anderen die Konsequenz aus der vorangegangenen Aushandlung: also das heißt ihr geht scho=mal ho“ch ↑ umbauen KICHERT (Z. 693), d.h., sie weist den anderen die Arbeit zu, die sie hätte tun sollen, während sie durchgesetzt hat, dass sie die Sporthalle verlassen darf. Die anderen lachen über Nols kleinen Triumph (Z. 694); doch Hafize und Özlem sorgen sofort für den Ausgleich, indem sie Nol den zweiten Teil der Arbeit zuweisen, das „Abbauen“ nach dem Training (Z. 695f.). Die „türkischen Powergirls“ 460 In Nols subversivem Spiel werden durchweg ghettosprachliche Merkmale verwendet, sowohl grammatische (Ausfall von Artikel, anaphorischen Pronomina) als auch auf die Darstellungsstruktur bezogene Merkmale. In Hafizes aufklärenden Beiträgen fehlen die auf die Darstellungsstruktur bezogenen Merkmale, grammatische Merkmale des „Ghettodeutsch“ (Ausfall von Präposition, Artikel) sind jedoch vereinzelt vorhanden. 4.2.3.4 Soziale Symbolisierung des groben „Ghetto-Kindes“ Gegen Ende des Sporttrainings werden Formen von „Ghettodeutsch“ auch zur impliziten Kritik an Nols Verhalten eingesetzt, d.h., „Ghettodeutsch“ wird gegen sie gewendet. Als Carola die Mädchen auffordert, gemeinsam die Sportgeräte aufzuräumen, ist Nol die einzige, die widerspricht, obwohl sie sich ja bereits beim Aufbau nicht beteiligt hatte; sie weist Carolas Aufforderung zurück: 923 NO: nei“n Carola isch hab aber keine zeit 924 NO: ← isch muss bahnhof geh: n → 925 HA: + → die kann nich 926 HA: die kann nich ← die muss < ← bah“nhof geh: n → > * 927 HA: die muss < ← bah“nhof geh: : n → > Nols Zurückweisung, eine dispräferierte Reaktion, 338 ist direkt und eindeutig formuliert. Die Äußerung beginnt mit der Negationspartikel nei”n; nach der Adressierung Carola folgt der Kern der Aussage isch hab aber keine zeit, unabgeschwächt, ohne Hinweise des Bedauerns oder Entschuldigens; dann folgt die Begründung: ← isch muss bahnhof geh: n → (Z. 924). Von den Merkmalen für dispräferierte Reaktionen liegt nur die Begründung für die Zurückweisung vor, 339 die durch prosodische Mittel hervorgehoben ist (langsameres, deutliches Sprechen) und Merkmale von „Ghettodeutsch“ enthält (Ausfall von Artikel und Präposition). Die Begründung ist das einzige Formulierungselement, das den Strukturen für dispräferierte Äußerungen entspricht, und das einzige Element, das einem für Carola erwartbaren „recipient design“ entgegenkommt; 340 es wird jedoch durch die Verwendung ghettosprachlicher Elemente verfremdet. 338 Zur Präferenzorganisation vgl. u.a. Pomerantz (1975). 339 Zu den Eigenschaften für dispräferierte Formulierungen gehören Verzögerungen, Pausen, Abbrüche und Neustarts, Einleitungen, Erklärungen, Begründungen und die Formulierung der Absage gegen Ende der Gesamtäußerung, vgl. Levinson (1994, S. 363ff.). 340 Unter ‘recipient design’ versteht man eine auf den Adressaten, auf dessen Wissen, Annahmen und Erwartungen zugeschnittene Äußerung. Der kommunikative Stil 461 Interessant ist die Reaktion Hafizes, die, noch bevor die adressierte Carola reagieren kann, laut schreiend Nols Äußerung reformuliert und überzeichnet: + → die kann nich die kann nich ← die muss < ← bah“nhof geh: : n → > (Z. 925-927). Durch die Wiederholung und Hervorhebung der ghettosprachlichen Merkmale (Ausfall von Artikel und Präposition), durch das Schreien und die prosodische Überzeichnung (starke Akzentuierung, starke Dehnung der letzten Silbe) erhält die Äußerung eine schrille Qualität. Hafice wendet sich gegen die Freundin, spricht über sie (Formulierung in der dritten Person) und karikiert sie. In der Darstellung wird Nol als derbes, laut schreiendes „Ghettokind“ in Szene gesetzt, das sich Carola gegenüber ungehörig und ohne Beachtung adäquater Umgangsformen verhält. Während Hafice das subversive Verhalten von Nol gegenüber Carola vorher direkt und offen kritisiert hat, greift sie jetzt zu sozial-symbolisierenden Verfahren. Die Kritik hier zielt sowohl auf Nols Verhalten gegenüber Carola als auch auf Nols Verhalten den Mädchen gegenüber: Nol hatte sich zu Beginn des Trainings mit Erfolg und Unterstützung der anderen vor der Strafarbeit gedrückt und will sich am Ende des Trainings noch einmal drücken, obwohl die Mädchen vorher festgelegt hatten, dass sie sich beim „Abbauen“ beteiligt (vgl. oben). Für diese Dreistigkeit wird sie jetzt dadurch bestraft, dass sie als „Ghettokind“ karikiert wird. Dass Nol durchgängig ethnolektale Formen verwendet, ist nicht durch mangelnde Deutschkompetenz begründet, sondern hat interaktive und soziale Funktion. Vor allem durch den Einsatz von Darstellungsmustern, die geteiltes Hintergrundwissen voraussetzen und vieles implizit lassen oder aussparen, gelingt es ihr, Carola zu provozieren, sich ihr gegenüber als aufmüpfiges „Ghettokind“ zu stilisieren und ihre Anweisungen zu unterlaufen. Carolas Reaktionen (nichts is normal bei der und des macht mich rasend) zeigen, dass die Provokation gelungen ist. Die anderen Mädchen amüsieren sich zunächst über Nols Spiel, fordern dann aber eine Verhaltensänderung ein (erzähl doch mal gescheit lan) bzw. machen den Sachverhalt für Carola verständlich. Gleichzeitig unterstützen sie Nols Absicht, sich vor der Arbeit zu drücken, die Carola angewiesen hat. Doch erst als Nols Dreistigkeit sich auch gegen die Mädchen richtet, wird sie als „grobes Ghettokind“ karikiert, zu dem die Gruppe (vertreten duch HA) auf Distanz geht. Wie dieses Beispiel zeigt, können ethnolektale Formen variabel eingesetzt werden und unterschiedliche soziale Bedeutung erhalten: Sie können zur Selbstinszenie- Die „türkischen Powergirls“ 462 rung als „Ghettojugendliche“ in Kontrast zu Außenstehenden, aber auch zum Ausdruck von kritischer Distanz zu dem Verhalten von „Ghettojugendlichen“ verwendet werden. 