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Der Text unserer Natur

2009
978-3-8233-7479-4
Gunter Narr Verlag 
Florian Mehltretter

Aufklärer und Illuministen erheben im 18. Jahrhundert gleichermaßen den Anspruch, auf der Seite des Lichts der Erkenntnis zu stehen. Aber wo die illuministischen Esoteriker sich dazu auf einen theosophisch begründeten Geistbegriff berufen, verkünden die Aufklärer den Anspruch einer natürlichen Vernunft. Ziel der Studie ist, zunächst im Rahmen einer diskursarchäologischen Untersuchung den Anteil beider Seiten an der Episteme ihrer Epoche herauszuarbeiten und nach der epochenspezifischen, Vernünftigkeit ihrer Diskussionsbeitrage zu fragen. Der zweite Teil wechselt sodann von der synchronischen zu einer diachronischen Perspektive und zeigt das Entstehen einer neuen Konstellation um 1800, zu deren Herausbildung Aufklärer wie Diderot ond theosophische Mystiker wie Saint- Martin aus ihren gegensätzlichen Positionen gleichermaßen beitragen haben.

ROMANICA MONACENSIA Der Text unserer Natur Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Florian Mehltretter Gunter Narr Verlag Tübingen Der Text unserer Natur ROMANICA MONACENSIA herausgegeben von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Wolf-Dieter Stempel und Rainer Warning Band 77 · 2009 Florian Mehltretter Der Text unserer Natur Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Departments II - Griechische und Lateinische, Romanische, Italienische und Slavische Philologie, Sprachen und Kommunikation der Ludwig-Maximilians-Universität München. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0178-1294 ISBN 978-3-8233-6479-5 „Wen sollte nicht verlangen zu wissen, auf welchem Pfeiler und Grundveste der Gewißheit diese Lehre […] beruhe; ob auf einer bis diese Stunde esoterisch zu erweisenden Überlieferung, oder auf dem Glauben an eine für einzig wahr gehaltene Erklärung der Mosaischen Archäologie; oder weil man sich überzeugt fühlt, der Text unserer Natur fodere diesen ebenso treffenden als ausschließend nothwendigen hermeneutischen Schlüssel zur ganzen Fülle und Wahrheit seines ursprünglichen Sinns.“ Johann Friedrich Kleuker, Magikon (1784), S. 317 6 Vorbemerkung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner romanistischen Habilitationsschrift, die 2003 von der philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Andreas Kablitz, Köln, der die Arbeit angeregt und kritisch begleitet hat. Die Gutachten von Prof. Dr. Wolfram Nitsch, Köln, und Prof. Dr. Rainer Zaiser, Kiel, waren bei der Pointierung offener Probleme hilfreich. Für guten Rat bei mancher philosophischer und theologischer Frage danke ich Dr. Florian Mayr, München. Ohne die kundige Beratung durch die Bibliothekare der Bibliothèque Nationale de France wären mir einige der hier behandelten Texte nicht zugänglich gewesen. Auch ihnen gilt mein Dank. Die Überarbeitung dieser Schrift profitierte in besonderem Maße von dem anregenden Diskussionsumfeld im Münchener Sonderforschungsbereich 573 „Pluralisierung und Autorität“. Dass sie in dieser Form erscheinen konnte, ist nicht zuletzt meinem Münchener Lehrer Prof. Dr. Gerhard Regn zu danken, sowie den übrigen Herausgebern der Romanica Monacensia, denen ich für ihre Bereitschaft dankbar bin, die Studie in ihre Reihe aufzunehmen. Für ihre große Hilfe in allen formalen und technischen Belangen bin ich Catharina Busjan, M.A. mult. sehr verpflichtet; außerdem danke ich Frau Christina Esser vom Verlag Narr· Francke· Attempto für das aufmerksame Lektorat. München, im Juli 2008 F.M. 7 Vorbemerkung ............................................................................................. 6 E INLEITUNG ................................................................................................... 13 1. Lumières und Illuminismus........................................................ 13 2. Interessen und Fragen ................................................................ 14 2.1. Das Interesse an der Epoche ............................................. 14 2.1.1. Annäherungen an Foucaults Diskurs-Archäologie ....... 16 2.1.2. Foucaults Polemik gegen die Geisteswissenschaften ... 20 2.1.3. Fragen an Foucault.............................................................. 24 2.2. Das Interesse am Einzeltext ............................................... 33 2.2.1. Die Archäologie und der Einzeltext ................................. 34 2.2.2. Sprechende Überreste ........................................................ 36 3. Aufklärung und Illuminismus: Die Gesprächspartner und ihr Gespräch ...................................................................... 38 3.1. Erster Umriss der beiden Parteien im Spiegel der Forschung ..................................................................... 38 3.1.1. Der Zeitrahmen und die darin betrachteten Teilnehmergruppen ........................................................... 38 3.1.2. Esoterik und Illuminismus als Diskurse ......................... 41 3.2. Die Interaktion zwischen Aufklärern und Illuministen 56 3.2.1. Die Polemik um den Philosophenbegriff ........................ 56 3.2.2. Ausschlussversuche: Polemik und Parodie .................... 63 3.2.3. Saint-Martins Teilnahme an der Diskussion seiner Zeit 66 3.2.4. Diderot und die Theosophen............................................. 69 4. Zum Aufbau der Untersuchung............................................. 71 E RSTER T EIL : D ER I LLUMINISMUS INNERHALB EINES SYNCHRONISCHEN E POCHENBILDES ...................................................... 73 Kapitel I: Tableaux. Die Rede des Menschen als Repräsentation 75 1. Das Repräsentationsmodell des Zeichens ........................... 75 1.1. Das Repräsentationsmodell und das ‘klassische’ Wissen nach Foucault ......................................................... 79 1.1.1. Varianten und Konsequenz von Foucaults Repräsentationsbegriff ....................................................... 80 1.1.2. Die Ordnungswissenschaft und die Marginalisierung der Ähnlichkeit .................................................................... 90 1.1.3. Die Dimensionen des sprachlichen Zeichens im Repräsentationsmodell ...................................................... 95 1.1.4. Die vier Sprachfunktionen und die vier Formen der Sprachkritik ......................................................................... 100 8 1.1.5. Foucaults Modell als Strukturhypothese für den Dialog von Aufklärung und Illuminismus .................... 102 1.2. Idee und Repräsentation in Saint-Martins Crocodile ..... 103 1.3. Die Klassifikation der Geister: Martinistische Pneumatologie .................................................................... 109 2. Die Dimension der Linearität................................................ 112 2.1. Sprache als Analyse und Genese ..................................... 113 2.1.1. Der Satz als Analyse der Wahrnehmung ....................... 113 2.1.2. Ideenketten: Die nominalistische Tendenz der Schule Condillacs ............................................................................ 120 2.1.3. Die Liaison als Universalprinzip von Topik und Analytik ...................................................................... 125 2.1.4. Condillacs algebraischer Nominalismus und seine illuministischen Gegenentwürfe ...................................... 128 2.2. Das Analyse-Genese-Modell als Denkfigur der ‘Klassik’ ......................................................................... 154 2.2.1. Genese von Begriffssystemen und Metaphysik-Kritik . 155 2.2.2. Sprachgeschichte als Genese ............................................ 157 2.2.3. Linearität und Universalität ............................................. 185 2.3. Das Narrative als ausgegrenztes Anderes der Genese . 193 2.3.1. Der Roman der Metaphysik und die idéologie als Erzählform..................................................................... 195 2.3.2. Der Roman der Erdgeschichte.......................................... 197 2.3.3. Erzählung als Reduktion und Reduktion von Erzählungen: Die Archäologie der Mythen ................... 208 2.4. Der Mythos als Gegenentwurf zur Genese: Martines de Pasqually ....................................................... 235 2.4.1. Der Traité sur la réintégration als Midrasch und Erzählung .................................................................... 236 2.4.2. Emanation und Fall der Geistwesen ............................... 239 2.4.3. Diabolus und mythische Theodizee ................................ 242 2.4.4. Die Erschaffung des Kosmos und des Menschen ......... 245 2.4.5. Der beinahe gerechtfertigte Teufel: Cazotte und Montfaucon de Villars ....................................................... 249 2.4.6. Adams Fall in die Materie................................................. 253 2.4.7. Reintegration....................................................................... 260 2.5. Die Emanzipation der Geschichte von der Genese ....... 262 2.5.1. Condillac, Rousseau und die philosophes ........................ 263 2.5.2. Das Ringen um die Freiheit der Geschichtssubjekte bei Martines de Pasqually ................................................. 271 2.5.3. Das Böse als Modus der Selbstzerstörung bei Fournié und Saint-Martin ................................................................ 289 9 2.5.4. Die Revolution und die Freiheit des Erkennens in Saint-Martins Crocodile ...................................................... 290 3. Die Dimension der Referenz ................................................. 300 3.1. Sensualismus und Gewissheit.......................................... 301 3.1.1. Condillacs Lehre vom Urteil............................................. 301 3.1.2. Die messianische Natur..................................................... 314 3.1.3. Erkenntnismechanismus und Willensenergie bei Condillac ....................................................................... 323 3.1.4. Die Antworten der idéologues und ihr Verhältnis zu illuministischen Positionen............................................... 327 3.2. Schleier, Täuschungen und lumière astrale im Illuminismus ................................................................. 335 3.3. Energie, Wille und Erkenntnis: inquiétude ...................... 343 3.3.1. Inquiétude und die Fortüne des Pascalschen Augustinismus.................................................................... 345 3.3.2. Die Gegendarstellung der philosophes ............................. 349 3.3.3. Inquiétude außerhalb des Horizonts christlicher Apologetik ........................................................................... 350 3.3.4. L’Homme de désir.............................................................. 353 4. Zusammenfassung I ................................................................ 357 Kapitel II: Ruinen. Die Rede Gottes als Repräsentation .................................................. 361 1. Die illuministische Pansemiotik und das Repräsentationsmodell ........................................................... 361 2. Mikrokosmos und Makrokosmos ........................................ 364 3. Der Mensch als Interpretant der Natur ............................... 367 3.1. „Expliquer les choses par l’homme“ ............................... 367 3.2. ‘Der schönste Buchstabe Gottes’ ...................................... 368 3.3. Das Christusereignis als Wiederherstellung eines Zeichenbezugs .................................................................... 370 3.4. Der Mensch als Blaupause der Kreaturen bei Robinet........................................................................... 372 3.5. Die Ruinen der Welt und ihr menschlicher Schlüssel .. 375 3.5.1. Cœuilhe: vanitas und Naturgeschichte............................ 375 3.5.2. Volney: Die Befreiung von den Ruinen .......................... 378 4. Die Natur als Interpretant des Menschen........................... 384 4.1. Delisle de Sales und die Illuministen .............................. 385 4.2. Das Pathos des Sublimen: Senancours Naturmeditationen ....................................... 386 10 5. Mensch und Welt als einander deutende Ruinen: Les nuits élyséennes von Jean Antoine Gleizes .................. 393 5.1. Esoterische Naturreligion ................................................. 395 5.2. Der Lebensweg als erzieherische Ruinenlektüre........... 401 6. Zusammenfassung II .................................................................... 416 Z WEITER T EIL : D ER I LLUMINISMUS ALS S TRANG EINER D IACHRONIE ................................................................................. 419 Kapitel III: Leben. Die Sprache Gottes als Energie........................ 421 1. Organisation und Energie ...................................................... 421 1.1. Das Hervortreten des Energiebegriffs............................. 426 1.1.1. Tradition .............................................................................. 427 1.1.2. Die Entfesselung der Energie im Zeitalter der lumières .......................................................................... 428 1.2. Ein ‘Herold der Energie’: Diderot.................................... 430 2. Wege zur Energie im strategischen Geschehen der Diskurse ..................................................................................... 435 2.1. Zielsetzungen...................................................................... 435 2.1.1. Aufwertung der Sinnlichkeit und Anticartesianismus 435 2.1.2. Der Gott der Fernwirkung ................................................ 437 2.2. Regionaldiskurse der Energie .......................................... 437 2.2.1. Rückführung der newtonschen Physik auf die Hermetik im Magnetismus ............................................... 438 2.2.2. Eine Brücke zwischen Taxonomie und Energie: Die Kette der Wesen .......................................................... 451 3. Der herabfließende Logos bei Saint-Martin und Martines de Pasqually............................................................. 474 3.1. Die martinistische Schöpfungslehre ................................ 474 3.1.1. Emanation und Geistschöpfung ...................................... 475 3.1.2. Verdichtung der Geistschöpfung: Die Sekundär ursachen und die ungefallene Welt ................................. 479 3.1.3. Der Kosmos oberhalb und unterhalb der Zentralfeuerachse ........................................................ 482 3.1.4. Essenzen .............................................................................. 489 3.1.5. Formen ................................................................................. 491 3.1.6. Martinistische Naturphilosophie und Alchemie........... 492 3.1.7. Reintegration der Schöpfung............................................ 494 3.1.8. Verdichtung der Materie: Fall .......................................... 495 3.2. Saint-Martin: Die materielle Welt als Wunde ................ 497 4. Zusammenfassung III ............................................................. 502 11 Kapitel IV: Logos. Die Sprache des Menschen als Energie .......... 505 1. Der Widerspruch zwischen Pansemiotik und Panenergetik bei Saint-Martin .............................................. 505 1.1. Wiederaufnahme der Analyse der Zeichentheorie Saint- Martins ................................................................................. 505 1.1.1. Logos und Gottesnamen ................................................... 507 1.1.2. Adam, Sophia und die Spiegel......................................... 510 1.1.3. Edenische Sprache.............................................................. 515 1.1.4. Die irdische Sprache .......................................................... 518 1.2. Das Gefängnis aus Zeichen und der Fluss des Logos... 522 2. Der Wechsel des Hintergrundmythos von Martines zu Böhme .......................................................... 524 2.1. Böhmes Genesis-Mythos ................................................... 524 2.2. Der Mensch als sensorium Dei und Gottes Saitenspiel bei Böhme ............................................................................ 530 3. Die Sprache und die Sendung des Geistmenschen beim späten Saint-Martin....................................................... 536 3.1. Der Mensch als Spiegel...................................................... 537 3.1.1. Der Spiegel der Sophia und der ‘Spiegel der Natur’ .... 537 3.1.2. Das Urteil als Begehren ..................................................... 545 3.1.3. Spiegel und Archiv ............................................................ 552 3.2. „Phanor, poème sur la poésie“: Der Dichter als Erlöser ............................................................................ 555 3.2.1. Saint-Martin, Chateaubriand und die christliche Poesie ................................................................ 557 3.2.2. Poetik der Kühnheit und das Sublime ............................ 559 3.2.3. Kreative Imagination? ....................................................... 565 3.2.4. Die Dichtung als Auflösung der Sprache ....................... 568 4. Zusammenfassung IV ............................................................. 572 S CHLUSS ................................................................................................... 574 B IBLIOGRAPHIE ........................................................................................ 579 Texte 1700-1804 (Entstehungsdaten) .............................................. 579 Texte vor 1700 ..................................................................................... 585 Texte nach 1804 .................................................................................. 587 13 E INLEITUNG 1. Lumières und Illuminismus Das siècle des lumières ist, wie Roland Mortier bemerkt, das erste Jahrhundert, das sich selbst als spezifisches Zeitalter definiert hat. 1 In dieser Selbststilisierung spielt die Opposition von lumières und ténèbres ebenso eine Rolle wie die Betonung eines bestimmten Lichts gegenüber anderen - des lumen naturale nämlich, also jener Vernunft, die dem Menschen zur Erkenntnis der Naturdinge gegeben ist, im Gegensatz zum Licht der Religion. 2 Diese beiden Abgrenzungen suggerieren zudem als dritte mitschwingende Aussage eine Äquivalenz zwischen den beiden abgewerteten Termini, dem übernatürlichen Licht der Offenbarung und jener Finsternis, von der sich die eigene lumière abhebt. Und so erscheinen just jene, die sich selbst als Erleuchtete verstehen, in der Optik der lumières als Kinder der Finsternis. In Frankreich sind dies nicht nur die Apologeten des Katholizismus, sondern auch die illuminés oder Illuministen, die im eingebürgerten Sprachgebrauch ebenfalls das Licht in ihrer Bezeichnung führen (und die wir 3 zunächst einmal lose als ‘Esoteriker’ fassen wollen). Sie gehen trotz ihrer Berufung auf solches Licht in den negativen Term jener Opposition von ‘Aufklärung versus Obskurantismus’ ein, die im Selbstverständnis der Aufklärung eine fundierende Rolle spielt. Diese Opposition zwischen ‘aufklärerischem Denken’ und ‘illuministischer Esoterik’ (Begriffe, die wir noch klären müssen) zu hinterfragen und dabei die durch den Obskurantismus-Vorwurf verdunkelten Texte der Illuministen zu erhellen, ist das doppelte Ziel dieser Arbeit. Unser Interesse 1 Mortier 1969, S. 13. Vgl. zu dieser Konstellation auch Amadou 1989, S. 9. 2 Wir folgen hier der Untersuchung Mortiers über „‘Lumière’ et ‘lumières’. Histoire d’une idée“ in: Mortier 1969. Das seit Patristik und Scholastik begegnende lumen naturale wird vor allem von Descartes aufgewertet. Pierre Bayle folgert aus seiner zeitlichen Vorordnung vor der Schriftoffenbarung, dass auch die Bibel nichts enthalten könne, was der natürlichen Vernunft widerspreche. Mit Condorcet und vor allem mit der Encyclopédie ist der Anspruch, die eigene Vernunftform konstituiere ein Zeitalter des Lichts, vollends integrierender Bestandteil aufklärerischen Selbstverständnisses geworden (Mortier 1969, S. 16-29). 3 Das hier verwendete Wir begreift sich nicht als majestätisches, sondern als dialogisches und führt insofern einen unausgesprochenen Appell an den Leser zum Nachvollzug mit. Dagegen wird in Beispielargumentationen gelegentlich ein hypothetisches allgemeines Ich auftreten, sowie (bei der Nachzeichnung anthropologischer Gedankengänge) ein anthropologisches Wir. Die Leserin wird diese Verwendungen anhand des Kontexts leicht zu unterscheiden wissen. 14 zielt damit sowohl auf ein Allgemeines, auf eine generelle Aussage über etwas, das wir zunächst unpräzise ein ‘Zeitalter’ nennen wollen, als auch auf ein Besonderes, auf eine partikuläre Nutzbarmachung von einzelnen Texten. Beiden Interessen dient eine Erschließung der literarischen Vernünftigkeit, der Strukturiertheit von Texten und Textgruppen. Die vorliegende Arbeit will diese Strukturen literaturwissenschaftlich herausarbeiten, nicht die Thesen der Texte philosophisch würdigen oder gar überprüfen. Die beiden genannten Interessensaspekte bezüglich des epochalen Allgemeinen und des Textbesonderen sind aufeinander bezogen: Der einzelne Text erhält seine Kontur erst vor einem allgemeinen Hintergrund; und der Gesamtkontext kann nur durch Erschließung möglichst vieler seiner einzelnen Bestandteile (die außerdem noch per se ein je besonderes Interesse verdienen) konstruiert werden. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingen mag, und bedarf der Präzision, die wir in zwei Schritten durchführen werden: Zunächst soll unser allgemeines Interesse näher ausgeführt und um eine zu seiner Verfolgung geeignete Strategie ergänzt werden. Dann soll die Perspektive auf den einzelnen Text und deren Berechtigung diskutiert werden. Nach dieser Klärung von Blickrichtung und Vorgehen müssen abschließend die beiden Gegenstände, um deren Verhältnis es uns hier geht, in ersten Umrissen im Lichte bisheriger Forschung identifizierbar gemacht werden. 2. Interessen und Fragen 2.1. Das Interesse an der Epoche Wir haben gesehen, dass sich schon in den Bezeichnungen, unter denen ein Großteil des Schrifttums des achtzehnten Jahrhunderts verhandelt wird, eine Opposition zwischen zwei Anprüchen auf Helligkeit, wenn man so will: von Vernunft, artikuliert, aus der sich die Fragestellung unserer Untersuchung entwickeln lässt. Der im Gattungshorizont der vorliegenden Arbeit als einer wissenschaftlichen implizite Erschließungsstandpunkt tendiert jedoch zu einer bestimmten Gewichtung der beiden in Rede stehenden Vernunftformen: Man ist versucht, diejenige von ihnen, die wir (zunächst ohne genauere Definition) in einem ersten Vorgriff als ‘aufklärerisch’ bezeichnet haben, als die eigene, die andere als die fremde anzusehen, und sitzt damit auch schon der oben angesprochenen Selbststilisierung eines Teils der hier behandelten Schriftsteller auf. Sieht man sich in diesem Sinne als Erbe des ‘Siegerdiskurses’, so muss das Verhältnis zwischen ‘Aufklärern’ und ‘Illuministen’ als dasjenige zwischen dem Eigenen und dem Fremden erscheinen. Antoine Faivre hat beklagt, dass im deutschen Sprachraum (im Unterschied zu Frankreich und den angelsächsi- 15 schen Ländern) der Esoterik im zwanzigsten Jahrhundert im Gegensatz zu früheren Zeiten insgesamt wenig Aufmerksamkeit galt, wohl um zu allem vermeintlich Irrationalen auf Distanz zu gehen. 4 Diese Nichtachtung (die gleichwohl nicht so ausgeprägt ist, wie Faivre behauptet 5 ), mag mit dieser Situation zusammenhängen. Will man dem entkommen, so muss man also eine Betrachtungsweise wählen, die die zu hinterfragende Opposition allenfalls instrumentell (etwa zur Erhellung von gattungs- und traditionsbedingten Implikaten von Texten), nicht aber ontologisch gelten lässt. Dies führt zu zwei Strategien: Die Opposition zwischen Aufklärung und Esoterik muss zum einen abgetragen werden, indem nach Gemeinsamkeiten zwischen beiden Reden gesucht wird. Zum anderen müssen die beiden Diskurse als gleichermaßen fremde und gemäß ihrem jeweiligen Anspruch auch gleichermaßen (aber nicht unbedingt: in gleicher Weise) vernünftige betrachtet werden. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil, dass man das Eigene in dieser Perspektive als Fremdes distanzierend neu bewerten könnte und damit mit Hilfe eines historischen Umweges ein Stück in Richtung auf eine „kritische Hermeneutik“ gehen könnte, welche den eigenen Standpunkt an einem anderen dialogisch überprüfte. Hans Herbert Kögler hat in abwägendem Durchgang durch die Entwürfe von Fremdverstehen solch verschiedener Autoren wie Gadamer, Foucault, Habermas und Rorty eine solche Hinterfragung des eigenen Horizonts geradezu an das Starkmachen des anderen Standpunktes gebunden; denn aufgrund der Unhintergehbarkeit der eigenen sprachlichen Welterschließung ist eine erprobende Aneignung im Dialog erschließbarer fremder Vernünftigkeit der einzige Weg, eine andere als die eigene Perspektive auf sich selbst überhaupt zu erlangen. 6 So weit kann und will freilich die vorliegende Arbeit als eine literaturwissenschaftliche nicht vorstoßen. Gelänge es ihr jedoch, die aufklärerische Vernunft in die Ferne der Fremdheit zu rücken und zugleich die illuministische zu stärken, so könnte sie eine der möglichen Vorarbeiten zu einem solchen Projekt darstellen. Die zwei damit avisierten Strategien, nämlich erstens die Erschließung eines gemeinsamen Hintergrundes für die beiden Glieder der zu untersuchenden Opposition und zweitens der Entwurf des achtzehnten Jahrhunderts als eines fremden Zeitalters (durch historische Distanzierung aufklärerischer Rationalität bei gleichzeitiger Stärkung illuministischer Geltungsansprüche), erfordern eine Konstruktion ‘epochenspezifischen’ Denkens, 4 Faivre 1986, S. 8 5 Es sei schon hier stellvertretend auf die großen Arbeiten von Jonas (die ursprüngliche Fassung seines Gnosis-Buches entstand noch in Deutschland), Peuckert, Benz, Frick und (zeitlich nach Faivres Äußerung: ) die vorzügliche Untersuchung zu Böhme von Bonheim, sowie die umfassende und grundlegende Darstellung der Philosophia perennis von Schmidt-Biggemann verwiesen. 6 Dies ist in groben Zügen die Argumentation von Kögler 1991. 16 welche die Möglichkeit schafft, einerseits scheinbar Konträres in einem gemeinsamen Rahmen von genügender Allgemeinheit erscheinen zu lassen, und andererseits diesen Rahmen so zu entwerfen, dass er das historisch Ferne konturiert zu definieren vermag. Beides ist in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts von Michel Foucault mit großer Wirkung unternommen worden: Er hat mit seinen epistemologischen Analysen allgemeine Formationen den scheinbaren Oppositionen an der Oberfläche der Äußerungen vorgeordnet und sie doch so spezifisch gefasst, dass die untersuchten Epochen sich dadurch scharf von einander und vor allem von der Gegenwart abheben. Es liegt daher nahe, sich einiger der Errungenschaften Foucaults zu bedienen, und zwar sowohl was seine Methode als auch was sein Ergebnis, seine historischen Thesen also, angeht. Zu diesem Zweck soll im folgenden Kapitel Foucaults Ansatz kurz umrissen und seine Anwendbarkeit auf unser Vorhaben - nicht ohne eine gebührende Würdigung der Unterschiede in Ausrichtung und Hintergründen - diskutiert werden. Zugleich werden sich aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung auch einige Fragen an Foucault ergeben. 2.1.1. Annäherungen an Foucaults Diskurs-Archäologie Nicht so sehr aufgrund ihrer Bekanntheit (und - ausgerechnet, wie wir sehen werden - in den ‘Geisteswissenschaften’ beinahe unhinterfragten Beliebtheit) soll also Foucaults Diskurs-Archäologie hier Verwendung finden, sondern weil sie die zwei Bedingungen, die wir oben für eine unserem Vorhaben dienliche Methodik gestellt haben, genau erfüllt. Um Foucaults Entwurf würdigen zu können, muss allerdings zunächst klargestellt werden, dass seine Zielrichtung weniger auf die Alterität des Geschichtlichen als auf die Historisierung des Gegenwärtigen geht. Seine Geschichtsschreibung schließt an die Vorstellung einer Genealogie im Sinne Nietzsches an: Sie will das scheinbar fraglos Vorhandene als historisch Gewordenes darstellen und damit alle scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die aus diesem Gewordenen abgeleitet zu werden pflegen, in emanzipatorischer Absicht hinterfragen. Dabei schreibt Foucault jedoch nicht wie Nietzsche eine Genealogie der Meinungen und Positionen selbst, sondern eine Archäologie der Grundformen von Wissen, der Macht- und Vorentwurfs-Spiele, in denen sich solche Positionen überhaupt erst artikulieren. Kennzeichnend für diese Zielrichtung ist Foucaults polemischer Gebrauch des Begriffs der ‘Positivität’ (hierin begegnet er sich mit der Kritischen Theorie): 17 […] sur le fond de quel a priori historique et dans l’élément de quelle positivité des idées ont pu apparaître […] 7 Die wahre Positivität besteht darin, dass es ‘positives’ Wissen nicht voraussetzungslos gibt, sondern dass es sich immer in einer diskursiven Form bildet und zeigt. Was als ‘Positivität’ erkennbar ist, wird so von einem jeweils epochen- und kulturspezifischen Sprachspiel vorgegeben, dessen Möglichkeiten und dessen blinde Flecken dem jeweiligen Individuum seine diskursiven Spielräume allererst eröffnen und diese zugleich begrenzen. Damit ist nicht gesagt, dass sich das Unerhörte nicht denken lässt, sondern nur dass dieses, wenn es formal außerhalb des herrschenden Spieles liegt, schwerer zu denken und fast unmöglich zu verstehen ist, dass es überwiegend als Randdiskurs, Poesie oder Wahnsinn auftritt. Die ‘Macht’, die für Foucault kein homogener Block, sondern eine komplexe Konfiguration verschieden gerichteter Vektoren von Interessen und Einflussnahmen ist, bestimmt unter anderem diese Form des Wissens als Positivität: Positivität zum einen, weil eben die Möglichkeiten positiv vorgegeben sind - nicht nur in der kruden Negativität von Ausschluss und Zensur, in welcher Macht immer sofort erkennbar ist; zum anderen, weil das ‘Positive’, also das scheinbar sich unmittelbar der Erkenntnis und Formulierung Anbietende, in Wahrheit Produkt eines immer schon ablaufenden Spiels, einer spezifischen Praxis ist, die die wahre Positivität darstellt. Insbesondere sich zwangsläufig aus dem herrschenden Spiel ergebende scheinbar ahistorisch gültige Annahmen, die dazu führen, dass bestimmte Lebensführungsoptionen gegen mögliche Alternativen verabsolutiert werden, kann Foucault so als Effekte einer freizulegenden kontingenten und zeitgebundenen Struktur decouvrieren. Das ethische Interesse Foucaults, das sich hierin zeigt, liegt als persönliche Entscheidung seiner ‘Archäologie’ voraus; es motiviert als selbst nicht begründete Ausgangsposition sein historisches und philosophisches Interesse. 8 Foucaults Interesse gilt also den Regelstrukturen hinter diskursiven Einzelereignissen. Diese Formationen, die die einzelnen Spielzüge ermöglichen, sind nun in verschiedene Ebenen zu gliedern. Das einzelne énoncé 9 7 Foucault 1966, S. 13. Zur Z ITIERWEISE ist generell anzumerken: Wir geben jedes Zitat in der Schreibung der verwendeten Quelle wieder. Da wir über weite Strecken oft zwischen Quellen springen müssen, sind die Quellenangaben zur Entlastung des Haupttextes grundsätzlich in die Fußnoten verlegt, und auch dort erscheinen sie nur in der (auf die Bibliographie im Anhang verweisenden) Kombination von Autor und Jahreszahl. Diese gibt, wo möglich und sinnvoll, das Jahr der Erstpublikation oder Abfassung an, sonst das Erscheinungsjahr der tatsächlich verwendeten Ausgabe, ist also in erster Linie ein Ordnungsmerkmal, das jedoch oft auch eine historische Orientierung leisten kann. 8 Vgl. auch Frank 1983, S. 237f. 9 Der Begriff des énoncé ist bei Foucault äußerst unscharf. Er liegt irgendwo zwischen einer Proposition (oder gar einer propositionalen Einstellung) und einem konkreten 18 gehört für Foucault zunächst einem Diskurs an; in unserem Interessengebiet wären die Allgemeine Grammatik und die Naturgeschichte solche historischen Diskurse. Die entscheidenden Regeln und Vorgaben, die verschiedenen historischen Diskursen gemeinsam sein können und von denen alle anderen Regeln abhängen, bestimmen eine für eine ‘Epoche’ gültige épistémè, 10 die man als eine allgemeine Form der Hervorbringung von Diskursen bezeichnen kann, mit ihren spielkonstitutiven ontologischen Annahmen und den spezifischen Praxen der Produktion, Rezeption und Bewertung von Aussagen. 11 Das Interessante hieran für die Beschreibung der Austäusche zwischen Diskursen, denen konträre ontologische Annahmen zu Grunde liegen (wie ja bei ‘aufklärerischer’ vs. ‘esoterischer’ Rede zu vermuten steht), ist nun die Tatsache, dass Foucault offenbar zwischen ontologischen Annahmen allgemeiner Art und solchen, die für eine épistémè konstitutiv sind, unterscheidet, denn er leugnet, dass die „énoncés recteurs“, die alles andere bestimmen, im Sinne von Axiomen zu verstehen sind. 12 Deshalb können in Les mots et les choses ohne besondere Unterscheidung im Rahmen des ‘klassischen' 13 Repräsentationsmodells etwa Autoren, die von der Existenz einer Außenwelt ausgehen (wie Condillac und Destutt de Tracy) neben solchen auftreten, die diese in Frage stellen (Malebranche und Berkeley). Offensichtlich gehört diese (vom normalen philosophiegeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet: erste) Grundentscheidung gerade nicht zu den konstitutiven ontologischen Grundannahmen des Repräsentationsmodells im Sinne Foucaults. Es ist klar, dass ein solches Modell unsere erste Fordeparole-Akt. Wir wollen ihn als eine Aussage verstehen, die irgendwo an der Textoberfläche erscheinen muss (und also wörtlich zitierbar, nicht nur rekonstruierbar, ist), zugleich jedoch Teil einer zwischen langue und parole liegenden propositionalen Tiefenstruktur ist. Das heißt: nicht jede Äußerung innerhalb eines Diskurses ist eine solche Aussage, sondern nur diejenigen, deren häufige Wiederkehr und gewisse Allgemeinheit sie als Bestandteil einer Grundstruktur ausweisen. 10 Wir bevorzugen eine zitierende Wiedergabe der französischen Schreibweise, um Foucaults Begriff von klassisch-antiken und neuzeitlich-deutschen (idealistischen u.ä.) Fassungen des Episteme-Begriffs abzuheben. 11 Wir werden gleich noch sehen, dass Foucault mit der Einführung des Archivbegriffs von dem der épistémè auch schon wieder Abschied nimmt. Wir werden ihn jedoch beibehalten und auf eine je spezifische Grundstruktur eines historischen Archivs beziehen, deren Erfassung Foucault weiterhin zumindest als Möglichkeit in Betracht zu ziehen scheint. 12 Foucault 1969, S. 192-193 13 Der Begriff klassisch wird in dieser Studie als reines Zitat der Begrifflichkeit Foucaults verstanden. Mit seiner Verwendung soll keineswegs ein Beitrag zum Umgang mit „dem (aporetischen) Spannungsverhältnis zwischen Normativität und Historizität von Klassiken“ (Voßkamp 1993, S. 5) geleistet werden - klassisch ist für uns vielmehr ein bloßer Name für einen Großteil des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts im Sinne Foucaults (s.u.). 19 rung, die nach der Möglichkeit, etwa einen Geisterseher und einen Rationalisten in einem gemeinsamen Spiel zu zeigen, erfüllen kann. Deren unvereinbare Grundannahmen erscheinen in ihm als gegensätzliche Spielzüge in einem gleichwohl übergeordneten Spiel. Illuministen und Aufklärer, katholische Apologeten und Deisten müssen nicht schon aufgrund der Blickrichtung des Interpreten als quasi in verschiedenen Epochen lebend dargestellt werden - wenn auch so etwas als Ergebnis immer möglich bleibt. Wir können nun unsere diesbezügliche Fragestellung folgendermaßen präzisieren: Sind énoncés ‘illuministischer’ und ‘aufklärerischer’ Diskursteilnehmer gegensätzliche Züge innerhalb eines jeweils einzigen diskursiven Spiels (wie etwa der Allgemeinen Grammatik)? Oder gehören sie eventuell je spezifischen Diskursen an? - Es ist ja denkbar, dass es spezifisch aufklärerische Regionaldiskurse gibt (etwa den Metadiskurs über die Aufklärung selbst, dem die anfangs referierte Selbststilisierung der lumières entstammt), und wir müssen davon ausgehen, dass es auch einen spezifisch illuministischen Diskurs gibt (dessen wichtigste Praxis, die Deutung aller vorfindlichen Phänomene auf den Hintergrund eines ‘Falls’ hin, zweifellos weder in der ‘Naturgeschichte’ noch in der ‘Allgemeinen Grammatik’ noch in der ‘Analyse der Reichtümer’ einen Platz haben kann). In diesem Fall wäre zu fragen, wie sich diese Regionaldiskurse zu einer möglicherweise übergeordneten épistémè verhalten, sowie, ob sie sich in interessanter Weise mit allgemeinen Diskursen kreuzen: Kann eine Äußerung über die Sprache nach dem Sündenfall sich am Kreuzungspunkt zwischen einem illuministischen Regionaldiskurs und der Allgemeinen Grammatik situieren - und ergeben sich dort eventuell Interaktionen? Was nun die zweite unserer oben erhobenen Forderungen betrifft, diejenige nach der distanzierenden Vorführung der aufklärerischen Vernunft, so wird sie schon dadurch erfüllt, dass die je historische Denkform, wie klar geworden sein dürfte, bei Foucault in besonders scharfer Kontur erscheint und dadurch von der eigenen streng abgesetzt ist. Die berühmte Einleitung zu Les mots et les choses entwickelt den dort verfolgten Ansatz aus einer Konfrontation mit dem unerreichbar fremden Denken einer fiktionalen ‘chinesischen’ Klassifikation; in L’archéologie du savoir leuchtet die Vorstellung einer Begegnung mit dem Archiv einer Epoche als Fremderfahrung auch theoretisch kurz auf. 14 Darüber hinaus wirkt aber auch der Stil Foucaults hieran mit. Wolfgang Welsch hat Foucaults Schreiben eine Dialektik von „Präzision und Suggestion“ 15 bescheinigt. In beiden Aspekten wirkt etwas, das wir hier als einen ‘poetischen’ Umgang mit philosophischer Sprache bezeichnen wollen. Wie jeder Foucault-Leser zu seinem Leidwesen erfahren muss, versucht Foucault, in seiner Sprache das Fremde 14 Foucault 1969, S. 172 15 Dies ist Titel und These von Welsch 1991. 20 als Fremdes einzuholen und zugleich zu distanzieren. Dazu bedient er sich einer (im Vergleich etwa zum Vokabular der analytischen oder pragmatischen Philosophie) ‘poetischen’ und gelegentlich auch obskuren Formulierungskunst. Wir werden am Beispiel des Repräsentationsbegriffs sehen, wie er sein Vokabular eng an dem der analysierten Texte selbst ausrichtet, deren Horizont jedoch zugleich in einer Art poetischem Verfahren ab- und überschreitet. Seine Sprache zeigt also das Innen und das Außen der Grenzen und Konturen jener Formen, die er in den Blick nimmt. Er versucht, das Fremde zu denken, poetisch einzuholen und zugleich zu verfremden. Damit wäre skizziert, was uns an Foucaults Modell nützen kann. Es enthält jedoch auch Widerstände gegen eine allzu einfache Dienstbarmachung, die sich teils an Foucaults Polemik gegen die Ideengeschichte und ganz allgemein die Geisteswissenschaften dingfest machen lassen. 2.1.2. Foucaults Polemik gegen die Geisteswissenschaften Foucault will sein Projekt scharf von dem der Ideengeschichte geschieden wissen, und zwar nicht nur, um seinen Innovationsanspruch aufrechterhalten zu können, sondern vor allem, weil er die Geisteswissenschaften allgemein in eine seiner Ansicht nach überwundene Subjektphilosophie verstrickt sieht. Überhaupt verdanken sich die Geisteswissenschaften in seiner Optik einer Art Geschichtsunfall, einer in sich problematischen épistémè, die sich an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert ergeben hat und von der er hofft, dass sie bald ganz verschwunden sein wird. Dies können wir hier nicht weiter verfolgen. Stattdessen müssen wir die konkreten Vorwürfe Foucaults an die Ideengeschichte kurz beleuchten, da sie methodologische Konsequenzen haben. Die Figur der Verdoppelung, die nach Foucault seit Kant in der Vorstellung eines sich „gleichzeitig als Subjekt und Objekt, zugleich als Vorstellendes und Vorgestelltes“ setzenden selbstreflexiven Subjekts liegt, führt für Foucault, wie Habermas pointiert zusammenfasst, zu der Aporie, „daß sich das erkennende Subjekt aus den Trümmern der Metaphysik erhebt, um im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte eine Aufgabe zu lösen, die unendliche Kraft erfordert.“ 16 Das Hin und her zwischen den beiden Bestandteilen seiner Doppelgestalt und der Versuch, daraus auszubrechen, „macht sich dann als der unbändige Wille zum Wissen und zu immer mehr Wissen bemerkbar.“ 17 Dies bringt nach Foucault die Ideengeschichte zu dem Versuch ständiger Kohärenzstiftung, die die Alterität und Brüchigkeit fremder Diskurse und Perioden übertüncht und damit auch die Wissensform, der die Subjektphilosophie selbst angehört, monologisch und ahistorisch absolut setzt. 16 Habermas 1985, S. 306 17 Habermas 1985, S. 307 21 Dies ist einer der umstrittensten Punkte 18 sowohl in Foucaults theoretischer Grundlegung seiner Herangehensweise als auch in der Geschichtsdiagnose, die daraus erwächst (und auch wieder zu ihr führt - in dieser Doppelung spiegelt sich quasi ironisch die Aporie, um die es hier geht). Uns interessiert daran hauptsächlich die Kritik an der Kohärenzstiftung durch Interpretation und den Aufweis von Kausalitäten, Einflüssen und Widersprüchen. 19 Zu Foucaults Zurückweisung der Interpretation sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass Interpretation seiner Ansicht nach eine unnötige Verdoppelung des Textes auf der Suche nach einem verborgenen, aber illusorischen Sinn ist; wir werden darauf weiter unten noch näher eingehen. Kausalitäten und Einflüsse oder ähnliche Vorstellungen von Informationstransfer sind für seine Archäologie uninteressant, weil sie die Einebnung von Brüchen, die die von der Einheit des Subjekts her entworfene Interpretation leistet, in die diachronische Ebene der Historie fortsetzt. Selbst noch der Aufweis von Widersprüchen etwa in einer Motivtradition macht nach Foucault als in der Tiefe liegendes Organisationsprinzip die Diskontinuität der Oberfläche wieder zur Kontinuität. Um aber mit seiner Vorstellung einer epochenspezifischen épistémè nicht selbst als Kohärenzen stiftender Geisteswissenschaftler zu erscheinen, gibt Foucault in L’archéologie du savoir diesen Begriff preis. Die Gesamtheit der énoncés einer Epoche bildet in der Begrifflichkeit der Archéologie du savoir nun ein Archiv, also etwas, das nicht mehr so leicht als tief liegende Geisteshaltung interpretierbar ist. Foucault bezieht in einem Wortspiel auch seinen Begriff der ‘Archäologie’ auf diese Vorstellung eines Archivs: Die archéologie ist demnach der Logos vom Archiv. Charakteristisch ist jedoch, dass dieses Archiv nicht als bloße Kumulation von Aussagen aufgefasst wird, sondern gewissermaßen als Institution. Nicht einfach die Gesamtheit der Notizen bestimmt die Hintergrundbildlichkeit des ‘Archivs’, sondern mindestens ebenso die Form, Größe und Verteilung der Karteikarten, Kästen und Ordner, die Gestalt des Raumes, die Regeln des Archivierens: „l’archive, c’est d’abord la loi de ce qui peut être dit“, das Archiv definiert ein System von „énonciabilité“ und „fonctionnement“ auf der Ebene zwischen dem Corpus der Texte und Reden und dem Code der langue; es ist die „pratique qui fait surgir une multiplicité d’énoncés comme autant d’événements réguliers“, es ist „le système de la formation et de la transformation des énoncés.“ 20 Unser eigenes Archiv, das auch unsere Beschreibung eines fremden Archivs ermöglicht und bestimmt, können wir nie ganz explizieren, da wir nicht außerhalb desselben sprechen können. Dennoch ist seine möglichst vollkommene kritische Freilegung der (durch den Umweg über ein historisch fernes Archiv erleichterte) utopische Hori- 18 Vgl. hierzu vor allem die kritische Lektüre von Frank 1983, S. 174ff. 19 Vgl. Foucault 1969, S. 196-197 und S. 211 20 Foucault 1969, S. 170-171 22 zont der Archäologie Foucaults, 21 - und wir können schon hier sagen, dass die Diskursarchäologie (ohne dass Foucault selbst sie eigentlich so konzipiert hätte) gerade durch diese Möglichkeit eine Reflexion auf das Eigene im Durchgang durch das Fremde begünstigt. An die Stelle einer möglicherweise kohärenzstiftenden Erzählung vom Umgang mit tief liegenden Widersprüchen will Foucault nun eine Vorstellung von Alternativen innerhalb einer Archivstruktur setzen, die er offenbar nicht als Phänomen der Tiefe gedeutet wissen will. Er unterscheidet hier drei logische Möglichkeiten: Zunächst gibt es die Widersprüche, die nur „au seul plan des propositions ou des assertions“ als Spielzüge in einem übergeordneten Spiel erscheinen, „sans affecter en rien le régime énonciatif qui les a rendues possibles […] ces sont des contradictions qui sont archéologiquement dérivées, et qui constituent un état terminal.“ 22 Diesen Fall haben wir oben schon anhand von Berkeley und Condillac angedeutet; seine Erfassung ist eine der attraktivsten Möglichkeiten von Foucaults Modell. Das, was oben als nicht diskurskonstitutive ontologische Grundannahme angesehen wurde, kehrt hier also als Oberflächenwiderspruch zwischen einzelnen Äußerungen und Gruppen von Äußerungen wieder. Man beachte übrigens, wie die Rede vom „plan des propositions“ (die in unserer Interpretation soeben zur Begrifflichkeit der Oberfläche führte) Foucaults Vorhaben, die Vorstellung von Tiefe aus seiner Konzeption herauszuhalten, vereitelt: Auch die Archäologie hat es mit Tiefenstrukturen und ihren Produktionen zu tun, denn plans sind nun einmal gestaffelte Ebenen. Das andere Extrem sind Widersprüche zwischen Aussagen, die verschiedenen Diskursen angehören; sie „enjambent les limites d’une formation discursive, et elles opposent des thèses qui ne relèvent pas des mêmes conditions d’énonciation […] ce sont là des contradictions extrinsèques qui renvoient à l’opposition entre des formations discursives distinctes.“ 23 Eine Aussage innerhalb einer darwinistischen Biologie mag einer solchen innerhalb einer klassifikatorischen Naturgeschichte im Sinne Linnés widersprechen, aber das liegt eben daran, dass sie von verschiedenen Regelsystemen hervorgebracht werden und als einzelne Aussagen daher kaum vergleichbar sind. Dazwischen gibt es einen besonders interessanten dritten Fall, den nämlich eines intrinsischen Widerspruchs innerhalb einer diskursiven Formation, der jedoch mehr als ein Oberflächenphänomen ist. Er führt zur Ausbildung von Subsystemen, die wiederum auf die archäologische 21 Vgl. Foucault 1969, S. 171-173. 22 Foucault 1969, S. 200. Hervorhebung original. Da in dieser Untersuchung keine vom Vf. hinzugefügten Hervorhebungen in Originalzitaten vorkommen, werden wir dies künftig nicht mehr vermerken. 23 Foucault 1969, S. 200 23 Grundstruktur bezogen werden können. Hier muss man differenzierende Oppositionen (die lediglich unproblematische neue Subsysteme herausbilden) von kritischen Oppositionen unterscheiden, die die Form in Frage stellen, in der sie auftreten. Dies werden wir im zweiten Teil dieser Arbeit, insbesondere in Kapitel III, aufgreifen. Man sieht an diesen Formulierungen - oder doch zumindest in dem interpretierenden Referat, das wir davon gaben -, dass sich die Beschreibung von Widersprüchen und Differenzierungen im Sinne von Foucaults Archäologie durchaus auch für die Erfassung von Wandel eignet. Nur die möglichen Gründe für solchen Wandel will Foucault nicht entwerfen, und daher tritt dieser bei ihm auch immer als Bruch, als Diskontinuität auf. Dabei ist klar, dass die Analyse sich immer auf die Form diskursiver Praxis zwischen zwei solchen Brüchen konzentrieren muss, da ja die Brüche als solche nur aufgewiesen, aber nicht durch Kausalerzählungen plausibel gemacht werden können. Foucaults Untersuchung ist deshalb hauptsächlich eine synchronische, die in ihrer formalen Beschreibung von diskursiven Praxen dem Vorgehen der synchronischen Sprachwissenschaft nahe steht. Damit ist sie natürlich doch wieder an einer Form von Kontinuität interessiert, denn eine synchronische Systembeschreibung, die zeitlich auseinanderliegende énoncés als Fälle derselben Praxis ausweisen will, muss die Gültigkeit dieses Systems mindestens über den die herangezogenen Fälle trennenden Zeitraum behaupten. Aber auch hier ist eine Qualifikation anzubringen. Nicht nur, dass Foucault solche Kontinuitäten zunächst nicht (und auch bei übergreifenden Beschreibungen, wie in Les mots et les choses, nur im Ergebnis) als Totalitäten im Sinne einer Kultur- oder Mentalitätsgeschichte verstehen will, er will überhaupt jede „synchronie massive“ unter Verdacht stellen: Diskurse können sich auch historisch überlappen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist ebenso möglich wie das unvermittelte Nebeneinanderlaufen von nicht widersprüchlichen, aber auch nicht vergleichbaren Diskursen. 24 Alle (insbesondere kausalen) Figuren der Verbindung des Disparaten machen Geschichte nach Foucault dem Sinnentwurf des Subjekts gefügig und verkennen dabei die Diskontinuitäten und Brüche, die die Archäologie im Gegenzug privilegieren will. In diesem Zusammenhang denunziert Foucault auch die Artikulation der Diskurse in die Reden von Autoren, ja sogar in Bücher, als unzulässige Kohärenzstiftungen. Die Abwertung von Kausalerzählungen, von Beschreibungen von Informationstransfers, der Konzepte des Buchs und des Autors und vor allem von Interpretation sind also die wesentlichen Widerstände, die Foucaults Ansatz seiner Dienstbarmachung für eine Literaturgeschichtsschreibung traditionelleren Zuschnitts entgegensetzt. Wir müssen uns daher überlegen, wie wir damit umgehen wollen (und das heißt auch: in wel- 24 Foucault 1969, S. 194 24 chem Maße diese Untersuchung im Rahmen solch traditioneller Geschichtsschreibung verbleiben darf), und werden in diesem Zusammenhang unsererseits einige Fragen an Foucault stellen. 2.1.3. Fragen an Foucault Die vorliegende Arbeit wird mit Methoden der Interpretation arbeiten (und hat dies schon bis zu diesem Punkt getan), sie wird Plausibilitäten des Informationstransfers etwa im Sinne von ‘Traditionen’ und Intertextualität abwägen (wenn auch in geringerem Maße), sie nennt und behandelt Buchtitel und Autoren und sie hat ein Interesse an Kausalverknüpfungen. Um mit der Intertextualität anzufangen: Sie ist keineswegs ein anekdotischer Aspekt von Autorbiographien oder ein Mittel zur harmonisierenden Konstruktion von Kontinuitäten, sondern sie ist ein Aspekt der Referentialität von Texten: Texte beziehen sich auf andere Texte oder auf Gruppen von solchen, oft auch auf tradierte Diskurse (ohne dass sie ihnen selbst angehören müssen). Gegenüber dem bei Foucault mit solchen Interessen assoziierten ständigen ‘Subjekt-Verdacht’ ist anzumerken, dass erzählerische oder semantische bzw. logische Bezüge einfach nützliche Werkzeuge zur Anfertigung einer plausiblen Geschichte sind, manchmal vielleicht sogar nur mnemotechnische Hilfen, benutzerfreundliche Etikettierungen (etwa Autorennamen), manchmal Strukturierungen, die althergebrachte Anordnungen ablösen und neue, zustimmungsfähige Orientierungen vorschlagen können. Diese Strategien müssen nicht auf ein monologisches Subjekt bezogen sein, sondern sie können im Rahmen einer ‘kommunikativen Vernunft’ etwa im Sinne von Habermas 25 verwendet werden. Die widersprüchliche Position des ebenso innerweltlich-empirischen wie transzendentalen Ich entfällt in einer solchen Vorstellung von interaktivem Verständigungshandeln, denn in ihr „steht das Ego in einer interpersonalen Beziehung, die es ihm erlaubt, sich aus der Perspektive von Alter auf sich als Teilnehmer an einer Interaktion zu beziehen,“ 26 statt sich immer nur monologisch selbstreflexiv hinterfragen zu müssen. Seine Entwürfe von möglichen Kontinuitäten und Zusammenhängen sind so Vorschläge, auf die man sich verständigen kann oder nicht, und deren Zustimmungsfähigkeit von ihrer Verwendbarkeit abhängt - und also durchaus von den Interessen der Kommunikationsteilnehmer. Einen anderen Anspruch kann Foucault auch für seine Archäologie nicht erheben. Die Interessensverflechtung, der Missbrauch, der mit solchen Entwürfen getrieben werden kann, bleibt bei allen Verfahren der gleiche (und kann im Gespräch als Interessensverflechtung thematisiert, als 25 Vgl. Habermas 1985, S. 344ff. 26 Habermas 1985, S. 347. „Alter“ bezieht sich hier auf den Ausdruck alter ego. 25 Missbrauch erwiesen werden). Denn auch die archäologische Methode ist nicht genügend formalisiert, um sich als nicht interpretative Wissenschaft von den Geisteswissenschaften absetzen und so die Möglichkeit einer Dienstbarmachung ihrer Erzählungen für ein festlegendes oder reaktionäres Interesse von vornherein auszuschließen. Foucault gelingt es nämlich nicht (und kann es nicht gelingen), eine „hermeneutische Außenperspektive“ (Kögler 27 ) zu definieren, die unsere erste Frage positiv zu beantworten vermöchte: a) Ist Archäologie ohne Hermeneutik möglich? Foucault rühmt seine Archäologie gegenüber einer im Paradigma der Interpretation und Hermeneutik verfangenen Ideengeschichte: Elle ne traite pas le discours comme document, comme signe d’autre chose, comme élément qui devrait être transparent mais dont il faut souvent traverser l’opacité importune pour rejoindre enfin, là où elle est tenue en réserve, la profondeur de l’essentiel […] ce n’est pas une discipline interprétative: elle ne cherche pas un „autre discours“ mieux caché. Elle se refuse à être „allégorique“. 28 Würde Foucault tatsächlich nur so etwas wie die Anordnung von Schriftzeichen auf Dokumenten beschreiben und dabei etwa Rekurrenzen und Rhythmen erfassen, so wäre diese Distanzierung plausibel. So bald es aber auch nur darum geht, einen Satz und seine Inversion als äquivalent zu setzen (von einer Aussage über den Inhalt des Satzes noch gar nicht zu reden), hat bereits Interpretation stattgefunden. Angesichts von Foucaults Praxis in Les mots et les choses, Sätze, ja sogar zusammenfassend referierte Positionen als Beispiele für eine bestimmte Anschauung von der Sprache, vom Zeichen oder vom Urteil anzuführen, muss der Versuch, das Element der Interpretation aus dem eigenen Vorgehen zu bannen, illusorisch erscheinen. Foucault scheint sich auch immer nur theoretisch, nie praktisch dieser Illusion hinzugeben. Darüber hinaus ist die oben zitierte polemische Zuspitzung dessen, was Interpretation sein soll, auch eine vollkommen inadäquate Beschreibung des Gegenstandes, auf den sie sich bezieht. Schon die Vorstellung, Sinn sei als etwas immer schon im Verborgenen Wartendes beschreibbar, als illusorische Substanz (und die Hoffnung, die Suche danach wäre mit diesem Argument zu kritisieren), werden nicht viele Leser Foucaults teilen. Sieht man Interpretation hingegen als notwendigen Akt auf eine kommunikative Verständigung hin, als Spielzug im gemeinsamen Entwerfen von Konstrukten, die sich auf bereits gemachte Äußerungen beziehen, so wird man nicht umhin können, sie in jeder sprachlichen Aktivität zu vermuten. 27 Vgl. Kögler 1992, S. 151ff. 28 Foucault 1969, S. 182 26 Auch die Archäologie ist demnach eine „discipline interprétative“, auch wenn sie die Erhellung von Texten nicht zu ihrem Zweck, sondern nur zum Mittel hat. Wir werden freilich sehen, dass unser noch zu verteidigendes Interesse am Einzeltext hier noch etwas weiter gehen muss als eine solchermaßen korrigierte Archäologie. Gerade die Einsicht in die Notwendigkeit von Interpretation eröffnet die Chance, diese nicht zum unreflektierten Hintergrundgeschehen zu machen, sondern das eigene Vorverständnis am fremden Standpunkt zu überprüfen. Allzu weit kann eine Untersuchung wie die vorliegende zwar auf diesem Weg nicht voranschreiten, aber eine Vorarbeit dazu ist möglich: Die fremden Konstrukte (vor allem der Illuministen) müssen mit ‘frommer Phantasie’ (Schmidt-Biggemann 29 ) stark gemacht und dabei möglichst wenig der eigenen Rationalität angepasst werden; gerade das Mythische oder scheinbar Phantastische darf nicht kassiert werden. Dabei muss jedoch der Geltungsanspruch der fremden Rede besonders berücksichtigt werden. Die in Frage stehenden Reden sollen nicht dekonstruiert, sondern konstruiert werden. Auch Kritik kann in diesem Zusammenhang nur als Instrument der Beleuchtung von Argumentationsstrukturen Verwendung finden. Eine wirkliche Kritik im Sinne der etwa von Kögler vorgestellten Kritischen Hermeneutik, die die eigenen Ausgangspositionen bereits am rekonstruierten fremden Standpunkt überprüft hätte und von hier wieder auf das Gegenüber zurück käme, wäre jenseits des Horizonts dieser Arbeit. b) Welche Festigkeit impliziert der Begriff des Archivs? - So lautet unsere zweite Frage. Das Archiv wurde als loi oder formation beschrieben, wobei jedoch die Hintergrundbildlichkeit dieses metaphorischen Begriffs auf eine Institution, eine Einrichtung hinweist. Dies lässt die Frage nach dem ontologischen Status dieser loi virulent werden. Die Gefahr dieser Bildlichkeit des Archivs ist offensichtlich die, dass tendenziell der Institutions- und Gegenstandscharakter eines Archivs auf die idealen Gegenstände der Formation, der Spielregel oder des Horizonts übertragen wird, mit der Folge einer Hypostasierung von Praxen zu substanzhaften Entitäten, die dann zu zwei Problemen führt, welche schon Durkheims Begriff des fait social kennzeichneten: Sie tendiert dazu, diesem substanzhaften Wesen ein Dasein außerhalb der Sprecher bzw. Handelnden zuzuschreiben, und die Veränderung und Adaptabilität eines solchen Wesens ist aufgrund dieser Selbständigkeit nur schwer zu beschreiben. Wenn die Gesamtheit der institutionalisierten Vorgriffe und Produktionsregeln eine Form konstituiert, die außerhalb und überhalb der einzelnen 29 Eine solche Phantasie gegenüber dem fremden Mythos und seinem Geltungsanspruch ist Bestandteil der Methodik von Schmidt-Biggemanns 1998 großer Untersuchung über die neuplatonische Philosophia perennis (vgl. dort S. 15ff.). 27 énoncés liegt, wie kann dann ein Handeln, das nur in enoncés besteht, diese Form überhaupt verändern? Foucault braucht jedoch genau diese Vorstellung, um die seiner Ansicht nach immer nur subjektphilosophisch zu denkende Tätigkeit des Individuums möglichst zu marginalisieren. Die Archive sind sozusagen als automatische Produktionssysteme gedacht, die nur Fließbandarbeiter, aber keine Ingenieure brauchen. Foucaults Fassung der Diskursproduktion als Spielgeschehen im starken Sinne kann und will aus Furcht vor einer Annahme eines autonomen Subjekts den Beitrag des Einzelnen nicht erklären und kann damit auch nicht zeigen, wie ein solches Spiel verfehlt, subvertiert oder verändert werden kann. 30 Dies ist unpraktisch, zumal dann, wenn - wie es bei unserer Untersuchung der Fall sein wird - das Phänomen des Wandels eine Rolle spielen soll. Deshalb soll als erste Korrektur an Foucaults Vorstellung vom Archiv hier die Vorstellung eines Spielgeschehens in einem schwachen Sinn eingeführt werden (und so erschließt sich, warum wir entgegen Foucaults eigenem Gebrauch in die Referate seiner Positionen oben bereits den Spielbegriff eingeschmuggelt haben): Damit ist ein Spiel gemeint, das nicht als blinde Automatik abläuft, sondern nur in der Teilnahme, nur im Spielen seine Realität hat. Das Spiel existiert nur, insofern es gespielt wird, und die Regeln sind dieser Praxis implizit - darum aber nicht weniger Vorbedingungen des sie zugleich immer neu konstituierenden Spielverhaltens. Mit einer solchen dialektischen Auffassung (die in der historischen Sprachwissenschaft Coseriu (1969) als Alternative zu Durkheim versucht hat) macht man Foucaults Beschreibung von Diskurspraxis als Praxis stark, entgeht der versteckten Tendenz zur Hypostasierung von Formationen und kann nun die Teilnahme des Einzelnen als korrekten, subversiven, chaotischen, ungültigen oder spielverändernden Spielzug beschreiben. Dadurch wird der Einzelne auch nicht zum autonomen Subjekt, das aus einer dem Spiel äußerlichen Position dieses bestimmen würde: Seine Spielgestaltung und seine strategischen Entscheidungen können selbst Teil des Spiels sein, Missverständnis des Spiels, Machteffekt; für diejenigen, die diesen Begriff interessant finden, auch: ‘Zufall.’ Der Einzelne muss in diesem Sinne nicht mehr sein als ein Punkt des Zusammenwirkens unübersichtlicher Abläufe. Aber er kann, aus welchem Grunde auch immer, potentiell spielverändernde Züge vorschlagen, die von anderen aufgenommen werden oder aber im Sande verlaufen. Dies mag dann wiederum von Problemen der ‘Formation’ abhängen, die vielleicht gerade virulent werden, aber natürlich nicht selbst zu ihrer Lösung drängen, sondern von Teilnehmern erkannt oder missverstanden werden, zu (aus wessen Perspektive auch immer) sinnvollen oder sinnlosen Gegenaktionen motivieren, gelöst oder auch einfach vergessen werden können. Im Zusammenhang einer 30 Vgl. hierzu Frank 1983, S. 213. 28 Rekonstruktion solcher chaotischer Spielzüge und ihrer Beziehungen untereinander werden dann auch Fragen nach Informationstransfer und Intertextualität aktuell, denn sie gehen ja auf das Verhältnis zwischen einzelnen Spielzügen. In diesem Zusammenhang erweist sich auch ein anderer Vorzug des Spielbegriffs gegenüber dem der Formation oder des Archivs: Foucaults Begrifflichkeit suggeriert zu sehr ein monologisches Vor-Sich- Hin-Murmeln der Diskurse; dagegen impliziert der Spielbegriff einen Dialog, der wiederum nicht in dem Sinne beschrieben werden muss, dass ein Subjekt versteht, was das jeweils andere ‘gemeint’ hat, sondern schon an den einzelnen énoncés als Bezugnahme aufgewiesen werden kann. Es ist klar, dass diese Vorstellung von Spiel einen gewissen Systemcharakter einschließt. Wir müssen diesbezüglich gewisse Anleihen bei den Systemtheorien machen, etwa was systemkonstitutive Vorgänge und Funktionen, Differenzierungen, Selektion und Umorganisation betrifft. Ein Gedanke wie der, sich ausdifferenzierende Mannigfaltigkeit biete Auswahlmöglichkeiten für neue Systematisierungen, wäre beispielsweise in der evolutionären Variante der Systemtheorie bei Niklas Luhmann zu finden. 31 Unser systemtheoretisches Gepäck soll jedoch möglichst leicht geschnürt werden, und zwar aus zwei Gründen: Eine Übertragbarkeit der zunächst einmal für lebende Systeme aufgestellten Konzeption des autopoietischen Systems im Sinne der Evolutionstheorie auf diskursive Spiele ist zum einen keineswegs ausgemacht; es kann nützlich sein, so etwas zu versuchen, aber es besteht immer die Gefahr, dass das Modell eine nur belastende Metapher bleibt. Zum anderen tendiert eine Auffassung von Spielgeschehen als von einem sich selbst reproduzierenden System wiederum zu einer Verfestigung und Substantialisierung desselben, die belastende Implikate hat: Kann man etwa vom Tod eines Systems sprechen, wenn irgendwann niemand mehr Allgemeine Grammatik betreibt? Sind die historischen Grenzen zwischen einem Spiel und seinem Nachfolger scharf genug, um von zwei verschiedenen Wesen zu sprechen, oder handelt es sich um das gleiche System, das sich neu angepasst hat - und ist es dann unter dem gleichen Namen oder unter einem anderen zu führen? Dies sind keineswegs unlösbare Probleme, aber ihre Lösung würde unsere Arbeit mehr belasten als befördern, und deshalb wollen wir sie einfach beiseite lassen. Die zuletzt gestellte Frage wollen wir einfach so beantworten: Ändert das Spiel hinreichend seinen Charakter, dass der oder die es aus historischer Ferne Beschreibende es nützlich findet, nun von einem anderen, neuen Spiel zu sprechen, dann könnte man von einem Epochenwechsel sprechen. Dies führt uns zu der zweiten Hypostasierungs-Gefahr, die in Foucaults Modell lauert. 31 Vgl. etwa Luhmann 1985, wo wertvolle systemtheoretische Überlegungen zum Epochenproblem zu finden sind. 29 c) Welchen Status haben ‘Epoche’ und épistémè? Foucault steht in einem Widerspruch zwischen einer Neigung zur Hypostasierung von Epochen - in Les mots et les choses - und deren Leugnung bzw. Denunziation als Konstrukten einer kohärenzstiftenden Subjektivität - in L’archéologie du savoir. Im letztgenannten Text wird der Begriff der épistémè deshalb preisgegeben, wenn er auch noch in den Grundstrukturen des Archivs implizit zu sein scheint. Durch den Begriff des Archivs wird zugleich wieder die Hypostasierungsgefahr verstärkt, da die Vorstellung fester Archive und konstanter Regeln die Epochen und Subepochen oder doch zumindest die historischen Diskursformationen mit einer gewissen Substantialität ausstattet. Nun ist aber gerade diese Vorstellung einer Grundformation auf relativ (aber nicht übertrieben) hohem Abstraktionsniveau, 32 in der sich verschiedene Diskurse zusammen denken lassen, dasjenige, was uns an Foucault besonders interessiert (und was auch wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen hat). Wir wollen daher Foucault gegen Foucault folgen und uns um eine möglichst nominalistische und instrumentelle Verwendung des Epochen- und épistémè-Begriffs bemühen. Dieser soll den Status einer vorläufigen und stets zu überprüfenden Orientierungserzählung haben. Mit épistémè wollen wir Folgendes meinen: Verschiedene Diskurse (etwa die in Les mots et les choses behandelten, andere vielleicht nicht) können sich in gemeinsamen Verfahren und Annahmen kreuzen, etwa deshalb, weil sie - im Falle der ‘klassischen’ épistémè - in bestimmter Weise die Sprache zum Referenzmodell nehmen; daher kann Foucault von Zügen der Allgemeinen Grammatik her auch andere Diskurse (die Analyse der Reichtümer und die Naturgeschichte) beleuchten. Die gewisse Einheitlichkeit der sich dadurch zeigenden épistémè ist eine These über eine historische Besonderheit, keine Erfassung einer globalen Denkweise oder Mentalität. Freilich stellt Foucault auch für die Renaissance und das neunzehnte Jahrhundert solche Thesen auf, wenn auch mit geringerem Erfolg: Sie sind (etwa von Otto (1992) für die Renaissance und Frank (1983) für das neunzehnte Jahrhundert) nachdrücklicher relativiert worden als diejenigen zum ‘klassischen’ Zeitalter. Die Tatsache, dass eine solche globale Epochenanalyse nicht in allen Fällen gleich gut glückt, spricht also für die Vorsicht der Archéologie du savoir gegenüber solchen Totalisierungen. Den Begriff der ‘Epoche’ werden wir dementsprechend verwenden: Wenn in einem ersten hypothetischen Vorgriff isolierte Diskurse sich zwischen zwei Diskontinuitäten über eine gewisse Strecke in nützlicher Weise als relativ konstante Systeme beschreiben lassen, dann kann man für den entsprechenden Diskurs eine 32 Es ist klar, dass die Anhebung des Abstraktionsniveaus bei solchen Untersuchungen immer auch die Verflachung der Befunde mit sich bringt. Es wäre beispielsweise banal, Aufklärer und Illuministen darin verbunden zu sehen, dass sie das Eine und das Mannigfaltige in Beziehung setzen wollen o.ä. 30 Art Epoche annehmen. Wenn mehrere Diskurse in dieser Hinsicht ähnlich in der Zeit zu liegen scheinen, kann man es nützlich finden, von einer ‘Epoche’ im Sinne von Foucaults ‘Klassik’ zu sprechen - so lange, bis eine andere Einteilung die Handhabung der Texte und Diskurse besser ermöglicht. Und deshalb wollen wir auch Foucaults Begriffe der ‘klassischen’ oder der ‘Renaissance'-épistémè nur in Anführungszeichen verwenden und uns auch nicht von Anfang an für einen Epochenbruch um 1800 entscheiden. Vielmehr werden wir in einem ersten Schritt ausprobieren, ob sich alle von uns untersuchten Schriften (deren chronologischer Rahmen von dem relativ äußerlich eingrenzbaren, aber gleichwohl nur in interpretativem Vorgriff entworfenen Phänomen des ‘Martinismus’ vorgegeben sein wird) auf eine einzige Grundstruktur beziehen lassen, und erst in einem zweiten Schritt möglicherweise Unverrechenbares in einer Transformationserzählung aufgreifen. Die Epoche, die épistémè und der historische Diskurs sind in beiden Etappen bloße Orientierungsinstrumente. Kontinuität (oder Kontinuität in der Diskontinuität) wird sich dann allenfalls als wiederum orientierender Zusatznutzen ergeben, nicht das Ziel sein. Dies führt uns zu einer weiteren Frage: Es wurde oben schon angedeutet, dass wir nicht nur von der Methode Foucaults lernen, sondern auch Elemente seiner tatsächlichen Analyse des uns interessierenden Zeitalters aufgreifen wollen. Das Vorhaben des vorliegenden Buches ist es nicht, ex nihilo mit Foucaults Instrumentarium einen neuen Entwurf von so etwas wie einer ‘spätklassischen’ épistémè zu erschaffen, sondern eine um scheinbar exzentrische Texte erweiterte Textbasis unter überprüfender Aneignung von Foucaults bereits aufgestelltem Modell zu erschließen und zu analysieren. d) Kann Foucaults Modell der ‘klassischen’ épistémè den Illuminismus mit erfassen? Für unser Vorhaben einer Epochenskizze der lumières, in der auch dem esoterischen Vernunftlicht ein Platz zukommen soll, wollen wir uns also in einen Dialog mit Foucaults Entwurf begeben. Wir wollen ihn uns anverwandeln und dabei auch wiederum überprüfen. Aus diesem Umgang ergeben sich wiederum drei auseinander hervorgehende Rückfragen an Foucaults Modell, die zugleich die logischen Möglichkeiten dieser überprüfenden Anverwandlung angeben: 1. Ist Foucaults Beschreibung der klassischen épistémè und ihrer Diskurse den von ihm untersuchten Texten angemessen? Um dies zu klären, wird in Kapitel I eine aneignende Rekonstruktion von Foucaults Entwurf mit einer Fülle von Textstellen aus denjenigen Werken abgeglichen werden, die Foucault selbst erwähnt. Vor allem die in dieser Menge eine gewichtige Positi- 31 on einnehmenden Schriften Condillacs und der idéologues sollen dabei privilegiert werden, da sie nämlich auch in besonderem Maße Gesprächspartner der Illuministen, besonders Saint-Martins, sind. Als Zusatztest für die Frage nach der Universalität oder Regionalität von Foucaults Konstrukt wollen wir jedoch auch einige bei Foucault weniger wichtige Autoren (etwa Maupertuis) befragen. 2. Kann Foucaults Modell die von uns hinzugenommenen énoncés ebenfalls einordnen? Gehören also die Spielzüge der Illuministen, die denen der bekannteren Schriftsteller der ‘Aufklärung’ oft gerade entgegengesetzt sind, in das gleiche Spiel? In solchen Fällen wird vor allem die Frage nach Widersprüchen relevant. Aus der Perspektive der Archäologie lautet die Frage demnach: Sind die Widersprüche zwischen illuministischen enoncés und denen der anderen Teilnehmer Oberflächenphänomene (also Fälle von Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Diskurs, wobei der illuministische Diskurs dann als Regionalform des jeweils untersuchten allgemeinen Diskurses erscheint - so wie der physiokratische bezüglich der Analyse der Reichtümer)? Sind sie extrinsische Widersprüche (also Fälle von Zugehörigkeit zu unterschiedlichen und unvereinbaren Diskursen)? Oder sind sie erweiternde oder gar kritische differenzierende intrinsische Widersprüche (ist also der illuministische Diskurs ein Subdiskurs, der innerhalb übergreifender Diskurse als Differenzierung oder Krise auftritt)? Für die Möglichkeit, dass es sich um énoncés unvergleichlicher Diskurse handelt, müssen dann Kriterien angegeben werden. Hier kommen sowohl strukturelle als auch pragmatische Aspekte in Frage, die wahrscheinlich zusammen auftreten werden. Ein énoncé kann gegenüber dem Diskurs, auf den man es verrechnen möchte, formal heterogen sein, also durch eine von diesem Diskurs nicht vorgesehene diskursive Praxis hervorgebracht werden. In L’ordre du discours hat Foucault neben der Möglichkeit, dass Diskurse ohne Kontakt nebeneinander laufen können, auch eine Art Vorstellung von Innen und Außen eingeführt: Ein herrschendes Wahrheitsspiel kann spielfremde Elemente und Verfahren oder ganze Diskurse in die Unwahrheit, die Poesie oder den Wahnsinn abdrängen. Formale Heterogenität kann in diesem Fall durch pragmatische Ausgrenzung bestätigt werden. Der ausgegrenzte oder marginale Diskurs kann dann eventuell in einer neuen Epoche in den Mittelpunkt geraten. Bei solchen extrinsischen Widersprüchen zwischen énoncés, die verschiedenen Diskursen angehören, müssen wir außerdem zwei Möglichkeiten unterscheiden: a) Wenn der illuministische Diskurs (der in seiner Struktur selbst erfasst werden muss) kein Regionaldiskurs des jeweils anderen Diskurses sein sollte, so sind seine Aussagen zunächst nach Foucaults Auffassung schein- 32 bar ähnlichen oder analogen Aussagen innerhalb dieses anderen Diskurses unvergleichlich, weil sie von anderen Regeln produziert werden. Wir wollen jedoch hier nicht stehen bleiben, sondern (im Sinne von Les mots et les choses) fragen, ob etwa der illuministische Diskurs sich zu den in der Beschreibung der épistémè erfassten Gemeinsamkeiten verschiedener Diskurse (wie der Allgemeinen Grammatik und der Naturgeschichte) in ähnlicher Weise verhält wie diese anderen Diskurse selbst, also: Ist der Illuminismus ein ‘klassischer’ Diskurs, der neben die anderen tritt? b) Diejenigen, die diesen Diskurs pflegen, sind jedoch außerdem auch mit der Produktion anderer Diskurse befasst: So äußern sie sich ja auch selbst über Sprache und Natur und sind damit durch die gemeinsam mit ihren Zeitgenossen erschlossenen Themen auch mit den allgemein um diese kreisenden (oder diese überhaupt erst hervorbringenden) Diskursen konfrontiert. Sie sind also auch Teilnehmer an nicht illuministischen Spielen. So werden wir etwa am Beispiel von Dupont de Nemours sehen, dass ein Schriftsteller, der sich hauptsächlich zur Analyse der Reichtümer geäußert hat (und zwar - auf der Ebene der Meinungen - physiokratisch) in einem bestimmten Moment seines Lebens ein esoterisches Buch schreibt, das nur geringfügig von seiner sonstigen diskursiven Tätigkeit affiziert wird und auch umgekehrt seine Aussagen in dem anderen Diskurs nicht bestimmt: Die beiden Diskurse haben einfach wenig miteinander zu tun (wenn sich auch am Beispiel Court de Gébelins zeigen lässt, dass sie auf einer höheren Ebene als ganze wiederum Gemeinsamkeiten im Sinne von a) haben). Leibniz ist ein Beispiel für einen Schriftsteller, der einerseits Material für Foucaults Beschreibung der ‘klassischen’ épistémè bereit stellt, andererseits mit zahlreichen seiner Konzeptionen in esoterischen Traditionen steht. Häufiger aber wird der Fall auftreten, dass das Schreiben etwa eines Illuministen über Gegenstände der Allgemeinen Grammatik sich am Kreuzungspunkt beider Diskurse situiert. In diesem Fall wird es zwar im Allgemeinen möglich sein, festzustellen, welchem Diskurs die Regeln und Verfahren, die die betreffende Äußerung bestimmen, zugeordnet werden können (nämlich entweder beiden, und dann ist eine mögliche Gegenstellung der betreffenden Äußerung zu anderen in dem Diskurs vorgebrachten ein Oberflächenphänomen, oder nur einem von beiden, und dann liegt der Fall des extrinsischen Widerspruchs vor, den wir hier behandeln), aber damit beginnen erst (entgegen Foucaults Ansicht) die interessanten Fragen, vor allem zwei: die nach den sich gerade in einer solchen Überkreuzung eventuell zeigenden Gemeinsamkeiten der beiden Diskurse (die im Sinne von a) auf eine gemeinsame épistémè verweisen) - und die nach den Interaktionen der beiden Diskurse: Das Einfließen illuministischer Spielzüge kann ja auch den anderen Diskurs verändern, subvertieren, chaotisieren. Ein von illuministischen Regeln produzierter Spielzug, der als chaotische Äußerung zur Allgemeinen Grammatik erscheint, kann, wenn ihm von anderen Teilneh- 33 mern des letztgenannten Spiels genügend Relevanz zugesprochen wird (und er irgendwie auf die Grundgestalt dieses Diskurses beziehbar ist), zu einem der beiden Terme eines sich öffnenden erweiternden oder gar kritischen Widerspruchs innerhalb dieses Diskurses werden. Denn die Diskurse laufen ja nicht die ganze Zeit über in abgeschotteten Diskursräumen ab, sondern begegnen sich mindestens zuweilen in Publikationen und Diskussionen. 33 3. Oder sind solche Widersprüche für Foucaults Modell nicht mehr erfassbar? Widerlegen die Illuministen seine Beschreibung des Spiels in toto, erfordern sie eine andere Theorie der ‘Klassik'? Müsste man also, um die in Rede stehende Epoche nützlich beschreiben zu können, ein neues Modell ersinnen, das nun alle hier untersuchten Texte in neuer, sinnvollerer Weise anordnete und erklärte und dabei jedoch nicht so weit gefasst wäre, dass man den in Rede stehenden Zeitraum nicht mehr von anderen unterscheiden könnte? Die letzte Frage können wir gleich hier beantworten: Foucaults Entwurf will ja (auch wenn manchmal der gegenteilige Eindruck entsteht) keine Totalität erfassen. Um jeden Preis alle Phänomene unterbringen zu wollen, das hieße wieder, dem ‘geisteswissenschaftlichen’ Zwang zur Kohärenzstiftung zu verfallen. So muss auch die épistémè ein begrenztes Konstrukt bleiben, eine Formation möglicher Gemeinsamkeiten von verschiedenen Regionaldiskursen. Der mögliche Befund, die Illuministen hätten mit dem Rest ihres Zeitalters nichts zu tun, würde den Entwurf Foucaults regionalisieren, aber nicht invalidieren. Das heißt nicht, Foucaults These wäre nicht falsifizierbar (und also im Sinne Poppers nicht wissenschaftlich): Wenn sich im Sinne der unter 1. angeführten Möglichkeit ergibt, dass sie auch die Texte, auf die sie sich ausdrücklich bezieht, nicht adäquat erfasst, wäre sie falsifiziert. 2.2. Das Interesse am Einzeltext Das zweite Ziel dieser Arbeit ist, wie angedeutet, die Erschließung von Einzeltexten. Damit situiert sie sich dezidierter als mit den bisher angeführten Modifikationen außerhalb der Diskursarchäologie. Es liegt auf der Hand, dass Foucaults Interesse an den Formen und Verfahren der Hervorbringung und Benutzung von Diskursen zwangsläufig zur Geringschätzung der jeweiligen Einzelpositionen und Texte führen 33 Sie laufen allerdings gelegentlich durchaus in geschützten Räumen ab, etwa in der Geheimgesellschaft Martines de Pasquallys. Andererseits schaffen sich natürlich auch Publikationen durch Signale der Gattungszugehörigkeit solche Diskursräume. Dennoch werden wir sehen, dass etwa Saint-Martins Des erreurs et de la vérité trotz unübersehbar esoterischer Signale im öffentlichen Diskursraum wahrgenommen und kritisiert wurde (und nicht etwa nur als Sonderphänomen verortet). 34 muss, zum einen positiv, weil sich das Interesse ja auf die Mechanismen der Produktion solcher Positionen richtet, zum anderen negativ, weil ihre Bedingtheit durch die ihnen vorausgehenden ‘Positivitäten’ sie in dieser Optik entwertet. Foucaults Vorbehalte gegen die Kohärenzen des Werks und des Autors tun ein Übriges, diese Abwertung der Texte gegenüber den Formationen zu befördern. Aber dies führt zum einen zu methodischen Problemen für die Archäologie selbst, zum anderen steht es unserem oben genannten Interesse entgegen. 2.2.1. Die Archäologie und der Einzeltext Wir sahen bereits, dass der Versuch einer Diskursanalyse, die ohne interpretative Bemühung um Textverständnis auskommen will, einer Illusion erliegt. Darüber hinaus ist eine solche Analyse selbst monologisch, denn sie geschieht in der Meinung, die Explizierung des eigenen Verständnisses zur Überprüfung durch den Leser sei entbehrlich. Die Analyse stützt sich immer auf eine interpretatorische Synthese, schon die Erschließung von Wortbedeutungen ist eine solche. Die Interpretation darf daher nicht in das Feld unthematisierter Vorarbeiten abgedrängt und vergessen werden, sie muss explizit vollzogen werden. So kann auch verhindert werden, dass die Ergebnisse der Analysen (wie zuweilen in Les mots et les choses) als kaum an der Textbasis überprüfbare (aber gleichwohl in Foucaults Fall: geniale) Taschenspielerei erscheinen. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Satz, sondern auch für größere textuelle Einheiten. Es ist banal (aber nicht unnötig), darauf hinzuweisen, dass der Kontext, die Gesamtstruktur, der Gattungshorizont etc. eines Textes Elemente sind, die auch die Konstruktion scheinbar offenliegender Bedeutung von Einzelsätzen affizieren müssen. Bei Autoren, die mit Strategien der Intertextualität innerhalb des von ihnen erzeugten Textkorpus arbeiten, muss auch der Bezug zwischen diesen einzelnen Hervorbringungen zumindest mit beachtet werden. So setzt Saint-Martin, der ‘wichtigste’ (will sagen: quantitativ produktivste und am meisten rezipierte) Illuminist, an den Anfang fast aller seiner längeren darlegenden Texte ein Motto, das dem jeweils davor publizierten Werk entnommen ist und zeigt, welcher besondere Aspekt der früheren Veröffentlichung in der je aktuellen besonders weiter entwickelt wird. Außerdem erfüllen diese Wiederaufnahmen bei ihm die Funktion einer Serialisierung seiner zunächst anonym publizierten Bücher, die ja in diesem Fall nicht über das Etikett des Autornamens zu leisten wäre. Nun mag man einwenden, dies klinge wie eine Bezugnahme auf so etwas wie eine Autorintention oder zumindest Textintention und führe so geradewegs wieder in die Subjektverfallenheit der Geisteswissenschaften, denn die Erschließung eines Textes aus einer rekonstruierten Autorenper- 35 spektive ist ja wieder ein Versuch, den Text monologisch zu denken. Aus unserem Beispielfall ergeben sich zwei Gegenargumente gegen diese Kritik: Erstens ist das Motto ein identifizierbares Textelement, dem eine interpretierende Konstruktion des jeweiligen Textes eine Funktion zuzuweisen versucht. Zweites aber ist ‘Saint-Martin’ eine implizite Position im Text und damit Bestandteil der Konstrukte, die eine Lesergemeinschaft von einem solchen Text dialogisch entwerfen kann. Das Spiel des philosophe inconnu mit seiner Anonymität bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Prominenz und textinterner Markierung der Serialität seiner Hervorbringungen ist eine Praxis, die mit der Struktur des Textes selbst verbunden ist. Es geht keineswegs darum, zu rekonstruieren, was der historische Saint-Martin (falls es ihn gab) ‘sich dabei gedacht hat’, sondern es geht darum, innerhalb der Spielregeln einer Text-Benutzergemeinschaft, die sich auf die Bemühung um so etwas wie historischen Sinn verständigt hat, die historischen Codes und Praxen, die in den Text eingegangen sein können, mit zu entwerfen. Darüber hinaus aber riskiert gerade eine Marginalisierung des Autors und des Einzeltextes, dass die Diskursanalyse selbst monologisch wird, und zwar sowohl gegenüber den anderen Textbenutzern wie gegenüber dem Text selbst. ‘Saint-Martin’ ist ja nicht nur ein orientierendes Konstrukt der Lesergemeinschaft, das man nicht leichtfertig vom Tisch fegen sollte, sondern er ist in seinen Texten auch selbst ein imaginärer Dialogpartner (ganz unabhängig davon, ob es ihn ‘wirklich’ gegeben hat und ob er ‘wirklich’ irgendetwas gedacht oder gemeint haben mag). Innerhalb unseres (selbst nicht letztbegründbaren) Interesses, das Corpus der zu untersuchenden Texte zum dialogischen Gegenüber einzusetzen, kann die Forderung gerechtfertigt werden, diese Texte (und ihre impliziten Autoren) nicht zum bloßen Objekt zu machen. Auch das für unser Interesse am Allgemeinen notwendige Verfahren, Texte zu Fällen von entworfenen Gesetzlichkeiten zu machen, riskiert im übrigen, den Anderen, das textinterne Gegenüber, zum Objekt zu machen, Deutungsmacht dadurch zu gewinnen, dass man ihn als Fall für etwas erklärt und einordnet. Dem eigenen Denken fremde Sonderdiskurse wie der theosophische können so leicht abgetan werden, ohne dass man wirklichen Gewinn an ihnen hätte. Die Gefahr der Objektivation erwächst außerdem auch aus der Analyse der potentiellen Machtverflochtenheit von Texten. So steht die Lektüre der Werke des Abbé de Condillac immer vor dem Problem, dass scheinbare Zugeständnisse an katholische Orthodoxie auch einfach Effekte von Macht sein können. Eine emanzipatorische Machtanalyse müsste dann aus den Tiefen des Textes zutage fördern, was ‘eigentlich’ hätte ausgesagt werden können. Dies ist dann legitim, wenn der Text selbst genügend Signale für eine solche Doppelbödigkeit gibt, denn nur dann kann man vermeiden, sich wieder in das Fahrwasser der Rekonstruktion einer unerreichbaren 36 Autorintention zu begeben. Häufig aber führt eine solche Vorgehensweise wieder dazu, den Text nicht ernst zu nehmen, im Lichte der eigenen Überzeugungen unter Hinweis auf eine mögliche Selbstzensur des Autors an der Oberfläche sich anbietende Bedeutungsstrukturen abzuwerten. 34 In solchen Fällen bleibt es schwer zu entscheiden, mit welcher der beiden Strategien dem Geltungsanspruch der fremden Rede besser genügt werden kann. Unsere Untersuchung wird versuchen, Condillac sozusagen wörtlich zu nehmen und nicht auf das zu rekurrieren, was er unter anderen Machtverhältnissen hätte sagen können. 2.2.2. Sprechende Überreste Schließlich geht unser Interesse am Einzeltext auch auf eine Nutzbarmachung von andernfalls verschütteten (und teils wohl auch widerständigen) Texten, die einfach als Bestandteil einer Fülle von Lektüre-Möglichkeiten sprechend zu erhalten sind. So kann unsere Version der ‘Archäologie’ einer in Louis-Claude de Saint-Martins phantastischem poème (wir würden vielleicht sagen: prosimetrischem Roman) Le Crocodile beschriebenen Utopie verglichen werden, die zum Abschluss dieser allgemeinen Überlegungen kurz umrissen werden soll. Im vierundsechzigsten Gesang von Le Crocodile (und den darauf folgenden) befindet sich eine Figur namens Ourdeck im Körper des großen Krokodils, welches Paris bedroht (und welches eine Allegorie der dem Bösen und dem Nichts verfallenen Materie ist). Diese Materie hat die im Vergleich zur Romangegenwart geistigere Zivilisationsstufe der (zweifellos mit Platons Atlantis verwandten) „ville d’Atalante“ im Jahre 425 v. Chr. in sich hinabgesogen. Ourdeck durchquert die Ruinen dieser Stadt im Bauch des Krokodils, betrachtet und deutet sie. Er findet Institutionen hoher Kultur, unter anderem einen philosophischen Diskussionskreis. Aber die Archäologie, die hier vorgeführt wird, ist nicht die Auswertung stummer Reste, sondern es handelt sich um eine Archäologie auch der versunkenen Gespräche selbst, denn die Worte der längst verblichenen Philosophen sind noch gegenwärtig, sie sind wie eingefrorene Sprechblasen zwischen den ausgestorbenen Stätten des philosophischen Diskurses erhalten geblieben. Ganze Austäusche kann Ourdeck noch lesen. Den Hintergrund dieser phantastischen Fiktion bildet ein Mythos, der auch noch in Saint-Martins letztem Werk, Le ministère de l’homme-esprit, erscheint: […] l’homme ne peut produire une pensée, une parole, un acte, que cela ne s’imprime sur l’éternel miroir où tout se grave et ou rien ne s’efface. 35 34 Dieser Gefahr entgeht auch die ansonsten sehr überzeugende Untersuchung von Knight 1968 nicht ganz, vgl. etwa S. 96. 35 Saint-Martin 1802, S. 297 37 Der ewige Spiegel der Geistnatur nimmt alles auf, was je gesagt worden ist, und erhält es lesbar. Und so kann Saint-Martin in Le crocodile auch seine eigene darlegende Schrift über die Natur der Zeichen an dieser Stelle im Handlungsablauf als (von dort gesehen: künftige) Antwort auf die in seinem fiktionalen Atlantis gestellte Frage nach der Natur der Zeichen einfügen - innerfiktional wiedergegeben durch einen sogenannten Psychographen 36 , eine in der Bildlichkeit der Gerätschaft gefügten Metapher für die Zugangsmöglichkeiten des geistig regenerierten Menschen zu jenem Spiegel, der alle Rede bewahrt. Archäologie erscheint in dieser (zugegeben absonderlichen) Fiktion als Dialog mit verschütteter Rede, der auch die Relevanz längstvergangener Fragen erkennt und zum Anlass eigener Entgegnungen nimmt. Ganz so weit können wir in unserer Untersuchung nicht gehen, zumal wir auch keinen Psychographen zur Verfügung haben, aber die hier mythisch angedeutete Utopie einer dialogischen Archäologie soll auch der unerreichbare Horizont unseres Bemühens sein. In Saint-Martins utopischem Gegenentwurf zu einer Archäologie, die nur stumme Zeugnisse zerlegt, statt deren Rede zu vernehmen, sahen wir ein mögliches Verhältnis zwischen ‘illuministischer’ und ‘aufklärerischer’ Rede aufleuchten. Diese beiden Reden und ihr Verhältnis zueinander in einem ersten Vorgriff zu umreißen ist das Ziel des folgenden Kapitels. 36 Zu diesem Begriff im Crocodile vgl. Bellemin-Noël 1979, der allerdings einen an Lacan geschulten Ansatz verfolgt, welcher mit der Esoterik einerseits sozusagen leichtes Spiel hat, andererseits die poetische Vernünftigkeit (und die über das ‘allgemein Menschliche’ der Psychoanalyse hinausweisende Besonderheit) dieser Texte nicht immer erfassen kann. 38 3. Aufklärung und Illuminismus: Die Gesprächspartner und ihr Gespräch Dieses Kapitel besteht aus zwei Teilen: Zuerst soll unser Umgang mit den Begriffen ‘Aufklärung’ und ‘Illuminismus’ geklärt werden; vor allem für den zweiten Begriff muss außerdem ein gewisser Hintergrund bereitgestellt werden. Sodann wird zu fragen sein, ob und in welcher Form die beiden Vernunftformen überhaupt in Kontakt getreten sind und ob die von Foucault in L’ordre du discours beschriebenen Ausschluss-Verfahren der herrschenden Wahrheitsspiele auch zwischen ‘Aufklärung’ und ‘Illuminismus’ pragmatisch nachweisbar sind. 3.1. Erster Umriss der beiden Parteien im Spiegel der Forschung ‘Aufklärer’ und ‘Illuministen’ (oder auch die für unser Interesse weniger wichtigen ‘katholischen Apologeten’) sind also Mitspieler in einem oder mehreren Spielen, deren Homogenität wir erforschen wollen. Diese Gruppen von Diskursteilnehmern, die uns bei der Produktion teils gemeinsamer, teils je spezifischer Diskurse begegnen werden, sollen nun kurz umrissen werden, ohne dass damit an eine Wesenserfassung gedacht wäre. ‘Katholische Apologeten’, ‘Aufklärer’ und ‘Illuministen’ sind mehr oder weniger nützliche Namen, deren Intension und Extension vereinbart werden muss und über deren Nutzen zu diskutieren ist. Daran anschließend können die von ihnen hervorgebrachten Diskurse strukturell erfasst werden. 37 3.1.1. Der Zeitrahmen und die darin betrachteten Teilnehmergruppen a) Zeitrahmen Der Begriff ‘Illuminismus’ soll für die ‘Esoterik’ (diesen Begriff werden wir gleich noch klären) der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich stehen. Wir werden den illuministischen Diskurs um das Schreiben dessen herum zentrieren, der quantitativ am meisten davon hervorgebracht hat und auch am meisten rezipiert wurde: Louis-Claude de 37 Es geht natürlich auch umgekehrt: Eine Menge von énoncés könnte in zwei Teilmengen analysiert werden, die man dann mit Etiketten versehen und auf neu zu benennende Produzentengruppen beziehen kann. Aber wir haben ja schon in einem (aufgrund der Erschließungslage unserer Gegenstände kaum vermeidbaren) Vorgriff auf ‘Illuminismus’ und ‘Aufklärung’ begonnen. So lange wir diese Begriffe und ihre Korollarien nicht absolut setzen, müssen diese den zu erfassenden Gegenstand nicht notwendigerweise verdunkeln. 39 Saint-Martin. Da seine frühen Schriften schlechterdings ohne den Hintergrund der Lehre, in deren Tradition sie stehen, nicht adäquat erfassbar sind, müssen wir als zweiten wichtigen Autor seinen Lehrer Jacques (Delivron Joacin Latour de la Case, Don) Martines de Pasqually hinzunehmen. Im weiteren Umfeld sollen auch nicht zu dieser Personenkonstellation gehörige Esoteriker wie Philippe Dutoit-Mambrini mitbeachtet werden. Daraus ergibt sich der zeitliche Rahmen unserer Textmenge: Der abgedeckte Zeitraum erstreckt sich zunächst einmal von der Erstpublikation des ersten Werkes dieser Konstellation, Saint-Martins Des erreurs et de la vérité (1775) bis zu Saint-Martins letzter Publikation, Le ministère de l’homme-esprit (1802). In einem zweiten Schritt ist das vordere Datum noch nach vorne zu korrigieren: Erstens treten die esoterischen Strömungen etwa in Freimaurerlogen ungefähr ab der Jahrhundertmitte deutlicher auf als zuvor, zweitens liegen die Positionen, auf die sich insbesondere Saint-Martin (der aus dieser Gruppe der einzige umfassend philosophisch Interessierte ist) bezieht, aus naheliegenden Gründen seinen Stellungnahmen zeitlich voraus: Unser Interesse setzt damit ungefähr mit dem Jahr 1746, dem Publikationsjahr der ersten Schrift von einem der Lieblingsgegner Saint-Martins (und übrigens auch der Restauration und der Romantik), dem Abbé de Condillac, ein. Die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist also der ‘grobe’, 1746 bis 1802 der ‘feine’ Zeitraum für unsere Untersuchung, ohne dass damit eine Einbeziehung von außerhalb desselben liegenden Intertexten ausgeschlossen werden dürfte und ohne dass damit eine Epoche postuliert werden müsste. Was die vordere Begrenzung unseres Zeitraumes angeht, so wollen wir uns ohnehin einer Aussage über mögliche Epochengrenzen enthalten, aber auch das ‘Ende der Aufklärung’ festzulegen ist nicht unser Ziel, wenn auch die Ereignisse in Frankreich zwischen 1789 und 1815 die Erwartung, auf dieser Strecke liege ein Einschnitt, stützen würden. Im Grunde ist unser Zeitrahmen also lediglich von dem Vorgriff auf das, was ‘Illuminismus’ sein soll, motiviert. Die Plausibilität des geschichtlichen Aspektes unserer Darstellung hängt damit wesentlich auch von der Zustimmungsfähigkeit dieser Begriffsverwendung ab. 38 b) ‘Aufklärer’ In diesem damit ganz äußerlich definierten Zeitrahmen ist das Verhältnis illuministischer Rede zum Restdiskurs zu untersuchen. Dieser besteht zum einen aus den Schriften der ‘katholischen Apologeten’, zum anderen aus denjenigen der Autoren, die wir heute als ‘Aufklärer’ bezeichnen, zum 38 Diese Zustimmungsfähigkeit wird wohl nicht dadurch gefährdet sein, dass unsere Begriffsverwendung nicht ‘letztbegründet’ o. ä. ist; sie würde es jedoch, wenn sich eine deutlich nützlichere Geschichte erzählen ließe, in der etwa die esoterische Tradition im Jahre 1780 einen tiefen Bruch aufwiese, welcher davor und danach entstandene Texte einander unvergleichlich machen würde. 40 dritten aber auch aus Texten von Autoren (etwa Court de Gébelin), die in kein Schema passen. Die ‘Aufklärer’, etwa die Enzyklopädisten, sind also keineswegs der gesamte Rest nach Abzug der Illuministen; man könnte sogar sagen, dass sie, die aus heutiger Sicht den Siegerdiskurs formulierten, vor der Revolution bis zu einem gewissen Grade Dissidenten waren. Wir sollten es also nicht für ausgemacht halten, dass das, was nach Abzug des Illuminismus übrig bleibt, ‘Aufklärung’ ist. Da wir erst noch herausfinden wollen, ob ‘Aufklärer’ und ‘Illuministen’ immer vollkommen verschiedene Diskurse produzieren oder zumindest teilweise an den gleichen Diskursen nur mit je unterschiedlichen Argumentationszielen, Vorannahmen und Einzelzügen mitwirken, wollen wir unseren Vorgriff auf diese beiden Gruppen diesbezüglich noch offen lassen. Wir wollen die beiden Diskursteilnehmer-Gruppen daher zunächst allgemein durch deren Annahmen und Strategien eingrenzen, so dass wir nunmehr die Anführungszeichen bei ‘Aufklärern’ und ‘Illuministen’ weglassen können, ohne schon die Frage nach den Diskursen entscheiden zu müssen. Was die Aufklärer betrifft, so hilft uns dabei Panajotis Kondylis’ Befund, die Rationalität der Aufklärer sei nicht Rationalität schlechthin, sondern eine inhaltlich besetzte und polemisch eingesetzte. 39 Ihren Spielzügen liegen vor allem zwei selbst nicht letztbegründbare Entscheidungen zugrunde, von denen wir in diesem Stadium noch nicht wissen, ob sie in den diskursiven Praxen als énoncés recteurs gelten können oder nur als spezifische Tendenzen innerhalb eines übergeordneten Spiels: 1. Gewissheit soll ohne Theologie möglich sein; sie soll nicht mehr aus dem Glauben kommen, sondern selbst diesen begründen - etwa bei Descartes. Der Preis dieser neuen Gewissheit ist freilich die neue Ungewissheit des ‘Schleiers der Ideen’, denn, wie Rorty (1979) gezeigt hat (und wie wir noch sehen werden), Descartes’ Versuch, die Selbstgewissheit des eigenen Denkens zu begründen, ist gleichzeitig der Anfang einer Erkenntnistheorie, für die die Adäquatheit der Vorstellungen bezüglich der Außenwelt in bis dahin nicht gekannter Weise zum Problem wird: Der Wunsch nach Gewissheit ist der Anfang des Weltverlustes. 2. Die Natur, die mit dieser Gewissheit beherrscht werden kann, soll daher und zu diesem Zweck als ein regelmäßig strukturierter Gegenstand betrachtet werden, das heißt: Sie kann weder im augustinisch-paulinischen Sinne eine gefallene, schadhafte Natur sein, noch im platonischen eine untere Welt des Wechsels, von der keine Wissenschaft möglich ist. Der Wunsch nach Gewissheit ist also auch Grundlage eines neuen Pathos der Exaktheit der Naturerkenntnis, das mit der neuen Ungewissheit der Erkenntnistheorie koexistiert (Foucault wird diese Ambivalenz in die ‘klassischen’ Sprach- und Erkenntnisspiele hinein verfolgen können). Die Natur 39 Dies ist eine der zentralen Thesen von Kondylis 1981. 41 und die sie erfassende - aber auch durch sie vorgegebene - Sinnlichkeit werden daher, wie Kondylis zeigt, tendenziell aufgewertet. Angesichts der großen Zahl von Untersuchungen über die Aufklärung (und der Wahrscheinlichkeit, dass die Leserin einer Untersuchung wie der vorliegenden darüber orientiert ist) müssen wir diesen Aspekt nicht weiter vertiefen. Neben der Arbeit von Kondylis sei vor allem auf die immer noch unentbehrliche Darstellung von Cassirer verwiesen. Die „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “ (Kant 1784) liegt nicht im Interessenbereich unserer Untersuchung. Der wesentlich obskurere illuministische Diskurs und seine Produzenten müssen dagegen ausführlicher vorgestellt werden: c) ‘Illuministen’ Was nun die Illuministen betrifft, so sind sie zunächst einmal in ihrer strategischen Stellung gegenüber den eben charakterisierten Spielern unter jenen, die diese beiden Entscheidungen nicht mitmachen (wie auch die katholischen Apologeten). Insbesondere für die Martinisten ist die Natur sowohl gefallen als auch unstet, und wenn sie auch die katholische Theologie meist ablehnen, so ordnen sie doch die religiöse Offenbarung einer säkularen Naturbetrachtung vor. (Wir werden allerdings noch sehen, dass der Illuminismus sowohl gegenüber dem Naturwissen als auch gegenüber kirchlich organisierter Frömmigkeit ambivalent ist.) Um diese ihre Gegenpositionen zu den Zügen der ‘Aufklärer’ artikulieren zu können, müssen die Illuministen die Rationalitätsspiele der anderen Teilnehmer aufnehmen oder zumindest vortäuschen. Schon die zu erwartende Polemik zwischen den Lagern spricht für die Annahme einer Interaktion, ob innerhalb derselben Diskurse oder zwischen verschiedenen. 40 3.1.2. Esoterik und Illuminismus als Diskurse Dieser erste Umriss der Gruppe der Illuministen soll nun um einen Vorgriff auf den von ihnen hervorgebrachten Diskurs ergänzt werden. Es wurde oben schon angedeutet, dass der Illuminismus als historischer Diskurs gelten soll, von dem wir wissen wollen, ob er innerhalb oder außer- 40 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Polemik um Positionen und Begriffe voraussetzt, dass diese bis zu einem gewissen Grade von beiden Parteien übereinstimmend entworfen werden. Die Möglichkeit, dass in einer solchen Diskussion extrinsische Widersprüche zwischen verschiedenen Diskursen aufeinandertreffen, soll nicht so verstanden werden, dass die betreffenden Begriffe dem jeweils anderen unverständlich oder gar unübersetzbar sind. Davidson 1986 hat in einem seiner bekanntesten Aufsätze, „Was ist eigentlich ein Begriffsschema? “, gezeigt, dass eine solche Vorstellung von Unübersetzbarkeit nicht begründbar ist; vgl. hierzu auch Kögler 1992, S. 222ff. 42 halb der Diskurse der Allgemeinen Grammatik usw. auftritt, ob er im Falle einer Selbstständigkeit mit den anderen Diskursen seiner Zeit gemeinsame epistemologische Grundlagen teilt und ob er sich mit ihnen überkreuzt oder ihnen sonst in interessanter Weise begegnet. Da der Illuminismus eine historische Form der Esoterik sein soll, müssen wir also zunächst fragen: a) Was ist Esoterik? Esoterik definiert sich immer in Opposition zu einer Exoterik. Sie ist also ein Diskurstyp, der auf der Behauptung aufbaut, die Lehre der offiziellen Religion(en) und der öffentlichen Philosophie sei nicht alles, es gebe daneben ein Wissen für Eingeweihte. Und daraus folgt sogleich: Wissen ist nicht etwas, das jeder für sich und autonom erwerben könnte oder das alle zusammen in kommunikativer Weise konstruieren würden, sondern Wissen ist Teilhabe an einer Offenbarung oder Erleuchtung, die dem Einzelnen entweder durch eigene gnadenhafte Schau oder durch Tradition zuteil wird - denn sonst wäre der Begriff der Einweihung bedeutungslos. Esoterik ist also philosophia occulta (wie man sie noch in der Renaissance nannte) und - als Einweihungstradition - philosophia perennis (ein Begriff, der ebenfalls in der Renaissance auftaucht und dann von Leibniz aufgenommen wird). 41 Abendländische oder westliche Esoterik ist eine unübersichtliche Bündelung von Traditionen, die diesem esoterischen Typus angehören. Ihre verwirrende Mannigfaltigkeit rührt zum einen daher, dass sich in dieser Wissensform die je esoterischen Gegenstücke verschiedener Exoteriken sammeln können, zum anderen daher, dass der Behälter der Esoterik im Laufe der im Abendland besonders stark auftretenden Ausschluss-Spiele der offiziellen Wissensformen neben dem reservierten Wissen auch das vom 41 Er taucht zuerst 1540 bei Agostino Steuco (Steuchus) auf (De perenni philosophia libri X, vgl. Faivre 1986, S. 33 und Schneider 1989, col. 898). Bei Steuco bezeichnet er den mit dem Christentum übereinstimmenden Wahrheitskern aller Philosophie; insofern, als damit auch und vor allem die Philosophie des ältesten Altertums als Vorausahnung des Christentums erscheint, berührt sich der Begriff hier mit dem der prisca theologia (die besonders die vermeintliche Vorwegnahme christlicher Wahrheit in dem lange Zeit für besonders alt gehaltenen Corpus Hermeticum meint) und bis zu einem gewissen Grade der prisca philosophia (Urweisheit alter Kulturvölker). Leibniz hingegen betrachtet die immerwährende Philosophie eher als Traditionsreihe von je aus einer Zeitperspektive gewonnenen Teilerkenntnissen, die erst am Ende der Zeiten zu einer Totalität werden (vgl. Schneider 1989, col. 898f.). Insofern muss philosophia perennis nicht immer ‘esoterisch’ sein. Esoterik ist eine spätere Prägung. Faivre 1986, S. 13, weist darauf hin, dass dieser Terminus erst im 19. Jh. bei Éliphas Lévi erscheint; vorher sprach man von philosophia perennis und philosophia occulta. Esoterik empfiehlt sich also schon deshalb als Beschreibungsbegriff für einen epochenübergreifenden Diskurstyp, weil er in der von uns untersuchten Periode und ihrer Vorgeschichte selbst nicht eingesetzt wurde. Zur philosophia perennis vgl. auch Schmidt-Biggemann 1998. 43 jeweils herrschenden Wissen ausgegrenzte Wissen aufnimmt (das sich dann aufgrund dieser Konstellation ebenfalls als reserviertes stilisiert). Die abendländische Esoterik kann zum einen typologisch umrissen, zum anderen in ihren historischen Filiationen greifbar gemacht werden. b) Typologische Annäherungen an die Esoterik Einer der wichtigsten Kenner der Esoterik, Antoine Faivre, hat über die oben gegebene allgemeine Definition von Esoterik hinaus versucht, einige Grundaspekte aufzuzeigen, die in je unterschiedlicher Gewichtung seiner Meinung nach bei allen Typen abendländischer Esoterik auftreten: Es handelt sich immer um religiöses Denken, das Gott und Natur verbindet und dabei drei Hauptaspekte je verschieden ausprägt: „analogie, Eglise intérieure, théosophie.“ 42 Es wird, beginnend mit dem Ausgang des Mittelalters, dezidierter aber im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts von der universitären Philosophie und Theologie, die eine Trennung von Gott und Natur vollziehen, ausgegrenzt. 43 In der Analogie geht es um das Band des Analogischen und Ähnlichen, das die Einheit und Erkennbarkeit des Kosmos und seine Verbindung zu Gott garantiert. 44 Foucault hat aufgrund der Tatsache, dass in der Renaissance esoterische Diskurse noch einmal besonders prägend gewesen sind, die Analogie zur Grundfigur der diskursiven Tätigkeit jener Epoche gemacht. Das heißt natürlich nicht, dass alles analogische Wissen ‘renaissancehaft’ wäre (und auch der umgekehrten Auffassung, alles Renaissance- Wissen sei analogisch, müssen wir uns nicht anschließen). Wir werden im Gegenteil zu zeigen versuchen, wie der Illuminismus das analogistische Erbe der neuen épistémè seines Zeitalters anpasst. Im Rahmen des analogischen Wissens über Gott und die Natur wird Naturwissen zu religiösem Wissen, denn die Korrespondenzen der Mikrokosmos-Makrokosmos- Analogie und der Astrologie weisen von jeder Stelle her auf Gott: „tout est dans tout.“ 45 Dies hat zwei Konsequenzen, die in Faivres zitierter Trias als die beiden anderen Bestandteile der Esoterik auftreten. Zum einen machen es diese Annahmen schwierig, eine Amtskirche zu unterstützen, die das poetische Spiel der Analogien in fester Lehre arretiert - und umgekehrt muss für eine solche Amtskirche die Esoterik immer als potentiell heterodox oder zumindest unbeherrschbar erscheinen. Daher die Tendenz der Esoterik zur inneren, unsichtbaren Kirche, zu Initiation und para-ekklesiastischen Organisationsformen, die sich teils an die (selbst 42 Faivre 1973a, S. 7 43 Vgl. Faivre 1986, S. 14 44 Gemeint ist hier natürlich ein bestimmter Gebrauch der Analogie als Methode und ‘Dogma’, wie er sich etwa aus den Verhältnissen von ‘Oben’ und ‘Unten’ in der Smaragdtafel (s.u.) ergibt, nicht die Analogie als solche. 45 Faivre 1973a, S. 7 44 diesbezüglich offene) Freimauerei anlehnen. 46 Die Freimaurerei ist zunächst ein gesellschaftliches Phänomen, das esoterische Elemente mitführt. Diese wurden jedoch, wie Giarizzo (1994) gezeigt hat, in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts virulent, wohl (das ist seine These), weil die neuen, zunächst ebenfalls sozial motivierten, Hochgrade der Freimaurerei systemimmanent nur als Einweihungsgrade zu fassen waren und daher plötzlich Inhalte für diese Einweihung bereitgestellt werden mussten. Die Geheimgesellschaft Martines de Pasquallys, um die sich ein wichtiger Strang der Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts schlingt, ist eine solche an die Hochgradfreimaurerei angelehnte Einrichtung, die jedoch genuin religiöse Anliegen verfolgt, vor allem okkultistische und theurgische Praktiken, also solche geheimer Manipulation und Beschwörung. Die zweite Konsequenz des analogischen Wissens über Gott und die Natur ist die Theosophie: Darunter ist eine nicht-dogmatische Theologie mit spekulativen und mystischen Zügen zu verstehen, die - auf Analogie aufbauend - das Wissen über Gott mit solchem über die auf diesen weisende Natur verbindet. 47 Peuckert 48 unterscheidet den Theosophen im engeren Sinne, der von Gott zu den Dingen der Natur fortschreitet, vom Pansophen, der von den Dingen zu Gott fortschreitet. Theosophie schöpft ihr Wissen nicht aus einer rationalen Deutung einer im Wesentlichen abgeschlossenen Schriftoffenbarung (was eine mögliche Charakterisierung von Theologie aus theosophischer Sicht wäre), sondern aus Inspiration und einer in stetem Fortgang begriffenen Offenbarung, die auch zum Einzelnen noch spricht. 49 Ihre wichtigsten Interessen sind nach Faivre Kosmogonie, Kosmologie und Eschatologie. Bedeutende Themen, die wir hier nur benennen wollen (wir werden sie teils im Hauptteil näher lennen lernen) sind Emanation, Sündenfall, die Androgynität des ungefallenen Adam, die Sophia als geistige Gestalt der Schöpfung, die Reintegration der von Gott getrennten Wesen in die göttliche Sphäre. Theosophie geht immer auf die Ordnung und Harmonie hinter der vorfindlichen Welt, Störungen dieses Bildes sucht sie auf den Sündenfall zurückzuführen. 50 Neben diesen Grundaspekten gibt es nach Faivre noch weitere Züge, die in esoterischem Denken auftreten können oder nicht: Mit dem antiken Gnostizismus berührt sich die westliche Esoterik unter anderem in ihrer Betonung der Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott und der Existenz eines personalen Bösen. Daher kann sie sich für Angelologie und Dämonologie interessieren: Saint-Martin liest Lancre über die Inconstance des 46 Faivre 1973a, S. 8. 47 Faivre 1986, S. 20, zeigt, dass diese Abhebung vom Begriff der Theologie erst im 16. Jh. erreicht ist. 48 Peuckert 1956, S. 353. Faivre 1986, S. 21, verfolgt diesen Begriff ins Jahr 1592 zu Francesco Patrizi zurück. 49 Vgl. Faivre 1973a, S. 9. 50 Faivre 1973a, S. 10 45 mauvais anges et démons, 51 und noch 1791 veröffentlicht Fiard eine Sammlung von Lettres sur le diable. 52 Die neuere westliche Esoterik setzt sich von radikaleren Formen des Gnostizismus aber meist dadurch ab, dass sie tendenziell monistisch (im Sinne des Gnostikers Valentinus) denkt und daher nicht annimmt, die Welt sei von einem bösen Demiurgen geschaffen worden (wie der Gnostiker Marcion), sondern Gott zur alleinigen Seinsursache aller Dinge erklärt. Esoterik ist nach Faivre nicht identisch mit dem Okkulten und Magischen 53 , kann es aber enthalten - als auf den Korrespondenzen aufbauende Manipulationspraxis. 54 Cagliostro, den wir hier (weil er nicht als Schriftsteller auftrat) nicht behandeln wollen, hatte damit im Paris der Vorrevolutionszeit großen Erfolg. 55 Neben dem Denken in Analogien beobachtet Faivre auch ein solches in Brüchen und Gegensätzen in esoterischen Diskursen, außerdem sieht er ein besonderes Interesse an dynamischen Konzeptionen. Die magia naturalis und die Pansophie stehen der Naturwissenschaft nahe, entfernen sich jedoch von deren Rationalitätsform durch ein mythisches Denken, das gleichwohl eine eigene Rationalität aufweist. 56 Faivre unterscheidet einzelne Typen von Esoterik nach der Gewichtung der erwähnten Grundelemente, und im Großen und Ganzen ist der von ihm vorgegebene Rahmen ausgesprochen nützlich. Wir haben jedoch damit sogleich folgendes Problem: Nach Faivres Auffassung wäre ein (für unserere Untersuchung eher marginaler, aber in diesem Fall eine Art Test ermöglichender) Autor wie Dupont de Nemours kein Esoteriker, denn er interessiert sich wenig für Analogie und überhaupt nicht für eine innere Kirche. Da man jedoch für seine an indische Lehren angelehnte Form des Neopythagorismus kaum eine andere Bezeichnung als ‘Esoterik’ wird finden können, werden wir für unsere archäologische Arbeit eine andere Herangehensweise finden müssen. Wir werden diesen Aspekt anlässlich einer ersten Strukturhypothese über den Illuminismus noch einmal aufgreifen. 51 Lancre 1612, Neuausgabe von Jacques-Chaquin, die auch (Jacques-Chaquin 1998, S. 184) darlegt, dass Saint-Martin die dort gefundenen Informationen in sein Crocodile einbezieht. 52 „Oui, Monsieur, rien n’est plus vrai. L’homme n’est pas seul sur ce globe que vous nommez la Terre. Dieu pour accroître son mérite, pour mettre à l’épreuve sa fidélité, a voulu qu’il fût assailli de légions sans nombre d’esprits méchants.“ (Fiard 1791, S. 57) 53 Faivre 1973a, S. 14 54 Vgl. Faivre 1986, S. 29. 55 Einen ausführlichen Dokumentationsband zu Cagliostros Wirken hat Kiefer 1991 vorgelegt. 56 Vgl. Faivre 1973a, S. 15 und 22. 46 c) Historischer Umriss esoterischer Traditionen Wie schon dargelegt, sollen zumindest am Rande dieser Arbeit auch historische Filiationen aufgewiesen werden - nicht, um Kohärenzen zu stiften, sondern unter anderem um Intertextualität plausibel zu machen, also nicht aus einem subjektphilosophisch begründeten, sondern einem dialogischen Interesse. Dabei soll keineswegs der Bezug auf eine Quelle schon die ‘Erklärung’ der je behandelten Textstellen sein; diese müssen vielmehr jeweils für sich analysiert werden. Daher verstehen sich die folgenden Zeilen auch nicht als Grundlage der Ausführungen des Haupttextes, sondern als historische Hinführung. Historisch betrachtet kommen die meisten Elemente der westlichen Esoterik aus den vier neuen Religionen oder religiösen Philosophien, die, wie Faivre darlegt, zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert entstanden sind: Christentum, Neuplatonismus, Hermetik und Gnosis 57 - wobei das Charakteristische für die Esoterik vor allem die synkretistische Vermischung dieser Traditionen ist. In der Tat ist der Poimandres, der bekannteste Text des Corpus Hermeticum, selbst auch wieder ein exemplarischer Text für das, was man gemeinhin ‘Gnosis’ oder ‘Gnostizismus’ nennt, denn die Abwertung der durch einen Demiurgen geschaffenen Materiewelt, der Fall des Menschen in diese hinein und seine Bestimmung zu ihrer Überwindung und zur Durchschreitung der von den Regenten oder Verwaltern bestimmten siderischen Welt auf dem Weg nach ‘draußen’ kommen auch hier vor. 58 Später kommt noch der Einfluss der - ihrerseits ebenfalls in Kontakt mit einigen dieser Traditionen stehenden - jüdischen Mystik hinzu. Helmut Schmidt-Biggemann hat in seiner Philosophia perennis den Neuplatonismus als das dominierende, die anderen Strömungen teils hervorbringende, teils durchdringende Element dargestellt. Unter den zahlreichen Studien zum Gnostizismus sei vor allem auf die klassisch gewordenen Publikationen von Hans Jonas verwiesen. Zur jüdischen Mystik hat Gershom Scholem mehrere Bücher von ähnlich grundlegender Bedeutung vorgelegt. Zimmermann (1979) hat das synkretistische, Traditionen bündelnde Potential der Hermetik gut umrissen: Er bezieht sich dabei weniger auf das eigentliche Corpus Hermeticum als auf die sogenannte Samaragdtafel des pseudo-Hermes Trismegistos. Sie erscheint als Kompilation verlorener griechischer Quellen im arabischen Buch der Geheimnisse der Schöpfung des Balinus (nach einem pseudo-Apollonius von Tyana, um 600) und ist seit dem zwölften Jahrhundert in verschiedenen Versionen im Westen, namentlich durch Albertus Magnus, bekannt. Das in ihr besonders prominente 57 Faivre 1986, S. 54 58 Eine leicht zugängliche deutsche Fassung dieses grundlegenden Textes ist in der Anthologie von Sloterdijk und Macho 1993 abgedruckt. 47 Mikrokosmos-Makrokosmos-Motiv, demzufolge die Verhältnisse der oberen Welt denen der unteren analog sind, bündelt durch seine Allgemeinheit verschiedene Traditionen: „Weil die Spekulation über Oben und Unten sich auch bei H ERAKLIT , bei P LATON und A RISTOTELES , in der Stoa und in der Gnosis findet, gerade deshalb konnten so gut wie alle sich praktisch oder theoretisch um die Natur mühenden Religiösen sich zu diesem geheimnisvollen „Symbolum“ der Smaragdtafel bekennen und mit ihm auch zu dem sagenhaften Hermes.“ 59 Die Hermetik ist im zwanzigsten Jahrhundert, teils auf Feuerbachs Religionsdeutung aufbauend, psychologisierend gedeutet worden, besonders von Jung und neuerdings von Liedtke. 60 Liedtke (1996) reduziert mit seinem Anschluss an Jungs Archetypen-Lehre die Hermetik auf ein modernes Gegenstück zu jenem sensus moralis, mit dem schon das ausgehende Mittelalter die Visionen von Dantes Commedia in den Griff zu bekommen suchten - um den Preis einer Reduktion des Phantastischen. Überhaupt ist der moderne Zugriff auf die Hermetik, auch die nachantike, von nivellierenden Tendenzen geprägt. Eco (1990) erfasst etwa das Wesen des Analogismus und das, was wir als Pansemiotik bezeichnen werden, sehr treffend, nivelliert aber die untersuchten énoncés durch seine polemische Ansicht, alles bedeute im hermetischen Zeichenuniversum alles. Wir werden zeigen, dass zwar in der Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts (fast) alles etwas bedeutet und fast alles aufeinander verweist, dass es aber Kontrollinstanzen der Interpretation gibt, die die Ergebnisse in gewissen Grenzen halten. Von besonderem Interesse ist der von Zimmermann anhand der Tabula Smaragdina aufgewiesene Umstand, dass einzelne Texte und Textgruppen immer wieder die verschiedenen Traditionen synthetisieren und bündeln. Ein anderer Sammelpunkt der Traditionen ist Philo von Alexandria, der das neopythagoreische und neuplatonische Erbe fokussiert, so die Vorstellungen von den Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott, die in letzterem - wenn auch in recht abstrakter Weise - eine Rolle spielen. 61 Mit Origenes gelangt, wie Faivre 62 bemerkt, der Neuplatonismus in das christliche Denken. Augustin bereichert das Christentum um die neopythagoreische und neuplatonische Motivik der Zahlen und Ideen hinter der Schöpfung, die als formae principales im göttlichen Denken enthalten sind. 63 Ein weiterer wichtiger Vermittler neuplatonischen Gedankengutes für den christlichen Westen ist pseudo-Dionysius Areopagita. Seine negative Theologie, seine Angelologie und Lehre von den Hierarchien, sowie seine Gottesnamenspekulation haben große Wirkung. Sein Nachfolger und Ausleger Maximus 59 Zimmermann 1979, S. 19, Kapitälchen im Original. 60 Zu dieser Richtung allgemein vgl. Faivre 1986, S. 28. 61 Vgl. Faivre 1986, S. 53 62 Vgl. Faivre 1986, S. 70 63 Etwa in De diversis quaestionibus, vgl. Faivre 1986, S. 73. 48 Confessor formuliert nach Faivre 64 wohl zum ersten Mal den Gedanken, dass der Mensch als officina omnium die verschiedenen Ebenen der Schöpfung zusammenhält (das ist nicht identisch mit dem Mikrokosmos-Motiv, kann aber wiederum gut mit ihm verbunden werden). Johannes Scotus Eriugena führt das von Dionysius und Maximus Gelernte zu einer Synthese, auf die sich das Mittelalter bezieht, und in der die Unterscheidung von Natura naturans, natura naturata und natura creata et creans eingeführt wird, außerdem das Motiv der androgynen Natur Adams vor dem Fall. 65 Bis zum Ende des Mittelalters ist - wie man an den angeführten Beispielen sieht - dieses Denken noch innerhalb des Rahmens der offiziellen Theologie und Philosophie möglich, gerät jedoch zusehends an den Rand. Die Renaissance erlebt noch einmal, nun jedoch weitgehend bereits außerhalb des theologischen Diskurses (Ausnahmen wie Nikolaus von Kues gibt es gleichwohl), eine große Blüte des Neuplatonismus, der Hermetik und der (aus der jüdischen Mystik entwickelten) jüdischen und christlichen Kabbala, die auch noch in das siebzehnte Jahrhundert hineinreicht. Hutin hat gezeigt, dass durch Knorr von Rosenroth (und, wie man hinzusetzen muss, Georg von Welling) das kabbalistische Wissen an der Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert große Verbreitung fand. 66 Außerdem gelangte es in einer naturphilosophischen Tradition von Robert Fludd über Henry More zu Newton. 67 Eine Frage an Foucault, die sich aus diesem Umstand ergibt und der leider im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgegangen werden kann, wäre, ob denn überhaupt im siebzehnten Jahrhundert bereits sinnvoll von einer Ablösung der analogischen épistémè gesprochen werden kann, wenn doch gerade in ihm die jüdische und christliche Kabbala (letztere mit dem philosophus teutonicus Jakob Böhme, mit dem wir uns aufgrund seiner Bedeutung für die von uns untersuchte Zeitperiode zu befassen haben werden) noch sehr produktiv waren und in Cambridge und anderswo auch der Neuplatonismus blühte. Insofern wäre die eben formulierte Frage an Foucault wohl in mancher Hinsicht der in unserer Untersuchung behandelten zur zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts analog. Bei diesem oberflächlichen Bild der historischen Filiationen von Esoterik müssen wir es bewenden lassen. Bis auf wenige Fälle, in denen wir uns die Diskussion mit jeweils einer solchen Tradition genauer ansehen wollen, sollen die Quellen des Esoterischen in unseren Textanalysen nicht besonders weit verfolgt werden; eine summarische Angabe über Traditionen 64 Faivre 1986, S. 75 65 Im Periphyseon, vgl. Faivre 1986, S. 76. 66 Vgl. Hutin 1979, S. 157. 67 Vgl. Hutin 1979, S. 159-166. Einen guten Überblick über die naturphilosophischtheosophischen Konzeptionen verschiedener Zeiten gibt die von Faivre und Zimmermann 1979 herausgegebene Sammlung Epochen der Naturmystik, in dem der Artikel von Hutin enthalten ist. 49 muss genügen, um die jeweilige Textstelle situieren zu können. Wir werden nun vor diesem Hintergrund eine Strukturhypothese über den Illuminismus aufstellen und anschließend denselben historisch umreißen. d) Hypothese über die Grundstruktur des Illuminismus Esoterik ist also ein Diskurstypus, und Illuminismus ist die Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts, ein historischer Diskurs, der hier mit dem zeitgenössisch häufigsten Begriff belegt wird. 68 Wie kann man den Illuminismus als besonderen historischen Diskurs strukturell erfassen? Robert Amadou hat gezeigt, wie so etwas aussehen kann: Für ihn geht der Illuminismus von drei fundierenden Annahmen aus (die Seele kommt von Gott, und alle Rationalität hängt von ihr ab; die Seele ist real, und Rationalität kann dies auch sein, wenn sich die Seele der Illumination unterwirft; die Materie ist nicht real), sowie von drei Erkenntnisverfahren (dem Hindenken auf Einheit, dem Herstellen von Analogie, der Synthese). Das, was Amadou Anti-Illuminismus nennt, negiert diese Punkte Schritt für Schritt - so seine These vom Verhältnis des Illuminismus zu seiner Epoche. 69 Wir werden diese Beschreibung, die von der Sicht der Esoterik ausgeht, nicht in toto übernehmen können, sondern eine etwas präzisere Form konstruieren müssen, die es auch erlauben soll, den Illuminismus als spezifische historische Formation von der Esoterik allgemein (und von der Renaissance-Hermetik) zu unterscheiden. Außerdem wird uns mindestens ein Autor begegnen, der in Amadous Schema nicht passt: Wieder ist Dupont de Nemours der Testfall, denn er interessiert sich ja, wie bereits erwähnt, wenig für Analogismus (und auch kaum, jedenfalls nicht explizit, für Synthese), und auch der Grundannahme, die Materie sei nicht real, folgt er nicht. Wenn wir aber unsere grundsätzliche Entscheidung, unter ‘Illuminismus’ die Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen, beibehalten wollen, so muss auch Dupont de Nemours darunter fallen, denn für seine karmische Monadologie mit ihrer Verbindung von pythagoreischen und hinduistischen Motiven wird sich kaum ein anderes Etikett als ‘Esoterik’ anbieten - zumal er seine Lehre als nicht exoterische, in persönlicher Schau gewonnene, darstellt. Wir wollen daher hier folgende Strukturhypothese für den illuministischen Diskurs aufstellen, die wir dann im Hauptteil dieser Arbeit (auch an Dupont de Nemours) überprüfen wollen: Der Illuminismus geht von der Annahme aus, der Geist sei ewig, und sein Schicksal spiele in einer Grundstruktur von Aufstieg und Fall (von Geistwesen 70 ) in einem Universum, 68 Vgl. Faivre 1973a, S. 31 und Faivre 1966, S. XIIIf. 69 Amadou 1989, S. 86 70 Diese Struktur von Aufstieg und Fall betrifft die einzelnen Geistwesen: Der Mensch oder die Menschen fallen und steigen auf, und darüber werden mythische Geschich- 50 das eine geistige Grundgestalt hat. Die Annahme der Ewigkeit des Geistes ist diskurskonstitutiv, aus ihr kann die Vorstellung, Materie sei endlich oder sogar nicht real, folgen oder auch nicht. Typischerweise (aber nicht immer: Dupont de Nemours ist ein Gegenbeispiel) werden Materie und Geist im Sinne eines Dualismus als Gegensätze betrachtet. Die Bewegung von Aufstieg und Fall und die Annahme, hinter den Dingen liege eine Geistgestalt, erlauben eine Hermeneutik der vorfindlichen Welt: Alles, was den Illuministen begegnet, können sie auf diese beiden Strukturen beziehen und dadurch deuten, und teilweise können die beiden Strukturen sogar einander erklären (so werden wir sehen, dass der Engelsfall bei den Martinisten die Entstehung der Geistschöpfung erklärt, und die Verborgenheit der geistigen Struktur der Dinge verweist dort wiederum auf den Fall des Menschen). Diese Lektüre der Dinge auf die beiden genannten Hintergründe hin ist die grundlegende diskursive Praxis des Illuminismus, die uns auf Schritt und Tritt begegnen wird. Der Martinismus ist die für uns wichtigste regionale Variante des Illuminismus - der Begriff bezeichnet die Schule Martines de Pasquallys, mithin eine Tradition, die den illuministischen Diskurs in besonderer Weise ausprägt. Der Regionaldiskurs des Martinismus wird uns in Kapitel I,1.2 und I,1.3. zum erstenmal begegnen und in seinen Grundzügen dargestellt werden. Er ist außerdem Hauptgegenstand unserer Untersuchung insgesamt. Der gelegentlich anzutreffende Terminus Martinesismus für einen Martinismus, der die späteren Entwicklungen dieser Lehre durch Martines’ Schüler Saint-Martin 71 ausspart, soll hier nicht verwendet werden. Es sei darauf hingewiesen, dass es illuministische Autoren (wie Dutoit- Mambrini) gibt, die zwar mehr dem Martinismus als etwa einem Dupont de Nemours nahe stehen, aber dennoch keine Martinisten sind (und zwar sowohl was die historische Filiation angeht, als auch in der Form ihres Denkens). Dies sind Hypothesen und zugleich Vorschläge für eine konsistente Begriffsverwendung. Damit sind noch keine Vorentscheidungen darüber gefallen, wie sich die betreffenden Diskurse und Regionaldiskurse (und ihre Bestandteile) zu anderen Diskursen im Sinne von Foucaults Archäologie verhalten. ten erzählt. Es handelt sich also nicht um eine allgemeine Aufwärts-Abwärts-Struktur (denn sonst wären auch die Ideologen Illuministen, s.u.). 71 Die Tatsache, dass Martinin beiden Namen enthalten ist, ist zugleich die Rechtfertigung für die Lautgestalt des übergreifenden Terminus und der Grund, warum gelegentlich, um einer Verwechslungsgefahr vorzubeugen, der zusätzliche Terminus Martinesismus begegnet. 51 e) Historischer Umriss des Illuminismus Die Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts schließt teils direkt, teils indirekt, an die unter c) skizzierten Traditionen an. 72 Aber es kommen nun auch immer stärker außereuropäische religiöse und esoterische Überlieferungen hinzu. Saint-Martin feiert, wie wir sehen werden, Anquetils Erforschung des Zoroastrismus als heilsgeschichtliches Ereignis, denn er schließt nicht wie manche seiner Zeitgenossen von der Verschiedenheit regionaler Religionsausübung darauf, dass keine davon Recht haben könne, sondern sieht in den fernen Traditionen eine Bestätigung eigener Schau. Wer sind nun die Illuministen, und zu wem stehen sie in Kontakt? Faivre (1973a) gibt ein gutes Panorama. Namen, die außerhalb spezialisierter Kreise so gut wie unbekannt sind, wie Dutoit-Mambrini, Bergasse, Bardin de Lutèce, Bourrée de Corberon, 73 stehen neben berühmten wie Cazotte und einigermaßen bekannten wie Saint-Martin, Martines de Pasqually oder Pernéty. In der vornehmen Gesellschaft findet der Illuminismus bei Julie de Krüdener oder Mathilde d’Orléans, Herzogin von Bourbon, Gehör (für letztere schreibt Saint-Martin, der als Adliger in diesen Kreisen verkehrt und zu bekehren sucht, seinen Ecce Homo). Wichtige Kontaktfiguren zwischen französischer und deutscher Esoterik sind Kirchberger, Eckartshausen und Rudolf Salzmann in Straßburg (er begeistert mit Frau von Böcklin zusammen Saint-Martin für die Schriften Jakob Böhmes aus dem Jahrhundert zuvor). Lavater und Oetinger sind in Deutschland jene, die die Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts an das neunzehnte weitergeben. Franz von Baader, Schelling, Hegel und Novalis interessieren sich später für diese esoterische Überlieferung. In Frankreich reichen Antoine Gleizes und Fabre d’Olivet (einer der wenigen nicht christlichen Esoteriker) in das neunzehnte Jahrhundert hinein, Joseph de Maistre wendet sich nach anfänglicher Nähe im neuen Jahrhundert vom Illuminismus ab und der katholischen Restauration zu. Die Wirkung der Illuministen auf die Romantik - so auf Nodier - und die folgenden Schriftstellergenerationen (man denke an Balzac oder an Nervals Les illuminés) hat Auguste Viatte (1928) aufgezeigt. 74 In Viattes groß angelegter Untersuchung wird die Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts in motivgeschichtlichem Überblick und im Hinblick auf eine Darlegung der ‘okkulten Quellen’, aus denen die Romantiker schöpfen sollten, behandelt. Diese beiden Bände bleiben ein Standardwerk, das mit der vor- 72 Viatte 1928, S. 25f., meint, die Hauptlektüren der Illuministen seien Platon, Thomas’ von Kempen De imitatione Christi, Jakob Böhme und Madame de Guyon. Dies muss jedoch qualifiziert werden: Nicht so sehr Platon selbst wird wohl rezipiert als eine vielfach gebrochene neuplatonische Tradition, in der dann auch Böhme eine Rolle spielt. 73 Zu diesem, der bei uns keine Rolle spielen wird, vgl. Faivre 1967b. 74 Vgl. zu Nodier und Saint-Martin auch die Studie von Porter 1972. 52 liegenden Arbeit nicht zu ersetzen ist, auch weil unsere Zielsetzungen andere sind. Schließlich sei für die überregionalen Zusammenhänge auf eine in mancher Hinsicht derjenigen Viattes ähnliche (aber in ihrer Methodik und ihren Fragestellungen modernere) Untersuchung zum Weltbild des jungen Goethe von Zimmermann (1969/ 79) hingewiesen. Zimmermann gibt ein gutes Panorama der Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts in Europa allgemein, in welchem auch deutsche Autoren wie Sincerus Renatus (Samuel Richter) ihren Platz finden. Ein wichtiger nicht französischer Esoteriker, dessen Präsenz und Bedeutung in Frankreich an dieser Stelle abzuklären ist, ist Emanuel Swedenborg. 75 Er wird ab 1770 in Frankreich rezipiert und unter anderem von Pernéty 76 übersetzt. Da Martines de Pasqually selbst ihn wahrscheinlich nicht gelesen hat und Saint-Martin ihm skeptisch gegenübersteht, 77 ist seine Bedeutung für den Martinismus gering; umgekehrt nimmt erst die zweite Welle des Swedenborgianismus in Frankreich (nach Napoleons Sturz) in sich wiederum Elemente des Martinismus auf. 78 Begegnungspunkt aller dieser Strömungen, vom Illuminismus über den Quietismus im Sinne der Madame de Guyon bis zur immer noch vorhandenen Hermetik 79 und zur Naturphilosophie ist in sozialer Hinsicht die Freimaurerei. Aber, wie Amadou richtig einschränkt, die Freimaurerei ist inhaltlich nicht festgelegt, so dass diese Gemeinsamkeit wenig erklärt. 80 Mit diesen Aspekten können wir uns hier allerdings nicht näher befassen. Es sei auf Le Forestier (1928) zur Hochgradfreimaurerei und zum Ro- 75 Vgl. zu Swedenborgs Naturphilosophie besonders Jonsson 1979, außerdem allgemein zu Swedenborg als Esoteriker Williams-Hogan 1998. Dort kann man sich über die wesentlichen traditionellen Elemente in Swedenborgs Lehre unterrichten. Die Vorstellung, der Mensch habe die Aufgabe, durch Liebe Schöpfer und Schöpfung zu verbinden, die dynamische Genesis-Deutung, die Auffassung der erscheinenden Schöpfung als Bild himmlischer Ideen (bei Swedenborg sind diese allerdings mehr wie Dinge aufgefasst, vgl. Swedenborg 1749-56, Nr. 8812), das Mikrokosmos-Motiv (S. 219), die Vorstellung, alles Leben komme aus der göttlichen Welt herab (S. 221) finden sich auch bei den Martinisten. Diese Übereinstimmungen sind allerdings eher durch gemeinsame Quellen als durch einen Motivtransfer von Swedenborg etwa zu Martines zu erklären. 76 Etwa Swedenborg 1782. Vgl. auch Daillant Delatouche 1788 und Anonym 1786. 77 Saint-Martin ist wohlwollend kritisch gegenüber Swedenborg: „Mille preuves dans ses ouvrages, qu’il a été souvent et grandement favorisé! Mille preuves qu’il a été souvent et grandement trompé! Mille preuves qu’il n’a vu que le milieu de l’œuvre, et qu’il n’en a connu ni le commencement ni la fin! “ (Saint-Martin 1790a, Nr. 184, S. 220) 78 Vgl. Viatte 1928, II, S. 148f. 79 Das hermetische Wissen war dem französischen achtzehnten Jahrhundert durch Lenglet-Dufresnoys’ 1742 gleichzeitig fasziniertes und distanzierendes Referat verfügbar. Anhaltende alchemistische Praxis zeigt sich in Alliette 1977, Stuart de Chevalier 1781 oder Saint-Germain 1971. 80 Vgl. Amadou 1989, S. 60-62. 53 senkreuzertum, Giarrizzo (1994) und Gayot (1980) zur Freimauerei allgemein, aber auch auf die zahlreichen Arbeiten von Faivre verwiesen. Ein wichtiger thematischer Aspekt unseres Kapitels III wird schließlich der Mesmerismus oder Magnetismus sein. Er ist kein eigentlich esoterischer Diskurs, sondern ein naturphilosophischer Regionaldiskurs, der esoterische Züge trägt. Er wurde vielfach untersucht, am wirkmächtigsten wohl von Darnton (1968), der jedoch die Lehren des Mesmerismus allzu ironisch resümiert, ohne sie in ihrem Geltungsanspruch ernst zu nehmen. Das Verhältnis aufklärerischer Vernunft zu ihrem Gegenbild in Deutschland ist in der bekannten Arbeit von Böhme/ Böhme (1983) unter dem Titel Das Andere der Vernunft untersucht worden. Hier kommt (am Beispiel von Kants Verhältnis zu den Schriften Swedenborgs) auch die Esoterik zu Wort. Allerdings ist das Interesse der Autoren, die Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants darzulegen (wie der Untertitel lautet), von dem unseren (nicht nur in der regionalen Ausrichtung) verschieden. Eine weitere Arbeit zur Esoterik des achtzehnten Jahrhunderts allgemein verdient noch, erwähnt zu werden, obwohl sie sich ebenfalls nicht auf Frankreich, sondern auf Nordamerika bezieht: Leventhal (1976) sieht Okkultismus, Hermetik und Neuplatonismus In the Shadow of the Enlightenment (so der Titel) als Relikte des Weltbildes der Renaissance, die nach und nach verschwinden. Er setzt also die bei Foucault begegnende Gleichsetzung von Hermetik und Renaissance-Wissen voraus 81 und beschreibt ein dem unsrigen analoges Phänomen als Rest von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen innerhalb einer stetigen Fortschrittsbewegung. Gerade von einer solchen Blickrichtung wollen wir uns absetzen; unser Interesse gilt ja einer möglichen Teilhabe des Illuminismus am Wissen seiner Zeit. f) Martinismus: Rezeption und Forschung Was nun den Martinismus, insbesondere das Schreiben Saint-Martins, als besondere Form des Illuminimus betrifft, so wollen wir hier den Untersuchungen des Hauptteils nicht vorgreifen. An dieser Stelle sollen jedoch Rezeption und Forschung hierzu (mit denen wir dialogisieren werden) kurz umrissen werden. Des erreurs et de la vérité wird in Frankreich schnell bekannt. Selbst der greise Voltaire liest es ein Jahr nach Erscheinen: Vôtre Doyen m'avait vanté un livre, intitulé les erreurs et la vérité. Je l’ai fait venir pour mon malheur. Je ne crois pas qu’on ait jamais rien imprimé de plus absurde, de plus obscur, de plus fou, et de plus sot. 82 81 Obwohl er diese, wie sein Literaturverzeichnis zeigt, nicht von Foucault, sondern von angelsächsischen Autoren wie Yates übernommen zu haben scheint. 82 Voltaire 1776, 95, Nr. 19219, S. 130 54 Vorwürfe dieser Art an Saint-Martin werden wir in Kapitel 3.2.2. näher betrachten. Auch in Deutschland wird Saint-Martins erstes Buch früh rezipiert, durch eine Übersetzung (als Irrthümer und Wahrheit) von Matthias Claudius, sowie durch eine Untersuchung von Kleuker (1784), der einer der scharfsinnigsten philosophisch und theosophisch interessierten Leser Saint-Martins bleibt; im frühen neunzehnten Jahrhundert folgt auf ihn in dieser Eigenschaft Franz von Baader. Goethe liest bereits 1781 Des erreurs et de la vérité und findet darin „die tiefsten Geheimnisse der wahrsten Menschheit mit Strohseilen des Wahns und der Beschräncktheit zusammen gehängt.“ 83 Aus dem relativ umfangreichen nicht eigentlich literatur- oder religionswissenschaftlichen Schrifttum 84 sei hier nur die Biographie von Matter (1862), die sowohl ‘spirituell’ als auch philosophisch interessierte (auf die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert zurückgehende) Darlegung der Lehre von Waite (1970) hervorgehoben, sowie die beiden kleinen Monographien von Wehr (1980 und 1995), die von einem der Esoterik nahestehenden Standpunkt auf Saint-Martin blicken. 1968 publizierte Miczyslawa Sekrecka eine umfangreichere Arbeit über Saint-Martin, die einerseits noch im methodischen Horizont von „l’homme et l’œuvre“ (so der Untertitel) verbleibt, andererseits jedoch bereits einen Versuch macht, Saint-Martin mit den Aufklärungsphilosophen zu vergleichen, wenn auch viele ihrer Thesen inzwischen als überholt gelten. 85 Demgegenüber hat in Deutschland bereits 1935 Hugo Friedrich die Sprachanschauung der Illuministen, vor allem Saint-Martins, zum Gegenstand eines Aufsatzes gemacht, der auch in wegweisender Art Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Aufklärern und Illuministen (die er „Illuminaten“ 86 nennt) aufzeigt: So sehr nun die Illuminaten sich im Gegensatz befinden zur Theorie von der Erfindung der Sprache durch den Menschen und zur Gleichsetzung von Logik und Sprache, so sehr ähneln sie mit ihren Überlegungen über die grundsätzliche Rolle der Sprache jenen Allgemeinheiten der grammaire générale. Zur Erkenntnis der Sprachgeschichte tragen sie so wenig bei wie die Aufklärer. 87 Die Beobachtung, dass sich die grundsätzliche Einschätzung des Stellenwerts und der Möglichkeiten von Sprache mit derjenigen der Aufklärer 83 Goethe 1781, S. 109 84 Vgl. auch den Überblick von Bellemin-Noël 1963. 85 Vgl. dazu den ausführlichen Besprechungsaufsatz von Jacques-Chaquin/ Becque 1972. 86 Dieser Begriff ist das historische deutsche Äquivalent zu illuminés, wird jedoch von uns nicht verwendet, da er etwas anders besetzt ist: ‘Illuminaten’ nannte sich bekanntlich der Geheimorden des Adam Weishaupt zu Ingolstadt, den man als primär politische Form eines Freimaurerordens von den primär mystisch ausgerichteten Illuministen unterscheiden sollte. 87 Friedrich 1935, S. 161-162 55 berührt, wird uns als Ausgangspunkt dienen. Zusammengenommen mit Foucaults Beobachtung, dass der Diskurs der Allgemeinen Grammatik eine Art Leitdiskurs der ‘klassischen’ épistémè darstellt, erlaubt uns diese Erkenntnis Friedrichs, von hier her unseren Entwurf der Gemeinsamkeiten von Illuminismus und Aufklärung anzulegen. Auch Friedrichs Beobachtung, die Illuministen hätten zu den ersten gehört, die Sprache als Energeia auffassten, wird uns beschäftigen; sie ist der Mittelpunkt des (diachronischen) zweiten Teils dieser Arbeit. Eine Mittelstellung zwischen religionswissenschaftlichem und esoterischem Betrachterstandpunkt nehmen die zahlreichen Arbeiten von Robert Amadou ein, der als einer der beiden aktuell wichtigsten Kenner Saint- Martins gelten darf und auch eine Neuausgabe der Werke Saint-Martins in Faksimile betreut und mit wertvollen Einleitungen versehen hat. 88 Die andere wichtige Saint-Martin-Kennerin ist Nicole Jacques-Chaquin, deren umfassende Arbeiten zu Saint-Martin einem hauptsächlich literaturwissenschaftlichen, bis zu einem gewissen Grade auch philosophischen Interesse folgen. Sie haben viele Einzelaspekte von Saint-Martins Schaffen erschlossen und bilden eine Grundlage martinistischer Forschung, wenn auch Jacques-Chaquin der Gefahr der großen, kaum noch auf den Einzeltext beziehbaren Synthese nicht immer entgeht. Außerdem sei noch auf die Einzeluntersuchungen von Literaturwissenschaftlern wie Becq und Bellemin-Noël hingewiesen, sowie auf die Untersuchung zu Saint-Martins ‚aufgeklärter Mystik’ von Bates (2000). Der Versuch, den wir uns vorgenommen haben, den Illuminismus und speziell den Martinismus im Kontext einer Epoche zu studieren, hat in Frankreich bereits eine gewisse Tradition. Einzelaspekte hat Jean Fabre (1963) in seiner bekannten Aufsatzsammlung Lumières et romantisme herausgegriffen. Man sieht am Titel des Buches, dass sein Blick ein diachronischer ist, ähnlich wie bei Gusdorf (1976), der dem Illuminismus bei der Beschreibung der Naissance de la conscience romantique au siècle des lumières eine wenngleich schon aus Raumgründen sehr beschränkte Rolle zuweist. 89 Ähnlich episodisch, aber in erfreulicher Weise in die allgemeine Entwicklung integriert, erscheint der Illuminismus in den Darstellungen von Becq (1984) und Delon (1988). In einem eher synchronischen Rahmen geschieht dies in Depruns (1979) Untersuchung zur Inquiétude im achtzehnten Jahrhundert. Amadou (1989) versucht, die Gemeinsamkeiten von Illuminismus und Aufklärung aus der Sicht der Esoterik und teils auch in esoterischer 88 Wir folgen dieser bei Olms erschienenen Edition mit unseren Zitaten aus Saint- Martin 1782. In den übrigen Fällen halten wir uns jedoch an die nach und nach erscheinende Neuausgabe der Éditions rosicruciennes (und im Falle von L’Homme de désir sogar an eine verbreitete Taschenbuchausgabe), da diese leichter erreichbar sind. 89 Wir können im Rahmen dieser Arbeit keinen Beitrag (zumindest keinen direkten) zu der Diskussion Le préromantisme - hypothèque ou hypothèse? leisten, in die auch die Arbeit Gusdorfs gehört; vgl. Viallaneix 1975. 56 Sprache zu erweisen. Sein Text ist in gewisser Weise durchaus brillant, aber allusiv und ohne Quellenangaben; die Argumentation bleibt angedeutet. So erscheint unsere Bemühung um eine an die Diskursarchäologie angelehnte Erfassung des Illuminismus im Rahmen seines diskursiven Umfeldes bei gleichzeitiger detaillierter Erschließung der Texte als bislang weitgehend offen gebliebene Möglichkeit. 3.2. Die Interaktion zwischen Aufklärern und Illuministen Wir müssen nach dieser ersten Eingrenzung der Gesprächspartner und ihrer Diskurse nun fragen, ob sie überhaupt miteinander diskutiert haben. Es wäre immerhin möglich, dass sie innerhalb der gleichen oder auch innerhalb verschiedener diskursiver Formationen einfach je für sich und ihre Gruppierung énoncés hervorgebracht haben, sich jedoch nicht auf die der jeweils anderen bezogen. Nur wenn wir einen Dialog nachweisen können, ist ja die Frage nach Phänomenen der Überkreuzung von Diskursen wirklich fruchtbar. Wir werden dies in vier kurzen Kapiteln klären: Zuerst soll eine sozusagen implizite Diskussion um einen von beiden Seiten polemisch beanspruchten Begriff gezeigt werden. Dann folgt die Betrachtung eines aufklärerischen Versuches, den Illuminismus ganz explizit aus dem Gespräch zu verbannen, sowie die Darstellung von Saint-Martin Bemühungen, in dieses Gespräch dennoch hineinzukommen. Diese beiden Punkte können uns über die pragmatischen Aspekte des Innen und Außen von Diskursformationen orientieren, die oben schon angesprochen wurden. Zuletzt werden wir einen Fall von faszinierter Ambivalenz gegenüber dem theosophischen Diskurs bei einem (als Materialist) der Esoterik denkbar fern stehenden Autor - nämlich Diderot - kennen lernen. 3.2.1. Die Polemik um den Philosophenbegriff Eine erste Gemeinsamkeit von Illuminismus und Aufklärung können wir in dem Umstand erblicken, dass beide sich einerseits gegen die alte Metaphysik entscheiden und sich stattdessen auf Newton und seine Philosophia naturalis beziehen, 90 andererseits den darin enthaltenen Philosophenbegriff polemisch gebrauchen. Letzteres ist, was die Aufklärer betrifft (vor allem die philosophes der Encyclopédie), hinlänglich bekannt. So hat Fabre 91 gezeigt, dass der Artikel P HILOSOPHIE der Encyclopédie auf eine polemische Flugschrift zurückgeht. Er ist eine vorsichtige Redaktion eines klandestinen Opusculum, das seit 1740 zirkulierte. Schon das Stichwort ‘Philosoph’ ist demnach eine Position in den Grabenkämpfen der Aufklärung. 90 Vgl. Kondylis 1981, S. 234-235. 91 Fabre 1963, S. 93 57 Ebenso polemisch verwenden die Illuministen (und die katholischen Apologeten 92 ) den Begriff des Philosophen. Analog zu Kondylis’ Fassung des normativen Rationalitätsbegriffes der Aufklärung können wir also sagen: Beide Seiten führen einen normativen Philosophenbegriff auf ihren Bannern, und darin zeigt sich ein gemeinsamer, aber jeweils gegen die andere Seite vorgetragener Anspruch auf Vernünftigkeit. Jacques-Chaquin zeigt, dass die Doppelung von Anschluss und Polemik generell charakteristisch für den Umgang Saint-Martins mit der Aufklärungsphilosophie (etwa deren materialistischem Strang) ist: Il se définira à la fois dans et contre ces analyses, au moins en ce qui concerne leurs présupposées. Mais, et ceci est important, jamais il ne se situera en dehors du mouvement contemporain de la connaissance, jamais il ne l’ignorera ou ne feindra de l’ignorer. 93 Auch Friedrich beobachtet: „Bei Saint-Martin […] ist auf Schritt und Tritt die zustimmende oder polemische Berührung mit dem Gedankengut seiner Zeit zu spüren.“ 94 Wir wollen den Umgang Saint-Martins mit dem Philosophenbegriff nun mit dem Ziel einer ersten Erfassung dieser Figur der polemischen Teilnahme kurz untersuchen, und zwar anhand des Titels von Saint-Martins Erstlingswerk, das 1775 unter dem Kryptonym eines „Philosophe inconnu“ in einem geheimnisvollen „Edimbourg“ (aber in Wirklichkeit: Paris) veröffentlicht wurde. Schon der fiktive Veröffentlichungsort, der (im Gegensatz etwa zu Tschoudys fiktionalem „À l’Orient, chez le Silence“ 95 ) kein esoterisches oder maurerisches, sondern ein aufklärerisches Signal setzt (den zensurfreien Raum der schottischen Vernunftphilosophie), inszeniert zusammen mit dem seltsamen nom de plume (den wir noch betrachten werden) eine gewisse Ambivalenz. Der Titel lautet vollständig: Des erreurs et de la vérité, ou Les hommes rappelés au principe universel de la science, par un philosophe inconnu. Er setzt gegen eine erkenntnistheoretisch neutrale Vorstellung von Irrtümern (im Plural) eine singuläre und daher pathetisch konnotierte Wahrheit und spielt damit zunächst ambivalent auf einen christlichen Diskurs an, der sich auf solch eine singuläre Wahrheit berufen würde. 96 Allerdings spielt schon Condillac (einer der Lieblingsgegner Saint-Martins) in einer Kapitelüberschrift des Essai sur l’origine des connaissances humaines mit einem solchen Gegensatz, um dort im Sinne einer Säkularisierung den pathetischen 92 Flexier de Reval 1773, S. vii, nimmt den Begriff philosophique für den Katechismus des Christentums in Anspruch. 93 Jacques-Chaquin 1979, S. 324 94 Friedrich 1935, S. 164 95 Tschoudy 1785 96 Vgl. „Ego sum via et veritas et vita“ (Joh 14, 6). 58 Wahrheitsbegriff für sein eigenes sensualistisches Projekt zu reklamieren. 97 Insofern ist möglicherweise schon Saint-Martins Titel eine polemische Rückforderung einer säkularisierten Sinnfigur für einen sich als religiös verstehenden Diskurs. Der Untertitel öffnet diese Ambiguität weiter. Schon die Erwähnung eines „principe universel de la science“ rückt ihn von den katholischen Apologeten ebenso weit ab wie von den philosophes, verbindet diese Formulierung doch eine dem Christentum suspekte Neigung zum Szientismus mit einem universalen Anspruch, der für die Philosophen wiederum den Verdacht des Systemgeistes auf sich ziehen musste; Condillac insbesondere hatte im Traité des systêmes ein Denken, das sich nicht im Bruchstückhaften der Empirie bescheiden, sondern immer vorschnell zu großen Synthesen gelangen wollte, destruiert. Wie wir jedoch Dom Antoine Joseph Pernétys Dictionnaire mytho-hermétique entnehmen können, ist der Anspruch, alle Wissenschaften auf ein einziges Prinzip und auf eine einzige Wissenschaft zurückzuführen, auch typisch für die hermetische, will sagen: die alchemistische Literatur. 98 Damit ist ein Element angedeutet, das uns gleich noch beschäftigen wird. Noch ein weiteres konstitutives Element enthält dieser Titel, welches wiederum in eine noch andere Richtung zu weisen scheint: Das Partizip „rappelés“ impliziert eine Denaturierungs-Geschichte, die durch das Buch Saint-Martins umgekehrt werden soll. Es gibt demnach ein historisch früheres und zugleich universelles Prinzip, von dem die Menschen abgefallen sind und zu dem sie durch das, was Saint-Martin zu vermitteln hat, zurückgerufen werden können. Auf diese Weise wird das Thema des Sündenfalls, das den Verfasser mit der christlichen Apologetik verbindet und in der Tat breiten Raum in seiner Argumentation einnimmt, heterodox verschleiert, ist es doch in der kirchlichen Lehre keineswegs die bloße Erkenntnis eines Prinzips, welche hier Abhilfe schaffen könnte: Vom Standpunkt der Religion betrachtet, schlägt hier eine heterodoxe, gnostische Konzeption durch. Auch diese trägt jedoch eine mehr oder minder säkulare Maske, die im Begriff des rappel liegt. So schrieb die preußische Akademie der Wissenschaften 1784 eine Preisfrage zu dem Thema aus: Quelle est la meilleure manière de rappeler à la raison les Nations, tant sauvages que policées, qui sont livrées à l’erreur ou aux superstitions de tout genre? Der Ausdruck rappeler impliziert hier, dass Aberglaube und Irrtum keine ursprünglichen Zustände sind, sondern Verfallserscheinungen einer anfänglich gegebenen raison. Aufklärung wäre demnach Wiederherstellung. Wir werden sehen, dass diese Vorstellung einer korrigierenden Neugenese 97 Vgl. Condillac 1746, S. 342 (II,ii): „De la première cause de nos erreurs et de l’origine de la vérité“. Wir werden noch sehen, dass Condillac sich die korrigierende Neugenese der Wahrheit nach der Ablegung der Irrtümer wie die Korrektur eines Sündenfalls (desjenigen der Systemphilosophie) denkt. 98 Pernéty 1758b, S. ii. 59 Bestandteil des Analyse-Genesemodells ist, das in der ‘klassischen’ épistémè eine wichtige Rolle spielt. Noch die Korrektur einer Denaturierung im Sinne Rousseaus realisiert diese Figur. Aber diese Konzeption ist auch der Wiedergeburt des Menschen in der paulinischen Theologie ähnlich, und Saint-Martin macht sich diese Ähnlichkeit zunutze. Zu der erwähnten Preisfrage hat er übrigens sogar selbst eine Arbeit eingereicht, die seinen theosophischen Entwurf gewissermaßen in polemischer Themaverfehlung zwischen alle Stühle setzte und die folgerichtig auch nicht gekrönt wurde. 99 Saint-Martin schließt also mit dem Begriff rappeler an eine Grundfigur des offiziellen Denkens seiner Zeit an und kann so seine unorthodoxe Lektüre des Sündenfalls unter dem ‘philosophischen’ Deckmantel der Dekadenz aus einem Naturzustand zu präsentieren. Aber Saint-Martins Einmischung in die Philosophie ist nicht nur eine Frage der Mimikry, sondern polemische Umbesetzung. Dies zeigt sich an der Wahl seines Kryptonyms: Er bezeichnet sich als philosophe, aber in einer Weise, die seiner Zeit unbekannt, inconnu, ist. Denn nicht nur seinen wahren Namen will er damit verschleiern - dies sieht man schon daran, dass Saint-Martin zu späterer Zeit, als seine Identität gelüftet ist, diese Bezeichnung gleichwohl noch verwendet; er will vielmehr zugleich auf die unbekannte Natur seines Philosophentums abheben. Er ist ein Philosoph im Sinne einer philosophia adepta oder perennis, die sich geheimen Traditionen verdankt und die gegenüber den Empiristen und Sensualisten, den observateurs, wie sie Saint- Martin verschiedentlich abwertend nennt, den Philosophenbegriff für sich reklamieren will. Der ‘unbekannte Philosoph’ verhält sich zum enzyklopädistischen und sensualistischen philosophe zunächst einmal wie der Esoteriker zum Exoteriker (in einem zweiten Schritt jedoch wie vérité zu erreurs). Immerhin ist der philosophe inconnu, wie wir aus der Étoile flamboyante von Tschoudy 100 erfahren, auch ein freimaurerischer Grad, ein Adeptengrad in einem System der Hochgradmaurerei, der an eine ältere Begriffstradition des Philosophen als eines Naturphilosophen und insbesondere eines Alchimisten anschließt. In Lenglet Du Fresnoys im achtzehnten Jahrhundert sehr verbreiteter Geschichte des Hermetismus (im Sinne der Alchemie) 99 Da 1784 überhaupt keine der Akademie genehme Position eingesandt wurde, musste der Preis 1785 noch einmal ausgeschrieben werden, und nun krönte man die platonische These des Pastors der protestantischen französischen Kirche zu Berlin, Avillon. Saint-Martins Beitrag findet sich in: Saint-Martin 1807, II, S. 7-37. 100 Tschoudy 1785, I, S. 145. Amadou 1961, S. 126, weist darauf hin, dass Saint-Martin jedoch auch den alchemistischen Begriffsgebrauch umbesetzt und sozusagen ‘reiner’, weniger auf die Materie ausgerichtet verstanden wissen will, denn den Versuch, Gold zu machen, hielt er für ebenso sinnlos wie verwerflich. Bei Amadou auch ältere Quellen für die Bezeichnung „Philosophe inconnu“, so Dom Belin, Les aventures du philosophe inconnu en la recherche & en l’invention de la Pierre Philosophale, Paris 1646, sowie Gebrauch der Bezeichnung durch die Alchemisten D’Atremont und Sendivogius (der sich selbst den „Kosmopoliten“ nannte), vgl. Amadou 1961, S. 78-87. 60 wird dementsprechend der „philosophe hermétique“ häufig verkürzend einfach als „philosophe“ bezeichnet, Ähnliches finden wir im Titel einer alchemistischen Arbeit von Sabine Stuart de Chevalier. 101 Ein Blick in den Artikel „Philosophie“ in Pernétys Dictionnaire mytho-hermétique zeigt, dass auch die Hermetiker selbst schon diese Inanspruchnahme des Philosophenbegriffs (und sogar desjenigen der science) polemisch vorgetragen haben: Amateur de la sagesse, qui est instruit des secrettes opérations de la Nature, & qui imite ses procédés pour parvenir à produire des choses plus parfaites que celles de la Nature même. Le nom de Philosophe a été donné de tout tems à ceux qui sont véritablement instruits des procédés du grand œuvre, qu’on appelle aussi Science, & Philosophie hermétique, parce qu’on regarde Hermès Trismégiste comme le premier qui s'y soit rendu célébre. Ils prétendent qu’eux seuls méritent à juste titre ce nom respectable, parce qu’ils se vantent d’être les seuls qui connoissent à fond la nature, & que par cette connoissance ils parviennent à celle du Créateur […] 102 In diesem theosophisch-pansophischen Sinne versteht auch der anonyme Autor des auf Des erreurs et de la vérité antwortenden Diadème des sages die Naturphilosophie als Erfassung der Natur von Himmel und Erde und nimmt damit auch gleich noch den Naturbegriff im Sinne der esoterischen Tradition in Anspruch. 103 Saint-Martin möchte in der Konfrontation mit dem hermetisch-esoterischen Philosophenbegriff den seinerzeit vor allem gültigen Begriff des säkularen philosophe verändern und ihn sich aneignen. Dies ist aus der Tatsache ersichtlich, dass er mehr als andere Theosophen in seiner Argumentationsweise spezifisch philosophische, aufklärerische Techniken verwendet, diese dann aber in ein besonderes Programm einbindet, welches von der berühmten Forderung ausgeht, die in Des erreurs erhoben wird und dann als Motto seines zweiten Werks, des Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme, et l’univers, wieder erscheint: […] expliquer les choses par l’homme, et non l’homme par les choses. 104 Also: Der Mensch (und insbesondere sein moralisches Wesen) soll nicht durch vergleichende oder rückschließende Beobachtung der äußeren Welt verdinglichend erklärt werden, sondern es geht darum, umgekehrt die 101 Lenglet 1742, passim; Lenglet führt im übrigen auch den Titel des Buches von Belin 1646 in seinem Katalog alchemistischer Literatur an: AVANTURES du Philosophe inconnu... Ce Livre n'a pas eu une grande réputation, on croit qu’il est de l’Abbé Albert Belin.“ (III, Nr. 45, S. 93). Stuart de Chevalier 1781 nennt ihren Discours philosophique im Untertitel La clef du sanctuaire philosophique. 102 Pernéty 1758b, S. 378 103 „Par la Nature, on entend le Monde entier, composé du ciel & de la terre, & de tout ce qui en dépend; c’est-là l’objet de la vraie Philosophie...“ (Anonym 1781, S. 17) 104 Saint-Martin 1775, EV, S. 9. 61 Welt aus der Perspektive eines an sich selbst erfahrenen religiösen Menschenbildes als Schöpfung Gottes zu betrachten, die auf den Menschen hingeordnet ist. Ein Blick auf den Eingang von Des erreurs kann diese Konstellation von Aneignung und Umprägung des Philosophischen exemplifizieren. Wird schon in der Aufzählung der Inhalte im Untertitel eine physische Evidenz bezüglich Gut und Böse angekündigt, 105 also eine Art naturwissenschaftsanaloger Erweis, so werden in der Vorrede Kohärenz, Gewicht und Verbindung der ‘Prinzipien’, sowie deren Anwendbarkeit als Prüfsteine aller und so auch dieser Philosophie bezeichnet. Dabei wird die Autorität von Quellen generell abgelehnt - ein Zug, den Saint-Martin mit den Aufklärern teilt, der aber bezeichnenderweise bei ihm in Gestalt eines Topos esoterischen Schrifttums auftritt (man denke an Paracelsus 106 ): Saint-Martin gibt nämlich an, nicht oft in Bibliotheken zu gehen, da das wahre Wissen nicht dort zu finden sei. Das Formelhafte dieser Behauptung erweist sich allein schon aus der beträchtlichen Literaturkenntnis, die man Saint-Martin angesichts seiner sonstigen Schriften und Aufzeichnungen bescheinigen muss. Aber der Sinn dieser Formulierung ist nicht Bescheidenheit, auch nicht Zurückstellen des Bücherwissens zugunsten einer Erfahrung der äußeren Welt, denn dies wäre ja ‘expliquer l’homme par les choses.’ Das Gegenteil, „expliquer les choses par l’homme“ setzt voraus, dass im Menschen selbst (und insofern nicht in Büchern) ein Wissen liegt, das ihn befähigt, die äußere Welt zu verstehen. Diesen Schlüssel soll paradoxerweise Saint-Martins Buch den Menschen wiederum erschließen helfen. Die Behauptung der Nutzlosigkeit des Bücherwissens darf also insofern für dasjenige Buch, das diese Nutzlosigkeit verkündet, nicht gelten, und die brillante literarische Karriere Saint-Martins, an deren Anfang diese Behauptung steht, begreift sich dementsprechend als Ausnahme, wenn nicht als Widerlegung dieser These. In besonders pointierter Form begegnet dieser Widerspruch ausgerechnet in einem der ‘literarischsten’ Werke Saint-Martins, dem schon erwähnten prosimetrischen Roman Le Crocodile, der eine dichterische Weltinterpretation mit einer Satire der Literatur und der Bibliotheken verbindet; gegen Ende seines Lebens formuliert ihn Saint-Martin in seinem Portrait historique et philosophique auch explizit. 107 Der von Saint-Martin angekündigte Schlüssel zum inneren Text des Menschen erschließt diesen zudem noch als den alleinigen Interpretanten eines weiteren Textkorpus, welches Gegenstand intensiver Bemühungen 105 Allerdings ist diese nicht experimentell, sondern sozusagen experienziell: Die Gespaltenheit des Menschen ist existenziell am eigenen Leibe erfahrbar. 106 Dass den papierenen Büchern nicht zu trauen sei, liest man bei Paracelsus öfter, etwa Paracelsus 1922-1995, XI, S. 174. 107 „Les livres que j'ai fait n'ont eu pour but que d’engager les lecteurs à laisser là tous les livres sans en excepter les miens“ (Saint-Martin 1789-1803, Nr. 45). Vgl. auch Jacques- Chaquin 1981, S. 32. 