5. Lebenswelt und kommunikativer Stil 5.1 Lebenswelt und Entwicklungsprozess Die ethnografische Beschreibung erbrachte systematische Einblicke in den Lebensraum der „türkischen Powergirls“, in die durch soziale Segregation entstandenen Besonderheiten des untersuchten Migrantenwohngebiets, in die soziale und kulturelle Einheitlichkeit seiner Bewohner und in die dichten sozialen Netzwerke. Sie erfasste die Orientierungen, Werte und Normen relevanter Bezugspersonen, mit denen die „Powergirls“ sich auseinandersetzten und ermöglichte so die Festlegung der Faktoren und Prozesse, die die Bezugspunkte bei der Herausbildung der sozialkulturellen Orientierungen der „Powergirls“, ihres Selbstbildes und - in Abhängigkeit davon - ihres Ausdrucksverhaltens darstellten. Die Ethnografie bildete den Rahmen für die Analyse der sozialen und sprachlichen Entwicklung der Gruppe und für die Analyse ihres Bedeutungssystems. Vor allem aber ermöglichte sie, soziale Ereignisse und Entwicklungsprozesse der Mitglieder in einen größeren Strukturzusammenhang zu bringen und sie in ihrer Relevanz und Typizität zu erfassen. Die meisten türkischstämmigen Familien des untersuchten Migrantengebiets kommen aus ländlichen Regionen Zentralanatoliens oder vom Schwarzen Meer und leben seit über 30 Jahren in diesem Gebiet. Die Familienstrukturen bewegen sich zwischen den Kategorien „traditionell“ und „modern“, die sich vor allem in Bezug auf die Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern und Generationen unterscheiden. Die „Powergirls“ kommen aus Familien, die zu Beginn der Migration eher „traditionell“ ausgerichtet waren und sich im Laufe der Zeit zu eher „modern“ entwickelten. Motor in diesem Entwicklungsprozess waren zunächst die Mütter der Mädchen, die für ihre Töchter ein besseres Leben anstrebten, mit guten, auch akademischen Bildungsabschlüssen. Über eine gute Ausbildung sollten die Töchter finanziell unabhängig werden und den Sprung aus den patriarchalisch geprägten Familienstrukturen schaffen. Die Mädchen entwickelten sich in der Grundschulzeit zu ehrgeizigen, lernmotivierten und guten Schülerinnen, und fast alle schafften den Übergang zu höheren Schulen. Damit traten sie zum Der kommunikative Stil 463 ersten Mal in ihrem Leben in eine von Deutschen dominierte soziale Welt ein, erlebten neue soziale Regeln und neue Freiheiten, die sie auch für sich beanspruchten. Das löste tief greifende innerfamiliäre Konflikte aus, geprägt von dem Widerstand der Mädchen gegen die „türkische Tradition“ - wie sie von der umgebenden Migrantengemeinschaft ideologisch vertreten wird - ebenso wie von dem Kampf der Eltern für die Aufrechterhaltung der traditionellen Normen und Werte. In den Familien führte der Drang der Töchter nach Freiheit zu erhöhter Strenge des Vaters. Doch harte Strafen provozierten größeren Widerstand, und die Töchter entwickelten zwei Strategien zur Durchsetzung ihres Freiheitsdrangs: das Doppelleben und die offene Rebellion. Beide Strategien ermöglichten ihnen den Erwerb von Fähigkeiten, die sie u.A. auch zu einem erfolgreichen Leben in zwei Kulturen und Welten befähigen. Mit dem Eintritt in höhere Schulen außerhalb der Migrantenwelt lernten die Mädchen nicht nur neue Freiheiten kennen, sondern sie erlebten sich auch in mehrfacher Hinsicht als defizitär. Hatte die „Ghetto“-Grundschule (noch) Rücksicht auf ihre kulturelle Herkunft, ihre Zweisprachigkeit und ihre deutschsprachigen Defizite genommen, trafen sie in der höheren Schule auf sprachliche, soziale und wissensmäßige Anforderungen, denen sie nicht genügen konnten. Sie fielen auf, fühlten sich ausgelacht und als lernunfähig abgelehnt. Da sie bei der Deutung und Bewältigung ihrer Probleme allein gelassen waren, rekurrierten sie auf die ihnen aus der Diskurswelt der Familien vertrauten ethnischen Deutungsmuster; d.h., sie sahen sich durch Deutsche ausgelacht und abgelehnt, weil sie Türkinnen sind. Die ethnische Deutung familiärer und schulischer Probleme führte zur Konstitution der ethnischen Gruppe als einer Art Schicksalsgemeinschaft, in der die Mädchen nach Möglichkeiten für die Bewältigung ihrer Lebensprobleme suchten. Sie entwickelten eine Anti-Haltung sowohl gegen die Erwartungen und Anforderungen der deutschen Schule als auch gegen die Anforderungen aus der türkischen Gemeinschaft und konstruierten ein Selbstbild, mit dem sie dem sozialen Druck aus der Migrantengemeinschaft widerstehen und die Demütigungen und Ausgrenzungen, die sie von Deutschen erlebten, verarbeiten konnten. Sie bezeichneten sich als „türkische Powergirls“ mit den Eigenschaften „stark“, „aggressiv“ und „cool“. In Reaktion auf Abwertungen und Ausgrenzungen durch die deutsche Schule definierten sie sich jetzt selbst als „auffällig“ und „asozial“; sie orientierten sich dabei an dem von deutschen Gymnasiallehrern erwarteten Schülerverhalten mit den Eigenschaften „höflich“, Die „türkischen Powergirls“ 464 „kultiviert“, „bildungs- und leistungsorientiert“ und entwickelten dazu ein Gegenbild, das durch die Eigenschaften „grob“, „schroff“, „emotional unkontrolliert“ und „widerständig“ charakterisiert ist. Die übersteigerte Ethnizität, zusammen mit der antischulischen Haltung, setzten eine Entwicklungsdynamik in Gang, die zu sozialer Devianz und zum sozialen Ausstieg aus beiden Bezugswelten führte. 