62 der Aufklärung war. Wie das Vorwort behauptet, wird der sich selbst mit Hilfe der hier dargebotenen Informationen deutende Mensch durch diese neu gewonnene Innenschau nicht nur die äußere Welt, sondern auch die Fabeln und Allegorien aller Völker deuten können. Auch hier bezieht sich Saint-Martin auf einen Kampfplatz zeitgenössischen Denkens, der durch die Bibelkritik einerseits und die Sammlung, Erklärung und Reduktion heidnischer Mythen andererseits abgesteckt ist: den Kampfplatz der rationalen Durchdringung des Mythischen. Im Vorfeld der Publikation von Saint-Martins Erstlingswerk hatte der Enzyklopädist Boulanger in seiner Antiquité dévoilée 108 genau solch ein Vorhaben in reduktionistischer Absicht durchgeführt. Aber auch hier gibt es neben der bekannten aufklärerischen eine verborgene Richtung, die gerade in dieser Zeit stärker ans Tageslicht kommt, zweifellos, weil die Fragen, auf die beide Seiten zu antworten versuchen, miteinander verwandt sind: diejenige der Universalschlüssel der esoterischen Tradition, 109 etwa der alchemistischen Mytheninterpretation. Diese esoterische Richtung hat in Joseph Antoine Pernétys Fables égyptiennes et grecques dévoilées und seinem Dictionnaire mytho-hermétique 110 besondere Publizität erreicht. Dazwischen steht Court de Gébelins Bemühung um die Deutung der Allegorien, Mythen und Hieroglyphen. Sie alle werden wir noch näher kennen lernen. Eine sich aufgeklärt gebende Theosophie will also in Des Erreurs auf Fragen der Zeit in philosophischer Form Antwort geben und sich den gleichen Plausibilitätskriterien stellen wie die philosophes. Aber inmitten dieser weitgehend rationalen Anlage kommt wiederum ein spezifisch esoterisches Element zu Wort, welches die Erwartungen an die Luzidität der folgenden Darlegungen wieder dämpft: Manches, so Saint-Martin, muss auch in seinen Schriften unter dem Schleier der Allegorie verbleiben, da nicht jedes Auge das ungefilterte Licht erträgt. Diese Ambiguität von Offenlegung und Verhüllung ist konstitutiv insbesondere für das alchimistische Schrifttum, wie ebenfalls bei Pernéty zu erfahren ist. 111 Besonders die Abschnitte, in denen Saint-Martin die Leser solchermaßen von der wahren Gnosis ausschließt, forderten aufgrund ihrer Dunkelheit zu Polemik und Parodie heraus. 108 Boulanger 1766 109 Vgl. zu deren besonderer Aktualität im 18. Jh. Faivre 1973a, S. 60. 110 Pernety 1758a und 1758b 111 Die hermetische Wissenschaft ist nach Pernéty ein von Gott enthülltes Mysterium für wenige. Um das weitere Funktionieren der Gesellschaft zu sichern, muss dieses Wissen vor den einfachen Leuten geheim gehalten werden: „Sapientes abscondunt scientiam.“ Prov. 10, 14. Pernéty 1758b, S. ii-iii 63 3.2.2. Ausschlussversuche: Polemik und Parodie Aufgrund der gewissen Obskurität ganzer Passagen vor allem in den ersten beiden Büchern Saint-Martins sprachen seine Gegner schnell von einem „songe creux en démence“ 112 - so die anonym erschienene Clef des erreurs et de la vérité, ou les hommes rappelés au principe universel de la raison, par un serrurier connu, die nicht nur dem verschlossenen ‘unbekannten Philosophen’ den ‘bekannten Schlosser’ entgegensetzt, sondern auch die science des Originaltitels durch das Zauberwort der Aufklärer, raison, ersetzt. In der Tat geschieht der Einspruch gegen Saint-Martin zunächst innerhalb jenes schon erwähnten Metadiskurses der Selbststilisierung der lumières, komplett mit ihrer Licht- und Nachtmetaphorik, ihrer fundierenden Opposition von (in Kondylis’ Sinne polemisch besetzter) raison versus préjugés und der Auffassung des eigenen Säkulums und seiner bereits kanonisierten Autoren als Zeit des Fortschritts: Est-ce dans le siècle, où les Buffon, les Voltaire, les d’Alembert, les Diderot, les Montesquieu ont écrit, qu’on présente à leurs contemporains un amphigouri aussi ridicule […] ? […] Les ennemis de la raison voudraient en vain nous replonger dans la nuit horrible des préjugés […] la rétrogradation des lumières […] 113 Der ‘Schlüssel’ zu Saint-Martins Buch wendet dessen Anspruch auf philosophische Rationalität gegen ihn selbst und setzt seinen theosophischen Positionen polemisch eine dezidiert sensualistische Anschauung entgegen, die sogar über die Ansichten Condillacs und der idéologues in materialistischer Weise hinausgeht - etwa in der Leugnung der Freiheit des Willens, der als rein physischer Mechanismus 114 erscheint. Der Vorwurf, Saint- Martin verwende „une fausse logique fondée uniquement sur les rapports des phénomènes de la nature avec la science des nombres“ 115 bedient sich allerdings einer Formulierung, die man auch als an die Physik gerichtet missverstehen könnte; auch sie wendet ja auf die Natur eine Wissenschaft von den Zahlen an, nämlich die Mathematik. Wie man sieht, fällt es dem Anonymus nicht ganz leicht, die kritisierte Wissensform von der eigenen abzugrenzen. 112 Anonym 1789a, S. 25 113 Anonym 1789a, S. 24-25 114 Vgl. Anonym 1789a, S. 36ff. 115 Anonym 1789a, S. 27 64 Der Text ist insgesamt ein (zuweilen amüsanter 116 ) Versuch, Saint-Martin ganz direkt aus dem philosophischen Gespräch auszuschließen. Sehr viel subtiler verfährt in dieser Hinsicht eine parodierende ‘Fortsetzung’ von Des erreurs et de la vérité, die 1784 ebenfalls anonym erschien und möglicherweise derselben Feder entstammt. 117 Das Buch folgt in etwa dem inhaltlichen Aufbau seines Vorbildes und gibt sich als Suite desselben, das die dort teils dunkel angedeuteten Gedanken nun expliziere. In Wirklichkeit wird jedoch jeder Gedanke Saint-Martins, der aufgegriffen wird, sogleich im Sinne des Sensualismus verkehrt. Der Autor ahmt (um ein besonderes Signal der Zusammengehörigkeit zu geben) stellenweise trotz der nun behaupteten Klarheit die dunkle theosophische Sprache Saint- Martins nach, indem er etwa die Erkenntnisfähigkeit mit folgenden Worten als dem Menschen angeborenes Vermögen charakterisiert: […] le progrès de la lumière et de la vérité, dont le germe et le trône sont pourtant dans le cœur de l’homme […] 118 Lumière und vérité gehören zur Schnittmenge zwischen aufklärerischem und illuministischem Vokabular, trône ist hier (außerhalb einer Rede über Monarchie) als allgemein esoterischer Terminus zu verstehen (der vor allem für die Engelshierarchie von Bedeutung ist), während germe, wie wir sehen werden, ein zentraler Begriff bei Saint-Martin ist (der bloße Zitat- 116 Dies gilt nicht nur für den Spott über Saint-Martin, dessen „petit manteau de philosophie“ der Text zu Fall bringen will, damit (ganz in der Bildlichkeit jesuitischer Moralitätenspiele) die darunter liegende „turpitude“ zum Vorschein komme (Anonym 1789a, S. 45), sondern auch für die Äußerungen gegenüber zwei deutschen frühen Saint-Martin-Rezipienten. So verspottet das „Avertissement“ Nicolai, der in seiner Besprechung Des erreurs für das Werk eines kabbalistisch beeinflussten Jesuiten hielt, als Vielschreiber, „dont la fertile plume enfante tous les mois pour le moins six volumes“ (ebenda, S. 4) und Claudius, der im Vorwort seiner Übersetzung der Irrthümer und Wahrheit bekannt hatte, den übersetzten Autor nicht immer zu verstehen: „Eh, mon ami, pourquoi le traduis-tu, si tu ne le comprends pas! “ (ebenda, S. 6). Der Ansicht Nicolais, der ‘Unbekannte Philosoph’ könne Jesuit sein, widerspricht auch die anonyme Apodiktische Erklärung über das Buch: Irrthum und Wahrheit vom Verfasser selbst (die wahrscheinlich nicht wirklich von Saint-Martin stammt); vgl. Anonym 1789b, S. 16 und 24. 117 Der Katalog der Bibliothèque nationale de France weist die beiden in diesem Kapitel besprochenen Werke Charles de Suze zu. Die Annahme der Identität beider Autoren wird dadurch gestützt, dass der spätere Text sich durchweg positiv auf den früheren bezieht und grundsätzlich ähnliche Standpunkte vorbringt wie dieser, auch wenn der Ton wesentlich schärfer ist und die Maske der ‘Fortsetzung’ fallen gelassen wird. Dies mag wiederum mit dem Veröffentlichungsdatum des zweiten Textes 1789 zusammenhängen: Der Sieg der Aufklärung über den Obskurantismus zeichnet sich offensichtlich im Revolutionsjahr ab, und dies ermöglicht sowohl die oben zitierte Liste der Autoren des ‘Siegerdiskurses’ als auch den schärferen antiklerikalen Ton (der Autor übersieht Saint-Martins Distanznahmen von der katholischen Kirche und behandelt ihn als Kryptokatholiken). 118 Anonym 1784c, S. 17 65 charakter der letzten beiden Begriffe zeigt sich in ihrer einander widersprechenden Bildlichkeit). Aber der Anonymus verrät seinen konträren Standpunkt in dem Begriff progrès. Auch anderswo sind es die termini technici der Aufklärungsphilosophie, die seine Vortäuschung des martinistischen Diskurses vereiteln. So ist seine Beschreibung der imagination in einem sensualistischen Vokabular verfasst, das genau demjenigen Condillacs entspricht: Pour bien expliquer ce méchanisme, il est nécessaire de poser en fait que l’imagination n’est autre chose que cette faculté intellectuelle qui a lieu dans l’homme quand une perception, par la seule force de la liaison que l’attention a mise entr'elle et un objet, se retrace à la vue de cet objet. 119 In ähnlichen Termini fasst Condillac das Gegenstück zur Imagination auf der Ebene der begrifflichen Erkenntnis, also den Zeichengebrauch, der auf einer höheren Kulturstufe für ihn an die Stelle des vorbegrifflichen Denkens in Bildern tritt: L’attention que nous donnons à une perception qui nous affecte actuellement nous en rappelle le signe: celui-ci en rappelle d’autres avec lesquels il a quelque rapport; ces derniers réveillent les idées auxquelles ils sont liés; ces idées retracent d’autres signes ou d’autres idées […] 120 Natürlich handelt es sich hier um unterschiedliche Bezugsgegenstände; uns kommt es auf die Konstellation von perception, liaison/ lier, attention, retracer an. Wir können die einzelnen Gedanken dieses Werkes nicht genauer verfolgen. Ein einziges weiteres Beispiel muss genügen: Die angebliche Fortsetzung der Erreurs greift ein wichtiges Thema Saint-Martins auf, die „deux natures de l’homme, traités dans le premier volume.“ 121 Dort ist das Fortschreiten vom ursprünglichen Zustand des Menschen zum heutigen als Sündenfall beschrieben. Daraus wird nun der Ausgang aus der Instinktsicherheit des noch tierischen Menschen in die Freiheit, Gesellschaftlichkeit und Rationalität des Kulturwesens. Wir werden zu beiden Themen noch genug erfahren, aber an dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass die beiden Geschichten hier natürlich deshalb so leicht übereinander gelegt werden können, weil sie eine Strukturanalogie auszeichnet, die dies ermöglicht. Die parodierende Umwidmung sagt auch etwas über eine mögliche Übereinstimmung der beiden vermeintlich unvereinbaren Standpunkte aus. Und so ist der Erfolg dieser Parodie (zumindest aus heutiger Sicht) nicht derartig durchschlagend, wie ihr Autor vielleicht hoffte. Wir werden sehen, dass nicht alle diese Gegensätze wirklich bestehen, und dass diejenigen, die zu Recht aufgezeigt wurden, nicht unbedingt solche zwischen „lumières“ und „nuit horrible des préjugés“ sein müssen. 119 Anonym 1784c, S. 130 120 Condillac 1746, S. 51 121 Anonym 1784c, S. 270 66 3.2.3. Saint-Martins Teilnahme an der Diskussion seiner Zeit Es hat sich damit gezeigt, dass die Aufklärer in der Tat versuchten, den Illuminismus auszugrenzen. Aber zumindest Saint-Martin hat sich von Anfang an bemüht, in die allgemeine Diskussion einzugreifen und mit den Aufklärern ins Gespräch zu kommen. Wir besprachen schon seine Teilnahme am Preisausschreiben der Berliner Akademie. Auch der schon erwähnte Traktat über die Zeichen, der in Le Crocodile vom Psychographen wiedergegeben wird, ist zunächst eine Preisschrift, die Saint-Martin als Antwort auf eine Frage des Institut national de France über die „influence des signes sur la formation des idées“ verfasste, dann einzeln veröffentlichte (ohne Beachtung zu finden 122 ) und zuletzt im Crocodile nochmals abdrucken ließ. Der Preis wurde an Gérando vergeben, dessen Preisschrift wir im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit den idéologues heranziehen werden. Auch zu dieser verfasste Saint-Martin noch eine Entgegnung, die er jedoch nicht mehr veröffentlichte. Die Ausgrenzungsversuche der Aufklärer bleiben, wie man sieht, nicht ganz erfolglos, und die Tatsache, dass Saint-Martin seinen Text zu den Zeichen dann in einem Roman veröffentlicht, zeigt, wie Randdiskurse in fiktionale Gattungen abgedrängt werden. Dies ist allerdings nur die eine Seite: Saint-Martins eigene Auffassung von der hohen Aufgabe der Dichtung, mehr aber noch die Anlage von Le Crocodile als zeitkritische und geschichtsphilosophische Stellungnahme nimmt auch für die eingeschobene Untersuchung über die Zeichen eine besondere Geltung in Anspruch. Das Institut wird in die Fiktion des Romans eingesogen und in dessen prophetische Vision integriert und damit der geschichts- und deutungsentwerfenden Macht des Romanautors unterworfen. Die Rückkehr des abgeschobenen Diskurses in der Fiktion ist subversive Wortmeldung einer Poesie, die sich als den darlegenden Formen überlegen stilisiert (wir werden dies in Kapitel IV sehen). Der auffälligste und öffentlich wirksamste Versuch einer Einmischung Saint-Martins in die Aufklärungsphilosophie ist jedoch seine Teilnahme an den Kursen des Ideologen 123 Garat an der École normale. Hier ließ sich Saint- Martin auf Diskussionen mit dem Kursleiter ein, in denen wir Aufklärung und Illuminismus in direkter Kontroverse beobachten können. 124 Wir wollen dabei allerdings die vorgetragenen Argumente nicht sehr weit in ihre jeweiligen Kontexte hinein verfolgen - beide Seiten werden noch genügend 122 Vgl. Bellemin-Noël 1979, S. 24. 123 Wir wollen Idéologue, Ideologe, ideologisch jeweils kursiv gesetzt stets als Bezugnahme auf die Schule der Idéologues (Destutt de Tracy, De Gérando, Cabanis, Volney, Garat, Maine de Biran) verstehen, wie sie sich selbst (etwa im Titel von Destutts Éléments d’Idéologie) verstanden hat. 124 Vgl. zu Saint-Martins hier vorgetragenen theosophischen Positionen auch Jacques- Chaquin 1987 und Jacques-Chaquin/ Becque 1972. 67 zu Wort kommen. Es geht zunächst nur darum, aufzuweisen, dass eine Diskussion (und zwar durchaus mit Mitteln rationaler Argumentation) auf beiden Seiten versucht wurde. Saint-Martin widerspricht in seinen Entgegnungen auf Garat (unter anderem) der Grundoperation des Sensualismus, alles auf die Sinnesempfindungen zurückzuführen. Er hat dabei vor allem zwei (seiner Ansicht nach) reduktive Gleichungen im Auge: Die Gleichsetzung von Empfindung (sensation) und Gedanke oder Idee, und die von moralischem Urteil und (solcher) sinnengeleiteter Erkenntnis. Dagegen geht er von einem besonderen „sens moral“ aus, der nicht materiell ist, sowie von einer Unterscheidung zwischen Sinneseindruck und Idee, mithin Erkenntnis. 125 Dies betrachtet Garat, getreu einer Auffassung von Philosophiegeschichte als Fortschrittsgeschichte, als Rückfall in den Malebranchismus und Platonismus. 126 Außerdem entspreche diese Einschätzung der Dinge den Resultaten der sinnengeleiteten Empirie nicht. Die Ansicht Saint- Martins, Denken und Urteilen sei mehr als Sinnlichkeit, wird durch das Argument, dies entspräche nicht den Ergebnissen eben dieser Sinnlichkeit (deren Vorrang ja erst noch zu erweisen ist), zurückgewiesen. Dieser Zirkel verweist auf die Normativität der aufklärerischen Rationalitätsauffassung, die die Aufwertung der Sinnlichkeit als selbst nicht begründetes strategisches Ziel einbringt. Das Platonische und Rückwärtsgewandte an Saint-Martins Leugnung der Identität von Empfinden und Denken sei, meint Garat, jenes Implikat der Unterscheidung von Sensation und Idee, demzufolge Ideen über und vor den Sachen existierten, auf die sie sich beziehen. Dagegen setzt er die Grundauffassung des Sensualismus: Die Idee liegt der Erscheinung bzw. Sache nicht voraus, sondern sie wird durch Abstraktion aus Sinneseindrücken gewonnen. 127 Die Annahme eines „sens moral“ muss für Garat zudem einer Art Ockhamschem Rasiermesser zum Opfer fallen. Die bekannten Sinne genügen zur Erklärung des moralischen Handelns. 128 Saint-Martin kontert nun, indem er Garat erstens unfaire Diskussionsführung vorwirft 129 und zweitens einen Widerspruch in dessen Argumentation aufdeckt. Er bezieht sich dabei auf ein Argument Garats, mit dem dieser seinerseits dem Unbekannten Philosophen einen Widerspruch nachweisen wollte. Garat kritisierte nämlich zuvor Saint-Martins Gedankengang als widersprüchlich, die Materie könne zwar Empfindungen haben, 125 Saint-Martin 1990, S. 302f. 126 Saint-Martin 1990, S. 324f. 127 Saint-Martin 1990, S. 316 128 Saint-Martin 1990, S. 320 und 325 129 Saint-Martin rügt die nachträgliche Redaktion der allen folgenden Diskussionen als Grundlage dienenden Diskussionsprotokolle durch Garat, die dessen eigene Äußerungen kohärenter macht und diejenigen Saint-Martins durch die Verteilung von Interpolationen und Repliken schwächt, vgl. Saint-Martin 1990, S. 344. 68 aber nicht denken, was man daran sehe, dass sie sich nicht vervollkommnen könne: Wenn sie doch Empfindungen (sensations) habe, so Garat, so habe sie ja Ideen (wir sahen schon, dass dies für ihn eine Gleichung sein muss), und wer Ideen hat, kann diese und also sich selbst vervollkommnen, also denken. 130 Saint-Martin entdeckt diese unter der Hand eingeschmuggelte Vorannahme (die für Garat natürlich unverzichtbar ist): Vous êtes tellement plein de votre systême des sensations, que ce ne sera pas votre faute si tous les mots de nos langues, si tout notre dictionnaire enfin, ne se réduit pas un jour au mot sentir. Toutesfois, quand vous auriez ainsi simplifié le langange, vous n'auriez pas pour cela simplifié les opérations des êtres. 131 Das Reizwort systême zeigt, dass Saint-Martin das Gedankengebäude der idéologues polemisch mit den überwundenen Konstruktionen der Systemphilosophie gleichsetzen will. Er meint, Garat erkläre mit seiner Gleichsetzung von Denken und Empfindungen Grundverschiedenes für identisch und reduziere so die Wirklichkeit. Nun geht Saint-Martin zum Angriff über: Kurz zuvor hat Garat nämlich erklärt, kein Materialist zu sein. 132 Wenn Garat aber, so Saint-Martin, der Materie Empfindungen zuschreibt (wie er es tut) und diese Empfindungen mit Gedanken gleichsetzt, so muss er der Materie Denken zuschreiben und also Materialist sein, das imbroglio fällt auf ihn zurück. 133 Ironisch bemerkt Saint-Martin: Je me garde bien, je le répète, de vouloir vous ranger dans la classe des matérialistes, dont vous êtes très éloigné d’adopter le systême ( […] ). mais je vous avouerai que je les trouve plus conséquens que vous dans la mesure où ils se tiennent. 134 Saint-Martin ist also seinem Gegner auch philosophisch durchaus gewachsen. Die Tatsache, dass er dieses Register des öffentlichen rationalen Disputs beherrscht, muss auch seinen dunkleren Texten einen gewissen rationalen Kredit sichern. Bemerkenswert ist schließlich, dass er gerade das ‘Ideologische’ an den idéologues, das Systemhafte, das sich stets in den Konsequenzen unumstößlicher Grundsätze im Kreise dreht, der Freiheit des Denkens für abträglich hält: il me semble que le vrai caractère d’une doctrine philosophique, est de donner la plus grande latitude possible à l’esprit de l’homme, et non pas de le réduire à 130 Saint-Martin 1990, S. 333 131 Saint-Martin 1990, S. 353f. 132 Saint-Martin 1990, S. 333 133 „C’est alors, je l’avoue, que l’imbroglio que vous me prêtiez si gratuitement est à son comble; mais je prétends aussi que c’est sur vous que retombent tous les frais de cette inconséquence“ (Saint-Martin 1990, S. 355). 134 Saint-Martin 1990, S. 385 69 une enceinte si limitée; de lui laisser sentir et exercer toutes les facultés qui le constituent, et non pas de les enchaîner et de les suspendre. 135 Zwei wichtige Aspekte dieser Äußerung werden uns noch beschäftigen: Erkenntnis als freie Wahl und geistiges Tun als produktive Aktivität. 3.2.4. Diderot und die Theosophen Abschließend wollen wir einen Fall einigermaßen positiver oder zumindest ambivalenter Rezeption von Esoterik durch einen jeglicher esoterischer Neigungen unverdächtigen Aufklärer, ja sogar Materialisten, betrachten. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen Kontakt mit zeitgenössischem Illuminismus, sondern mit älteren Strömungen der hermetischen Naturphilosophie. Diderot, um den es hier gehen soll, beschäftigte sich nicht mit dem Illuminismus, und umgekehrt scheint übrigens auch Saint- Martin (der sich sonst für die philosophes sehr interessierte) mit Diderot nicht befasst zu haben (wenn er auch die Encyclopédie benutzte). Jean Fabre hat in einem Kapitel seines erwähnten Buches über Lumières et romantisme Diderots Umgang mit theosophischen Positionen bei der Redaktion einiger Artikel der Encyclopédie untersucht, vor allem des Artikels T HEOSOPHES und des Artikels P HILOSOPHIE DES J UIFS . Fabre arbeitet heraus, dass Diderot sich bei seiner Arbeit hauptsächlich auf Jakob Bruckers Historia critica philosophiae stützt, deren Zusammenfassungen theosophischer und naturmystischer Traditionen er (teils inkorrekt) übersetzt und resümiert. 136 Wir können also festhalten, dass diese esoterischen Traditionen damit in Frankreich über die Encyclopédie, sowie über Brucker selbst, rezipiert werden konnten. Unser Hauptinteresse gilt in diesem Zusammenhang jedoch Diderots Umgang mit den behandelten Autoren. Im Artikel T HEOSOPHES betont Diderot vor allem die Vorläuferrolle des Paracelsus auf dem Gebiet der Chemie. Zugleich stellt er ihn als Genie und Halbwahnsinnigen dar. 137 Böhme nimmt er nicht ernst, anlässlich Van Helmonts bemerkt er, Genie und Wahnsinn lägen nahe beisammen. Die Liste der wahnsinnigen Genies nach Diderot umfasst Pindar, Aischylos, Moses, Jesus, Mohammed, Shakespeare, Roger Bacon und eben Paracelsus. Dies muss nicht unbedingt negativ zu verstehen sein. Wir werden in Kapitel IV noch sehen, dass die besonderen imaginativen Möglichkeiten des furor poeticus für Diderot ein zentrales Thema sind. Wie Fabre herausarbeitet, hat Diderot zwar nichts übrig für Esoterik, aber er sympathisiert mit den wahnsinnigen, enthusiasmierten und freien Denkern der Theosophie, wenn er auch die Inhalte 135 Saint-Martin 1990, S. 384 136 Fabre 1963, S. 70-71, vgl. Brucker 1741/ 67, Bd. IV, Buch. III, „De philosophis novam philosophandi viam tentantibus“, 3: „De Theosophicis“, S. 644ff. 137 Vgl. Fabre 1963, S. 78. 70 ihrer Schriften meist ablehnt. Wie die Dichter und Irren markieren sie das Andere der Rationalität, aber auch die Ahnung künftiger Möglichkeiten des Rationalen: „Derrière leur déraison se profile la raison de demain.“ 138 Bei Diderot zeigt sich also einerseits der Ausgrenzungsgestus der Aufklärung gegenüber diesen Randdiskursen, andererseits kündigt sich eine aus der Mitte der Aufklärungsphilosophie selbst erwachsende Verschiebung an, die zumindest die Herangehensweise vieler Esoteriker, ihren Enthusiasmus (sowie einige ihrer ‘dynamischen’ Naturbeschreibungen) anzuerkennen beginnt. Wir werden in Kapitel IV sehen, dass die Konzeption einer ‘Energie’ (was darunter zu verstehen ist, wollen wir in Kapitel III klären), die im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts im ‘klassischen’ Wissen immer mehr in den Vordergrund rückt (und deren besonderer Propagator Diderot ist), diese Veränderung ermöglicht. Für die synchronische Betrachtung bleibt festzuhalten, dass der ‘Wahnsinn’ der Esoteriker auch aus dem Inneren der Aufklärungsphilosophie als prophetische Poesie betrachtet werden konnte. 138 Fabre 1963, S. 82 71 4. Zum Aufbau der Untersuchung Für die Geschichte des Energie-Begriffs, die wir im Zusammenhang mit einigen Neuerungen Diderots (und anderer Aufklärer) einerseits, verschiedener illuministischer Schriftsteller andererseits, gegen Ende unserer Untersuchung erzählen wollen, wird uns also ein diachronischer Blick vonnöten sein. Es geht uns zwar im Wesentlichen um die Einordnung der Illuministen in eine Synchronie. Aber wie bei der Analyse einer Momentaufnahme eine Schliere im Bild durch die Geschichte einer sich hier abzeichnenden Bewegung erklärt werden kann, so sollen im zweiten (kürzeren) Teil der Arbeit Elemente, die im synchronischen Bild als Ränder und Unverrechenbares, als Überhang erscheinen, zu Teilen einer Geschichte werden, die sich zunächst innerhalb des Systems abspielt, am Ende aber aus ihm hinausführt oder dessen Identität verändert (je nach Standpunkt). Damit soll nicht gesagt sein, es gebe diese Schlieren irgendwo außerhalb unseres Bildes: Der Gegensatz zwischen Synchronie und Diachronie liegt nur auf der Beschreibungsebene. In beiden Teilen werden Texte der Illuministen und ihrer wichtigsten Gesprächspartner (so Sensualisten und Ideologen) zu Wort kommen, daneben aber auch selten beachtete Autoren ‘zwischen den Stühlen’ (etwa Court de Gébelin). Zur Überprüfung dienen außerdem in diesen Gruppierungen am Rande stehende Philosophen (so Maupertuis), obskure Autoren (Gleizes), sowie andere als nur darlegende Gattungen (Roman und Versdichtung). Die sich aus diesem Vorgehen ergebende gewisse Panoramik (und, aufgrund unseres Bemühens, den Einzeltext zu Wort kommen zu lassen, auch ‘Anthologik') soll durch eine besonders aufgeräumte Gliederung erträglich gemacht werden: Zum ersten (synchronischen) Teil: Kapitel I geht von Friedrichs Beobachtung der Berührung zwischen Illuministen und Aufklärern auf dem Gebiet der grammaire générale, sowie von der Tatsache aus, dass Foucaults Entwurf die Allgemeine Grammatik sozusagen als Leitdiskurs behandelt und wesentliche Annahmen und Praxen auch der anderen Diskurse daraus entwickelt. Wir werden jedoch nicht einfach Foucaults Vorgehen nachzeichnen und die einzelnen Diskurse nacheinander behandeln, sondern vom Diskurs der Allgemeinen Grammatik ausgehend Grundzüge der épistémè entfalten, Annahmen und Praxen von dort her auch in andere Diskurse hinein verfolgen und so alle Teilnehmer einschließlich der Illuministen in einer synchronischen Anordnung über Diskursgrenzen hinweg zu präsentieren versuchen. Wegen der gemeinsamen Grundlagen in der Allgemeinen Grammatik heißt dieses Kapi- 72 tel: Die Rede des Menschen als Repräsentation und befasst sich mit (klassifikatorischen und analytisch-genetischen) Tableaux. Es muss, da es unsere Hauptthese tragen soll, dass der Illuminismus nicht beziehungslos neben den anderen Diskursen herläuft, das ausführlichste der Untersuchung sein. Kapitel II geht umgekehrt von dem im Laufe von Kapitel I erfassten illuministischen Diskurs aus (genauer gesagt von einem Teilaspekt desselben) und zeigt einerseits seine Teilhabe am Repräsentationsmodell, andererseits die Verwicklung nicht esoterischer Denker darin. Da es hier im Sinne des Illuminismus um die Zeichen Gottes in der Natur (und im Menschen) geht, heißt dieser Teil (in einfacher Opposition zu I) Die Rede Gottes als Repräsentation. Er behandelt aufgrund der besonderen Auffassung dieser Zeichen durch die Illuministen die zeichenhafte Anordnung der Tableaux in der Welt als Ruinen - ein Begriff, der zugleich den unverrechenbaren Überhang von Kapitel I noch einmal aufnimmt. Zum zweiten (diachronischen) Teil: Dieser Teil ist (aufgrund unserer Betonung des synchronischen Interesses) wesentlich kürzer als der erste. Kapitel III zeigt, wie sich innerhalb der Diskurse Scheren zwischen ‘Anordnung’ und ‘Energie’ öffnen, und zwar sowohl innerhalb der Naturgeschichte als auch in dem wesentliche Grundlagen desselben transportierenden Hintergrundmythos der ‘Kette der Wesen’ - wie auch in der Schöpfungs- und Emanationstheosophie der Illuministen. Dieses Kapitel ist eine Geschichte der Energie, vor allem auf die Natur bezogen. Da diese in illuministischer Sicht nach wie vor die Rede Gottes ist, heißt das Kapitel (spiegelbildlich zum vorigen) Die Rede Gottes als Energie und befasst sich mit Leben, durch welche Bezeichnung wiederum der Überhang von Kapitel II aufgegriffen werden soll. Kapitel IV bezieht diese ‘Energetik’ wieder auf die Sprachanschauung zurück, diesmal allerdings nur die der Illuministen. Es heißt daher (wiederum spiegelbildlich zu I und III) Die Rede des Menschen als Energie und befasst sich mit Aspekten einer Logos-Theosophie, worin auch die Spezifika der ‘Energetik’ von Kapitel III gefasst werden können. E RSTER T EIL : D ER I LLUMINISMUS INNERHALB EINES SYNCHRONISCHEN E POCHENBILDES 75 Kapitel I: Tableaux. Die Rede des Menschen als Repräsentation Da wir aus unserer Lektüre von Hugo Friedrich die Intuition gewonnen haben, das Gespräch zwischen dem Illuminimus und dem aufklärerischen Normaldiskurs habe die Zeichen zu einem seiner wesentlichen Themen, bietet es sich an, diesen Dialog von dort her zu entfalten. Im Rahmen einer zumindest teilweise von Foucaults Diskursarchäologie inspirierten Untersuchung bedeutet dies zugleich, denjenigen Diskurs in den Mittelpunkt zu rücken, der auch in Foucaults Skizze der ‘klassischen’ épistémè als Leitdiskurs verstanden wird. Foucault hat seine Strukturen ja insgesamt bevorzugt auf das jeweils epochenspezifische Zusammendenken von Sprache und Welt aufgebaut: Les mots et les choses als je anders gestaltete Zusammenordnung von Wörtern und Sachen - das ist die Grundform, aus der wesentliche Einzelheiten der verschiedenen Diskursformationen erwachsen, welche dann ihrerseits wieder die Gestalt vorgeben, in der sich verschiedene Meinungen und Denkbewegungen bilden und zeigen können. So begegnen sich in der Sprachtheorie Sprache als Thema und Sprache als Bestandteil einer épistémè. Darüber hinaus ist aber die Epoche, die uns hier interessiert, auch auf einer mittleren Abstraktionsebene für Foucault eine Zeit der Zeichen: Die Zeichen sind nicht nur epochenspezifisches Thema, der Zeichenbezug ist nicht nur wie bei jeder Epoche eine Grundstruktur aller Diskurse, sondern die Philosophie jener Periode ist aufgrund ihres besonderen Umgangs mit den Zeichen auch in der spezifischen Form ihres Denkens eine Philosophie der Zeichen: […] nous avons tant de mal, en dépit de l’évidence, à reconnaître que la philosophie classique, de Malebranche à l’Idéologie, a été de fond en comble une philosophie du signe. 1 1. Das Repräsentationsmodell des Zeichens Was ist ein Zeichen im achtzehnten Jahrhundert? Hugo Friedrich hat in seinem schon erwähnten Aufsatz über die illuministische Sprachtheorie zu Recht festgestellt, dass auch noch am Ende des Jahrhunderts der Hauptstrang der (aufklärerischen) Sprachanschauung im Wesentlichen von der Tradition des siebzehnten Jahrhunderts, vor allem der Grammaire de Port- 1 Foucault 1966, S. 80 76 Royal, geprägt ist. 2 Das ist insofern zunächst erstaunlich, als damit eines der wichtigsten Gebiete der Theoriebildung eines Jahrhunderts, das seine Positionen bekanntlich wesentlich in Absetzung von Descartes formulierte, 3 immer noch in einem cartesianischen Horizont verbleibt. Wie aber sieht nun die Definition des Zeichens in der Tradition von Port-Royal aus? In der Logique de Port-Royal lesen wir: Quand on considere un objet en lui-même & dans son propre être, sans porter la vue de l’esprit à ce qu’il peut représenter, l’idée qu’on en a est une idée de chose, comme l’idée de la terre, du soleil. Mais quand on ne regarde un certain objet que comme en représentant un autre, l’idée qu’on en a est une idée de signe, & ce premier objet s’appelle signe. 4 Es gibt also zwei Arten von Ideen: Ideen von Dingen - Konzepte - und Zeichenideen, die hier als Verweisideen verstanden sind. Am Ende des von uns betrachteten Zeitabschnitts definiert Gérando das Zeichen als eine sensation, also eine Empfindung, die über eine bloße Relation eine andere, abwesende und insofern transformierte Empfindung, die er idée nennt, aufruft: [signe: ] Je donnerai ce nom à toute sensation qui excite en nous une idée, en vertu de la liaison qui règne entre elles. 5 Das Zeichenhafte ist demnach etwas, was sich nicht auf der Ebene eines äußeren Gegenstandes („objet“) situieren lässt, sondern auf derjenigen der „idée“, die sich der Betrachter von diesem Gegenstand bildet. Betrachte ich einen Gegenstand nur (in den zitierten Worten der Logique: „on ne regarde […] que […] “) unter dem Aspekt seines Einstehens für einen anderen, dann ist meine Idee von ihm eine Idee von einem Zeichen. Erst in meiner geistigen Perspektivierung wird etwas zum Zeichen; Zeichen sind mithin ‘Ideen.’ Das Zeichen ist demnach allgemein eine Idee oder Vorstellung, deren wesentlicher Inhalt eine Relation und eine damit verbundene Funktion ist, und zwar die Aktualisierung dieser Relation: Sie macht eine andere Idee, die dem Geist augenblicklich nicht gegenwärtig ist, wieder präsent. Dieser Bezug wird als Re-Präsentation bezeichnet. Dabei ist zu beachten: Es handelt sich um zwei Ideen, und diese sind zwei. Festhaltenswert ist also, dass diese Repräsentation sich zwischen zwei ‘Ideen’ abspielt. Gerade darin, dass streng genommen nicht die choses den mots zugeordnet werden, sondern die Ideen von den Sachen den zeichenhaften Ideen, zeigt sich das cartesianische Erbe. 2 Vgl. Friedrich 1935, S. 160. 3 Kondylis meint sogar, dass „die Aufklärung als Ganzes im Zeichen der Ablehnung cartesianischer Grundpositionen steht“ (Kondylis 1981, S. 172). 4 Arnauld/ Nicole 1662, S. 80 5 Gérando 1800, I, S. 63 77 Richard Rorty 6 hat im Anschluss an eine Reihe von amerikanischen Forschungen dargelegt, dass der Begriff der Idee bei Descartes eine Bedeutung erhält, die er in der Antike niemals hatte. 7 Die Ideen sind nun nicht mehr nur die der Welt vorausliegenden Gestalten oder Allgemeinbegriffe, deren sich die Seele (etwa bei Platon) anlässlich der Erfahrung ihrer Nachbildungen in der Welt erinnerte; dabei war ja die Wahrnehmung als solche ein letztlich körperlicher Vorgang geblieben, der selbst Teil der Welt des unsteten Werdens und der Ungewissheit war. Nur die aus ihrem Anlass vorgenommene Schau der ewigen Urbilder (oder bei Aristoteles: die Verbindung mit den Allgemeinbegriffen) war auf der Seite des Geistigen angesiedelt. Descartes verlegt die Trennungslinie zwischen Geist und Körper von der Grenze zwischen einem Körperlich-Psychischen und einem Allgemein-Geistigen auf eine neue Grenze, die nun das Ausgedehnte und mechanisch Erklärbare vom Unausgedehnten scheidet. Damit sind Wahrnehmungen, Gedanken und Zweifel in dem gleichen inneren Raum angesiedelt wie etwa Schmerzen oder Gefühle und können nun - ganz im Gegensatz zur überkommenen Bedeutung dieses Terminus - alle als Ideen bezeichnet werden. Ideen sind nun alle Empfindungen und Inhalte der Seele beziehungsweise des Bewusstseins. So kann die Encyclopédie sie mit jeder Art von Perzeption gleichsetzen und definieren als: […] le sentiment qu’a l’ame de l’état où elle se trouve. 8 Rorty zeigt, dass diese einander nun gleichgesetzten Elemente als quasi substanzhafte unausgedehnte ‘Objekte’ begriffen werden, 9 denen eines gemein ist oder sein soll: die Unbezweifelbarkeit. Analog zu der Tatsache, dass mein Gefühl von Schmerz unbezweifelbar ist, soll nun gelten, dass auch die Tatsache, dass ich Gedanken habe, und deren Inhalt unzweifelhaft erkennbar seien. Damit ist für Descartes bewiesen, dass nichts dem Geist so unmittelbar präsent ist wie sein Denken, und dass folglich die Welt von der Ratio aus zu erschließen sei. Wie aber kommt so etwas wie ein Irrtum zustande? Bei den meisten antiken Denkern und vor allem bei Platon ist ja der Irrtum etwas, das durch die Unstetigkeit der Welt des Werdens entsteht. Wir können uns bezüglich der Ideen irren, wenn wir zu sehr auf die Phänomene, die ja nur deren 6 Rorty 1979, S. 38ff; er schließt auf S. 46ff namentlich an Matson 1966, Bennett 1971 und Kenny 1967 an. 7 Auch die Eidola des Demokrit sind zwar Bildchen, aber keine Darstellungen: Sie sind eigentlich Abdrücke, quasi mechanische Effekte der Wirklichkeit. Hier bietet sich allerdings, wie wir sehen werden, ein Ansatz für die Ideen-Theorie der Sensualisten und Ideologen. 8 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 8, S. 489 9 - wenn er auch einräumt, dass Yolton 1975 anhand eines einzelnen Beispiels aus Descartes (III. Meditation) zeigen kann, dass daneben auch so etwas wie eine „„act“ theory of ideas“ bestand; Rorty 1979, S. 49, n. 78 unvollkommene Abbilder sind, blicken. Von der wechselhaften und trügerischen Körperwelt gibt es demnach keine Wissenschaft. 10 Nun ist aber, wie namentlich Panajotis Kondylis 11 dargelegt hat, gerade die Annahme, man könne von der physischen Welt eine exakte, sogar mathematisierbare Kenntnis haben, eine fundierende, wenn auch selbst nicht rational begründbare, Entscheidung, von der die Rationalität der Aufklärung normativ geprägt ist. Der Irrtum darf nun also nicht mehr in einer unsteten Welt angelegt sein. Wenn er aber andererseits auch nicht in der Erfahrung der eigenen Gedanken und Wahrnehmungen stattfindet, so muss die Problematik der Erkenntnis im Verhältnis zwischen den Bewusstseinsinhalten und der ausgedehnten Welt liegen. Die Wahrnehmungsideen, die ja nicht einfach körperliche Effekte, sondern dinghaft gedachte Bewusstseinsinhalte sind, können den äußeren Gegenständen unangemessen sein. So entsteht die Vorstellung, Erkenntnis sei so etwas wie eine angemessene Darstellung, idealiter ein ‘Spiegel der Natur’ in den (oft - aber nicht immer - als ‘Bildchen’ beschriebenen) Ideen. Die Vorstellung von der Erkenntnis als Darstellung oder Spiegelung bringt zwei Probleme mit sich, die beide mit dem Adressaten der Darstellung zu tun haben. Man kann sie in Anlehnung an Rorty als das Problem der geschachtelten Spiegelung (wenn im Geist ein Spiegel die Natur abbildet, wer schaut dann in diesen Spiegel, bzw.: ist im Geist des Beschauers wieder ein solcher Spiegel anzunehmen usf.? ) und des Gottesstandpunktes beschreiben (von welchem Standpunkt aus kann ich Spiegelbild und Wirklichkeit vergleichen? - dazu unten). Diese Ideen, in denen sich die Welt spiegelt, stehen aber zugleich zwischen dem Subjekt und dem erkannten Objekt, 12 welches nun, wie Rorty im Anschluss an Locke formuliert, 13 nur noch durch einen ‘Schleier von Ideen’ sichtbar ist. Die Ideen können nun Bildideen oder abstrakte Ideen sein. Bildideen liegen auf der Ebene der Imagination; sie können, je nach Theorie, unter Umständen auch ohne Sprache auftreten; Abstrakta werden hingegen im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr an die Sprache gebunden. Wir lesen etwa im Artikel I DEE der Encyclopédie: La perception d’un objet à l’occasion de l’impression qu’il a fait sur nos organes, se nomme sensation. Celle d’un objet absent qui se représente sous une image corporelle, porte le nom d’imagination. Et la perception d’une chose qui ne tombe pas sous les sens, ou même d’un objet sensible, quand on ne se le représente pas sous une image corporelle, s'appelle idée intellectuelle. 14 Je nachdem, ob nun die Imagination den Normalfall der Ideen vorgibt oder nicht, ist die Vorstellung von den Ideen mehr oder weniger stark einer 10 Vgl. Windelband 1892, S. 99ff. 11 Kondylis 1986, S. 80ff. 12 So noch Gérando 1800, II, S. 8. 13 Rorty 1979, S. 71: „‘veil of ideas’”. 14 Encyclopédie 1750-1781, Bd. 8, S. 489 79 Bildvorstellung analog und damit von hier her schon eine Theorie der (bildlichen) Darstellung. Freilich darf man diese Bildchenvorstellung nicht durchweg ansetzen. Einige der idéologues setzen sich etwa scharf von ihr ab. Die Hintergrundmetaphorik der Erkenntnis als Darstellung wird gleichwohl kaum je ganz überwunden. Diese Ideen der Dinge werden nun also mit den Zeichen, die selbst als Ideen gedacht sind, verbunden. Die Zeichenideen können wiederum eigentlich Sachideen sein (etwa bei Symbolen) oder aber Lautvorstellungen (bei Wörtern). Die Grenzen der Zeichentheorie etwa in der Logique de Port- Royal sind äußerst weit, so dass auch das, was wir heute vielleicht als Indiz für eine mögliche Kausalbeziehung bezeichnen würden, unter sie fällt. 15 Zweitens ist nun zu beachten, dass diese beiden in Relation gesetzten Terme nicht eigentlich zusammen ein größeres Ganzes bilden (wie beim Saussureschen Zeichen), sondern getrennt voneinander gedacht werden. Zwar verbindet für die Logique de Port-Royal 16 das Zeichen wie bei Saussure die Idee des zeichenhaft einstehenden Objekts und die des bezeichneten. Aber beide werden gleichwohl in den meisten Aussagen über das Zeichen so behandelt, als existierten sie unabhängig voneinander; sie sind nicht zwei Seiten einer Medaille, sondern zwei Termini einer Relation. Die Zeichenverwendung ist immer Aktualisierung dieser Relation zwischen getrennten Entitäten - die Ideen sind selbst also nicht sprachlich. Diese Ambivalenz bietet offensichtlich Ansatzpunkte für eine Veränderung auf eine Vorstellung der Sprachlichkeit von Konzepten hin, die wir dann bei den späten idéologues beinahe vollzogen finden. Dennoch ist die Trennung der beiden in Rede stehenden ‘Ideen’ ein wesentliches Merkmal der Zeichentheorie auch noch des achtzehnten Jahrhunderts. Gerade die Vorstellung, Ideen könnten unabhängig von Wörtern existieren, ist nicht nur platonisches, sondern auch cartesianisches Traditionsgut, das von den Sensualisten zunächst übernommen und radikal umgestaltet wurde, um dann nach und nach (aber selbst bei den idéologues nicht völlig) destruiert zu werden. Wie sieht Foucaults Beschreibung dieses Repräsentationsmodells im Rahmen der von ihm beherrschten Wissensform nun näher aus? 1.1. Das Repräsentationsmodell und das ‘klassische’ Wissen nach Foucault Bekanntlich hat Michel Foucault in Les mots et les choses als Form des Wissens in dem von ihm so genannten âge classique, das wohl etwa vom siècle 15 Vgl. etwa Arnauld/ Nicole 1662, S. 80-81. 16 Vgl. das erst in der Auflage von 1683 eingefügte Kapitel „Des Idées des choses, & des idées des signes“, Arnauld/ Nicole 1662, vor allem S. 80. 80 de Louis XIV aus nach hinten sich in Diskontinuitäten verfransend bis zum Ende der Revolutionszeit (vielleicht einschließlich Directoire und Konsulat) reichen soll, die Ordnung nach Identität und Differenz bezeichnet. Diese Ordnung wird wesentlich durch die Sprache hergestellt, und die Sprache wird als ein Zeichensystem unter mehreren als System der Repräsentation aufgefasst, von den meisten anderen Systemen hauptsächlich dadurch unterschieden, dass sie in einer zeitlichen Sukzession stattfindet; dies wird als einer ihrer wichtigsten Vorzüge empfunden. 1.1.1. Varianten und Konsequenz von Foucaults Repräsentationsbegriff Wie denkt nun Foucault den Begriff der représentation genau? Etwas verwirrend ist nämlich, dass représentation bei Foucault verschiedene Bedeutungen zu haben scheint. Allerdings wird sich zeigen, dass die Unschärfe, die dadurch entsteht, für Foucaults Modell zugleich eine Stärke bedeutet. Représentation bedeutet je nach Kontext manchmal die Relation zwischen Vorstellung und Zeichen im Sinne der zitierten Passage aus der Logique de Port-Royal, manchmal die Beziehung zwischen dem Ding und der Wahrnehmungsidee davon, meistens aber metonymisch jeweils einen Term dieser Relationen, und zwar meist die Idee oder Perzeption. In diesem Fall taucht der Begriff oft in der Mehrzahl auf. Die Gesamtheit der Perzeptionen oder Ideen kann darüber hinaus mit der Einzahl représentation bezeichnet werden, sozusagen als ungegliederte Masse der Eindrücke oder Empfindungen. Schließlich steht diese Einzahl auch für die Relation zwischen mots und choses insgesamt, also nicht nur für die je einzelne Repräsentationsbeziehung, sondern für den Rahmen, in dem sie sich alle situieren. Entwickelt sind alle diese Spielarten des Repräsentationsbegriffs aus demjenigen, der in Anlehnung an Port-Royal die Zeichenbeziehung beschreibt. Damit ist ‘Repräsentation’ so allgemein gefasst, dass die Bedeutung einer ‘Vorstellung’ oder ‘Darstellung’ im Sinne der Bildchen-Theorie von den Ideen nur ein besonderer Fall innerhalb dieses Rahmens ist und sich demnach, wie wir sehen werden, auch die Kritik an der Bildchen- Konzeption in Foucaults Modell noch unterbringen lässt. Besonders konturiert wird Foucaults Entwurf durch eine unterscheidende historische Situierung. Er entfaltet ihn nämlich kontrastiv zu einem Modell, das er für die ‘Renaissance’ aufgestellt hat (die für ihn das dem ‘klassischen’ direkt vorausgehende Zeitalter ist). Mag dieses auch umstritten sein, 17 so kann es uns doch eine für uns interessante Folie abgeben. Die Bestandteile der Welt werden nach Foucault im ‘klassischen’ Zeitalter nicht mehr wie zuvor, in der Renaissance, aufgrund von Ähnlichkeiten interpretierend aufeinander bezogen, wobei die Zeichenbeziehung nur ein 17 Vgl. die kritische Stellungnahme von Otto 1992. 81 besonderer Fall der Ähnlichkeitsbeziehung war. Ähnlichkeit war nach dieser Darstellung noch im sechzehnten Jahrhundert die Erkenntnisform der Welt, und die Sprache war Bestandteil dieser Welt aus potentiellen Zeichen. Die Auffindung der schlummernden Ähnlichkeit in den Wörtern und Dingen erweckte diese zu einer ihnen immer schon latent eingeschriebenen Zeichenhaftigkeit. Beim Übergang von dieser Epoche zum ‘klassischen’ Zeitalter wird nun ein dreigliedriges Zeichensystem durch ein zweigliedriges ersetzt. 18 Wo vorher das Zeichen mit seinem Gegenstand über ein Tertium, nämlich die Ähnlichkeit, vermittelt wurde, bleiben nun nur die bezeichnende und die bezeichnete Idee ohne Zwischenglied, denn die Ähnlichkeit wird an den Rand des Wissens und aus der Sprache hinaus gedrängt. Damit aber eine Idee für eine andere einstehen kann, muss es möglich sein, wie die Logique de Port-Royal formuliert, sie statt als bloße „idée de chose“ als „idée de signe“ zu betrachten. 19 Die Tatsache der Repräsentation muss der Zeichenidee irgendwie eingeschrieben sein, und zwar nicht als drittes Element, das zwischen den beiden stünde, sondern als Modifikation der bezeichnenden Idee. Foucault bezeichnet dies als „La représentation redoublée“: A partir de l’âge classique, le signe c’est la représentativité de la représentation en tant qu’elle est représentable. 20 Die dem repräsentierenden Zeichen eingeschriebene Verweishaftigkeit führt dazu, dass das Zeichen sein eigenes Zeichen-Sein mit bedeutet. Dies ist die erste Bedeutung des Begriffs der „représentation redoublée“; wir werden gleich noch eine zweite kennenlernen. Es ist nun diese bloße Repräsentation, die die Transparenz der Zeichen ermöglicht. Dabei handelt es sich ja um eine Zuordnung von Vorstellungen zu Zeichenideen, von geistigen Wesenheiten zu anderen Wesenheiten, deren Sein in dieser Zuordnung aufgeht, die ihr also nichts hinzufügen (transparent sind). Und dies heißt, wie oben schon aufgezeigt: Es geht um eine Zuordnung von Getrenntem. Das ist nicht selbstverständlich und bleibt leider auch bei Foucault ambivalent. 21 18 Foucault 1966, S. 78 19 Arnauld/ Nicole 1662, S. 80 - wiederum in dem erst in der Ausgabe von 1683 eingefügten Kapitel „Des Idées des choses, & des idées des signes“. 20 Foucault 1966, respektive Kapitelüberschrift S. 77 und Text S. 79. 21 Die Logik von Port-Royal spricht teils in Fortführung der Sprache der Grammaire de Port-Royal von zwei Ideen, die einander zugeordnet werden, so dass die eine Zeichen der anderen ist und diese wieder hervorruft - das bedeutet, man hat eine anwesende und eine zunächst abwesende Idee, die durch die anwesende wieder präsent gemacht wird, also in jedem Falle zwei Ideen. Danach wäre das Modell des Zeichenbezugs insgesamt zweigliedrig, aus zwei Ideen bestehend, deren eine das Zeichen der anderen ist - so wie es oben im Text dargelegt wird. Teils aber, und vor allem in dem 1683 hinzugefügten Kapitel, wird das Zeichen selbst im Sinne Saussures als zweigliedriges dargestellt: „Ainsi le signe enferme deux idées...“ (S. 80). Der Unterschied 82 Die entscheidende Voraussetzung für diese Art der Zuordnung ist aus späterer Sicht die Trennung von signifiant und signifié. Die völlige Transparenz des Zeichens ist nur denkbar, wenn es keine Semantik gibt, wenn es mit anderen Worten nicht schon auf der Ebene der Sprache um Konzeptuelles, um Nuancen der Bedeutung, also um Faktoren der Unbestimmtheit oder der Überbestimmtheit geht. In der Tat ist genau diese (aus heutiger Sicht: ) Illusion generell im Rahmen des Repräsentationsmodells anzutreffen, nicht nur am Anfang von Foucaults ‘klassischem Zeitalter’, sondern auch ganz am Ende der Epoche, bei den idéologues: Deren Tätigkeit, die aus heutiger Sicht über weite Strecken wie eine philosophische Semantik erscheint, wurde von ihnen selbst noch als Analyse der Ideen betrachtet. Zwar war einer der zentralen Punkte dieser Analyse die Verflechtung der Ideen mit den Zeichen, aber die Ideen wurden auch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur selten als Bestandteile der Zeichen verstanden. Eine mögliche Intransparenz des sprachlichen Weltumgangs ist damit natürlich nur um eine Stelle verschoben, nämlich in den Bereich der sprachunabhängigen Ideen. Wir werden noch sehen, wie dann die sensualistische Beschreibung dessen, was Ideen sein sollen, versucht, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Zunächst aber gilt: Möglichst klare und deutliche Ideen, die als für sich existierend genommen werden, werden durch einen durchsichtigen Bezug einander zugeordnet, so dass eine davon die andere wieder hervorruft. Der Zeichenbezug ist auf der einfachsten Ebene ein mnemotechnisches Instrument, das durch eine bloße Relation funktioniert. Seine Durchsichtigkeit ist dadurch garantiert, dass die Zeichenidee selbst möglichst wenig Inhalt hat 22 außer demjenigen, auf eine andere Idee ist nicht groß, denn auch hier werden zwei Ideen gekoppelt, nur ist die wieder vergegenwärtigte mit der wieder vergegenwärtigenden in einer höheren Einheit aufgehoben, die insgesamt das Zeichen ausmacht. (Die Encyclopédie 1751-1780 übernimmt in Bd. 15, S. 188, diese Formulierung.) Aber hier ist die Sprachunabhängigkeit der Ideen, die eigentlich für Port-Royal unstrittig ist, schon fraglich, denn nun haben beide Ideen ihre Existenz nur mehr im Zeichen. Die Schule Condillacs wird, wie wir sehen werden, diese Ambivalenz weiterentwickeln, ohne jedoch konsequent zu einem in sich zweigliedrigen Zeichen zu gelangen, dessen konzeptuelle Seite sodann die Komplikationen einer Semantik in die Wörter selbst hineinbrächte und damit die Transparenz des Zeichens, die Foucault an der ‘klassischen’ Epoche so sehr rühmt, gefährden würde. Gerade Foucaults enger Anschluss an Port-Royal (von der Logique hatte er kurz zuvor eine Ausgabe besorgt) bewirkt, dass er diese Ambivalenz übernimmt: So spricht er etwa auf S. 78-79 der zitierten Ausgabe von Les mots et les choses deutlich von zwei getrennten Entitäten, die in Bezug zueinander gesetzt werden, auf S. 81 erklärt er Saussures Zeichentheorie als eine Wiederentdeckung der „nature binaire du signe.“ 22 Bei Lautzeichen kann man sagen, dass der Inhalt der Zeichenidee eben nur aus Lauten besteht und daher die Verweisbeziehung kaum befrachtet. Bei zeichenhaften Beziehungen zwischen Dingideen, etwa zwischen einer Hostie und dem Leib Christi, kommen hingegen inhaltliche Elemente der Zeichenidee ins Spiel (man kann sie essen und damit symbolisch die Aufforderung, von Christi Fleisch zu essen, vollzie- 83 zu verweisen. Dieser Verweis ist dem Zeichen eingeschrieben als Verdoppelung der Repräsentation: Die Repräsentation sagt von sich, dass sie eine ist. Diese bloße Relation lässt sich jedoch noch weiter analysieren, und zwar nach den Dimensionen der Zeichenverbindung. In Anlehnung an die Logique de Port-Royal 23 unterscheidet Foucault drei Dimensionen der liaison: Ursprung, Typ und Gewissheit der Verbindung. Bei der origine de la liaison wird natürlicher Ursprung von konventionellem unterschieden. Festhaltenswert ist hier, dass (zumindest in diesem Zusammenhang) beispielsweise ein Spiegelbild als natürliches Zeichen für sein Original empfunden wird, nicht als dessen Verdoppelung oder etwas diesem Ähnliches oder als bloßer Lichteffekt. Der Typ der Verbindung unterscheidet zwischen Zeichen, die zu ihrem Bezeichneten gehören und solchen, die davon getrennt sind. Die Gewissheit der Verbindung situiert sich auf einer Gradationslinie vom Verlässlichen zum bloß Wahrscheinlichen. Auch hier ist es interessant, wie die Logique Dinge als Zeichen interpretiert, die nicht in jeder denkbaren Semiotik solche wären, etwa Indizien für eine Kausalbeziehung (Blässe als wahrscheinliches Zeichen der Schwangerschaft) oder für das, was spätere Zeiten als Funktionszusammenhang betrachten würden (Atmen als Zeichen für das Leben). 24 Es mögen dies Restbestände einer Lesbarkeit der Welt sein, die bis zu einem gewissen Grade noch das Repertoire dessen, was Zeichen genannt werden kann, bestimmen. Diese geraten aber nun in eine neue Zeichenvorstellung hinein, die das Analogische ausgrenzt, welches das Modell, aus dem sie kamen, kennzeichnete. Im Kontext der ‘klassischen’ Zeichentheorie wäre demnach der Zusammenhang zwischen Blässe und Schwangerschaft eine bloße Repräsentationsbeziehung geworden: Es wird nicht mehr nach einem gemeinsamen Element der Ähnlichkeit gesucht, das die beiden verbände (Weiße der Kinder-Windel und Weiße des Gesichts zum Beispiel); es werden auch noch nicht beide auf einen organischen Funktionszusammenhang bezogen. Vielmehr steht eines für das andere aufgrund einer bloßen und insofern durchsichtigen (wenngleich in diesem Falle nicht gewissen) Zuordnung. Eine wichtige Konsequenz der Tatsache, dass das Zeichen mit seinem Bezeichneten nicht mehr durch die Ähnlichkeit vermittelt ist, liegt darin, dass es nun keine schlummernden Zeichen mehr gibt. Zeichen werden durch die Stiftung einer Zuordnung eingesetzt, sie sind nicht immer schon vorhanden, um mit Hilfe der Ähnlichkeit entschlüsselt zu werden oder hen). Bei Indizien auf Kausalbeziehungen oder gar Metaphern wird die Sache noch wesentlich komplizierter. Insofern ist die vollkommene Transparenz von vorn herein eine Utopie, wenn auch eine für ihr Zeitalter charakteristische. 23 Arnauld/ Nicole 1662, S.80-81 24 Foucault 1966, S. 72ff 84 auch nicht. „C’est là que le savoir rompt sa vieille parenté avec la divinatio“ 25 , schreibt Foucault. Wir werden sehen, welche Konsequenzen dies für esoterische Sinnsysteme haben wird, die Traditionsgut aus dem Denken der Ähnlichkeit verpflichteten Epochen mit sich führen. Es ist klar geworden, dass dieses strenge re-présenter zugleich eine schärfere und allgemeinere Fassung des umgangssprachlichen représenter darstellt: Eine Absenz vermittels einer Verweisbeziehung zu beheben, impliziert ja eine Substitution. An die Stelle der abwesenden Idee tritt das diese wieder hervorrufende oder wieder-gebende Zeichen. Insofern ist das Zeichen auch Repräsentant der Idee oder metonymisch: représentation. Das Zeichen repräsentiert die Idee wie der König den Staat, es kann in Vorgängen und Operationen, die dies erfordern, an die Stelle des Repräsentierten treten. Dass das Zeichen die Idee, für die es einsteht, auch darstellt, ist damit nicht unbedingt gesagt, wenn dies auch eine mögliche Füllung dieses Verhältnisses bleibt. Es ist nun charakteristisch für das Zeichenmodell des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, dass auch das Verhältnis zwischen Sache und Idee als Repräsentation in diesem Sinne beschrieben werden kann. Nur eine anwesende Sache kann ja in uns einen aktuellen Sinneseindruck erregen. Wie nun auch immer das Verhältnis zwischen dem physischen Sinneseffekt und der mentalen Empfindung bei den einzelnen Denkern des in Rede stehenden Zeitraums definiert ist (meist ist es okkasionalistisch gedacht), auch die mentale Empfindung als seelisches Pendant zum Sinneseffekt tritt zunächst einmal im Zusammenhang mit der Anwesenheit der Sache auf. In dem Augenblick, in welchem eine Idee (gleichgültig, ob diese wiederum aus der Empfindung gebildet oder von dieser unabhängig angenommen wird) an die Stelle dieser Konstellation tritt, denkt das achtzehnte Jahrhundert an die Möglichkeit, die Abwesenheit der Sache mit ihrer Hilfe zu beheben, wenn auch zur Wieder-Hervorrufung dieser Idee im Allgemeinen wiederum die Zeichen nötig sind. Insofern re-präsentiert die Idee die Sache. 26 Das Verhältnis zwischen Ding und Idee ist demnach als Zeichenverhältnis beschreibbar, und zwar unabhängig davon, ob man die innere Vor- 25 Foucault 1966, S. 73 26 Dies lässt sich im Artikel I DEE der Encyclopédie 1751-1780, Bd. 8, S. 489, leicht sehen: „Nous nous représentons, ou ce qui se passe en nous mêmes, ou ce qui est hors de nous, soit qu’il soit présent ou absent; nous pouvons aussi nous représenter nos perceptions elles-mêmes. La perception d’un objet à l’occasion de l’impression qu’il a fait sur nos organes, se nomme sensation. Celle d’un objet absent qui se représente sous une image corporelle, porte le nom d’imagination. Et la perception d’une chose qui ne tombe pas sous les sens, ou même d’un objet sensible, quand on sel le ne représente pas sous une image corporelle, s'appelle idée intellectuelle.“ Man beachte den Ausdruck à l’occasion, der Empfindung und mechanische impression zugleich trennt und verbindet. 85 stellung, wie Descartes, als Abbildung der Sache auffasst und demnach der Bildchen-Theorie der Ideen anhängt, die im menschlichen Geist einen Mirror of Nature im Sinne Rortys erblickt, oder ob man wie die idéologues jede Ähnlichkeit zwischen der Sache und der Wahrnehmung leugnet 27 (darauf werden wir zurück kommen). Es ist ja nicht die Ähnlichkeit, die im ‘klassischen’ Zeitalter das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem ausmacht, sondern die Relation der Repräsentation. Nicht umsonst ist in der Logique de Port-Royal 28 eines der ersten Beispiele für ein Zeichen eine Landkarte: Die Landkarte wird nicht als Abbildung, sondern als zeichenhafte Re-Präsentation des durch sie bezeichneten Landes vorgeführt. 29 Die Berechtigung von Foucaults weitem Begriffsrahmen lässt sich anhand von zwei weiteren Beispielen bestätigen. Zweifellos gibt es, wie gesagt, die Bildchen-Theorie der Ideen. Ein Beispiel dafür, dass diese sogar umgekehrt auf das Repräsentationsverhältnis zwischen Wörtern und Ideen übertragen werden kann, ist bei Bouhours zu finden: Les pensées […] sont les images des choses, comme les paroles sont les images des pensées […] 30 Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Die Encyclopédie spiegelt die ambivalente diesbezügliche Lage des achtzehnten Jahrhunderts wieder. Einerseits paraphrasiert sie in dem Artikel I DEE 31 die Idee mit dem Repräsentationsbegriff, der weitgehend (im Artikel R EPRESENTATION 32 ) mit image, peinture gleichgesetzt wird; andererseits schließt sie sich im Artikel R EPRE - SENTER 33 der allgemeineren Definition des Repräsentationsbegriffs als Vergegenwärtigung an, für die das Bild nur ein Mittel unter anderen ist („rendre présent par une action, par une image“). Hier sind als Beispiele nicht nur der Spiegel und das Gemälde, sondern auch die Beschreibung, sowie die Repräsentationsfunktion des für Gott einstehenden Königs genannt (dessen Gottebenbildlichkeit nicht über diejenige der anderen Menschen, die Gott nicht in seiner Herrscherfunktion repräsentieren, hinausgehen kann). Im Artikel I DEE wird schließlich die Ähnlichkeit als Begründung des Repräsentationsverhältisses für Idee und Zeichen gleichermaßen zurückgewiesen: 27 Vgl. Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 26. 28 Arnauld/ Nicole 1662, S. 80 29 Ähnlich beschreibt Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 310-11 Pläne und Zeichnungen als sprachähnliche Zeichen; auf S. 316 erkennt er, dass selbst ein Zeichensystem wie die Malerei konventionelle Züge trägt. 30 Bouhours 1687, S. 12 31 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 8, S. 489 32 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 14, S. 146 33 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 14, S. 147 86 Ne nous figurons pas que nos idées soient des images ou des ressemblances parfaites de ce qui les produit; entre la plûpart de nos sensations & leurs causes, il n'y a pas plus de ressemblance, qu’entre ces mêmes idées & leurs noms […] 34 Insofern ist Foucault berechtigt, den strengen Repräsentationsbegriff auch für das Verhältnis zwischen Ding und Idee anzusetzen und die Perzeptionen 35 oder Ideen 36 metonymisch als représentations in jenem strengen Sinn zu bezeichnen, den er durch die Anlehnung an die Repräsentations-- Theorie von Port-Royal vom umgangssprachlichen Sinn von représentation als Vorstellung bereits präzisierend abgehoben hat. So vermeidet er auch, in seine Metasprache den Begriff der Idee, welcher in den beschriebenen Sprachen unterschiedlich gebraucht wird, hineinzunehmen. Insbesondere die etymologisch naheliegende Verkettung des idea-Begriffs mit der ja nur eine Seite der Diskussion ausmachenden Bildchen-Theorie ist damit ausgeschlossen. 37 Foucault setzt also den Begriff der Repräsentation für den der Idee oder der Perzeption ein und erreicht damit eine strenge und zugleich offene Bestimmung des Verhältnisses von Ding und Wahrnehmung: Ob die Wahrnehmung dem Ding ähnlich ist (also eine Bildchen-Idee ist), bleibt so auf der archäologischen Ebene unentschieden; dies kann dann in den je einzelnen Erkenntnistheorien verschieden aufgefüllt werden. Wie schon angedeutet, ist auch das Verhältnis zwischen Indiz und Indiziertem, zwischen erkennbarer Folge und rekonstruierbarer Ursache, vom Zeichenbegriff der ‘klassischen’ épistémè abgedeckt. Die Wahrnehmungen können also auch durchaus nur Effekte der Dinge sein, die diesen selbst nicht ähneln; es bleibt doch dabei, dass zwischen beiden eine Zeichenbeziehung herrscht. Der Preis, den Foucault für diese allgemeine Fassung des Verhältnisses zwischen Ding und Perzeption entrichten muss, ist freilich die Proliferation des Repräsentationsbegriffs, der bei ihm nun die Relation zwischen Ding, Perzeption und Zeichen ebenso bezeichnet wie die Gesamtheit der Perzeptionen, die (wie sich noch zeigen wird) von der Sprache artikuliert wird, und eben auch die Perzeption und das Zeichen selbst. 34 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 8, S. 490 35 Die „impressions“, also unanalysierte Eindrücke, Sinneswahrnehmungen, setzt Foucault gelegentlich mit den „représentations“ gleich: Foucault 1966, S. 110. 36 An einer Stelle (Foucault 1966, S. 96) paraphrasiert Foucault offensichtlich eine Passage aus Hobbes’ Logik, in der es um die Ideen geht, und verwendet in der Position des Ideenbegriffs den der Repräsentationen. Hier ist also représentations mit Ideen gleichzusetzen. Aber zugleich gibt es bei ihm auch die représentation in der Einzahl als Relation oder als Gesamtheit von Repräsentationen oder als umfassendes Geschehen. 37 Hier könnte man einwenden, eine analoge Unschärfe schleiche sich in Foucaults Repräsentationsbegriff ein. In der Tat funktioniert ja auch dieser nur in re-etymologisierender Abgrenzung zu seiner landläufigen Bedeutung als ‘Darstellung.’ Wir wollen hier die Auffassung vertreten, dass Foucaults sich bei seiner Wahl zwischen Idee und Repräsentation für denjenigen von zwei unscharfen Begriffen entschieden hat, der ihm den größeren Nutzen bringt. 87 Da nun in diesem Sinne das Zeichen eine Wiedervergegenwärtigung eines selbst für eine abwesende (weil in jedem Falle außerhalb der res cogitans, wo dies alles stattfindet, anzusetzende) Sache einstehenden mentalen Ereignisses ist, 38 ist es die Repräsentation einer Repräsentation. Daraus folgt die zweite Bedeutung des Ausdrucks „la représentation redoublée“: […] les mots […] sont […] des représentations redoublées, - des représentations dont le rôle est de désigner des représentations, de les analyser, de les composer et de les décomposer pour faire surgir en elles, avec le système de leurs identités et de leurs différences, le principe général d’un ordre. 39 So schafft sich Foucault einen Rahmen, der einerseits spezifisch genug ist, eine Epoche zu beschreiben, andererseits aber allgemein genug, um die Diskussion zwischen der cartesianischen Bildchen-Theorie der Wahrnehmung als Abbildungstreue und der Vorstellung der idéologues, die Sachen seien anzunehmende Ursachen unserer Wahrnehmungen, diesen aber keineswegs ähnlich, gleichermaßen in diesem Modell unterzubringen. Schon hier zeigt sich etwas, auf das Foucault nicht müde wird hinzuweisen: Auch einander diametral entgegengesetzte Ansichten spielen ihren Antagonismus in einer Formation aus, die ihn allererst ermöglicht und gewissermaßen den Ort der Diskussion bereitstellt. Sein Interesse gilt diesem Ort. Das Unsere soll jedoch auch und gerade den Einzelpositionen, ja den einzelnen Texten gelten, wenn auch das, was sie ermöglicht, gleichermaßen im Blickfeld bleiben soll. Die Repräsentationen als mentale Substitute der Sinneseffekte gibt es, wie schon angedeutet, bei Foucault auch im Singular, und zwar immer dann, wenn die Sprache als Analyseinstrument Thema ist. Der ungeordne- 38 Eine Schwierigkeit ergibt sich aus dem in diesem Modell auftretenden Konflikt zwischen Zwei- und Dreigliedrigkeit. Foucault spricht ja bei der Zeichenbeziehung dauernd von einer Zweigliedrigkeit, aber die Gleichsetzung von Idee und représentation impliziert ja, dass diese die Repräsentation von etwas sein muss, das als Drittes in das Modell eingehen müsste, gleichgültig, ob es (je nach Ausrichtung der jeweils untersuchten Erkenntnistheorie) im Grunde das Ding an sich oder nur ein von der postulierten Anwesenheit desselben ausgelöster Wahrnehmungseffekt ist - oder gar (bei Berkeley) eine von Gott ohne Rekurs auf ‘real’ existierende äußere Gegenstände in uns ausgelöste Perzeption. Die dritte Stelle des Modells ist jedoch in der hier dargelegten Auffassung von den Ideen als Repräsentationen implizit. Für das Zeichenverhältnis spielt sie eine untergeordnete Rolle: Hier geht es nämlich hauptsächlich um das Verhältnis der ersten ‘Repräsentationen’ zu den Ordnungen auf der Seite der Zeichen. Nur hier ist nämlich eine ordnende Tätigkeit wirklich verfolgbar, weil sprachlich dokumentiert - eine Ordnung innerhalb des bloßen Schauens etwa ist schwer feststellbar, wenn auch, wie wir sehen werden, die Sensualisten so etwas versuchten. So lenkt Foucault zu Recht sein Augenmerk auf das Verhältnis zwischen den ersten ‘Repräsentationen’ und deren Zeichen. Die „reprsésentation redoublée“ ist für ihn nicht dreigliedrig, sondern zweigleidrig, weil das Repräsentierte in sich noch eine Repräsentation und mithin die dritte Stelle aufbewahrt. 39 Foucault 1966, S. 233 88 ten Masse der Sinneswahrnehmungen entspricht zunächst ein ungegliederter Block von représentation. Die Gesamtheit der ersten ‘Repräsentationen’ wird durch die sie repräsentierenden Zeichen artikuliert, die „mots découpent la représentation“. 40 Die „analyse des représentations“ 41 geschieht durch die Sprache. Darüber hinaus heißt auch das Gesamtmodell dieser Verhältnisse, Operationen und Positionen représentation, etwa in der Kapitelüberschrift „Les limites de la représentation.“ 42 Hier ist nicht mehr nur die je einzelne Zuordnung der Elemente ‘Repräsentation’, sondern auch und vor allem die Zuordnung der Gesamtheit der in den Blick genommenen choses zu einer Ordnung der mots. Auf der Ebene der letzteren bildet das taxonomische Denken die erwähnten Strukturen des Wissens, die nun als ganze wiederum eine dadurch angestrebte Ordnung der Ideen (der Repräsentationen der Außenwelt) realisieren. Die Ordnung der Begriffe ist jedoch keine bloße Wiedervergegenwärtigung einer in der stummen Wahrnehmung der choses bereits erfahrenen Ordnung, denn sonst fügte die ganze sprachliche Klassifikationstätigkeit der Erkenntnis nichts hinzu. Ein in sich nicht strukturiert erfahrbarer ‘Haufen’ von Wahrnehmungsbrocken wird vielmehr bei dieser Tätigkeit mit sprachlichen Etiketten 43 versehen und nach den so angebrachten Aufschriften (die analog zu Nummern aufzufassen sind) in eine Reihe gebracht. Inwiefern kann man nun dies als représentation bezeichnen? Die Repräsentation der ersten Repräsentationen der Dinge in einer Anordnung der Wörter kann nur in zwei möglichen Fällen sinnvoll so genannt werden: Entweder, wenn sie eine angenommene Ordnung der Welt, die allem Erkennen vorausgeht und die in der bloßen Anschauung nicht erfahrbar ist, durch die begriffliche Bearbeitung wieder einholt, das heißt, platonische Ideen, die die Gestalt der Welt begründen, aus deren Betrachtung mit Hilfe der Begriffe (eventuell mit göttlicher Hilfe) wieder zutage fördert. Oder aber der Begriff konkretisiert sich in Richtung auf ‘Darstellung’ im Sinne der Bildchen-Theorie von den Ideen, die immerhin für einige der im Repräsentationsmodell behandelten Schriftsteller gilt. Diese Interpretation wird nicht zuletzt dadurch bei Foucaults Lesern aktualisiert, dass an den Anfang von Les mots et les choses bekanntlich eine Beschreibung von Velázquez’ Las meniñas („Les suivantes“) gestellt ist, die in suggestiver Weise das Konzept der Repräsentation in einem Kontext bildnerischer Darstellung erkundet. Dann wäre die Anordnung der Brocken eine strukturierte Dar- 40 Foucault 1966, S. 172 41 Foucault 1966, S. 232 42 Foucault 1966, S. 229 43 Vgl. die Definition des Zeichens als „étiquette de l’idée“ bei Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 353. 89 stellung des vorgefundenen Haufens. In einer ‘schwachen’ Lesart des Darstellungsbegriffs würde sie diesen handhabbar machen, aber nicht eine in ihm schon vorhandene Ordnung wieder vorstellen. ‘Repräsentativ’ wäre diese Darstellung in dem Maße, in welchem sie jedem Element ohne Auslassungen einen Platz in einer Reihe ohne Lücken zuwiese. Diese ‘Repräsentativität’ und eventuell der Erfolg der Handhabbarkeit wären die Kriterien der Richtigkeit einer solchen Darstellung. Ihre Voraussetzung ist jedoch, wie Foucault bemerkt, 44 die Annahme einer Kontinuität der Natur (wie sie als Weiterentwicklung aristotelischer Vorgaben in die Naturgeschichte gelangt ist 45 ): Nur dann können alle Positionen einer lückenlosen Reihe gefüllt werden, wenn es auch für jede Position einen Kandidaten gibt, und eine Reihe der Differenzen in je genau einer Hinsicht impliziert eine kontinuierlich ausdifferenzierte Welt. Wir werden in Kapitel III diesen Gedanken (unter Anleitung von Lovejoy 46 ) als das Prinzip der Fülle näher kennenlernen. Kondylis 47 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Annahme einer strukturierten Natur eine selbst nicht rational begründbare Wahl darstellt, die der gesamten aufklärerischen Bemühung um Wissenschaftlichkeit vorausliegt und diese fundiert. Die „disposition fondamentale du savoir qui ordonne la connaissance des êtres à la possibilité de les représenter dans un système de noms“ 48 ist demnach für das hier untersuchte Zeitalter nicht einfach eine willkürliche, rein instrumentelle Katalogisierung. Die Bemühung, alle Elemente in ihrerseits lückenlosen Systemen unterzubringen, setzt eine (Schöpfungs-) Ordnung voraus, die diese Möglichkeit vorgibt. Insofern geraten wir auch hier in die Nähe religiöser oder platonisierender Auffassungen, wenn auch vielleicht nicht in der Spezifik wie bei der Spielart, die die unabhängige Existenz den Kosmos begründender Gestalt-Ideen annimmt. In einer ‘starken’ Lesart des Darstellungsbegriffs ergäbe sich eine solche Nähe zu traditioneller Metaphysik ohnehin, denn hier träte die der Vorstellung eines Bildnisses inhärente Überprüfbarkeit der Abbildungstreue hinzu, wie sie auch der von Rorty untersuchten Metapher vom ‘Spiegel der Natur’ innewohnt. Die Treue der Wiedergabe oder des Reflexes wäre nur von einem außerhalb der Repräsentationsbeziehung stehenden dritten Betrachter zu beurteilen. Insofern impliziert die Metaphorisierung der Erkenntnis als getreue Darstellung immer zumindest die Möglichkeit eines Gottesstandpunkts. 44 „En revanche, pour que la taxinomie soit possible, il faut que la nature soit réellement continue“, Foucault 1966, S. 173. 45 Vgl. etwa Lovejoy 1936, S. 74. Diese Einschätzung der Natur hat die Aufklärung auch mit der von ihr ansonsten so verachteten Scholastik gemein. Vgl. Daudin 1926, S. 91- 93 und Lovejoy 1936, S. 80-81. 46 Vgl. Lovejoy 1936, passim. 47 Kondylis 1986, S. 80ff. 48 Foucault 1966, S. 170 90 Diese verschiedenen logischen Möglichkeiten zeigen, wie das Spiel der Meinungen (von denen wir einige noch kennen lernen werden) am Repräsentationsmodell aufgehängt werden kann, aber auch, in welchen (recht weiten) Grenzen es gespielt wird. Erst in dem Moment, in welchem der Anspruch aufgegeben würde, alle Elemente müssten in lückenlosen Reihen repräsentiert werden können, fiele das Modell und mit ihm die fundierende Annahme einer Strukturiertheit der Natur: Das Repräsentationsmodell, so wie es Foucault aus einer Fülle von Texten herausgeschält hat, ist ein ‘kosmisches’ Modell, und als solches trägt es ein spekulatives Erbe aus der Tradition der ‘Kette der Wesenheiten’ mit sich, die wir in Kapitel III näher kennenlernen werden. Es dürfte klar geworden sein, dass die scheinbare Unschärfe des Repräsentationsbegriffs zugleich die Markierung der Homogenität von Foucaults Gebäude ist, denn seine changierenden Werte entsprechen im Grunde nur den verschiedenen Funktionen, die eine recht streng gefasste Konzeption in einem Gebäude erfüllt, welches insgesamt zu Recht den Namen seines konstitutiven Bauelements trägt. Die strenge Beschreibung der Repräsentation als einer bloßen Relation zwischen einem Anwesenden und einem durch diese Relation substituierten Abwesenden gilt durchgängig auf dem ganzen Bogen vom Ding an sich über die Perzeptionen und Ideen bis zu den Zeichen und ebenso für das daraus erbaute Ganze. 1.1.2. Die Ordnungswissenschaft und die Marginalisierung der Ähnlichkeit Die bis hierhin dargelegten Implikate des Repräsentationsmodells betreffen keineswegs nur die Ebene der ersten Sinneseindrücke und der einfachen Begriffe. Die Etikettierung von Ideen erlaubt ja nicht nur deren Anordnung in horizontalen Serien, sondern gerade auch in Hierarchien verschieden komplexer Begriffe. Wir werden also nun kurz die Anordnung der Ideen nach Identität und Differenz sowohl nebenals auch übereinander, wie sie im Sinne des taxonomischen Modells gedacht wurde, betrachten. Alle Elemente des Wissens werden, wie Foucault hauptsächlich an Descartes’ Regulae zeigt, im ‘klassischen’ Zeitalter in Serien geordnet: Jedes Element derselben unterscheidet sich von seinen Nachbarelementen auf der Kette genau in einer Hinsicht. Die Reihen, die durch diese Vergleichsoperation etabliert werden, konstituieren eine Ordnung im Sinne einer taxinomia 49 nach kleinstmöglichen Differenzen, in der es keine Lücken geben soll. 50 Die einzelnen Elemente können dabei je nach der Hinsichtnahme, unter der sie klassifiziert werden, in verschiedenen Ketten auftauchen. Entscheidend ist jeweils die vorgenommene Analyse, die die Totalität des- 49 Foucault 1966, S, 72 und passim 50 Foucault 1966, S. 67 91 sen, was gewusst werden kann, in verschiedene Reihen zu ordnen vermag. „En ce sens l’analyse va prendre très vite valeur de méthode universelle“ 51 , wie Foucault bemerkt. Da aber natürlich nicht die Dinge selbst, sondern die Ideen oder Vorstellungen von ihnen in diese Ordnung gebracht werden müssen, und da Ideen ohne Zeichen, wie wir noch sehen werden, flüchtig und schwer zu handhaben sind, muss das System der Zeichen diese ordnende Tätigkeit ermöglichen: Die Sprache muss ein Instrument der Analyse werden. Das Denken der Ähnlichkeit, das nach Foucaults Darstellung noch konstitutiv für die épistémè der vorausgehenden Epoche gewesen war, wird in diese Vergleichsoperation nach Identität und Differenz gebannt, denn das, was der Intuition als Ähnlichkeit erscheint, wird in einem Spiel exakt bestimmter Identitäten und Differenzen rationalisiert. Gleichgültig, ob man die Analyse Foucaults für die Renaissance übernehmen möchte oder nicht, als Beschreibung einer Grenze macht sie sein Modell des ‘klassischen’ Denkens noch plastischer: Die Ähnlichkeit legt demnach nun nicht mehr wie in der Renaissance (oder einem fiktiven möglichen Gegenbild der ‘Klassik') die verborgene Sinnordnung der Welt bloß, sondern sie ist lediglich Vorform oder abgedrängtes Anderes jener Begriffsarithmetik, die die Elemente der Welt in die Systeme des klassifizierenden Denkens ordnen möchte. Die Ähnlichkeit hört auch auf, Sprache und Welt in ein gemeinsames analogisches System zu bringen: Die Worte sind nicht mehr Bestandteile einer zeichenhaften Welt, in der alles - und so auch die Sprache - aufgrund von Ähnlichkeiten auf einander hinweist. Texte etwa von Autoritäten sind nicht gleichberechtigte Zeichen einer Welt aus Zeichen, aus denen man genauso wie aus den Dingen selbst die verborgenen Ähnlichkeiten und mithin Bedeutungen eines Weltbuches zu lesen vermöchte. Vielmehr wird die Sprache nunmehr von der Welt getrennt und ihr gegenübergestellt, allerdings mit dem Zwischenglied der Ideen oder Perzeptionen: Dès lors, le texte cesse de faire partie des signes et des formes de la vérité; le langage n’est plus une des figures du monde, ni la signature imposée aux choses depuis le fond du temps. La vérité trouve sa manifestation et son signe dans la perception évidente et distincte. Il appartient aux mots de la traduire s’ils le peuvent; ils n’ont plus droit à en être la marque. Le langage se retire du milieu des êtres pour entrer dans son âge de transparence et de neutralité. 52 Dies bedeutet auch, wie aus dem Zitat ersichtlich und oben schon angedeutet, eine Veränderung des Wahrheitsbegriffs. Wahrheit liegt, wie Foucault hier im Anschluss an Descartes formuliert, in der Klarheit und Deutlichkeit der Perzeptionen, die wie alle mentalen Phänomene als Ideen in einem einheitlichen (unausgedehnten) inneren Raum gedacht werden. Bei Des- 51 Foucault 1966, S. 71 52 Foucault 1966, S. 70 92 cartes zumindest ist Wahrheit nun eine Abbildungstreue zwischen Welt und innerem Bild von ihr, sie ist nicht etwas, das aus der Welt ebenso wie aus den in ihr vorkommenden Sprach- und sonstigen Zeichen zeichenhaft zu uns spräche. Die Welt ist nicht mehr unmittelbare Offenbarung, sondern sie ist selbst ein (für die Erlangung von Gewissheit, wie gesagt, genügend strukturierter) Erkenntnisgegenstand, aus dessen Erfassung (bei manchen Denkern) gegebenenfalls auch höhere Wahrheiten geschlossen werden können. Die Verlässlichkeit dieser Erkenntnis wird eben nun oft als Übereinstimmung zwischen einem inneren Bild und einer äußeren Gegebenheit aufgefasst, mit all den Komplikationen dieser Rahmenvorstellung eines Mirror of Nature, die Rorty dargelegt hat. 53 Die Ideen, die inneren Bildchen der Welt, auch die gegebenfalls (je nach den sich innerhalb dieses Modells situierenden Denksystemen) unabhängig von der Wahrnehmung existierenden Ideen (etwa angeborene) sind für sich bestehende geistige Wesenheiten, die durch die Zeichen, welche selbst als Ideen (etwa Lautideen) gedacht werden, lediglich etikettiert werden sollen. Die Bedingung dafür ist, dass die Sprache transparent und neutral ist, also den Blick auf diese Gedanken freigibt und ihnen nichts beimischt; sie hat somit kein Eigengewicht, die Worte können nicht selbst schon Marken der Wahrheit sein. Damit meint Foucault unter anderem, dass im Sinne des ‘klassischen’ Zeitalters nicht etwa aus einer Ähnlichkeit auf der Ebene der Sprache etwas über die Welt geschlossen werden kann 54 , sondern nur durch Wahrnehmung und Reflexion (gleichgültig, ob das Zweite wie bei Condillac aus dem Ersten abgeleitet oder wie noch bei Locke unabhängig von diesem angenommen wird), das dann durch die Sprache im weitesten Sinne handhabbar gemacht wird (je nach Ansatz lediglich nach außen übersetzt oder überhaupt durch dieses Instrument erst manövrierbar), also repräsentiert wird. Foucault verdeutlicht die ‘klassische’ Form des Wissens in einem zweiteiligen Diagramm, das die Parallelität von mathesis und taxinomia zeigen soll. 55 53 Wir werden diesen Aspekt unter der Rubrik der Referenz der Zeichen weiter unten streifen. 