5.2 Der kommunikative Stil der „türkischen Powergirls“ 5.2.1 Ausdrucksdimensionen Bezugsgröße für die Stilbildung ist das Selbstbild „türkische Powergirls“. Bei der Auswahl von Stileigenschaften folgen die Gruppenmitglieder zunächst dem Prinzip der maximalen Kontrastbildung zu sozial akzeptierten Leitbildern in beiden Bezugswelten, die sie scharf zurückweisen. Das ist einerseits das Leitmodell für die Erziehung junger Frauen, das in den Migrantenfamilien vorherrscht, die „traditionelle junge Türken“, und andererseits das Idealbild eines erfolgreichen Schülers, an dem die deutsche Schule ihre Bewertung von Verhalten und Leistung der Schüler ausrichtet. Die „Powergirls“ stellen auf allen Ausdrucksebenen - Aussehen, Kleidung, Gestik, Mimik, sprachlich-kommunikatives Verhalten, Geschmack und soziales Verhalten - ein Gegenbild zum Ausdrucksverhalten dieser ideologisierten Leitbilder her. Die Umsetzung des Selbstbildes als „türkische Powergirls“ erfolgt vor allem in den folgenden Ausdrucksdimensionen: a) Geschmack und Sprachästhetik, b) Regeln des Sprechens, c) Verwendung sprachlicher Ressourcen. In diesen Ausdrucksbereichen werden Merkmale für die Stilbildung ausgewählt und zu einem ästhetisch befriedigenden Gesamtbild geformt. Zu a) Geschmack und Sprachästhetik In Kontrast zum äußeren Erscheinungsbild der „traditionellen jungen Türkin“, die sich unauffällig, bedeckt (auch mit Kopftuch) und auf keinen Fall körperbetont kleidet, orientieren sich die „Powergirls“ in Kleidung und Aufmachung an modernen, flippig und modisch zurecht gemachten jungen Frauen, wie sie in Fernsehjugendsendungen und Jugendmagazinen zu sehen sind und die auch für deutsche Klassenkameradinnen Vorbildfunktion haben. Der kommunikative Stil 465 Sie kleiden sich körperbetont und sehr offen mit nabelfreien, kurzen Röcken, engen Hosen und ausgeschnittenen Shirts, sind stark geschminkt und gepierct. Entgegen dem Verbot außerhäuslicher Kontakte haben die „Powergirls“ ähnlich wie ihre deutschen Klassenkameradinnen „feste“ Freunde, besuchen Lokale und Discos. Dem zurückhaltenden, bescheidenen und höflichen Verhalten der „traditionellen jungen Türkin“ setzen sie ein ungezügeltes, aufbegehrendes Verhalten entgegen und greifen dabei auf Stilmerkmale männlicher „Ghettojugendlicher“ zurück, die sie mit Grobheit, Stärke und Aggressivität verbinden. Sie verwenden derbe männliche Anredeformen, drastische Beschimpfungsformeln und praktizieren obszöne Droh- und Übertrumpfungsrituale. Zu b) Regeln des Sprechens Der Umgang miteinander ist durch Direktheit, hohe Expressivität, Nähe und Vertrautheit, aber auch durch Rücksichtslosigkeit, Grobheit und Derbheit charakterisiert. Für die „Powergirls“ sind die Gültigkeit des Gleichheitsgrundsatzes und die wechselseitige Respektierung territorialer Ansprüche wichtig, ebenso wie die erfolgreiche Verteidigung des eigenen Territoriums. Bei Aushandlungen wird weniger argumentiert als gestritten - nach dem Grundsatz: wer am lautesten schreit und die andere am schärfsten angreift oder zurechtweist, setzt sich durch. Gegenseitiges Lob ist direkt, offen und ehrlich; Verstecken der eigenen Meinung hinter gefälligen Formulierungen wird als „anschleimen“ abgelehnt. Kritik bei momentanen Interaktionsstörungen ist offen, direkt und unverblümt. Übergriffe in den Privatbereich werden sofort zurückgewiesen, meist durch derb-drastische Beschimpfungs- und Drohformeln, die zu rituellen Beschimpfungen mit obszönen Formeln gesteigert werden können. In Antizipation von Einschränkung oder Ausgrenzung aus der Welt der Erwachsenen sind die „Powergirls“ in ständiger Anspannung und Abwehrbereitschaft, was stilistisch in einer besonderen Reaktionsschnelligkeit zum Ausdruck kommt, mit der Anforderungen abgewiesen, eigene Vorteile durch schnelles Zupacken gesichert und erlebte Benachteiligungen durch ungebrochene Aggression pariert werden. Negative Emotionen wie Ärger, Zorn oder Wut werden durch Verwendung derb-drastischer Beschimpfungsformeln, durch lautes Schreien, aggressive Mimik und Gestik oder auch tätliche Angriffe ausgedrückt, positive Emotionen durch lautes, schallendes Lachen, Freudenschreie, Freudentänze oder stürmisches Umarmen. Formulierungen, die das negative Face berücksichti- Die „türkischen Powergirls“ 466 gen, Abschwächungen, Entschuldigungen u.Ä. kommen in der Ingroup- Kommunikation kaum vor. Die gewählten Formen für den Umgang miteinander und für den Ausdruck von Gefühlen vermitteln ein klar umrissenes Gegenbild zu den Ausdrucksformen, die mit dem Leitbild der „traditionellen Türkin“, ebenso wie mit dem Idealbild einer kultivierten Gymnasiastin, verbunden werden. Zu c) Verwendung sprachlicher Ressourcen Die Powergirls verfügen über ein reiches sprachliches Repertoire, das sie in virtuoser Weise einsetzen. Mit Deutschen sprechen sie Umgangsdeutsch, mit Türken Türkisch, wobei es für sie wesentlich leichter ist, nur Deutsch zu sprechen als nur Türkisch. Mit bilingualen SprecherInnen verwenden sie in selbstverständlicher Weise deutsch-türkische Mischungen, in denen sie sich am wohlsten fühlen; das ist ihre natürliche Sprachform, für die sie Bezeichnungen wie „Mischmasch“, „Mixmax“ oder „Mischsprache“ haben. Das Mixing als „eigene Sprache“ ist in hohem Maße durchstrukturiert. Auch wenn es unter grammatischem Aspekt (noch) keine eigene Varietät bildet - die meisten Sprachwechselmuster kommen sehr häufig, aber nicht regelhaft vor 341 - ist es unter soziolinguistischem Aspekt eine eigenständige Ausdrucksform, die zu einer spezifischen sozialen Gruppe „gehört“. Die innere Variabilität des Mixing, die Bewegungen auf dem Kontinuum zwischen dem Sprechen „nahe am türkischen“ und „nahe am deutschen Pol“ mit unterschiedlichen Sprachwechselmustern, die relativ systematisch auftreten und kommunikative Genres charakterisieren, zeigen die „Arbeit“ der Sprecherinnen an dieser Ausdrucksform und den hohen Stellenwert, den sie für die Gruppe hat. Mixing ist im Gruppenkonstitutionsprozess das zentrale Kommunikationsmittel, es ist Symbol für die Eigenständigkeit der Gruppe und bildhaftes Zeichen für die sozialkulturelle Abgrenzung zu beiden Bezugswelten. Ästhetische Performanz kommt in der Selbstverständlichkeit, Leichtigkeit und Eleganz mit der es praktiziert wird, zum Ausdruck. 341 Nach Auer (1989, S. 30) sind „Varietäten“ grammatisch definiert und bestehen aus einer Menge „stark kookkurrierender grammatischer Merkmale, die gegen andere Varietäten [...] abgegrenzt [...] sind“. In Bezug auf diese Definition ist das Mixing der „Powergirls“ keine Varietät. Die Sprachwechselmuster sind - auch wenn sie sehr häufig auftreten - immer noch optional. Ob das Mixing sich (noch) zu einer Varietät entwickelt, hängt von seiner weiteren Verwendung ab und besonders davon, in welchem Ausmaß und in welchen Funktionen es in den jungen Familien der ehemaligen „Powergirls“, unter den jungen Eheleuten und mit den Kindern weiterentwickelt wird. Der kommunikative Stil 467 Solange die „Powergirls“ noch eng mit dem „Ghetto“-Kontext (Schule, Freundeskreis) verbunden sind, kommen in geringem Ausmaß auch „ghettosprachliche“ Merkmale vor (Ausfall von Artikel und Präpositionen, vereinzelt andere Genera und Kasus). Für Außenstehende und besonders für die deutsche Schule haben sie einen hohen sozialen Signalwert, markieren die Sprache der Mädchen und signalisieren einen „Ghettohintergrund“. 5.2.2 Spezifik des „Powergirl“-Stils und Prinzipien der Stilbildung Der kommunikative Stil der „türkischen Powergirls“ ist der Kommunkationsstil einer Jugendgruppe. Seine Herausbildung ist - ähnlich wie die Herausbildung anderer Jugendgruppenstile - durch die im Alter der Adoleszenz besonders stark ausgeprägte Arbeit an einer eigenen sozial-kulturellen Identität in Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen ebenso wie zu anderen Jugendwelten motiviert. Bei der Auswahl von Stilmerkmalen - das hat die Forschung zu Jugendsprachen und Jugendsubkulturen gezeigt (vgl. oben Kap. 1.) - erfolgt der Rückgriff auf sprachlich-kommunikative Ressourcen, die den Jugendlichen aus ihrer Lebenswelt, aus der Welt der Medien, des Sports oder der Musik zugänglich sind. Bevorzugt werden die Merkmale, von denen die Jugendlichen wissen, dass sie von Angehörigen der Welten, von denen sie sich abgrenzen wollen, besonders abgelehnt werden. Das ist vor allen die etablierte Welt der Erwachsenen mit ihren Werten und Leitbildern für angemessenes Verhalten, die den jeweiligen kulturellen und sozialhistorischen Voraussetzungen und Bedingungen entsprechend variieren. In der soziologischen und anthropologischen Forschung ist für viele Kulturen der Kontrast im Ausdrucksverhalten zwischen Grobheit und Derbheit einerseits und Verfeinerung und Kultiviertheit andererseits beschrieben. Elias (1983) hat den Prozess der Zivilisation als einen Prozess der Verfeinerung gefasst, in dem direkte Körperlichkeit und der unmittelbare Gefühlsausdruck durch Verbergen und Tabuisierung körperlicher Eigenschaften, Hemmung von Aggression und Zurückhalten des unmittelbaren Gefühlsausdrucks kontrolliert werden. Zum Prozess der Verfeinerung gehört die Entwicklung von höflichen Ritualen für den Umgang miteinander. Der Kontrast zwischen Grobem und Feinem ist eng an den Prozess der sozialen Ausdifferenzierung und Hierarchisierung gebunden mit dem Ergebnis, dass soziale Abgrenzung nach unten über die Verfeinerung des Geschmacks und des Ausdrucksverhaltens erfolgt. Die Arbeit Bourdieus (1982) zeigt ebenfalls die sozial wirksame geschmackliche Dichotomie, und auch in seinen Analysen ist die Verfeinerung des Geschmacks das entscheidende Mittel zur sozialen Ab- Die „türkischen Powergirls“ 468 grenzung nach unten. Auch Irvine (2001) beschreibt die Kontrastrelation zwischen „refined“ und „coarse“ als ideologischen Bezugsrahmen für die Stilbildung, der in vielen Kulturen zu stilistischen Kontrasten auf allen Ausdrucksebenen führt. 