54 Ein Schluss auf Analogien zwischen streng analog gebildeten Begriffen würde dann nicht unter dieses Verdikt fallen, wenn dieser Schluss lediglich Zwischenergebnisse des Denkens, die in den analogischen Begriffen niedergelegt wurden, wieder zutage förderte, also frühere Perzeptionen und Urteile analytisch aus den Begriffen einer „langue bien faite“ im Sinne Condillacs wieder herausschälte. Ausgeschlossen ist lediglich die Argumentation mit sprachlichen Ähnlichkeiten, deren Genese nicht als Begriffsrechnung analytisch rekonstruiert werden kann (etwa Schuh + Macher = Schuhmacher; Uhr + Macher = Uhrmacher; Schuhmacher und Uhrmacher sind durch „-macher“ analogisiert, aber diese Lautfolge ist keine geheimnisvolle Ähnlichkeit, die seit Anbeginn der Sprache auf eine Deutung wartet, sondern ein analysierbarer Bestandteil eines komplexen Begriffs). 55 Foucault 1966, S. 87. 93 Science génerale de l’ordre Natures simples v Représentations complexes o o Mathesis Taxinomia m m Algèbre Signes Die mathesis als Rechenkunst ordnet einfache Naturen, also Ideen, die nur in einer Hinsicht verglichen werden (oder verglichen werden können), einander zu. Wenn sie in dieser Hinsicht gleich sind, so lassen sie sich zählen beziehungsweise in Rechenoperationen einbeziehen. Sprache und Methode für diese Operationen hält die Algebra bereit. So weit die linke Seite des Diagramms. Aber die Wirklichkeit bietet sich uns nicht in Form einfacher Naturen dar, sondern, wie Foucault sagt, in „représentations complexes,“ die auf der rechten Hälfte seiner Darstellung die den „natures simples“ der linken analoge Position besetzen. Wenn Foucault in seinem Diagramm „natures simples“ und „représentations complexes“ einander gegenüberstellt, so gilt hier die Opposition der Adjektive wohl analog auch bei den beiden Substantiven, représentations sind hier also hauptsächlich das Gegenteil von natures und nicht eine Relation zwischen einem Präsenten und einem Absenten, das durch sie wieder präsent würde. In dem Diagramm sind die „représentations complexes“ demnach dasjenige, als das uns die erfahrbare Welt erscheint, also die Form der choses: Hier gilt von den verschiedenen Versionen des Repräsentationsbegriffs diejenige, die die Perzeptionen oder Ideen selbst bezeichnet. Gemeint sind in diesem Zusammenhang komplexe Wahrnehmungen oder Vorstellungen, die aufgrund ihrer Komplexität nicht in mathematische Operationen eingehen können, denn sie sind in mehr als nur quantitativer Hinsicht aufeinander zu beziehen. Die banale Regel, man dürfe nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, trifft genau diesen Umstand. In gewisser Weise aber darf man durchaus Äpfel mit Birnen vergleichen: dann nämlich, wenn man sie nicht addiert oder substrahiert, sondern in einer taxonomischen Reihe etwa von Obstsorten anordnet, deren benachbarte Elemente sich immer nur in einer Qualität unterscheiden. Die Aufgabe, die für die Zähloperationen auf der Seite der mathesis die Algebra übernahm, leisten hier die Zeichen. Insbesondere die Sprache ist das Werkzeug dieser Klassifikation, und zwar sowohl als Begriffssystem als auch als Dispositiv für die Herstellung von Aussagesätzen, in denen die komplexen Wahrnehmungsideen ebenso wie die Begriffe in ihre Einzelbestandteile zerlegt werden können. 56 Diese Zer- 56 Bezüglich dieser Aussagesätze sagt Foucault etwas pathetisch: „La raison occidentale entre dans l’âge du jugement.“ (Foucault 1966, S. 75) Dass diese Urteile mindestens 94 legung, die das ‘klassische’ Zeitalter als Analyse betrachtet, ist natürlich eine Reduktion: Schon der Begriff ist eine Reduktion des Mannigfaltigen der individuellen Wahrnehmung, und je allgemeiner die Begriffe werden, desto weniger Aspekte möglicher Individuen können in ihm Platz finden. Gelingt es mir also, die Wahrnehmungen so zu vereinfachen, dass ich mehrere Vorstellungen als gleich bezeichnen kann, so kann ich die komplexen Ideen in einfache überführen und zählen. Mehrere verschieden aussehende Äpfel können unter Absehung von ihrer Individualität als Exemplare eines Gleichen angesehen und so gezählt werden, und manchmal mag es auch nützlich scheinen, Äpfel und Birnen als soundsoviele Stücke Obst zu addieren. Der Begriff ‘Obst’, der mir diese Mathematisierung der Erfahrung ermöglicht, ist eine Reduktion der konkreten Früchtevielfalt. Der Vorsprung der europäischen Naturwissenschaft vor denen anderer Erdteile beruht, wie Edward O. Wilson meint, im wesentlichen auf dieser Operation; Kulturen wie etwa die chinesische, die dazu neigen, das Individuum ganzheitlich zu betrachten, statt es auf einen analytisch herausgetriebenen Aspekt zu reduzieren, sind folgerichtig den Weg der mathematischen Bearbeitung der physischen Welt weniger weit gegangen. 57 Die Reduktion ist aber in unserem Zusammenhang nicht einfach eine allgemeine naturwissenschaftliche Technik, die - wie alles Denken - irgendwie in der Sprache (und sei es der der Mathematik) möglich sein muss, ja: in allen natürlichen Sprachen, sofern diese keine Individualnamen, sondern Begriffe verwenden, angelegt ist. Die Reduktion als sprachliche Tätigkeit ist vielmehr integrierender Bestandteil der Sprachanschauung gerade jener Zeit, die im Anschluss an Bacon und Descartes auch die naturwissenschaftliche Reduktion besonders forcierte. Wir werden noch sehen, wie Condillac und seine Schule versuchen, mit ihrer Beschreibung der Abstraktion, sowie der Unterscheidung zwischen compréhension und extension des Zeichens die Hinordnung der Sprache auf die Reduktion und damit Mathematisierbarkeit der Ideen auch theoretisch einzuholen. Auf der Seite der mathesis ist die so ermöglichte Operation demnach ein calcul. Auf der Seite der taxinomia entspricht diesem die sprachliche Arbeit an der Ordnung der Begriffe zu einem tableau. 58 Hier zeigt sich eine weitere Schwierigkeit des Diagramms: Eine Begriffsoperation, wie sie für die Herstellung einer Ordnung des Wissens nötig ist und wie sie auf der taxinomia-Seite mit Hilfe der signes geschieht, haben wir eben auch für die Vermittlung der beiden Seiten des Diagramms beschrieben: Die Überführung komplexer Ideen in zählbare Einheiten ist eine bei den Sensualisten immer als analytische, nicht als synthetische gedacht werden, wird sich weiter unten zeigen. 57 So eines der wesentlichen Argumente des 3. Kapitels von Wilson 1998, im Anschluss an Joseph Needham. 58 Foucault 1966, S. 89 95 Art von Abstraktionsarbeit, die eigentlich nur ein besonderer Fall der ordnenden begrifflichen Bearbeitung komplexer Ideen auf der Seite der taxinomia darstellt. Hier begegnet sich die Vertikale einer Diagrammhälfte mit einer jener Horizontalen, die die beiden Hälften verbinden. Aber das ist kein misslicher Zufall: Foucault bemerkt selbst, dass man in gewisser Weise die ganze mathesis als Sonderfall der taxinomia betrachten kann, umgekehrt aber die taxinomia „se rapporte tout entière à la mathesis.“ 59 Destutt de Tracy wird am Ende der von uns untersuchten Periode sagen: […] raisonner, c’est calculer des idées de beaucoup d’espèces différentes, considérées sous une multitude de rapports divers. Calculer, c’est raisonner sur des idées d’une seule espèce, sur des idées de quantités considérées sous le seul rapport de leur nombre. 60 „Raisonner, c’est calculer […] “ - Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das achtzehnte Jahrhundert dazu neigte, die Sprache als Algebra und die Algebra als Sprache zu betrachten. Beredtes Zeugnis davon gibt der Titel von Condillacs letztem Buch: La langue des calculs. 1.1.3. Die Dimensionen des sprachlichen Zeichens im Repräsentationsmodell a) Linearität Das tableau der Ordnung aber ist, wie leicht vorstellbar, nicht immer schon als Ganzes und Präsentes verfügbar, und so kann auch die Stelle, die eine Idee darin hat, nur in Aussagen je einzeln in Bezug auf ihre Nachbarelemente bestimmt werden: Die Begriffe werden als auseinander hervorgehend auf einer Kette situiert. Zugleich aber ist in dem beweglichsten und nützlichsten Zeichensystem, der Sprache, generell nur eine lineare Abfolge der Elemente möglich. Diese Not ist freilich auch die Tugend der Sprache, denn die Notwendigkeit einer Linearisierung der Repräsentationen führt zur Analyse derselben. Nicht nur ist das Ordnungssystem nur in Sätzen zu durchlaufen, auch die ungeschiedene Masse der ersten Repräsentationen ist nur durch Sätze in ein Ordnungssystem überführbar. Ce qui distingue le langage de tous les autres signes et lui permet de jouer dans la représentation un rôle décisif, ce n’est donc pas tellement qu’il soit individuel ou collectif, naturel ou arbitraire. Mais qu’il analyse la représentation selon un ordre nécessairement successif: Les sons, en effet, ne peuvent être articulés qu’un à un; le langage ne peut pas représenter la pensée, d’emblée, en sa totalité; il faut qu’il la dispose partie par partie selon un ordre linéaire. 61 59 Foucault 1966, S. 86 60 Destutt de Tracy 1796, S. 122-123 n. 61 Foucault 1966, S. 96 96 Das ordnende und die Ordnung entfaltende Durchlaufen des tableau führt zur Vorstellung einer hypothetischen Genese, das Auseinanderlegen der einzelnen Teile einer komplexen Repräsentation zu derjenigen einer Analyse, die Hinterfragung einer bereits angelegten Begriffsordnung ist die Analyse einer Genese. Die Nachbarschaft der Stellen einer begrifflichen Ordnungsreihe wird nämlich als parenté gesehen, 62 als eine Nähe oder Ferne eben aufgrund eines ‘genetischen’ Auseinander-Hervorgehens, als Anordnung, die durch eine (fiktive) Entstehungsgeschichte als Verwandtschaft erklärt wird. Dies funktioniert in zwei Richtungen: Komplexe Wahrnehmungen werden durch begriffliche Etikettierung der Elemente, die die Aufmerksamkeit isolieren kann, in Einzelteile zerlegt, die Einzelideen werden durch Abstraktion in universellere Begriffe überführt. So entsteht aus horizontalen Sätzen ein vertikales Begriffssystem. Aus diesen höheren Begriffen können umgekehrt wiederum Aussagen über komplexe Wahrnehmungen gebildet werden, die nun in Sätzen aus analysierten Begriffen, in Propositionen, erscheinen. Diese Aussagen und mit ihnen die Ordnung der gebrauchten Begriffe werden sodann überprüft, indem die Genese der Begriffe rekonstruiert wird (neuerliche Analyse): War die Analyse der ersten Wahrnehmungen korrekt? Sind die Begriffe korrekt auseinander abgeleitet worden? Immer gelangt man von einer Position zur nächsten mit Hilfe einer Genese-Geschichte. Es werden Ordnungsbilder durch sie überprüft, aber auch komplexe Wahrnehmungen strukturiert, das heißt, ihrerseits wieder als geordnet begreifbar. So ist die Genese sowohl für die Zusammensetzung der „représentations complexes“ wie für diejenige der aus ihnen gebildeten taxinomia zuständig. Das Sprachsystem doit permettre l’analyse des choses dans leurs éléments les plus simples; il doit décomposer jusqu’à l’origine; mais il doit aussi montrer comment sont possibles les combinaisons de ces éléments, et permettre la genèse idéale de la complexité des choses. 63 Die Systematik der Begriffe ebenso wie die Komplexität der Repräsentationen oder Ideen werden beide in die Linearität von Sätzen überführt. In beiden Fällen gilt, dass die Sprache die Analyse des Denkens ist: Werden komplexe Wahrnehmungen zerlegt, so leistet die Sprache die Analyse des Denkens als Wahrnehmung; wird hingegen die Ordnung der Ideen durchlaufen, so leistet sie die Analyse ihrer (Zwischen-) Ergebnisse, ihrer vorläufigen Festlegungen und deren Anordnung. Von hierher wird verständlich, warum Foucault immer wieder darauf hinweist, dass die ‘klassische’ Sprache immer als Diskurs gedacht ist. Nicht die Systematik einer Tiefenstruktur, einer Saussureschen langue, die beliebig Sätze oder Formen als discours hervorbringt, interessiert die in den Blick genommene Epoche, sondern die 62 Foucault 1966, S. 87 63 Foucault 1966, S. 76 97 Sprache als Repertoire von benannten Repräsentationen, die in Sätzen analysiert werden können und aus Sätzen stammen. Der Diskurs ist somit nicht mögliches Ergebnis, sondern Ausgangspunkt der Sprache: Diese entsteht nämlich überhaupt erst dort, wo Sätze auftreten, wo Linearität und damit Analyse allererst zu Begriffen führen. 64 Nach Foucault führt die Opposition zwischen der Anordnung und ihrer linearen Durchschreitung auf der Ebene der ‘klassischen’ Sprachbetrachtung zu der Aufteilung in Rhetorik (als Wissenschaft von den Tropen und mithin von der Anordnung des Begriffssystems in einem imaginären Raum) und der Grammatik als grammaire générale (die als Hauptgegenstand die Propositionen und ihre Bestandteile, mithin die Linearität der Sätze hat). In ihrer allgemeinsten Ausrichtung, insofern sie sich nämlich mit der Universalität befasst, hat die Grammatik entweder die Universalsprache zum Gegenstand: als Universalrepertoire, das für alle isolierbaren Einzelrepräsentationen jeweils genau ein Element zur Verfügung hält - oder aber den Universaldiskurs: als vollkommenen Durchlauf durch die ideale Genese aller auseinander abgeleiteten und aufeinander aufbauenden Ideen, gleichgültig ob konkrete, abstrakte, komplexe, analysierte oder zusammengesetzte, also „le savoir mis dans l’ordre unique que lui prescrit son origine.“ 65 Als Beispiel gibt er für die Universalsprache das immer wieder projektierte künstliche Zeichensystem einer Universalcharakteristik an, für den Universaldiskurs die idéologie, ist diese doch eine ‘genetische’ Rekonstruktion der menschlichen Ideen, wie diese von den einfachsten zu den komplexesten, von den unanalysierten zu den analysierten, von den konkreten zu den abstrakten ideal auseinander hervorgehen. Die Encyclopédie schließlich ordnet in einem alphabetischen Repertoire die menschlichen Kenntnisse, indem sie das Französische als Supplement einer nicht vorhandenen Universalsprache benutzt, strebt aber, wie d’Alembert im „Discours préliminaire“ angibt, gerade das für den Universaldiskurs typische „enchaînement des connaissances humaines“ im Sinne einer „généalogie“ an. Gerade in dieser Verschränkung zeigt sich für Foucault, dass die Ideen nur über die Sprache zu einer Universalität gelangen, denn in jenem Zeitalter gilt: „Connaissance et langage sont strictement entrecroisés“ - insofern nämlich, als die Analyse der Ideen nur in der Sprache möglich ist, ja: Erkennen und Sprechen, soweit sie beide Analyse der Simultanität einer Repräsentation sind, ineins fallen. 66 Insofern als damit die Sprache als Repertoire von Begriffen und ihren Genesen und Analysen der Ort der Verkettung der Kenntnisse ist, sind es auch eher die Sprachen als die Texte, die das Wissen einer Kultur überliefern. Das siebzehnte und achtzehnte Jahr- 64 Vgl. Foucault 1966, S. 97 65 Foucault 1966, S. 99 66 Foucault 1966, S. 101 und S. 102 98 hundert sucht in den überkommenen Sprachen die Überlieferungen vergangener Kulturen: Les langues, savoir imparfait, sont la mémoire fidèle de son perfectionnement […] Ce que nous laissent les civilisations et les peuples comme monuments de leur pensée, ce ne sont pas tellement les textes, que les vocabulaires et les syntaxes […] 67 Beschäftigen wird uns in unserem Kapitel „Linearität“ neben der Analyse des Denkens und der Universalität von Diskurs und Sprache vor allem die Vorstellung einer Genese - unter anderem der Sprachen - als logischer Entstehungsgeschichte einer gegenwärtigen komplexen Struktur, die dadurch als Ordnung erfahrbar wird. Diese Genese ist, wie man hier schon sieht, nicht eigentlich geschichtlich gemeint, sondern lediglich als hermeneutische Als-ob-Erzählung, die eine Ordnung in ihrer Entfaltung sinnfällig machen soll. Dennoch wird dieses Modell, wie wir sehen werden, im ‘klassischen’ Zeitalter auch auf die Historie selbst übertragen, so dass es eine ‘Geschichte’ von etwas geben kann, in der weder Kontingenz noch historische Empirie eine Rolle spielen. b) Referenz Die Tatsache, dass die taxinomia im Vergleich zur mathesis die Qualitäten der Dinge ordnet (und nicht quantitative Aussagen bildet), lässt sie, so Foucault, in dieser Hinsicht wie eine Ontologie auftreten (genau dies zeigt sich in der weiter oben zitierten Formulierung „l’analyse des choses“). Im Vergleich zur genèse aber ist sie wie eine Wissenschaft von den Zeichen gegenüber einer Geschichte: Sie stellt den geschichtlichen Hervorgängen die Anordnung von deren Ergebnissen in einem Rahmen der Repräsentation (im Sinne des zeichenhaften Einstehens der Ideen für die Sachen) entgegen. Insofern als dies mit den Zeichen und unter Reflexion der Zeichenhaftigkeit dieser Zeichen geschieht, also der schon erwähnten Verdoppelung der Repräsentation, tritt die taxinomia in diesem Zusammenhang als etwas auf, das mindestens für Foucault das genaue Gegenteil einer Ontologie darstellt, nämlich als Semiologie (wenn auch, wie wir sehen werden, meist diese Semiologie unter der Voraussetzung betrieben wird, die Zeichenhaftigkeit der Begriffe schließe nicht aus, dass Ideen bis zu einem gewissen Grade unabhängig von Wortkörpern existieren können). Dieselbe Ordnungswissenschaft erscheint also - je nach dem jeweils zum Vergleich herangezogenen Gegenstück in dem alle diese Teile umspannenden Netz - in diametral der je anderen entgegengesetzter Weise. Deshalb trägt, so Foucault, die épistémè des klassischen Zeitalters ebenso die Möglichkeit einer Skepsis bezüglich des Referentenbezugs von Zeichen wie die einer 67 Foucault 1966, S. 102 99 Wissenschaftsgläubigkeit, die an die alten Positionen der Ontologie heranreicht. So erhellt sich die für uns wichtige und etwas kryptische Formulierung Foucaults: Par rapport à la mathesis, la taxinomia fonctionne comme une ontologie en face d’une apophantique; en face de la genèse, elle fonctionne comme une sémiologie en face d’une histoire. Elle définit donc la loi générale des êtres, et en même temps, les conditions sous lesquelles on peut les connaître. De là, le fait que la théorie des signes à l’époque classique ait pu porter à la fois une science d’allure dogmatique, qui se donnait pour la connaissance de la nature elle-même, et une philosophie de la représentation qui, au cours du temps, est devenue de plus en plus nominaliste et de plus en plus sceptique. 68 Für Foucaults Interesse ist damit der Gegensatz zwischen einer Wissenschaft, die die Natur der Dinge zu treffen glaubt, und einem Nominalismus, der in den Begriffen nur Konstrukte hinsichtlich einer nicht in ihrer Essenz erkennbaren Natur sieht, auch schon erledigt: Ihm geht es ja um die allgemeine Form des Denkens, und in der Tat gelingt es ihm hier, eine Form zu entwerfen, in der man sich die Gegensätze als koexistent und beide von ihr getragen denken kann. Für unser Interesse an dem in dieser Form stattfindenden Gespräch selbst, also an dem, was Foucault spöttisch eine „histoire des opinions“ 69 nennen würde, ist es damit jedoch nicht getan. Besonders bei einem Schriftsteller wie Condillac, bei dem sich beide Positionen zugleich finden, genügt (für uns) nicht die Feststellung, die Form, in der sein Denken und Schreiben auftritt, halte beide Möglichkeiten bereit; hier muss auch beschrieben werden, wie er sie gegeneinander ausbalanciert und argumentativ aufeinander bezieht. Aber auch die Genesis selbst trägt nach Foucault wiederum zu einer Erkenntnistheorie bei, insofern die Analyse immer zu den ersten und einfachsten Ideen hinabsteigt und aus ihnen ihre großen Ordnungen genetisch hervorgehen lässt, sich von dieser Genese aber stets analytisch Rechenschaft gibt: […] elle implique une genèse qui remonte de ces formes frustes du Même aux grands tableaux du savoir développés selon les formes de l’identité, de la différence et de l’ordre. Le projet d’une science de l’ordre, tel qu’il fut fondé au XVIIe siècle impliquait qu’il soit doublé d’une genèse de la connaissance, comme il le fut effectivement et sans interruption de Locke à l’Idéologie. 70 Sowohl die Figur der idealen Genese als auch die Ordnungswissenschaft, insofern sie sich als Zeichentheorie gibt, tragen also eine Erkenntnistheorie. Eine solche wird im übrigen auch nötig, insofern, wie schon aufgezeigt, die angenommene Kontinuität der Welt vermittels der Imagination allererst ergriffen und in die Struktur von Identität und Differenz hineingezogen 68 Foucault 1966, S. 88 69 Foucault 1966, S. 89 70 Foucault 1966, S. 86 100 werden kann. Die abgedrängte intuitive Erkenntnis der Ähnlichkeit ist zugleich der Zugang zu den Elementen, die dann im Wissen der Ordnung erscheinen. Auch darüber muss eine Erkenntnistheorie Aufschluss geben: La taxinomia implique en outre un certain continuum des choses (une nondiscontinuité, un plénitude de l’être) et une certaine puissance de l’imagination qui fait apparaître ce qui n’est pas, mais permet, par là-même, de mettre au jour le continu. La possibilité d’une science des ordres empiriques requiert donc une analyse de la connaissance, - analyse qui devra montrer comment la continuité cachée (et comme brouillée) de l’être peut se reconstituer à travers le lien temporel de représentations discontinues. De là la nécessité, toujours manifestée au long de l’âge classique, d’interroger l’origine des connaissances. 71 Von verschiedenen Seiten des Modells her ergibt sich also die Notwendigkeit, die Ordnungswissenschaft mit einer Erkenntnistheorie, die zu den ersten Begriffen zurücksteigt, zu untermauern. Für die Sprache bedeutet dies: Es ergibt sich die Frage, ob den Repräsentationen auch Referenten entspre_chen und wie gegebenenfalls das Verhältnis zwischen beiden gesehen wird. Dies werden wir in dem Kapitel „Referenz“ behandeln. 1.1.4. Die vier Sprachfunktionen und die vier Formen der Sprachkritik Abschließend sei ein weiteres Diagramm resümiert, das Foucault an dem zweiten von ihm behandelten Epochenübergang einführt, demjenigen vom ‘klassischen’ Wissen zur Wissensform des neunzehnten Jahrhunderts. 72 Darin werden vier Grundfunktionen der Sprache, die beiden Epochen gemeinsam, vielleicht sogar transhistorisch zu denken sind, je einmal im ersten und einmal im zweiten historischen Zusammenhang in Beziehung zueinander und zu den aus ihnen kommenden Wissensgebieten gesetzt. Uns interessiert die obere Hälfte des Diagramms, das noch einmal die Rolle des Sprache in der ‘klassischen’ épistémè zusammenfasst. Die vier Elemente der Sprache, die zusammenwirken, damit eine Taxonomie der Repräsentationen oder Ideen in einer Nomenklatur der Bezeichnungen gewonnen und dargestellt werden kann, sind: Artikulation, Derivation, Designation und Attribution (oder Proposition). Die Artikulation des zunächst ungegliederten Feldes der Repräsentationen ist einerseits eine Zerlegung komplexer Verhältnisse in mehr oder weniger einfache Bestandteile. Die diese bezeichnenden, für diese Operation unverzichtbaren Begriffe sind teils aus der Tätigkeit der Designation, der ursprünglichen Namenszuschreibung, gewonnen worden. Insofern wirken in der Artikulation Designation und eigentliche Artikulation zusammen, denn ohne Namen können keine Einzelelemente isoliert werden. Die ur- 71 Foucault 1966, S. 87 72 Foucault 1966, S. 225 101 sprüngliche Zuweisung der Namen ist eine Indikation, sie ist im Grunde als Zeigehandlung zu denken. In der Reflexion über die Sprache tritt die Designation vor allem in der Betrachtung der Wurzeln und Etymologien zu Tage. Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass die Artikulation in entwickelten Kommunikationsgesellschaften meist nicht (oder selten) durch solche ursprünglichen noms primitifs erfolgt: Das Einzelelement wird nicht durch eine ursprünglichen Zuweisung isoliert (wenn auch diese allem zu Grunde liegt), sondern mit Hilfe eines daraus entwickelten Begriffs, der vermittels Verschiebungs- und Abstraktionsoperationen aus den Urnamen gewonnen wurde. Diese Weiterentwicklung wird durch die Derivation geleistet. Andererseits aber geschieht die Artikulation immer durch Linearisierung in der Sprache. Die Analyse der komplexen Wahrnehmungen bricht diese in Abfolgen um, welche in einem Satz auftreten. Daher wirkt bei der Artikulation immer die Attribution mit. Die Normalform davon ist die Proposition, in welcher die Einzelteile und ihre Beziehungen in einer (über einen Großteil auch noch des achtzehnten Jahrhunderts als die Logik abbildend gedachten) Syntax auftreten. Diese Attribution analysiert jedoch auch die Begriffe. Die Richtigkeit der Derivationen und ihre ideale Genese ist ebenfalls in Sätzen analysierbar. Die Derivation berührt sich also mit der Designation, so wie sich die Designation mit der Artikulation und diese mit der Attribution berühren. Die vier Begriffe sind denn auch bei Foucault in einer rautenartigen Gestalt als äußerer Umlauf um die zentralen Begriffe der Taxinomie und der Nomenklatur angeordnet: A RTICULATION A TTRIBUTION N OMENCLATURE D ÉSIGNATION T AXINOMIE D ÉRIVATION 73 Zwischen der Artikulation und der Attribution ergibt sich die Kombinatorik als Lehre von den Möglichkeiten, Einzelelemente in Sätzen zu verbinden. Zwischen Artikulation und Designation liegt die Annahme der Kontinuität der Wesen, die allein eine lückenlose Artikulation in mit ersten Namen zu versehende Elemente ermöglicht. Zwischen der Designation und der Derivation entfalten sich die Begriffssysteme der Enzyklopädien. Die Analyse der Derivation, also die genetische Analyse von Begriffs-Filiationen und Abstraktionssystemen vermittels der durch Attribution gebildeten Sätze befasst sich insofern auch mit der représentabilité des êtres. 74 Teils analog dazu beschreibt Foucault die vier Richtungen der Kritik (welche an die Stelle des von der Renaissance bevorzugten Kommentars getreten ist) im Umgang des ‘klassischen’ Zeitalters mit Sprache und Rede: 73 Foucault 1966, S. 224 (vereinfacht) 74 Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Foucault 1966, S. 106 und S. 172. 102 Die Kritik der Wörter als Kritik des Verhältnisses zwischen Derivation und Artikulation: Sind die Begriffe so auseinander abgeleitet und aufeinander aufgebaut, dass eine optimale Analyse der Repräsentation möglich ist? Die Kritik der Grammatik, insbesondere der Attribution: Wie analysiert die Proposition das Denken? Die Kritik der Rhetorik, besonders der Tropen, also der Derivationen. Sodann die Kritik des Textes: Das Verhältnis der Texte zu ihrer Wahrheit; dies könnte allerdings nur insofern mit der Theorie der Designation analogisiert werden, als auch die Indikation bei einer Namensstiftung als Einsetzung eines Wahrheitsverhältnisses und damit auch so etwas wie die Etymologie als Frage nach einem solchen gedacht werden kann. 75 1.1.5. Foucaults Modell als Strukturhypothese für den Dialog von Aufklärung und Illuminismus Soweit also zu Foucaults Analyse der ‘klassischen’ épistémè, die für die vorliegende Untersuchung als Struktur-Hypothese dienen soll. Wir haben anhand der zitierten Quellen auch schon gesehen, dass die Beschreibung Foucaults zumindest für die Hauptgesprächspartner der Illuministen, nämlich (um sich einiger pauschaler Schlagworte zu bedienen: ) die Sensualisten, die Enzyklopädisten und die idéologues, nachvollziehbar ist. Um nun zu überprüfen, wie diese Hypothese von der Einbeziehung des illuministischen Schrifttums affiziert wird, und um zu erfahren, ob und gegebenfalls wie sich das Verhältnis zwischen ‘Normaldiskurs’ und Esoterik mit ihrer Hilfe beschreiben lässt, sollen nun Züge des Dialogs zwischen diesen beiden Diskurssträngen innerhalb des solchermaßen vorgegebenen epistemologischen Modells nachgezeichnet und mit den in diesem niedergelegten Grundlinien abgeglichen werden. Als erstes sollen in dem nun folgenden Rest des Kapitels über die „Rede des Menschen als Repräsentation“ das Repräsentationsmodell und die aus ihm herausgeschälten Dimensionen der Linearität und der Referenz als Begegnungsort verschiedener Diskurse betrachtet werden. Dazu wird zunächst als Abschluss und Relativierung dieser Grundlegung das soeben vorgestellte Repräsentationsmodell mit Saint-Martins Konzeption von Idee und Zeichen allgemein verglichen werden; hier wird der illuministische und besonders auch der martinistische Diskurs in ersten Strichen zu skizzieren sein. Daran wird sich ein kurzer Blick auf die Klassifikation als Anwendungsort des repräsentierenden Zeichens im Martinismus anschließen. Dann sollen die beiden Dimensionen der Linearität und der Referenz auf breiterer Basis entfaltet und als Diskussionsrahmen verschiedener Richtungen des Denkens und Schreibens in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vorgeführt werden. Dabei ist nicht nur die Verständigung 75 Foucault 1966, S. 94-95 103 über die Sprache in den Blick zu nehmen; vielmehr werden verschiedene Themen auf ihren Zusammenhang mit der spezifischen Konzeption von Linearität und Referenz der Sprache im achtzehnten Jahrhundert beleuchtet. 1.2. Idee und Repräsentation in Saint-Martins Crocodile Saint-Martin, der wichtigste unserer illuministischen Prüfsteine für Foucaults Modell, gewahrt nun die Dinge nicht wie die Anhänger Lockes durch einen ‘Schleier der Ideen’, sondern er kehrt zu dem platonischen Modell zurück, nach dem man sozusagen die Ideen durch den Schleier der Dinge sieht. Trotz dieser Verkehrung der Grundannahmen bedient er sich bei seiner Darlegung jedoch des Vokabulars seiner Konkurrenten, denn seine wichtigste Schrift zur Zeichentheorie, der Essai sur les signes et sur les idées, hat er, wie schon angedeutet, als Beantwortung einer öffentlichen Preisfrage des Institut National verfasst. Dass er nicht nur keinen Preis errungen, sondern den Text dann in einem Exemplar einer fiktionalen Gattung, in seinem Roman Le crocodile, veröffentlicht hat, zeigt die Ambivalenz des illuministischen Diskurses zwischen Teilnahme und Außenseitertum; sie prägt somit den Text selbst ebenso wie seine Veröffentlichungsgeschichte. Der Freiwillige Ourdeck, der im Inneren des Krokodils, in einem Seitenarm von dessen Kapillarsystem, die verschüttete „ville d’Atalante“ entdeckt, ist im Roman der Entdecker der Preisfrage, wenn auch nicht von Saint-Martins Antwort. In der „société scientifique“ der untergegangenen Stadt gab es, wie an archäologischen Zeugnissen erkennbar, Akademiepreise zu wichtigen Fragen, unter anderen auch der nach „l’influence des signes sur la formation des idées.“ 76 Hier wurde nie eine Antwort gekrönt, aber der Philosoph der Stadt prophezeiht in einer fossilierten Sprechblase, dass diese Frage später vom Institut national de France von Neuem gestellt und von Saint-Martin (der hier in allerlei esoterischen Umschreibungen definiert, aber nicht genannt wird) beantwortet werden wird. Da dieser Teil der Erlebnisse Ourdecks im Roman ohnehin nicht von ihm selbst, sondern vom Psychographen, einer Apparatur der Seelenschrift, wiedergegeben wird, ist es unproblematisch für den Romanablauf, nun die Antwort Saint-Martins, aus der berichteten Handlung hinausblendend, ebenfalls durch den Psychographen wiedergeben zu lassen. Sie macht den ‘Gesang’ 70 von Le crocodile aus (ist aber, wie die meisten Abschnitte dieses in chants eingeteilten poème, in Prosa verfasst). Saint-Martins Beantwortung der Preisfrage ist Stück für Stück an den Teilfragen des Instituts entlang geführt und übernimmt sogar dessen sensualistisch-ideologisches Vokabular, von sensation über idée und occasionner 76 Saint-Martin 1799a, S. 277-278 104 bis hin zu représenter, und dies gilt auch für seine allgemeine Definition des Zeichens: On peut donc dire qu’un signe en général est la représentation ou l’indication d’une chose séparée ou cachée pour nous, soit que cette chose soit naturellement inhérente au signe, comme le suc l’est au fruit qui se présente à ma vue; soit que cette chose n'y soit liée qu’accidentellement, comme l’idée qu’on veut me communiquer l’est à un signe quelconque. 77 Er spielt das Spiel des Diskussionspartners bis in einzelne Formulierungen mit, subvertiert es jedoch zugleich - vor allem deshalb, weil die ontologischen Annahmen, die sein Text enthält, nicht mehr als Spielzüge in diesem Spiel aufgehen können, sondern zu verbotenen Zügen führen. Wir werden zu diesem Text am Ende dieser Untersuchung noch einmal zurückkehren. Erst dann werden wir die Fülle von Hintergrundinformationen zur Verfügung haben, die die ausserordentlich komplexe Argumentation Saint-Martins im Ganzen werden erschließen können. Für den Augenblick gilt es, das Verhältnis der Zeichenlehre Saint- Martins zum Repräsentationsmodell allgemein zu erfassen. Die Dichotomie von signe und idée als zweier voneinander getrennter Entitäten, die in ein Aktualisierungsverhältnis zu einander treten können, prägt auch sein Zeichenmodell. Auch die Tatsache, dass zwischen dem Verhältnis dieser beiden Stellen zueinander und demjenigen zwischen Idee und Referent eine Strukturanalogie besteht, verbindet Saint-Martins Entwurf mit der oben aufgezeigten Grundkonzeption. Es ist auch fraglich, ob der philosophe inconnu seine in manchen inhaltlichen Zügen den gängigen Meinungen der philosophes grundsätzlich widersprechende Konzeption anders hätte verständlich machen können. Charakteristisch für sein Zeichenmodell ist jedoch, dass er zwei Sonderfälle innerhalb der ‘klassischen’ Zeichentheorie absolut setzt: die natürlichen Zeichen und die Bestimmung der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem als Kausalität. Die natürlichen Zeichen sind ja im Repräsentationsmodell nur eine Seite der Opposition ‘natürlich-konventionell’; die konventionellen Zeichen sind sogar die wichtigere. Wir werden noch sehen, welche Rolle dieses Paar bei der Sprachentstehungstheorie beider Diskussionspartner spielen wird. Für Saint-Martin ist jedenfalls das natürliche Zeichen der Normal- und Ideal-Fall. Wenn wir konventionelle Zeichen verwenden, so nur dort, wo diese Normalität gestört ist. Das, was für die idéologues die höchste bisher erreichte Stufe menschlicher Sprachfähigkeit ist, ist für Saint-Martin ein Verfallssymptom. Die Möglichkeit, dass ein natürliches Zeichen zu seinem Bezeichneten in einem Kausalverhältnis steht, haben wir ebenfalls als Sonderfall ken- 77 Saint-Martin 1990, S. 169-170 (der Text des Trakats selbst wird nach der Neuausgabe der philosophischen Schriften zitiert). 105 nengelernt, bei dem die Option ‘natürlich’ mit der Option ‘sicher’ (im Gegensatz zu ‘wahrscheinlich’) und meist auch noch mit der Option ‘verbunden’ (im Gegensatz zu ‘getrennt’) koinzidiert: So wäre das Zeichen ‘Atmen’ für das Bezeichnete ‘Leben’ in Saint-Martins System der Modellfall schlechthin. Folgerichtig ist sein erstes Beispiel für ein Zeichen in der Antwort auf die Frage des Instituts der Anblick einer Frucht, der für die inneren Eigenschaften derselben, etwa ihren Saft, steht. Genauer besehen ist das Zeichenverhältnis, das Saint-Martin aus diesem Beispiel entwickelt, kein solches der bloßen Zuordnung, sondern ein solches der Manifestation oder, wenn man so will, Epiphanie. 78 Das innere Prinzip der Frucht manifestiert sich in deren inneren Eigenschaften ebenso wie in den diese wiederum manifestierenden äußeren, und die äußeren können nun zeichenhaft für die inneren einstehen. Damit kommt eine Dynamik in das Repräsentationsmodell, die von diesem zwar als Sonderfall auch abgedeckt werden kann, aber nicht dafür konstitutiv ist. Sie ist vielmehr der Ansatzpunkt, von dem aus, wie wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchung sehen werden, Saint-Martin dieses Modell auflöst - obwohl er ihm in mancher Hinsicht auch verbunden bleibt. So auch hier. Eine erste Betrachtung des bis hierhin Dargelegten könnte durchaus zu dem Schluss führen, die Lektüre der Oberfläche einer Frucht auf ihre saftigen und nahrhaften Eigenschaften hin sei gerade jene paracelsische Deutung seit Anbeginn auf mögliche Leser wartender, stummer Zeichen mit ihrer Nähe zur divinatio, die nach Foucaults Auskunft in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts abgelegt wurde. Aber das ist aus zwei Gründen nicht der Fall: Zum einen betrachtet Saint-Martin die Natur zwar als ein Gebilde aus Zeichen, aber nicht als jenes außerhalb einer konkreten Kommunikationsbeziehung hingestellte Buch der Natur, dessen Buchstaben unabhängig von einem Deuter vorhanden sind und gelesen werden können oder auch nicht; 79 wie wir noch sehen werden, ist für ihn die ganze Natur im Hinblick auf einen (oder mehrere) Adressaten verfasst, und die Entschlüsselung jedes einzelnen Zeichens darin ist eine Heilsaufgabe des 78 Der Begriff wäre insofern gerechtfertigt, als mit dem inneren geistigen Prinzip auch dessen Schöpfer sich dem Deuter der Naturzeichen offenbart. Allerdings werden wir ihn dennoch nicht weiter verwenden, weil ein strenger Gebrauch des Epiphaniebegriffs den von uns behandelten Fall nicht einschließen würde. Epiphanie ist, wie etwa Zaiser 1995 in einer umfassenden Studie zu diesem Erlebnismuster im Zusammenhang mit seinem Auftreten in der französischen Literatur herausgearbeitet hat, eine plötzliche, vom Einzelnen nicht herbeiführbare Offenbarung Gottes, die das Leben des Menschen, in das sie drängt, verändert. Außerdem ist diese Form der Epiphanie - dies sei an dieser Stelle vorweggenommen - als sozusagen spontanes Erscheinen eines Gottes, der genauso gut verborgen bleiben könnte, vor allem den späteren Fassungen der Manifestation bei Saint-Martin als notwendige Selbstoffenbarung Gottes inkompatibel. 79 Zur paracelsischen Naturdeutung vgl. insbesondere die Studien von Braun 1981 und Pagel 1979. 106 Menschen. Wichtiger aber ist, dass die natürlichen Zeichen Saint-Martins nicht über das Prinzip der Ähnlichkeit definiert sind. Nicht weil der Anblick der Frucht etwas enthält, das ihren inneren Eigenschaften irgendwie ähnelt, ist er ihr Zeichen, sondern weil er Erscheinung und Ausdruck der inneren Prinzipien derselben ist. Dies liest sich nun wieder wie eine moderne organische Beschreibung: Saft und Form der Frucht wären so betrachtet erkennbare Erscheinungsformen eines Organismus, dessen Bauplan beides erklären und in einen Funktionszusammenhang setzen könnte. Aber in diesem Kontext zeigt sich ein grundlegender Unterschied in den ontologischen Annahmen, der Saint-Martins Modell sowohl von diesem späteren als auch von demjenigen seiner ‘philosophischen’ Zeitgenossen trennt. Der ‘Bauplan’, das Prinzip der Frucht ist für Saint-Martin nämlich kein Konstrukt des Betrachters. Die Idee, die ich von ihr habe, ist nicht die mehr oder weniger angemessene Darstellung einer objektiven Realität, die dem Zweifel unterliegt, und das Wort ist auch nicht einfach eine Etikettierung dieser Idee - oder sollte es im Idealfall nicht sein (wie wir schon an der Bevorzugung der natürlichen Zeichen gesehen haben). Verkompliziert wird nämlich Saint-Martins Theorie durch einen systematischen Bruch sowohl auf der Gegenstandsals auch auf der Beschreibungsebene. Dieser Bruch hängt mit der illuministischen Deutung des Sündenfalls zusammen. Für Saint-Martin ist dieser einerseits wesentlich präsenter und schwerwiegender in seinen Auswirkungen als für die meisten seiner Zeitgenossen (ausgesprochene Augustinisten insbesondere in der Nachfolge Pascals ausgenommen), 80 andererseits ist aber diese Präsenz und Bedeutung nicht die einer Strafe, sondern die der Folgen eines von Adam (aber nicht von seinen Nachkommen) verschuldeten Unglücksfalles. Das heißt, der Mensch kann diese Folgen mit Gottes Hilfe aufheben, und dies ist auch seine Pflicht. Daraus ergibt sich zum einen eine Dichotomie zwischen einem ursprünglichen, eigentlichen, und einem abgeleiteten, uneigentlichen Zustand, zum anderen in deren Darlegung eine solche zwischen einer beschreibenden und einer normativen Aussageform: Eigentlich haben die Menschen notwendige, natürliche Zeichen, aber aktuell haben sie fast nur konventionelle. Die Sprachtheorie, die die Zeichen als konventionell hinstellt, ist damit zum einen unzutreffend (bezüglich des eigentlichen Zustandes), zum anderen nur allzu treffend, aber verdammenswert: Ihre Beschreibung der konventionellen Zeichen impliziert fälschlich deren Berechtigung und ist damit selbst sündhaft. So löst sich eines der Hauptprobleme bei der Deutung von Saint-Martins Äußerungen besonders gegenüber den Ideologen: Er behauptet, die Stichhaltigkeit von deren Analysen anzuzwei- 80 Vgl. vor allem die einleitenden Passagen von Saint-Martin 1775. Zu den Augustinisten werden wir noch im Zusammenhang mit den Begriffen des désir und der inquiétude in II, 3 kommen. 107 feln, schließt dann jedoch selbst oft sehr stark an sie an, nur um das Ergebnis als Verfallsstufe darzustellen, deren affirmativer Beschreibung selbst wiederum in normativer Weise ihre Berechtigung abgesprochen wird. Die Archäologie Saint-Martins ist also keine Hinterfragung des scheinbar fraglos Gegebenen im Hinblick auf dessen kontingente Gewordenheit (wie die Foucaults), sondern sie ist Erzählung einer eigentlichen Urgeschichte, die die Gegenwart als Verfallsstufe, deren Hinnahme aber als Einwilligung in den Verfall brandmarkt. Dies verweist auf die grundlegende diskursive Praxis des Illuminismus, die wir in der Einleitung skizzierten: Alles wird auf eine Struktur von Aufstieg und Fall hin gelesen. In diesem Falle ist die Sprache durchweg auf den Sündenfall zu beziehen; eine angemessene sprachliche Tätigkeit ist eine Bemühung um die Überwindung dieses Falles durch einen Wiederaufstieg. Die spezielle martinistische Variante der Hermeneutik des Falles ist demnach die Deutung aller Weltphänomene auf den Sündenfall des Menschen (und, wie wir noch sehen werden, Luzifers) hin. Neben dieser Praxis konstatierten wir jedoch auch noch die grundlegende Annahme des Illuminismus, der Geist sei ewig und die eigentliche Weltstruktur sei geistig. Dies bringt uns zu dem oben unterbrochenen Gedanken zurück, die Idee sei für Saint-Martin kein Konstrukt, aber aktuell werde sie von seinen Zeitgenossen so verstanden. Dies führt in dem Traktat innerhalb von Le crocodile schließlich zu einer Doppelung des Ideenbegriffs in eine eigentliche und eine uneigentliche Idee. 81 Man muss von dieser (die selbst kein Konstrukt ist, aber damit leicht verwechselt werden kann) zu jener fortschreiten, von dem ersten Keim einer Idee, den das Naturzeichen vermittelt, zu der eigentlichen Idee. Wir werden noch sehen, wie das im Einzelnen aussieht. Für den Augenblick wollen wir nur die ontologischen Verhältnisse dieser Relata untereinander klären: Das einzig wirklich Substanzhafte in dieser Relation ist für Saint-Martin die Idee. Sie ist eben gerade nicht eine Wahrnehmung oder Darstellung eines Referenten, der selbst für substanzhaft gehalten wird. Saint-Martin schließt sich an eine neuplatonische Ontologie an, die in den Ideen die eigentliche Realität erblickt, in den vorfindlichen Gegenständen nur deren Abbildung. Wir sahen schon, dass dies innerhalb des Rahmens des Illuminismus eine mögliche Konsequenz der Grundannahme der Ewigkeit des Geistes ist, und identifizieren sie nunmehr als die martinistische. Diese Ontologie liest er radikalisierend mit einer paulinischen Sündenfallsauffassung zusammen: Die ‘unteren’ Abbilder, die natürlichen Zeichen, sind selbst wiederum verfälscht durch den vom Menschen verursachten Fall der Natur, sie sind bloße Illusion geworden, und zwar deshalb, weil sie im Gegensatz zu den 81 Vgl. Saint-Martin 1990, S. 232f. 108 Zeichen der höheren, nicht gefallenen Natur, materiell verdichtet sind. 82 Bevor der Mensch von den Zeichen zu den Ideen vordringen kann, muss er erst einmal die opak gewordenen Naturzeichen wieder zum Sprechen bringen. Er muss also zu der geistigen Gestalt der Schöpfung durchdringen, die ebenfalls, wie bereits dargelegt, Gegenstand einer Grundannahme des Illuminismus ist. Nicht neuplatonisch ist freilich, dass für Saint-Martin die Ideen nichts Statisches haben und der Umgang mit ihnen folglich nicht bei einer Schau stehen bleiben darf. Der Mensch muss die ihm dargebotenen Ideen ergreifen, entwickeln und auf einen noch näher zu betrachtenden terme, der jenseits von ihnen liegt, weiterführen. Dazu aber bedient er sich weiterer Zeichen, auch der Sprachzeichen. Mit ihnen entwickelt er die keimhaften Ideen, die ihm durch die Naturzeichen vermittelt werden. Hugo Friedrich resümiert die Unterschiede von Saint-Martins Sprachauffassung zu der der Aufklärung genau in diesen beiden Punkten, in der geistigen Realität der Ideen und Prinzipien, und in dem aktiven, entwickelnden, Charakter menschlicher Sprachtätigkeit. 83 Aber uns sind zunächst die Berührungspunkte wichtiger. In der oben referierten Vorstellung, unabhängig von ihnen existierende Ideen könnten mit Hilfe der Zeichen gehandhabt werden, trifft sich Saint-Martin mit dem Repräsentationsmodell. Und eine ähnliche Nähe gilt, wie wir in Kapitel II sehen 82 Vgl. auch die Unterscheidung zwischen den oberen und unteren Elementen in der Naturmystik der Renaissance, besonders Ficino, Pico della Mirandola, Georgius Venetus und Agrippa von Nettesheim. Pagel 1979, S. 64, stellt diese Traditionslinie in Bezug auf den von ihr abhängigen Paracelsus dar. In dieser Lehre ist generell die obere Welt der Sterne noch feinstofflich, ihre unteren, irdischen Entsprechungen aber grobstofflich, so dass es für jedes Element der Welt zwei ontologisch unterschiedlich gewertete Versionen gibt. Auch für Paracelsus ist, wie für die Martinisten, „alles Körperliche und Materielle...in Wahrheit nicht existent oder real.“ (Pagel 1979, S. 73). Die Kabbala begründet diese Struktur von real-geistiger oberer und vergröberter unterer Welt mit einer besonderen Deutung des Genesis-Einganges als doppelter, zunächst geistiger, dann physischer, Schöpfung. Die Martinisten begründen sie durch den Fall der Schöpfung, wobei Martines de Pasqually in etwa der Konzeption der eben erwähnten Naturmystik folgt. Saint-Martin schließt hingegen im Laufe seines Lebens immer stärker an Böhme an, für den auch die Sterne der gefallenen Welt angehören und der irdischen Grobstofflichkeit nur deshalb überlegen sind, weil sich nach der Verdichtung und Verdüsterung der Materie an ihnen noch einmal eine gnadenhafte Neu-Schöpfung Gottes vollzog, in deren Zsammenhang sie Träger einer neuen schöpferischen Ausdifferenzierung des durch den Menschen verursachten Chaos’ sind. Vgl. unser Kapitel „Der Roman der Erdgeschichte“ unten. 83 „So wendet sich Saint-Martins Sprachphilosophie in zweifacher Weise gegen die Aufklärung. Einmal liegt diese Wendung darin, daß Saint-Martin in der Sprache ein Gefüge von Symbolen sieht, die auf die geistigen Weltprinzipien hinweisen, welche ihrerseits höher sind als die mechanischen und logischen Gesetze. Zugleich erscheint Sprache als ein aktiver, nicht einmal sehr um den Hörer bekümmerter Ausdruck menschlicher Wesenheiten.“ (Friedrich 1935, S. 171) 109 werden, auch noch für die illuministische Fassung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen. Dieser steht zeichenhaft für jenen ein und soll ihn erkennbar machen, so wie er in seiner Rede die verborgenen substanzhaften Ideen hinter den Naturillusionen erkennbar machen soll. In beiden Fällen wird so eine Relation, die im ‘klassischen’ Denken fraglos und transparent ist, zur Aufgabe. Das Verhältis zwischen Zeichen und Idee wird für das illuministische Denken zum heilsgeschichtlichen Problem. Der illuministische Diskurs als Rede über Aufstieg und Fall vor dem Hintergrund der Ewigkeit des Geistes und der geistigen Gestalt der Schöpfung überkreuzt sich in diesem Text Saint-Martins ganz offensichtlich mit dem der Allgemeinen Grammatik und führt zu Umbesetzungen einzelner Positionen, zur Absolutsetzung einer marginalen Form des Zeichenbezugs und anderen chaotischen Effekten, die wir erst im Gesamtzusammenhang werden würdigen können. An dieser Stelle soll die Lektüre der sprachtheoretischen Äußerungen Saint-Martins fürs Erste unterbrochen werden. Für eine Weiterführung bedarf es noch weiterer Informationen über illuministische Positionen. Diese werden im Zusammenhang mit ihren jeweiligen aufklärerischen Gegenthesen dargeboten werden, und dazu gilt es, Teilaspekte des ‘klassischen’ Denkens aus der oben vorgestellten Grundformation (an der, wie nun deutlich ist, auch die Illuministen bis zu einem gewissen Grade partizipieren) auszufalten. Bevor dies geschieht, soll aber noch die Frage nach einer möglichen Teilnahme der Illuministen an jener klassifikatorischen Wissensform gestellt werden, in der das repräsentative Zeichen in der ‘klassischen’ Epoche, wie wir sahen, zum Einsatz kommt. 1.3. Die Klassifikation der Geister: Martinistische Pneumatologie Der von Robert Amadou vor einigen Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Fonds Z. der von Martines de Pasqually gegründeten Loge (oder, wenn man will: Sekte) der Élus Cohens enthält ein bemerkenswertes Dokument: eine Liste von hunderten von Engelsnamen, 84 die ohne weiteren Kommentar aufgezählt werden, eine Nomenklatur sozusagen, die es dem Adepten erlauben soll, für jeden der Geister, die ihm in seinen theurgischen Operationen begegnen könnten, einen Namen bereit zu haben - ganz in der Weise, wie Namen in der ‘klassischen’ épistemè gedacht sind. Freilich gilt dies nur auf den ersten Blick, denn nicht nur nährt sich die martinistische Angelologie aus geheimen Traditionen, die zunächst einmal nichts mit der offiziellen Wissensform gemein haben, sie tritt auch selbst nicht in die öffentliche Diskussion ein: Es handelt sich um ein Geheimdokument. Wichtiger aber ist, dass diese scheinbar so umfassende Liste niemals vollständig sein kann. Wie wir bei unserer Lektüre des Eingangs von Martines de Pas- 84 in: Amadou 1984 110 quallys Traité noch erfahren werden, emaniert Gott in einer ewigen Gegenwart aus der Unendlichkeit seines Wesens ständig Geistwesen, deren Zahl daher ebenfalls unendlich ist. Das Wissen um die Namen kann das zu Benennende niemals einholen. Dass das menschliche Wissen gerade deshalb die Welt verfehlen muss, weil diese eine unendlich mannigfaltige, stets weiterfließende Produktion einer unendlichen Produktivität ist, wird sich noch an verschiedenen Stellen zeigen. So ist Nomenklatur, auch wenn sie offenbart ist, stets bruchstückhaft. Und noch ein anderer Aspekt trennt die Engelsliste des Fonds Z. von der ‘klassischen’ Nomenklatur: die Magie der Namen. Der Name ist Anknüpfungspunkt der theurgischen Invokationen und Selbstoffenbarung der erscheinenden Geister. In einer „Instruction secrète“ 85 , die der gleichen (von Saint-Martin angelegten) martinistischen Manuskriptsammlung angehört, erfahren wir, dass die kabbalistische Interpretation der Zahlenwerte der Buchstaben von Geisternamen, insbesondere das Produkt der beteiligten Ziffern, das Wesen der jenseitigen Erscheinung anzugeben vermag: So ist ein Geist, dessen Name das Produkt 10 oder 1 ergibt, göttlich, bei 2 oder 11 handelt es sich um einen Geist der Konfusion, also einen bösen Geist, bei 3 um einen „esprit terrestre“, bei 4 um eine „puissance simple“ und so weiter. Wir werden die genauen Hintergründe dieser Zahlen in unserem Kapitel über die martinistische qualitative Mathematik noch erschließen. Festhaltenswert ist an dieser Stelle zunächst, dass das Bestreben, vollständige Namenslisten zu erstellen, zumindest für den Umgang mit der Geisterwelt nur eine Vorarbeit zu einer qualitativen Bearbeitung des Erscheinenden ist. Nicht die Reduktion auf einfache Unterschiede und die Anordnung auf reduktiven Ketten ist das Ziel dieser Liste, sondern die Erfassung des geheimnisvollen Wesens der übernatürlichen Erscheinungen. Gleichwohl zeigt sich in der anhand der Zahlenzuordnungen greifbaren Einteilung auch eine klassifikatorische Tendenz. Im Traité tritt diesbezüglich neben die Zuordnung zu bestimmten Zahlenwerten auch eine Großeinteilung der Geister in supérieurs, inférieurs, majeurs und mineurs. Die binäre Logik dieser Klassenbezeichnungen (es sind zwei Oppositionspaare) kann ihre Verwandtschaft mit den Klassifikationen des klassifizierenden Zeitalters nicht verleugnen, wenn auch der Gedanke einer hierarchischen Pneumatologie bis auf pseudo-Dionysius Areopagita und noch weiter zurück verfolgt werden kann; so säuberlich wie bei Martines, dessen Geister in einer von den ersten zehn natürlichen Zahlen vorgegebenen und von zwei mal zwei oppositiven Hauptklassen artikulierten Ordnung erscheinen, ist die Angelologie kaum je gewesen. Freilich zeigt gerade der Traditionsbezug der Hierarchie der Wesenheiten auch wieder auf einen Unterschied: Die Klassifikation der Geister im 85 Amadou 1988, S. 33 111 Martinismus ist in viel emphatischerer Weise ontologisch als es etwa eine linnaeische Klassifikation von Lebewesen sein könnte. Die Zuordnung der Wesen zu ihren Klassen ist keine bloß erkenntniserleichternde Rasterung, sie macht geradezu die in der göttlichen Emanation konkretisierte Essenz des jeweiligen Geistes aus. Die verschiedenen Klassen sind nicht Definitionssache, ihre Grenzen sind vielmehr göttlich verfügt. Nur Gott kann ein Wesen (wie es in der Tat anlässlich der Schöpfung der materiellen Welt bei Martines geschieht) in eine andere Klasse ‘befördern.' 86 Die Übergänge zwischen den Klassen sind überdies, wie wir anhand der illuministischen Zahlenlehre noch feststellen werden, nicht kontinuierlich, sondern es handelt sich um Abgründe, die nur durch den Vorgang der göttlichen Zeugung überbrückt werden können. Die Teilhabe der martinistischen Pneumatologie am klassifikatorischen Wissen lässt sich, wie man sieht, als kritische Differenzierung begreifen. Wie insbesondere die klare Einteilung der Geisterklassen zeigt, wird hier nicht einfach ohne jede Bezugnahme auf zeitgenössische Wissensformen eine freischwebende Esoterik betrieben. Andererseits wird die eigene Tradition auch nicht bruchlos in diese Wissensformen eingepasst. Vielmehr sieht alles nach einer qualifizierenden Bezugnahme aus, einer anknüpfenden Gegenstellung, die wir als kritische oder subversive Teilnahme zu beschreiben versuchen werden, die am Ende zu Annahmen und Operationen führen wird, die das ‘klassische’ System zumindest lokal sprengen können (man muss beachten, dass der Martinismus ein Lokalphänomen bleibt). Um dies nun auf breiterer Basis unternehmen zu können, sollen im Folgenden wichtige Züge dieser diskursiven Praxis- und Wissens-Form aus den beiden grundlegenden Dimensionen des repräsentativen Zeichens, die wir als Linearität und Referenz schon eingeführt haben, zusammen mit den jeweiligen illuministischen Anteilen daran, entwickelt werden. 86 Zu dieser Konzeption vgl. Mazet 1979, S. 292ff. 112 2. Die Dimension der Linearität Die Linearität der Sprache ist für das achtzehnte Jahrhundert, wie wir sahen, dasjenige, was dieses Zeichensystem vor anderen auszeichnet und zugleich seine Beschränkung und seine Stärke ist. Dadurch, dass jeder Sachverhalt nur in aufeinander in der Zeit folgenden Elementen repräsentierbar ist, wird die Sprache zum Mittel von Zerlegung und Anordnung in einer Abfolge, mithin zum Instrument der Analyse. Diese Analyse zerlegt, wie wir sahen, vor allem zwei Dinge: die komplexe, unanalysierte Wahrnehmung und das Begriffssystem. Da die Systematik der aufeinander aufbauenden Begriffe immer als Kette gedacht ist, die ihrerseits in der Zeit entstanden ist und analytisch nur in der Zeit durchlaufen werden kann, ist hier die Analyse, die die Sprache leistet, die Rekonstruktion einer idealen Genese. Nun wird aber auch die Sprache als Ganzes von Condillac und Maupertuis bis zu Gérando und Destutt de Tracy hauptsächlich durch ihre Genese erklärt, und die Ideologen wollen das gesamte in der Sprache aufbewahrte Wissens- und Ideensystem in einer genetischen Abfolge analysieren. Analyse geschieht so durch eine Genesis-Erzählung, die, wie wir sehen werden, auch auf andere Wissensgebiete übertragen wird. Wichtig ist, dass diese Genese keine Geschichte ist: Diese Genesis-Erzählungen bedienen sich nicht empirischen Materials, das die geschichtliche Gewordenheit des beschriebenen Phänomens belegen könnte, sondern sie sind eine Übertragung des Genese-Modells der Sprach- und Erkenntnislehre auf das jeweilige Gebiet: Die Entstehung der Sprache oder der Erde werden als ideale Aufbaubewegungen aus angenommenen ersten einfachen Elementen beschrieben, zunächst mit dem Ziel, durch diese ‘resolutiv-kompositive Methode’ (wie sie etwa von Geyer kritisch anhand der Naturrechtslehre von Hobbes beschrieben wurde 87 ) komplexe Phänomene aus einfachen Elementen abzuleiten, bald aber auch in der (illusorischen) Hoffnung, tatsächliche Geschichtlichkeit durch hypothetische Herleitungen erklären zu können. Daraus ergibt sich der Aufbau des vorliegenden Kapitels: Nach einem kurzen Blick auf sensualistische Stellungnahmen zur Linearität der Sprache wird das Genese-Analyse-Modell als Denkfigur der Aufklärung exemplifiziert. Sodann wird die Frage nach dem Verhältnis dieses Modells zum Narrativen gestellt. An jeden dieser Punkte knüpft eine martinistische Gegen- oder Anschlussposition an, die je abschließend dargelegt werden wird. Sodann werden zwei Alternativen zum Genese-Analyse-Modell in den Blick genommen: der Mythos als wiedererstandene ältere und die 87 Vor allem Geyer 1997 S. 81ff. 113 Geschichte als sich immer mehr vom Genese-Modell emanzipierende Erzählform. 2.1. Sprache als Analyse und Genese 2.1.1. Der Satz als Analyse der Wahrnehmung Der Anfang von Condillacs letztem Werk, La langue des calculs, lautet: Toute langue est une méthode analitique, et toute méthode analitique est une langue. 88 Allein die Linearisierung komplexer Empfindungen in Aussagesätzen, in Propositionen, ist bereits eine Analyse der sensation. In Foucaults Begrifflichkeit gesprochen: Die Artikulation der Repräsentation mit Namen (die aus Designation und Derivation gewonnen sind) in Attributionen ist die erste und entscheidende Tätigkeit des Erkennens. In seiner Logique gibt Condillac das Beispiel eines zunächst ungeordneten Blicks von einem Schloss in die umgebende Landschaft. Die Gleichzeitigkeit der Elemente in diesem ersten Blick wird mit Hilfe der Aufmerksamkeit aufgelöst in Abfolgen. Herausgegriffene Elemente werden benannt; auch Beziehungen zwischen Elementen sind als benennbare Wahrnehmungen zuhanden und fließen ebenso wie jene in Sätze ein. Am Ende ist die ursprüngliche Gleichzeitigkeit wieder hergestellt, aber nunmehr analysiert: Aus einem wirren Eindruck ist eine Kette geworden. 89 Die Reihenfolge der Glieder dieser Kette ist die der Wahrnehmung. Wir greifen zuerst heraus, was uns am meisten frappiert und so fort. Insofern kann man hier schon sagen, dass die Wahrnehmung der Welt nicht Ermessenssache ist, sondern (wie sich noch genauer zeigen wird) den Fingerzeigen der Natur folgt. 90 Die Sprache ist im Selbstverständnis der Epoche das Instrument, nicht das Objekt dieser Analyse: Da die Ideen ja unabhängig von Sprache existieren, sind die Ideen die Objekte, die mit Hilfe der für sie stellvertretend eintretenden Begriffe und an diesen analysiert werden. Dabei substituieren (re-präsentieren) die Wörter die Ideen, leihen ihnen Körper, und ihre Instrumentalität besteht zumindest teilweise in dieser Substitution, denn es werden ja die Zeichen und nicht eigentlich die Ideen in eine analytische Abfolge gebracht. 91 Insofern mag uns Heutigen das, was Condillacs Schule Analyse der Ideen oder Gedanken nennt, wie eine Analyse der Rede (und im Falle des Begriffssystems: der Sprache) vorkommen. 88 Condillac 1780b, S. 1 89 Condillac 1780a, S. 330ff 90 Condillac 1780a, S. 332-333 91 Vgl. Destutt de Tracy 1796, S. 153: Je abstrakter die Ideen, desto instabiler wären sie ohne Zeichen, denn sie haben keine Modelle in der Natur und daher keinen anderen „soutien que le signe qui les représente.“ 114 Eine kurze Klärung des Ideenbegriffs bei Condillac ist hier angebracht. Es wird kaum nötig sein, daran zu erinnern, dass für Condillac und seine Nachfolger 92 Denken und Empfindung identisch sind. Freilich ist es in diesem Zusammenhang wichtig, im Auge zu behalten, dass die sensation ein geistiges, kein körperliches Ereignis ist. Der physische Sinneseffekt ‘okkasioniert’ die geistige sensation, die Condillac trotz seiner sensualisitischen Ausrichtung ganz im Sinne von Descartes im seelischen Raum ansiedelt - wenn auch in einer Weise, dass dann etwa Cabanis 93 nur eine Position herauszukürzen brauchte, um zu einem weitgehend physisch begriffenen Denken zu gelangen. 94 Die Unbezweifelbarkeit der sensation gilt für Condillac genauso wie für Descartes, wenn er auch gegen diesen darauf besteht, dass alle Gedanken im Grunde sensation oder daraus gebildet sind. Denken ist für Condillac Wahrnehmung von Element- und Beziehungsideen. ‘Ideen’ können optische Eindrücke und daraus abgeleitete Bilder ebenso sein wie andere transformierte Empfindungen (Condillac ist nur gelegentlich ein Vertreter der Bildchen-Theorie), Bezüge, Abstrakta, sogar Schmerzen, Bedürfnisse und Gefühle. 95 Damit ist er ein Erbe des von Descartes vereinheitlichten mentalen Raumes, aber er radikalisiert diese Vorstellung, indem er nun eben alle Ideen als bloße Modifikationen der Seele auffasst und sie alle aus dem, wenngleich noch okkasionalistisch formulierten, 96 Bezug zur Sinnlichkeit herleitet. Was wir in unserem mentalen Raum wahrnehmen, sind also unsere eigenen Gedanken; Denken als Wahrnehmung von ins 92 Vgl. Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 24: „Penser...c’est toujours sentir“. 93 Dies ist die generelle Stoßrichtung von Cabanis 1802, der vor allem darauf bedacht ist, ‘moralische’, also geistige, Phänomene auf körperliche Gegebenheiten zurückzuführen, mithin das innere Geschehen immer mehr in den Bereich des Physischen zu verschieben. Gegenüber Condillac legt er jedoch großen Wert darauf, dass nicht alle Denk- und Handlungsdispositionen aus der sensation stammen können, sondern dass einige instinkthaft bzw. von der Organstruktur abgeleitet sein müssen. Aber auch der sonst nicht besonders materialistisch eingestellte Gérando stellt in Gérando 1800, I, S. 57-62 eine Hypothese über Denken als Verbindung von Hirnzuständen auf, wobei er charakteristischerweise eine Doppelung des Denkraumes in einen topischen und einen physischen vornimmt. 94 Dieser Okkasionalismus gilt auch noch bei Gérando 1800, I, S. 6; vgl. auch Gérando 1802, S. 159 95 So spricht er im Traité des sensations etwa von „idées de contentement et de mécontentement“: Condillac 1754, S. 74 96 Man könnte darin eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber kirchlicher Zensur erblicken, aber interessanter ist, sich zu fragen, was denn eine Mechanisierung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Denken im Sinne etwa des demokritischen Materialismus für Condillac bedeutet hätte. Wir werden weiter unten sehen, dass eine vollkommene Mechanisierung etwa der Natur gar nicht den Argumentationsabsichten Condillacs entsprochen hätte, die im Einklang mit einer allgemein aufklärerischen Richtung eher dahin gehen, Natur, ja Materie, und Geist (gegen Descartes) wieder zusammenzubringen. Vgl. dazu Kondylis 1986, S. 235ff. 115 Bewusstsein tretenden, von außen okkasionierten Sensationen wird so fast zu einem passiven Vorgang. 97 Die ganze Operation des analytischen Herausgreifens von Wahrnehmungsaspekten ist nun zwar einerseits wesentlich eine Errungenschaft der Sprache, andererseits findet sie für Condillac rudimentär auch schon vorsprachlich statt. In seiner Grammaire behauptet er beispielsweise, es sei möglich, mit Hilfe der attention schon auf der Ebene der stummen Anschauung eine komplexe Wahrnehmung zu zerlegen. Dies gilt insbesondere für Konfigurationen von Sinneseindrücken, die aus verschiedenen Sinnesorganen stammen: Die Eindrücke sind durch die Verschiedenheit der Sinnesorgane bereits sortiert, was Condillac in diesem Fall mit einer ersten Analyse gleichsetzt. Man gelangt so zu Einzelideen, die dann in eine Sukzession überführt werden, aber ohne dass Zeichen zur besseren Handhabbarkeit für sie eintreten müssten. Die sensualistische Lehre von den Ideen als Wahrnehmungen oder Empfindungen behält also die cartesische Vorstellungen von den Ideen als selbständigen Entitäten (und nicht etwa Zuständen), die eine nicht materielle, aber dennoch (oder gerade deshalb) unbezweifelbare, substanzhafte Existenz haben, bei. Man kann sie sich auch ohne Sprache in einer ansatzweise analysierten Abfolge vorstellen. 98 Ainsi décomposer une pensée, comme une sensation, ou se représenter successivement les parties dont elle est composée, c’est la même chose. 99 Gleichwohl bleibt die Sprache der Idealfall dieser Analyse, wie die Grammaire nur eine Seite weiter versichert: Si toutes les idées qui composent une pensée sont simultanées dans l’esprit, elles sont successives dans le discours: ce sont donc les langues qui nous fournissent les moyens d’analiser nos pensées. 100 Diese Ambivalenz erwächst aus einer Modifikation, die Condillac an seiner im Essai sur l’origine des connaissances humaines dargelegten Lehre der Sprachabhängigkeit des Denkens vorgenommen hat. 101 Dort hatte er etwa von Verbindungen zwischen Ideen gesagt, diese seien ohne Zeichen über- 97 Condillac 1746, S. 11: „...ce n’est jamais que notre propre pensée que nous apercevons.“ Gérando wendet sich später gegen diese Passivität; Näheres dazu unten unter „Mechanik des Urteils.“ 98 Condillac 1775/ 1782, S. 378-380; die Analyse durch die Sinnesorgane wird auf S. 389 erläutert. 99 Condillac 1775/ 1782, S. 381 100 Condillac 1775/ 1782, S. 382 101 In einem Brief an Maupertuis merkt er selbstkritisch an, bei seinem Versuch, die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache aufzuzeigen, dieser denn doch einen zu großen Anteil daran zugeschrieben zu haben: „Je souhaiterois que vous eussiez fait voir comment les progrès de l’esprit dépendent du langage. Je l’ai tenté dans mon Essai sur l’Origine des Connoissances humaines, mais je me suis trompé et j'ai trop donné aux signes.“ (Condillac 1947-51), II, S. 536) 116 haupt nicht herstellbar - und die Analyse als Abfolge vereinzelter Empfindungselemente ist immer auch eine Verbindung eben in der Abfolge des Satzes: Les idées se lient avec les signes, et ce n’est que par ce moyen […] qu’elles se lient entre elles […] 102 Die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache ist zwar ein von Locke geerbtes Lieblingsthema, das Condillac an die idéologues weiter geben wird. Diese Konzeption untergräbt immerhin die intellektualistische Vorstellung von der Souveränität des Denkens, die sich bei Descartes findet, und ist ein wichtiges Instrument der Kritik an den ‘Systemen’, denen Condillac bekanntlich im Traité des systèmes vorwirft, sie entstünden teils durch blinden Glauben an unanalysierte Begriffe. Das Denken der Metaphysiker geht nach Condillacs Auskunft der Sprache auf den Leim, indem es leere Begriffe, denen keine Idee zugeordnet ist, einfach akzeptiert und in sinnlosen Distinktionen ausarbeitet. Insofern ist die These der Sprachabhängigkeit des Denkens Bestandteil der allgemeinen anti-intellektualistischen Wendung der Aufklärung, wie sie Kondylis beschreibt. Freilich ist weder Locke noch Condillac hier wirklich konsequent; das wäre wohl auch innerhalb des Repräsentationsmodells, das ja die Unabhängigkeit der Ideen von den Wortkörpern allem Denken zu Grunde legt, kaum möglich: Die Vorstellung von der Sprachabhängigkeit des Denkens kann nicht ohne Schwierigkeiten für das Denken, das sie trägt, bis zu derjenigen von der Sprachlichkeit der Ideen selbst vorangetrieben werden. Diese antiintellektualistische Konzeption hat aber neben ihrem Descartes-kritischen Potential auch noch eine affirmative Seite, unterstreicht sie doch die Anwendbarkeit des cartesischen Dualismus auf das Bild vom Menschen: Denn wenn Denken nur dort ist, wo Sprache ist, so unterscheidet sich der Mensch (der nach dieser Auffassung als einziger Sprache hat) auch im Denken von allen anderen Wesen. Kondylis hat gezeigt, dass das achtzehnte Jahrhundert versucht, gerade diese Opposition zu zerstören, um eine potentiell geistige Materie annehmen zu können, denn das, was er ‘die neue Idee vom Ganzen' 103 nennt, ist ein Versuch, im Anschluss an Newton eine holistische Auffassung von der Natur zu formulieren, in der die res cogitans Bestandteil der Natur sein muss. Kondylis’ These ist, dass die aufklärerische Rationalität insgesamt sehr stark an bestimmte inhaltliche Positionen (wie etwa diese) gebunden ist. Aus der generellen Tendenz zur Rehabilitation der Sinnlichkeit - einmal als Empirie, einmal als psychische Sinnlichkeit - erwächst der Versuch, den Menschen zugleich als Herrscher über die (wissenschaftlich verfügbar gemachte) Natur und selbst als (sinnliches) Naturwesen zu denken, bezie- 102 Condillac 1746, S. 6 103 Vgl. Kondylis 1986, S. 235ff. 117 hungsweise umgekehrt die Natur zum einen als Dienerin, zum anderen als treu sorgende Mutter. 104 Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur muss vor diesem Hintergrund ein solches der Harmonie sein. Der aufklärerische Rationalitätsbegriff ist, wie Kondylis zeigt, abhängig von der inhaltlichen Bindung an die Harmonie mit der Natur, ja Ratio ist für die Aufklärung schlechthin Natur. Wir werden noch sehen, dass gerade bei Condillac die menschliche Erkenntnis überhaupt nichts der Natur Gegenüberstehendes, sondern etwas aus ihr Erwachsendes ist. Damit das Denken Natur sein kann, muss es aus der Natur kommen und also auch bei anderen Naturwesen feststellbar sein. Gelingt es, den Tieren rudimentäre Formen des Denkens zuzuschreiben, so verwischt sich die Grenze zwischen dem Geist und der Materie. Dahin führen zwei Wege, die Condillac beide beschreitet. Zum einen die Herleitung der Sprache aus natürlichen Gegebenheiten: Wenn die Sprache, wie wir in Condillacs Sprachursprungstheorie sehen werden, aus der Natur kommt, so haben auch die Tiere zumindestens potentiell Sprache. Da dies jedoch nicht genügt, weil aktuell so gut wie keine Sprache beim Tier zu beobachten ist, muss die feste Zuordnung von Sprache und Denken gelockert werden. Dies hat Condillac ansatzweise auch schon im Essai, 105 vor allem aber in seinem Traité des animaux, sowie im Traité des sensations, versucht. Gerade die Abhandlung über die Empfindungen führt uns ja über weite Strecken ein vorsprachliches Denken mit Hilfe von Vergleichsoperationen an nicht sprachlich etikettierten sensations vor; Gérando wird Condillacs Traité später eben dafür kritisieren, dem vorsprachlichen Denken zu viel zugetraut zu haben. 106 So versucht Condillac zu zeigen, wie die Aufmersamkeit bereits Aspekte einer bloßen Wahrnehmung isolieren kann. Insofern findet die Analyse der Wahrnehmung auch schon vor der Sprache statt. Gleichzeitig aber legt Condillac, wie gesagt, großen Wert darauf, dass das eigentliche Mittel zur Dekomposition der sensation und mithin der damit gleich gesetzten pensée die Sprachen sind, die er „comme autant de méthodes analitiques“ 107 betrachtet. Dieser Widerspruch erklärt sich aus den beiden polemischen Argumentationsrichtungen - gegen den Intellektualismus und gegen die Trennung von Geist und Ausdehnung - die beide in das typisch aufklärerische Programm Condillacs gehören. Auf der Ebene der Sinne urteilen mithin auch die Tiere: Dès que nous ne pouvons apercevoir séparément et distinctement les opérations de notre âme que dans les noms que nous leurs avons donnés, c’est une consé- 104 Vgl. Kondylis 1986, S. 171. 105 Bereits hier wird den Tieren zugestanden, sie könnten alle nicht auf Sprache angewiesenen Denktätigkeiten durchführen, also alles, was auf der Ebene der imagination liegt. Condillac 1746, S. 62 106 Gérando 1800, I, S. XV 107 So heißt das Kapitel VI der Grammaire (Condillac 1775/ 1782). 118 quence que nous ne sachions pas observer de pareilles opérations dans les animaux, qui n'ont pas l’usage de nos signes artificiels. Ne pouvant pas les démêler en eux, nous les leur refusons; et nous disons qu’ils ne jugent pas, parce qu’ils ne prononcent pas comme nous des jugemens. Vous éviterez cette erreur, si vous considérez que la sensation enveloppe toutes les idées et toutes les opérations dont nous sommes capables. Si ces idées et ces opérations n’étaient pas en nous, les signes artificiels ne nous apprendraient pas à les distinguer. Il les suppose donc; et tout animal qui a des sensations, a la faculté de juger, c’est-à-dire d’apercevoir des rapports. 108 Condillac kann hier so etwas wie ein implizites Urteil annehmen, weil er das Urteil, ebenso wie die darin verbundenen Ideen und überhaupt alles Denken, als Wahrnehmung auffasst. Wir können innerhalb einer komplexen Wahrnehmung sowohl einzelne Elemente isolieren als auch Beziehungswahrnehmungen zwischen diesen erfahren. Nur deshalb, weil diese Möglichkeiten von der Natur schon vorgegeben sind, können wir überhaupt eine sprachlich analysierte Form davon, eine Proposition, entwickeln. Die Tatsache, dass wir das bei den Tieren nicht feststellen können, gründet andererseits in gewisser Weise wieder auf der damit in Abrede gestellten Sprachabhängigkeit des Urteils. In seiner reflektierten Form nämlich, in der allein es distinkt wahrnehmbar ist, ist es nur mit Begriffen möglich. Die Differenz, die die als so wichtig bezeichnete Sprache ermöglicht, ist mithin für Condillac nur die zwischen konfusem und distinktem Urteil 109 oder sprachgeschichtlich gesehen zwischen Anlage und Entwicklung der Denkfähigkeit. 110 Noch Gérando wird im Jahre 1800 die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache mit der Sprachunabhängigkeit der Ideen über den Begriff der Repräsentation und eine Rahmenmetapher der Zeichen als „ministres de nos idées“ zusammenzudenken versuchen. 111 108 Condillac 1775/ 1782, S. 387 109 - denn ohne Zeichen sind die Ideen nicht klar; so können wir uns etwa ohne Zahlenbegriffe keine klaren Vorstellungen von Anzahlen machen. Vgl. Condillac 1746, S. 131. Wir werden in unserem Kapitel „Referenz“ eine Analyse des Urteils durch Condillac betrachten, in welcher dieser genau wie in der oben zitierten Passage ebenfalls in zwei Richtungen wird argumentieren müssen: In einem Abschnitt der Grammaire, der den großen Nutzen der Zeichen für die Analyse einer Wahrnehmung in Attributionen behandelt, wird Condillac gleichzeitig die dieser These widersprechende Möglichkeit des impliziten Urteils zu verteidigen suchen - eine Folge der soeben aufgezeigten Gegenstellung seiner generellen Argumentationsziele. 110 „...je suis convaincu que l’usage des signes est le principe qui développe le germe de toutes nos idées.“: Condillac 1746, S. 10 111 Gérando 1800, II, S. 6: „Et d’abord, si les signes artificiels exercent une directe influence sur les opérations de notre esprit, ce ne peut être que comme ministres de nos idées, comme ayant servi à leur formation, servant encore à les exciter, et à diriger sur elles l’attention de notre esprit, ou à les représenter même en leur absence.“ 119 Diesen gewissen Grundwiderspruch entdeckte übrigens Saint-Martin in den Vorlesungen Garats. In der Entgegnung darauf (die wir schon kennen), macht er Garat darauf aufmerksam, dass dieser zwar einerseits als Gegenargument gegen Rousseaus Behauptung, 112 die konventionelle Einführung von Sprache sei ohne eine zu diesem Zweck bereits verfügbare Sprache gar nicht denkbar, den immer schon vorhandenen natürlichen Zeichengebrauch und mithin die Vorstellung von einem vorbegrifflichen Denken gebraucht - dass er aber andererseits diese Konzeption durch besondere Betonung der Sprachverflochtenheit des Denkens wieder negiert. 113 Saint- Martin legt also den Finger genau auf den Widerspruch, der aus den unausgesprochenen polemischen Zielen der Aufklärer erwächst - wohl, weil er diese Ziele (und die durch sie verdeckten blinden Flecken) nicht teilt. Die Analyse der Ideen durch Überführung in eine analytische Sukzession in der Sprache ist also zunächst ein Mittel der Reflexion, denn nur in dem Maße, in welchem wir selbst unsere Ideen analysiert haben und uns über unsere Urteile überhaupt klar geworden sind, können wir sie dann anderen weitergeben. Der anderen gegenüber geäußerte Satz ist mithin das Ergebnis einer zunächst für uns selbst vorgenommenen Attribution: En effet, nous ne pouvons montrer successivement aux autres les idées qui coexistent dans notre esprit, qu’autant que nous savons nous les montrer successivement à nous-mêmes […] 114 Im Anschluss daran kann diese Gedankensukzession geäußert werden, und erst dann ist Sprache Kommunikationsmittel. Umgekehrt ist etwa für Gérando der Wunsch, sich mitzuteilen, auch Anreiz zur Analyse der eigenen Gedanken. 115 In jedem Falle geht diese der Äußerung voraus. Condillac und seine Schule nehmen damit eine Mittelstellung ein zwischen einer Auffassung, die Sprache nur als Übersetzung unabhängig von ihr stattfindender Gedanken nach außen betrachtet und einer solchen, die die Möglichkeit des Denkens grundsätzlich an Sprache bindet. Für Condillac dient die Sprache primär dazu, dem Denkenden klare Rechenschaft über die bereits vor der Sprache konfus wahrgenommene Denktätigkeit zu verschaffen und damit natürlich komplexe Denkoperationen zu ermöglichen, die ohne die Sprache nicht möglich wären. Eine Kundgabe nach außen ist immer erst nach dieser Reflexionstätigkeit möglich. Die Analyse geht aber noch weiter. Der analytische Satz kann mit Hilfe höherer Begriffe in abstraktere Aussagen überführt werden, die ersten Begriffe können mit Hilfe weiterer Sätze als Sonderfälle abstrakterer Begriffe definiert werden. Am Modell der Mathematik entwickelt die Schule Condillacs, wie wir immer wieder feststellen werden, ein Ideal tautologi- 112 Vgl. Rousseau 1755, S. 130 (und unten). 113 Saint-Martin 1990, S. 304 114 Condillac 1775/ 1782, S. 399 115 Gérando 1800, I, S. 138-139 120 scher Gewissheit, die darauf beruhen soll, dass neue Aussagen möglichst Transformationen bereits gemachter, und neue Begriffe Transformationen von Sensationen sein sollen. Daher werden auch alle Urteile als analytische gedacht. Ist die erste Empfindung einigermaßen verlässlich, so bleiben auch ihre tautologischen Umformungen wahr. Dies werden wir im Kapitel „Referenz“ näher untersuchen. Für den Augenblick aber gilt es, zunächst diese Begriffsableitungen, dann das Universalprinzip, das für diese ebenso wie für die gerade betrachteten analytischen Sätze - sowie für jede Rede überhaupt - gelten soll, in den Blick zu nehmen. Die Nähe dieser Operationen zur Mathematik wird uns sodann zeigen, dass Wörter in diesem Denken aufgefasst werden wie Zahlzeichen: als bloße Etikettierungen von Zwischenergebnissen. 2.1.2. Ideenketten: Die nominalistische Tendenz der Schule Condillacs Von der Zerlegung von Wahrnehmungen gelangen wir nach Condillac zum Aufbau von Ideenfiliationen, von der Analyse zur Genese von Allgemeinbegriffen. Diese dienen der Bequemlichkeit. Würden wir nämlich allen Individuen Individualnamen geben, so wäre unser Gedächtnis überfordert. Deshalb fassen wir Ähnliches zu Gruppen zusammen, die als genres und espèces Begriffshierarchien bilden. 116 In Gérandos Sprachgebrauch sind so die Klasseneinteilungen (die selbst nur in unseren Ideen existieren 117 ) durch Ideenhierarchien ‘repräsentiert’; man kann hier unschwer erkennen, wie nah Foucaults in unserem Kapitel 1.1. referierte Formulierungen den durch sie beschriebenen Quellen sind: Ainsi, nous aurions obtenu une longue suite de classes subordonnées les unes aux autres, représentées par une égale série d’idées abstraites aussi subordonnées entre elles. 118 Die Ordnung der Ideen und mithin der Wahrnehmung von Welt ist eine Leistung des Menschen, wie die Ordnung einer Bibliothek oder Armee, wenngleich, wie wir noch genauer sehen werden, die Natur die Voraussetzungen dafür zur Verfügung stellt. 119 Den Begriffsrechnungen der horizontalen Satzketten stehen also topische Ordnungen auf vertikalen Ketten gegenüber, die jedoch auch selbst wiederum in horizontalen Satzfügungen gebildet und anschließend mit ihrer Hilfe durchlaufen und wieder analysiert werden. 120 Je strenger diese Operation durchgeführt wird und je genauer man darauf achtet, von ersten 116 Condillac 1780a, S. 346 117 Vgl. auch Gérando 1802, S. 149. 118 Gérando 1800, II, S. 21 119 Gérando 1800, II, S. 26-27 120 Condillac 1780a, S. 404-420 121 Wahrnehmungsideen auszugehen, desto besser ist die analytische Sprache, die man erhält. 121 Es gibt in dieser Vorstellung auch überhaupt nichts ‘Apriorisches’: Selbst Raum und Zeit sind im Laufe der Sinnestätigkeit entwickelte Konstrukte, deren einzige Gewissheit in ihrer richtigen Ausbildung aus ersten Sensationen liegt. Deshalb betrachtet Destutt de Tracy Kants Philosophie, die die ideologische Absolutsetzung der Derivation nicht mitmacht, 122 als unverständlich. Die Sprachen sind also Ergebnisse und Instrumente zugleich, oder genauer: Die Begriffssysteme sind weiterverwendbare, jedoch stets zu überprüfende Zwischenergebnisse. Die Güte dieser Zwischenergebnisse bestimmt ihre Verwendbarkeit. So kann Condillac den zweiten Teil seiner Logique mit „l’art de raisonner réduit à une langue bien faite“ überschreiben. 123 Ein besonders gutes Beispiel für eine Sprache ist für ihn die Algebra. 124 Der Aufstieg vom Konkreten zum Abstrakten ist nun, wie bei Locke, 125 eine Reduktion durch Abstraktion zum Zwecke der Klassifikation: Die erste Idee, wie sie etwa durch einen Individualnamen repräsentiert wird („idée particulière“ 126 ), ist eine „idée totale,“ denn sie beinhaltet all das, was daraus abstrahiert werden kann. Gérando bemerkt, die pensée als Gesamtheit der Eindrücke eines Augenblicks sei immer zusammengesetzt. 127 Die „idée totale“ bezieht sich bei Condillac auf die Individuen in der Natur; die Natur kennt nur solche. 128 Die Abstrakta, die in dieser Individual- oder Totalidee enthalten sind, existieren nur in uns und dienen nach 121 Condillac 1780a, S. 417-419 122 In seiner Auseinandersetzung mit Kant betont er, dessen Annahme apriorischer Erkenntnisformen fuße auf einer Unkenntnis der Arbeitsweise des menschlichen Geistes, denn es handle sich hier um generelle Ideen, die erst aus vielen Einzelideen entwickelt werden konnten. Vgl. Destutt de Tracy 1992, S. 282f. In Destutt de Tracy 1801/ 1817, S. 164-165, betont er, dass der Raum kein wirklich existierendes Wesen, sondern eine Abstraktionsleistung des Menschen ist; dass es sich um weder das eine noch das andere, sondern eine apriorische Anschauungsform handeln könnte, von der sich der Mensch dann durchaus im Sinne von Destutts Ordnung der Derivation erst im Anschluss an erste Wahrnehmungen in einem abstrakten Begriff Rechenschaft geben könnte, bedenkt er nicht. De Gérando nimmt gar an, Kant habe Zeit und Raum für angeborene Ideen im Sinne etwa von Descartes gehalten (vgl. die Kapitel zu Kant in Gérando 1802 und 1804). 123 Condillac 1780a, S. 390 124 Condillac 1780a, S. 442-443; vgl. auch La langue des calculs, Condillac 1780b 125 Vgl. Locke 1690, III,iii; hierzu auch: Schreyer 1990, S. 403 126 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 102: „L’idée particulière d’un individu renferme toutes les idées qui lui appartiennent.“ 127 Gérando 1800, I, S. 135-136: Da die pensée sowohl mehrere Objekte wie mehrere Wahrnehmungsaspekte enthält („double composition“), ist auch die Analyse eine doppelte („double analyse“). 128 Vgl. Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 87. 122 Gérando lediglich der Handhabbarmachung der Mannigfaltigkeit des Erfahrenen durch Reduktion. 129 Die Analyse einer solchen konkreten Totalidee ist immer als analytisches Urteil gedacht, auch dann, wenn sie nach unseren Begriffen ein synthetisches Zusammenführen mehrerer Abstrakta ist. Denn - so etwa Destutt de Tracy 130 - sie enthält nichts grundlegend Neues; sie entfaltet nur, was in dieser Totalidee enthalten ist. So ist die Idee homme nach Condillac in der Totalidee des Individuums Paul enthalten, ebenso in Pierre. (Die Lehre vom Urteil werden wir unter „Referenz“ noch genauer betrachten.) Im Augenblick ist für uns wichtig, dass in diesem Beispiel das Konstrukt homme nur deshalb eine unabhängige Existenz in unseren Köpfen hat, weil wir es abgelöst von der Totalidee betrachten. Daher nennt man es ein Abstraktum. 131 Es wird gebildet, indem man aus einer Menge von Individualideen das Gemeinsame isoliert. 132 Aber es bleibt ein Name: Mais qu’est-ce au fond que la réalité qu’une idée générale et abstraite a dans notre esprit? Ce n’est qu’un nom; ou, si elle est quelque autre chose, elle cesse nécessairement d’être abstraite et générale. 133 Berkeley bezweifelt gegenüber dieser lockistischen Konzeption sogar die Existenz der abstrakten Ideen selbst; für ihn wäre diesem Namen keine Idee mehr zugeordnet. 134 Vielmehr ist für ihn der allgemeine Name ein einheitlicher Repräsentant einer Gruppe von Individualideen, die selbst keine Einheit mehr bilden. Die „idées générales“ sind auch für Destutt „de pures créations de notre esprit,“ 135 aber als solche doch existent. Jedes Zeichen fixiert nur ein Zwischenergebnis des Begriffsrechnens (bei Berkeley entspricht dieses einer Menge, bei Destutt sozusagen einer Zahl), und dieses Ergebnis kann korrekt sein oder nicht: […] que tout signe est l’expression du résultat d’un calcul exécuté, ou, si l’on veut, d’une analyse faite, et qu’il fixe et constate ce résultat; ensorte qu’une langue est réellement une collection de formules trouvées, qui ensuite facilitent et 129 Gérando 1800, II, S. 17. Vgl. ebenso Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 86. Für Destutt leistet im Grunde jedes zeichen eine Reduktion des mannigfaltigen, da es eine konkrete Anscahuung durch die mit dem Zeichen verbundene Ideenauswahl ersetzt. Dadurch ist die durch das Zeichen aufgerufene Idee, auch wenn sie komplex ist, immer blasser und allgemeiner, aber auch detailärmer als die Perzeption, aus der sie gebildet wurde; vgl. Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 348-52 130 Destutt de Tracy 1796, S. 118; zum Individualnamen für diese individuelle Totalidee vgl. auch Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 82 131 Condillac 1780a, S. 417-418 132 So auch bei Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 77 133 Condillac 1780a, S. 418 134 Vgl. Berkeley 1710, S. 54; hierzu Schreyer 1990, S. 405-407 135 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 399 123 simplifient merveilleusement les calculs ou analyses qu’on veut faire ultérieurement. 136 Die Bedeutung dieser Zwischenergebnisse für das immer als aufsteigender Prozess beschriebene Denken liegt nur darin, dass sie erlauben, neue Begriffsrechnungen nicht von ganz unten anfangen zu lassen, sondern schon in einer gewissen Abstraktionshöhe anzusetzen. Diese Abbreviationen können jedoch bei Bedarf explizit gemacht und überprüft werden; jedes Zwischenergebnis kann durch Rückstieg hinterfragt werden. 137 Man sieht hier, dass die Reduktion, die Grundlage des wissenschaftlichen Denkens im westlichen Sinne ist, in dieser wichtigen Epoche jenes Denkens nicht nur allgemein sprachtheoretisch reflektiert wurde, sondern gerade in ihrer Hinordnung auf die Mathematik, die durch sie erst welthaltig und anwendbar wird. Der Anspruch, die Natur mit Hilfe der Mathematik und der Reduktion adäquat erfassen zu können, fußt freilich auf der Annahme der Regelmäßigkeit und Kontinuität der physis selbst. Die Reduktion gewinnt also, auch wenn ihre Ergebnisse nur Namen sind, ihre Relevanz doch aus der fundierenden Annahme von der Natur als Kosmos. Diese Setzung geht aller Herausbildung begrifflicher Instrumente voraus. Gérando bemerkt, dass man bei der Bildung der Abstrakta irgendwann zu Begriffen gelangt, die sich nicht weiter zerlegen lassen, etwa Sein, Raum, Dauer. Aber er sagt nicht, dass diese deshalb allen Sprachen gemein oder gar besonders verlässlich seien. 138 Im Gegenteil: Gerade bei der Herausbildung komplexer Begriffe folgt jede Nation ihren durch Gegebenheiten wie Klima und Ähnliches verschieden ausgeprägten Bedürfnissen und Entwicklungen. Da diese desto unterschiedlicher sind, je weiter sie sich vom ‘ursprünglichen’ Menschsein entfernen, fallen gerade die Abstrakta bei den Völkern verschieden aus; für Gérando gibt es auf dieser Ebene gelegentlich sogar so etwas wie Unübersetzbarkeit, für Maupertuis ist diese sogar ein Zeichen dafür, dass vor allem voneinander weit entfernte Sprachen auf vollkommen verschiedenen „plans d’idées“ beruhen können. 139 Daraus folgt die Klassifizierung und Rangfolge der Ideen im Modell der idéologues: Die ersten und sichersten (und daher auch universell anzutreffenden) sind die sensiblen Ideen - Les idées abstraites ne sont que les fragmens détachés par la décomposition de nos idées sensibles; les idées complexes ne sont à leur tour, qu’un assemblage d’idées sensibles ou abstraites. 140 136 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 323 137 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 339 138 Gérando 1800, I, S. 152 139 Gérando 1800, I, S. 176-177; vgl. auch ebenda, II, S. 23. Maupertuis 1748, II, S. 31 140 Gérando 1800, II, S. 10 124 Verschiedene komplexe Begriffe können zwar Gleiches bedeuten, aber in sich je verschieden strukturiert sein und so verschiedene Aspekte und Verkettungen implizieren. 141 Hier bietet sich zweifellos ein Anknüpfungspunkt für eine Semantik, die das Repräsentationsmodell, wie erwähnt, zunächst nicht vorsieht, die sich aber, wie Gerda Haßler gezeigt hat, im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts namentlich anlässlich der Betrachtung fremder Sprachen herauszuschälen beginnt. 142 Destutt de Tracy bemerkt, die Arbeit der Rekonstruktion der exakten Ideenkonstellation, die ein anderer mit einem Zeichen verbindet, das wir von ihm neu erlernen, sei nie ganz abschließbar. Perfekt transparent seien die Zeichen damit nur für ihren jeweiligen Erfinder; für jeden anderen Benutzer bleibt ein Rest von Unbestimmtheit oder zumindest Abweichung. - Sogar der Erfinder selbst könne bei späterer Wiederbenutzung nicht sicher sein, er verstehe „exactement sous ce signe la même collection d’idées que la première fois.“ 143 Man sieht aber gerade an dieser Formulierung, dass nach wie vor die Ideen unabhängig von den Wortkörpern gedacht werden (obwohl Destutt sogar bemerkt, dass die abstrakte Begriffsarbeit sich eigentlich an diesen und nicht an jenen vollzieht 144 ) und von diesen nur aktualisiert werden. Letztlich leben die idéologues in der von ihren eigenen Schriften widerlegten Illusion, es komme doch nur auf die Exaktheit der Relationen zwischen selbst fix bleibenden Größen an. So sind die Phänomene eines semantischen Gleitens denn auch noch für Gérando nur zu behebende oder vermeidbare Unfälle; Schludrigkeiten bei der Ableitung der Begriffe, die zu Interpretationsbedarf bei regionalen und sozialen Bedeutungsunterschieden führen, müssen vermieden oder rückgängig gemacht werden. 145 Schon Maupertuis bemerkt kritisch, dass ein Kind, das eine Sprache lernt, nicht wirklich die ‘ersten’ und daher sichersten Ideen kennenlernt, sondern eher die Vorurteile seiner Erzieher, die für eine ‘richtige’ Begriffsverwendung später korrigiert werden müssen. 146 Bis hin zu den idéologues werden Definitionen komplexer Ideen analog zu mathematischen Gleichungen gesetzt, also auf eine ideale ‘korrekte’ Herleitung bezogen, die man objektiv verfehlen oder treffen kann. 147 Auch für Destutt ist der soziale Prozess der Abgleichung der Ideen ein solcher der rectification. 148 Dies aber bedeutet am Ende dann doch, dass es eine richtige und eine falsche Begriffsherleitung gibt: Die Annahme der Strukturiertheit der Natur ergibt, zusammengenommen mit der Sicherheit der ersten Wahrneh- 141 Gérando 1800, I, S. 177-183 142 Haßler 1990, S. 274 143 Destutt de Tracy 1796, S. 145-146; außerdem Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 422-423 144 Vgl. Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 325ff und 334f. 145 Gérando 1800, I, S. 222-223 146 Maupertuis 1748, III, S. 32 147 Gérando 1800, II, S. 68 148 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 423 125 mungen, bei allem „nominalisme fondamental,“ 149 den auch Foucault der Epoche bescheinigt, immer noch die Hoffnung, es müsse möglich sein, durch strenge Ableitung zu weltrelevanten Allgemeinbegriffen zu gelangen, wenn diese Hoffnung auch utopische Züge trägt. 150 Näheres dazu in unserem Kapitel „Referenz“. 2.1.3. Die Liaison als Universalprinzip von Topik und Analytik Wir haben oben schon von Condillac erfahren, dass die Ideen sich durch die Zeichen verbinden lassen und nur durch sie. Die bloße Relation zwischen Idee und Zeichen und Zeichen und Idee begründet demnach auch diejenige zwischen Idee und Idee. Damit ist im Einklang mit den von uns oben explizierten Grundlagen des Repräsentationsmodells im Sinne von Foucault die Repräsentation, die Wiedervergegenwärtigung durch Verweis, die Grundlage der Beziehungen zwischen Idee und Zeichen ebenso wie zwischen zwei Zeichen und zwischen zwei Ideen. Dies gilt sowohl im Satz, insofern als hier Zeichen in syntaktische Verbindung treten können, als auch in der durch den Satz analysierten komplexen Wahrnehmung, die ja nur das Implizite im Verhältnis zum Expliziten der Proposition darstellt; und analog gelten diese Verhältnisse für Begriffssysteme, wo die Beziehungen solche innerhalb einer Topik sind und auch wieder in Sätzen auseinandergefaltet werden müssen. L’attention que nous donnons à une perception qui nous affecte actuellement nous en rappelle le signe: celui-ci en rappelle d’autres avec lesquels il a quelque rapport; ces derniers réveillent les idées auxquelles ils sont liés; ces idées retracent d’autres signes ou d’autres idées […] 151 Diese Homogenität ist nun von Condillac und seinen Nachfolgern auch reflexiv eingeholt worden, und zwar durch den Begriff der liaison. Insofern, als diese sowohl die Beziehung zwischen Zeichen und Idee wie auch diejenige zwischen den Einzelideen innerhalb von Totalideen und innerhalb der im vorigen Kapitel behandelten Begriffshierarchien bezeichnet, ist die Homogenität der Repräsentation in der Benennung der liaison als Universalprinzip von Topik und Analytik erfasst. Knight weist darauf hin, dass dieses „Newtonian Principle“ Condillacs zwar in der philosophischen Literatur seit Aristoteles vorbereitet ist, seine universelle Ausarbeitung jedoch Condillacs persönliche Leistung sein dürfte. 152 Am Anfang des Essai sur l’origine des connaissances humaines erläutert er die Universalität seiner Konzeption: 149 Foucault 1966, S. 133 150 Vgl. Destutt de Tracy 1796, S. 147-148. 151 Condillac 1746, S. 51 152 Knight 1968, S. 32-33 126 […] nous ne devons aspirer qu’à découvrir une première expérience que personne ne puisse révoquer en doute, et qui suffise pour expliquer toutes les autres. Elle doit montrer sensiblement quelle est la source de nos connaissances, quels en sont les matériaux, par quel principe ils sont mis en œuvre, quels instrumens on y emploie, et quelle est la manière dont il faut s'en servir. J’ai, ce me semble, trouvé la solution de tous ces problèmes dans la liaison des idées, soit avec les signes, soit entre elles […] 153 Gleichwohl kann diese liaison näher bestimmt werden. Für die Beziehung zwischen Zeichen und Idee haben wir dies schon betrachtet; es sei an die Dimensionen der Art (enthalten - getrennt), des Ursprungs (natürlich - konventionell) und der Gewissheit (sicher - wahrscheinlich) der Zeichenbeziehung erinnert. Im Falle der komplexen Wahrnehmung (idée totale) und im Falle der Begriffsklassifizierungen gelten nun ähnliche Verhältnisse. In beiden Fällen analysiert das Urteil im Satz die komplexe Idee. Die Verbindung zwischen Einzelbestandteil und Gesamtidee ist dabei in jedem Fall auf der Ebene der Art der Verbindung eine solche der Verbundenheit und zwar der Inklusion. Sowohl das im kantischen Sinne analytische Urteil lässt sich in diesem Sinne beschreiben: Menschen sind sterblich; die Idee ‘sterblich’ ist Bestandteil der Idee ‘Mensch’ - als auch das synthetische, das von Condillac genau analog zum analytischen Urteil gedacht wird: Sokrates ist ein Mensch; die Idee ‘Mensch’ ist ein Bestandteil der idée totale ‘Sokrates’. Sollte sich herausstellen, dass Sokrates ein Gott ist, so ist damit (in Condillacs Begriffssystem) nicht ein synthetisches Urteil durch Überprüfung am Referenten widerlegt. Vielmehr ergibt sich bei genauerem Hinsehen eine andere, angemessenere Totalidee von ‘Sokrates’, die dann wiederum analytisch zerlegt werden kann. Der Unterschied mag aus heutiger Sicht unerheblich sein, ist aber dennoch für eine historische Betrachtung des sensualistischen Denkens wichtig: Alle Urteile werden als Zerlegungen von Sensationen oder von Transformationen derselben gedacht. Diese Möglichkeit ergibt sich erstens aus der Homogenität des Repräsentationsmodells, das dazu tendiert, alles auf eine Art der Beziehung zu reduzieren, und zweitens aus der sensualistischen Gleichsetzung von Wahrnehmung und Idee. Die Begriffsidee ist ja in dieser Vorstellung nur eine reduzierte, verblasste und allgemeiner zugerichtete Wahrnehmungsidee. Deshalb muss ich beide in genau gleicher Weise in ihre Bestandteile zerlegen können. Der Gedanke, bei der Aussage ‘Sokrates ist ein Mensch’ werde dem Namen ‘Sokrates’ ein Begriff synthetisch beigefügt, hat in dieser Vorstellung keinen Platz. Es wird sich noch erweisen, dass diese Konzeption unentbehrlich für die Hoffnung der Sensualisten auf Gewissheit der Erkenntnis ist. Die Beziehung zwischen Ideen und Klassenideen wie zwischen Ideen und Totalideen ist also immer die einer Inklusion. 153 Condillac 1746, S. 5 127 Offener sind die Verhältnisse bei den Relationen der Partikularideen zueinander. Zwar kann es sich auch hier um eine Inklusion handeln, wenn nämlich unterhalb der vorgenommenen Klassifikation noch eine Subklassifikation möglich ist. So können sowohl zwei Glieder einer zum Abstrakteren fortschreitenden Begriffskette als auch zwei Aspekte einer komplexen Wahrnehmung zueinander noch einmal in einem Inklusionsverhältnis stehen. Aber daneben sind auch Beiordnungen möglich, die den rhetorischen Figuren der Metonymie und der Synekdoche entsprechen können. Ideen haben so eine Nachbarschaft, die sowohl in der Klassifizierung wie in der ersten Gesamtwahrnehmung auftreten kann. Die Nachbarschaften zwischen ersten Sensationen (etwa Hunger und Obst) können im Sinne der Zeichentheorie von Port-Royal als natürliche Beziehungen gelten. Dies wird für die Sprachentstehungstheorien der Ideologen von Bedeutung sein, denn in dieser natürlichen Zuordnung liegen (eben aufgrund der Universalität der Repräsentation oder liaison) schon insofern die Keime der Sprache, als damit ein sympathetisches Verstehen allem Zeichengeben vorausgeht: Si les hommes parviennent à s'entendre, c’est qu’une sensation liée dans leur esprit à certaines idées a le pouvoir de les y réveiller, c’est que les mêmes circonstances et les mêmes analogies déterminent à peu près les mêmes liaisons chez tous les hommes. 154 Die Gleichzeitigkeit von Sensationen begründet auch die signes accidentels, die Zeichen, deren liaison dadurch gegeben ist, dass eines immer das andere begleitet oder auf es folgt und schließlich für es einstehen kann. Die liaison der Ideen untereinander kann also durch Gleichzeitigkeit der Sensationen ebenso begründet sein wie diejenige zwischen Zeichen und Idee. 155 Da der Satz nur die Verbindungen von Ideen innerhalb eines komplexen Begriffs oder einer Totalwahrnehmung expliziert, gilt die liaison gerade auch zwischen seinen Gliedern: Sie wird aufgefaltet und muss deshalb auch möglichst deutlich zur Sprache kommen. Der Satz, der die Beziehungen darlegt, muss auch so formuliert werden, dass dies möglich ist; hier verwandelt sich die Analytik der Sprache in eine Norm. Und insofern, als die Argumentation, die Beschreibung, die Rede nur Fortsetzungen der Analytik des Satzes sind, gilt auch hier, dass die liaison ebenso Instrument wie erhofftes Ergebnis der Analyse ist. Raisonnement gelingt daher am besten bei starker begrifflicher liaison, durch das „enchaînement des vérités“ Destutts. 156 Und da Konsequenz der Argumentation somit als Explizitmachen ordnender Beziehungen zwischen als Wahrnehmungserinnerungen aufzufassenden Ideen gelten kann, kann Gérando sagen: 154 Gérando 1800, I, S. 132 155 Condillac 1746, S. 55, vgl. auch Gérando 1800, I, S. 67. 156 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 14 128 Le vrai moyen d’être conséquent, est dans l’art de lier et d’ordonner ses propres souvenirs. 157 Liaison ist damit zugleich horizontal und vertikal, Zeichenbezug und Ideenordnung, Universalprinzip von Topik und Analytik. Der Begriff der liaison ist Condillacs reduktive Erfassung aller Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen und teilt mit anderen Reduktionsleistungen dieser Epoche den Erklärungserfolg: Führt sie doch nicht zu einer Verflachung, sondern zu einer Verdeutlichung der Grundlage des Repräsentationsmodells, das das gleiche Verhältnis der Wiedervergegenwärtigung sowohl für den Zeichenbezug wie für das Gebäude des menschlichen Wissens und der Begriffe annimmt. 2.1.4. Condillacs algebraischer Nominalismus und seine illuministischen Gegenentwürfe Der Nominalismus der Schule Condillacs, welcher sich anlässlich unserer Betrachtung von deren klassifikatorischem Konzept der Begriffsketten zeigte, mutet auf den ersten Blick wenig bemerkenswert an. Die häufigen diesbezüglichen Beteuerungen in den Schriften Condillacs, Gérandos und Tracys erscheinen wie ein verspätetes Insistieren auf längst banal gewordenen Errungenschaften des Mittelalters. Aber Victor Cousin glaubte immerhin im Jahrhundert danach, im Vorwort zu seiner Ausgabe von Schriften des ‘abtrünnigen’ Ideologen Maine de Biran, den „nominalisme de M. de Tracy“ historisch erklären und in kritische Distanz rücken zu müssen. 158 Wenn alle Begriffe nur Namen sind, so muss gerade das neunzehnte Jahrhundert sich daran stoßen, dass in dieser Sicht auch ‘der Mensch’, der nun als gleichermaßen Wissen Begründender wie Gewusster aufgefasst wird, zum Konstrukt, zum Namen wird und damit nicht aller Erkenntnis vorausgehen kann. Genau dies wirft Cousin Condillac auch vor. Bientôt, entre les mains de Condillac, la réflexion devient une simple modification de la sensation, et l’homme de la sensation sans activité véritable, sans volonté, sans puissance propre, sans personnalité, n’est plus qu’un fantôme hypothétique, une abstraction, un signe. 159 Dass bei dem von Cousin den Ideologen gegenübergestellten Maine de Biran der Wille des Menschen seine Erkenntnisfähigkeit begründen soll, wird uns noch interessieren. Im Augenblick ist festzuhalten, dass ein einigermaßen radikaler Nominalismus auch lange nach dem Ende des Mittelalters noch seinen Sprengstoff birgt. Die Sprachkonzeption Condillacs tendiert jedoch schon aufgrund ihrer Parallelität zur Algebra zu einem solchen Nominalismus. Dieser ist ein 157 Gérando 1800, IV, S. 105 158 Cousin in: Maine de Biran 1834, S. XVII 159 Cousin in: Maine de Biran 1834, S. XVII 129 Implikat eines modern mathematischen Zahlenverständnisses, und dazu wird die Sprache analog gesetzt. Destutt de Tracy erklärt etwa, dass die Zahlen nur Zwischenergebnisse sind, die es erlauben, statt jedesmal bei ‘1+1+1+1’ anzufangen, eine Operation mit dem Ausdruck ‘4’ zu beginnen - und den gleichen Status haben für ihn auch die Wörter. 160 Der Nominalismus der Ideologen ist von deren Verhältnis zu den Zahlen abhängig. Wir haben oben schon erfahren, dass für Saint-Martin die Wörter keine konstrukthaften Zwischenergebnisse sind (oder sein sollten), sondern Erscheinungsformen substanzhafter Ideen. Da nun Saint-Martin die Hochschätzung der Mathematik mit seinen Zeitgenossen teilt und außerdem ebenfalls Wörter und Zahlen analog auffassen will, muss er eine Vorstellung von nicht konstrukthaften Zahlen in diese Begegnung einbringen - und genau das tut er auch, anknüpfend an Traditionen, die ein solches Zahlenkonzept anzubieten haben, vor allem an die pythagoreische. 2.1.4.1. Der ontologische Status der Zahl im Illuminismus und das pythagoreische Erbe Ideen sind für Saint-Martin generell geistige Substanzen, während die Materie Illusion ist; diese (nur teilweise als Platonismus aufzufassende 161 ) Konzeption ist, wie gesagt, eine spezifisch martinistische (aber nicht notwendige) Konsequenz aus der illuministischen Grundannahme der Ewigkeit des Geistes. Zahlen sind diesen Ideen analog, und deshalb können auch sie keine Konstrukte sein. Schon einer der ersten Kommentatoren Saint-Martins, Kleuker, hat die Nähe der illuministischen Zahlenkonzeption zur pythagoreischen Tradition bemerkt. Dieser zu Folge „sind die Zahlen der Dinge das, was in dem göttlichen Verstande zum Grunde liegt, und wonach die Dinge selbst so und nicht anders zum Vorschein kommen; also im Grunde einerlei mit Platons Ideen.“ 162 Ganz folgt Saint-Martin dieser Tradition freilich nicht, sind doch die Zahlen für ihn keine ‘Wesen’ und daher auch nicht wie für die Pythagoreer heilig. Er kommt vielmehr seinen nicht erleuchteten Zeitgenossen so weit entgegen, dass er die Zahlen zu Zeichen für Prinzipien, zu Repräsentationen erklärt: „[…] les nombres qui ne font que les (sc.: principes) représenter et les rendre sensibles.“ 163 Zunächst zu den Zahlzeichen. Die arabischen Ziffern sind auch für Saint- Martin repräsentative Zeichen, allerdings keine konventionellen, sondern geoffenbarte; sie wurden den Arabern von älteren Völkern tradiert, die sie 160 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 334-335 161 In Kapitel III werden wir im Zusammenhang mit der martinistischen Naturphilosophie näher darauf eingehen. 162 Kleuker 1784, S. 341. Zum pythagoreischen Erbe im 18. Jh. vgl. grundlegend Mayr 2006. 163 Saint-Martin 1775, S. 375 130 wiederum von „une main encore plus pure“ 164 haben. Deshalb ist es auch möglich, aus ihrer Gestalt wiederum Schlüsse zu ziehen. 165 Aber auch die Zahlideen, die von ihnen repräsentiert werden, sind selbst nur Repräsentationen, nur Übersetzungen von anderen Entitäten, nämlich von Prinzipien oder Gesetzen: Les nombres ne sont que la traduction des vérités et des lois, dont le texte est dans Dieu, dans l’homme et dans la nature. 166 Die Zahlideen verhalten sich zu den Prinzipien im Busen der Gottheit und im Inneren ihrer Schöpfungen also wie Übersetzungen, und das heißt: wie Zeichen zu anderen Zeichen, die denselben Inhalt haben. Im Sinne der Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Ideen im Rahmen von Saint-Martins im Crocodile dargelegter Zeichentheorie sind unsere Zahlideen uneigentliche Ideen. Sie sind jedoch nicht arbiträr, sondern fest und perfekt, da sie sich auf substanzhafte, eigentliche Gesetze beziehen und von diesen abhängen. Sie verhalten sich zu ihnen wie vereinfachte Abbildungen zu Urbildern. Diese werden durch jene verkürzten zeichenhaften Kopien handhabbar, garantieren aber auch die Verwendbarkeit jener Sekundärzeichen. Neben dem Bild der Übersetzung und dem der Abbildung wählt Saint-Martin für diesen Sachverhalt noch das der Hülle, eine Bildlichkeit, die in einer von Proklos herrührenden neuplatonischhermetischen Tradition steht. In ihr vermittelt ein feinstofflicher Astralleib, eine „pneumatische Hülle“, zwischen Seele und Körper. 167 Die Zahlideen sind demnach „l’enveloppe des signes fixes et parfaites qui les précèdent,“ 168 sie zeichnen die selbst nicht sichtbare Gestalt des Umhüllten nach, verhalten sich zu diesem aber sekundär. Die Zahlen sind die ‘Rinde der Dinge’, ihre geistige Erscheinungsweise: 169 „Les nombres sont les enveloppes invisibles des Etres, comme les corps en sont les enveloppes sensibles.“ 170 Die Gesetze jedes Wesens sind auf diese Hüllen geschrieben, denn alle Erscheinung ist Ausdruck dieser Gesetze. 171 Sie sind „images des lois par lesquelles tout est constitué.“ 172 Als Gedanken des Schöpfers sind die zahlenhaft erscheinenden Gesetze wie- 164 Saint-Martin 1782, II, S. 137 165 Vgl. u.a. Saint-Martin 1782, II, S. 138ff, wo aus der Kreisgestalt der Null verschiedene Schlüsse gezogen werden. 166 Saint-Martin 1983, S. 57 167 Die Tradition wird für Paracelsus dargestellt von Pagel 1979, S. 93. 168 Saint-Martin 1799a, S. 331 169 Saint-Martin 1862, S. 257 170 Saint-Martin 1782, II, S. 131 171 Saint-Martin 1782, II, S. 132 172 Saint-Martin 1775, S. 169 131 derum „des principes coéternels à la vérité,“ 173 und die vérité ist bekanntlich Gott selbst. 174 Saint-Martins Anschluss an die pythagoreische Zahlenlehre gestaltet diese also in einem entscheidenden Aspekt um: Er gleicht sie, so weit dies für ihn erträglich ist, dem Repräsentationsmodell an. Die Zahlen sind als Repräsentationen, näherhin analog zu den Bildchen-Ideen, gedacht (obwohl sie sich nicht auf Sichtbares beziehen), und wie die Repräsentationen des Normaldiskurses dienen sie der Handhabung anders nicht greifbarer geistiger Substanzen. Nur in der näheren Fassung dieser Repräsentation gibt es zwei wesentliche Unterschiede. Die liaison zwischen Idee und Zeichen ist eine notwendige, denn das Zeichen ist Erscheinungsform der Idee - und die Ideen selbst, die Gesetze, sind ‘substantieller’ als die Natur, in der sie wirken; sie sind nicht Entwürfe des menschlichen Geistes, sondern Gedanken Gottes und als solche der Materie ontologisch übergeordnet. Daher dürfen die Zahlen nicht als losgelöste Konstrukte betrachtet werden: La principale erreur dont il faille se préserver, c’est de séparer les nombres de l’idée que chacun d’eux représente, et de les montrer détachés de leur base d’activité. 175 Die Loslösung des Repräsentanten vom Repräsentierten wird mit einer Loslösung einer aktiven Substanz von ihrer Aktivitätsbasis gleichgesetzt, denn die Zuordnung von Zeichen und Idee ist nicht eine bloße Relation, sondern ein dynamisches Hervorgehen - ganz wie bei Saint-Martins Auffassung von den Zeichen allgemein. Dies lässt sich an der pythagoreischen ‘Zahl’ schlechthin, Tetraktys genannt, sehen. Die Pythagoreer verstanden darunter die Addition: 1+2+3+4=10 und verehrten diese Formel als heilige Gestalt der Ausdifferenzierung des Kosmos, als lebendiges Schaffensprinzip. Saint-Martin nennt sie quaternaire. 176 Aber im Sinne der sich bereits abzeichnenden, wenigstens partiellen, Teilhabe Saint-Martins am Repräsentationsmodell ist dieser nun ein ‘Zeichen’ im Sinne einer lesbaren Manifestation, nicht aber selbst eine Potenz; die Zehn, Ergebnis der Tetraktys-Addition, ist „première image de Dieu.“ 177 Der Quaternär ist nicht heilig und schaffend, sondern eben eine Form des Geschaffenen und ein Bild des Schaffenden: 173 Saint-Martin 1782, II, S. 132 174 Sant-Martin 1775, S. 13; vgl. Joh 14, 6: „Ego sum via et veritas et vita.“ 175 Saint-Martin 1983, S. 58 176 „Les Philosophes anciens nous ont transmis l’addition du nombre quatre, laquelle donnant dix pour résultat, offre un moyen naturel de lire à découvert l’immense vertu du quaternaire.“ (Saint-Martin 1782, II, S. 135). Zur Tetraktys vgl. vor allem Mayr 2006. 177 Saint-Martin 1983, S. 168 132 […] que la vertu des êtres n’existe pas dans le nombre, mais que c’est le nombre qui existe dans la vertu des êtres, et qui en derive. 178 Die Zahlen einschließlich des quaternaire sind nicht selbst personale Wesen: Rien ne peut être sans nombre, et Dieu lui-même a le sien. Mais le nombre de Dieu n’est pas Dieu, distinction qui est applicable à tous les êtres. Aucun d’eux ne peut subsister sans son nombre, puisque le nombre est leur guide, leur pivot et le premier caractère de leur existence. Mais jamais le nombre ne peut passer pour un être. Ainsi, dans quelque être spirituel que ce soit, nous pouvons reconnaître: 1° l’être, 2° son nombre, 3° son action, 4° son opération. 179 Sie sind jedoch essentielle Eigenschaften der Wesen, in denen eine Spur der ‘Emanation’ dieser Wesen liegt (wir werden diese Konzeption in Kapitel III näher beleuchten) - und eine Spur dessen, der sie emaniert hat. Ihre Urbilder sind zunächst unfasslich in Gott, 180 treten dann aber in den aus ihm hervorgegangenen Wesen zahlenhaft in Erscheinung. Durch ihr Erscheinen erlauben sie uns, das Unfassliche zu erkennen, und zwar auch solches, das erst außerhalb Gottes zu dem geworden ist, was es ist. So ist auch das Böse (da es nicht von der Idee des Guten oder überhaupt irgendeiner Idee getragen ist und daher im platonischen Sinne nicht erkannt werden kann 181 ) nicht als es selbst fassbar, sondern nur in seinem Wirken in der Welt. Nicht nur das Verborgene (Gott), sondern auch das Nichtige (Satan) offenbart sich durch die Zahlen in seiner innerweltlichen Tätigkeit. Die Zahlen sind aber auch, insofern sie die unsichtbare Rinde der Wesen sind, die Konturen, die wiederum Gott seine Schöpfung erkennbar machen. In einer Metaphorik der Sichtbarkeit sind die Zahlen die lichtbrechenden Oberflächen, die die geschaffenen Wesen ihrem Schöpfer geistig sichtbar werden lassen (ihm Zeugnisse seiner unendlichen Schaffenskraft geben); zugleich wirken sie als Spiegel, in dem er sich auch selbst erkennt (zu diesem Motiv mehr in Kapitel IV): Et ce sont là comme autant de bornes ou les rayons divins s’arrêtent, et où ils réfléchissent vers leur Principe, non seulement pour lui présenter ses propres images, non seulement pour lui offrir les glorieux témoignages de son exclusive supériorité et de son infinité, mais encore pour y puiser la vie, la mesure, le poids, la sanction de leurs rapports avec lui. 182 Die Zahlen wirken dabei reziprok, sie stellen die Verbindungen zwischen den analogen Seinsebenen her, die in der Quelle dieses Zitats, Saint-Martins Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers, 178 Saint-Martin 1983, S. 61 179 Saint-Martin 1983, S. 151-152 180 Saint-Martin 1782, I, S. 17 181 Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 35. Saint-Martin fasst diesen Gedanken allerdings mehr als Teilhabe an einer alles Erkennen ermöglichenden Harmonie (der sich das Böse verweigert) als an einer Idee. 182 Saint-Martin 1782, II, S. 133 133 zum Thema gemacht werden. Sie geben Gott Kunde von sich und seiner Schöpfung, holen von ihm aber umgekehrt auch die Grundlagen des Lebens. Wir werden noch sehen, dass Saint-Martin in späteren Fassungen dieses Geschehens in Anlehnung an Jakob Böhme dem Menschen eine besondere Rolle zuweisen wird. Im Anschluss an das Buch der Weisheit, wo die Ordnung des Kosmos nach Maß, Zahl und Gewicht auf den Schöpfer zurückgeführt wird, 183 bestimmt Saint-Martin unter Hinzunahme der Traditionen der Logos- und Sophia-Spekulation 184 die Zahl als Bestandteil der Weisheit Gottes, die in der gesetzhaften Anlage allen Seins ihre Spur hinterlässt und die (abgestufte) Gottebenbildlichkeit aller Schöpfung ausmacht. Gott gibt der geistigen Gestalt der geschaffenen Wesen etwas von seinem eigenen Maß, seiner Zahl, seinem Gewicht mit: […] afin qu’ils soient son image. Ainsi tous les êtres ayant en eux un rayon de la sagesse suprême, ont, par conséquent, avec eux un rayon de son poids, de son nombre et de sa mesure. 185 In Des erreurs et de la vérité interpretiert Saint-Martin diese biblischen Größen auf das hin, was in seinem dynamischen Weltbild das Entscheidende an jedem Wesen ist: die Aktion. 186 Die Zahl ist das, was die Aktion zeugt; das Maß ist das, was sie regelt; das Gewicht das, was sie ausführt. Saint-Martins Zahlenspekulation bleibt, wie man schon an diesem Beispiel, sieht, nicht bei der Algebra stehen, sondern spielt in die Physik hinein. Vor allem aber die Geometrie wird in diese Spekulation Saint-Martins hineingenommen. So betrachtet er in seiner Spätschrift Les nombres beispielsweise geometrische Figuren im Zusammenhang mit der sie je fundierenden Zahl, etwa das Dreieck im Zusammenhang mit der Drei. Diese Passagen lassen die Vermutung nahe liegen, dass das pythagoreische Erbe in einer christlich-synkretistischen Fassung zu Saint-Martin gelangt ist, die er hauptsächlich den Kirchenvätern entnommen haben dürfte. Für seine Spekulationen über die Potenz der Sieben in Les nombres gibt er selbst Basileus von Cäsarea, De Spiritu Sancto XXVII, als Quelle an. 187 Aber sein Traditionsbezug ist auch selbst synkretistisch, denn man weiß von ihm, dass er auch außereuropäische Philosophie und Esoterik rezipiert hat. 183 Saint-Martin 1782, I, S. 36, vgl. das alttestamentarische Liber Sapientiae 11,21 184 Wir werden diese und andere Traditionen in Kapitel IV näher erläutern. Für den Augenblick muss es bei einer bloßen Nennung bleiben. 185 „Pensées“, Nr. 64, in: Saint-Martin 1807, I, S. 142 186 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 165. Den drei Größen sind auch verschiedene Körperteile zugeordnet: der Zahl als geistigem Konzept der Kopf, dem Maß als Mess- und Wahrnehmungseinheit das Herz, das Sitz der sensation ist, und dem Gewicht als der Größe körperlicher Tätigkeit die Innereien, in denen Verdauung und Reproduktion stattfinden. 187 Saint-Martin 1983, S. 108 134 So bezieht er sich in seinen Spekulationen über die Eigenschaften des Dreiecks auf chinesische Traditionen, die er aus Missionarsberichten kennt. 188 Aber auch das aufklärerische Normalwissen ist ihm verfügbar: Seine Quelle für Mairans Bemerkungen über das aristotelische Radproblem ist, wie Amadou 189 nachweist, die Encyclopédie. Diese reiche Mischung von Traditionen wird in ein spekulatives Spiel hineingezogen, das trotz seiner scheinbaren Fremdheit im Diskurs des achtzehnten Jahrhunderts mit diesem neben der wichtigen Einzelposition der Hochschätzung der Mathematik auch Grundtendenzen wie ein Konzept von ‘Repräsentation’ gemeinsam hat. Immerhin schwächt Saint-Martin die Wesenhaftigkeit der pythagoreischen Zahl ab und betrachtet sie nur noch als Erscheinung, als Bild von etwas anderem. Andererseits kann er sie nicht so weit entleeren, dass er der herrschenden Auffassung, Zahlen seien Zwischenergebnisse, beipflichten könnte. Wir werden außerdem sehen, dass sich Saint-Martins Umgang mit der Zahlenspekulation auch noch in Beziehung zum Genese-Analyse-Modell setzen lässt, zu dessen algebraischem Nominalismus er ja, wie nun klar sein dürfte, zunächst einmal in Opposition steht. Bevor wir Saint-Martins und Martines de Pasquallys Arithmosophie 190 nun noch weiter entwickeln, wollen wir jedoch noch einen anderen Illuministen in den Blick nehmen, der eine Alternative zum Martinismus darstellt und uns zeigt, dass Zahlenmystik im achtzehnten Jahrhundert sowohl von Pythagoras als auch von der Normalmathematik auf Abstand gehen kann. 2.1.4.2. Dutoit-Mambrinis mystische Gestaltspekulation Eine etwas andere Position als die Martinisten nimmt der Mystiker Philippe Dutoit-Mambrini ein. Für ihn können die Zahlen nicht in Gott sein, denn innerhalb der Unendlichkeit gibt es keine Abgrenzungen und mithin auch nichts Zählbares. Erst in der Ausgrenzung des Geschaffenen aus der Totalität des Schöpfers ist auch die Eingrenzung des zahlenhaft Definierbaren möglich. Schöpfung ist für Dutoit-Mambrini ein Hinausstellen eines Abgegrenzten aus der Fülle des All-Einen, und erst in diesem Akt wird Einzelnes und mithin Zählbares möglich. Die Zahlen sind also erst sekundär. 191 188 aus: AAVV 1783 189 in: Saint-Martin 1983, S. 188f. 190 Der Begriff wird im Anschluss an Georges Amadous Einführung desselben in seinem Vorwort zu Saint-Martin 1983 gebraucht. 191 „Les nombres donc ne sont pas dans l’Infini, mais ils en sont exclus; & en DIEU, la seule action d’exclure, qui est pour ainsi dire, une action négative, donne l’être, tant est infinie & sa fécondité & sa puissance...L’être fini pourroit s'appeler un excrément de l’Infini. Mais quel excrément! ...(Dutoit-Mambrini 1793, I, S. 352). Dieses Hinausstellen ist andererseits mit der mathematischen Operation der Substraktion ver- 135 Wenn Dutoit-Mambrini das Fehlen von Zahlen im göttlichen All-Einen freilich damit begründet, dass es dort nichts Zählbares gebe, so denkt er sie im Grunde dem nominalistisch-mathematischen Modell gemäß, denn er leitet die Zahlen aus dem Zählen ab. Nur wenn die Zahlen nicht für Wirkgesetze vor allem Einzelsein stehen, sondern Instrumente zur Zählung bereits geschaffener Einzeldinge sind, gilt, dass ihnen in der undifferenzierten Totalität Gottes nichts entsprechen kann. Seine Auffassung der Zahlen ist insofern der pythagoreischen gerade entgegengesetzt. Dennoch betrachtet er sie nicht als bloße Konstrukte ordnender und zählender Erkenntnis. Obwohl nämlich für Dutoit-Mambrini demnach nicht gilt, dass die Zahlen etwas schon von Anfang im Busen der Gottheit Vorhandenes repräsentieren (oder es gar sind), sind sie ihm doch Grundstrukturen der Welt, die nicht nachträglich aus dieser gewonnen werden. Sie sind also der Gottheit nach- und der Schöpfung vorgeordnet. Ihr Hervorgehen aus dem Schöpfer ist nicht unmittelbares Ausströmen von etwas drinnen schon Vorhandenem, sondern mittelbare Bildung aus einer Entfaltung der Gottheit, die dann die Grundlagen schafft für Zählbarkeit und Zahl - aus dem Logos. Dies führt zu einer höchst eigenartigen Bestimmung des Verhältnisses von Algebra und Geometrie: Dutoit-Mambrini leitet nicht (wie etwa Saint-Martin) die geometrischen Figuren aus den Zahlen ab, sondern die Zahlen sind für ihn Ausfaltungen der einzigen Figur, die aller Schöpfung und allem Weltgeschehen ihre Gestalt gibt - des Kreuzes. La croix fait le bien réel & le mal métaphysique, c’est-à-dire, les bornes de l’être fini, sa figure, sa contexture, ses qualités, ses proportions, son contour, son aptitude, ses couleurs, ses odeurs, ses mouvemens directs, ses reflets indirects & tous les phénomenes qui paroissent & disparoissent dans l’Univers; & tout cela s'opere par la croix, selon les nombres & l’enchaînement des causes & des raisons qui s'entrelacent par la sagesse & par la justice, selon lesquelles la Nature & les êtres qui la composent, sont mus, gouvernés, changés, détruits, renouvelés, & existent en ces phénomenes ou momentanés ou plus ou moins durables. 192 Man sieht, dass hier das Kreuz mystisches Symbol für das Ineinanderwirken von Schöpfungslogos und Christuslogos ist. Die Form, in der alles entsteht, und die crux von dessen Vergänglichkeit (etwa in der eigentlich ohne bildliche Plausibilität als „kreuzförmig“ bezeichneten Abfolge der Jahreszeiten - die Vier als Zahl der Kreuzesenden vermittelt wohl hier), sowie derjenige, der dieses Kreuz auf sich genommen hat, werden zusammengedacht in einer Gestalt, die nicht so sehr beschreibbares Weltgesetz ist als vielmehr die Chiffre eines Geheimnisses. Demgemäß sind die Kreuzesspekulationen bei Dutoit-Mambrini auch viel weniger detailliert auf Eingleichbar: Alles Finite kommt durch Konkretisation aus der Unendlichkeit und ist insofern immer begrenzter als diese, mangelhaft und lokal: „Ainsi, l’être fini émane de D IEU par soustraction“ (ebenda, I, S. 353). 192 Dutoit-Mambrini 1793, I, S. 346 136 zelphänomene der Natur bezogen als die Zahlen- und Gestaltenlehre Saint- Martins und Martines de Pasquallys. Sie sind Interpretationen einer unergründlichen Metapher. Die Herabsetzung der Zahl zur Sekundärentwicklung aus dem Kreuz distanziert Dutoit-Mambrini von der pythagoreischen Tradition. Das Desinteresse an der Mathematik und Physik trennt ihn von den Aufklärern. Beides aber unterscheidet ihn von Saint-Martin: Wo Dutoit-Mambrini eine doppelte Verneinung setzt (oder zu setzen versucht 193 ), bemüht sich Saint-Martin um eine Annäherung gegnerischer Positionen. 2.1.4.3. Qualitative Mathematik bei Saint-Martin und Martines de Pasqually Bei Aristoteles ist zu erfahren, dass die Pythagoreer die Zahlen nicht quantitativ, sondern qualitativ verstanden. 194 Beachtet man, dass die Pythagoreer ihre Zahlenlehre teils am Modell musikalischer Intervalle entwickelt haben, so lässt sich diese aus der Sicht der Moderne eher überraschende Auffassung durchaus plausibel machen: Die Intervalle lassen sich zwar als 193 Natürlich kann man diese Oppositionen auch schleifen. Wenn die vier Jahreszeiten das Werden und Vergehen nach dem Logos zugleich als Vergänglichkeit gemäß dem Kreuz der Sterblichkeit zeigen sollen, so weist die Figur des Kreuzes zwar symbolisch auf den einen der beiden durch sie vermittelten Terme: Sie ist Symbol für das ‘Kreuz’ der Sterblichkeit, für den Erlöser davon und, aufgrund von Christi Identität mit dem göttlichen Logos, auch für diesen Logos, mithin das Gesetz des Werdens, selbst. Für den anderen Term aber funktioniert eine solche Beziehung nur in einem von zwei Fällen, die beide für Dutoit-Mambrinis Argumentation ungünstig sind: Entweder die Deutung wird vorausgesetzt, das heißt, der Wechsel der Jahreszeiten ist bereits als Fall von Entstehen und Vergehen in obigem Sinne interpretiert; dann kann das Kreuz dem nichts hinzufügen. Oder die Verbindung mit dem Kreuzessymbol geschieht über semantische Eigenschaften des Kreuzes, die auch den Jahreszeiten, und zwar schon vor einer Deutung auf Werden und Vergehen hin, zugeschrieben werden können; dies ist hier vermutlich der Fall, und zwar, wie schon angedeutet, bezüglich der Vier: Vier Jahreszeiten entsprechen einem Kreuz mit vier Enden, die Vier ist das vermittelnde Element, das es erlaubt, die durch das Kreuz symbolisierten Interpretamente auf die Jahreszeiten zu beziehen. Dies aber impliziert doch wohl, dass die vier Enden nicht sekundäre Erscheinungsformen des mystischen Kreuzes sind, sondern Proprietäten desselben. Wenn aber die Vier dem Kreuz in der Schöpfung erst folgt, so müsste diese Vierendigkeit des Kreuzes der Möglichkeit von Vierheit überhaupt vorausgehen, was schwer vorstellbar ist. Man könnte Dutoit- Mambrini also vorwerfen, seine Kreuzeslehre sei schwer gegen eine pyhagoräische Auffassung abzugrenzen. Umgekehrt verrät natürlich die Bemühung, die Zahlen als Grundelemente der Schöpfung vorzuführen, trotz gegenteiliger Beteuerungen eine Affinität zur Physik. Trotz dieser Möglichkeit ist die oben gegebene Interpretation wohl die nützlichere, da sie erlaubt, den Standpunkt Dutoit-Mambrinis insgesamt stärker zu profilieren. Seine Oppositionen einzureißen, um zu zeigen, dass hier wie überall letzte Widerspruchsfreiheit nicht zu erzielen ist, würde gerade dieses Profil verschwimmen lassen und nur das zutage fördern, was dieser Text mit allen anderen gemein hat. 194 Vgl. Metaphysik A 985b-986a. 137 Schwingungsverhältnisse quantitativ analysieren, erscheinen dem (einigermaßen geübten) Ohr jedoch durchaus als distinkte Qualitäten; so ‘klingt’ eine Sexte anders als eine Quinte. 195 Es dürfte klar geworden sein, dass die Auffassung der Zahlen nicht als Zwischenergebnisse, sondern als Ideen, die wir bei Saint-Martin fanden, einer solchen Konzeption entspricht. Saint-Martin geht hier allerdings noch einen Schritt weiter. Er entwickelt die Wahrnehmung des Qualitativen zu einer existenziellen Erfahrung. Wir betrachten die Qualitäten der Zahlen nicht nur, sondern wir spüren sie in uns - insofern, als sie Abbilder der Gesetze der Welt sind. Wir stehen dieser Welt keineswegs als Erkenntnissubjekte gegenüber, sondern wir sind in ihr. So erleben wir die Wirkungsweise der Zahlen am eigenen Leibe, leiden an ihnen. Die Zwei beispielsweise, die als Zahl der Entzweiung und des Bösen noch näher zu untersuchen sein wird, ist eine Form existenzieller Erfahrung, eine Form der Zerrissenheit und der Selbstentfremdung. Die Zahl […] n’est point une puissance de simple spéculation, puisque nous la virtualisons tous, et cela presque à tous les moments de notre existence. 196 Aber nicht genug damit, dass die Zahlen jeweils als Qualitäten aufgefasst werden. Die Martinisten versuchen insgesamt, auch in ihrer Lehre von den mathematischen Operationen, eine qualitative Mathematik aufzubauen, ähnlich wie sie Philo von Alexandria in seiner Schöpfungsspekulation kennt. 197 Dieses Projekt liegt ganz offensichtlich quer zu der Konfiguration von Mathesis und Taxonomia, wie wir sie als Diskursformation kennengelernt haben. Dort wurden taxonomische Operationen mit dem Ziel vorgenommen, Ordnungen des Gleichen und des Verschiedenen zu schaffen, die eine Überführung von Elementen in Operationen der Berechnung des Gleichen ermöglichte; umgekehrt galt die Berechnung des Gleichen als Sonderform der Ordnungswissenschaft. Dabei war der qualitative Unterschied immer etwa der Addition im Wege gestanden (man erinnere sich an die Äpfel und Birnen) und konnte durch Abstraktion bzw. Reduktion (Obst) zum Zwecke der Zählbarmachung auch ausgeräumt werden. Ein Versuch, die Mathesis selbst, die normalerweise von der Einebnung des Qualitativen zugunsten des Quantitativen profitiert, zu einer qualitativen Operation zu machen, ist zweifellos ein solcher einer Verkehrung der Verhältnisse. Aber nicht zufällig wird dieser Versuch in einer Zeit unternommen, in der eben diese Konstellation von Mathesis und Taxinomia besteht. Das Projekt einer Ausweitung des qualitativen Ansatzes auch auf die ma- 195 Eine moderne Analyse würde freilich die eine Beschreibungsweise kausal auf die andere beziehen: Der je spezifische Komplexitätsgrad des Verhältnisses der beiden Schwingungszahlen ist der Grund für die Wirkung auf das Ohr. 196 Saint-Martin 1983, S. 60 197 Vgl. hierzu Schmidt-Biggemann 1998, S. 337ff. 138 thematischen Operationen hängt nicht historisch im leeren Raum, sondern nimmt Bezug auf die Form des Wissens seiner Epoche. Saint-Martin entwickelt seine Form der qualitativen Mathematik vor dem Hintergrund einer Zurückweisung der kabbalistischen 198 und der konventionell-mathematischen Zahlenlehren, die für ihn auf je eigene Art die Essenz der Dinge verfehlen. Die Mathematik ist für den frühen Saint- Martin von Des erreurs et de la vérité eine trügerische Kopie der wahren Wissenschaft, 199 denn sie hat als Grundlage genauso wie als Resultat nur Relationen. Sie bewegt sich stets im Kreise und kann sich daher nicht verirren, aber die Basis ihres Gebäudes ist aus keinem anderen Material als die höchsten Erhebungen. Die tautologische Struktur der Mathematik wird also als Basis ihrer Gewissheit erkannt, ist aber für Saint-Martin ein Mangel. Denn überträgt man diese Geschlossenheit und Homogenität auf die Natur, so verfehlt man gerade die Fülle von deren Erscheinungsformen. Die Natur, so meint Saint-Martin in diesem Abschnitt seiner Mathematik- Kritik, lässt sich nicht mathematisch erfassen, weil sie aus einem unendlichen Wesen hervorquillt und daher notwendig eine unerschöpfliche, unabschließbare Vielzahl von Erscheinungsformen bildet. Nicht aufgrund der platonischen Annahme des wechselhaften Wesens der Natur im Gegensatz zu den Ideen, sondern aufgrund einer bestimmten Auffassung von Schöpfung ist demnach eine quantitative Wissenschaft von ihr nur eine trügerische Verkürzung. Gerade das Projekt der Taxonomie mit ihrer Hinordnung auf die Mathesis, vor allem aber die Mathesis selbst erscheinen so als Irrweg. Saint-Martin entwickelt im Laufe seiner Publikationstätigkeit eine geringfügig positivere Einschätzung der quantitativen Mathematik; er bewertet sie in Les nombres als niedere Form jener Mathematik der höheren Wahrheiten, die für ihn die höchste Wissenschaft überhaupt ist. Die quantitative Mathematik hat nun immerhin eine Berechtigung im Reich der toten Materie, da diese ja beliebig in Portionen unterteilt werden kann. Dieses Vorgehen ist auch erfolgreich in Bezug auf unsere toten materiellen Bedürfnisse. 200 Aber seine Begrenztheit zeigt sich eben darin, dass es alle qualitativen Unterschiede nivelliert (und daneben auch die der mathematischen Operationen untereinander): 198 Diese und andere Distanznahmen Saint-Martins von der Kabbala beziehen sich immer nur auf eine bestimmte Teiltradition derselben (die er mit dem Gesamtbegriff belegt), welche man etwa mit dem Namen Abulafia verbinden würde. Andere Strömungen (etwa die lurianische Kabbala) sind, wie wir sehen werden, über Martines de Pasqually (und Böhme) im Gegenteil Grundlage von Saint-Martins Denken. 199 Saint-Martin 1775, S. 83 200 Saint-Martin 1983, S. 63 139 […] elle ne cherche rien au-delà des multiples similaires. Aussi, pour elle, tout est de la même nature, c’est-à-dire que rien n’y est distinct et que tout y est confondu, excepté dans la quantité. 201 Dieses Zugeständnis der Machbarkeit einer niederen Mathematik bedeutet dennoch nicht, dass eine rein quantitative Wissenschaft von der Natur möglich sei. Um das zu verstehen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass die Martinisten alles auf den Sündenfall beziehen und dass demnach die vorfindliche, materielle Natur in Saint-Martins aus Paulus entwickelter Auffassung vom Sündenfall bereits eine gefallene, verfälschte Natur ist. Wie wir noch anhand des martinistischen Mythos erfahren werden, ist die materielle Natur nur eine illusorische Vergröberung der Schöpfung. Nur in ihr und für unsere falschen materiellen Bedürfnisse gilt die Algebra. Die angewandte Mathematik und die Physik sind demnach ‘falsch’. Aber ihre Fehlerhaftigkeit ist zugleich ein wichtiges Indiz. In einer Argumentationsform, die wir als argumentum privationis noch näher betrachten werden, leitet Saint-Martin (in seiner erwähnten Spätschrift über die Zahlen) aus der Beschränktheit der Naturwissenschaften die Gewissheit ab, dass es deren Gegenbild, die Wissenschaft von der Wahrheit, eigentlich irgendwo geben müsste: La fausse mesure et le faux calcul des hommes prouve qu’il y a une mesure et un calcul vrai. 202 Eine höhere Wirklichkeit erfordert eine höhere Mathematik: Ein höherer Wirklichkeitsgrad ist erreicht, wenn man die eigentliche, die ungefallene Natur aus den gefallenen Ruinen der Welt rekonstruiert, eine höhere Wirklichkeitsebene ist erreicht, wenn man von dort in die Wirklichkeit des Geistes und schließlich Gottes aufsteigt. In beiden Fällen bedarf es einer anderen Mathematik; diese unterscheidet sich von der landläufigen eben durch nicht arbiträre, qualitative Zahlen, qualitative, nicht tautologische Operationen, Verbundenheit mit unserer Existenz, ewige Wahrheit: La différence essentielle qu’il faut admettre, c’est que, dans le calcul conventionnel, les valeurs sont arbitraires et que leurs combinaisons, quoique reposant sur des règles fixes, ne nous font cependant parvenir qu’à des vérités très secondaires et entièrement étrangères à la vraie lumière dont nous avons tous besoin, et que nous cherchons tous, quand même ce serait à contre-sens. Au lieu que, dans le calcul vrai et spirituel, les nombres reçoivent leur valeur de la nature des choses et non point de la volonté de notre esprit, et qu’indépendamment de ce qu’ils se combinent aussi par des règles fixes comme les valeurs conventionnelles, ils nous amènent à des vérités du premier rang, à des vérités positives et invariables, et essentiellement liées à notre être; la raison en doit paraître bien naturelle: c’est que ces nombres ne font alors que nous accompagner, et nous diriger dans ces mêmes régions positives invariables et éternelles dans lesquelles ils prennent 201 Saint-Martin 1983, S. 63 202 Saint-Martin 1983, S. 152 140 continuellement naissance, dans lesquelles ils font constamment leur demeure, et desquelles ils ne peuvent jamais sortir. 203 Das eigentliche Sein ist in jenen Regionen überhalb der illusorischen Materie zu finden, zu denen uns die theosophische Mathematik emporhebt. a) Zahlen Grundlage dieser Mathematik ist also zunächst einmal die qualitative Bestimmung der einzelnen Zahlen, die nun in etwas breiterem Detail nachgezeichnet werden soll. Dabei wollen wir, von der Eins ausgehend, in aufsteigender Reihe wichtige Einzelpositionen betrachten. 204 Die Tatsache, dass es sich bei dieser Mathematik um eine mythische Mathematik handelt, wird uns außerdem mehr als bislang zu Vorgriffen auf den martinistischen Mythos zwingen. Diese sollen hier nur als Belege dienen; eine genauere Darstellung des Mythos selbst folgt weiter unten. Die Eins ist die Einheit des Schöpfers, die ungeteilte Totalität. Die Zwei ist folglich Trennung und Entzweiung. 205 Der Wille Gottes zur Schöpfung beinhaltet auch die logische Möglichkeit jener Trennung, die allem Bösen zugrundeliegt. Diese Zahl ist jedoch, solange sie in der Dekade, der Reihe der ersten zehn Zahlen, verbleibt, gut. Die Dekade, die wir schon als Endform der pythagoreischen Tetraktys-Progression kennengelernt haben, ist sozusagen die Zahlengestalt der entwickelten Form der Gottheit, wie sie auch der kabbalistische Sephirot-Baum oder das Pleroma vorstellt, versinnbildlicht durch die Zehn und alle ihr vorausgehenden Zahlen. Die schlechten Möglichkeiten der Zwei werden erst wirklich aktuell, wenn Operationen mit der Zwei aus dieser Dekade hinausführen, also Ergebnisse über 10 ergeben. 203 Saint-Martin 1983, S. 61-62 204 Die diesbezügliche pythagoreisch-kabbalistische Tradition war im übrigen auch bei Brucker 1743 greifbar. Im Pythagoras-Kapitel finden sich dort ausführliche Einzelbetrachtungen zur Dekade. Bruckers Quelle war hier wahrscheinlich Van Meurs 1631, der eine quellenkundige Zusammenfassung der antiken und spätantiken Dekas- Mythologeme gibt; für diesen Hinweis danke ich Florian Mayr, München. Was nun ‘moderne’ Adaptionen des Pythagorismus angeht, so findet sich auch hier Einschlägiges bei Brucker, etwa im Eintrag zu Cornelius Agrippa von Nettesheim (IV, 1, S. 414-415), wo wir einige bei den Martinisten auftretende Motive wieder erkennen können: „XXXIX: Omnia, quaecumque a primaeva rerum natura constructa sunt, numerorum videntur ratione formata...XL In numeris miranda latet efficacia et virtus tam ad bonum, quam ad malum. XLI. Vnum omnium rerum principium est et finis, neque ipsum principium aut finem habens. XLII Binarius numerus malus est, dualitas daemon, malus in quo materialis est multitudo...XLIV Quaternio fundamentum et radix est omnium numerorum...XLVII Deus ipsa prima monas priusquam sese inferioribus communicet, primum se in primum numerorum, ternarium videlicet diffundit: dehinc in denarium, tanquam in decem ideas et mesuras omnium numerorum, et rerum omnium faciendarum.“ 205 Saint-Martin 1983, S. 58 141 Dann wird die Zwei eine negative Kraft und übrigens damit auch unwahr, denn das Böse ist zugleich das Substanzlose und Unwahre. Deshalb ist generell leere Spekulation nicht moralisch unbedenklich. 206 Neben dieser neutralen Beurteilung der Zwei in der göttlichen Dekade wird jedoch auch die Möglichkeit zum Bösen, die in der Zwei trotz allem schon steckt, auch vor einer Fortentwicklung in höhere Zahlenbereiche durchdacht. Das Freilassen eines Zweiten, eines Anderen, die Fortschreitung von der Eins aus, schafft diese Möglichkeit des Bösen, die insofern von Gott kommt - eine Konsequenz, der sich besonders Martines de Pasqually immer wieder zu entwinden versucht. Die Zwei kann in diesem Lichte als die Zahl der Sünde betrachtet werden, weil sie aus der Absolutsetzung eines zweiten Prinzips hervorgeht, aus der Selbstbehauptung einer zweiten Einheit, die falsch ist, weil eine solche nur für die Ureinheit allein gelten kann. Zwei absolute und totale Einheiten kann es nicht geben. Die Operation ‘1+1=2’ ist damit die erste Lüge und Sünde zugleich, denn Böses und Unwahres sind ja identisch: 2 est clairement un nombre de confusion. Sa source […] est 1+1, c’est-à-dire deux nombres qui sont chacun leur carré et leur racine et toutes leurs puissances; qui sont, enfin, les premiers des nombres. Il ne peut y en avoir deux ensemble de cette espèce. 207 Hier sieht man bereits, dass auch die mathematischen Operationen semantisch ausgefüllt werden: Die Tatsache, dass die Eins ihr eigenes Quadrat und alle ihre anderen Potenzen ist, aber auch ihre eigene Wurzel, wird so gedeutet, dass sie ihren Ursprung und die Totalität ihrer Entwicklungen in sich trägt. Die Operationen des Potenzierens und des Wurzelziehens sind also solche der Ausfaltung und der Herleitung, die ohne weiteres auf Gott bezogen werden können, von dessen zahlenhaftem Wirkprinzip die Zahl Eins ja eine verkürzte Abbildung ist. Zwei Wesen, die ganz aus sich selbst kommen und in sich selbst ihre Erfüllung haben, kann es nicht geben, denn ein zweites ist immer nachgeordnet; daher ist die Selbstsetzung eines zweiten ursprünglichen Prinzips sowohl falsch als auch böse - böse auch insofern, als das zweite das wahre ursprüngliche Prinzip herabsetzt, zu einem unter mehreren machen will. Mit dieser Argumentation werden freilich die Zahlen doch wieder als Stellen in einer Progression definiert. Eine vollkommen essentialistische, nicht relative Bestimmung der Zahlen ist Saint-Martin nicht gelungen - wohl, weil die Preisgabe der Nacheinanderordnung der Zahlen einen Verzicht auf allzu viele interessante Implikate des allgemein akzeptierten Zahlen- und Mathematikverständnisses mit sich gebracht hätte. Die semantische Qualität der Zahlbegriffe wird jedenfalls hier mit der relationalen 206 Saint-Martin 1983, S. 154 207 Saint-Martin 1983, S. 154 142 Ordnung, die auch in diesen ‘qualitativen’ Zahlen noch gegenwärtig ist, über eine mythische Ausformung einer Progression, wenn man so will: einer Genese, in Beziehung gesetzt. Die Anordnung der Zahlen vom ersten einfachen Element, ja von der Einfachheit selbst, bis zu den höchsten Zahlen wird als Genese, als Geschichte der vorweltlichen Emanation der vielen Wesen aus der einen Gottheit erzählt. Umgekehrt wird das im göttlichen Urgrund verborgene Emanationsgeschehen durch die Zahlen, die die Abbilder der dort wirkenden Gesetzlichkeiten sind, offenbar. Zahlenprogression, Begriffsfiliation und Genesis, die wir in unserer Rekonstruktion des ‘klassischen’ Wissens kennenlernten, begegnen sich hier aufs Neue, wenn auch nicht in einer taxonomisch orientierten Analyse-Genese-Figur, sondern in einer mythisch unterfütterten Zahlenspekulation. Und wenn auch die ontologischen Annahmen hinter den beiden hier verglichenen Verfahren einander entgegengesetzt sind (das ist der Inhalt der Diskussion! ), so ist doch die je beschriebene Praxis der jeweils anderen vergleichbar. Die illuministische Mathematik artikuliert ihre Gegenentwürfe zur Rede der Aufklärung in einer ähnlichen, vielleicht noch für den Gesprächspartner verstehbaren, Rede - wenngleich eingeräumt werden muss, dass gerade die arithmosophischen Passagen von Des erreurs et de la vérité in den in Kapitel 3.2.2. unserer Einleitung betrachteten Parodien dieses Textes besonders schlecht wegkommen - also wohl am dunkelsten oder am wenigsten akzeptabel erschienen. Die Zwei spielt auch eine bemerkenswerte Rolle in der martinistischen Fassung der Heilsgeschichte, sowie in der Analyse des menschlichen Denkens nach dem Sündenfall. So umgeht nach Saint-Martin die ganze Geschichte Christi die Zweizahl überhaupt, da Christus außerhalb der Sünde bleibt. Er ist vor allem Anfang aus dem Vater gezeugt 208 und ist kein Zweiter, sondern (trinitarisch: ) mit dem Ersten wesensgleich - und deshalb hat die Zahl der Sünde und Entzweiung, die Zwei, keinen Anteil an seinen Tätigkeiten. Die Zwei wirkt überdies, wie wir schon erfahren haben, in die Existenz des einzelnen Menschen hinein. Dies gilt auch für das Denken (nach dem Fall), hier aber nicht durch Trennung, sondern durch Vereinigung. In Martines de Pasquallys Lehre von den Intelligenzen wird das menschliche Erkennen als Zusammentreten verschiedener Geister beschrieben, wobei der Mensch das vom guten Geist oder Intellekt Angebotene in einem freien Willensakt ergreifen muss. Das werden wir später noch näher untersuchen. Für den Augenblick ist es interessant, dass dieses Zusammentreten der 208 Saint-Martin gibt das Credo und Psalm 109, Vers 3 als Belege. Saint-Martin 1983, S. 154. In der christlichen Kabbala Johannes Reuchlins ist gerade die Eigenschaft der Zwei, zu scheiden und zu definieren, ein Zeichen, dass sie eine Christuszahl ist, da der Christuslogos eine Scheidung im Sinne einer Ausdifferenzierung leistet; vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 184. 143 Geister im guten und im bösen Falle bezüglich der Zahlenverhältnisse je anders ausfällt. Wo nämlich aus dem Zusammenwirken des „esprit majeur“, des „esprit intellect“ und der freien Seele („mineur“) in der Dreizahl der gute Intellekt resultiert, da ist die Gruppierung im Falle des bösen Intellekts nur eine Zweierfigur: Die Seele gibt nämlich in der Verbindung mit dem bösen Dämon jede Eigenständigkeit auf und wird selbst ein Intellekt des Dämons und also des Nichts, sie wird eine Null: 0+1+1=2. 209 Die Drei ist nun (möglicherweise in kabbalistischer Tradition 210 ) die Zahl der temporären Ursachen, also der Wirkkräfte, die in der zeitlichen Schöpfung ihren Ort haben. So sind die Essenzen oder Elemente, die allen Körpern zugrunde liegen, drei. 211 Dies gilt für die große Anlage der Natur. Auf einer niedrigeren Ebene begegnen wir jedoch auch wieder der Zwei als der Zahl von Trennung und Antagonismus im materiellen Bereich. Das Funktionieren der Schöpfung muss jedoch darauf zurück geführt werden, dass diese Zwei nie für sich bleibt, sondern immer wieder auf eine Drei ergänzt wird. 212 So können die beiden niederen, materiellen Prinzipien des Keimens und der Wärme nicht ohne etwas Drittes agieren, das den Antagonismus regelt und die Dreizahl wieder vervollständigt. Sind die beiden Gegenspieler nämlich gleich stark, so heben sie einander auf; ist aber eines stärker, so ringt es das andere nieder; und gäbe es schließlich nur eine von beiden Kräften, so fehlte der Natur jede Dynamik und Aktion, was für Saint-Martin (im Gegesatz zu denjenigen seiner Zeitgenossen, die die Natur im wesentlichen als Anordnung sehen) ihrer Nichtexistenz gleichkäme. Diese Kontrollfunktion, die Anleitung und Balance der beiden niederen Ursachen, zeigt sich unter dem Gesetz des ternaire universel, ist aber eine Funktion des Logos, die ursprünglich vom Menschen versehen wurde, durch dessen Fall jedoch vakant und dann vom Logos selbst, also von Christus, in die Hand genommen werden musste (dazu gleich Näheres): 209 Die tiefe Affinität des bösen Geistes mit dem fleischlichen Menschen in dieser Konstellation zeigt sich nach Pasqually in Christi Worten am Ölberg: „Vigilate, spiritus quidem promptus est, caro autem infirma.“ Pasqually unterschlägt hier das „autem“ und übersetzt: „Ne dormez point, car la chair est faible et l’esprit est prompt,“ nämlich der böse Geist ist schnell bei der Hand, das schwache Fleisch zu verführen. Er bügelt die Stelle damit in einer Weise gegen den Strich, die an die Bibellektüre der gnostischen Ophiten erinnert. (Martines 1771, S. 146f.) 210 Le Forestier 1928, S. 201, weist darauf hin, dass die drei Sephiroth der Luft, des Wassers und des Feuers dort als Bild der Erde stehen, deren Elemente sie repräsentieren. 211 Mit dieser Drei-Elementen-Lehre distanzieren sich die Martinisten von der traditionellen Vierzahl der Elemente und schließen wahrscheinlich an das Grundbuch der Kabbala, den Sefer Jezirah (vgl. Anonym 1993, S. 10f.) an, welches die „drei Mütter“, die Buchstaben Aleph, Mem und Schin, den Elementen Luft, Wasser und Feuer zuordnet (vgl. auch Papus 1980, S. 66 und 185); allerdings nehmen die Martinisten, wie wir in Kapitel III, 3.1.4. sehen werden, die Luft heraus und setzen die Erde in die Dreiheit ein. 212 Saint-Martin 1775, S. 133 144 Der Christus-Logos hält die Schöpfung in ihrer Funktion und bedient sich dazu der Drei. 213 In einer Passage von Martines’ Traité de la Réintégration, in der berichtet wird, wie Seth die Qualitäten der (göttliche Gesetze wiedergebenden) Zahlen offenbart werden, erfahren wir, dass die Vier die Zahl der Emanation und der vierfachen Essenz der Gottheit ist, sowie auch des Menschen. Die Tatsache, dass für Martines de Pasqually die Aktionsweise Gottes dreifach, seine Essenz aber vierfach ist, lässt ihm die traditionelle Trinitätslehre als Simplifikation erscheinen. Die Vier ist die Zahl der Emanation der Geistwesen, während die Drei nur die Zahl der (letztlich nichtigen) Schöpfung ist. Die Vier wirkt außerdem, da sie die Zahl des Schöpfungslogos ist, in der Schöpfung als belebende Kraft. Die Addition der auf sie hinführenden Zahlenreihe ergibt, wie wir sahen, 10, und damit ist die Vier sozusagen die Essenz der göttlichen Zehn. Sie ist dem mineur (also dem geistigen Menschen) mitgegeben, und wenn er sein eigentliches Wesen in ihr wiederfindet, kann er die mit ihr verbundenen spirituellen Kräfte wiedergewinnen. Insofern, als der mineur gerade die Vier, die Zahl der vierfachen Essenz der Gottheit selbst, erhält, ist er besonders mächtig. Da sich aus der Vier tetraktysch die Zehn ergibt, gelangt der mineur viel leichter zur göttlichen Zehn als die Geister der Sieben und der Drei dies können - sie müssen sich miteinander verbinden, also 7+3 addieren, um dorthin zu gelangen: Der Mensch steht über allen anderen Geistwesen. Die Drei und die Vier ergeben zusammen die Sieben, die Zahl des Geistes, die göttliche Vier ergibt verdoppelt die Acht, die Zahl des „esprit doublement fort,“ Christus, den Martines de Pasqually außerhalb seines Wirkens als Mann von Nazareth auch als „Hély“ bezeichnet. Wie schon angedeutet, springt dieser beim Fall des Menschen für ihn ein: Wo vorher Adam die Schöpfung beherrschte und in ihrer Funktion hielt, muss nun Christus eingreifen, da Adam es aufgrund seiner Schwächung durch Sünde nicht mehr kann. Christus verdoppelt dabei Adams Zahl. 214 Dies ist zumindest eine von zwei Betrachtungsweisen. Die andere ist die, dass Adam 213 Saint-Martin 1775, S. 134-135 214 Die besondere Position der Acht ergibt sich natürlich auch in der gnostischen Tradition der Ogdoaden-Spekulation, wo sie ebenfalls als doppelte Vier erscheint. Meist ist diese Zahl in diesen spekulativen Systemen allerdings naturphilosophisch besetzt, etwa in der Achtheit der Elemente in der paracelsischen Philosophie, wo von den „acht Müttern“ die Rede ist. Vgl. hierzu Pagel 1979, S. 64-65, der (auf S. 66) auch darauf hinweist, dass die kabbalistische Spekulation über die Erschaffung Adams aus 8 Teilen der lateinischen Welt durch Georgius Venetus (De harmonia totius mundi cantica tria) bekannt war. Der große Adam oder Adam Kadmon ist im übrigen ein kabbalistisches Gegenstück zum Christus-Logos als Plan der Welt, und insofern steht die Konzeption der Martinisten der Kabbala näher als der Gnosis. Vgl. hierzu unser Kapitel IV. 145 ursprünglich die Acht beigegeben war. Nach dieser Version, die der kabbalistischen Vorstellung eines achtteiligen Adam Kadmon 215 nahesteht, der selbst die Geistschöpfung oder den Plan der Welt ausmacht, wäre nicht (wie im Christentum) Christus der zweite Adam, sondern Adam der erste Christus im Sinne des Logos als Bauplan der Schöpfung. Martines versucht, diese beiden Modelle folgendermaßen zu versöhnen: Adam ist nicht selbst die große Acht, sondern die Acht ist zunächst bei ihm und erlaubt es ihm, die Schöpfung in ihrer Funktion zu halten. Diese Zahl des „esprit doublement fort“ ist keine Emanationszahl, sondern die göttliche Aktion selbst, die Gott als Sohn aus sich herausstellt. Sie ist bei den Menschen, wenn sie es verdienen, und wurde daher dem gefallenen Adam zunächst entzogen. Sie springt, wie wir eben sahen, dann für den gefallenen Menschen ein und übernimmt allein die Funktion, die in eigener Verantwortung auszufüllen sie diesem ursprünglich ermöglichte. Sie wirkt, wie wir sehen werden, sodann als messianisches Prinzip in der Heilsgeschichte. Martines verhält sich hier ambivalent zur Trinitätslehre. Schlägt diese (welche er an anderen Stellen ablehnt) nämlich in der Deutung des Sohnes als einer Aktions- und Erscheinungsweise Gottes durch, so ist doch andererseits die Tatsache, dass es sich eben nur um den ogdoadischen Aspekt eines noch viel umfassenderen Wesens handelt, eine Tendenz zu einer Art von arianischem Subordinatianismus zu fassen. Darüber hinaus nimmt die abstrakte Konzeption eines messianischen Prinzips, das, wie man in Pasquallys Heilsgeschichte sehen kann, auch in anderen Personen der Geschichte wirkt, dem Sohn tendenziell das Personale, welches ihm in der kirchlichen Lehre eignet. Das in der Theologie wie auch bei Martines typologisch als korrigierende und restituierende Wiederholung dargestellte Verhältnis zwischen Adam und Christus (dem neuen Adam) erscheint jedenfalls hier durch die Rückkehr der in Adam verlorenen Acht in Christus gewissermaßen in einer mathematischen Form. Nachdem damit die Eins, Drei, Vier, Sechs, Sieben und Acht als positive, die Zwei als ambivalente Zahlen festgelegt sind, bleiben die Fünf als dämonische und die Neun als Zahl einer von den Dämonen ergriffenen Materie übrig. Die Zehn als 1+2+3+4=10 oder entfaltete Gestalt der Tetraktys ist auch für Martines die erste und höchste göttliche ‘Potenz’, 3+4=7 ist die zweite, 1+2+3=6 die dritte; diese ist der zweiten unterlegen, weil sie durch 2 teilbar ist. Insofern, als dadurch in ihr Entzweiung herrscht, ist die Sechs die Zahl der materiellen Schöpfung und wird als Zahl der Schöpfungstage auf diese bezogen. 1+3=4 ist die vierte ‘Potenz’, die Quaternär- 215 Dieses Motiv des kosmischen Urmenschen als Plan der Schöpfung werden wir in Kapitel IV näher kennen lernen. 146 zahl. 216 Diese ist für Martines ebenso wie für Saint-Martin die Zahl des Menschen. 217 Interessant ist, dass Saint-Martin seinerseits die Zahl Sechs generell als sekundäre Größe betrachtet, die nicht selbst für einen wirkenden Agenten steht, sondern für den Modus des Wirkens: Du Nombre 6 Ce nombre paraît être le mode de toute opération quelconque. Il n’est pas un agent individuel, mais son caractère paraît avoir une affinité nécessaire avec tout ce qui s'opère, et nul agent ne porte son action à son terme sans passer par le mode de ce nombre. 218 Vor allem in Des erreurs et de la vérité 219 finden sich äußerst detaillierte Spekulationen über das Wesen der einzelnen Zahlen und auch der aus ihnen abgeleiteten geometrischen Figuren. So erfahren wir etwa, dass man mit der Vier alle Fragen bezüglich der Entstehung der Erde erklären kann. 220 Das Viereck ist der Schlüssel zu naturphilosophischem Wissen allgemein 221 und überhaupt ein „emblême universel,“ 222 geschaffen zur Deutung und Lektüre durch den Menschen 223 ebenso wie die Vier als Universalchiffre, 224 die mit dem Menschen als seine Zahl und als die Zahl der Aktion in besonderer Weise verbunden ist: Der Mensch ist als Vier selbst der Schlüssel zu allem durch die Vier erschließbaren Weltwissen. b) Operationen Was nun die Operationen der qualitativen Mathematik betrifft, so hat sich zweierlei vor allem anhand der Zwei bereits abgezeichnet: Erstens werden die Operationen als Genesen interpretiert. So führt Martines de Pasqually in einer seiner vielen Erklärungen zum vorweltlichen Engelsfall 225 (den wir im Zusammenhang des gesamten martinistischen Mythos näher betrachten werden) die Verworfenheit der Fünf auf deren Entstehung zurück. Die pflichtvergessenen Geister oder Engel waren, so wie später der mineur (Mensch), unter dem Gesetz der Vier emaniert, zählten jedoch eigenmächtig noch eine Eins (Zahl des Schöpfers) hinzu, so dass sich die Fünf ergab. Hier wäre das Negative der Fünf Ergebnis eines Geschichtsprozesses. 216 Martines 1771, S. 174-180 217 Saint-Martin 1983, S. 103 218 Saint-Martin 1983, S. 116 219 Vor allem Saint-Martin 1775, S. 380ff. 220 Saint-Martin 1775, S. 429 221 Saint-Martin 1775, S. 423 222 Saint-Martin 1775, S. 439 223 Saint-Martin 1775, S. 448 224 Saint-Martin 1775, S. 523f. 225 Martines 1771, S. 343f. 147 Zweitens führen diese Operationen in manchen Fällen (wie ebenfalls schon anhand der Zwei zu sehen war) von einer Ebene innerhalb der Zahlenwelt zur nächsten, von einer Dekade zur nächsten. Diese Dekaden werden von Saint-Martin etwas ambivalent beschrieben, denn er will einerseits ihre bekannte Gestalt als nebeneinander liegende Zahlenreihen für seine Operationen nutzen, andererseits aber in ihnen unvermittelbare und unüberbrückbare ontologische Bereiche sehen. Den drei ontologischen Ebenen, der göttlichen, der spirituellen und der natürlichen, sollen drei Ordnungen von Zahlen entsprechen, wobei die beiden ontologisch niedrigeren die Repräsentanten der Zahlen auf der göttlichen Ebene sind. 226 Daneben gibt es auch nichtige, böse Zahlen. Das Böse ist für die Martinisten auch der Irrtum und als solcher eben nichtig. Es gibt folglich Zahlen, die entweder absolut oder unter bestimmten Umständen ‘falsch’ sind oder werden. Tout est vrai dans l’unité, tout ce qui est coéternel avec elle est parfait. Tout ce qui s'en sépare est altéré ou faux. Rien n’est faux dans la décade prise collectivement. Prise abstractivement, rien n’est vrai en elle que ce qui se trouve avoir une liaison médiate ou immédiate avec l’unité […] Voilà pourquoi les deux lois de la nature physique sont pures, parce qu’elles sont liées à la troisième loi qui les dirige, et celle-ci à la quatrième qui les engendre toutes […] Voilà pourquoi enfin le nombre 2 n'a point été compris dans les éléments qui ont servi de base à l’apparition du Maître et à ses opérations temporelles, parce que ce Maître souverain était venu pour combattre ce nombre devenu inique en s'étant séparé de la décade, et que ce divin Réparateur „s’est rendu visible pour se charger de nos péchés, lui qui n'a aucun péché“ (I Jean 3: 5). 227 Die Zwei und die Fünf sind die einzigen, die absolut (zumindest außerhalb der Dekade) schlecht und falsch sind - sie sind die Zahlen der Entzweiung, und sie sind ja auch die einzigen, durch die sich die Zehn, die Dekade, teilen lässt. 