342 In der Forschung zu Jugendsprachen und -kulturen wird die Bevorzugung von Derbheit, Obszönität und Drastik als charakteristisch für viele Jugendgruppen hervorgehoben. Das sind Mittel, mit denen die Jugendlichen schocken und sich von der Welt der Erwachsenen, von der Welt des Establishments, absetzen wollen. Solche Kontrastrelationen spielen auch bei der Herausbildung des „Powergirl“-Stils eine Rolle: Die derb-drastischen Beschimpfungs- und Drohformeln, die aggressiven verbalen Spiele, die Zorn- und Wutausbrüche, das ungezügelte Interaktionsverhalten mit ständigen Unterbrechungen, lautem Schreien und Kreischen bilden einen überaus deutlichen Kontrast zu dem sich unterordnenden, kontrollierten Verhalten, das die Eltern von ihnen fordern und dem höflich-kultivierten Verhalten, das die Schule von ihnen erwartet. D.h., die „Powergirls“ folgen einem für ihre Lebensphase typischen Muster bei der Herausbildung einer eigenständigen sozial-kulturellen Identität. Doch das Besondere an ihrem Fall ist - im Vergleich zu anderen in der Forschung beschriebenen Jugendgruppen 343 - dass die Jugendlichen sich in einer Dilemma-Situation befinden, in der sie mit gegenläufigen Anforderungen aus den beiden Bezugswelten konfrontiert werden, die sie nicht gleichzeitig erfüllen können bzw. wollen und gegen die sie sich mit großer Vehemenz wehren. Die Herausbildung eines eigenständigen Gruppenstils ist also zweifach motiviert durch - die Rebellion gegen erstarrte Leibilder der türkischen Migrantengemeinschaft und - den Widerstand gegen die schmerzlich erlebte Demütigung und Ausgrenzung durch Deutsche, besonders durch deutsche Bildungsinstitutionen, in denen sie erfolgreich sein wollen. 342 Am Beispiel zweier maximal kontrastierender sozialer Gruppen in Java, der Gruppe der sozialen Elite einerseits und der Bauern andererseits, zeigt sie, dass „images of persons considered typical of those groups - and the personalities, moods, behaviour, activities, and settings, characteristically associated with them - are rationalized and organized in a cultural/ ideological system, so that those images become available as a frame of reference within which speakers create performances and within which audiences interpret them“ (Irvine 2001, S. 31). 343 Vgl. z.B. Schlobinski et al. (1993), Schwitalla (1994), Willis (1981). Der kommunikative Stil 469 Diese Faktoren verstärken sich wechselseitig und werden zum „Kampf“ gegen beide Bezugswelten gesteigert, der im Rahmen ethnisch-kultureller Kategorien geführt wird: Gegenüber der „zurückgebliebenen“ Migrantenwelt aus einer Position ideologischer Überlegenheit heraus, gegenüber der Welt der „arroganten, ausländerfeindlichen“ Deutschen aus einer Position sozialer Benachteiligung und dem Gefühl von Unterlegenheit. In dieser Kombination werden die Grenzziehung und -verteidigung gegenüber beiden Bezugswelten besonders radikal und kompromisslos betrieben. Die Faktoren, die die Herausbildung des „Powergirl“-Stils motivieren, steuern auch die Prinzipien, nach denen die Stilbildung erfolgt. Das sind vor allem folgende: - die Herstellung einer maximalen Opposition durch die Wahl von Stileigenschaften, die salienten Stileigenschaften bzw. Stilerwartungen relevanter Anderer, denen sich die Gruppenmitglieder widersetzen, antagonistisch entgegen stehen; - die rhetorische Wirksamkeit der ausgewählten Stilmerkmale, die in alltäglichen Gruppenaufgaben und -routinen und vor allem in der Abwehr von Benachteiligung und bei der Durchsetzung eigener Interessen erprobt und weiter entwickelt werden; - das ikonische Prinzip, das stilistische Unterschiede als bildhafte Repräsentationen der sozialen Unterschiede, die sie indizieren, erscheinen lässt, so als ob eine Ausdruckseigenschaft die inhärente Eigenschaft der Gruppe spiegelte; und - die ästhetische Performanz, die ein konsistentes und ästhetisch durchgeformtes Gegenbild zu den Bildern ergibt, die relevante Andere von der Gruppe einfordern. Diese Stilbildungsprinzipien steuern die Herausbildung des kommunikativen Stils der „türkischen Powergirls“, der im Sinne Bourdieus (1982) das „kulturelle Kapital“ darstellt, das einerseits nach „außen“, zur Grenzziehung und Grenzverteidigung, und andererseits nach „innen“, zur Selbstverständigung und Selbstversicherung, eingesetzt wird. Die konsistente Durchformung des Stils als Ausdruck eines Gegenbildes und als Symbol für „nicht-dazugehören-wollen“ verleiht ihm hohe Wirksamkeit, bringt die Gruppenmitglieder aber ins soziale Abseits und macht sie zu Outsidern in beiden Bezugswelten. Die „türkischen Powergirls“ 470 5.3 Der Weg aus der „Ghetto“-Kultur zu sozial und (bildungs-) institutionell akzeptierten Lebenswegen und stilistische Veränderungen Dieser Weg wird gesteuert durch die Orientierung an einem neuen Leitmodell für soziales und kommunikatives Verhalten, das die „Powergirls“ nach dem Auseinanderbrechen der ethnischen Clique in der Jugendeinrichtung finden. In der Kommunikation mit der Leiterin und anderen Erziehenden erfahren sie neue Perspektiven auf die türkische und deutsche Bezugswelt und erleben neue Umgangsformen. In den frühen Phasen der Auseinandersetzung mit neuen Inhalten und Verhaltensmodellen finden manifeste Distanzierungsaktivitäten statt, z.B. dadurch, dass die Mädchen in Ausgleichshandlungen auf Rügen der Erziehenden markiert höfliche Formen verwenden und sie in Kontrast zu dem vorher gerügten „Powergirl“-Stil als „fremd“ bewerten. Doch im Prozess der Annäherung an die soziale Orientierung der Leiterin ist auch ein allmählicher Anpassungsprozess an ihr Kommunikationsverhalten beobachtbar. Die Leiterin schafft Anlässe zur Übernahme von sozialer Verantwortung, motiviert die Mädchen zum Sprechen über schmerzliche Diskriminierungserfahrungen, löst damit den Wunsch aus, bessere Verarbeitungstechniken zu erlernen, führt intelligente Abwehrverfahren vor und bricht stereotype Denk- und Verhaltensmuster auf. Die eigene biografische Entwicklung fungiert dabei als „Anschauungsmaterial“ für Belehrung