228 Die falschen Zahlen können nach Saint-Martin nicht ‘zeugen’, sondern nur verwirren; gelegentlich aber kann die Providenz sich der falschen Zahlen bedienen, um doch das Gute zu wirken, etwa bei den 50 Ta- 226 Saint-Martin 1983, S. 62. Eine ähnliche Konzeption von Sphären kennt auch Philo, wobei allerdings seine Version insofern anspruchsvoller und interessanter ist, als er eine rein arithmetische, eine harmonikale und eine geometrische Sphäre unterscheidet und nur in der dritten, aufgrund ihres Hineinreichens in die Räumlichkeit und daher Welt, so etwas wie mythische Mathematik betreibt. Das Mythische ist also erst in der dritten Ausfaltung beheimatet; die höheren Zahlensphären bleiben bei Philo abstrakter. Die inhaltlichen Unterschiede (und auch die je sehr unterschiedliche Gewichtung der Sieben) lassen eine direkte Beeinflussung der Martinisten durch Philo unwahrscheinlich erscheinen. Zu Philos Zahlenspekulation vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 338ff. 227 Saint-Martin 1983, S. 91-92 228 Saint-Martin 1983, S. 125 148 gen zwischen Christi Himmelfahrt und dem Pfingstwunder: Die Fünf ist hier trotz ihrer problematischen Natur zum Guten gebraucht. 229 Die Wirkungsweise der „puissance vraie“ auf die falschen Zahlen wird in diesem Zusammenhang mit der einer Medizin in einem kranken Körper verglichen. 230 Aber warum liegt den 50 Tagen bis Pfingsten die Fünf zugrunde? Ist es demnach immer die erste Stelle, die solche Zuordnungen bestimmt? Nein, es ist die Quersumme, von Saint-Martin theosophische oder spirituelle Addition genannt, und sie ist die erste der beiden wichtigeren theosophischen Operationen, die wir hier untersuchen wollen. Sie begegnet schon bei Martines de Pasqually, so in seiner Analyse der Neun, 231 die allerdings problematischere Implikationen hat als die oben refererierte Erzählung über die Entstehung der Fünf. Die drei ältesten Adamskinder legen in einem Erzählabschnitt von Pasquallys Traité de la Réintégration gewissermaßen durch eine Ur-Tat den Grund für die Wirkungsweise der Neun in der Welt. Da sie nämlich zu dritt sündigen, wirkt der böse Geist auf je drei Prinzipien, Kräfte und Vermögen, also auf 27 Einheiten. Die Quersumme von 27 ist neun, und damit, so scheint es, wird die Neunzahl am Anfang der Geschichte negativ geprägt. Dass die Formen, in denen sich Geschichte ereignet, für Martines von den ersten in ihr Handelnden geprägt worden sind, wird weiter unten noch näher dargestellt werden. Was nun die Neun betrifft, so kann man sie selbst wieder mit der 27 multiplizieren, daraus ergibt sich 243 (Quersumme 9 ! ), multipliziert man die drei Ziffern dieser Zahl wiederum mit 9 (2x3x4x9), so ergibt sich 216, multipliziert man hingegen die Quersumme von 243 (=9) mit 9, so ergibt sich 81: in beiden Fällen ist die Quersumme wieder 9. Bei 9x9 bleibt man in dieser Hinsicht in einer Schleife stecken, denn die Quersumme von 81 ist ja wieder 9. Geht man hingegen von der vorgenannten Zahl 216 aus weiter, so ist 2x1x6x9 = 108, auch hier ist die Quersumme 9. Lässt man die (hier als nichtig betrachtete) Null aus, so ergibt sich: 1x8x9=72, deren Quersumme wieder 9 ist. Da 72 die Spiegelzahl von 27 ist und dieselben Ziffern enthält, kann das Ganze von hier aus von neuem beginnen, ad infinitum. Daraus ergibt sich nun für Pasqually, dass aus dem Bösen immer nur Böses kommt. 232 Dies ist aus zwei Gründen problematisch, die beide im Zusammenhang mit dem unten noch näher zu betrachtenden Problem der Freiheit der Geschichte stehen, das Martines de Pasqually besonders bewegt. Zum einen betont Martines selbst, dass der böse Mensch sich jederzeit zum Guten 229 Saint-Martin 1983, S. 72. Vgl. hierzu die christliche Motivik des gladium oder flagellum Dei u.ä. 230 Saint-Martin 1983, S. 75 231 Martines 1771, S. 146ff. 232 Vgl. hierzu auch Saint-Martin 1983, S. 129. 149 wenden kann, da das Böse keine Substanz hat und daher aufhört, zu existieren, sobald man es unterlässt; dies wird am Beispiel des Kainssohnes Booz exemplifiziert, der zunächst seines Vaters Nachfolger im Bösen ist, sich dann jedoch zur Buße in die Wüste zurückzieht und alles Böse hinter sich lässt. Zum anderen ist gerade diese rein mathematische Beweisführung Pasquallys Argumentationsabsicht, das Böse aus der Freiheit der emanierten Wesen erwachsen zu lassen und vom Schöpfer zu trennen, abträglich. Denn es scheint hier doch wohl so zu sein, dass die Eigenschaft der Zirkularität der daraus zu gewinnenden Multiplikationsketten, aus der die Unveränderlichkeit des Bösen abgeleitet wird, der Neun wenn überhaupt, so doch schon an sich und außerhalb der Geschichte, also sozusagen im Busen des Schöpfers zukommt (beziehungsweise, auf Saint-Martins Präzisierung der Zahl bezogen: dem Gesetz, das durch sie repräsentiert wird). Von da aus zu der unterschwellig in Pasquallys Formulierungen ohnehin greifbaren Behauptung, auch die Zuordnung des Bösen zur Neun sei von allem Anfang und vor aller Emanation schon festgeschrieben, ist es dann nur noch ein Schritt. Die Analytik der Quersumme gilt übrigens auch in bonum, bei der Zehn, die wir schon im Zusammenhang mit der Tetraktys kennengelernt haben. Setzt man die Additionsfigur der Tetraktys bis zur 10 fort, so erhält man: 1+2+3+4+5+6+7+8+9+10= 55; das Ergebnis 55 ist deshalb auch selbst gut, weil seine Quersumme wieder 10 ist. Diese ganze Argumentationsweise impliziert natürlich (wie wir schon von Saint-Martin erfahren haben), dass auch die Darstellungsweise der Zahlen geoffenbart sein muss; dies gilt sowohl für das Dezimalsystem als auch für die Schreibung. Würde man nämlich alle Zahlen als einfache Mengen darstellen, so gäbe es gar keine Quersummen, und schon bei einer Darstellung in römischen Ziffern wäre es zumindest nur durch genaue Analyse der einzelnen Zahlen möglich, so etwas wie eine „spirituelle Addition“ vorzunehmen. 233 Die Operation der Quersummenermittlung ist also eine ‘Analyse’, die es erlaubt, die okkulten Bestandteile einer Zahl (nämlich deren Einzelziffern) einerseits, ihren wahren Wert (eben die Quersumme) andererseits zu ermitteln: So lässt sich entscheiden, ob eine mehrstellige Zahl gut oder böse, ob sie göttlich, spirituell, natürlich oder nichtig ist. Das Ergebnis ist also eine Verortung auf einer (nicht kontinuierlichen) Skala: Das Böse ist mit dem Nichtigen identisch und offensichtlich die ontologisch niedrigste Position. Die geschaffene Natur steht über ihr, wobei die aktuelle, gefallene Natur als Vergröberung der geschaffenen zwischen der eigentlichen Natur 233 Die römischen Zahlen kennen sprachlich und also auch konzeptuell durchaus das Dezimalsystem (vgl. einen Ausdruck wie ‘sexaginta quattuor’), aber bei dem Ausdruck LXIV muss ich zumindest wissen, dass in L weitere fünf X enthalten sind, um zu berechnen, dass die Zahl der Zehner sechs, die der Einer vier ist, und die „spirituelle Addition“ demnach 10 zum Ergebnis hat. 150 und dem Nichts steht. Über der Natur liegt die geistige Welt, darüber die göttliche. Diese ist identisch mit der Wahrheit. An den Polen dieser Zahlenskala stehen sich also einerseits Gott, Sein, Wahrheit, Gutes, andererseits Teufel, Nichts, Irrtum, Böses gegenüber. Die Stellenwerte, Bewegungen und Hervorgänge dazwischen sind als Analysen und Genesen anhand qualitativ-mathematischer Operationen beschreibbar. So wie die Analyse der spirituellen Quersumme uns über den Ort einer Wesenheit auf der Skala aufklären kann, so können Multiplikationen, und besonders Potenzierungen, uns über die Bewegungen der Genesen aufklären. 234 In diesem qualitativen Unterschied der Operationen untereinander sieht Saint-Martin denn auch einen weiteren Vorzug der spirituellen Mathematik gegenüber der materiellen. Das Ergebnis einer Multiplikation hat für diese ja keinen grundsätzlich anderen Wert als das einer Addition, während die qualitative Mathematik hier unterscheidet: Die Multiplikation zeugt, die Addition führt die Natur der Resultate und die Beziehungen ihrer Bestandteile vor Augen. 235 Die Multiplikation ist also eine Genese oder Schöpfung, die Addition eine Analyse oder Erkenntnis. Wie schon angedeutet, führt vor allem eine bestimmte Art der Multiplikation, die Potenzierung, das Hervorgehen der drei Zahlenordnungen auseinander vor Augen. Wie funktioniert das? Saint-Martin geht von der, wie gesagt, ontologisch begründeten Forderung aus, die drei Zahlenordnungen der göttlichen, spirituellen und natürlichen Seinsebene müssten wie diese Seinsebenen selbst streng getrennt sein, dürften also nicht in einem Verhältnis einfacher Kontiguität stehen wie die Reihen von 1 bis 10, von 11 bis 20 und von 21 bis 30 dies in der gewöhnlichen Mathematik tun; vielmehr müssten sie im Sinne einer Genesis auseinander hervorgehen, denn nur die „lois de leur génération“ könne die Zahlen auf ihr „principe“ zurückführen. Das Prinzip einer Sache ist auch und gerade für Saint- Martin ihre Herkunft. Diese wird in diesem Zusammenhang als Zeugung verstanden, und das Verhältnis zwischen einer Zahl einer der drei Ordnungen zu ihrem Pendant in einer anderen muss das zwischen einer Wurzel und „son véritable fruit“, zwischen sich selbst und „un autre lui-même“ sein, so dass im Grunde die gleiche Zahl soll „parcourir activement, quoique sous des couleurs variées, les diverses régions qui lui sont ouvertes“. 236 Genau diese zeugende Ausfaltung ihrer selbst widerfährt einer Zahl in ihrer Potenzierung. So ist die 9 das entfaltete Selbst der 3. 237 Dabei ist die 234 Diese Unterscheidung ist nicht ganz wasserdicht, da ja die Analysen - ebenso wie im Normaldiskurs - wiederum ideale Genesen vor Augen führen. Außerdem gibt es (wie im bereits angeführten Beispiel der Zwei) auch Genese-Erzählungen, die sich der Addition anstelle der Multiplikation bedienen. 235 Saint-Martin 1983, S. 63 236 Saint-Martin 1983, S. 64 237 Die Zahl der Schöpfung entfaltet sich also aufgrund der ihr immer schon eignenden Potenzierbarkeit in diejenige der vom Bösen ergriffenen Materie. Der Leser mag 151 Wurzel immer das Eigentliche, die Potenz das Abgeleitete, aber auch Ausdifferenzierte, weil das Ur-Eine zugleich ontologisch höher und geschichtlich früher, sowie weniger festgelegt, ausgearbeitet, definiert, begrenzt ist. Dies alles spielt sich in der ontologisch absteigenden, ‘quantitativ’ aber aufsteigenden Ordnung nach Dekaden ab, die nun freilich in der dritten Dekade nach oben offen ist. Die erste Dekade nennt Saint-Martin die göttliche, die zweite, also von 11 bis 20, die spirituelle, alles was darüber hinaus geht, ist dann die Natur. Dies bedeutet, dass es Potenzen göttlicher Zahlen gibt, die in der göttlichen Dekade bleiben (im Grunde die der ersten drei Zahlen) und solche, die in die spirituelle und gar natürliche Dekade hinein geraten. Da aber erst die dritte Potenz „le terme parfait de tout nombre“ ist, gibt es in Wirklichkeit nur zwei Zahlen, die in der göttlichen Dekade bleiben. Nun sind aber die Zahlen, wie wir schon wissen, nicht einfach Quantitäten, sondern Qualitäten. Da nun die Zwei als Entzweiung die Ursache des Bösen und mithin auch des Irrealen und des Irrtums ist, ‚gilt’ sozusagen bei ihr die Potenzierung nicht. Die Entfaltung der Entzweiung in der zweiten Potenz, arithmosophisch gesprochen: der vergebliche Versuch, die Zwei ins Quadrat zu setzen, war eine heilsgeschichtliche Katastrophe: […] c’est par cette opération fausse que l’esprit pervers a trompé l’homme. 238 Der Teufel hat den Menschen mit dem eitlen Versuch, aus der Entzweiung ein eigenes produktives Prinzip zu machen, getäuscht. Und auch die dritte Potenz der Zwei gibt es folglich nur „par les lois abusives de l’arithmétique“ und nicht in Wirklichkeit: „c’est par le cube de ce même nombre que le mensonge a peuplé, peuple et peuplera le monde de faux Christs.“ 239 selbst die mathematischen Theodizee-Probleme durchdenken, die sich daraus ergeben. Ein Ausweg wäre wohl, die Potenzierbarkeit als Freiheit zum Bösen zu interpretieren. Es wäre also im Sinne der Martinisten besser gewesen, niemand (und insbesondere nicht der Mensch) hätte die 3 ins Quadrat gesetzt. 238 Saint-Martin 1983, S. 65 239 Saint-Martin 1983, S. 65. Falsche Christusfiguren ergeben sich deshalb, weil die dritte Potenz von 2, die ja die völlige Entwicklung der 2 wäre, 8 ist, die Zahl des „esprit doublement fort“, also Christus. Christus kann aber nicht aus der Entzweiung hervorgegangen sein, seine Zahl kann also keine Potenz der 2 sein. Allerdings ist das Doppelte der Zahl des Menschen, wie die 8 Christi erklärt wird, natürlich auch als Doppeltes das Ergebnis einer Multiplikation mit der 2. Saint-Martins Argument wäre hier wohl, dass die 2, wenn sie mit der 4 zusammen zeugt, keine negative Zahl ist, sondern eben nur, wenn sie sich ganz allein potenziert. Dass die 4 in der allgemein akzeptierten Mathematik die zweite Potenz von 2 ist, macht Saint-Martin zu schaffen. Im Zusammenhang mit der oben zitierten Aussage, der Teufel habe den Menschen mit der zweiten Potenz der 2 getäuscht, wird denn auch bestritten, dass 2 ‚wirklich’ die Quadratwurzel von 4 sei. Die in dieser zurückgewiesenen Analyse steckende Aussage, die Zahl des Menschen (4) sei aus der Zahl der Entzweiung (2) ableitbar, der Mensch sei also ein Wesen der Abspaltung und des Zerwürfnisses, ist ja gerade die Lüge Satans. 152 Demnach gibt es nur eine Zahl, die auch in ihrer weitesten Ausfaltung immer in der göttlichen Dekade verbleibt, ja: ihre Identität niemals verändert, „qui ne sorte point de son propre secret, ou de son propre centre.“ Dies ist natürlich die Eins, die für die göttliche Einheit steht, aus der alles kommt und zu der alles zurück strebt. 240 Die Ausfaltung der Schöpfung ist also eine Potenzierung, wobei die mathematische Metapher der (Quadrat-) Wurzel zum Bestandteil einer Baum-Allegorie ausgearbeitet wird: […] ils peuvent considérer spirituellement ces trois régions comme un grand arbre dont la racine reste toujours cachée dans la région divine comme dans sa terre maternelle, dont le tronc ou le corps se manifeste dans la région spirituelle par le carré, et dont les branches, les fleurs et les fruits se manifestent dans la région naturelle par l’opération du cube. 241 Die verborgene Wurzel allen Seins wird bisweilen auch mit der Null gleichgesetzt, die nicht für das Nichts, sondern eben für die Einheit steht, die der manifesten Einheit, der Eins, im verborgenen ‘Ungrund’ der Gottheit (wie Böhme sagen würde) vorausliegt; sie kann nicht in mathematische Operationen eingehen, da das von ihr Repräsentierte außerhalb der Welt ist. 242 2.1.4.4. Mathematische Genese und mythische Mathematik Die erscheinende Welt ist also, zusammenfassend gesagt, für die Martinisten eine im Grunde substanzleere Ausformulierung göttlicher Gedanken, deren Wirkprinzipien in den diese repräsentierenden, abbildhaften Zahlen greifbar sind. Gegenüber der pythagoreischen Tradition ist die Auffassung des ontologischen Status dieser Zahlen ein wenig in Richtung auf das Repräsentationsmodell hin verschoben, wenn auch diese Repräsentationen genauer betrachtet natürliche Abbilder oder Erscheinungsformen sind, keine arbiträren Zeichen. Die Zahlen, die die geistigen ‘Hüllen’ selbst nicht zugänglicher Emanations- und Naturgesetze bilden, lassen diese Gesetze in Umrissen erkennen, da sie ihnen als ihre ‘Rinden’ analog sind; dieses Erkennen ist jedoch kein objektives, sondern ein existenzielles Erleiden, denn wir sind selbst Bestandteile der Welt, die von den durch diese Zahlen repräsentierten Gesetzen beherrscht wird. Die Vorstellung, in mathematischen Formulierungen seien Grundzüge eines Kosmos nach Maß, Zahl und Gewicht aufgehoben, trifft sich inhaltlich mit der aufklärerischen Annahme einer Geordnetheit und Kontinuität der Natur. Mag auch die Zahl dort als Konstrukt gelten, so ist die mit ihr formulierte Annahme der Gesetzhaftigkeit der Natur eine glaubenshafte Entscheidung, die allen Erkenntnisoperationen vorausgeht. Die theosophi- 240 Saint-Martin 1983, S. 66 241 Saint-Martin 1983, S. 67 242 Saint-Martin 1782, II, S. 133 153 sche Ausformulierung der Zahlenhaftigkeit des Kosmos macht so die versteckte Religiosität auch noch des Materialismus von der Gegenseite aus sichtbar. Die Zahlen werden von den Martinisten qualitativ aufgefasst, das heißt: sie haben eine Semantik, die sich nicht in der Zuordnung zu einer Menge erschöpft, wenn auch, wie wir sahen, eine vollkommen essentialistische Bestimmung der Zahlen an dem Bedürfnis scheitert, sie, um mit ihnen operieren zu können, doch noch als Werte auf einer Skala der Relationen zu definieren. Die dahinter stehende Idee einer qualitativen Mathematik, die auch in den mathematischen Operationen ausgeführt ist, steht quer zum Grundmodell von Taxonomia und Mathesis, nimmt aber deren Grundform in polemischer Weise auf. Der resultierende Gegenentwurf, den man als mythische Mathematik beschreiben könnte, steht jedoch seinerseits in einem eigentümlichen Zusammenhang zu den analog zur Mathesis entwickelten Operationen des Begriffsrechnens des ‘klassischen’ Zeitalters. Denn die Operationen, die mit den Zahlzeichen ausgeführt werden können, entsprechen dem Analyse-Genese-Modell, wenn sie auch versuchen, den Zirkel der tautologischen Gewissheit der Mathematik und der aus ihr abgeleiteten ‘klassischen’ Sprachkonzeption zugunsten höherer, theosophischer Wahrheit zu durchbrechen. Sie enthüllen entweder semantische Züge der Zahlen und mithin Aspekte der dahinter liegenden Gesetzlichkeiten (sind also analytisch, analysieren jedoch durch eine in der Addition sichtbare Genese) oder aber sie führen Entwicklungen der Zahlen auseinander vor, zeichnen eine Zeugung nach (in diesem Falle sind sie genetisch, aber die Genese ist als Herleitung eines vorfindlichen Zustandes selbst eine Analyse). Diese Genesen sind freilich ebenso wie die Zahlen keine quantitativen, sondern Geschichten der Erschaffung von Qualitäten, und die Figur der Genese berührt sich hier mit dem Genesis-Mythos. In der Tat sind die Erzählungen, die namentlich Martines de Pasqually mit den theosophischen Operationen verknüpft, mythische Genesis-Geschichten, die sich in sein noch zu betrachtendes Projekt der interpretierenden Umerzählung biblischer Mythen einfügen. Man sieht schon hier, dass eine Denkform wie die ‘klassische’ der hypothetischen Genesen immer in der Nähe zum Mythos existiert. Wir werden diese Begegnung und die Versuche der Abgrenzung gegen sie noch näher beleuchten. Das Analyse-Genese-Modell hat eine weitere Konsequenz. Wird diese Denkform nämlich für eine Begriffs-Kritik genutzt, so ist die kritische Neu- Genese eine Art Wiedergeburt. Unanalysierte Begriffe werden von der Schule Condillacs stets der Bedeutungsleere verdächtigt. Eine Reparatur dieses Sündenfalls ist möglich, wenn man zu ersten Gewissheiten zurücksteigt und von dort die Abstraktionen neu erbaut. Namentlich die Metaphysik-Kritik Condillacs und seiner Nachfolger macht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, davon Gebrauch. 154 Aber auch dieser Aspekt des Analyse-Genese-Modells kann in einer mythischen Fassung Platz finden. Martines de Pasquallys Traité de la Réintégration verrät schon im Titel, dass es den Martinisten um eine Wiederherstellung, um die Reparatur des Sündenfalles, geht. Und eine solche ist nun auch für die ‘verirrten’ Zahlen möglich. Dies stellt Saint-Martin im Tableau naturel dar, wohl im Anschluss an eine Konzeption der lurianischen Kabbala, 243 derzufolge im vorweltlichen Drama die Wiederherstellung der Integrität der oberen Welt von Adams Sabbatgebet zu erhoffen war, wozu es aber durch Adams eigenen Fall nicht kam. Die kabbalistische Betonung der beinahe (aber nicht ganz) magischen Wiederherstellungs-Kräfte des Kultus wird nun von Saint-Martin auf die Zahlen übertragen: Der christliche Opferkult von Brot und Wein soll die Fülle der wahren Zahlen wieder herstellen, die nichtigen überwinden und die falschen richtig stellen, und zwar dadurch, dass wiederum die wahren Verhältnisse in einer Entfaltungsgeschichte sichtbar werden sollen, die falschen und nichtigen Zahlen also hinterfragt werden: Der christliche Opferkult vergegenwärtigt die Heilsgeschichte, die Gestalt des Kosmos und das Wirken des höchsten Prinzips (oder sollte dies nach Saint-Martins Vorstellung tun). Die Eucharistie ist also auch Arbeit an den Zahlen, Neu-Genese der zahlenhaften Weltgesetze in der Rede über sie. 244 Die Arithmosophie erscheint aus heutiger Perspektive wie eine ‘phantastische’ Mathematik. Ihr Wert liegt mehr in den utopischen Gegenentwürfen zur herrschenden Praxis, sowie in ihrer teilnehmenden Diskussion mit ihr, die auch deren mythische Nachtseite sichtbar werden lässt - weniger in direkt nachvollziehbaren Aussagen. Saint-Martins Ausführungen zur Zahlentheorie bleiben letztlich immer metaphorisch, begrenzt von den Möglichkeiten einer Sprache, die dafür nicht geschaffen scheint. Er ist sich denn auch dessen bewusst, dass er sich nicht im Letzten verständlich machen und seine Darlegungen vorerst nicht weiter vorantreiben kann, nicht zuletzt, weil er am Rande des herrschenden Sprachspiels und darüber hinaus spielt: „Il faut auparavant avoir un langage commun […] “ sagt er bezüglich seiner Lehre von den Nombres. 245 2.2. Das Analyse-Genese-Modell als Denkfigur der ‘Klassik’ Anlässlich der Teilhabe der martinistischen Mathematik an den Formen der Analyse, Genese und kritischen Neu-Genese wurde schon deutlich, dass das, was wir hier als Analyse-Genese-Modell bezeichnen wollen, auch über die Sprachreflexion hinaus eine wichtige Denkfigur des achtzehnten 243 Der Begriff bezieht sich auf einen Kabbalisten des sechzehnten Jahrhunderts, Isaak Luria. 244 Saint-Martin 1782, II, S. 188-189 245 Saint-Martin 1983, S. 74 155 Jahrhunderts ist. Einer der Gründungstexte des französischen Sensualismus, Condillacs Traité des sensations, ist bekanntlich eine Genese-Geschichte, in der die Entfaltung der Sinnlichkeit einer Statue sukzessive erzählt wird. Der Rückstieg zu den ersten Empfindungen führt an den Punkt, von dem aus die Komplexität der gegenwärtigen Verhältnisse in einer hypothetischen Aufbaubewegung erfahrbar wird. Diese Genesis ist sowohl eine hermeneutische Linearisierung tatsächlicher Komplexität wie eine Kritik daran. Der Sündenfall der Systemphilosophie wird durch die umkehrende Rückbesinnung auf erste Empfindungen behoben, und die Genese als kritischer Wiederaufbau wird so zur korrigierenden Alternativ-Genesis. 2.2.1. Genese von Begriffssystemen und Metaphysik-Kritik Die Metaphysik-Kritik, auf die diese korrigierende Analyse-Genese-Operation hinausläuft, steht im Mittelpunkt insbesondere von Condillacs Bemühungen. Die Darstellung dieses im Übrigen wohlbekannten Aspekts muss aus Raumgründen hier auf eine zusammenfassende Erinnerung an die grundsätzliche Stoßrichtung der Metaphysik-Kritik im Rahmen des uns interessierenden Denkmodells beschränkt bleiben. Weil, wie wir schon sahen, für Condillac und seine Nachfolger den Allgemeinbegriffen nichts selbst Wesenhaftes in der Natur entspricht, sie also nur Zwischenergebnisse einer klassifizierenden Tätigkeit sind, hängt ihre Klarheit und Nützlichkeit nur von ihrer Genese, vom Machen, ab: […] leur clarté et leur précision dépendent uniquement de l’ordre dans lequel nous avons fait les dénominations des classes; et que par conséquent, pour déterminer ces sortes d’idées, il n'y a qu’un moyen, c’est de bien faire la langue. 246 Insbesondere die habituell gewordenen Begriffsordnungen sind damit auch vorläufige Grenzen unseres Wissens, gute oder schlechte Analyseinstrumente und Denkgewohnheiten: Puisque les langues, formées à mesure que nous les analisons, sont devenues autant de méthodes analitiques, on conçoit qu’il nous est naturel de penser d’après les habitudes qu’elles nous ont fait rendre. Nous pensons par elles: règles de nos jugemens, elles font nos connaissances, nos opinions, nos préjugés: en un mot, elles font en ce genre tout le bien et tout le mal […] 247 Die Begriffe, die über das Gute und Schlechte in unserem Denken entscheiden, sind unterschiedlich verlässlich. Was allen Menschen in dem von ihren natürlichen Bedürfnissen diktierten analytischen Umgang mit ihren Wahrnehmungen gemein ist, fließt in alle Sprachen ein und ist Gegenstand der grammaire générale. 248 Dies ist der verlässliche Teil der Sprachen. Durch 246 Condillac 1780a, S. 419 247 Condillac 1780a, S. 413 248 Condillac 1780a, S. 402-403 156 Versabsolutierung schlecht gebildeter Begriffe sind jedoch auch trügerische Schichten in die Sprache gelangt, besonders durch die Metaphysik. Insofern sind für Condillac ältere Sprachen den neueren teils überlegen. Er trifft sich hier oberflächlich mit einer theologischen Tradition, die in der adamitischen Ursprache die perfekte Sprache vermutete, weil sie das Wesen der Dinge traf. Aber Condillac vermutet nichts dergleichen, sondern schätzt ältere Sprachen einfach deshalb hoch ein, weil sie noch ganz nah an den ursprünglichen Bedürfnissen der Menschen sind und daher voller lebensrelevanter ursprünglicher Begriffe. Sie sind also näher am natürlichen Denken (und hier zeigt sich wieder die schon angesprochene aufklärerische Gleichsetzung von Ratio und Natur), weil sie nicht von Philosophen manipuliert sind. 249 Die neue perfekte Sprache, die er schaffen will, muss diese Verirrungen rückgängig machen und wieder zu den ersten Begriffen analytisch zurücksteigen, um dann im Wiederaufstieg einer neuerlichen Genese an allen Scheidewegen die jeweils bessere Richtung einzuschlagen: Ce ne serait pas assez de découvrir les erreurs des philosophes, si l’on n’en pénétrait les causes; il faudrait même remonter d’une cause à l’autre, et parvenir jusqu’à la première […] qui est comme un point unique où commencent tous les chemins qui mènent à l’erreur. Peut-être qu’alors à côté de ce point on en verrait un autre où commence l’unique chemin qui conduit à la vérité. Notre premier objet […] c’est l’étude de l’esprit humain, non pour en découvrir la nature, mais pour en connaître les opérations […] Il faut remonter à l’origine de nos idées, en développer la génération, les suivre jusqu’aux limites que la nature leur a prescrites, par-là fixer l’étendue et les bornes de nos connaissances, et renouveler tout l’entendement humain. 250 Auch Gérando will ein halbes Jahrhundert später noch Gewissheit durch analytischen Rückstieg auf einfachste Geistesoperationen erhalten. 251 Der Diskurs wird stets analog zum mathematischen gedacht: Wenn es Fehler gibt, so sind sie irgendwo auf dem Weg von der ersten zur letzten Formulierung aufgetreten und können aufgespürt und eliminiert werden. Hier kann man sehen, dass Foucault zu Recht die Erkenntnistheorie der Aufklärung direkt aus ihrem Sprachverständnis ableitet. Die Erkenntnistheorie ist ein Zurückgehen auf erste Elemente, sowie eine analytische Überprüfung der daraus hervorgehenden Genesen von höheren Synthesen. Sie ist mithin die hypothetische und zugleich kritische Rekonstruktion einer idealen Geschichte. Geschichtliches Gewordensein, Kontingenz von Begriffsbildungen und -Hierarchisierungen, erscheint darin nur als die negative Kehrseite, dasjenige, was durch die analytische Vernunft aufzuspüren und wieder rückgängig zu machen ist. Das Genese-Analyse-Modell verhindert geradezu eine Konzeption von der Geschichtlichkeit der Spra- 249 Condillac 1780a, S. 413f 250 Condillac 1746, S. 4-5 251 Gérando 1800, III, S. 29 157 che und des Denkens - obwohl es natürlich durch die Beziehung, die jede Vorderseite zu ihrer Kehrseite unterhält, immer auch die Möglichkeit einer Wende einschließt, die sein Anderes, das ihm selbst unsichtbar war, nach vorne bringt. 2.2.2. Sprachgeschichte als Genese 2.2.2.1. Die Sprachgenesen der philosophes: Maupertuis, Condillac, Gérando, Destutt Ein Blick auf aufklärerische Genesen der Sprache, auf hypothetische Herleitungen der Sprachfähigkeit des Menschen, kann dies belegen und die ‘genetischen’ Erklärungen sprachlicher Phänomene, die uns in den bisherigen Kapiteln immer wieder begegnet sind, zu einem etwas vollständigeren Bild ergänzen. Bei Maupertuis ist beispielsweise die Erkenntnistheorie als kritische Analyse einer hypothetischen Genese von Begriffssystemen mit der hypothetischen Sprachgeschichte so gut wie identisch, und jene ist durch diese kritisierbar: Les signes par lesquels les hommes ont désigné leurs premières idées ont tant d’influence sur toutes nos connaissances, que je crois que des recherches sur l’origine des langues, et sur la manière dont elles se sont formées, méritent autant d’attention, et peuvent être aussi utiles dans l’étude de la philosophie que d’autres méthodes qui bâtissent souvent des systèmes sur des mots dont on n’a jamais approfondi le sens. 252 Dies ist nicht so zu verstehen, dass die Erforschung der Ursprünge empirischer Sprachen die Begriffssysteme der Metaphysik im Sinne einer Genealogie als kontingent brandmarkte, sondern eben vor dem Hintergrund des Genese-Analyse-Modells: Die ideale Rekonstruktion einer Begriffsgeschichte, die vom Einfachen zum Komplexen fortschreitet, legt die richtige Verkettung der Begriffe offen, an der alle anderen Begriffsketten und Ideensysteme kritisch zu messen sind. Dies gilt im Übrigen für die Urgeschichte der Sprache genauso wie für den individuellen Spracherwerb. Anlässlich der bislang referierten ‘genetischen’ Herleitungen von Aspekten der Sprache und des Sprechens dürfte sich schon abgezeichnet haben, dass die Genese-Geschichten etwa über den Aufbau von Begriffssystemen nicht nach Ontogenese und Epigenese unterscheiden. Jeder Mensch durchläuft für sich in beschleunigter und teils durch die Weitergabe von in Zeichensystemen aufbewahrtem Wissen erleichterter und gelenkter Weise noch einmal die Bahn von den ersten Rep- 252 Maupertuis 1748, I, S. 31 158 räsentationen zu den Ideensystemen. 253 Dies kann auch gar nicht anders sein: Der Aufbau der Sprachsysteme wird ja genauso wie der individuelle Aufbau der Sprache des einzelnen Menschen immer als ideale Genese aus hypothetischen einfachen Elementen beschrieben. Daher können die beiden ‘Geschichten’ gar nicht unterschiedlich ausfallen. Weil nun die Sprache sich aus einfachen Elementen im Einklang mit den natürlichen Bedürfnissen des Menschen gebildet haben muss, kann man umgekehrt auch aus den vorfindlichen Sprachen deren Genese und, so etwa Maupertuis, 254 zugleich diejenige des sich mit den Sprachen entwickelnden menschlichen Geistes, ablesen. Die Sprache wird so zum Monument ihres Werdens und desjenigen der Menschheit, darin ähnlich den Werkzeugen der Vorzeit (oder - im Falle der Erdgeschichte - den Kalkablagerungen) - so Gérando, 255 der charakteristischerweise gerade den dokumentarischen Wert der Sprache aus ihrer Universalität ableitet: Weil diese Verhältnisse überall und bei allen Menschen gleich sind, können wir die Monumente der Sprache auf die Sprachgeschichte hin eindeutig entschlüsseln. Die fundierenden Annahmen der grammaire générale entbinden die Sprachhistorie demnach von empirischer Forschung, denn die Kontingenz der Geschichte und mithin eine eventuelle Mehrdeutigkeit ihrer Monumente hat in einer Archäologie, die als Genese betrieben wird, keinen Platz. Schon hier wird am Horizont der bereits mehrfach angesprochenen aufklärerischen Gleichsetzung von Rationalität und (menschlicher) Natur eine Figur sichtbar, deren Ankunft für Foucault das neunzehnte Jahrhundert einläutet: Ein festes, vereinheitlichtes Menschenbild (wie es die Theologie von je her kannte) wird zur Begründung eines Wissensfeldes. Wir sahen oben schon, dass Victor Cousin in der Berufung auf eine allem Erkennen vorgeordnete Humanität eine spezifische Differenz zwischen seinem eigenen und dem Denken des achtzehnten Jahrhunderts sah. Der Unterschied erweist sich nun als geringer, als Cousin wohl annahm (wenngleich doch grundlegend): Er liegt darin, dass im ‘klassischen’ Denken die feste Menschennatur noch kein Erkenntnissubjekt begründet, aber doch schon eine fixe Bezugsgröße in einem Wissensgebiet ist. Wollte man Cousins Vorwurf aufnehmen, der Mensch sei für Condillac nur ein Name, so müsste man sagen: Dieser Name ist ein Begriff, der als Interpretant geschichtlicher Rätsel dient - eine Sachlage, die zweifellos den Neuerungen 253 Gérando weist immerhin darauf hin, dass das Kind seinen Zeichengebrauch bei seiner Sprachentwicklung in ein bestehendes und als arbiträr erfahrenes Zeichensystem einfügen muss; Gérando 1800, I, S. 127 254 Maupertuis 1748, III, S. 32: „...on peut retrouver dans la construction des langues des vestiges des premiers pas qu’a fait l’esprit humain.“ 255 Gérando 1800, I, S. IV-V; vgl. auch ebenda, IV, S. 108: „...les étymologies sont à l’histoire de la pensée ce que les médailles et les inscriptions antiques sont à l’histoire de la société humaine.“ 159 der Jahrhundertwende Anschlussmöglichkeiten bot. Nur ein eindeutiger Umriss menschlicher Bedürfnisse und Neigungen ermöglicht es ja, unter Absehung von Empirie Sprachgeschichte als Geschichte der Entfaltung eines immer Gleichen zu schreiben. Schon Hobbes gab sich der Illusion hin, seine hermeneutische Genese der allgemein menschlichen Gesellschaftlichkeit sei zugleich eine politische Geschichte. Die Geschichte als Explikation einer konstanten Menschennatur und die konstante Menschennatur als Schlüssel zur Geschichte sind zwei Etappen eines Zirkels. In dem Maße, in dem nun die Geschichte in den Mittelpunkt des Interesses rückt, wird das Wissen über den Menschen zum Schlüssel für anderes Wissen. Der Mensch ist - auch und gerade im Rahmen des Wissens der ‘Klassik’ - Interpretant der geschichtlichen Monumente, die nur unter Voraussetzung einer fixen Menschennatur zum Sprechen gebracht werden können. Dies werden wir näher in Kapitel II zur „Rede Gottes als Repräsentation“ betrachten. Wie erzählt nun aber Maupertuis seine Genesis der Sprache im Einzelnen? Seine Ursprungserzählung ist eine knapp gefasste, sich mathematisch gebende Herleitung des menschlichen Sprechens aus einem zuvor angesetzten Zustand des Stummseins. Im Unterschied zu Condillac lässt Maupertuis seine Sprachgeschichte und seine Geschichte des Denkens genau gleichzeitig beginnen: Es gibt für ihn kein vorsprachliches Denken. Daher ist das erste Ereignis dieser Geschichte die Zuordnung eines Zeichens zu einer Wahrnehmung, und zwar eines pauschalen Zeichens zu einer unanalysierten Gesamtwahrnehmung, wie wir sie oben schon als idée totale kennengelernt haben. Maupertuis nimmt im Unterschied zu Condillac an, dass ‘im Anfange’ unanalysierte Wahrnehmungen bereits mit Zeichen versehen wurden; erst in einem zweiten Schritt markieren bei ihm gleichbleibende Zeichenbestandteile Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Wahrnehmungen und damit Einzelheiten oder Einzeldinge, wobei der Vergleich, der die Ähnlichkeit und mithin die Einzelheit entdeckt, nicht getrennt von der sprachlichen Markierung derselben gedacht wird. 256 Die Zerlegung der Wahrnehmungen wäre demnach mit der analogisch verfahrenden Herausbildung mehrgliedriger und also analytischer Zeichen Hand in Hand gegangen. Wenn ‘Ich sehe einen Baum’ und ‘Ich sehe ein Pferd’ zunächst als A versus B unterschieden wurden, so konnte schon bald das gemeinsame ‘Ich sehe’ mit C bezeichnet werden. Die beiden Wahrnehmungen würden sodann als CD und CE voneinander unterschieden, das gemeinsame C wäre jedoch auch der erste Schritt zur Zerlegung der komplexen Idee vom Baumsehen in Sehen und Baum. Diese Vereinfachung durch wiederkehrende Zeichen war nach Maupertuis nötig, weil das menschliche Gedächtnis nicht lauter Individualausdrücke für alle Individualwahrnehmungen hätte behalten können (wir sahen oben schon bei Condillac eine analoge Erklärung der Allgemeinbegriffe aus der Begrenztheit des Gedächtnisses). 256 Maupertuis 1748, VIIff, S. 33ff 160 Aber sie ist auch die Grundlage der analytischen Sprache und aller damit verbundenen philosophischen Probleme: Ohne sie hätte es so etwas wie ein Urteil nie gegeben, das ja die Möglichkeit, einen individuellen Eindruck oder Gedanken durch eine Kombination wiederkehrender Zeichen zu belegen, voraussetzt: „ […] on peut dire que la mémoire est opposée au jugement.“ 257 Maupertuis bindet also auch schon die allerersten Analysen an die Gegenwart von Zeichen, lange bevor damit irgendeine Kommunikationsabsicht verbunden ist. Condillac, von dem wir ja bereits wissen, dass er für seine Gleichsetzung von Rationalität und Natur vorsprachliches Denken annehmen musste, hat Maupertuis denn auch in einem Brief widersprochen: Nicht nur bezweifelt er, dass ohne die Notwendigkeit von Kommunikation überhaupt Zeichen erfunden worden wären (wenn er auch, wie gesagt, deren ersten Nutzen in der Reflexion des Sprechers über das zu Sagende sieht), er stellt sich vor allem gegen Maupertuis’ strenge Verflechtung von Denken und Sprache und die damit verbundene Annahme erster unanalysierter Zeichen für komplexe Wahrnehmungen. Gerade die aus heutiger Sicht interessante Annahme, ein zunächst monolithisches Zeichen könnte den Aussagewert eines Satzes haben, also eine Art impliziter Proposition sein, stört Condillac. Er hält dagegen, man habe wohl zuerst einzelne, also durch Analyse isolierte, Ideen mit Zeichen versehen. Je pense que votre langage ne seroit dans le commencement qu’un langage d’action, que quand vous imagineriez des sons articulés, ce ne seroit d’abord que pour les objets sensibles […] Ainsi au lieu de commencer par des propositions pour les décomposer ensuite, il me semble au contraire que vous commenceriez par donner des signes à vos idées pour en faire ensuite des propositions. 258 Der „langage d’action“ wird uns noch interessieren. Im Augenblick ist von Belang, dass Condillac Lautzeichen erst dann annimmt, wenn bereits ein vorsprachliches Denken analysierte Einzelideen gebildet hat, die dann mit jenen versehen werden können. Maupertuis erscheint insofern als der radikalere Verfechter der Sprachabhängigkeit des Denkens, als er die Zerlegung des Erscheinenden vollkommen an die Sprache bindet. Condillac hingegen nimmt diese Möglichkeit auch schon vor der Sprache an. Gleichwohl binden beide die abstrakten Ideen vollkommen an die Sprache; sie sind sich darüber einig, dass die Abstrakta bloße Namen sind - und dass somit etwa die Unterscheidung zwischen Substanz und Modifikation nur eine Sprachregelung ist: 259 257 Maupertuis 1748, XIII, S. 36 258 Condillac 1947-51), II, S. 536 259 Vgl. Maupertuis 1748, XIV, S. 38. 161 Il est hors de doute que la distinction de substance et de mode n’est point fondée dans la nature des choses et que c’est par cette raison que les philosophes diffèrent si fort de sentiment à ce sujet. 260 Maupertuis meint sogar, wenn alle Objekte auf Erden grün seien, so hätten wir das Grüne aus Bequemlichkeit als Substanz und nicht als Modifikation angesehen. 261 Er bezweifelt damit insbesondere die grundlegende Natur des Ausdehnungsbegriffs, der seines Erachtens nur aufgrund kontingenter Sprachregelungen seine beherrschende Stellung habe. Über die Wirklichkeit können wir mit solchen Einteilungen nichts aussagen. Maupertuis und Condillac kommen darin überein, dass die ersten Wahrnehmungen, die mit den ersten Zeichen belegt wurden, bei Menschen in ähnlichen Lebensräumen die gleichen gewesen sein müssen. Die ersten Ideen selbst sind also nicht arbiträr. Maupertuis’ Annahmen über die Weiterentwicklungen aus diesem Urzustand unterscheiden sich von denen Condillacs dadurch, dass er durch die engere Bindung des Denkens an die Sprache stärkere kulturelle Unterschiede annimmt, die auch Unübersetzbarkeit nach sich ziehen können. 262 Da aber die ersten und daher sichersten Ideen aufgrund ihres körperlichen Zustandekommens gleich sind und es natürlich auch für Maupertuis einen idealen Aufbau von Sprache und Denken gibt, ist das ‘fremde Denken’ keine Alternative zum eigenen; beide müssen sich am richtigen messen, das für Maupertuis wie für Condillac nur in der mehrfach erwähnten „langue bien faite“ zu erreichen ist. Der Unterschied zwischen den Sprachentstehungstheorien von Condillac und Maupertuis liegt also insgesamt vor allem darin, dass Maupertuis die Konstrukte, mit denen wir unsere Wahrnehmungen ordnen, ganz an die Sprache bindet, Condillac hingegen einen Teil davon zumindest als nachträgliche Etikettierungen vorsprachlicher Denktätigkeit einstuft. Aufgrund dieser Differenz kann Condillac Maupertuis übrigens auch nicht darin beistimmen, das Grüne könne als ebenso substanzhaft wie die Ausdehnung aufgefasst werden, und das Denken der Völker könne aufgrund der möglichen Verschiedenheit solcher Begriffsbildungen sehr verschieden ausfallen: […] mais je ne sais si on porroit vous accorder que dans le cas où tous les objets soient verds, la verdeur pût être prise pour une substance; car elle ne seroit partie uniforme que pour l’œil; l’étendue au contraire le seroit pour l’œil et pour le tact. Vous ne pourriez pas par des abstractions dépouiller l’arbre de l’étendue et de la figure et lui conserver la verdeur, car la verdeur ne peut pas ne pas être étendue. Il y auroit de la différence entre la philosophie de deux peuples qui n'auroient eu aucun commerce ensemble, et la différence des langages pourroit y contribuer: je doute cependant que cette différence fût aussi considérable que 260 Condillac 1947-51), II, S. 536 261 Maupertuis 1748, XV, S. 38 262 Maupertuis 1748, XVIII-XIX, S. 40 162 vous paroissez le supposer, les hommes ayant partout les mêmes sens et des besoins semblables; je crois que sans se communiquer, ils seroient sûrement conduits à faire les mêmes abstractions et les mêmes raisonnements. 263 Die körperliche Analyse der Wahrnehmung durch die verschiedenen Sinnesorgane zeigt bereits, dass die Ausgedehntheit dem Grün vorgeordnet sein muss, da sie im Unterschied zu diesem zwei verschiedene Sinnesorgane affiziert. 264 Die Sinnesorgane garantieren hier aber nicht nur die Analyse der Wahrnehmung, sondern das ganze Denksystem. So weit die Sprachen sich nicht von den ‘ursprünglichen’ Wahrnehmungen und Bedürfnissen allzu weit entfernt haben, müssen auch die Begriffssysteme verschiedener Völker übereinstimmen. Die Natürlichkeit des Denkens begründet die Übereinstimmung der Sprachen. Da die Natur des Menschen überall dieselbe ist, so ist es auch seine Rationalität und mithin seine Sprache, die trotz häufiger gegenteiliger Beteuerungen Condillacs und auch der idéologues nach sensualistischer Auffassung der Ratio folgt und sie nicht etwa begründet. Wäre das Denken abhängig von sich je verschieden entwickelnden Sprachen, so könnte auch ein Maupertuis, der diese These stärker vertritt als Condillac, die Entfaltung von Denken und Sprache nicht more 263 Condillac 1947-51), II, S. 536-537 264 Sein zweites Argument, dass es zwar Ausdehnung ohne Farbe, aber nicht Farbe ohne Ausdehnung geben könne, lässt sich insbesondere von Destutt de Tracys Weiterentwicklung des Sensualismus aus als unvereinbar mit Condillacs Anschauungssystem erweisen. Es verfehlt die Strenge von Maupertuis’ Annahme und argumentiert dabei mit verschiedenen Abstraktionsgraden, denn Grün und Ausgedehnt liegen nicht auf derselben Ebene: Wenn alle Objekte, wie Maupertuis sagt, grün wären, so wäre Grün ja gar keine ‘abstrahierbare’ Farbe, die zu anderen in Opposition treten könnte, sondern synonym zu ‘Farbigkeit’; als solche wäre Grün eine Weise, in der materielle Objekte uns allgemein affizieren. Die Sensation ‘Farbigkeit=Grün’ könnte durch das Konstrukt einer Ursache - wie etwa der Annahme, die Objekte hätten eine Oberfläche, die im Falle eines Lichteinfalls ‘farbig=grün’ erscheint - auf eine anzunehmende Aussenwelt zurückgeführt werden und läge damit auf der gleichen Ebene wie ‘Widerstand’, den Destutt in ähnlicher Weise auf ‘Ausdehnung’ bezieht (dies ist im Wesentlichen die Argumentation von Destutt 1800b. Ausdehnung ist nämlich für Destutt kein Sinneseffekt, sondern ein Konstrukt, das den gespürten Widerstand kausal erklären soll. Insofern liegen Farbigkeit und Ausdehnung auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Das gleich abstrakte Gegenstück zur Ausdehnung wäre ‘mit Oberfläche’: Sind Gegenstände denkbar, die Ausdehnung, aber keine Oberfläche besitzen? Oberfläche und Ausdehnung sind Begriffe, die einander bedingen und gleichgesetzt werden können. À la Destutt hieße also Condillacs Argument: *Es ist nichts denkbar, was Ausdehnung, aber keine Ausdehnung hat. Ausdehnung kann nur dann in der von Condillac versuchten Weise begrifflich über Farbigkeit geordnet werden, wenn man sie im Sinne von Descartes als ontologische Kategorie versteht. Dieser Restbestand cartesianischen Denkens ist als Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten auch schon bei Locke zu finden. Condillacs erstes Argument, das den Unterschied in einem Unterschied der Zahl und Art der affizierten Sinnesorgane sieht, überwindet diese Konzeption im Sinne der von Condillac ja auch sonst verfochtenen Ableitung aller Begriffe aus der sensation. 163 geometrico als für alle Kulturen gleichermaßen gültige Herleitung formulieren. Die Tatsache freilich, dass Rationalität und Natur im Grunde ineins gesetzt werden, impliziert auch, dass nur das rationale Denken, wie man es selbst versteht, ‘natürlich’ sein kann. Die Suche nach dem unverfälschten Denken der Naturvölker ist demnach ebenso wie eine eurozentrische Kritik dieses Denkens, welches in dieser Perspektive sogar als ‘unnatürlich’ erscheinen kann, bereits im Zirkel des Analyse-Genese-Modells vorgegeben. Rousseau und Volney sind zwei Seiten derselben Medaille. Wie erzählt aber nun Condillac seine Sprachgenese, wie insbesondere leitet er das Sprechvermögen aus einem vorsprachlichen, vormenschlichen, naturhaften Zustand ab, der im Sinne seiner argumentativen Zielsetzungen ja alle Grundlagen von Sprache und Denken schon in sich tragen muss? Hier tritt der in dem oben zitierten Brief Condillacs an Maupertuis gegen diesen ins Feld geführte „langage d’action“ in Erscheinung. Nach Condillacs Auskunft sind die Aktionen der Kundgabe, die Gesten, die Mimik, die begleitenden Handlungen, die einer sensation bei den Urvölkern zugeordnet sind, natürlich und von unserer Biologie vorgegeben. Die Kopräsenz von Aktion und Idee kann in dem Sinne der bloßen Relation, die das Zeichenhafte in jener Epoche begründet, als liaison verstanden werden. Insofern sind Hunger und Bauchreiben (um ein fiktives Beispiel einzuführen, das ein moderner Verhaltensforscher leicht widerlegen könnte) notwendig verbunden, und diese nicht näher bestimmte Relation gilt auch für Hunger und Magenknurren, Hunger und Nahrungssuche und Hunger und Weizenkorn. Verschiedene Sensationen treten bereits verknüpft auf, und dadurch ist die Zeichenbeziehung, wie Gérando ausführt, schon in der Natur. Der Anblick einer Sache, die unsere Bedürfnisse befriedigt, ist ein Zeichen ebenso für das Bedürfnis wie für seine Befriedigung. Die natürlichen Zeichen treten im systematischen Netz unserer Bedürfnisse in Form von Kopräsenzen auf. 265 Der „langage d’action“ reiht sich ein in die natürlichen Zeichen, seien diese nach der oben referierten Einteilung von Port-Royal nun sicher oder wahrscheinlich, verbunden oder getrennt. Dabei ist der „langage d’action“ den späteren Lautzeichen in zweierlei Hinsicht analog: Die Aktionen sind einzelnen Empfindungen zugeordnet und sie können in einer Sukzession auftreten. Das heißt, wie uns Condillac und Destutt versichern, der „langage d’action“ analysiert bereits, ist bereits eine „méthode analitique“ und trägt daher zu Recht bereits den Namen einer Sprache. 266 Man musste diese gestischen Zeichen nur durch Klangzeichen ersetzen, um die Sprache zu erhalten, wie wir sie kennen. Und das bedeutet: Konventionelle Zeichen wurden nicht aus dem Nichts vereinbart, sondern konnten in die schon von der Natur vorgegebenen Situationen des Zeichenverstehens eintreten. 265 Gérando 1800, I, S. 102 266 Condillac 1780a, S. 408; vgl. auch Destutt de Tracy 1796, S. 141. 164 Insofern bemerkt Gérando zu Recht, dass das Verstehen dem Zeichengeben voraus geht, 267 und dies gilt nun nicht nur für den „langage d’action“, sondern auch für die anderen natürlichen Zeichenbeziehungen, wie sie etwa in unserer oben gegebenen Beispielsreihe des Hungers zwischen einem Objekt und seiner Wirkungsweise oder einem Bedürfnis und seiner Befriedigung bestehen: Menschen beobachten sich in ähnlichen Situationen und stellen, so Gérando, durch so etwas wie sympathetische Intelligenz 268 fest, dass die Beziehung zwischen Hunger und Weizenkorn oder zwischen Hunger und Bauchreiben für andere die gleiche ist, und so können nun Analogien gestiftet werden. Condillac meint: Les premières expressions du langage d’action sont données par la nature, puisqu’elles sont une suite de notre organisation: les premières étant données, l’analogie fait les autres. 269 ‚Bauchreiben’ kann etwa für ‘Weizenkorn’ einstehen, und bald kann ein Lautzeichen in eine der Positionen einrücken. Zu den allerersten Funktionen des Sprachlichen gehören, wie man an diesen Analogieverfahren sieht, solche, die eigentlich in der Systematik der Rhetorik zu den höheren Verfahren des uneigentlichen und insofern logisch abgeleiteten Sprechens gehören: diejenigen der Metapher, Metonymie und Synekdoche. Die Erweiterung des Zeichensystems, die Funktion der Derivation in Foucaults Diagramm, wird durch diese Verfahren von Anfang an ermöglicht - ein seltener Fall der Nichtidentität von ‘historischer’ und logischer Priorität im Analyse-Genese-Modell. Insofern, als diese Analogien möglichst klar und systematisch zu wählen waren, sind die Zeichen, wenn denn die Sprache „bien faite“ ist, gerade nicht arbiträr, wie Condillac immer wieder versichert. 270 In den guten Analogien zeigt sich auch der Mustercharakter der Sprache der Algebra: Les mathématiques sont une science bien traitée, dont la langue est l’algèbre. Voyons donc comment l’analogie nous fait parler dans cette science, et nous saurons comment elle doit nous faire parler dans les autres. 271 Insofern, als jedes Zeichen so gesehen auf motivierte Weise historisch entstanden ist, ist keines arbiträr - außer, so Gérando, in der unreflektierten Einschätzung durch den Benutzer, der diese Entstehungsgeschichte nicht mitbedenkt. 272 Von der Entfaltung des in der Natur angelegten „langage d’action“ an kann der Mensch immer neue Zeichen einsetzen, indem er 267 Gérando 1800, I, S. 113ff 268 Die Menschen haben gleiche Bedürfnisse, sehen sich in gleiche Natur- Zeichenzusammenhänge gestellt und schließen auf Analogien; so werden die natürlichen Zuordnungen zu Zeichen: Gérando 1800, I, S. 109-111 und S. 132. 269 Condillac 1780b, S. 2; vgl. auch Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 318. 270 Etwa Condillac 1780b, S. 4 271 Condillac 1780b, S. 6 272 Gérando 1800, I, S. 125 165 Situationen und Handlungen, die bereits verstanden worden sind, wiederholt. Über Zeigehandlungen und signes imitatifs (etwa onomatopöische Worte) kommt man so zum institutionellen Zeichen, wie Gérando ausführt. 273 In seinen Darlegungen findet sich auch noch ein wichtiger Hinweis auf das, was Foucault, wie wir sahen, „la représentation redoublée“ nennt: Bereits die Zeichen des „langage d’action“ müssen als Spiel („jeu“) verstanden werden können: Sie müssen einen Als-ob-Charakter haben, der den Betrachter von ihrem eigenen Sein auf etwas anderes lenkt. Ihr Zeichensein muss ihnen mitgegeben sein. 274 Man sieht, wie gerade die idéologues in immer neuen Details jene natürliche Sprachentstehungsvorstellung ausarbeiten, die, wie Foucault zeigt, 275 den berühmten Einwand Rousseaus aushebeln sollen, konventionelle Sprachen hätte man nur konventionell instituieren können, wenn man sie dazu bereits zur Verfügung gehabt hätte. Insofern, als das Verstehen für die Ideologen dem Zeichengeben vorausgeht und die konventionellen Zeichen nur an die Stelle von bereits vorhandenen natürlichen treten mussten, ist Rousseaus Einwand bestätigt und widerlegt zugleich: Man musste sich in der Tat bereits verstehen, um Konventionen eingehen zu können, und man verstand sich ja - so etwa Destutt de Tracy. 276 Andererseits ist eben die erste, die natürliche Sprache, gerade nicht konventionell. Man musste also keine Konventionen haben, um Konventionen eingehen zu können. Diese Auffassung ist allerdings nur dann überzeugend, wenn die gleichzeitig von den Ideologen immer wieder vorgebrachte Auffassung von der Sprachabhängigkeit des Denkens nicht schon für die allerersten Denktätigkeiten innerhalb jener Entfaltungsgeschichte menschlicher Rationalität gilt, die der Sprachgenese parallel verläuft. Obwohl Saint-Martin bei seinem kritischen Anschluss an diese Theorien, wie wir sehen werden, gerade die Lehre von den natürlichen Zeichen übernehmen wird, ist er nicht bereit, die Konsequenz zu ziehen, sie garantierten eine natürliche Sprachentstehung. Immer wieder nimmt er Bezug auf Rousseaus Kritik an dem vermeintlichen Zirkel der Lehre über die von Menschen eingegangenen Sprachkonventionen. Zugleich aber findet sich bei ihm eine Argumentation, die diese Lehre zu akzeptieren scheint, um sodann die konventionellen Zeichen als Verfallsstufen darstellen zu kön- 273 Gérando 1800, I, S. 113-119 274 Gérando 180), I, S. 119 275 „Dans le Discours sur l’orine de l’inégalité, Rousseau faisait valoir qu’aucune langue ne peut reposer sur un accord entre les hommes, puisque celui-ci suppose déjà un langage établi, reconnu et pratiqué; il faut donc l’imaginer reçu et non bâti par les hommes. En fait le langage d’action confirme cette nécessité et rend inutile cette hypothèse. L’homme reçoit de la nature de quoi faire des signes...“ (Foucault 1966, S. 122). Vgl. Rousseau 1755, S. 130. 276 Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 316 166 nen. Man muss also seinen Anschluss an Rousseau eher normativ verstehen: Nicht die Möglichkeit der Schaffung einer konventionellen Sprache will er bezweifeln, sondern ihre Berechtigung, ihren Anspruch, Werkzeug relevanter Rede zu sein. Eine solche Unternehmung kann nicht wirklich glücken, und in der Tat ist Saint-Martin der Ansicht, unsere Sprachen seien eine Schwundstufe der gottgegebenen Sprachfähigkeit des Menschen. Diese Überzeugung Saint-Martins, nur ein Gott habe dem Menschen die Sprache geben können, ist natürlich auch die der christlichen Apologetik und der Theologie. Aber die Fronten sind nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die natürliche Sprachentstehungstheorie Condillacs, Destutts und Gérandos macht diesen Gott zwar entbehrlich, führt ihn jedoch durch die Hintertür wieder ein. Die Vorstellung, der Mensch entfalte nur die Möglichkeiten, die ihm die Natur zur Verfügung stellt, erlaubt nämlich auch eine theistische oder pantheistische Ausarbeitung, in der die Natur nicht mehr nur die Idee vom Ganzen ist, sondern eine Kraft höherer Ordnung, eine Göttin oder doch eine Dienerin Gottes. Court de Gébelin, dessen Sprachentstehungslehre wir als nächstes betrachten werden, hat diese Möglichkeiten aus einer sensualistischen Rahmenvorstellung herausgeschält und dadurch eine Brücke zwischen dieser und einer esoterischen Vorstellungswelt geschlagen. 2.2.2.2. Court de Gébelin und die Ursprache Für Court de Gébelin ist gerade die Natürlichkeit der Sprache ein Hinweis auf ihren göttlichen Ursprung, denn Gott steht hinter der Natur: Le Langage vient de Dieu, en ce qu’il forma l’homme avec tous les organes nécessaires pour parler, qu’il le rendit capable d’idées & de sentimens, qu’il lui fit un besoin de les exprimer, qu’il l’environna de modèles propres à le diriger dans cette expression. 277 Nicht nur die körperlichen Voraussetzungen, sondern auch die Umwelt und die durch sie okkasionierten Ideen sind darauf angelegt, dass der Mensch Sprache entwickeln kann. Auch das Funktionieren der Sprache in der liaison zwischen Zeichen und Idee (beziehungsweise, was für Court fast dasselbe ist: Referent) ist von Gott gesichert: Un Dieu seul put donner à l’homme les organes qui leui étoient nécessaires pour parler; il put seul lui inspirer le désir de mettre en œuvre ces organes, il put seul mettre entre la parole & cette multitude merveilleuse d’objets qu’elle devoit peindre, ce rapport admirable qui anime le discours, qui le rend intelligible à tous, qui en fait une peinture d’une énergie & d’une vérité à laquelle on ne peut se méprendre. 278 277 Court de Gébelin 1774-84), II, S. xiij 278 Court de Gébelin 1774-84), III, S. 66 167 Der Energie-Begriff wird uns im Z WEITEN T EIL interessieren. Es ist immerhin schon hier zu sehen, dass durch ihn die Vorstellung Condillacs, die liaison („rapport“) garantiere die Erkenntnistauglichkeit der Rede, bei Court in charakteristischer Weise als Aktivität aufgefasst wird, und zwar als Aktivität, die von Gott ausgeht. Courts de Gébelins Sprachursprungsgeschichte ist für uns deshalb so interessant, weil dieser Protestant und Physiokrat zwischen Sensualismus und Illuminismus, am Ende seines Lebens Parteigänger und Patient Mesmers und Mitglied von dessen Société de l’Harmonie, 279 eine Mittlerstellung zwischen verschiedenen Reden und Lehren einnimmt. Was den verschiedenen Richtungen gemeinsam ist, lässt sich an ihm genauso sehen wie das Innovationspotential, das gerade in unübersichtlichen Begegnungen dieser Art zu vermuten ist; das universale Bindemittel der Freimaurerei mag auch hier die Gegensätze vereinbar gemacht haben. 280 Die zitierten Stellungnahmen zur Sprachentstehung enstammen Court de Gébelins heute vergessenem gewaltigen Werk Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne, das seither nie wieder im Ganzen gedruckt worden ist. Und doch ist er ein wichtiger Autor seiner Zeit; Mercier-Faivre (auf deren eingehende Untersuchung hier verwiesen sei 281 ) zeigt, dass er aus der Perspektive der Zeitgenossen geradezu als Rousseau ebenbürtig gelten konnte. 282 Die Rekonstruktion des Sprachursprungs und der Ursprache ist in diesem Werk Teil einer größeren Ursprungsspekulation, die aus den vorfindlichen Monumenten menschlicher Kultur die ‘ursprüngliche’ kulturelle Welt im Ganzen ablesen will. Die Entzifferung und Deutung der Mythen und Allegorien aller Völker, der vergessenen und noch lebendigen Sprachen und ihrer Etymologie, die Archäologie des Verschütteten und die Rückführung des Gegenwärtigen auf einen Urzustand sind die Vorhaben 279 Vgl. Court de Gébelin 1783. 280 Zusammen mit Franklin hat Court de Gébelin bei der Aufnahme Voltaires in die „Loge des sept soeurs“ mitgewirkt, deren Sekretär er war - vgl. Mercier-Faivre 1999, S. 60. 281 Mercier-Faivre 1999; diese Untersuchung arbeitet eine Vielzahl von Aspekten des Monde primitif heraus und situiert sie in einem reichen Kontext. Als Anhang bietet sie außerdem die einzige nach dem achtzehnten Jahrhundert erschienene Ausgabe eines Abschnitts dieses Werks, und zwar des Génie allégorique et symbolique de l’Antiquité von 1773. 282 Dies ist ersichtlich aus einem Buchtitel wie: Analyse des ouvrages de Jean-Jacques Rousseau, de Genève, et de M. Court de Gébelin, auteur du Monde Primitif, par un solitaire, von dem Abbé Le Gros, der sich mit einer, wie er schreibt, wohlsortierten Bibliothek aufs Land zurückgezogen hat und als Frucht seiner Lektüren eine Darlegung der wichtigsten Gedanken der beiden seiner Ansicht nach faszinierendsten Autoren des Jahrhunderts vorlegt; vgl. Mercier-Faivre 1999, S. 36. Sich auf verschiedene Forschungen beziehend, gibt Mercier-Faivre auf S. 38 ihrer Untersuchung einen guten Überblick über die enorme europäische Verbreitung des Monde primitif. 168 dieser neun Bände, die deren wichtigste heutige Kennerin als Supplement der Encyclopédie bezeichnet: 283 Wie schon die Aufzählung der Themen zeigt, überschreitet der Monde primitif den Gegenstandsbereich der Encyclopédie in Richtung auf ein verborgenes, spekulatives Wissen, das die Encyclopédie programmatisch ausgespart hat und dessen Fehlen im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts nunmehr eher als Mangel denn als heilsame Beschränkung empfunden wird. Und dennoch ist gerade dieses Programm der Rückführung von unserem Analyse-Genese-Modell, welches in der Mitte des ‘klassischen’ Denkens anzusiedeln ist, geprägt. Das Ursprüngliche wird als das Verlässlichste angesehen, und von diesem aus wird die Gegenwart hinterfragt. Die Mannigfaltigkeit der tatsächlichen Welt wird in einer zeitlichen Abfolge aufgefaltet, die zugleich die Überprüfung der einzelnen Geschichtsschritte auf ihre Berechtigung ermöglicht. Court de Gébelin fasst jedoch seine Rekonstruktion der ursprünglichen Welt nicht in das Bild der Genese eines Tableaus, sondern der Wiederherstellung einer Ruine, deren wiedergewonnene Integrität das Verfallene wieder lesbar machen soll. So lesen wir auf der ersten Seite seines Génie allégorique et symbolique des anciens, welches die dritte Lieferung des ersten Bandes ausmacht: L’A NTIQUITE , semblable à ces Terrains qu’ont bouleversé les Catastrophes les plus terribles, & dont on a peine à se représenter le premier état, n'offre à ceux qui veulent la connoître, que décombres & précipices: on y marche au milieu des débris de toute espéce […] Par-tout, des Monuments inintelligibles par l’oubli des Langues dans lesquelles ils furent écrits, obscurcis par leur antiquité, ou dont l’origine est absolument inconnue […] Ainsi, toujours environnés d’énigmes, d’incertitudes, d’obscurités qui semblent impénétrables, il faut avoir sans cesse la sonde à la main, & l’on est continuellement dans la crainte de ne trouver aucune issue. 284 Die Entzifferung ruinenhafter Texte und Überlieferungen und die Erhellung von Mythen, die er als verfallene Monumente begreift, sind demnach die Ziele von Court de Gébelins Arbeit. Für ihn ist das verlässlichste erste Element der Analyse-Genese nicht mehr wie etwa für Condillac und seine Nachfolger etwas fraglos Offenliegendes, sondern es bedarf einer Freilegung. Der Ausgangspunkt der Genese muss in der Ferne der Geschichte erst noch gefunden werden, und die Gegenwart ist nicht eine vollendete Anordnung, sondern ein Verfallszustand. Alternativ dazu gebraucht Court jedoch noch das Bild eines Baumes, dessen Stamm durch sein reiches Astwerk ganz unsichtbar geworden ist - also ein organisches Bild, das den gegenwärtigen Zustand nun nicht als Verfall, sondern als Wucherung versteht, von der aus aber, analog zum 283 Dies ist die Aussage des Buchtitels von Mercier-Faivre 1999. 284 Court de Gébelin 1773-84), I, 3, S. 1-2 169 Bild der Ruine, auf einen ursprünglichen, eigentlichen Zustand zurückgestiegen werden soll. Court de Gébelin will zu dem Stamm vordringen, der die vielen Äste hervorgebracht hat, welche die heutige Welt, vor allem die Welt der menschlichen Kenntnisse, ausmachen. Die komplexe Gegenwart wird demnach zugleich als Verfall der Ursprünge und als reiche Weiterentwicklung des einfachen Anfänglichen angesehen. Die beiden Bilder ergeben eine Ambivalenz: Die unentzifferten Monumente um uns herum sind einerseits keine Beigaben unserer Welt, sondern deren wichtigste Bestandteile, insofern sie Zeugen eines verlorenen und in vieler Hinsicht besseren Urzustandes dieser Welt sind - eine Abwertung gegenwärtiger Künste und Wissenschaften, wie sie sich auch in Rousseaus Discours sur les sciences et les arts findet, 285 aber dem Analyse-Genese-Modell insgesamt als Möglichkeit eingeschrieben ist: Wenn die anfänglichen Elemente die gewissesten, die höher entwickelten stets die fraglichen sind, so ist das Ältere (vor allem dann, wenn es näher an der Natur ist) auch das Bessere. Aber dies ist nur die eine Seite. Andererseits ist nämlich das reiche Astwerk, welches sich aus dem Stamm heraus entfaltet hat, auch wieder selbst ein Wert. Vor allem bei seinen Bemerkungen über die Ursprache macht Court de Gébelin deutlich, dass er nicht wirklich zurücksteigen, sondern die rekonstruierte Vergangenheit nur als Schlüssel zu einer letztlich doch reicheren, aber eben deshalb auch unübersichtlich gewordenen Gegenwart benutzen will, obwohl er sich doch auch nach der Unmittelbarkeit und Energie der Ursprache sehnt. In dieser Ambiguität trifft er sich mit Rousseau, der - wie Geyer 286 gezeigt hat - nach dem ersten Discours die Hoffnung auf eine Rückkehr zum Urzustand nicht mehr ernsthaft erwägt. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass Rousseau (so Geyer) diesen Wechsel vollzieht, da er die Geschichtlichkeit des Menschen als dessen wahres, im Fluss befindliches Sein zu begreifen beginnt. Court de Gébelin bleibt hingegen im Horizont des Analyse-Genese-Modells: Findet der Mensch eine Gegenwartsposition, die als richtige Ableitung komplexerer Verhältnisse aus sicheren ursprünglichen angesehen werden kann, so ist die Gewissheit der Ursprünge in die Gegenwart hereingeholt und gleichzeitig die Perfektibilität des Menschen ausgelebt. Die Zukunft ist nicht offen, sondern eine stete Weiterentwicklung ursprünglicher Gegebenheiten, die stets auch auf die Richtigkeit ihrer Ableitung befragt werden kann. Seine Ambivalenz zwischen Fortschrittsglaube und Ursprungsnostalgie markiert einen intrinsischen differenzierenden Widerspruch innerhalb des Epochendiskurses selbst, der wohl nicht kritisch ist, sondern das Modell in zwei Subsysteme verzweigt: diejenigen, die wie Rousseau die Dekadenz diagnostizieren, und diejenigen, die wie Turgot und Condorcet auf den 285 Vgl. Rousseau 1750. 286 Vgl. Geyer 1997, S. 187. 170 Fortschritt setzen. Court de Gébelin steht genau in der Gabelung dieses Widerspruchs. Wie will Court de Gébelin aber sein Vorhaben umsetzen? Mag er auch schwanken zwischen einer Restitution idealer Urzustände und einer bloß erkennenden Rekonstruktion einer die Gegenwart erhellenden Vergangenheit - in jedem Falle gilt es für ihn, in gut humanistischer Weise direkt die Monumente des Altertums anzugehen, ohne sich durch die Verdunklungen späterer Traditionen verwirren zu lassen, will er doch nicht den beschwerlichen Weg durch die Äste zurück zum Stamm nehmen, sondern „aller directement à ce tronc.“ 287 Er will also die spätere Geschichte menschlicher Kenntnisse, die sich auf den ursprünglichen erheben, zunächst einmal beiseite schieben und direkt aus den Resten der Vorzeit diese im Ganzen rekonstruieren. Wenn aber die spätere Geschichte menschlicher Kultur nicht zur Deutung der Fragmente der anfänglichen herangezogen werden kann, woher sind dann die Interpretanten für die opak gewordenen Texte zu beziehen? Wie in den bislang referierten Ursprungstheorien ist dieser Schlüssel auch hier die unveränderliche Menschennatur: Les hommes, placés sur cette terre pour en jouir & pour la cultiver, ne purent jamais s'écarter de la Nature, & leurs connoissances ne purent naître que par imitation. Il n'a donc fallu, pour parvenir à la source de tout ce qu’ils ont inventé, qu’observer les objets dont les premiers hommes étoient environnés, les sensations qui durent les frapper, les idées qu’il leur fut impossible de ne pas concevoir, les organes qu’ils avoient pour se communiquer leurs pensées, les signes & les expressions qui en résultoient, la maniere dont les idées abstraites ou métaphysiques dérivent nécessairement de la connoissance des choses physiques, les besoins & les rapports qui unirent les familles, & enfin la marche naturelle de la perfectibilité de l’esprit humain. 288 Im Unterschied zu Rousseau, 289 aber ähnlich wie Condillac, glaubt Court de Gébelin, der Mensch funktioniere überall und zu allen Zeiten gleich - nicht umsonst gilt er als einer der Begründer einer allgemeinen Anthropologie 290 -, und eine Rekonstruktion der ursprünglichen Zivilisation kann daher von dieser überzeitlichen Funktionsweise ausgehen. 287 Court de Gébelin 1773-84), I, 1, S. 3 288 Court de Gébelin 1773-84), I, 1, S. 3 289 Im Discours sur l’inégalité verhöhnt Rousseau diese Ansicht als „ce bel adage morale, si rebatu par la tourbe Philosophesque, que les hommes sont par tout les mêmes“, Rousseau 1755, S. 340-342. 290 Mercier-Faivre weist die Abhängigkeit einer der Gründungsschriften dieser Wissenschaft, Aléxandre César de Chavannes’ Essai sur léducation intellectuelle avec le projet d’une science nouvelle, von Courts Monde primitif nach, arbeitet aber auch die Unterschiede zwischen beiden Werken heraus - insbesondere den, dass bei Chavannes auch der leibliche Mensch zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht wird, während Court sich auf die im weitesten Sine zeichenbenutzende Seite des Menschen beschränkt. Vgl. Mecier-Faivre 1999, S. 224-227. 171 Insbesondere der Zusammenhang zwischen den Sinnen und der Tätigkeit des menschlichen Geistes bietet eine wesentliche Grundlage für die Erschließung des verlorenen Ursprungs. Wie die Sensualisten begründet Court die Ideen aus Sinneseindrücken, und die Zeichen sind für ihn Vehikel zur Weitergabe von bereits unabhängig von ihnen aus den Sinnesdaten entwickelten, auch abstrakten, Ideen. Man muss also nur rekonstruieren, was die ursprünglichen Menschen wahrgenommen haben, so wird man auch gleich zu ihren Ideen gelangen, weil man schließlich weiß, wie der Mensch zu allen Zeiten auf seine Umwelt reagiert. Freilich ist dies ein Zirkel: Die unentzifferbare Vergangenheit wird durch ein überzeitliches Wissen gedeutet, das selbst nicht aus der Vergangenheit kommen kann, aber auch, wie wir oben sahen, nicht aus der Gegenwart gewonnen werden soll. Denn diese ist auf der negativen Seite von Courts ambivalentem Ansatz nur die opak gewordene Oberfläche, die Ruine der Vergangenheit, auf der positiven Seite die zu nicht mehr überschaubarer Komplexität gewucherte Weiterentwicklung des Urzustandes. In beiden Fällen ist die Gegenwart ohne Verständnis der Vergangenheit wiederum nicht zu deuten. Court de Gébelin durchbricht diesen Zirkel, indem er sein festes Menschenbild religiös unterfüttert und es damit als geoffenbart ausweist. Darin unterscheidet sich seine Lektüre des Menschen von der der Sensualisten; zugleich kehrt sie jedoch den theologischen Restbestand von deren Menschenbild hervor. Dies zeigt sich bei genauerer Betrachtung der den oben zitierten Absatz einleitenden Formulierung. Die Naturnähe des Menschen wird dort aus der Bestimmung des Menschen zu Genuss und Bebauung der Erde hergeleitet, auf die er gesetzt ist. Das Subjekt dieser Einsetzung des Menschen muss wohl demnach auch als implizites ethisches Dativobjekt dieser Sinnbestimmung gedacht werden. Vor dem (protestantisch-) christlichen Hintergrund von Courts Anschauungen kann man also übersetzen: Gott hat den Menschen auf die Erde gesetzt, dass er sie ('ihm') bebaue und genieße, und er leitet ihn durch die Einbettung in die Natur dazu an. Das Glück des Menschen ist auch dessen Pflicht, und es wird erreicht durch Eingliederung in eine Ordnung des Ackerbaus im Sinne der Physiokraten um Quesnay 291 , dem auch Court de Gébelin anhing. Diese Ordnung ist nun nicht spontane Organisation nach experimentell erkannten Zweckmäßigkeiten, sondern sie ist - das macht ein Gesamtüberblick von Courts Werk deutlich - die göttlich eingesetzte große Naturordnung, in der der Mensch seinen unverrückbaren Platz idealerweise als freier, landbesitzender Bauer hat. 291 Der Vorrang des Ackerbaus und die Abhängigkeit aller Wrtschaftsaktivität von diesem sind die zentralen Themen von Quesnay 1758, sowie von Quesnays Artikeln für die Encyclopédie, besonders F ERMIERS und G RAINS . Dupont de Nemours, dem wir als Esoteriker noch begegnen werden, versammelte überdies verschiedene Artikel Quesnays, vgl. Quesnay 1767-68. 172 Court de Gébelin gibt damit eine religiöse Fassung der ‘neuen Idee vom Ganzen’, der Naturauffassung also, die sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr ausbreitet. Welche Erträge kann Court de Gébelin aber bezüglich der Ursprache anbieten? In ähnlicher Weise wie die eben referierte Position des Menschen in der Natur sind seine oben erwähnte ‘sensualistische’ Beschreibung des Entstehens der Ideen bei den Bewohnern des monde primitif, sowie seine ‘sensualistische’ Deutung der Sprachentstehung religiös überformt: Auch hier ist die scheinbar selbständig wirkende Natur von Gott im Sinne der von ihm eingesetzten Ordnung gelenkt. Die Sinneseindrücke werden in einer ursprünglich lautmalerischen Sprache nachgeahmt. Insofern ist die Sprache von den Dingen abhängig, in die der Mensch gestellt ist. Das Zusammenwirken einer von Gott gestifteten körperlichen und geistigen Sprachfähigkeit 292 des Menschen mit der ebenfalls von Gott vorgegebenen Ordnung, in der der Mensch seinen Platz hat, macht nun letztlich auch die Sprache, genauer gesagt, die Ursprache, zu einer geoffenbarten. Sie fließt aus der Natur des Menschen und imitiert diejenige der Dinge. Die Zeichen sind also zwar Repräsentationen, aber näherhin stets Bilder, ja sogar Manifestationen. Insofern, als Gott selbst den Bezug zwischen Zeichen und Referent sicherstellt, die menschliche Rede also im Anfang eng an die Welt bindet, ist das Zeichen auch nicht arbiträr. Schrift- und Sprachzeichen sind gleichzeitig entstanden und imitieren jeweils verschiedene Aspekte der Dinge. Schrift ist ursprünglich Malerei 293 , Sprache Onomatopöie (in den dekadenten Zivilisationen, die dem Ackerbau später entsagen, geht allerdings die Schrift dann wieder verloren 294 ). Die ursprünglichen Sprachlaute sind also für Court de Gébelin Mittel der Nachahmung, und die Schrift ist keine Abbildung dieser Laute, sondern eine ihnen zur Seite tretende Form von Malerei, die gleichermaßen nachahmend ist. So schreibt Court de Gébelin: L’homme a eu un modèle pour parler, la Nature & les Idées; il en eut un pour écrire, les objets même de ses idées & de ses discours. 295 Allerdings können für Court de Gébelin Menschen nicht nur, wie bereits bis zu einem gewissen Grade die Tiere, ihre sensations malen, die Menschen können auch, wie schon aus obigem Zitat ersichtlich, „peindre leurs idées,“ die zwar aus den Sinneswahrnehmungen gebildet werden, aber eine höhere gedankliche Stufe darstellen als diese; im Sinne des Repräsentations- 292 Vgl. Court de Gébelin 1774-84) III, S. vj. Dort findet sich übrigens auch der huldigende Verweis auf Quesnay. Vgl. auch S. 66: „Sans doute, la Parole vint de Dieu même.“ 293 Court de Gébelin 1774-84), III, S. xij. 294 Court de Gébelin 1774-84), III, S. xj. 295 Court de Gébelin 1774-84), III, S. ij. Gleichwohl kennt Court die Indizierung von Sprachlauten durch Schriftzeichen als spätere Form der Schrift, vgl. ebenda, S. i. 173 modells gehen sie also den Wörtern voraus, und im Sinne der Sensualisten sind sie aus Wahrnehmungen gebildet. 296 Da Court de Gébelins Sprachentstehungstheorie wie diejenigen der Sensualisten eine aus der konstanten Menschennatur begründete Universalität in Anspruch nimmt, gelten auch für ihn die Annahmen der grammaire générale: Wenn die Sprachentstehung überall gleich abgelaufen ist, so muss das, was allen empirischen Sprachen gemeinsam ist, der Rest der Ursprache sein. Er geht sogar so weit, zu behaupten, eigentlich sprächen alle Nationen dieselbe Sprache, die nur je nach nationaler Präferenz für bestimmte Artikulationsstellen in der Aussprache zuweilen stark variiere. Für diese Variationen, die sich eigentlich wie Verschiebungen darstellen, gibt er eine Art von Lautgesetzen an. 297 Diese Veränderungen ergeben sich aus der Loslösung eines Wortgebrauchs von seinem Ursprung. Bei der ersten Stiftung wird ein Wort, wie oben beschrieben, als lebendiges Bild der gemeinten Sache gebraucht; bei der Wiederholung fällt dieser Aspekt weg. Nun sind die Zeichen nicht mehr notwendig wie ursprünglich, und deshalb werden sie instabil, können variiert werden. 298 In seinen konkreten Listen von Wörtern und Formen gibt Court de Gébelin empirisches Material für die Sprachentstehungsgeschichten seiner Zeitgenossen. Die Ursprache ist nicht nur eine universale Grundform von Sprache, sondern auch als historische Ahnin der gegenwärtigen Sprachen gedacht. In Court de Gébelins teils phantastischen sprachgeschichtlichen Hypothesen wird, wenn man so will, die Entwicklung der Sprachgeschichte im neunzehnten Jahrhundert vorausgeträumt - wenn auch ohne die entscheidende Konzeption von der Sprache als organischem System. Seine Geschichtsauffassung ermöglicht dem Protestanten Court de Gébelin sogar einen argumentativen Seitenhieb auf die römische Kirche, ist doch für ihn das Keltische, aus dem das Französische geworden ist, der Ursprache um eine Stufe näher als das Lateinische; so wird die Autorität des römischen Katholizismus auch sprachlich zurückgewiesen. Seine Adaption des Analyse-Genese-Modells geht somit zwar von ähnlichen Voraussetzungen aus wie etwa die Condillacs, fügt diesen aber neben der bereits aufgezeigten religiösen Überformung nun geschichtliches 296 Court de Gébelin 1774-84), III, S. vij. 297 Court de Gébelin 1774-84), III, S. ix. Eine Tabelle von Variationen des Urlautes DAR findet sich dort auf S. 163, mit persischer (dare), indischer (derw-asje), türkischer (dar), edda-nordischer (dyr), gotischer (daur), althochdeutscher (duiri), deutscher (duere, wohl Türe), angelsächsischer (dur, duru), griechischer (thura, thyra), englischer (door), flämischer (deur), chaldäischer (thro), polnischer (drzwi) und albanischer (ntera) Stufe, auf die dann auch noch Varianten wie das deutsche durch zurückgeführt werden. 298 Vgl. Court de Gébelin 1774-84), III, S. 71 - dies in direktem Gegensatz zu der späteren Vorstellung Saussures, gerade die Nichtmotiviertheit und Arbitrarität der Zeichen erzwinge deren konventionsbestimmte Konstanz. 174 Material aus tatsächlich beobachteten (wenngleich oft falsch gedeuteten oder ausgewerteten) Sprachen bei. In der Weiterentwicklung der Sprache aus dem Urzustand sieht Court de Gébelin gemäß seinem Modell eine Genese höherer Formen, gleichzeitig aber auch, wir wir sahen, einen Verfall des Ursprünglichen. Soweit die Entwicklung der Sprache Fortschritt ist, wird dieser der Geschicklichkeit der Menschen und nicht mehr in erster Linie Gott oder der Natur zugeschrieben: Le Langage vient de Dieu […] Mais il est en même tems l’effet de l’industrie humaine, en ce que l’homme sut développer ces organes, imiter ces modèles, suivre les combinaisons dont ils étoient susceptibles, & sur un petit nombre de mots radicaux donnés par la Nature, élever cette masse immense de mots qui nous étonnent. 299 Insofern, als hier der Ausbau und damit auch die Entfernung von der Ursprache als Errungenschaft erscheint, ist klar, dass Court nicht zur Ursprache zurück gelangen will, um in Ursilben zu sprechen. Vielmehr ist die Erschließung der Ursprache in erster Linie nötig, um die verwirrende Vielfalt heutiger Sprachphänomene durch Rückführung auf den Urzustand aufzuklären. 300 Die Wahrheit der Anfänge ist auch die eigentliche Wahrheit der Gegenwart. Zugleich ist diese aber, wie wir sahen, eine wünschenswerte Entwicklungsform. Die Kenntnis des Urzustandes ermöglicht die Beherrschung und analytische Überprüfung der gegenwärtigen Komplexität und ihrer korrekten Herausbildung, aber auch ein Leben in ihr gemäß jener großen Ordnung, die sich im Urzustand besonders klar zeigte. So paart sich in Court de Gébelins Formulierungen die typische Ausdrucksweise der Analyse-Genese mit einer normativen, letztlich religiösen Rede der Sinnerschließung: Heureux, si en amusant nos Contemporains, nous pouvons leur devenir utiles en fixant leurs idées sur des vérités d’une toute autre importance, que la simple connoissance de l’Antiquité & de ses Allégories; répandre le plus grand jour sur l’origine des sciences; en rendre l’acquisition plus aisée, & les rapprocher toujours plus de leur véritable but, la connoissance de l’ordre qui préside au bonheur des peuples, & celle des moyens propres à le faire fleurir. 301 Trotz seiner Ambivalenz zwischen Ursprungsseligkeit und der Annahme eines erfolgten und auch weiterhin möglichen Fortschritts kann sich Court de Gébelin nicht zu einem wirklich geschichtlichen Bild des Menschen durchringen, wie wir es bei Rousseau finden werden. Daran hindert ihn das Analyse-Genese-Modell, das er gleichzeitig physiokratisch und religiös ausprägt. Für ihn zeigt sich der allgemeingültige Wesenskern des Menschen am besten in der gottgegebenen ursprünglichen Gewissheit und 299 Court de Gébelin 1774-84), II, S. xiij 300 Court de Gébelin 1774-84), II, S. 2 301 Court de Gébelin 1773-84), I, 3, S. 2 175 Natürlichkeit des monde primitif, und Fortschritt besteht in dem eben zitierten Absatz zum Teil gerade darin, dem Wissen um die Weltordnung, das die Alten in ihre Überlieferungen einschlossen, immer näher zu kommen, also zu den Ursprüngen fortzuschreiten. Erst daraus lässt sich eine korrekt entwickelte Gegenwart herleiten. Zugleich ist dieses Ergebnis aber immer schon vorausgesetzt: Der Urzustand und im Gefolge davon auch der allein aus diesem zu durchleuchtende gegenwärtige Zustand können beide, wie wir gesehen haben, nur durch das schon vorhandene Wissen über den überzeitlichen „ordre, qui règle toutes choses,“ 302 und den Platz des Menschen darin rekonstruiert und dechiffriert werden. Wir werden diesen Befund weiter unten an Court de Gébelins Mythendeutung überprüfen können. Court de Gébelin hinterfüttert also die Sprachgenese und die Suche nach der Ursprache mit ‘empirischem’ Material, führt jedoch auch ausgesprochen illuministisches Gedankengut mit (er gilt beispielsweise als der Entdecker der esoterischen Möglichkeiten des Tarot-Spiels). Hugo Friedrich bemerkt kritisch, Court de Gébelin erzähle eine Sprachgeschichte, „worin die im einzelnen völlig aufklärerische Deutung der Grammatik hineingepreßt wird in die illuministische Theorie, daß die Sprache göttlich inspiriert ist und im Verlauf der Menschheitsentwicklung am allgemeinen Abfall und Verfall teilgenommen hat.“ 303 Im Lichte unseres Interesses können wir sagen: Diese scheinbare Widersprüchlichkeit weist auf tiefe Gemeinsamkeiten: zunächst auf die religiösen Implikate einer Auffassung, die die Natur als Lenkerin der Menschwerdung auffasst; sodann auf das Genese-Modell selbst, das in seinem Rückstieg auf erste Gewissheiten mit der Möglichkeit einer Neugenese schlecht entwickelter Begriffe neben einer Fortschrittskonzeption auch einen Ansatz zu einem Dekadenzmodell enthält (man denke an den ‘Sündenfall der Systemphilosophie’ und an Rousseaus Kulturkritik). Court de Gébelin bleibt ambivalent zwischen den beiden Möglichkeiten und markiert so den Gabelungspunkt eines sich öffnenden intrinsischen differenzierenden Widerspruchs, der im Sinne Foucaults von der Diskursformation vorgegeben wird. In seiner Bemühung um die Ruinen der Vergangenheit hat er jedoch die Dekadenzform stärker konturiert als die Fortschrittsgestalt von Geschichte. An die Stelle des (im Grunde transparenten) Tableaus komplexer Verhältnisse im Normaldiskurs tritt bei Court de Gébelin in der Position der durch die Analyse- Genese zu durchschreitenden Anordnung die undurchsichtig gewordene Ruine. Wir werden am Ende dieses ersten Hauptkapitels darauf zurück kommen. 302 Court de Gébelin 1774-84), I, S. 160. Das lange Zitat davor findet sich auf S. 161. 303 Friedrich 1935, S. 173 176 2.2.2.3. Saint-Martins kritischer Anschluss an Gérando und die martinistische Ursprachenlehre Wir haben schon gesehen, dass Saint-Martin dazu neigt, polemisch an aufklärerische Positionen anzuschließen, indem er deren Analyse der Gegenwart übernimmt, aber den analysierten Zustand als gefallenen Zustand abwertet; die affirmative Beschreibung dieses Zustandes muss er dann normativ zurückweisen, wenn er auch deren faktischen Gehalt anerkennt. Diese Argumentation findet sich auch in seinen „Observations sur les signes et les idées et réfutation des principes de M. de Gérando,“ einer Antwort auf jene Schrift Gérandos, die den Preis gewann, um den sich Saint-Martin zwar noch denkerisch (in der Abfassung seines dann im Crocodile veröffentlichten Zeichentraktats), nicht aber mehr praktisch bemüht hatte (er reichte seine Abhandlung nicht ein); auch seine Antwort blieb übrigens Manuskript, Bestandteil eines handschriftlichen Cahier de métaphysique. Zunächst einmal pflichtet er Gérandos oben referierter Meinung bei, dass man an den Dokumenten der Sprachgeschichte die Entwicklung des Menschen erkennen könne. Er fügt jedoch sogleich einen Seitenhieb auf eines der zentralen Theoreme der sensualistischen Sprachentstehungsgeschichte an: Wie an den baulichen Monumenten, so erkennt man auch an den sprachlichen, wie verirrt und abergläubisch manche der alten Völker waren. 304 Die ‘ersten’ Elemente und die urtümliche Existenz in der Nähe der Natur sind also keine Garanten für Gewissheit. Mit einem scheinbar aufklärerischen Argument 305 (gegen den Aberglauben und für die Perfektibilität) wendet sich Saint-Martin gegen eine wichtige Annahme zeitgenössischer Kulturgeschichte. Sprachgeschichte ist für Saint-Martin keine Aufbaubewegung aus anzunehmenden einfachen Elementen, die die Gewissheit des aus ihnen korrekt Abgeleiteten zu verbürgen vermöchten, sondern eine Geschichte der Rückschläge und Sündenfälle. Wo das Genese-Modell einen Aufstieg setzt, setzt Saint-Martin einen Fall. Aber er entscheidet sich damit zunächst einmal nur für die Dekadenz- Version der Analyse-Genese, die wir bei Court de Gébelin bereits als eine Seite eines sich differenzierend öffnenden intrinsischen Widerspruchs kennen lernten. Er denkt nicht mehr an den Baum, sondern nur noch an die Ruinen, und zwar deshalb, weil die Grundoperation seines eigenen martinistischen Diskurses, alles im Bilde des Sündenfalles zu denken, hier in die Sprachentstehungsgeschichte hinein wirkt. Die korrigierende Neu-Genese 304 Saint-Martin 1990, S. 273. Vgl auch seine Aussage, an so etwas wie der Witwenverbrennung und anderen abergläubischen Praktiken sehe man, dass keineswegs alle Religionen gleich wahr seien (Saint-Martin 1802, S. 31). 305 Eine ähnliche typisch aufklärerische Formulierung findet sich gleich eine Seite weiter: „...la philosophie scolastique qui est l’excrément de la raison...“ (Saint-Martin 1990, S. 274). 177 von Begriffen, die für Condillac die Rettung (oder die Erlösung) der Philosophie darstellte, ist bei Saint-Martin die Heilsaufgabe des Menschen, die allerdings nicht durch Nachdenken und Analyse, sondern durch Handeln und (wie sich zeigen wird) Synthese zu leisten ist. Ein Element des illuministischen Diskurses jedoch macht seine Verfallsgeschichte auch noch der Dekadenzversion der Analyse-Genese inkompatibel: Schon die sinnlich erkennbare Welt insgesamt ist Produkt eines Sündenfalls, des Falls der Natur. Das bedeutet: Durch sinnliche Erkenntnis (die nur innerhalb dieses gefallenen Zustandes überhaupt existiert) ist die Gewissheit der Ursprünge nicht mehr einzuholen. Gleichgültig, ob pessimistisch oder optimistisch, die Operation der Auffindung erster Gewissheiten in der aktuellen Welt muss fehlgehen. Die Ruine ist dem nicht Erleuchteten endgültig irreparabel geworden. Wer dies dennoch versucht, verirrt sich in Trugschlüssen. In diesem Punkt sind zweifellos die beiden sich hier überkreuzenden Diskurse grundsätzlich inkompatibel. Dennoch versucht Saint-Martin ja, seine illuministische Erzählung von der Sprache als Antwort auf Gérando vorzubringen. Am Kreuzungspunkt von kritischer Neugenese und anzustrebender Wiedergeburt der Sprache in Christus versucht er, den Normaldiskurs durch (von diesem aus betrachtet: ) chaotische Spielzüge zu manipulieren. Wenn sein Vorschlag, die Tableaux als für die Sinnlichkeit nicht mehr durchschaubare Ruinen zu deuten, in den anderen Diskurs einginge, so wäre aus dem geschilderten Widerspruch ein kritischer geworden, der an die Grundmauern des Erkennens im Analyse-Genese-Modell rührte. Auch Saint-Martin will also die Wörter erlösen, aber sein Befund bezüglich des aktuellen Zustandes fällt wesentlich kritischer aus als der etwa Condillacs. Der Sündenfall der Systemphilosophie, der für Condillac eine der wenigen und leicht behebbaren Verirrungen auf dem Weg zur Höhe der Gegenwart ist, ist für Saint-Martin nur ein spätes Beispiel für die Sünden und Wirrnisse, die die Sprachgeschichte von Anfang an ausmachen. Deshalb ist auch die von Gérando beschriebene Entwicklung konventioneller Zeichen als ‘Implantate’ in einen bereits gegebenen Verstehenskontext von natürlichen Zeichen nicht die Entfaltung der menschlichen Natur, sondern ein Supplement für einen Mangel, der seinerseits auf die Sünde zurückgeht. Gérandos Vorstellung von natürlichen Zeichen trägt nach Saint-Martin die Konsequenz in sich, dass alle Dinge „ont leurs signes à eux, ou bien sont des signes eux-mêmes“ - eine Nichtunterscheidung, die uns noch im Zusammenhang mit der illuministischen Pansemiotik interessieren wird. Wir haben schon gesehen, dass aus dieser Sicht alle Dinge und Wesen Ausdruck ihres Prinzips sind, das heißt, das Verhältnis zwischen dem Wesenskern einer Sache und ihrer Erscheinung wird bereits als zei- 178 chenhaft begriffen, 306 jede Erscheinung ist Manifestation des göttlichen Gedankens, der sie ins Leben rief: […] chaque chose doit faire sa propre révélation […] les langues des êtres sont auprès d’eux. 307 - oder sollte es zumindest sein. Denn auch hier wirkt sich, wie nicht anders zu erwarten, der Sündenfall aus. Dass die Geistschöpfung materiell, grobstofflich, verdichtet worden ist, ist die Schuld des Menschen. Dadurch wird nun dem Signifikationsprozess eine weitere Ebene oder Stufe hinzugefügt, die ursprünglich nicht nötig gewesen wäre: Die stofflichen Wesen sind Ausdruck ihrer geistigen Urform, die wiederum ihr Prinzip ausdrückt. Damit wird freilich auch das Verhältnis der gefallenen zur ursprünglichen, geistigen Schöpfung wieder als ein zeichenhaftes begriffen. Die Verfallsstufe verweist auf ihren Ursprung, die Ruinen sind Zeichen einer verlorenen Vollkommenheit. Aber auch in diesem Zustand ist die Welt (für den Illuminierten) noch lesbar, da sie aus natürlichen Zeichen besteht. Alles hat oder ist also natürliches Zeichen, und das muss auch für den Menschen gelten. 308 Dass er sich überall mit „signes de son invention“ umgeben hat, deutet so bereits darauf hin, dass er eine Lücke schließen musste, die bei anderen Wesen nicht auftritt. Warum? Was den Menschen in der Sicht der Esoterik genauso wie der Theologie von den anderen Wesen unterscheidet, ist seine Doppelnatur als körperliches und geistiges Wesen. Wenn alle Wesen natürliche Zeichen für ihre Ausdrucksbedürfnisse haben, so muss dies für den Menschen auch in dieser seiner Doppelnatur gelten, also: „ […] il y a deux ordres de signes naturels pour l’homme.“ 309 Dem Menschen ist von seinem göttlichen Lehrmeister eine natürliche Sprache auch für die höhere Geistigkeit gegeben worden, eine Aktions-Sprache für die obere, ideale Welt. Diese hat er nur durch die Sünde weitgehend verloren. Eine vollkommen synthetische Sprache, wie sie Gérando annimmt, könnte die Bedürfnisse dieser Geistigkeit gar nicht befriedigen. Auch die 306 „Une langue...peut se regarder comme l’expression manifeste des propriétés donnés à chaque être, par la source qui l’a produit“ Bei den Dingen ist dies eine Sprache des Seins, „puisque là le jeu de l’être et sa langue ne font qu’un.“ (Saint-Martin 1800, II, S. 93). Bei den Affekten (Schreie bei Tieren und Menschen) ist schon ein Element der Entfernung, der Repräsentation dabei, bei den Ideen (nur beim Menschen) ist die Entfernung noch größer (ebenda, S. 94). Sein, Kundgabe und Darlegung sind die drei Formen von Sprachtätigkeit, von Ausdruck eines inneren Prinzips. 307 Saint-Martin 1800, II, S. 95. Es handelt sich wohl um eine Paraphrase von Böhmes Satz „die Natur hat iedem Dinge seine Sprache nach seiner Essenz und Gestaltniß gegeben...Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung.“ (Böhme 1622, S. 7). 308 Vgl. auch Jacques-Chaquin 1987, S. 150: „il faut donc, toujours selon le principe d’analogie, que le signe du „troisième type“ lui soit tout aussi naturel.“ (Es handelt sich um drei, nicht zwei, Sprachen, da in diesem Falle die Selbstoffenbarung des menschlichen Leibes als zeichenhafte mitgezählt ist.) 309 Saint-Martin 1990, S. 277-278 179 Ideen kann der Mensch nicht aus Sinneseindrücken herstellen. Zwar lehnt Saint-Martin wie seine aufklärerischen Zeitgenossen die Lehre von den eingeborenen Ideen ab, 310 aber im Menschen müssen seiner Meinung nach dennoch Keime schlummern, die sich mit Hilfe der Zeichen der natürlichen Welt zu Ideen entwickeln lassen. Wie dies genau funktioniert, werden wir in Kapitel IV beschreiben. Schließlich spricht für Saint-Martin auch die Erfahrung, besonders die Hör-Erfahrung, gegen die Annahme, die menschliche Sprache sei gänzlich erfunden: Die Magie des gesprochenen Wortes und der Poesie könnte sich gar nicht einstellen, wenn wir die Sprache als etwas selbst Gemachtes durchschauten: […] ce n’est point par les mots de notre composition que nous arriverons à cette merveilleuse magie que les mots renferment. Pour que nous les goûtions réellement, il ne faut pas que nous les inventions. Dans nos théâtres à machines, il y a de la magie pour le spectateur; il n’y en a point pour les machinistes. 311 In sehr viel emphatischerer Weise als bei Court de Gébelin ist dem Menschen Saint-Martins die Sprache von Gott gegeben, ja, sie steht im Mittelpunkt seiner Wesensbestimmung überhaupt. 312 Aber die gegenwärtige Sprache ist ein Flickwerk. Sie ist die mit konventionellen Zeichen mangelhaft ergänzte Verfallsstufe einer Ursprache, die bei Saint-Martin einerseits viel weiter und grundsätzlicher von den heutigen Sprachen abgerückt ist als bei Court de Gébelin, andererseits aber (ähnlich wie dort) in den Ruinen des Vorfindlichen für den Kundigen immer noch erkennbar. Um dies plastischer zu machen, gilt es, die mythische Sprachgeschichte Saint-Martins kurz zu erzählen. Die Ursprache des ungefallenen Adam war keine hörbare Sprache, sie wurde nicht im akustischen Sinne gesprochen, da sie in einer nicht grobstofflichen Welt spielte. 313 Die Ursprache Adams war eine geistige Sprache, die ganz als Energie und überhaupt nicht als Repräsentation zu verstehen ist. Adam war in stetem Gleichschwung mit dem göttlichen Denken und insofern war sein Denken ein Weitertragen des liebenden, schöpferischen Logos, ein ständiges geistiges Schaffen, sein Sprechen war wie das Schöpferwort selbst magisches Ins-Leben-Rufen, ein ständiges fiat, mit dem er die Dinge, die selbst Ausdruck des Logos waren, 310 Saint-Martin 1990, S. 291 311 Saint-Martin 1990, S. 296 312 „L’existence de Dieu et sa supériorité ineffable sont éternellement permanentes parce que son verbe comme tous les autres attributs est éternellement en action. Que l’homme apprenne ici ses devoirs et sa destination. Qu’il voie s'il lui est possible de se soutenir un instant sans employer le même moyen et le même droit par lequel il est semblable à son principe, c’est-à-dire s'il n’est pas né pour verber toujours.“ Saint- Martin 1961, S. 159 313 Vgl. auch die Darstellung von Friedrich 1935, S. 166. 180 im Wort führen konnte. 314 Diese phantastischen Konzepte werden wir in Kapitel IV zu erschließen versuchen. Diese geistige, innere Sprache war ursprünglich allen „êtres pensants“ gemein und ist eigentlich „le véritable Alphabet“ jenes Weltbuches von zehn Blättern, 315 das wir im nächsten Kapitel kennlernen werden, also die Universalsprache für den Universaldiskurs. Die Wesen der geistigen Welt um den Menschen herum mussten dabei nicht erkannt oder repräsentiert werden, denn demjenigen, der diese Gedanken des Schöpfers in dessen Denken und bei ihrem Hervorgehen daraus schaute, war ihr inneres Wesen stets durchsichtig und präsent; überhaupt gibt es die wiedergebende Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes ebenso wie die repräsentative Idee, die aus der Erscheinung eines Exemplars entwickelt wird, nur in einer grobstofflichen Welt der Erscheinungen. Adam schaute unmittelbar die Ideen. In dem Moment, wo nun die grobstoffliche Welt durch Adams Verfehlung entsteht, die Dinge sich verdichten und verdüstern, undurchsichtige Realisierungen ihrer geistigen Prinzipien werden, und auch der aus dem Gleichklang mit Gott gelöste Mensch eine vereinzelte materielle Existenz beginnt, die ihn räumlich einschränkt; in dem Moment auch, als der sich multiplizierende einzelne Mensch Informationen an die anderen Vertreter einer sich fragmentierenden Menschheit weitergeben muss - in dem Augenblick also, wo Abwesenheit und Repräsentation, Undurchsichtigkeit und Partialität in die Welt kommen, ist die Ursprache verloren. 316 Nicht der Turmbau zu Babel ist dieser Moment, sondern bereits der Fall in die Materie. Spätestens an dieser Schwelle wird klar, dass bei dieser Ursprachenkonzeption der übliche Begriff von Sprache eher in die Irre führt als orientiert, insbesondere deshalb, weil es kein signifiant gibt, ja überhaupt die Dichotomie von Bezeichnendem und Bezeichnetem und der Vorgang der Signifikation selbst problematisch wird. Jetzt, auf der materiellen Erde, kommen freilich diese Unterscheidungen zum Tragen. Aber so, wie auch die Ruinen der materiellen Welt noch von der ungefallenen künden, so sprechen auch noch die empirischen Sprachen unserer Welt von der verlorenen Ursprache, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen nämlich verbleibt der geistige Mensch, der mineur, unter seinem ursprünglichen Gesetz und leidet unter einer Spaltung zwischen dem aktuellen und dem eigentlichen Gesetz seines Daseins. Insofern ist in ihm noch etwas, das auf die Ursprache ausgerichtet ist, nach ihr sucht. Zum anderen aber ist die Sprache der ersten Erdenmenschen auch wiederum Gegenstand einer neuen Offenbarung. Hier schließt Saint- Martin an die verbreiteten Vorstellungen, die Sprache sei von Gott geof- 314 Saint-Martin 1800, II, S. 65 315 Saint-Martin 1775, S. 466-469 316 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 456-7 181 fenbart, an, aber in einer spezifisch gedoppelten Weise, die wir im martinistischen Schöpfungsmythos wiederfinden werden. So wie aus der kabbalistischen Deutung des Genesiseingangs eine doppelte Schöpfung gefolgert werden kann, so gibt es auch eine doppelte Ursprache, von der die erste die eigentliche, die zweite nur ein Abglanz ist. Die Sprache wird wiedergeboren: Les savants dans les sciences vulgaires font mille systèmes pour remonter à la source de la parole parmi les hommes. Ils ignorent que la parole n’est venue sur la terre que par renaissance et qu’elle avait d’abord été morte pour nous. 317 Der Begriff der parole, der für Saint-Martin auch den Logos bedeutet, zeigt, dass diese Neuoffenbarung der Inkarnation des Erlösers analog ist. Der Schöpfer, der mit seiner gefallenen Kreatur Mitleid hat, gibt ihr noch einmal eine Sprache, die zwar nicht mehr an seinem eigenen Denken Anteil hat, also auch das Wesen der Dinge nicht mehr in unmittelbarer Schau trifft, aber etwas davon aufbewahrt. 318 Aber auch diese Bewahrung ist zunächst nicht im Sinne einer Repräsentation zu verstehen: Die zweite Ursprache bewahrt insofern etwas von der Essenz der Dinge, als sie ein Vermögen des Menschen darstellt, diese Essenz schöpferisch zu treffen, einen analogen Ausdruck des Wesens der Dinge zu schaffen, wobei ähnlich wie bei Court de Gébelin der Wesensbezug der Sprache von Gott selbst gesichert wird; eben darin besteht seine Gabe an den Menschen. Noch ist also die Sprache kein Repertoire von Zeichen, sondern eine Kraft, deren spontane kreative Ausflüsse nun zwar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, aber immerhin noch in Analogie das Wesen des Gemeinten treffen. Genau wie bei Court de Gébelin ist daher diese Sprache Nachahmung, 319 und auch sie ist mit der Schrift gleichzeitig entstanden, die zunächst ikonisch ist: Sprache ist Musik, Schrift ist Malerei. Auch diese Hieroglyphenschrift wird übrigens verfallen: Ahmten die ursprünglichen Hieroglyphen das Prinzip der Wesen nach, so zeichneten die späteren nur noch deren Erscheinung; 320 die Alphabetschrift erscheint dann schließlich als Verfallsstufe, die eigentlich nur die Laute bezeichnet, wenn sie auch dem Kenner noch verborgene Reste des Ikonischen offenbart. Im Unterschied zu Court de Gébelin fasst Saint-Martin nun jedoch die Musikalität der Urworte nicht unbedingt als Onomatopöie, auch nicht im 317 Saint-Martin 1961, S. 182. In dieser Wiedergeburt sieht Saint-Martin auch die tiefere Wahrheit von Rousseaus Kritik an den Sprachursprungstheorien, nämlich dass man, um eine Sprache einführen zu können, bereits über eine Sprache verfügen müsse (siehe oben! ) - „idée cependant qu’il n'aurait pu exposer dans tout son jour parce qu’il n'en avait pas la clef“ (Saint-Martin ebenda): Die wiedergeborene Ursprache ist Abglanz einer früheren, und insofern hat Rousseau Recht. 318 Saint-Martin 1800, II, S. 171 319 Saint-Martin 1800, II, S. 174 320 Saint-Martin 1800, II, S. 172. Vgl. auch Saint-Martin 1775, S. 496f. 182 Sinne Rousseaus als emotive Äußerung des eigenen Gefühlsbezuges zu den Dingen. Vielmehr ist Musik hier im pythagoreischen Sinne als mathematische Harmonie verstanden: Die Urworte singen die inneren Formeln der Welt, jene Zahlen, die nicht als Beschreibungsinstrumente, sondern als Hüllen substantieller geistiger Prinzipien verstanden werden. 321 Darüber hinaus bewahrt die Grammatik der Sprache - wie bei den Vertretern der grammaire générale - die Struktur unseres Denkens auf, das selbst wiederum nahe an der verlorenen Ursprache ist, insofern, als das Ergreifen guter Einflüsterungen (das ist im besten Falle für Saint-Martin Denken im gefallenen Stand) ein analoges, niedrigeres Abbild des ursprünglichen Gleichschwingens mit dem göttlichen Denken ist. 322 Die innere Ursprache nähert sich so Augustins Vorstellung vom inneren Wort, also dem unausgesprochenen Gedanken, dessen äußeres Zeichen das gesprochene Wort ist: Dieses innere Wort ist bei Augustin nicht einfach eine stumme Abfolge von nach autonom menschlicher Logik gefügten Gedanken, sondern es hat Teil an der Vernunft des göttlichen Logos. Das menschliche Denken ist vom verbum getragen. 323 Daran sieht man auch, dass die Annahme der Grammatiker, die Allgemeine Grammatik als Form des Denkens sei universal, einen metaphysischen Restbestand aufbewahrt: Der Mensch der grammaire générale trägt den Logos in sich; immerhin standen die Theoretiker von Port- Royal auch in einer augustinischen Tradition. Die inneren Einflüsterungen der Martinisten geschehen in jener inneren Ursprache; wer auf sie zu hören weiß, dem ist auch wieder etwas von dieser Sprache zurückgegeben, er befindet sich auf dem Weg zur sprachlichen Reintegration. 324 Es ist nun am Menschen, diese Sprache entweder geistig-schöpferisch, also analog zur wahren Ursprache, oder materieverfallen zu gebrauchen. Im Laufe der Generationen überwiegt, wie zu erwarten, der zweite Gebrauch, und die Sprache der Menschheit entfernt sich noch einmal auch von jenem Abglanz der Ursprache, mit der sie ihr Schöpfer einst begabte. Nun wird aus dem aktiven Vermögen immer mehr ein Repertoire von Resten. Der Wesensbezug der Worte ist nicht mehr Effekt ihres spontankreativen Gebrauchs, sondern bewahrte Spur, Überbleibsel. In dem Maße, in welchem die Sprache sich so analog zur materiellen Welt verdichtet, wird sie auch wie diese opak. Sie entwickelt sich von einer Aktivität zu einer Liste, in der freilich immer noch etwas über die innere Verfasstheit der Welt aufzuspüren ist. Je älter eine solche, nun weitgehend als Repertoire zu begreifende und daher auch namentlich unterscheidbare empiri- 321 Saint-Martin 1775, S. 523 322 Saint-Martin 1775, S. 473f. 323 Vgl. etwa Augustin 1886, XV, xi, col. 1071ff. (zum „verbum interior“) und ebenda IV, ii, col. 889: „Illuminatio quippe nostra participatio verbi est, illius scilicet vitae quae lux est hominum.“ 324 Saint-Martin 1775, S. 455f. 183 sche Sprache ist, desto mehr von diesen bedeutungsvollen Ruinen können darin gefunden werden. Die Filiation der alten Sprachen beschreibt deren Entfernung von der Ursprache. Diese Entfernungsgeschichte ist nun zugleich die Geschichte einer translatio sapientiae, weil ja, in wenn auch immer schwächerer Weise, mit der Sprache auch Reste des Wissens um das Wesen der Dinge weitergegeben werden. Insofern ist ein Lexikon immer auch eine Enzyklopädie, und man könnte im Sinne Saint-Martins die jüngere Sprachhistorie als die Geschichte der Reduktion einer ursprünglich die Welt erfassenden Enzyklopädie auf ein bloßes Wörterbuch erzählen. 325 Bei Martines de Pasqually sind vor allem die Namen von Menschen und Engeln, sowie die aus esoterischer Tradition bekannten Gottesnamen, solche überlieferten Wesensoffenbarungen. 326 Chinesisch 327 und Hebräisch 328 sind von den heute vorfindlichen Sprachen der Ursprache am nächsten. Vor allem die Einsilbigkeit des Chinesischen beeindruckt Saint-Martin, der darin eine unverfälschte Nähe zu den 325 Die Beschreibung des Wesens der Sprache muss nach Saint-Martin zu ihrem lebendigen Ursprung zurückkehren, darf sich also nicht auf Wortlisten beschränken. Wer, wie die Sensualisten, sie nur als eine Liste von Etiketten für aus Wahrnehmungen abgeleitete Ideen begreift, beschreibt nur einen Verfallszustand und nicht die Sprache selbst: „Ainsi cette faculté suprême n’est pour eux que le fruit de l’accumulation des objets sensibles dans l’imagination et des signes qui leur semblent analogues; enfin les langues ne sont plus pour eux qu’un agrégat au lieu d’être l’expression et le fruit de la vie même.“ (Saint-Martin 1961, S. 183) 326 Die Theurgie der Élus Coens basiert demnach auch wesentlich auf der Macht der Namen. Der fonds Z. nachgelassener Schriften des Ordens enthält für solche Zwecke neben den Zeichnungen für die Operationen selbst eine Hieroglyphensammlung, die die Signaturen der Engel wiedergibt und eine Tafel mit 2400 Engels-Namen. Vgl. Amadou 1984. Von besonderer Wichtigkeit sind natürlich bei Martines die Gottesnamen - das ist generell sowohl schon in der Bibel, als auch in der Kabbala so, aber auch, wie wir noch sehen werden, bei pseudo-Dionysius Areopagita. Im Kultus des Enoch, des Sohnes Seths und eines Typus des Messias, werden die Gottesnamen als Weltformeln greifbar, als ein Wissen, das so große Macht über die Welt verleiht, dass es auf mehrere Weise verteilt werden muss. So gibt Enoch den zehn von ihm gewählten Priestern, die er in seine „travaux listiques chaotiques“ einweiht (Martines 1771, p.163 - eine ideolektale Beschreibung auch von Pasquallys eigenen Praktiken), sieben Wochen lang jeweils einen neuen Anfangsbuchstaben eines Gottesnamens, so dass jeder von ihnen am Ende sieben Buchstaben hat, von denen vier wiederum den Gottesnamen (Tetragramm) ergeben, die anderen drei aber ein Machtwort. 327 Generell zu den chinesischen Traditionen und Mythen vgl. Saint-Martin 1782, S. 267f. Aber auch die Chinesen sind von ihrem ursprünglichen göttlichen Wissen abgefallen (ebenda, S. 271-73). 328 Saint-Martin 1800, II, S. 169ff. Außerdem Saint-Martin 1782, S. 269: Das Hebräische bildet fast alle Wurzeln aus drei Buchstaben und verweist damit auf die drei Wurzeln aller Dinge; insofern bewahrt es auch strukturell etwas von der Verfasstheit der Welt auf. 184 Dingen erblicken will, eine Abwesenheit falscher Differenzierungen. 329 Warum wohl die Ägypter, die sonst im achtzehnten Jahrhundert in der translatio sapientiae eine wichtige Rolle spielten, hier ausgeschlossen sind, hat sich schon Kleuker gefragt. 330 Die Antwort hat wohl damit zu tun, dass in Martines de Pasquallys mythischer Landkarte der Süden und das darin liegende Land Ägypten immer für Materieverfallenheit und letztlich das Böse stehen, vor allem wegen des ägyptischen Exils im Alten Testament, das auch in der Erbauungsliteratur für eine weltverfallene Unruhe steht und traditionell als der Ort der Götzenverehrung aufgefasst wird. 331 Dies hat Saint-Martin übernommen; besonders plastisch begegnet diese Zuordnung noch in seinem späten Roman Le crocodile, dessen Titelfigur, der Dämon der Materie und Statthalter des Bösen, just aus Ägypten kommt, wo dieses allegorische Untier mit dem Schwanz unter einer Pyramide eingeklemmt ist. 332 Die scharfe Absetzung der Illuministen gegen den ägyptischen Ritus Cagliostros gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, und 329 Was das Hebräische betrifft, so ist eine solche Auffassung kabbalistisches Traditionsgut. Vgl. etwa Reuchlin 1996, S. 163: „Simplex autem sermo, purus, incorruptus, sanctus, brevis et constans Hebraeorum est, quo deus cum homine, et homines cum angelis locuti perhibentur coram et non per interpretem, facie ad faciem.“ Vgl. Schmidt- Biggemann 1998, S. 176-177. Nach Martines de Pasqually lebten die ersten Noachiten, Sem, Cam und Japhet, in je einem Winkel Chinas, von wo auch alle späteren Völker der Erde gekommen sind. Die Chinesen und Japaner stammen direkt von ihnen ab, und in ihren Sprachen bewahrt sich auch nach seiner Auffassung ein wesentlicher Zug der Ursprache: die Einsilbigkeit. Diese setzt auch Martines mit einer urtümlichen Unverstelltheit gleich, vermutet also in ihr eine durch Einsilbigkeit garantierte Eindeutigkeit, eine auch für den edlen Wilden typische Abwesenheit von Trug, zugleich die unverdünnte geoffenbarte Wesenserkenntnis der durch sie bezeichneten Sachen. Die Hebräer hingegen, die Abkömmlinge des Heber, haben diese Sprache verfälscht, die Zeichen anders ausgesprochen, sie in ihrer Verwirrung und Materieverfallenheit zu einer mehrsilbigen Sprache der Täuschung gemacht. 330 „Warum der Verfasser des Tableau von den Einsichten der alten Sinesen viel höher denkt, als von den Kenntnissen der Egyptischen Priester, weiß ich nicht. Da zwischen den Lehren und Hieroglyphen beider [...] eine große Übereinstimmung ist, wie mehrere, und besonders De Guignes, gezeigt haben, so muß der Tadel unseres Verf. entweder blos die spätern Egypter treffen, oder er trifft beide zugleich.“ (Kleuker 1784, S. 329). Vgl. hierzu De Guignes 1773. 331 Vgl. etwa Desmarets de Saint-Sorlin 1665-66), bei Deprun 1979, S. 163-164: Auf der Karte der allegorischen Landschaft dieses Werks ist Ägypten Bestandteil des „chemin de l’Egypte ou de l’inquiétude“. Vgl. zur Götzenverehrung Exod. 32,16 und Augustinus 1987, VII,ix: , S. 332: „populus primogenitus, conversus corde in Aegyptum, et curvans imaginem tuam, animam suam ante imaginem vituli manducantis fenum.“ 332 Das Krokodil ist von enormer Größe und kann sich in inem Radius bewegen, der von Ägypten, wo eben der Schwanz befestigt ist, mindestens bis nach Paris reicht, wo der Großteil der Romanhandlung spielt. Eine genauere Untersuchung dieses Romans erfolgt in Kapitel I, 2.5.4. 185 Cagliostro wird wohl auch in Le crocodile als Werkzeug dunkler Mächte denunziert. 333 Insgesamt ist die Ursprache für Saint-Martin ein zentrales Konzept. Die Bestimmung des Menschen und seine Heils- und Unheilsgeschichte lassen sich in ihren Ruinen ebenso lesen wie die historischen Gründe der Struktur gegenwärtiger Sprachen, ja sogar, wie sich noch zeigen wird, die ästhetischen und poetischen Grundlagen noch zu schaffender Dichtung. Wichtig ist dabei, dass er die Analyse des gegenwärtigen Zustandes durchaus von seinen philosophischen Gegnern übernimmt. Wir bedienen uns konventioneller Zeichen (weil wir unsere eigentliche Sprache verloren haben), und diese sind Re-Präsentationen (weil die ‘Präsenz’ der vormateriellen Welt gestört ist). Nicht die Stichhaltigkeit dieser Beschreibung bezweifelt er, sondern die Berechtigung, den darin festgehaltenen Zustand als den eigentlichen zu setzen. Er ist nur Abglanz und Verfall und folglich (- hierin trifft sich Saint-Martin mit der platonischen Skepsis gegen eine wissenschaftliche Erfassung der niederen Welt des Wechsels: ) auch nicht Gegenstand verlässlichen Wissens. 2.2.3. Linearität und Universalität 2.2.3.1. Die idéologie als Universaldiskurs und die Universalsprache Die Frage Foucaults nach der Beziehung der Sprache zur Universalität führt zu den Konzepten von Universalsprache und Universaldiskurs, die im achtzehnten Jahrhundert schon eine lange Geschichte hinter sich haben. 334 Uns interessiert hier besonders, wie die idéologie Universalsprache und Universaldiskurs in einer analytisch-genetisch eine Anordnung durchschreitenden Rede zusammendenkt. So in der Ankündigung Gérandos: […] et le tableau qu’on va lire deviendra tout ensemble une nomenclature et une histoire. 335 Der ideologische Universaldiskurs ist eine Linearisierung des gesamten in der Sprache aufbewahrten Wissens in der Abfolge seines idealen Aufbaus, seiner Genese. Auch ein philosophisches Wörterbuch müsste nach Gérando nicht alphabetisch aufgebaut sein, sondern einen geschichtlich-linearen Durchlauf durch die Systematik des Wissens, „un livre, une histoire,“ bieten 336 und dabei gemäß dem „ordre de la génération entre les idées“ voranschreiten, 337 immer der idealen Sprachgenese folgend. Damit würde die 333 Vgl. Amadou in: Saint-Martin 1799b, Vorwort S. 23; zu den allegorischen Zuordnungen in diesem Roman vgl. außerdem Tourlet 1804. 334 Vgl. etwa Eco 1993. 335 Gérando 1800, I, S. 5-6 336 Gérando 1800, IV, S. 84 337 Gérando 1800, IV, S. 89 186 Geschichte der Menschheit und der Sprache zugleich als Einführung in die Wissenschaften erzählt. 338 Die Sprache, in und an der diese Ideen analysiert werden, wird nun insofern als Supplement einer Universalsprache behandelt, als diese Operation voraussetzt, dass die Gesamtheit der Ideen und Wahrnehmungen in dieser Sprache repräsentiert werden können muss. Das Französische ist für die idéologues also zumindest potentiell eine Universalsprache in einem ‘schwachen’ Sinne für den gesamten Horizont der Ideen der vernünftigen europäischen Menschheit. Die europäische Verbreitung der Encyclopédie, die ein ähnlich universelles Projekt ist, zeigt uns im übrigen, dass das Französische auch für die Verständigung über diese Ideen zwischen den Völkern die universalsprachliche Funktion des Lateinischen übernommen hatte. Dennoch gibt es auch im achtzehnten Jahrhundert noch Projekte der Schaffung einer Universalsprache und einer Universalschrift in einem ‘starken’ Sinne, also als internationale Zeichensysteme, die alle denkbaren Ideen (die nach wie vor selbst nicht sprachlich gedacht werden) und die Systematik ihrer idealen Anordnung in vollkommener Analogie wiedergeben sollen. Diese Systeme sollen den natürlichen Sprachen in dreifacher Hinsicht überlegen sein: Sie sollen vollkommen überregional sein, die Lückenlosigkeit der Repräsentation absolut gewährleisten und die Form des Wissens selbst und die Beziehungen zwischen seinen Bestandteilen in vollkommener Analogie darstellen. Gerade diese Projekte geraten jedoch am Ende des Jahrhunderts in die Kritik, und auch die Ideologen äußern sich skeptisch über sie. So meint Gérando, eine überregionale langue universelle sei aus praktischen Gründen utopisch, da sie nicht durchsetzbar sei. Selbst wenn sie eingeführt würde, würde sie außerdem durch regionale Gewohnheiten sogleich wieder diversifiziert und somit zerfallen. 339 Sie würde sich also den natürlichen Sprachen analog verhalten. Destutt de Tracy unterscheidet streng zwischen einer Pasigraphie, die eine schriftliche Fixierung aller gesprochener Sprachen ermöglicht, und einer Universalcharakteristik (also einer Begriffsschrift), die für ihn gar keine Schrift, sondern eine optische Sprache ist, da sie ein Zeichensystem für die Ideen, nicht für andere Zeichen darstellt. 340 Die Niederschrift darin käme immer einer Übersetzung gleich. 341 Tout systême de signes exprimant directement nos idées, est une langue, soit que ces signes s'adressent à l’oreille, à la vue ou au tact. 342 338 Gérando 1800, IV, S. 92 339 Gérando 1800, III, S. 548ff 340 Destutt de Tracy 1800a, S. 226 341 Destutt de Tracy 1800a, S. 235 342 Destutt de Tracy 1800a, S. 234. Vgl. auch Destutt de Tracy 1801/ 17, S. 419. 187 Hieroglyphen versteht er insofern als Sprache, nicht als Schrift. 343 Ähnlich wie Gérando nimmt er an, eine Universalsprache, wenn sie auch aus optischen Zeichen bestünde, würde, so ‘natürlich’ die Zeichen anfangs wären, doch nach einiger Zeit wieder konventionell werden. 344 Der wichtigste Einwand betrifft bereits ihre Erstellung: Einerlei, ob mündlich oder schriftlich, eine philosophische Universalsprache, die komplett systematisch wäre, ist unerreichbar, denn die dazu nötige „classification méthodique et philosophique de la masse entière des innombrables idées qui composent notre intelligence“ und die Analyse von „toutes les séries de leurs dérivations, de leurs modifications et de leurs combinaisons“ - also recht besehen, das Projekt der idéologie in letzter Konsequenz - wäre eine „difficulté complètement invincible“ - ganz abgesehen davon, dass diese Sprache nicht allgemein akzeptiert würde. 345 Eine Sprache, die das System unserer Ideen in seiner Struktur analysiert aufbewahrt, ist utopisch, weil wir nicht ohne diese Sprache zu dieser Analyse gelangen, und umgekehrt. Der Universaldiskurs der idéologie ist nur in und an einer utopischen Sprache vollkommen realisierbar, und diese setzt die analysierte Abfolge der Ideen dieses Universaldiskurses wiederum voraus. In den letzten Diskussionen über die Universalsprache und den Universaldiskurs zeigt sich, dass die Wissenschaft, die diese Diskussionen trägt, die idéologie, eigentlich selbst utopische Züge an sich hat. Sie wird, ebenso wie der Traum von der Universalsprache und -Rede, kurze Zeit später von der Bildfläche verschwinden. 2.2.3.2. Utopische Gegenentwürfe Dieser Zirkel der idéologie ist freilich nur dann vitiös, wenn man die absoluten Maßstäbe der Universalcharakteristik und anderer utopischer Projekte anlegt. Und insofern ist das Problem der Ideologen nicht so groß, wie sie angesichts der Universalsprachenentwürfe zu glauben vorgeben. Immerhin haben sie ihr eigenes Projekt optimistisch beurteilt. Und das konnten sie - trotz vieler aus heutiger Sicht illusorischer Aspekte - durchaus, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil sie die Ideen, die in einer bestimmten, zwar fehlerhaften, aber doch im Einklang mit einigermaßen vernünftigen Bedürfnissen aufgebauten Sprache repräsentiert werden, analysieren. Zum anderen, weil die analytische Rekonstruktion ebenso wie die Konstruktion selbst als work in progress verstanden werden kann; beide sind an einem Punkt auf einer Skala der genetischen Aufbaubewegung angekommen, und beide können weiter fortschreiten. Diese Bewegung und ihre Nachzeichnung setzen ihrerseits (im Gegensatz zu ihren utopisch- 343 Destutt de Tracy 1800a, S. 227 344 Destutt de Tracy 1800a, S. 229 345 Destutt de Tracy 1800a, S. 235 188 idelaen Gegenentwürfen) die Vollkommenheit der Sprache nicht voraus, sondern haben sie zum fernen Ziel. Von Condillacs Statue bis hin zur Genese der Kategorien in Destutt de Tracys Mémoire sur la faculté de penser und seiner Dissertation sur l’Existence wird immer aus einer ersten, angeblich unbezweifelbaren Erfahrung ausgegangen - etwa im letztgenannten Text dem Einhalt, der einer dem Wahrnehmenden an sich selbst erfahrenen Eigenbewegung von einem anzunehmenden Element der Außenwelt geboten wird. Von dort ist der Weg in potentiell unbegrenzte Differenzierungen offen. Solange man bereit ist, das Analyse-Genese-Spiel mitzumachen, wird man gerade in der Linearität dieser Geschichten die Legitimation ihrer Analysen erblicken können. Dennoch zeigt sich in Destutts Zweifel daran, die Gesamtheit des Denkbaren lasse sich in einer linearen Hervorgehensordnung analytisch entfalten, die Grenze des Systems. Diese Grenze wollen wir nun näher inspizieren: Einmal von innen, durch ein Beispiel einer Utopie des Nichtlinearen, die das Spiel bestätigt, aber Ansätze zu einer Veränderung auf dem Gebiet der Ästhetik zeigt; dann durch ein solches eines phantastischen Gegenentwurfs, der die Legitimation des Spieles insgesamt in Frage stellt. a) Utopie des nichtlinearen Diskurses: Diderots Hieroglyphe Die Taubstummen in Diderots Lettre sur les sourds et muets sind von der Linearität der akustischen Sprachen ausgeschlossen. Die Zeichensprache, deren sie sich bedienen, besteht aus elliptischen, interpretierbaren Symbolen, deren semantische Aufladungen gleichzeitig, nicht in einer Abfolge, rezipiert werden. Die symbolische Hieroglyphe der Kunst vermag in ähnlicher Weise Verschiedenes gleichzeitig zu vermitteln. Annie Becq weist darauf hin, dass in der dadurch ermöglichten plötzlichen Verbindung der verschiedenen Vermögen der Seele unter besonderer Mitwirkung der Imagination in der Lettre die geometrische Rationalität zwar nicht ausgeschlossen, aber überstiegen wird. 346 Doch Diderot bleibt nicht bei einem bloßen Gegenentwurf zur Linearität der Sprache. Michel Delon hat gezeigt, dass die Konzeption des Zeichens, die Diderot dazu bewegt, diese Symbole den gesprochenen Sprachen vorzuziehen, bereits in einer Geschichte der Energie ihren Ort hat 347 (wie wir sie im Z WEITEN T EIL erzählen werden) - dies aber nun vor allem deshalb, weil nach Diderot die Sukzession der Rede nicht die Energie, die Bewegung, die Schnelligkeit der Imagination erreicht; das Bild vermag dies. Noch besser aber kann die Musik, die nun selbst wieder eine Abfolge, freilich eine Abfolge von Gleichzeitigkeiten, von Harmonien, ist, der Bewegtheit des menschlichen Inneren entsprechen. Die Sprünge, die Dramatik und Energie der musikalischen Bewegung sind 346 Becq 1984, S. 692 347 Delon 1988, S. 81ff.; vgl. Diderot 1751. 189 auch die der menschlichen Imagination. Von einem Ausgangspunkt der Sukzessionskritik, die als Gegenmodell zur Sprache das Bild aufstellt, gelangt Diderot so zu einer Ästhetik der Energie, die in der Musik ihre Erfüllung findet. Für Mélanie de Salignac in den Additions à la lettre sur les aveugles ist die Musik denn auch „la plus belle des langues que je connaisse.“ 348 Von den Rändern der Normalität also, vom Standpunkt der Blinden und Taubstummen, sowie vor allem aus der Perspektive der Kunst, sei sie bildend oder musikalisch, stellt Diderot die Herrschaft der sprachlichen analytischen Linearität in Frage. Wo die bedächtig zerlegende Sukzession der Sprache nicht mehr deren Überlegenheit begründet, kann sie auch nicht mehr das Ideal aller Aussageformen sein. Aber gerade die Verortung der Utopie Diderots in der Kunst und nicht etwa der Philosophie 349 zeigt, dass die nicht lineare Form der Aussage das Außen des herrschenden Wissenssystems ist, das damit zunächst bestätigt wird. Von hier führt freilich ein Weg zu einer Erneuerung der Ästhetik im Sinne der Energie, der wir am Ende unserer Untersuchung wieder begegnen werden. b) Utopie des nichtlinearen Universaldiskurses: Saint-Martins Buch von zehn Blättern Im Gegensatz dazu kennt die theologische Tradition eine Abwertung der Linearität gerade im Felde der Erkenntnis und damit auch der philosophischen Rede. Zwar ist die Sukzessivität auch in dieser Tradition das definierende Kennzeichen menschlicher Spache und Erkenntnis, aber diese erscheint nun als mangelhafte Schwundform jener eigentlichen Erkenntnis, die Gott zugeschrieben wird. Gott erkennt als ewiges, außerzeitliches Wesen gerade nicht zeitlich und linear. Dies gilt auch in der Theosophie Saint- Martins. So wie nach Saint-Martin der Mensch eine Universalsprache in Form der Reste der (zweiten) Ursprache in potentia in sich trägt, so führt er auch einen verschütteten Universaldiskurs mit sich. In Des erreurs et de la vérité kleidet Saint-Martin diese Vorstellung in den von ihm selbst später mehrmals wieder aufgenommenen Mythos eines für den Menschen unleserlich gewordenen Buches, das dieser mit sich herumträgt, ohne es zu wissen. Ces avantages inexprimables étaient attachés à la possession et à l’intelligence d’un Livre sans prix, qui était au nombre des dons que l’homme avait reçu avec la naissance. Quoique ce Livre ne contînt que dix feuilles, il renfermait toutes les lumières et toutes Sciences de ce qui a été, de ce qui est et de ce qui sera; et le 348 Diderot 1782, S. 190-191 349 Diese Forderungen gelten beispielsweise nicht für die Philosophie, vgl. Delon 1988, S. 83. Ein Gegenbeispiel eines vielleicht nicht philosophischen, aber doch darlegenden (dichterischen? ) Textes ist freilich der Rêve de d’Alembert; vgl. Kapitel IV unserer Untersuchung. 190 pouvoir de l’homme était si étendu alors, qu’il avait la faculté de lire à la fois dans les dix feuilles du Livres et de l’embrasser d’un coup d’œil. Lors de sa dégradation, le même Livre lui est bien resté, mais il a été privé de la faculté de pouvoir y lire aussi facilement, et il ne peut plus en connaître toutes les feuilles que l’une après l’autre. Cependant il ne sera jamais entièrement rétabli dans ses droits qu’il ne les ait toutes étudiées; car, quoique chacune de ces dix feuilles contienne une connaissance particulière et qui lui soit propre, elles sont néanmoins tellement liées, qu’il est impossible d’en posséder une parfaitement, sans être parvenu à les connaître toutes […] 350 Der Mensch trägt nach Saint-Martin einen nur noch ansatzweise zugänglichen Text in sich, der nur als Ganzheit verständlich, aber gerade als Ganzheit nicht mehr erfassbar ist. Der gefallene Mensch ist dazu verurteilt, den Universaldiskurs dieses Buches in linearer Abfolge zu lesen, was jedoch aufgrund der starken inhaltlichen liaison der einzelnen Blätter nicht möglich ist; jedes Blatt setzt die anderen voraus. Gerade die Analytik des Satzes und die Genese aus einfachen anfänglichen Elementen sind ausgeschlossen, weil sie die Komplexität der Welt verfehlen. Wenn der Mensch aber seinen ursprünglichen, prälapsarischen Stand wiedergewinnen will, so ist ihm diese Lektüre aufgegeben, die zugleich nur in diesem Stande möglich ist. Aus dieser Aporie rettet ihn die Unterwerfung unter den Christus- Logos, das innere Wort, das durch die Heilstat des Gottessohnes im Menschen wieder aktualisiert worden ist. Diese ist nicht nur eine moralische Bedingung für die Lektüre, sondern auch eine inhaltliche, denn Christus ist nicht nur der innere Seelenführer, sondern gewissermaßen auch die Form, nach der erkannt wird. Dies wird in unserem Mythos dadurch plausibel gemacht, dass sich Christus strukturell als der Schlüssel zum Buch des Menschen erweist. Saint-Martin versteckt diese seine Argumentation an der fraglichen Stelle besonders aufwendig unter geheimnisvollem Raunen, wenn er andeutet, was auf den zehn Seiten zu lesen war - bezeichnenderweise in der Vergangenheitsform, obwohl doch die Menschen „naissent tout le Livre à la main“: so undurchsichtig ist der Text geworden. La première traitait du Principe universel, ou du Centre, d’où émanent continuellement tous les Centres. La seconde, de la Cause occasionelle de l’Univers […] La troisième de la base des Corps […] La quatrième, de tout ce qui est actif; […] et c’est là que se trouve le nombre des Etres immatériels qui pensent. 351 Der Autor selbst hebt den Begriff nombre hervor und führt damit auf die Frage, ob die Blattnummern von eins bis zehn hier mehr als nur ordnende Funktion haben. Insofern, als er die Zahl der immateriellen denkenden 350 Saint-Martin 1775, S. 252-253 351 Saint-Martin 1775, S. 255-256 191 Wesen zu einem möglichen Erkenntnisgegenstand erklärt, verzeichnet auf Blatt vier des Buches der Erkenntnis, lenkt er auf die semantischen Implikationen der zehn Zahlen, die diese Seiten tragen. Hier kommen uns unsere bereits erworbenen arithmosophischen Kenntnisse zu Hilfe. Leicht ist die Deutung beim ersten Blatt, das vom Einen handelt, also von Gott als Vater oder Schöpfer vor jeder Ausdifferenzierung. Die Zwei ist die Differenzierung als Grundbedingung der Weltschöpfung, aber auch der Entzweiung, auf der auch der Gegensatz von Gut und Böse beruht. Wir werden im martinistischen Schöpfungsmythos sehen, dass die Abspaltung des Bösen tatsächlich der okkasionelle Grund der Schöpfung ist, der Anlass zu einer in undeterminierter göttlicher Freiheit erfolgten Kreation. Die Drei ist die Zahl der Sekundärursachen bei der Schöpfung und insbesondere auch der Elemente, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Saint-Martin muss die traditionelle Vierheit der Elemente leugnen, weil diese Zahl bei ihm dem genauen Gegenteil der materiellen Welt vorbehalten ist. Die Vier ist nämlich die Zahl der ‘aktiven’, also geistigen, nicht materiellen Wesen. Sie ist insofern auch die Zahl des Menschen als eines geistigen Wesens. Die Verirrung des Menschen liegt nach einer berühmten Passage von Des erreurs et de la vérité darin, von Vier auf Neun gegangen zu sein. 352 Das neunte Blatt enthält nun die Wahrheit um die körperliche Existenz des Menschen. Insofern, als er sich seiner geistigen Natur entfremdet und einer materiellen Existenz verschrieben hat, hat er sich von Vier auf Neun verirrt. Besonders interessant sind für uns noch Acht und Zehn: Die Acht ist die Christuszahl, die Zehn dagegen so etwas wie die Fülle der Göttlichkeit in ihrer manifestierten Form im Gegensatz zur Ur-Einheit als der Möglichkeit, aus der alles kommt. Die rätselhafte Bemerkung, die Zehn sei zugleich die Barriere, die den Schöpfer aller Dinge gegen alle Wesen schützt, lässt den Gedanken an das Pleroma der Gnosis oder den kabbalistischen Sephirotbaum anklingen - beides Figuren einer göttlichen Fülle, die in sich ruht und sich in den jeweils dazugehörigen Mythen durch Ausscheidung von ihr fremd Gewordenem in ihrer Unversehrtheit hält. 353 Wie man sieht, sind die Zahlen jeweils Grundstrukturen eines Aspekts einer insgesamt jedoch nur als Ganzheit begreifbaren Welt. Sie sind Bauformen oder Ideen, die der Schöpfung voraus liegen. Wie wir schon bei unserer Betrachtung der martinistischen Zahlenlehre sahen, zielt die Deutungsarbeit, die Saint-Martin an ihnen ansetzt, immer wieder auf eine Symbolhaftigkeit dieser Zahlen, und insofern sind die Strukturen der Welt zeichenhaft; das wird uns noch beschäftigen. Im Augenblick gilt es im Auge zu behalten, dass die Zahlen des Buches der Erkenntnis der Schlüssel zur geschaffenen Welt sind. Insofern sie damit manifestierte Ideen der Gottheit sind, sind sie Aspekte des Logos, der hier 352 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 38 353 Saint-Martin 1775, S. 255-257 192 in seiner Christusgestalt durch die Acht repräsentiert wird. In der Acht liegt also neben der Eins und vor allem der Zehn ein Begegnungspunkt aller Zahlen und Zusammenhänge; hier zeigt sich die starke Verknüpfung dieses Gebildes. Diese Acht, eine doppelte Vier, ist nach Saint-Martin (wir sahen es schon) nur in die Welt gekommen, um der einfachen Vier, dem Menschen, nach dessen Versagen beizuspringen. In Des erreurs ist die Acht Produkt einer Multiplikation von zwei Namen mit vier Zahlen, was sich so auflösen lässt: Das Wesen mit den zwei Namen, dem menschlichen (Jesus) und dem göttlichen (Christus oder Erlöser) ist aufgrund seiner von der theologischen Tradition verkündeten Doppelnatur mit vier Zahlen aus der Reihe der hier präsentierten zu verbinden: Als Mensch trägt er die Vier, als Gott die Eins und die Zehn, als beides (und als Erlöser) die Acht, die seine eigentliche Zahl ist. Der Christus-Logos ist also einerseits der geistige Ort, an dem die Zahlen, die im Busen des Einen schlummerten, in die weltentwerfende Aktivität getreten sind, er ist also die Position der Zahl schlechthin, zum anderen ist er ein Begegnungspunkt von vier dieser Zahlen. Insofern ist der Zugang zu den zehn Seiten nicht nur ethisch in der willensopfernden Nachfolge Christi möglich, sondern auch strukturell durch den Logos, der alle Zahlen in ihrer aktuellen Gestalt in sich trägt und daher deren Sinnform zugänglich macht. Als doppelte Vier ist Christus jedoch auch, wie schon angedeutet, der versagenden einfachen Vier, dem Menschen, zu Hilfe geeilt und hat dessen Position übernommen. Hat die einfache Vier also eine ähnlich zentrale Stellung in der Welt der Zahlen wie sie doppelte? Im Weltganzen impliziert die Funktions-Übernahme Christi für den Menschen in der Tat eine Analogie zwischen den beiden Positionen Vier und Acht, und Saint-Martin weist besonders darauf hin, dass gerade auch das vierte Blatt ein Verknüpfungspunkt für den Gesamtzusammenhang ist. Der Mensch ist nicht nur der einstmals privilegierte Leser seines Weltbuches, er wird auch in diesem Buch selbst als zentrale Struktur dieser Welt repräsentiert. Insofern sind von allen reduktiven Lesern des Buches, die Saint-Martin als von dämonischen Lektüre-Saboteuren geleitet verdammt - von den Materialisten, die nur die Seite drei (die Gestalt der Schöpfung) gelesen haben bis zu den Deisten, die bei Seite eins (dem noch nicht mit der Schöpfung verbundenen Einen) zu lesen aufgehört haben - diejenigen, die das vierte Blatt nicht oder falsch lesen, besonders verdammenswert. Denn die Maxime, die Saint- Martin dem Tableau naturel voranstellt - „expliquer les choses par l’homme, et non l’homme par les choses“ - muss dieses vierte Blatt privilegieren. Die Lektüre des Weltbuches selbst führt auf dieses vierte Blatt hin, denn seine zentrale Position besagt ja nichts anderes, als dass der Mensch in sich dieses Weltbuch trägt, in seiner Beschaffenheit einen Schlüssel zur Schöpfung darstellt, ein Mikrokosmos ist. Das vierte Blatt des Buchs ist eine mise en abyme des Buches (und seines Zuhandenseins), das wiederum der Schlüssel 193 zur Welt ist. Christus als Schlüssel zu diesem Buch wird damit zum Schlüssel des Schlüssels zu sich selbst. Das Originelle hier ist aber, dass dieser Mikrokosmos, der der Mensch ist, als Text daherkommt, der sich selbst unleserlich geworden ist. Die Gleichsetzung des Menschen mit seinem Buch, die hier implizit ist, wird nämlich von Saint-Martin an anderer Stelle, wie wir sehen werden, auch explizit vollzogen. Die beiden Motive, die in diesem Bild enthalten sind, werden uns daher noch weiter interessieren: die Ruinen der vorfindlichen Welt und die Vorstellung vom Menschen als Zeichen oder Text. Beides ist dem Menschen zur Deutung aufgegeben, und die Intransparenz beider behindert zugleich seine Deutungsarbeit. Insofern ist auch die (im Grunde augustinische) Erkenntniskritik der Illuministen nicht die Kritik an einer bedauerlicherweise beschränkten instrumentellen Vernunft, sondern die Offenlegung einer tragischen Verfehlung, denn die Selbstdeutung des Menschen und die darauf aufbauende Lektüre der verfallenen Welt ist die verfehlte Bestimmung des Menschen. Die Notwendigkeit jedoch, im gefallenen Stand die Blätter nacheinander zu lesen, ist vor dem Horizont dieses (eher edenischen als utopischen 354 ) nichtlinearen Universaldiskurses keineswegs einfach die Natur menschlicher Rationalität. Sie ist vitium poenale einer durch die Hingabe an die materielle Welt gefallenen Erkenntnis. Saint-Martins Entwurf bestätigt insofern die Erkenntnisform, die die Aufklärung an sich selbst beobachtet, wertet sie aber zugleich ab. Das Spiel der linearen Analyse-Genese ist ein steriles Im-Kreise-Gehen. Nur die Hereinnahme des aktiven Logos kann aus diesem Zirkel herausführen und die Rätsel lösen. Einmal mehr ist Saint-Martins Anschluss an die Rationalität seiner Gegner als polemische Teilnahme an deren Spiel gestaltet, die die Legitimation, aber nicht die Faktizität des Spiels in Frage stellt. Würde aber dieser Spielzug von den anderen Spielern akzeptiert, so wäre die Auffassung von der Linearität der sprachlichen Erkenntnis insgesamt aus den Angeln gehoben. 2.3. Das Narrative als ausgegrenztes Anderes der Genese Das Spiel von Analyse und Genese geschieht, wie wir sahen, immer in Geschichten, in erzählten hypothetischen Hervorgängen aus gesetzten einfachen Elementen - von Fiktionen kaum zu unterscheiden. Das Verhältnis dieser Narrationen zu ihren literarischen Gegenstücken hat denn auch das Denken jener Zeit beunruhigt. 354 Saint-Martins phantastisches Bild ist ja nicht ortlos-utopisch, also nirgends je zu sehen gewesen, sondern bezieht sich auf einen Verlust, der im christlichen Mythos mit dem Ort Eden symbolisiert wird. Dementsprechend handelt es sich auch nicht um den utopischen Horizont eines zukunftsoffenen Bemühens, sondern um den Zielpunkt der Reintegration. 194 Das achtzehnte Jahrhundert ist, wie Georges May bemerkt, einerseits geprägt durch bedeutende Entwicklungen auf dem Feld des Romans, andererseits durch eine gegen den Roman gerichtete Polemik, die vor allem seine angeblich moralisch verderbliche Wirkung auf den Leser und seine ästhetische Inferiorität in Bezug auf die Reste eines traditionellen Gattungssystems ins Feld führt. 355 Aber nicht nur der literarische Stellenwert und die sittliche Wirkung gehören zu den Problemen, die die Aufklärung gerade mit einer jener Textsorten hatte, welche die Wirkung eben dieser Aufklärung besonders beförderte, 356 auch die Fiktionalität gehört dazu. Fiktionalität als Form von Unwahrheit ist denn auch derjenige Aspekt des Romanhaften, welcher den Begriff roman in der philosophischen Diskussion ausmacht. So schreibt Voltaire, selbst ein Verfasser von Romanen, in der vierzehnten der Lettres philosophiques über Descartes im Vergleich zu Newton: Descartes était né avec une imagination vive et forte […] La nature en avait presque fait un Poète […] La Géométrie était un guide que lui-même avait en quelque façon formé, et qui l’aurait conduit sûrement dans sa Physique; cependant il abandonna à la fin ce guide et se livra à l’esprit de système. Alors sa Philosophie ne fut plus qu’un roman ingénieux, et tout au plus vraisemblable pour les ignorants […] il inventa de nouveaux éléments, il créa un monde, il fit l’homme à sa mode […] 357 Die Imagination und die Invention sind also die Fallstricke des esprit de système, der nach Voltaire dazu verführt, mit Blick auf die Konstruktion eines systematischen Ganzen fiktive Entitäten und Abläufe, sozusagen Helden und Geschichten, einzuführen. Der von Voltaire eingeführte Gegenbegriff zu roman ist hier Géométrie. Wir haben freilich schon gesehen, dass gerade die Angleichung des (übrigens im selben Brief von Voltaire argumentativ verwendeten 358 ) Analyse-Genese-Modells an mathematische Modelle dazu führt, dass in ihm im Grunde fiktive Geschichten erzählt werden. Die Opposition zwischen Mathematik und Fiktion, die Voltaire hier einführt, ist insofern also wenig mehr als eine polemische Setzung; gerade die metaphysischen Systeme, die deduktiv aus Axiomen abgeleitet sind, wurden von Mathematikern wie Descartes oder Leibniz in Anlehnung an diese Disziplin geschaffen. Condillac versucht im Traité des systèmes, zwischen Hypothesen und Axiomen zu unterscheiden und den Systemen Gerechtigkeit widerfahren 355 May 1963, S. 1 und S. 8-9 und passim 356 Vgl. zum Roman der Philosophen vor allem die Studie von Dirscherl 1985. 357 Voltaire 1734, S. 72 und S. 75-76 358 Voltaire bemerkt, um herauszufinden, ob die Meinung der Engländer oder der Kontinentaleuropäer bezüglich der Gezeiten richtig sei, müsse man „au premier instant de la création“ zurücksteigen, die Wahrheit dieser Abläufe sei also nur in ihrer Genesis erkennbar. (Voltaire 1734, S. 70) 195 zu lassen. Insgesamt aber bleibt er kritisch gegenüber allen Systemen, vor allem denjenigen, die auf abstrakten Begriffen aufbauen. Das muss er auch, denn wir haben oben schon gesehen, dass Abstrakta für ihn ja nur abgeleitete Begriffe, Kürzel, Zwischenergebnisse sind: Auf ihnen kann nichts aufbauen. Fundierend können immer nur aus konkreter Sinneswahrnehmung gewonnene Elemente sein, keine durch Abstraktion gebildeten. So schreibt er über den Aufbau von Systemen aus Annahmen: Quant aux suppositions, elles sont d’une si grande ressource pour l’ignorance, si commodes! l’imagination les fait avec tant de plaisir, avec si peu de peine! c’est de son lit qu’on crée, qu’on gouverne l’univers. Tout cela ne coûte pas plus qu’un rêve, et un philosophe rêve facilement. 359 Die Imagination des Traumes nimmt hier die Position der romanhaften Imagination bei Voltaire als Quelle der Unwahrheit ein. In Condillacs Analyse der Systeme ist es vor allem, wie wir sahen, die unanalysierte Natur der Begriffe, die dazu führt, dass Wörter, denen keine klaren und aus der Erfahrung gewonnenen Ideen zugeordnet sind, also Fiktionen, zur Grundlage von ‘unwahren’ Begriffsgebäuden werden. Die Genesen dieser Strukturen sind fiktive Genese-Geschichten, aus leeren Begriffen aufgebaut. Sie sind irreführend wie Romane. Eine Argumentationsform wie das Analyse-Genese-Modell, die komplexe Strukturen in einer Als-ob-Zeitlichkeit aus hypothetischen ersten Bausteinen aufführt, benötigt eine solche polemische Abgrenzung, weil sie selber eine fiktive Erzählung ist, die gesetzte ‘Charaktere’ in einer erfundenen ‘Handlung’ bewegt. Von hier her erscheint die Romankritik gerade der Philosophen als Verteidigung ihrer eigenen Denkmodelle gegen deren Anderes, deren unwahre Schattenseite. 2.3.1. Der Roman der Metaphysik und die idéologie als Erzählform Für die Encyclopédie war es aufgrund dieser Gegebenheiten ohne nähere Kontextualisierung möglich, die Philosophie Malebranches als „roman métaphysique“ zu bezeichnen. 360 Aber auch diejenigen, die sich von diesem Roman distanzieren, erzählen von Hervorgängen aus fiktiven Ursprüngen. Dies gilt besonders für die Ideologen. So hat François Rastier Destutts Éléments d’idéologie auf ihre Narrativität hin untersucht. Rastiers Untersuchung kann uns allerdings nur weiterhelfen, wenn wir sie ein wenig gegen den Strich lesen. Denn die Greimassche Narrativitätsanalyse, auf der sie beruht, will bekanntlich gar nicht das spezifisch Narrative eines Textes herausarbeiten, sondern aus dem narratologischen Modell Propps, das noch auf Erzählungen gemünzt war, eine Me- 359 Condillac 1749, S. 5 360 Encyclopédie 1751-1780, Bd. 8, S. 490 (Artikel I DEE ) 196 thode zur Analyse von Textkohärenzen jedweder Textsorte machen. 361 Die narratologischen Termini erscheinen darin nur als metaphorische Umformungen, oder besser gesagt: abstraktere, verblasste Versionen ihrer selbst, die allgemeine textlinguistische Fortschreitungsbeschreibungen ermöglichen sollen. So gesehen sagt Rastier nichts für unser Interesse Dienliches über Destutt aus, denn er erweist nur die allgemeine Textkohärenz des untersuchten Textes (und die Anwendbarkeit seines Modells). Es gilt daher, wollen wir etwas über die Narrativität von Destutts Buch in einem spezielleren Sinne erfahren, die Termini Rastiers und Greimas’ einfach einmal wörtlich zu nehmen. Der ‘Held’ der Erzählung Destutts wären dann die facultés intellectuelles des Menschen, 362 seine erzählten Taten bestünden in der Herausbildung der Ideen 363 , wobei die Heranziehung der (vor allem sprachlichen) Zeichen zu dieser Aufgabe der Suche nach einem Helfer gleichkäme. 364 In dieser Geschichte des Aufbaus der Ideen aus ersten einfachen Elementen gäbe es solche typischen Elemente wie Quête und Échec, und sie lässt sich in Episoden einteilen wie „départ du héros“, „création de l’adjuvant“, „épreuve principale“, „épreuve glorifiante.“ 365 Insbesondere das zeitlich-episodische Profil der Éléments kommt so sehr gut zum Vorschein. Auch die Identifikation gleichbleibender handelnder Agenten, ihrer Taten und der Mittel dazu ist angesichts des oben bezüglich der idéologie Referierten durchaus einsichtig. Gerade die Fortschreitung der Geschichte und die Konstanz der darin handelnden Elemente kann in diesem Sinne als eine narrative Logik verstanden werden, die mehr ist als allgemeine Textkohärenz. Rastiers Arbeit am Text ist zwar eher eine Reduktion desselben auf diese Elemente - dass diese jedoch so gut funktioniert, und dass man die genannten Zuordnungen auch bei einem nicht abstrakten Verständnis der verwendeten narratologischen Termini mitvollziehen kann, das weist wohl auf eine in spezifischerem Sinne narrative Struktur der Erzählung von der Genesis der Ideen, als Rastier sie sucht. Natürlich gilt dies für jede hermeneutische Erzählung, die Komplexität in einer gedachten Abfolge zugänglich machen will. Aber auch die Notwendigkeit, sich gegen die Kehrseite des explikativen Erzählens zu verwahren, also gegen das Erzählen von Geschichten, die narrativer Logik folgen und als Geschichten, nicht als alternative Formulierungen von Nichtgeschichten, Geltung beanspruchen, gilt für jeden philosophischen Mythos. So mögen auch die platonischen Mythen ursprünglich und daher eigentlich (und auch dies ist eine Analyse-Genese-Argumentation! ) lediglich 361 Vgl. etwa Greimas/ Courtés 1979, Artikel „Narrativité“, § 3, S. 248. 362 Rastier 1972, S. 45ff 363 Rastier 1972, S. 52ff 364 Rastier 1972, S. 81ff 365 Rastier 1972, S. 115, 118, 133ff, 140ff 197 quasi-zeitliche Ausfaltungen anders nicht einsichtiger Zusammenhänge gewesen sein. 366 Gleichwohl wurden sie bei den Neuplatonikern und vor allem in dem davon abhängigen esoterischen Schrifttum schnell zu geglaubten Geschichten, Gründungs- und Begründungserzählungen, deren histoire nun nicht mehr die greifbare Umformung einer dahinter liegenden Wahrheit, sondern selbst Wahrheit war: Sie wurden zu religiösen Mythen. Darüber hinaus aber haben wir vor allem bei den Sprachentstehungserzählungen Condillacs und der Ideologen gesehen, dass hier die gedachte ideale Entfaltung einer Sache durchaus häufig mit der anzunehmenden historischen Entstehung derselben ineins gesetzt wurde. So vergleichsweise leicht wie Platon sind also unsere Philosophen nicht gegen den Vorwurf des Fabulierens in Schutz zu nehmen. 2.3.2. Der Roman der Erdgeschichte Um dieses Spiel von Narrativität und Romankritik noch ein wenig weiter verfolgen zu können, soll nun ein kurzer Blick auf Erzählungen über das Werden des Kosmos und der Erde geworfen werden, die im achtzehnten Jahrhundert zunehmend mit Blick auf eine Ablösung des biblischen Genesis-Berichts in Umlauf gebracht werden: Es soll also eine mit dem Diskurs der allgemeinen Grammatik besonders verbundene Grundoperation noch etwas weiter als bisher in andere Diskurse hinein verfolgt werden. Dabei wird sich auch noch eine besonders erhellende Begegnung mit den Illuministen ergeben: Ausgerechnet aus dem Lager dieser Denker, die sich (wie wir noch genauer sehen werden) auf einen kabbalistisch-pseudobiblischen Mythos stützen, wird nämlich Kritik an den Träumereien insbesondere reduktiver kosmologischer Erzählungen laut werden. 2.3.2.1. Buffon, Maillet, Delisle de Sales Nachdem Jean-Baptiste Claude Delisle de Sales sich im Vorwort seiner Histoire philosophique du monde primitif von Court de Gébelins beinahe gleichnamiger Urgeschichte der Kultur distanziert hat, welche er nicht nur in Art und Interesse des Gegenstandes, sondern, so suggeriert Delisle de Sales, auch im Anspruch hinter sich lässt, präzisiert er sein Vorhaben: Er möchte die Urgeschichte des und der Planeten und des Kosmos überhaupt schreiben, […] déchiffrer quelques vérités éternelles de la nature, éparses sur les monumens physiques du Globe, de les enchaîner par un fil encyclopédique, et d’en faire résulter un livre absolument neuf, qui serait l’Histoire de la Terre, avant qu’elle eût des Historiens […] 366 Vgl. Gloy 1995 I, S. 84 zum platonischen Schöpfungsmythos. 198 […] de décomposer la machine infinie de l’Univers; de pressentir la génération des Mondes, leurs métamorphoses et leur renouvellement […] […] c’est toujours la Physique que j’invoque quand le Suprême Ordonnateur des sphères célestes se tait; c’est toujours Newton qui me pénètre de ses feux, quand j'écarte, d’une main courageuse, les ténèbres sacrées des Révélations. 367 Mit einem an Newton geschulten physikalischen Beschreibungsvokabular möchte der Verfasser also eine Alternativgeschichte zur offenbarten Genesis („Révélations“) verfassen, die jedoch wie diese eine Erzählung („Histoire“) sein soll, und zwar eine mit immer noch hypothetischen Zügen („pressentir“), die die machina mundi (in dieser im Grunde aristotelischen Metapher begegnet uns die von Newton her sich verbreitende ‘neue Idee vom Ganzen') analytisch zerlegt („décomposer“) und die Genesen („génération“) des Vorfindlichen aus dem durch diese Analyse gewonnenen Zustand herleitet. Diese Genese-Geschichte soll zugleich alles, was man über dieses Thema herausfinden kann, „par un fil encyclopédique“ verketten. Das Realisierungsverhältnis zu unserem Modell ist unverkennbar. Kann das gut gehen? Kann insbesondere die Verknüpfung der hypothetischen Erzählung mit der Physik gelingen? Stutzig macht nämlich schon hier die Metaphorik der Deutung und Spurenlese, die sich am Anfang des obigen Zitats zeigt, und die einige Seiten später auch in der Metapher vom „grand livre de la nature“ 368 im Sinne einer Lesbarkeit der Welt noch einmal an die Oberfläche kommt. Nicht die bloße Beschreibung des Beobachtbaren, bezogen auf einige wenige falsifizierbare Hypothesen, soll hier versucht werden, sondern eine Deutung der Zeichen der Welt, eine Entschlüsselung der lesbaren Ruinen dessen, was der Große Architekt ursprünglich gebaut hat. 369 Dort, wo Offenbarung und Physik gleichermaßen schweigen, werden, wie sich zeigen wird, Fiktionen und Mythen einspringen. Deshalb ist es auch nötig, das eigene Projekt von solchen abzugrenzen, die allzu frei fabulieren und daher als Romane zu bezeichnen sind: Buffon, à certains égards, a écrit le roman de la nature, et moi j’ose en écrire l’histoire. 370 Gegen Buffons Annahmen wird immerhin behauptet, dass ‘im Anfange’ die Verteilung von Land- und Wassermassen auf der Erde nicht symmetrisch war, sondern ebenso bizarr wie heute. 371 Das Erste ist also in formaler Hinsicht wenigstens in diesem Falle nicht auch das Einfache, sondern bereits komplex. Dennoch sind auch die „ruines d’un monde primitif“, die 367 Delisle de Sales 1780, I, S. i-iv 368 Delisle de Sales 1780, I, S. 8 369 Delisle de Sales 1780, I, S. 37; vgl. auch ebenda S. 41 370 Delisle de Sales 1780, I, S. 18. Vgl auch ebenda, S. 108: „l’auteur de l’histoire naturelle se montre comme poëte épique plutôt que comme philosophe.“ 371 Delisle de Sales 1780, I, S. 25-29 199 wir in unserer gegenwärtigen Welt erblicken, Reste einer „harmonie qui a existé.“ 372 Vor der Verteilung der Landmassen war die Erde insofern dann doch „de la plus parfaite régularité.“ 373 Die Absetzung von Buffon wird also zunächst global versucht, kann dann aber nur für einen Aspekt aufrechterhalten werden. Gerade in der Annahme, der ursprüngliche Zustand sei einfacher und geordneter gewesen als die unüberschaubare heutige Welt, muss Delisle de Sales ihm dann beipflichten - und damit auch Court de Gébelin, von dessen Monde primitif er den seinen so streng zu scheiden versuchte. So wird die Ruinenlektüre zur Devination eines vollkommenen Urzustandes - was auch in der Metaphorik durch die Beziehung zwischen Bauwerk und Ruine semantisch angelegt ist: Il est beau de deviner à la vue des ruines du monde dégénéré, les proportions admirables du monde primitif, comme à la vue des caractères mobiles et épars de l’imprimerie, un sauvage bien organisé devinerait qu’un Tacite a pu écrire les annales de Rome et Homère une Iliade. 374 Nicht umsonst ist die Entzifferung einer fremden Schrift hier als Vergleich gewählt. Die Rekonstruktion der Erdgeschichte ist eine archäologische Aufgabe und wird entgegen der Ankündigung des Autors mehr mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft als mit denen der Naturwissenschaften betrieben. Die Berührungen mit Court de Gébelins Monde primitif sind hier besonders deutlich. Weder von Buffon noch von Court de Gébelin kann sich also Delisle de Sales in der gewünschten Weise absetzen. Das Strategem, eine postulierte Regelmäßigkeit angesichts vorfindlicher Unordnung durch das Bild der Ruine, durch die Einführung also von Geschichte, zu retten, konnte Delisle de Sales übrigens bei Maupertuis finden: Wie Lovejoy zeigt, versuchte Maupertuis mit der Annahme, die Lückenhaftigkeit der eigentlich als vollständiges Kontinuum gedachten Großen Kette der Wesen sei eine Ruine des eigentlich anzunehmenden Zustands, diese Konzeption (die wir später noch näher betrachten werden) gegen eine ihr scheinbar widersprechende Erfahrung zu retten. 375 Was nun Delisle de Sales’ Erdgeschichte angeht, so ist sie eine naturphilosophische Erzählung, die versucht, Heraklits Vorstellung, die Welt sei aus dem Feuer entstanden und entzünde sich periodisch, um immer wieder neu zu entstehen, 376 in eine modernere und extrem detailreich ausgearbeitete Form zu bringen. Dabei ist im Sinne alchemistisch-naturphilosophischer (an Aristoteles und die Stoa anknüpfender) Traditionen das „feu 372 Delisle de Sales 1780, I, S. 41 und 43 373 Delisle de Sales 1780, I, S. 74 374 Delisle de Sales 1780, I, S. 75-76 375 Lovejoy 1936, S. 308 376 Zu dieser angenommenen Lehre Heraklits vgl. den Aristoteles-Kommentar des Simplicius; hier: Kommentar über De coelo (Dumont 1988, „Commentaire sur le Traité du ciel“, 94, 4). 200 élémentaire“ streng vom „feu vulgaire“ zu unterscheiden. 377 Das ewige Elementarfeuer leistet die grundsätzliche Energisierung aller Materie (dies erlaubt es, die cartesische Trennung von Materie und Energie auszuhebeln und eine potentiell lebendige Materie annehmen zu können). Sonne und Elektrizität sind unreinere Formen davon, das gemeine Feuer ist die gröbste. Insofern kommt alles aus dem Feuer. 378 Überall, wo das Elementarfeuer „enchainé et sans énergie“ in einem Ruhezustand anzutreffen ist, sind die Körper opak und scheinbar (aber nicht wirklich) leblos. 379 Delisle wagt nun die neue Theorie, das Elementarfeuer sei von der Gravitation ausgenommen. Körper gravitierten also nur dann zum Zentrum, wenn in ihnen das Elementarfeuer eingeschlossen sei und andere Stoffe dominierten. Alle Körper, in denen das Elementarfeuer überwiege, strebten vielmehr vom Zentrum zur Zirkumferenz. Auf der „lutte éternelle“ zwischen der so definierten Schwer- und Fliehkraft beruhe das Gleichgewicht des Universums. 380 Durch diesen Mechanismus lässt sich auch die Herleitung aller Dinge aus dem Feuer wieder als Bewegungsgeschichte beschreiben. Das riesige und unendlich schwere Zentralfeuer des Kosmos, das dessen Unendlichkeit in der Gravitation hält, wirft nämlich alle Körper aus sich heraus, und unter diesen Körpern etablieren sich sodann, in dem Maße, in dem das Elementarfeuer in ihnen ins Hintertreffen gerät - sie also erkalten -, Beziehungen der Attraktion. Die Erde, die ebenfalls aus dem Zentralfeuer herauskatapultiert wurde, bestand ursprünglich aus glühender Flüssigkeit, die dann fest und kühl wurde. Ihre Erhebungen wurden durch die Eigendrehung an die Oberfläche katapultiert. Bei der Trennung der Elemente im Kühlvorgang verdampfte das Wasser, das dann später als Niederschlag wieder auf sie herab gelangte. 381 Zwischen dem Reich des Feuers (das damit zugleich Prinzip und zentraler Ort, „siège de la monarchie de l’univers,“ 382 ist - eine Lehre, die Aristoteles den Pythagoreern zuschreibt 383 ) und dem der Anziehung gibt es im übrigen einen Zwischenbereich, in dem die Planeten sich bewegen; dieser ist feinstofflich und kann als Äther bezeichnet werden. 384 Die Schaffenskraft des Zentralfeuers ist im übrigen nicht unendlich: Sie verbraucht sich, und am Ende fesselt die Gravitation alles Feuer in sich. In diesem ein wenig dem Wärmetod späterer kosmologischer Theorien ähnelnden Zustand 377 Delisle de Sales 1780, I, S. 164. Zur Tradition der Unterscheidung zwischen elementarem und intellektualem Feuer vgl. Pagel 1979, S. 64 378 Delisle de Sales 1780, I, S. 153 und S. 164-166 379 Delisle de Sales 1780, I, S. 172 380 Delisle de Sales 1780, I, S. 174-175 381 Delisle de Sales 1780, I, S. 143-147 382 Delisle de Sales 1780, I, S. 235 383 Aristoteles, De coelo II, 13 384 Delisle de Sales 1780, I, S. 177-180 201 ist das Ende unserer Natur erreicht, und es entsteht eine neue Ordnung des Universums. 385 Dass das Elementarfeuer, das in diesen Vorgängen die wichtigste Rolle spielt, alle diese Eigenschaften haben muss, wird ontologisch begründet: L’organisation des mondes doit dériver d’une force unique qui se modifie […] et cette force perd de son intensité, en raison de l’éloignement du premier âge de la nature […] (elle) doit être unique, parce que l’unité est le grand attribut des premières causes […] […] il est évident que puisque tout fut homogène dans l’origine, et qu’aujourd’hui tout est hétérogène, il faut bien que le ressort de l’organisation des corps célestes s'affaiblisse à mesure qu’il s'éloigne de son principe.. 386 Eine erste Ursache muss immer einfach sein (dies wird im Plural ausgesagt, der hier natürlich nicht besagen will, dass es in diesem Modell mehrere erste Ursachen gibt, sondern dass dieses Postulat sich in eine Reihe ähnlicher und in dieser Hinsicht immer gleicher Ursprungspostulate stellt), und daher muss das Feuer, das ja die erste Ursache sein soll, ein Einheitsprinzip sein. Was erste Ursachen in ihrer Einheit bewirken, muss selbst etwas von dieser Einheit haben, also homogen sein. Da wir aber heute eine Welt aus heterogenen Bestandteilen vorfinden, muss diese Verfallsprodukt einer ursprünglich einheitlichen Welt sein. Genau diese Ableitung aus einem abstrakten Prinzip, in diesem Falle der ontologischen Annahme der Einfachheit erster Ursachen, ist für Condillac der Sündenfall der Systemphilosophie; aber man sieht, wie zwanglos er sich aus dem Analyse-Genese- Modell ergibt, das auch Condillacs eigenes Denken trägt. Die Komplexität der vorfindlichen Welt kann so durch eine Verfallsgeschichte aus der ursprünglichen Einheit hergeleitet werden; die Geschichte, die dabei erzählt wird, soll aber nicht bloße Explikation sein, sondern tatsächlich gelten: So soll es sich abgespielt haben. Im Grunde ist dieser Zirkel analog zu dem argumentum privationis der Martinisten (mit dem wir uns noch näher befassen werden): Der Mangel an Homogenität verweist auf eine abwesende Homogenität, die als Positivität irgendwo sein muss, und sei es in zeitlicher Ferne. Er ist daher immer als Degeneration aus einem ursprünglichen Zustand zu deuten. Der gegenwärtige Zustand erscheint in dieser Optik als Ruine. Zweifellos ist Delisle de Sales nicht repräsentativ für eine aufklärerische Philosophie, die sich etwa an den Naturwissenschaften orientieren würde. Nicht umsonst ist er schnell vergessen worden, wenn er auch noch einem Fabre d’Olivet (neben Rousseau) als Referenzautor für die Vermittlung von Weltkenntnis an die Jugend dienen wird. 387 Laplace wird kurze Zeit später eine Kosmologie entwerfen, die die hypothetischen Genesen nicht mehr 385 Delisle de Sales 1780, I, S. 176-183 386 Delisle de Sales 1780, I, S. 298 und S. 300 387 Vgl. Fabre d’Olivet 1801, S. ii-iij 202 zur Grundlage nehmen, sondern nur noch als Zusatzhypothesen unter großen Vorbehalten mit sich führen wird. 388 Aber Delisle de Sales ist auch kein Obskurantist. Er bemerkt sogar im Vorwort zur überarbeiteten vierten Auflage von 1793 (nach der wir zitieren), nun, nach der Revolution, könne er freier sprechen, da er sich nicht mehr der Zensur der Kirche beugen müsse. 