und Aufklärung und dient gleichzeitig als Beleg für die Wirksamkeit der gelehrten Inhalte und Verfahren. Naran wird zur neuen Leitfigur und damit zum Bezugspunkt für einsetzende Veränderungen im kommunikativen Stil der „Powergirls“. Über das neue Leitmodell gelingt den Mädchen dann der Weg zu Lebensentwürfen und Ausdrucksformen, die in den Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen, in denen sie erfolgreich werden wollen, akzeptiert sind. Im Laufe dieser Entwicklung sind Veränderungen in den zentralen stilprägenden Ausdrucksdimensionen (Regeln des Sprechens, Sprachästhetik, Verwendung sprachlicher Ressourcen) zu beobachten, ebenso wie die Herausbildung eines Systems sozialer Kategorien für relevante Andere aus beiden Bezugswelten. Doch der Erwerb neuer stilistischer Mittel und Verfahren bedeutet nicht, dass alte Mittel aufgeben werden. Stilveränderung ist ein dynamischer Prozess, der nicht linear verläuft. Es gibt Phasen im Veränderungsprozess, in denen konträre Stilelemente koexistieren und zum Verweis auf oder zur Herstellung von unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden. Und es gibt Pha- Der kommunikative Stil 471 sen, in denen die allmähliche Inkorporation neuer stilistischer Elemente beobachtet werden kann, zunächst mit Distanzierungsmarkierungen, dann ohne Distanzierung. Jedes neue stilistische Element wird auf seine Passung und rhetorische Wirksamkeit hin überprüft, aufgenommen oder (noch) verworfen. Mit wachsender stilistischer Entwicklung hin zu Ausdrucksformen, die in schulischen und akademischen Kontexten akzeptiert sind, erfolgt eine situationsspezifische und funktionale Ausdifferenzierung des stilistischen Repertoires; neue Formen werden mit dazu passenden früheren Formen kombiniert, andere werden vermieden. Typisch für das stilistische Repertoire, das die Gruppenmitglieder allmählich ausbilden, ist die Gegensätzlichkeit der stilistischen Mittel, zwischen denen sie in virtuoser Weise switchen. Auf drastische und obszöne Formen, die in blitzschneller Reaktion auf derbe „Ghettojugendliche“ verwendet werden, können elaborierte Formen folgen, mit denen die Sprecherinnen eine neue Situation schaffen und sich als kultivierte Gesprächspartnerinnen präsentieren. Der Stil der ehemaligen „Powergirls“ verändert sich von einem Stil der „Rebellion“ hin zu einem Stil der „Emanzipation“, für den der virtuose und souveräne Einsatz unterschiedlicher Stilmittel charakteristisch ist. a) Regeln des Sprechens Während zu Beginn der Beobachtungszeit elaborierte, „höfliche“ Ausdrucksweisen Erziehenden bzw. Außenstehenden gegenüber verwendet und dann als „fremd“ und „nicht zu uns gehörig“ kontextualisiert wurden, kommen sie später auch in der Ingroup-Kommunikation vor. Der Umgangston untereinander wird allmählich „höflicher“, die Gruppenmitglieder beginnen Rederechtsregeln zu respektieren, sich bei Übergriffen zu entschuldigen und den Ausbruch von Emotionen zu kontrollieren. Es werden neue Verfahren zur Herstellung der Interaktionsordnung, Verfahren zur Selbstkontrolle und zur Beziehungsregulierung (z.B. die explizite Thematisierung von Fehlverhalten) eingeführt und auf ihren Erfolg hin erprobt. Vor allem jedoch hat sich das stilistische Bewusstsein geschärft: Die Gruppe beginnt den typischen „Powergirl“-Stil kritisch zu betrachten, selbstironisch zu kommentieren und Distanz dazu aufzubauen. b) Geschmack und Sprachästhetik Neben derb-drastischen Formeln zur Interaktions- und Beziehungsregulierung gibt es zunehmend auch Routinen mit konventionellen Höflichkeitsformeln. Außerdem verschiebt sich die Akzeptanz derb-drastischer Formeln. Die „türkischen Powergirls“ 472 Bei der Übernahme besonderer Gruppenrollen, z.B. der Moderatorenrolle bei Diskussionen, werden keine derben Formulierungen mehr verwendet, und auch die Gruppenmitglieder, die früher derb-drastische, obszöne Routinen bevorzugten, verwenden moderatere Ausdrucksweisen. Doch auch hier bedeutet der Erwerb neuer Formen nicht die Aufgabe früherer, drastischerer Formen. Alle Gruppenmitglieder behalten ihre Kompetenz in groben und obszönen Ausdrucksweisen; doch sie haben gelernt, zwischen Situationen zu unterscheiden, in denen sie wirksam sind, und Situationen, in denen sie unangemessen sind. c) Verwendung sprachlicher Ressourcen Die Veränderung in diesem Bereich zeigt sich vor allem in der Zunahme und Ausdifferenzierung von Deutsch in vielen Lebensbereichen und der Reduktion von deutsch-türkischen Mischungen auf bestimmte Genres, auf Erzählungen, privaten Austausch, u.Ä. Mixing bleibt aber das zentrale Kommunikationsmittel für den privaten und intimen Bereich, auch bei jungen Paaren. Die „ghettosprachlichen“ Charakteristika verlieren sich - mit Ausnahme der phonologisch-prosodischen Merkmale - im Laufe des Erwachsenwerdens; d.h., sie sind für die Gruppenmitglieder Übergangsphänomene, die in einer bestimmten Lebensphase zur Normalform in der Gruppenkommunikation gehörten. Bei den Jugendlichen jedoch, die langfristig im „Ghetto“ bleiben und über lange Zeiträume nur geringen deutschsprachigen Anforderungen genügen müssen, kann sich „Ghettodeutsch“ zu einer Art Soziolekt entwickeln, den sie ins Erwachsenenleben mitnehmen. d) Herausbildung eines Systems sozialer Kategorien In Auseinandersetzung mit Naran und ihrer Perspektive auf die Lebenswelt der türkischen Migranten ebenso wie auf die Welt der Deutschen entwickeln die Gruppenmitglieder ein neues Selbstbild, das ihnen den Weg aus der Dilemma-Situation ermöglicht. Sie lösen sich vom gegenläufigen Anpassungsdruck aus beiden Bezugswelten, definieren sich jenseits der ihnen entgegengebrachten ethnischen Kategorien („türkisch“ und „deutsch“) als etwas „Neues“ und bestimmen die Definitionskriterien selbst. Im Prozess dieser Entwicklung verändert sich auch der Blick auf die umgebende Lebenswelt. Er wird analytisch schärfer, negative ebenso wie positive Eigenschaften werden klarer konturiert, und die Relationen zwischen Selbst- und Fremdbildern werden präziser herausgearbeitet. In diesem Prozess wird ein System Der kommunikative Stil 473 von sozialen Kategorien entwickelt, das das Ergebnis der Analyse des sozialen Umfelds und seine Bewertung zum Ausdruck bringt. Das Kategoriensystem ist in zwei Kategoriensets unterteilt: eines für die Welt der Deutschen und eines für die Welt der türkischen Gemeinschaft. Dabei ist das Kategorienset für die türkische Gemeinschaft weiter ausdifferenziert, und für die Migrantengemeinschaft gibt es mehr negative als positive Kategorien. Das zeigt, dass die Gruppenmitglieder mit der Welt der türkischen Migranten mehr Problembereiche zu bewältigen haben als mit Deutschen. Hohe Priorität haben die Negativkategorien für die erste Generation - der „zurückgebliebene Türke“ - und für die zweite Generation - die „asoziale Türkin“ und der „türkische Macho“. In Bezug auf die Welt der Deutschen ist vor allem die in der Schule erfahrene Ausgrenzung und Abwertung von Bedeutung, gebunden in der Kategorie des „gestörten Lehrers“. Die unterschiedliche Struktur der Kategorien für Deutsche und für Türken spiegelt den sozio-biografischen Werdegang und den aktuell erreichten Verarbeitungsstand von Erfahrungen mit Angehörigen aus beiden Bezugswelten wider. Im Zusammenhang mit sozialer Kategorisierung haben sich rhetorisch besonders wirksame, sozial-symbolisierende Verfahren zum impliziten Verweis auf soziale Kategorien und Kontexte herausgebildet. Dazu werden die Deutschvarietäten „Gastarbeiterdeutsch“, „Mannheimerisch“ und „Ghettodeutsch“ verwendet. Es gibt jedoch keine einfache Zuordnung zwischen Sprache und sozialer Kategorie, sondern, je nach Gesprächskontext, Adressatin und Perspektivierung der Sprecherinnen, können diese Varietäten verschiedene Funktionen ausfüllen. Mit dem symbolisierenden Gebrauch von „Gastarbeiterdeutsch“ ist immer ein kritisches, aufdeckendes Potenzial verbunden. „Gastarbeiterdeutsch“ dient den Sprecherinnen zur Selbstpositionierung in Relation zur Migrantenpopulation und zur Mehrheitsgesellschaft; es wird zur Symbolisierung der Kategorie des „zurückgebliebenen Türken“ (Kategorie aus der Perspektive der „Powergirls“), ebenso wie zur Symbolisierung des „Gastarbeiters“, einer Kategorie aus der Perspektive von Deutschen verwendet. Gegenüber Deutschen kann „Gastarbeiterdeutsch“ auch verwendet werden, um sie mit ihrem stereotypem Bild von Migranten zu konfrontieren, zu provozieren und zur Stellungnahme zu „zwingen“. Mannheimerisch kann zur Kontextualisierung von Blödelei und Spiel, aber auch zur Zurechtweisung der Eltern verwendet werden. Vor allem aber wird es zur Symbolisierung der Kategorie des „dummen Deutschen“ eingesetzt, d.h. Die „türkischen Powergirls“ 474 von Deutschen aus dem direkten Lebensumfeld, die die jungen Frauen als inkompetent, eng, schlicht und grob erlebt haben, und die sich ihnen gegenüber „ausländerfeindlich“ verhalten. „Ghettosprachliche“ Formen können je nach kontextuellen Voraussetzungen und Bezügen entweder zur Identifizierung mit der Jugendszene des „Ghettos“ und ihren spezifischen Kommunikationsformen oder aber zur Distanzierung davon eingesetzt werden. 5.4 Ausblick Die Entwicklungskarrieren der „Powergirls“ zeigen, wie schwierig und voller Hindernisse der Weg aus dem „Ghetto“ ist, und welcher Anstrengung und Unterstützung es bedarf, um ihn erfolgreich zu gehen. Das zentrale Problem der Kinder und Jugendlichen auf diesem Weg ist, dass sie aus beiden Bezugswelten gegenläufigen Anpassungsdruck erfahren, dem sie nicht gleichzeitig gerecht werden können. Dadurch erleben sie von beiden Seiten Ablehnung und Ausgrenzung. Werden sie auf diesem Weg allein gelassen, kann das, wie im Fall der „Powergirls“, zu individuell und sozial unbefriedigenden Lösungen bis hin zum sozialen Ausstieg führen. Die weitere Entwicklung der „Powergirls“ zeigt aber gleichzeitig auch, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen die Ausbildung eines eigenständigen Selbstbildes und der Erwerb sozialer und kommunikativer Fähigkeiten gelingen können, die die Teilhabe an zentralen Bereichen der Mehrheitsgesellschaft ermöglichen. Auf diesem Weg brauchen die Kinder Unterstützung und vor allem positive Leitbilder, die ihnen Lösungsmöglichkeiten zeigen und neue Identifikationsangebote machen. Besonders wirksam sind positive Vorbilder aus der eigenen Population, Menschen, die diesen schwierigen Weg bereits erfolgreich gemeistert haben. 344 Um die Lebenschancen von Migrantenkindern und -jugendlichen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben und aufwachsen wie die „Powergirls“, zu verbessern und ihnen ein erfolgreiches Leben in der Mehrheitsgesellschaft zu ermöglichen, müssen ihre Fähigkeiten erkannt, ihre Lernbereitschaft aufgenommen und ihre schulischen Erfolge erheblich gesteigert werden. Dazu sind geeignete Fördermaßnahmen auf allen Bildungsstufen, eine Verbesserung des Lehrangebots in den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen unter 344 Zifonun/ Cindark (2004) zeigen, dass ein türkischer Fußballverein männlichen „Ghettojugendlichen“ positive Identifikationsangebote macht und ihre soziale Integration beeinflusst und voranbringt. Der kommunikative Stil 475 Beteiligung von sozial erfolgreichen Migranten notwendig, 345 ebenso wie eine breite Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit und der Migrantengruppen über Risiken und Chancen eines Lebens in der Migration. Die Bilingualität der Kinder darf in Schule und Öffentlichkeit nicht länger als Problem gesehen, sondern muss als gesellschaftliche Ressource gewertet und ausgebaut werden. Den Kindern müssen Gefühle der sozial-kulturellen Unterlegenheit und Erfahrungen des schulischen Scheiterns erspart werden. Sie müssen die Chance haben, jenseits der vorgegebenen ethnischen Kategorien „türkisch“ und „deutsch“ eigenständige sozial-kulturelle Identitäten auszubilden und neue Kommunikationsformen zu entwickeln, wie das die „Powergirls“ geleistet haben, ohne dafür mit Sanktionen und negativen Bewertungen bestraft zu werden. Um der weiteren Desintegration und Abschottung von „Ghettojugendlichen“ entgegenzuwirken, muss die Entstehung antischulischer Haltungen verhindert bzw. - wenn sie sich bereits herausgebildet haben - müssen sie durch neue, positive Identifikationsangebote aufgebrochen und verändert werden. Vor allem aber muss in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Migrantenkinder und ihre Familien deutliche Signale von Seiten der Deutschen brauchen; sie müssen sich angenommen, respektiert und unterstützt fühlen, damit sie auch ihrerseits die enormen Anstrengungen aufbringen können, die eine berufliche und soziale Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft erforderlich macht. 345 Wie schnell Grundschulkinder sich sprachlich entwickeln, wenn sie gut gefördert werden, zeigen die Ergebnisse von Deutschförderkursen, die von der Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit der Universität Mannheim (R. Tracy und V. Lemke) in Zusammenarbeit mit dem IDS durchgeführt werden; zu einer Fallbeschreibung vgl. Keim (2007a). C. Trankriptionskonventionen ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang |nein nie|mals und Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen mar- kiert | → herr huber| Synchronisationssymbol in Simultanpassagen mit mehr |versuchen | als zwei Beteiligten, um in einer anderen Sprecherzeile |ja | den Anfang oder das Ende von simultan Gesprochenem zu markieren + unmittelbarer Anschluss/ Anklebung bei Sprecherwechsel * kurze Pause (bis max. ½ Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir ) / Wortabbruch (... ...) unverständliche Sequenz (drei Punkte = Silbe) (...2,5) unverständliche längere Sequenz mit Angabe der Dauer (war) vermuteter Wortlaut (gunst? kunst) Alternativlautungen ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit ↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) - schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier- ) " auffällige Betonung (z.B. aber ge"rn ) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig ) ← immer ich → langsamer (relativ zum Kontext) → immerhin ← schneller (relativ zum Kontext) >vielleicht< leiser (relativ zum Kontext) Die „türkischen Powergirls“ 478 <manchmal> lauter (relativ zum Kontext) LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der Sprecherzeile in Großbuchstaben IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der global. Kommentarzeile) Mutter Übersetzungszeile D. Literatur Das Literaturverzeichnis enthält neben den im Text zitierten Einträgen weitere Publikationen zum Thema dieses Bandes. Es erhebt jedoch nicht den Anspruch einer umfassenden Bibliografie. Agar, Michael (1980): The Professional Stranger: An Informal Introduction to Ethnography. New York. Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus/ Trudgill, Peter (Hg.) (2004): Sociolinguistics / Soziolinguistik. An International Handbook of the Science of Language and Society / Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. überarb. Aufl. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / Handbooks of Linguistics and Communication Science 3.1/ 3.2). Berlin/ New York. Androutsopoulos, Jannis (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a.M. Androutsopoulos, Jannis (2001a): Ultra korregd Alder! Zur medialen Stilisierung und Aneignung von „Türkendeutsch“. 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Dieser Prozess ist typisch für junge Migrantinnen in Deutschland, die in Auseinandersetzung mit relevanten Bezugswelten, der Welt der türkischen Gemeinschaft und der Welt der deutschen (Bildungs-)Institutionen, einen eigenständigen Weg zu finden versuchen. Das Selbstbild, das die Mädchen in diesem Prozess entwickeln, bildet die Bezugsgröße für ihren Kommunikationsstil. Der zentrale Teil des Buches beschreibt diesen Stil, den derb-drastischen Umgangston, den schnellen Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch und den virtuosen Gebrauch verschiedener Varietäten zum symbolischen Verweis auf soziale Kategorien und zeigt, wie sich der Stil im Prozess des Erwachsenwerdens und in Reaktion auf neue Lebensumstände und (Bildungs-)Anforderungen allmählich verändert. ISBN 978-3-8233-6446-7