389 Seine Annahme der Unendlichkeit des Raumes 390 stellt ihn ebenso außerhalb des theologischen Horizonts wie seine Zurückweisung der zentralen Rolle des Menschen: Il a été permis sans doute aux révélations de faire de l’univers une espèce de prison, circonscrite en tous sens par ces limites imaginaires qu’on appelle le vuide, parce que les fabricateurs de cosmogonies religieuses croyaient l’homme le roi de la nature: mais depuis que la Physique a détrôné ce roi, […] il faut bien secouer les lisières avec lesquelles les fondateurs des cultes ont arrêté l’essor de notre intelligence. Remercions l’astronomie d’avoir rendu à l’ordinateur des mondes la majesté dont les fondateurs des cultes réligieux l’avaient dépouillé […] 391 Auch mit seinem hier anklingenden Deismus und seiner Berufung auf die Physik ist er ein Schriftsteller der Aufklärung, wenn ihn auch seine naturphilosophischen Tendenzen (nicht aber seine Infragestellung der Herrscherrolle des Menschen) unter anderem mit den Illuministen verbinden. Insofern ist es nicht abwegig, seinen Roman der Erdgeschichte hier als ganz normales Beispiel für die Tendenz zur Verselbständigung des Narrativen darzustellen, die das Analyse-Genese-Modell in sich trägt. Und ein Roman ist zum Schaden von Delisle de Sales’ Abgrenzungsbemühungen von diesem Genre auch just jener Text, aus dem er einen Teil seiner Motive entwickelt haben dürfte. Die Idee der Gewordenheit der Erdgestalt, die Idee auch, unsere Welt könnte auch einmal auf ganz natürliche Art untergehen, sowie die Vorstellung von einem (wenngleich reversiblen) Energietod von Planeten sind im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts am plastischsten und wirkungsmächtigsten in Benoît de Maillets Telliamed vorgetragen worden - mit dem Anspruch übrigens, dieser Text sei einer der ersten gewesen, die die Frage nach den Ursprüngen der Erd- 388 Vgl. Laplace 1796. Im Titel seines Werks verdrängt bereits der Begriff eines „systême du monde“ denjenigen einer „histoire“ - was nicht heißen soll, Foucault habe nicht Recht, wenn er die Zeit des Organischen, des Systemhaften, generell auch als eine Zeit der Geschichtlichkeit solcher Systeme beschreibt (vgl. beispielsweise Foucault 1966, S. 242ff). Immerhin fügt Laplace am Ende seines Buches auch eine Geschichte der Astronomie an. Bei seiner Diskussion der Planetenentstehungs-Geschichte Buffons (II, S. 301) bringt er eine eigene Hypothese vor, die aber nicht sein System fundiert, sondern nur noch ein Nebenmotiv ist. Vgl. dazu auch Saint-Martin 1802, S. 86 und unten. 389 Delisle de Sales 1780, I, S. 6-8 390 Delisle de Sales 1780, I, S. 184ff 391 Delisle de Sales 1780, II, S. 208 und S. 209-210 203 gestalt stellten. 392 Mag auch die (durchsichtig anagrammatische) Fiktionalisierung der Thesen Maillets in der Rede des indischen Weisen Telliamed und damit womöglich überhaupt die Gattungsoption für den Roman ein Täuschungsmanöver gegenüber der Zensur gewesen sein, mag also die Fiktionalität nicht der ‘eigentliche’ Status dieses Textes sein - der Stammbaum dieser Ideen, die (ebenso wie die gleichfalls in Telliamed zu findende Vorstellung einer zukunftsoffenen Evolution 393 ) zu den neuesten und aufregendsten ihrer Zeit gehörten, lässt die Behauptung der Philosophen, relevantes Denken finde nicht in Erzählungen statt, vollends problematisch werden. 2.3.2.2. Saint-Martin, Laplace, Böhme In Le ministère de l’homme-esprit referiert und kritisiert auch Saint-Martin die kosmologischen Theorien Buffons, und zwar im Anschluss an Laplace, dessen Diskussion des Problems er gleichfalls referiert. Laplace bringt nun eine (für seinen eigenen, nur das System des Kosmos, nicht dessen Entstehung, betreffenden Entwurf nebensächliche) Hypothese ins Spiel, die seiner Ansicht nach die Entstehung der Erde besser, wenn auch keinesfalls empirisch fundierter, erklären kann. 394 Saint-Martin kritisiert diese Alternative nun zunächst nach deren eigenen Vorgaben und verwirft sie aufgrund innerer Inkohärenzen. Dabei verwendet er typisch ‘philosophisches’, nicht theosophisches Argumentationsvokabular: […] on ne concevra pas, dis-je, comment l’atmosphère solaire qui, d’après son hypothèse, s’est étendue au-delà du périhélie des comètes observables, a cependant été traversée pendant la durée de sa grande étendue, par un grand nombre d’orbes moins excentriques dont elle a détruit les mouvements, et qu’elle a réunis au soleil puisque l’existence et la formation de ces orbes ou de ces comètes, moins excentriques au sein de cette même atmosphère, contrarierait son propre système. 395 Es soll hier nicht diskutiert werden, ob Saint-Martins Einwände wirklich stichhaltig sind. Es geht uns zunächst einmal darum, zu zeigen, dass er das Spiel der Naturwissenschaft bis zu einem gewissen Grade mitzuspielen bereit ist. In einem nächsten Schritt jedoch stellt er einen entscheidenden Teil dieses Spiels in Frage, und zwar eine (im Grunde ästhetische) Vorentscheidung, die natuwissenschaftlicher Theoriebildung bis auf den heutigen Tag zu Grunde liegt: Sans porter plus loin l’examen de ces hypothèses défectueuses, je dirai en général, ce qui nuit à la justesse et à la vérité des hypothèses enfantées par l’esprit 392 Maillet 1748, S. 24 393 Maillet 1748, S. 302 394 Laplace 1796, II, S. 301 395 Saint-Martin 1802, S. 88 204 humain, c’est le penchant secret qui l’entraîne à chercher aux phénomènes de la nature un mécanisme uniforme et un élément unique, comme lui paraissant ce qu’il y a de plus régulier et de plus parfait. 396 Die Reduktion auf ein Prinzip, das möglichst einfach und regelmäßig sein soll, die ‘schöne Theorie’, verfehlt seiner Ansicht nach die Komplexität der Wirklichkeit. Gerade das oben von Delisle de Sales verwendete ontologische Argument, erste Ursachen hätten einfach zu sein, muss unter dieses Verdikt fallen. Andererseits haben wir im Zusammenhang mit der illuministischen Zahlenlehre mehrmals gehört, Gott, die erste Ursache, sei einfach; wir erfuhren von der ersten Dekade als der göttlichen, von den höheren Zahlen als den abgeleiteten. Müsste dann nicht gerade für Saint-Martin das höchste Prinzip, das hinter allem steht, das einfachste sein, die nächst niedrigeren die nächst komplizierteren und so fort? Mit anderen Worten: Ist nicht gerade dieser Zug naturwissenschaftlicher Theoriebildung, auf höherer Ebene immer allgemeinere und dabei stets möglichst einfache und uniforme Kausalitäten zu suchen, etwas, das die Naturwissenschaft mit der Theosophie verbindet? Die Regelhaftigkeit des Kosmos ist schließlich einer der ältesten Gottesbeweise. Um dies näher zu beleuchten, müssen wir zunächst die beiden Beispiele betrachten, die Saint-Martin einführt. Das erste ist historisch und betrifft ontologische Argumente wie das von Delisle de Sales verwendete: De même que les progrès de l’astronomie ont souffert de l’opinion où les savants ont été jusqu’à Kepler, que les astres ne décrivaient que des orbes circulaires, parce que cette courbe était regardée comme la plus parfaite et la plus simple; de même la persuasion de l’unité des causes radicales et des données qui servent de base à la formation des astres et à leur mouvement, pourrait retarder la connaissance des véritables sources dont ils dérivent. 397 Das ontologische Argument, die als vollendet angesehene Kreisform müsse auch die Bewegungsform der Sterne sein, da diese ontologisch höherwertig seien als die sublunare Welt der unregelmäßigen Gestalten, hat die Wissenschaft gebremst. Will man bei der Bestimmung der Genese der Planeten (um die es hier immer noch geht) weiter kommen, so muss man die Theoriebildung von diesem Hang zum Einfachen befreien, und hier kommt Saint-Martin zu seinem zweiten Beispiel, das diesmal aus dem Alltagsleben gegriffen ist: C’est ainsi que pour déterminer la marche et les périodes que les aiguilles d’une montre tracent sur son cadran il suffit de les considérer des yeux et d’en suivre les mouvements monotones, parce que, comme il n’y a là qu’un seul fait, on n’a besoin aussi que d’une seule formule pour le décrire et l’expliquer. Si l’on veut pénétrer dans l’intérieur de la montre, on va y trouver plusieurs agents divers, dont les lois seront nécessairement plus nombreuses et l’ex- 396 Saint-Martin 1802, S. 88-89 397 Saint-Martin 1802, S. 89 205 plication moins simple que celle de la marche des aiguilles, puisqu’il y a entre eux une sorte de combat et d’opposition. 398 Saint-Martin spricht also der deskriptiven Physik des äußeren Geschehens ihre Berechtigung nicht ab. Wo nur ein einfaches Phänomen zu beschreiben ist, mag sie auch mit ihrer einfachen Theoriebildung Recht behalten. Will man aber auf die komplexe Maschinerie hinter den Phänomenen blicken, so ist gerade die Reduktion auf ein Prinzip von Übel, wie das Beispiel des Uhrwerks zeigen soll. Wichtig ist hier das agonale Prinzip des combat. Wir haben es in Grundzügen schon bei unserer Diskussion der Zahl Zwei kennengelernt. Die Natur funktioniert nicht nach einfachen Wirkgesetzen, sondern sie wird durch einen ständigen Antagonismus in Bewegung gehalten, und dieser wird, wie wir gleichfalls an der Zwei sahen, von einem dritten Prinzip wiederum in der Schwebe gehalten. Die Mechanismen hinter den Phänomenen sind also wesentlich komplexer als die Phänomene selbst, zumal deshalb, weil sie, wie die mythische Mathematik der Zwei und der Drei uns zeigten, in einer emanations- und heilsgeschichtlichen Bewegung begriffen sind, die ihrerseits auch noch die Inkonstanz der Oberflächenphänomene begründet; man erinnere sich des Falls der Natur. Je weiter wir also zu ersten Ursachen vordringen (so weit uns das überhaupt möglich ist), desto weniger durchschaubar wird das Ganze, und desto größer wird die Zahl der Agenten und die Komplexität ihrer Interaktion. Gleichzeitig werden aber, wie gesagt, die Wesen als solche auf der aurea catena nach oben hin ontologisch einfacher. Gott ist die Einheit und Einfachheit selbst. Aber Gott ist auch die Unbegreiflichkeit selbst. Ontologische Einfachheit ist also nicht gleich epistemologischer Einfachheit. So ist der betrachtende Aufstieg hin zur Einheit zugleich ein solcher zu unauslotbarer Komplexität. Daraus folgt freilich: Je ursächlicher, also je näher an der ersten Ursache, etwas ist, desto weniger kann es auf ein Prinzip zurückgeführt werden - wenn man von der reductio ad unum auf die göttliche Einheit selbst einmal absieht; aber die Betrachtung der Hervorgänge aus dem Einen würde Saint-Martin nicht als Analyse eines Mechanismus, sondern als Meditation über eine unerklärliche Zeugung bezeichnen (vgl. oben die Zeugung in der Multiplikation). Besonders die Bemühungen, alle Himmelskörper durch gleiche oder analoge Entstehungsgeschichten zu erklären, müssen Saint-Martin daher verdächtig erscheinen. Zunächst, weil es sich um eine Reduktion handelt; sodann, weil diese ausgerechnet an Gegenständen durchgeführt wird, die der Welt, auf der wir leben, zeitlich (und, so die Tradition nicht nur der Esoterik: ontologisch) vorausgeht. 398 Saint-Martin 1802, S. 89 206 Daher widerspricht er diesen Bemühungen auch in zwei Schritten: Er erweist sie als Romane, weil sie der systemimmanent nicht zu begründenden Illusion aufsitzen, erste Elemente müssten einfach sein; und er stellt diesen beiden Romanen der Reduktion, dem von Buffon und dem von Laplace, einen dritten gegenüber, der den ontologischen Verhältnissen Rechnung trägt, nun aber Wissenschaftlichkeit nicht einmal mehr behauptet und daher auch nicht verfehlen kann: den Planetenmythos Jakob Böhmes. Seit seinem Straßburger Aufenthalt ist Saint-Martin ein Anhänger dieses deutschen Mystikers des frühen siebzehnten Jahrhunderts, um dessentwillen er sogar Deutsch gelernt hat, und die (nicht immer ganz ohne Missverständnisse abgehende) Übersetzung dreier Hauptwerke Böhmes ins Französische ist eine der Hauptbeschäftigungen des späten Saint-Martin. 399 Der Einfluss Böhmes wird denn auch in Saint-Martins Spätwerk immer stärker, und in Le ministère de l’homme-esprit tritt der philosophe inconnu stellenweise ganz hinter dem philosophus teutonicus zurück. 400 Was Saint- Martin, Böhme resümierend, erzählt, ist - natürlich - wiederum eine Genese-Geschichte, aber eben eine mythische. Der religiöse Mythos Böhmes ist weder eine Naturgeschichte im Sinne Buffons oder Delisle de Sales’ noch ein bloß explikativer Mythos, sondern Glaubenssache, Vision. Seine Authentizität ist durch diese Vision, sowie durch den erlebenden inneren Nachvollzug des Lesers auf dem ‘inneren Weg’ bestätigt. Mit den Augen der philosophes gesehen: Seine Fiktionalität bringt die Fiktionalität der naturgeschichtlichen Romane, die er ersetzen soll, erst richtig zum Vorschein. Mit den Augen der Illuministen gesehen aber empfiehlt er sich vor jenen, da er auf pseudo-objektive Begründungen verzichtet und seine Autorität aus seinem Gleichklang mit der inneren Form des Menschen zieht. Die Entstehung der Planeten ist nun für Böhme und Saint-Martin gerade kein Fall der Ausfaltung des immer Gleichen aus einfachen ersten Elementen, deren Hervorgang durch ein einheitliches Kausalgesetz beschreibbar wäre, sondern im Gegenteil ein Fall von Mannigfaltigkeit, ja die Entstehung des Mannigfaltigen selbst. Die sieben Planeten sind nämlich je besonderer Ausdruck einer der sieben Qualitäten der ewigen Natur (und mithin Gottes), die jedoch in jedem Planeten alle zugegen sind - es handelt sich nur jeweils um eine sozusagen exemplarische Prädominanz, so dass 399 Saint-Martin hat Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang, De tribus principiis oder Beschreibung der Drey Principien Göttlichen Wesens und De triplici vita hominis oder Hohe und tiefe Gründung von dem dreyfachen Leben des Menschen übersetzt, vgl. Böhme/ Saint- Martin 1800, 1802, 1809). Zu Saint-Martins Übersetzungsfehlern vgl. Deghaye 1979, S. 134, n. 45, S. 148, n. 102; Deghaye 1985, S. 44, n. 20. 400 „Lecteur, si tu te détermines à puiser courageusement dans les ouvrages de cet auteur, qui n’est jugé par les savants dans l’ordre humain, que comme un épileptique, tu n'auras sûrement pas besoin des miens.“ (Saint-Martin 1802, S. 37) 207 die Entdeckung eines achten Planeten durch Herschel für Saint-Martin die Geschichte Böhmes nicht invalidiert. 401 […] que chacune d’elles, quoique renfermant en soi les sept formes en question, exprimait cependant plus particulièrement une de ces sept formes, et tirait de là les caractères divers que ces planètes elles-mêmes sembleraient annoncer par leurs apparences extérieures, ne fût-ce que par la diversité de leur couleur. 402 Die sieben Quellgeister oder Räder sind form-und lebengebende Kräfte Gottes, die der durch den Sündenfall vergröberten toten Materie auch im gefallenen Stand immer wieder Leben einhauchen. Deshalb spielen sie in einer zweiten Schöpfungsgeschichte mit, die Supplement der ersten ist: Als das Universum durch die Alteration der Materie zu einem verdichteten, zusammengezogenen Ort des Todes und der Finsternis wurde, schuf Gott die Sonne als Statthalter seines ewigen Lichtes, 403 und die Sophia, die göttliche Weisheit, durchbrach die Barriere zwischen der ewigen und der gefallenen Welt, um mit Hilfe dieser sieben Qualitäten der zum Chaos koagulierten Materie Form, Mannigfaltigkeit und Leben - wenn man so will: überhaupt So-Sein - zu geben. Die Entstehung der Planeten ist nun die exemplarische Geschichte der Ausfaltung dieses Mannigfaltigen: Jede Qualität spielt bei einem Planeten eine besondere Rolle, und insofern sind die Entstehungsgeschichten der einzelnen Planeten einander auch in so gut wie keiner Hinsicht ähnlich. 404 Im Gegensatz zu den Theorien von Laplace und Buffon werden also die Mechanismen der Weltentstehung nicht reduktiv, sondern im Gegenteil als in jedem Falle immer wieder verschieden (und in diesem Beispiel sogar Verschiedenheit begründend) beschrieben. Diese Genese kann sich also weder auf leicht zu erschließende, weil einheitliche, erste Elemente verlassen, noch sind die Genese-Schritte einander analog und daher allgemeingültig beschreibbar. Das Reich der Natur bleibt das Reich der nicht wissenschaftlich erfassbaren Mannigfaltigkeit. Dennoch will Saint-Martin diesen Mythos nicht als Ersatz naturwissenschaftlicher Thesen verstanden wissen: Zum einen erzählt er ihn ein wenig distanzierend, um zu verstehen zu geben, dass er nicht vollkommen wörtlich zu verstehen ist. Zum anderen zeigt er für Wissenschaft und theosophische Spekulation zwei einander ergänzende Anwendungsgebiete auf: Jene erklärt die äußere, diese die innere Natur. Dass diese innere Natur nur 401 „Mais l’application qu’il a essayé de faire de sa doctrine au nombre prétendu de sept planètes, n'était que secondaire à son système; et si l’existence des sept formes ou des sept puissances était réelle, son système demeurerait toujours dans son entier, quoique le nombre des planètes auhourd’hui connues se soit augmenté depuis qu’il a écrit, et puisse s'accroître encore à l’avenir.“ (Saint-Martin 1802, S. 95) 402 Saint-Martin 1802, S. 95 403 Vgl. zu dieser Lehre Böhmes auch Deghaye 1979, S. 150. 404 Saint-Martin 1802, S. 92-105. Die Kosmogonie des späten Saint-Martin scheint sich zu einigen Details dieser Erzählung allerdings ambivalent zu verhalten. 208 spirituell oder mystisch zu erfahren ist, erklärt im Übrigen auch die Nichtwörtlichkeit der sie betreffenden mythischen Rede, die jedoch vom inneren Nachvollziehen, ja vom Glauben nicht entbindet. Dieser Mythos ist kein rein hermeneutischer. Die Teilnahme des Illuminismus an der ‘klassischen’ Tendenz zur Erzählung naturgeschichtlicher Genesen ist also teils gleichschwingend, teils gegenläufig. Saint-Martin interessiert sich für die Geschichten der histoire naturelle, schränkt jedoch deren Geltungsbereich ein. Im Gegensatz etwa zu der des Paracelsus 405 ist Saint-Martins theosophische Kritik an der Rationalität der Naturbeobachtung seiner Zeit keine bloße Zurückweisung, sondern eine differenzierte Einschränkung, die - wie er meint - spezifische, nicht allgemeine, Defizite dieser Theorien erweist. Er entlarvt ihre Illusion, Prinzipien müssten immer einheitlich und einfach sein, und stellt gegen die darauf hin arbeitenden Reduktionen eine mythische Fassung der Naturgeschichte, in der Komplexität und Mannigfaltigkeit nicht eingeebnet, sondern besonders hervorgetrieben werden. Wie seine qualitative Mathematik ist auch seine anti-reduktive Kosmogonie subvertierende Teilnahme am herrschenden Diskurs. Wie die paracelsische Naturmystik aber ist auch Saint-Martins Gegenentwurf zur herrschenden Naturauffassung eine aus religiöser Innenschau entwickelte, wenn auch bis zu einem gewissen Grade argumentativ abgestützte, Natur-Lektüre. 2.3.3. Erzählung als Reduktion und Reduktion von Erzählungen: Die Archäologie der Mythen Das Mythische ist, wie wir sahen, das ausgegrenzte Andere der Analyse- Genese. Aber es kann auch der mit diesem Modell beschriebene Gegenstand werden. Die reduktive Erfassung von Wirklichkeit, die Grundlage und Ziel der Wissensgewinnung im Sinne von Mathesis und Taxonomia ist und die Elemente, die als ‘Helden’ in die Genese-Geschichte eingehen, allererst bereitstellt, kann auch auf die Mythologie übertragen werden. Die Erzählung einer Geschichte der Mythologie von den wiederum gesetzten ersten Ursprüngen bis in die Gegenwart kann das mythologische Wissen auf ein einziges Prinzip, ihren Ursprung, reduzieren und so die unübersichtlich gewordene Welt der mythischen Überlieferungen ordnen - nicht ohne damit diesen irrationalen Doppelgänger des Analyse-Genese-Modells durch Reduktion zu disziplinieren. So haben reduktionistische Mythenforscher im achtzehnten Jahrhundert Geschichten über Mythen erzählt, in denen gerade das Fiktionale und Narrative darin reduziert wird; der freigelegte rationale Kern ließ sich dann nach Belieben im Hinblick auf die eigenen Annahmen bewerten, während das ausgegrenzte Mythische entschärft werden konnte. 405 Vgl. etwa Pagel 1979, S. 53-54. 209 2.3.3.1. Der Mythos der Reduktionisten a) Boulanger Wie wir schon sahen, schrieb Saint-Martin in seinem ersten Werk, Des erreurs et de la vérité, gegen eine aus seiner Sicht reduktionistische Erklärung der Ursprünge von Mythen und Religionen an, die er vor allem in Boulangers Antiquité dévoilée par ses usages (1766) gefunden hatte. Boulangers Versuch der Rekonstruktion mythischer Überlieferungen begegnet sich mit derjenigen der Illuministen jedoch nicht nur im grundsätzlichen Interesse an einer ursprünglichen Wahrheit des Menschen, sie hat mit ihr auch eine Einschätzung des menschlichen Wesens gemein, die uns in Kapitel II,2 noch als Schnittpunkt verschiedener Denktraditionen begegnen wird. Wie Saint-Martin und die christlichen Apologeten denkt auch Boulanger den Menschen im Zeichen einer tiefen inquiétude: Ces idées ont rendu le genre humain inquiet à la fin de tous les périodes; la folie devint une maladie périodique: les regards des peuples se sont tournés vers tous les hommes extraordinaires qui paroissoient au milieu d’eux; & cette frénésie fut la cause d’une infinité de révolutions civiles, politiques, morales & religieuses. 406 Die inquiétude des Menschen ist für Boulanger ein Effekt menschlichen Wissens um die periodischen Umwälzungen der Natur. Immer, wenn wieder mit einer großen Naturkatastrophe zu rechnen ist, werden die Menschen unruhig und reagieren mit sozialer und weltanschaulicher Instabilität. Die inquiétude ist also ein sekundärer Effekt natürlicher Abläufe. Hier zeigt sich bereits die Weise, in der Boulanger grundsätzlich die Gegebenheiten der Natur mit dem Handeln des Menschen zusammendenkt: Dieses ist immer Reaktion auf jene. So erscheinen auch Religion und Mythos, wie sich zeigen wird, als Sekundäreffekte von Naturkatastrophen. Die Natur ist freilich hier nicht wie bei vielen von Boulangers Zeitgenossen die Idee vom Ganzen, das gar den Einzelnen zum Guten anleitet, sondern ein Kausalitätszusammenhang, dessen Erfassung das Handeln des Menschen als bedingt abqualifiziert. Boulangers moderner Herausgeber Sadrin arbeitet im Beiband seiner Edition neben historischen Hintergründen 407 heraus, was das eigentlich Originelle an Boulangers Position ist: Er ist der Religion gegenüber zwar skeptisch, aber für ihn ist jeder noch so bizarre Ritus auf eine ursprüngliche Wahrheit reduzierbar, und zwar meist auf die Sintflut. Dadurch erhält alles einen historischen Sinn, wenn auch keinen praktischen. Und insofern führt Boulanger, so Sadrin, 408 die gerade von seinen ethnologisch interessierten Zeitgenossen herausgearbeitete Vielfalt des Menschen wieder auf eine Ur- 406 Boulanger 1766 III, S. 416-417 407 Sadrin legt vor allem dar, dass Boulanger Vicos Scienza Nuova, mit der er in manchen Aspekten übereinstimmt, nicht gekannt haben kann. Boulanger 1766, Beibd., S. 30-34 408 Boulanger 1766, Beibd., S. 37-38 210 Einheit zurück - allerdings eine historisch bedingte. Reduktion auf ein erstes verlässliches Element und festes Menschenbild bedingen sich gegenseitig; beide sind Voraussetzungen der Religionsgeschichte als Genese. Die Frage nach dem Ursprung und den Gemeinsamkeiten aller mythischen und religiösen Überlieferungen stellt sich bei Boulanger wie später bei Court de Gébelin im Bilde eines Baumstammes: D’ailleurs par où commencer? Les usages sont innombrables, ils sont diversifiés à l’infini, qui sera le premier? Peut-on le prendre indifférement dans la foule, ou bien en est-il un qui conduise naturellement à d’autres, & qui soit comme le tronc d’où se sont distribuées sur la surface de la terre les branches des usages domestiques, les branches & les rameaux des usages civils & politiques, enfin celles des usages religieux? 409 Das gemeinsame Urerlebnis, das die Menschen bis heute geprägt hat, ist für Boulanger, wie schon angedeutet, die Sintflut. Er betrachtet diese als naturgeschichtliches Faktum, welches in der Bibel und anderswo seine Spuren hinterlassen hat, eine Geschichte, die sich in den Zeichen der Natur lesen lässt: […] le naturaliste trouve ses ravages écrits an caracteres lisibles & ineffaçables sur toutes les parties de notre globe. 410 Über den Menschen vor der Sintflut, seine Zivilisation, können wir nichts wissen, aber die Furcht des Entkommenen ist uns noch eingezeichnet. Pour moi, j’ai vu écrit dans la nature que l’homme a été vivement affecté & profondément pénétré de ses malheurs; j’ai vu qu’il a tremblé; j’ai vu qu’il est devenu triste, mélancolique & religieux à l’excès; j’ai vu qu’il a conçu un dégoût total pour cette terre malheureuse; j’ai encore lu dans ce livre que toutes les premieres démarches de l’homme ont été réglées par ces différentes affections de son ame, que tout ce qui est arrivé par la suite des siecles dans le monde moral, religieux & politique, n’a été que la suite de ces démarches primitives; enfin j’ai reconnu que cette premiere position de l’homme qui a renouvellé les sociétés, est la vraie porte de notre histoire, & la clef de toutes les énigmes que les usages & les traditions nous proposent. 411 Zwei der hier zitierten Motive werden von Saint-Martin aufgegriffen und polemisch (gegen Boulangers Säkularisierung) als christlich-esoterische Topoi zurückgefordert werden: Das Buch der Natur und vor allem des Menschen, das hier in so starker Bildlichkeit des Geschriebenen und Lesbaren erscheint, und die Vorstellung, es gebe einen einheitlichen Schlüssel zu allen Rätseln. Wo jedoch die christliche Tradition das Buch der Natur und das Buch der menschlichen Geschichte als zwei Vertextungen derselben transzendenten Wahrheit begreifen, werden sie bei Boulanger letztlich 409 Boulanger 1766, I, S. 7-8 410 Boulanger 1766, III, S. 278 411 Boulanger 1766, I, S. 14 211 zu einem einzigen Text reduziert: Die menschliche Geschichte ist Effekt und eigentlich Bestandteil der kontingenten Geschehnisse der Natur, und das gilt auch für die Heilsgeschichte. Religionsstiftung erscheint geradezu als krankhafte Reaktion auf die Unbilden der Natur, als Effekt einer Unruhe und Melancholie, die sich des umhergetriebenen Menschen bemächtigte, weil dieser sein Ausgesetztsein in einer unbeherrschbaren Umwelt bei der Sintflut in prägender Weise erleben musste. Mit dieser säkularisierenden Umbesetzung christlicher Topoi fängt sich Boulanger jedoch zugleich selbst wieder in dieser Topik, denn deren Sinnform beschränkt auch seine eigene Version. Die Position, die im christlichen Denken der Sündenfall einnahm, wird nun nämlich von der Sintflut besetzt, und so wird auch bei Boulanger insbesondere das Schlechte, die Furcht und Unruhe des Menschen (und damit für Boulanger auch die Religion) auf ein einziges geschichtliches Ereignis zurückgeführt, das zugleich der hypothetische Ausgangspunkt von Boulangers Genese-Geschichte ist. 412 Der Mensch ist von diesem Ereignis bestimmt und erscheint so in ähnlicher Weise als transhistorisch (bislang) konstantes Wesen wie schon in der christlichen Anthropologie. Und ähnlich wie dort ist der Weg, der von dort in die Gegenwart führt, ein Irrweg: La crainte, qui s'empara pour lors du cœur de l’homme, l’empêcha de découvrir & de suivre les vrais moyens de rétablir la société détruite. Son premier pas fut un faux pas; sa premiere maxime fut une erreur. 413 Allerdings ist der Urzustand nicht wie in der Bibel oder bei Rousseau der eigentliche. Vielmehr ist Boulangers Idealzustand ein künftiger, eine Befreiung von demjenigen, was er in seiner Archäologie freilegen will: der Religion und der Mythologie. Die Erkenntnis der Geschichte dient nicht der Einholung eines verlorenen, aber ersehnten Ursprungs, sondern der Abschüttelung der Fesseln der Vergangenheit. So ist auch das Hebräische keine geoffenbarte Ursprache, die altes Wissen aufbewahren würde. Boulanger schrieb wahrscheinlich auch den Artikel „Langue Hébraique“ der Encyclopédie. 414 Darin tritt er allen Spekulationen über ein in dieser Sprache und dem in ihr verfassten Alten Testament aufgehobenen Urweisheit entschieden entgegen. Nicht nur ist die Bibel für ihn lediglich ein wichtiges Menschheitsdokument, das keinerlei Offenbarungscharakter besitzt, auch ihrer Sprache wird gerade jener ursprüngliche Reichtum abgesprochen, der den Ursprachenenthusiasten so am Herzen liegt. Boulanger sieht das Hebräische vielmehr als primitive Sprache der verarmten Kleingesellschaften nach der Sintflut. Sie verdiene wohl, erforscht zu werden, aber kälteren Blutes als dies die von ihm als Kleingeister empfundenen Kabbalisten tun, 412 Vgl. hierzu auch Sadrin in Boulanger 1766, Beibd., S. 39 413 Boulanger 1766, I, S. 15 414 Vgl. Sadrin in: Boulanger 1766, Beibd., S. 13-15. 212 die sie zum Werkzeug ihrer Träume machten - so werde die Abwesenheit von Vokalzeichen und Interpunktion von Rabbinern und Kabbalisten künstlich gepflegt, damit der Text abwegigen Deutungen gefügig gemacht werden könne. Insgesamt ist Boulanger also ein Fortschrittsphilosoph und nimmt eine Gegenposition zu Rousseau ein, dem er auch explizit widerspricht. 415 Der ursprüngliche Zustand ist der zu überwindende, zumindest der erste Zustand nach der Flut - über das, was davor gewesen sein mag, können wir nichts wissen. Die analytische Genese-Geschichte legt, wie in der Metaphysik-Kritik Condillacs, die Verirrung bloß, um eine Neu-Genese zu ermöglichen, die jedoch in der Form auch wieder mit der Reintegration der Martinisten übereinstimmt. Wir sahen oben schon, dass etwa für Saint-Martin der Mensch von der Neun wieder zur Fünf zurückgehen muss, um seine Verirrung zu reparieren. Sadrin bezeichnet nun Boulangers Vorhaben als „une psychanalyse collective de l’humanité,“ die die Urangst vor dem Tode zutage fördert. 416 Versteht man dies nicht als Erklärung einer historischen Gegebenheit durch eine spätere, aber nun ‘objektiv’ gültige Errungenschaft (die Psychoanalyse), sondern streng historisch, so ist dies in der Tat eine bemerkenswerte Aussage. Der Umgang mit der Vergangenheit, den Boulanger pflegt, ist nämlich durchaus mit dem der nicht viel später aufbrechenden Tiefenpsychologie 417 verwandt. In beiden Fällen dient die Erkenntnis der Geschichte der Überwindung von deren Folgen, die analytische Genesis- Erzählung soll eine Neu-Genese ermöglichen. In beiden Fällen freilich wird auch der gegenwärtige Mensch auf einen Ursprung reduziert, dessen vermeintlich universelle Erklärungsmacht die Vielgestaltigkeit des Gegenwärtigen einebnet. Kurz resümiert, verläuft Boulangers Erzählung folgendermaßen: Im ersten Buch werden Bräuche und Überlieferungen referiert, mit denen sich die verschiedenen Völker die Sintflut vergegenwärtigten. Unter der Rubrik dieser „Hydrophories“ wird auch die christliche Taufe aufgeführt, wie überhaupt das Christentum ganz pointiert genau so wie die heidnischen Religionsformen behandelt wird. 418 Neben den Hydrophorien für die Sintflut werden allgemein mythische Überlieferung der Form etwa von Gigantomachien als Versinnbildlichungen von „révolutions de la Nature“ gedeutet. 419 Interessant ist nun Boulangers Deutung der Mysterienreligionen und allgemein des allegorischen Charakters mythischer Erzählungen. Derartige 415 Boulanger 1766, I, S. 387-9 416 Boulanger 1766, Beibd., S. 40 417 Vgl. hierzu Ellenberger 1970. 418 Boulanger 1766, I, S. 35 419 Boulanger 1766, I, S. 199 213 Überlieferungsformen spielen immer in der Spaltung zwischen Kundgabe und Verhüllung, und den Interpreten mag es bald mehr um das eine, bald mehr um das andere gehen. In einer erstaunlichen Umkehrung seiner eigenen decouvrierenden Blickrichtung betont Boulanger nun radikal die kryptographische Funktion der religiösen Überlieferungen. Nicht der Weitergabe von Wissen dienten sie seiner im zweiten Band dargelegten Ansicht nach ursprünglich, sondern dessen Verdunklung. Insbesondere die religiösen Mysterien sollten dem gemeinen Volk die künftig zu erwartende Vernichtung seiner Welt in neuen Naturkatastrophen verhüllen. 420 Da Boulangers Spekulation mangels Indizien vor die Sintflut nicht zurückgreift, postuliert er als Inhalt der ursprünglichen religiösen Lehren nach derselben das Wissen um die katastrophischen Umschwünge der Natur. Die nach der Flut vagabundierenden Menschen waren aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen melancholisch und lebten in einer negativen Religion, da sie die Erde als unwirtlich empfanden. Als sie in angenehmere Breiten kamen, wurden sie sesshaft und kultivierten den Boden. Durch diese neuen Erfahrungen rückten sie von ihrem Trübsinn ab und bemühten sich nun, das überlieferte Wissen voreinander zu verbergen, um nicht durch die Religion in ihren früheren melancholischen Zustand zurückzufallen. 421 Die Mysterien dienten dazu, diesen neuen Zustand der Sesshaftigkeit zu festigen und das religiöse Wissen unschädlich zu machen, indem ihm die ursprünglichen Ängste vor Naturkatastrophen entzogen wurden, ja, indem die Überlieferung überhaupt verdunkelt und verborgen wurde. Dies ist eine originelle Weiterentwicklung von Ciceros (von Boulanger zitierter) Meinung, die Religion habe zur Zivilisierung beigetragen. 422 Par le travail on a rendu l’homme sédentaire; par le secret on lui a fait oublier ses terreurs & ses opinions anciennes. En un mot c’est par les mysteres que l’homme s’est trouvé heureux & policé. 423 Die Religion, die Boulanger im Anschluss an Plutarch 424 als Allegorie der Naturgeschichte deutet, wird so umgestaltet, dass sie ihre Inhalte letztlich preisgibt, sich im Unverständlichen verliert. Dies gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunftsahnungen, die sich aus der Vergangenheit ergeben. So musste man nach Boulanger dem Volke auch ein Wissen um die künftigen Kalamitäten der Götter verheimlichen, also um 420 Boulanger 1766, II, S. 32 421 Boulanger 1766, II, S. 34-36 422 Vgl. Cicero, De legibus, lib II; Boulanger 1766, II, S. 37. 423 Boulanger 1766, II, S. 39 424 Boulanger 1766, II, S. 43 schließt an an Plutarch, De Iside et Osiride; De Oraculis; sowie Eusebius, Praeparatio evangelica, lib I, cap. 10; lib III, cap. 1, allerdings mit dem Unterschied, dass Plutarch im Unterschied zu Boulanger die Natur selbst wieder höheren Intelligenzen unterstellt und deren Allegorese in der Religion damit doch wieder auf die Transzendenz hin öffnet. 214 künftige Naturkatastrophen, damit es sich überhaupt zivilisiert um seine Zukunft bemühe. 425 Da man die religiösen Überlieferungen nicht von Staats wegen unterdrücken konnte, verbarg man sie im Mysterium. 426 Dazu gehört auch die Verunklarung astronomischen Wissens und der Furcht vor Kometen und Sonnenfinsternissen durch die Astrologie. 427 (Wie schon in dem weitgehend von Boulanger stammenden Artikel „Déluge“ in der Encyclopédie wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Sintflut sei vielleicht kometischen Ursprungs; jedenfalls sei dies naturgeschichtlich mit den augenblicklichen Möglichkeiten nicht zu erweisen. 428 ) Die Astrologie tritt dadurch in den Kreis der lugubren Weltverneinungsreligionen nach der Flut ein, und auch bei ihr war die Zuwendung zur Welt und zum Leben nur um den Preis einer Verdunklung ihrer ursprünglichen Lehren zu haben. Alle apokalyptischen Erinnerungstraditionen mussten zur Überwindung der nomadischen inquiétude des vorzivilisatorischen Menschen 429 ihren Wissenskern verhüllen und sich den Nichteingeweihten weltzugewandt und positiv geben, so dass die Bewältigung des Lebens für das Volk möglich würde. Die Religion ist ihrer Sinnform nach insofern ihre eigene Negation: Auch die höher entwickelten Vorstellungen von Weltgericht und Messias sind nur entstellte Versionen der zyklischen Furcht vor den Umwälzungen der Natur. Die religiöse Kreativität des Menschen ist damit immer schon in den Dienst der Überwindung von Religion überhaupt gestellt, dem auch Boulangers eigene Restitution ihres ursprünglichen Sinngehalts dient. Das Auge des Aufgeklärten vermag erstmals in der Geschichte den unverhüllten Blick auf die Katastrophen der Natur zu ertragen und damit auch die religiösen Überlieferungen beiseite zu legen. Als Geschichte einer Allegorie erzählt, ist die Religionsgeschichte insofern eine stufenweise erfolgende Selbstauflösung, deren Hauptstadien in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Die Stiftung der Allegorien dient der Erinnerung, ihre Weiterentwicklung der Verunklarung dieser Erinnerung; ihre letztliche Entschlüsselung aber überwindet mit der Unverständlichkeit zugleich auch den Glauben an die Relevanz der ursprünglich in sie eingeschlossenen Information. Damit ist Boulangers Unternehmen beispielhaft für einen aufklärerisch-polemischen Reduktionismus, der den kritisch betrachteten Gegenstand in der Analyse zum Verschwinden bringt. b) Dupuis Wohl noch breitere Wirkung als Boulangers Schrift erzielte eine in mancher Hinsicht ähnlich gelagerte Untersuchung des „Bürgers Dupuis“ über den 425 Boulanger 1766, II, S. 45 426 Boulanger 1766, II, S. 46 427 Boulanger 1766, II, S. 88ff 428 Boulanger 1766, III, S. 280-81 429 Boulanger 1766, III, S. 410 215 Origine de tous les cultes, ein großer Erfolg der Revolutionszeit, aber auch noch der darauf folgenden Jahrzehnte. Auch er will die in die Gegenwart gelangten religiösen Überlieferungen auf ihre eigentliche Bedeutung zurückführen. Allerdings erblickt er diese nicht in den negativen Seiten der Natur, ihren Brüchen und Umwälzungen, sondern im Gegenteil in deren Funktionsweise und Kraft, ihrer Positivität. Dabei nimmt auch er an, die vorliegenden Religionsformen seien Entstellungen einer älteren Spielart; nur sei diese selbst wiederum bereits eine Verfallsstufe der Urform: Er geht also im wesentlichen von drei Stadien der Religionsentstehung aus. Zunächst habe man die ewigen Prinzipien, die Energie und die Ordnung des Kosmos selbst, verehrt. ‘Gott’ ist eigentlich in der ursprünglichen Religion nur ein Name für diese Wirkkräfte, die vom Universum nicht zu unterscheiden sind. ‘Gott’ ist für Dupuis nur ein anderes (und weniger treffendes) Wort für die Natur als großes Ganzes: Le mot Dieu paraît destiné à exprimer l’idée de la force universelle et éternellement active qui imprime le mouvement à tout dans la nature, suivant la loi d’une harmonie constante et admirable, qui se développe dans les diverses formes que prend la matiere organisée, qui se mêle à tout, et qui semble être une dans ses modifications infiniment variées, et n’appartenir qu’à elle-même. Telle est la force vive que renferme en lui l’univers ou cet assemblage régulier de tous les corps, qu’une chaîne éternelle lie entr’eux […] Cette force étant celle du monde lui-même, le monde fut regardé comme Dieu, ou comme cause suprême et universelle de tous les effets, qu’il produit, et dont l’homme fait partie. 430 Aus der Erkenntnis der Wirkkräfte im Kosmos kristallisiert sich also zunächst ein Pantheismus, der die ursprüngliche und (so scheint es Dupuis) wahrste Religion ist. Das zweite Stadium ergibt sich nun aus dem Bestreben der Völker, ihren Gottesbegriff genauer einzuengen, nicht einen dem Ganzen innewohnenden Aspekt („la force interne qui la meut“ 431 ) oder gar überhaupt das Ganze, sondern einen wohlumrissenen, vorzugsweise höheren, Teil davon zu verehren, etwa die platonische Weltseele. 432 In dem Moment, in welchem sich hier eine Wechselwirkung zwischen Belebendem und Belebtem ergab, war das Göttliche nicht mehr Attribut des Ganzen, sondern ein Akteur in einem vielgliedrigen Gebilde, in dem es auch nicht Göttliches gab. 433 Als schließlich in den Himmelskörpern konkrete Gestalten identifiziert wurden, denen die Wirkkräfte des Universums konzentriert zugesprochen wurden, waren die astrologischen Religionen geboren, die der Endzustand dieses zweiten Stadiums sind. Dupuis deutet nun nicht nur die Religionen der Ägypter und Griechen als Verehrung von Himmelskörpern, sondern auch das Christentum, das seines Erachtens einen 430 Zitiert nach der vom Verfasser gekürzten Ausgabe Dupuis 1798, S. 1-2. 431 Dupuis 1798, S. 10 432 Dupuis 1798, S. 51 433 Dupuis 1798, S. 71ff 216 Sonnenkult darstellt. 434 Auch die Apokalypse des Johannes ist eine astrologische Schrift, die kein künftiges Geschehen prophezeiht, sondern Mysterien des Lichts und der Sonne für Eingeweihte aufbewahrt. 435 Wie alle anderen Teile der Schrift ist sie keineswegs inspiriert, 436 sondern ein späterer Niederschlag ursprünglich zoroastrischer Lehren: Les disciples de Zoroastre ou les mages, dont les juifs et les chrétiens, comme nous l’avons vu dans notre chapitre sur la religion chrétienne, emprunterent leurs principaux dogmes […] 437 Der „astrologue qui a composé l’apocalypse“ 438 hat seine Lehren diesen Traditionen entnommen und die ohnehin schon gegenüber ihrem ursprünglichen Sinn entstellte astrologische Form der Verehrung der Grundkräfte der Natur allegorisch verschlüsselt, so dass spätere Leser zu den entstellenden Interpretationen kommen mussten, die das überlieferte Christentum ausmachen. Wie Boulanger versteht Dupuis die religiösen und mythischen Überlieferungen als Deformationen, denen eine gemeinsame Wahrheit zu Grunde liegt. Insofern sind sie beide Archäologen eines ursprünglichen Textsinnes. Die eine Wahrheit, die hinter allen Traditionen liegt, ist freilich bei ihm nicht eine zu überwindende Furcht vor den negativen Seiten der Natur. Vielmehr kann sie auf eine anfänglich sinnvolle Einschätzung der Wirkkräfte des Universums zurückgeführt werden, die nur im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr verfälscht wurde. Die Genese-Geschichte Dupuis’ ist damit eine eigenartige Kreuzung von Abstraktions- und Konkretisierungsbewegung. Die Figur der analytisch-genetischen Metaphysik-Kritik würde es ja erfordern, dass die Begriffsgenese als Aufstieg von konkret sinnlich erfahrbaren und daher verlässlichen ersten Elementen zu leeren Abstraktionen beschrieben wird. Der Weg von den erfahrbaren Phänomenen zur Natur ist aber nur auf den ersten Blick so beschaffen. Bemerkenswert ist nämlich, dass die Menschen nach Dupuis zunächst eine nicht leere, sondern sinnvolle und noch dazu äußerst schwierige Abstraktion von den Phänomenen auf die Wirkprinzipien der Natur vorgenommen und diese dann im Anschluss personalisiert, also rekonkretisiert haben sollen. Der eigentliche metaphysische Sündenfall liegt für Dupuis in dieser Konkretisation, wobei die Astrologie eine Mitte dieser Entwicklung darstellt und zugleich die Wahrheit der Mythologie ist. Sie ist damit zwar das durch Reduktion gewonnenene Prinzip für die mythischen Erzählungen, aber nicht identisch mit dem durch die mythischen Erzählungen letztlich ‘Ge- 434 Dupuis 1798, S. 105ff und S. 289ff 435 Dupuis 1798, S. 571ff 436 „Aujourd’hui qu’il est reconnu par tous les bons esprits, qu’il n’y a pas de livres inspirés“, Dupuis 1798, S. 571. 437 Dupuis 1798, S. 580 438 Dupuis 1798, S. 580 217 meinten’. Will man zu diesem vordringen, so muss auch die Astrologie noch kassiert werden. Das Phantastische und das eigentlich Religiöse, alles, was über die gegebene Natur hinausweist, wird durch diese Reduktion zum Verschwinden gebracht. Auch Dupuis’ Forschungsgegenstand löst sich unter dem reduktiven Blick des Betrachters auf; die Freilegung der ursprünglichen Welt (die Court de Gébelin betrieben hatte) dient hier nur der Beseitigung der Trümmer. 2.3.3.2. Der Mythos der Esoteriker a) Auclers affirmative Gegenposition zu Dupuis Gabriel-André Quin(c)tus Auclers Thréïcie kann man als Verkehrung der Thesen von Dupuis ins Positive betrachten, wobei schon in den Formulierungen der illuministische Hintergrund greifbar wird: tout gouvernement et tout culte religieux qui ne sont pas dans l’unité, éprouvent nécessairement toutes les variations que le ciel verse sur la terre […] L’unité n’est point un nombre, elle est le principe de tous les nombres. 439 Die unité der Martinisten 440 wird hier in der göttlichen Welt über dem Mond der antiken Traditionen verortet. Im sublunaren Bereich und also außerhalb der Einheit Gottes sind die Menschen den Einflüssen der Sterne unterworfen, wie es gleichfalls traditionell (in der Gnosis und in der Astrologie allgemein) aufgefasst wird. Dass es einen solchen Gegensatz, ja überhaupt eine differenzierte Schöpfung, gibt, ist nach Aucler Folge einer Explosion eines Urkerns, in dem das Licht und sein Gegenteil noch ungeschieden enthalten waren. 441 Die valentinianische Gnosis betont eine solche monistische Auffassung der Differenzierung von Licht und Schatten aus dem Einen, aber man findet sie auch in kabbalistischen Traditionen. Die mehr kosmogonischen Aspekte der Explosion aus einem Punkt und der Lichtmetaphysik sind neuplatonisches Gedankengut, das im Mittelalter etwa von Roberte Grosseteste zu besonderer Höhe entwickelt wurde. 442 Auch für Aucler ist, wie für alle Illuministen, die eigentliche Gestalt der Welt geistig. Deshalb ist sie auch geordnet. Die Unordnung der gegenwärtigen unteren Welt verweist für den aufmerksamen Menschen, der in sich das Bild einer eigentlichen Ordnung und Harmonie trägt, auf die verhüllte obere Geistwelt, zu der der Mensch wieder zurückstrebt. 443 Am sichersten wussten dies noch die ersten Menschen, die gerade erst in die körperliche 439 Aucler 1799, S. 4 440 Aucler 1799, S. 7 schließt sogar explizit an einen Gedanken aus Des erreurs et de la vérité an. 441 Aucler 1799, S. 14 442 Vgl. vor allem Schmidt-Biggemann 1998, S. 446ff. 443 Aucler 1799, S. 16 218 Welt eingetreten waren; außerdem erhielten sie noch zusätzliche göttliche Instruktionen. 444 Ihr Weg zurück in die höhere Welt wurde jedoch dadurch gestört, dass sie sich von der sie umgebenden Materie angezogen fühlten und nun begannen, diese um ihrer selbst willen zu bearbeiten. 445 Dieses hermetische Motiv 446 werden wir im martinistischen Mythos wiederfinden. Durch diese Manipulation verlor die Erde an Fruchtbarkeit. Die Götter halfen jedoch den Menschen in ihrer nun schwieriger gewordenen Lage durch die neue Offenbarung der Astrologie, die als philosophia perennis in verschiedenen Traditionslinien (gestört durch die Sintflut, aber doch über sie hinweg reichend) überlebte. 447 Auch die jüdische Religion bewahrt Spuren dieser astrologischen Urreligion, sowie des Wissens darum, dass die Welt ursprünglich eine Geistschöpfung war. Die in der Genesis referierte Erkenntnis Gottes, dass das von ihm Geschaffene gut sei, impliziert, so Aucler, einen Vergleich mit einem Modell, das nur in den Ideen der Geistschöpfung liegen kann. 448 Der platonische Hintergrund jener im wesentlichen auf Philo von Alexandria zurückgehenden jüdischen Tradition von Schöpfungsspekulation, die den Wortlaut des Genesis-Eingangs auf eine zuerst geistige, archetypische, und erst im zweiten Schritt materielle Schöpfung bezieht, wird hier deutlich. 449 Wir werden auch diesen Aspekt im martinistischen Mythos wiederfinden. Der astrologische Illuminismus Auclers ist jedoch trotz der vielen strukturellen Übereinstimmungen mit dem Martinismus nicht wie dieser christlich. Christus war für Aucler nur ein Reformator des Judentums, der versuchte, dessen verfallende Religiosität durch erneuerten Kontakt mit den ägyptischen Mysterien und durch die Lehren Platons und Pythagoras’ zu regenerieren. Er war jedoch nach Aucler kein Messias (und gab sich auch nicht als solcher), sondern lediglich ein spiritueller Meister. 450 Das Christentum ist eine Verirrung. Die heidnische Antike ist ihm vorzuziehen, denn sie ist der Natur (hier berührt sich eine stoische Anschauung vom Gesetz der Naturordnung mit einem Lieblingsthema des achtzehnten Jahrhunderts) und dem ursprünglichen astrologischen Wissen näher als jene monströse Religion, die nur Unrecht über die Welt brachte. 451 Aucler selbst gibt an, in direkter Familientradition ein Abkömmling einer ‘samothrakischen’ Traditionslinie zu sein, die das eigentlich euro- 444 Aucler 1799, S. 17 und S. 18-20 445 Aucler 1799, S. 21 446 Es findet sich etwa im Mythos des Poimandres. 447 Aucler 1799, S. 29 und S. 38-39 448 Aucler 1799, S. 60-61 449 Vgl. den Schöpfungsmythos des Timaios. Zu Philos Archetypenlehre vgl. Schmidt- Biggemann 1998, S. 330ff. 450 Aucler 1799, S. 98-101 451 Aucler 1799, S. 120-126 und S. 167 219 päische Religionserbe bewahrt. 452 Zu ihm kann man nur zurück gelangen, wenn die „rites de l’empire romain“ 453 wieder eingeführt und auf ihre babylonisch-astrologische Urbedeutung transparent gemacht werden. Aucler bezieht also eine affirmative Gegenposition zu Dupuis, denn auch er versteht die Astrologie als die wahre Essenz aller Religionen. Er bindet diese Auffassung in einen typisch illuministischen Diskurs von Aufstieg und Fall ein, der von dem Gedanken der Ewigkeit des Geistes und der Geistigkeit der ersten Schöpfung getragen wird. Im Gegensatz zu dem der Martinisten ist dieser Illuminismus jedoch dezidiert pagan. Im Sinne eines bewussten Regionalismus, nach dem jeder Windstrich aufgrund der besonderen Verhältnisse von Land und Klima eine eigene Offenbarung erhalten habe, ist die römische Religion (in einer astrologischen Lesart) für Aucler die eigentliche Religion Europas. Interessant ist, dass die Regionalität der Offenbarung hier gerade nicht zu dem Versuch führt, über sie hinaus zu gelangen oder sie zu relativieren, sondern zur Anerkennung dieser Grenzen. Einen etwas anderen Umgang mit dieser Konzeption werden wir gleich bei Saint-Martin entdecken. Reste der reduktionistischen Tendenz Dupuis’ bewahren sich jedoch auch in Auclers affirmativer Version. b) Pernéty Das Bemühen, die überlieferten Mythen und Religionen auf ein einziges System zurückzuführen und dadurch verständlich werden zu lassen, begegnet also nicht nur bei den Aufklärern, sondern auch bei ihren Gegenspielern, den esoterischen Schriftstellern. Bei Dom Joseph Antoine Pernéty, dem Begründer der Illuminés d’Avignon, ist das Grundsystem, auf das alles bezogen werden kann, die hermetische Philosophie, also die Alchemie. 1758 gab er die Fables égyptiennes et grecques dévoilées, sowie ein Dictionnaire mytho-hermétique heraus, die zusammen diese Arbeit, im einen Fall systematisch-argumentativ, im anderen Fall enzyklopädisch, leisten sollten. Schon der Titel der systematischen Schrift zeigt die grundsätzliche Ähnlichkeit seines Unternehmens mit dem wenige Jahre später von Boulanger versuchten. Die Enthüllung des ursprünglichen Sinnes der ägyptischen und griechischen Mythen ist sein Ziel; der Schleier späterer Traditionen soll von ihnen genommen werden, so dass sie zum ersten Mal ihr wahres Gesicht zeigen. In den Fables wird die Entstehung dieser Überlieferungen folgendermaßen erklärt: Am Anfang steht eine Selbsterkenntnis des Menschen, eine Erkenntnis des Mangels. Der Mensch entdeckt seine Sterblichkeit und empfindet sie als unangemessen. In nuce begegnet hier wieder das, was wir als 452 Aucler 1799, S. 284 453 Aucler 1799, S. 292 220 illuministisches argumentum privationis bezeichnen wollen: Sterblichkeit wird von den ersten Philosophen nicht einfach als conditio humana verstanden, sondern bereits als Mangel, der auf eine eigentlich zu erwartende, aber abwesende Fülle hinweist. Der sterbliche Mensch versteht sich auch im Heidentum nach Pernéty in gewisser Weise schon als gefallener Mensch. Interessanterweise wird jedoch dieser Zustand der Beraubung selbst nicht mythisch, etwa durch eine Sündenfallserzählung, sondern eben hermetisch-naturphilosophisch erklärt. Die ersten Naturbeobachter gelangen zu dem Schluss, dass Sterblichkeit ein Effekt des „mêlange des parties hétérogênes“ in ihnen ist, der durch die Nahrungsaufnahme stets erneuert wird. Im Gegensatz zu der Alchemie des Comte de Gabalis, der wir noch begegnen werden, ist für Pernéty Sterblichkeit nicht Folge von monoelementarer, sondern im Gegenteil von gemischter Verfasstheit 454 (diese Beschreibung des Menschen entspricht im übrigen der üblicheren Betrachtungsweise im Sinne einer Ausgewogenheit des Verschiedenen, wie sie etwa von der Vier-Säfte-Lehre der antiken und nachantiken Medizin vertreten wurde). Charakteristisch für den hermetischen Ansatz ist nun die Vorstellung, dies lasse sich durch in der Natur bereits angelegte alchemistische Verfahren beheben. Die Natur hält die Abhilfe schon selbst bereit (auch die heutige Naturmedizin baut auf diesem Postulat auf), aber es bedarf der Suche, der Extraktion und Verwandlung, dass diese auch genutzt werden kann. Besonders pointiert kommt dies in dem in unserer Einleitung schon zitierten Artikel „Philosophe“ des Dictionnaire mythohermétique zum Ausdruck: Der Philosoph ist ein Amateur de la sagesse, qui est instruit des secrettes opérations de la Nature, & qui imite ses procédés pour parvenir à produire des choses plus parfaites que celles de la Nature même. Le nom de Philosophe a été donné de tout tems à ceux qui sont véritablement instruits des procédés du grand œuvre, qu’on appelle aussi Science, & Philosophie hermétique, parce qu’on regarde Hermès Trismégiste comme le premier qui s'y soit rendu célébre. Ils prétendent qu’eux seuls méritent à juste titre ce nom respectable, parce qu’ils se vantent d’être les seuls qui connoissent à fond la nature, & que par cette connoissance ils parviennent à celle du Créateur […] 455 Insofern erscheint in dieser Optik auch die Natur immer als ein Mängelwesen, das auf einen eigentlichen Zustand bezogen bleibt, den es entweder wiederherzustellen oder zu vollenden gilt. Auch die Natur ist für den hermetischen Philosophen in der Privation, bezogen auf eine Vollendung, die ihr immer schon als Potenz innewohnt. Auch wenn er hier nicht erzählt wird, ist doch eine Geschichte des Falls des Menschen und der Natur eine 454 Pernéty 1758a, I, S. iv 455 Pernéty 1758b, S. 378 221 Hintergrundvorstellung, die in der hermetischen Philosophie meist mitschwingt, auch schon im Corpus Hermeticum selbst. 456 Um nun also das Heterogene auszugleichen, muss der Mensch homogene, reine Nahrung suchen, die ihn nach und nach verwandelt, vereinheitlicht. Er kann dann seine ausgewogene Gemischtheit (die in der traditionellen Medizin den Menschen ausmacht), hinter sich lassen, über sein Menschsein, zumindest sein gefallenes, hinausgelangen. Deshalb sucht er nach dem „fruit de vie,“ einer Substanz, die von größerer Reinheit sein muss, als alles, was die Natur von sich aus hergibt. Gleichwohl muss der Alchemist die Natur imitieren, um das in ihr Schlummernde nach außen bringen zu können. Dies war das Bestreben der ersten Philosophen: Peut-on douter que le desir de trouver un remede à tous les maux qui affligent l’humanité, & d’étendre, s'il étoit possible, les bornes prescrites à la durée de la vie, n'ait été le premier objet des ardentes recherches des hommes, & n'ait formé les premiers Philosophes? 457 Ein Allheilmittel, mit dessen Hilfe die vorgegebenen Grenzen des Lebens erweitert werden können, lässt sich also aus der Natur, die diese Grenzen setzt, wiederum entwickeln, und zwar unter göttlicher Anleitung. Das heißt, Gott räumt es dem Menschen ein, im eigenen Interesse die von sich selbst abgefallene Natur, die ihn hält und beschränkt, zu sich selbst zurückzubringen, „cet agent, cette base de la Nature,“ 458 also den Stein der Weisen, freizulegen - und mit ihm den aktuellen Mangel zu einer idealen Fülle zu führen, die der Natur durch den ‘Agenten’, auf dem sie basiert, bereits eingeschrieben ist. Der Bezug zwischen abwesendem Ideal und aktueller Privation ist insofern in der Struktur der Welt schon vorgegeben, denn der Kosmos beruht auf einer Basis, deren vollkommene Entfaltung er gleichwohl nicht ist. (Eine nicht materielle Version davon als Auftrag an den Menschen, die Geistschöpfung zu vollenden, werden wir in Kapitel IV bei Saint-Martin finden.) Gott beruft jedoch die Weisen dazu, unter seiner Anleitung diese Basis freizulegen und zu vollenden, was in der Natur unvollendet war - unter der Bedingung freilich, dass das in der Natur Versteckte auch unter den Menschen geheim bleibt und nur an Auserwählte weitergegeben wird. Insbesondere um das weitere Funktionieren der Gesellschaft zu sichern, muss dieses Wissen vor den einfachen Leuten geheim gehalten werden. In diesem Zusammenhang zitiert Pernétys Dictionnaire mytho-hermétique das Alte Testament: „Sapientes abscondunt scientiam.“ 459 Die Weitergabe des Geheimnisses begründet nun eine translatio sapientiae von Hermes Trismegistos über die gallischen Druiden, die indischen Gymnosophisten, persischen Magier, assyrischen Chaldäer bis hin zu Ho- 456 Vgl. den Mythos des Poimandres. 457 Pernéty 1758a, S. v 458 Pernéty 1758a, S. vj 459 Pernéty 1758b, S. ii-iii; vgl. Prov. 10, 14 222 mer, Thales, Orpheus und Pythagoras. Sie alle waren eingeweiht in das Wissen um die Basis der Natur. 460 Später, als nicht nur Gesundheit und langes Leben, sondern auch Gold und Edelsteine den Gesellschaften wichtig wurden, wurde dieses Wissen auch zu deren Vermehrung eingesetzt. 461 Aus dem Auftrag der Weitergabe an andere Weise, verbunden mit der Geheimhaltung gegenüber der großen Masse folgt nun die spezifische Struktur hermetischer Texte: Mais comment pouvoir se communiquer d’âges en âges ces secrets admirables, & les tenir en même tems cachés au Public? […] des hiéroglyphes, des symboles, des allégories, des fables, &c. qui étant susceptibles de plusieurs explications différentes, pouvoient servir à donner le change, & à instruire les uns, pendant que les autres demeureroient dans l’ignorance. 462 Mehrdeutige Schriften also, die nur von den Eingeweihten verstanden wurden, waren der beste Aufbewahrungsort für dieses Wissen. Damit ist natürlich auch schon der Status der Interpretation Pernétys geklärt: Dann und nur dann, wenn man der Prämisse zuzustimmen bereit ist, die Mythen der Ägypter und Griechen seien solche hermetischen Allegorien, wird auch jede seiner Interpretationen aufgehen, denn in diesem Falle lässt sich jedes scheinbar inkompatible Element als Täuschungsmanöver für die Uneingeweihten marginalisieren, und jede noch so kühne Deutung wird von dem von vorn herein feststehenden Ergebnis sanktioniert. Wie Court de Gébelin, Boulanger und Dupuis muss nun auch Pernéty bei seiner Arbeit spätere Überkrustungen von diesen Überlieferungen abtragen, denn die Mythen wucherten bald nach ihrer Entstehung Kommentare, und die Traditionen wurden dadurch unverständlich. Sie klären sich aber, wenn man unternimmt „à les expliquer suivant leurs principes.“ 463 Das bedeutet konkret, dass alchemistisches Wissen, das unabhängig von ihnen gewonnen wurde, vorausgesetzt und auf die Erzählungen übertragen wird. Die Form der Entschlüsselung opak gewordener Texte mit Hilfe eines außerhalb ihrer aufgefundenen Schlüssels verbindet Pernétys Bemühungen mit denen Boulangers und Dupuis’. Und dies schließt letztlich ein, dass Pernéty einer der Eingeweihten ist. Eine ihm außerhalb der mythischen Schriften zuteil gewordene Offenbarung setzt ihn in Stand, die Überlieferungen zu deuten. Er stellt daher seinen Entschlüsselungen eine Abhandlung über Physik und Hermetik voran, die die Grundlagen der Interpretationen von außer- 460 Pernéty 1758a, S. vj 461 Pernéty 1758a, S. vij 462 Pernéty 1758a, S. vij-viij. Vgl. auch Pernéty 1758b, „Préface“, S. i: Das Dictionnaire mytho-hermétique ist nötig zur Entschlüsselung hermetischer Texte, denn diese „ne sont qu’un tissu d’énigmes, de métaphores, d’allégories, présentées même sous le voile de termes ambigus...“ 463 Pernéty 1758a, S. ix 223 halb der Texte vorgibt. 464 Dann behandelt er zunächst die ägyptischen Hieroglyphen und mythischen und religiösen Überlieferungen, 465 anschließend griechische Mythen wie die Geschichte um das Goldene Vlies, 466 im zweiten Band schließlich die Götter Griechenlands 467 und den Trojanischen Krieg als hermetische Allegorie. 468 Obwohl seine Interpretation, wie schon angedeutet, zirkulär von außertextlichen Vorgaben ausgeht und zu diesen wieder zurück gelangt, versucht er doch auch textinterne Plausibilitätskriterien einzuführen. So meint er etwa, seine alchemistische Deutung eines ägyptischen gemeißelten Steines sei „plus naturelle“ als diejenige der Religionsforscher. 469 Dies soll wohl heißen, es seien weniger Umwege und Hilfskonstruktionen nötig, wenn man von der hermetischen Prämisse einmal absieht. An anderer Stelle will er zeigen, dass eine hermetische Deutung es erlaubt, den fatum-Begriff zu umgehen. Troja kann einem Schicksalsspruch zufolge nur unter bestimmten Voraussetzungen eingenommen werden. Eine im Sinne der Aufklärungszeit plausible Auflösung dieser Vorstellungen gelingt, wenn man diesen Schicksalsspruch als alchemistisches Rezept deutet: Dass ohne Achilles und die Waffen des Herkules Troja nicht eingenommen werden kann, bedeutet: Ohne bestimmte Zutaten kann eine bestimmte chemische Reaktion nicht erfolgen. 470 Das Fatum ist überflüssig. Hier zeigt sich besonders plastisch, wie ein aufklärerisches Interesse an einer Art von Entmystifizierung auch in einem Kontext aufscheinen kann, der gemeinhin als antiaufklärerisch und obskurantistisch gilt. c) Saint-Martin Wie ist es um den Mythos bei Saint-Martin bestellt? Im Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme, et l’univers wendet er sich sowohl gegen die aufklärerischen wie gegen die alchemistischen Mythenreduktionen, und zwar genau wegen ihres reduktiven Charakters: Es scheint Saint- Martin unwahrscheinlich, dass der Mensch religiöse Mythen erfunden habe, um Gegebenheiten des materiellen Lebens auszudrücken, denn das hieße ja: 464 Pernéty 1758a, I, S. 1-214 465 Pernéty 1758a, I, S. 246ff 466 Pernéty 1758a, I, S. 437ff 467 Pernéty 1758a, II, S. 1ff 468 Pernéty 1758a, II, S. 476ff 469 Pernéty 1758a, I, S. 249 470 Pernéty 1758a, II, S. 531 und 551 224 […] prétendre qu’il a employé le supérieur pour emblême de l’inférieur, et qu’il ait imaginé des symboles et des hiéroglyphes plus élevés et plus spirituels que l’objet qu’il vouloit désigner. 471 Dieses ökonomisch anmutende Argument liegt zunächst auf der Linie einer rhetorischen Tradition, die insbesondere bei Metaphern vermeidet, das Größere durch das Kleinere auszudrücken. Aber für Saint-Martin ist mehr im Spiel als nur Ökonomie und Plausibilität; es geht letztlich um ethische Fragen. Der menschliche Geist ist seiner Ansicht nach dazu bestimmt, immer vom Sinnlichen zum Geistigen emporzusteigen, denn das Ziel seines Interesses kann nur das Geistige sein, das er in seinem gefallenen Stand jedoch nur vom Sinnlichen aus erschließen kann. Deshalb ist auch eine alchemistische Mytheninterpretation, die letztlich auch auf Materielles hinaus will, verfehlt. 472 Auch Saint-Martin wendet sich also kritisch gegen verfälschende Deutungen der Mythen, auch er will deren ursprünglichen Sinn freilegen, und auch er verwendet als Schlüssel dazu ein nicht diesen Mythen selbst entnommenes, sondern eigener Schau entsprungenes Wissen. Wie wir schon sahen, gewinnt Saint-Martin aus einer Art von eingeweihter Innenschau ein Menschenbild, das ihm als Interpretationsinstrument für die Welt dienen kann. So auch hier. Nicht nur lässt sich aus der Bestimmung des menschlichen Geistes schließen, welche Mytheninterpretationen abwegig sind, es lässt sich auch positiv aus diesen Vorgaben eine eigene Deutung entwickeln. 473 Die verschiedenen mythologischen und religiösen Überlieferungen der Völker sind nach Saint-Martin regionale Realisierungen offenbarten Urwissens des Menschen über sich selbst und die Welt. Dieses Wissen ist zwar nicht durch alle Epochen der Heilsgeschichte hindurch, aber jeweils innerhalb der Epochen und jedenfalls über Landes- und Kulturgrenzen hinweg im Grunde immer dasselbe, ob man nun auf „le Stash des Gentous, le Zend-à-Vesta des Parsis, l’Edda des Islandois, le Chou-King et l’Y-King des Chinois“ 474 blickt. Wie die klassische Aufklärung eines Montesquieu kennt auch das Denken Saint-Martins regionale, klimatisch und geographisch bedingte Unterschiede in den Denkformen, ja Saint-Martin nimmt sogar an, es habe jeweils diesen verschiedenen kulturellen Gegebenheiten angepasste spezifische Offenbarungen gegeben. Schließlich kann der gefallene Mensch nicht nur lediglich im Sinnlichen erkennen, sondern er ist auch auf das beschränkt, was seinen Möglichkeiten je ‘analog’ ist. Dennoch sind alle 471 Saint-Martin 1782, I, S. 205. Vgl. zu dieser Thematik auch Saint-Martin 1775, S. 243. 472 Saint-Martin 1782, I, S. 210 473 Saint-Martin 1782, II, S. 202-3 474 Saint-Martin 1782, I, S. 267. Vgl auch die verschiedenen Abschnitte von Des erreurs et de la vérité, die sich mit dieser Thematik befassen, besonders: Saint-Martin 1775, S. 206f, S. 215f, S. 229f. 225 diese Versionen gewissermaßen auf eine gemeinsame Tiefenstruktur rückführbar, nämlich die wahre Religion, die ihnen allen zu Grunde liegt und sich nur in verschiedenen kulturspezifischen Denkbildern zeigt. Nun würde die Vermutung naheliegen, Saint-Martins eigene Darlegung der Grundzüge dieser Urreligion müsse ebenfalls relativ sein, lediglich eine mögliche Vertextung innerhalb des für ihn und viele seiner Leser gültigen Rahmens von Vernünftigkeit. Darüber wird keine letzte Rechenschaft gegeben. Gleichwohl lässt die Textlage diesen Schluss durchaus zu, zumal dort, wo Saint-Martin die wahre Religion anspricht, aber eine letzte Definition verweigert, so als wollte er vermeiden, seine spezifische religiöse Sprache zugleich zur Metasprache zu erklären, in der die Tiefenstruktur in ihrem Verhältnis zu ihren Oberflächenrealisierungen darstellbar wäre. 475 Dies lässt sich im Übrigen indirekt auch aus den Überlieferungsbedingungen religiösen Wissens nachvollziehen, wie sie Saint-Martin versteht. Der Fluss dieser Art von Offenbarung ist nämlich auf dem Weg zu uns in dreifacher Weise modifiziert. Zum einen ist er notwendig auf seinem Weg von den höheren Agenten zum Menschen in vertikaler Richtung ausgedünnt, das heißt, der gefallene Mensch kann nur eine reduzierte Form des ihm Dargebotenen ergreifen und aufnehmen. Zum zweiten ist er im Sinne der schon dargelegten Vorstellung kultureller und regionaler Unterschiede horizontal verzweigt. Zum dritten ist er in seiner traditionellen Weitergabe durch Interpretation und Irrtum verunreinigt. Aus dem ersten Punkt folgt, dass eine direkte Darlegung des ursprünglich Geoffenbarten in menschlicher Sprache unmöglich ist, aus dem zweiten folgt, dass es zwar die erstrebte Rückführung aller Mythen auf ein System gibt, dessen Beschreibung aber selbst wieder nur eine regionale Version sein kann. Dennoch ist eine solche natürlich für die je eigene Gegenwart sinnvoll, und so unternimmt es auch Saint-Martin, die mythischen Traditionen von den Verfälschungen, die die Überlieferung gemäß dem dritten Punkt hinzugebracht hat, zu reinigen und zu vereinheitlichen. Unter den abzutragenden Verkrustungen der Deutungstradition nennt Saint-Martin besonders die Verwechslung von Allegorie und Faktum, etwa in der Verehrung von urspünglich nur passend zu den Verständnismöglichkeiten der Adressaten gegebenen allegorischen Figuren als Götzenbildern, 476 außerdem die eigensüchtige Entstellung durch interessierte Parteien. 477 Aus der Annahme, die Modifikation dieser Überlieferungen sei im Allgemeinen eine Verfälschung, folgt für Saint-Martin auch die für unsere Archäologen des Mythos generell gültige Überlegung, dass jeweils die ältesten, der Quelle am nächsten stehenden Versionen auch die richtigsten sein müssen; besonders bei Court de Gébelin zeigt sich, dass sich im Traum von der Reinheit der Quel- 475 Saint-Martin 1782, I, S. 232ff 476 Saint-Martin 1782, I, S. 239-40 477 Saint-Martin 1782, I, S. 233 226 len ein später Humanismus, der Protestantismus und, wenn man so will, die Vorformen der Romantik begegnen. 478 Trotz dieser immer vorauszusetzenden Regionalität und Beschränktheit der Darstellungsform, die auch Saint-Martins eigene Ausführungen betreffen muss, ist jedoch, wie schon angedeutet, die Durchdringung der Offenbarungen in einer Hinsicht jedem Relativismus entzogen: Die heilsgeschichtliche Situation des jeweiligen Betrachters bringt nun doch eine absolute Skala ins Spiel, die es erlaubt, bestimmte Offenbarungsformen und ihre Mythen als überwunden, wenn auch nicht als falsch, beiseite zu legen: 479 […] c’est donc par une profonde observation de soi-même et de toutes les loix des Etres, que l’on pourra trouver dans le plus grand nombre de ces récits, une confirmation évidente de ce que nous avons dit ci-devant; qu’il étoit nécessaire que les Vertus divines se manifestassent, pour que l’homme dégradé pût se régénérer à leur aspect, et qu’il manifestât à son tour la grandeur du modele qui l’a chargé d’être son signe, et de porter son caractere dans l’Univers. Avec cette précaution active et vigilante, on y reconnaîtra aisément que la Puissance suprême n'a pu d’abord se montrer aux hommes que sous une sorte de subdivision; que puisqu’ils étoient faits pour l’Unité, cette subdivision doit les tenir dans un pâtiment inévitable, et qu’elle doit leur faire sentir la rigueur des Décrets divins par la sévérité qui l’accompagne. 480 Die Überlieferungen müssen also mit dem Schlüssel der eigenen Innenschau gelesen werden und können nur rückwirkend bestätigen, was der Mensch, der bereits auf dem Weg der Regeneration ist, aus sich selbst erkannt hat. Derjenige nämlich, der im Christus-Logos das Lösungswort des Menschenrätsels in der Hand hält, hat zugleich in der inneren Form des so durchdrungenen Menschen eine Schablone für das Verständnis aller anderen Phänomene, ob der natürlichen oder der geschichtlichen Welt. So ist auch sein Blick auf die vorchristlichen Offenbarungen, die diese Mythen darstellen, ein anderer als es derjenige der ursprünglich von ihnen Angesprochenen war. Unumgänglich ist allerdings, dass die illuministische Auflösung der heidnischen Mythen gleichwohl in Begriffen des martinistischen Mythos geschehen muss, wenn diese auch abstrakter sind als die Namen griechischer Helden. So stehen Giganten generell für den „ancien prévaricateur,“ Prometheus für den „homme criminel,“ Minerva für die „Sagesse.“ 481 Dieses klarere Verständnis, dem sich im Rückblick die ersten Offenbarungen erschließen, ist also nicht einfach die Siegerperspektive eines sich in der Betrachtergegenwart absolut setzenden regionalen Über- 478 Saint-Martin 1782, I, S. 204 479 Mit wenigstens einer Ausnahme: Saint-Martins Synkretismus macht vor dem Koran halt. Diese, wie er meint, Imitation der hebräischen Bücher enthalte nur wenige Lichtspuren und stattdessen viele unnütze Vorschriften. Vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 4. 480 Saint-Martin 1782, I, S. 274 481 Saint-Martin 1782, I, S. 243-4 227 lieferungsstranges, sondern es ist Effekt jener Regeneration, in deren Dienst auch die Heiden- und Judenoffenbarungen schon standen, und die im Christusereignis einen entscheidenden Fortschritt genommen hat. Die biblische Offenbarung rückt von hier aus betrachtet selbst in den Horizont dieser Mythen ein; die ‘hebräischen Bücher’ des Alten Testaments sind für Saint-Martin auch nur als nachträgliche Bestätigungen der inneren Christus-Schau von Interesse und werden an ihr gemessen (ähnlich wie bei Bayle die Offenbarung nichts enthalten darf, was dem lumen naturale widerspricht). Die biblische Offenbarung wird zur Disposition gestellt. Die Regeneration durch Christus ist jedoch nicht eine geschichtliche Errungenschaft, die der Gegenwart fraglos zur Verfügung steht, sondern nur das Ausgangsinstrument, das den Illuminierten befähigt, auf seinem je eigenen inneren Weg das Rätsel seines Seins zu lösen und diese Erkenntnis in mühsamer Arbeit zum Schema der erfahrbaren Welt zu bilden. Diesen Standpunkt betrachtet Saint-Martin dann als christlich; er ist mitnichten mit dem Katholizismus identisch. 482 Wer nun von diesem Standpunkt seinen Blick zurück auf die Mythen und Religionen der Völker lenkt, der kann nicht nur dasjenige, was sich ihm erschlossen hat, bestätigt finden, sondern nun auch eine übergeordnete Perspektive einnehmen, die die Geschichte der mythischen Überlieferungen selbst heilsgeschichtlich zu deuten erlaubt. Er erkennt in der fragmentierten Gestalt des gefallenen Menschen den Grund einer selbst fragmentierten Offenbarung der göttlichen virtutes, die in eine Vielzahl mythischer Gestalten und Erzählungen gebrochen sind. 483 Auch hier fallen im Sinne des vitium poenale Folgen der Sünde und Strafe zusammen: Ist die Offenbarung nicht anders als ins Mannigfaltige zersplittert möglich, so liegt doch in dieser scheinbar praktischen Anpassung an die reduzierten Möglichkeiten jenseits von Eden zugleich eine Bestrafung, die ihr Schmerzpotential wieder aus der Erfahrung der Spaltung und der Privation schöpft. Der Mensch erfährt diese Fragmentierung als Mangel in Bezug auf die in ihn gelegte Bestimmung zur Einheit, zur unité, und leidet so an den 482 In Le ministère de l’homme-esprit kritisiert Saint-Martin ausführlich Chateaubriands kurz zuvor erschienenes Génie du christianisme, dem er vorwirft, das Christentum mit dem Katholizismus zu verwechseln (Saint-Martin 1802, S. 315). „Le vrai génie du christianisme serait moins d’être une religion que le terme et le lieu de repos de toutes les religions“, meint er (ebenda, S. 316). Der Katholizismus ist so nur Vorstufe zum Christentum, toter Buchstabe, der auf den lebendigen Geist im besten Falle hinführt, partiell, mysteriös dort, wo das Christentum universal und offen sein müsste (ebenda, S. 317-318). Im Sinne von Joachim von Fiores Zeitalter des Heiligen Geistes hält Saint-Martin die Grenzen eines eucharistischen Sohnes-Zeitalters gekommen, das im Abendmahl sein Zentrum hatte. Die wahre Priesterschaft liege in der Ausgießung des Heiligen Geistes im Pfingstwunder, und sie führe eben über das katholische Abendmahl hinaus (ebenda, S. 320). 483 Saint-Martin 1782, I, S. 193-4 228 Folgen seines von ihm selbst herbeigeführten Zustandes, ohne dass es dazu eines göttlichen Strafdekrets bedürfte. Auch der Mythos ist - zumindest für den noch Unversöhnten - Schauplatz einer Form von inquiétude; mehr zu dieser in Kapitel II, 2. 2.3.3.3. Die Erschließung fremder Mythen: Anquetil Duperron Am Beispiel Saint-Martins wurde deutlich, dass das achtzehnte Jahrhundert einen guten Überblick auch über außereuropäische Religionen und Mythen besaß. Ein Gutteil dieses Wissens stammt aus schon älteren Untersuchungen, manches aber wurde gerade in der hier interessierenden Epoche neu hinzugewonnen. So ist Saint-Martins oben zitierter Bezug auf das Zend-Avesta im Zusammenhang mit zeitgenössischen Forschungen zu sehen, die Abraham Anquetil Duperron vier Jahre vor der Veröffentlichung von Saint-Martins Erstlingswerk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. 484 Er hatte dieses Textkorpus von einem religionswissenschaftlichen und philologischen Standpunkt aus erschlossen und übersetzt und sich dabei auf eigene Forschungsreisen gestützt. In Tome II (materiell dem Bd III entsprechend) stellt Anquetil die Grundzüge der zoroastrischen Religion in knapper und sparsam kommentierter Form der zeitgenössischen Diskussion zur Verfügung. Gerade in seiner pointierenden Zusammenfassung, die ohne Zweifel ihren (vielleicht aus heutiger religionswissenschaftlicher Sicht teils reduktiven) Fokus auch Anquetils eigenen, von christlicher Kulturalisierung geprägten Hintergrundvorstellungen verdankt, lesen wir manches, was Saint-Martins Einschätzung zu bestätigen scheint, auch der Zoroastrismus sei eine regionale Variante jener Urreligion, auf der die christlich-jüdische ebenfalls fußt, freilich auch einiges, was Saint-Martin als Entstellung zurückgewiesen hätte. Wir erfahren, dass das erste Prinzip die unendliche Zeit ist, welche das Urlicht und andere Urformen, sowie Ormusd und Ahriman als die sekundären Prinzipien von Gut und Böse, erschafft, und zwar durch einen ihnen allen vorgeordneten Logos. Während eines Weltzeitalters von 12000 Jahren streiten Ormusd und Ahriman gegeneinander; am Ende siegt Ormusd. 485 Ormusd schafft Archetypen, darunter vor allem den des Gesetzes und den des Zoroaster, der dieses Gesetz enthüllen, explizit machen, und damit den Ruhm des Herrn der Natur wieder herstellen wird. Die illuministische Interpretation der Inkarnation Christi als eines Interpretationsereignisses begibt sich, wie wir sehen werden, in die Nähe dieser Vorstellung. Außerdem zeigen die zoroastrischen Bilder von den Ketten der Wesenheiten auf der Seite des Guten wie des Bösen Ähnlichkeiten mit Konzeptionen westli- 484 Anquetil 1771 485 Anquetil 1771, III, S. 592 229 cher Esoterik, die wir noch kennenlernen werden. Die Verfehlung des Urmenschenpaars Meschia und Meschiané, sowie die Mischung von Gut und Böse in der Natur als Effekt des Gegeneinanderwirkens der Gefolgschaften Ormusds und Ahrimans konnten den Illuministen ebenso als regionale Versionen auch in eigenen Traditionen erkennbarer Vorstellungen erscheinen, wie die Befreiung des Menschen bei seinem Tode, die Belohnung der Gerechten und die Bestrafung der Bösen, sowie die Auferstehung der Leiber am Weltende, wenn alles zum Gesetz des Zoraoaster bekehrt ist. Mit der martinistischen Entwicklung der origeneischen apokatastasis panton berührt sich die Erwartung des Zend-Avesta, die Sünder würden im Höllenfeuer vollkommen gereinigt, so dass sie am Ende als Gerechte unter den Gerechten weilen. 486 Es folgt sodann eine Erneuerung der ganzen Natur; Ahriman ist besiegt und stimmt mit Ormusd in das Lob des höchsten Wesens ein. Der Kultus, der dem Menschen in dieser Geschichte aufgetragen ist, besteht darin, das Gute zu schätzen und zu verehren, gegen das Böse jedoch aktiv zu handeln. 487 Les livres Zends & Pehlvis présentent d’un côté l’Univers créé par Ormusd, & corrompu par Ahriman, de l’autre le rétablissement de la Nature. Zoroastre paroît; la Loi qu’il annonce renferme les moyens qui doivent opérer ce grand évenement. Le Parse, instruit par ce Législateur, se regarde comme un soldat qu’ Ormusd envoye sous la conduite des bons Génies combattre l’auteur du mal. 488 Die Gotteskriegerschaft des Menschen gegen das Böse aufgrund eines Gesetzes, das selbst Effekt der allem vorgeordneten parole ist, also in einer Heilstat explizit gemachter Logos, - diese Konzeption ist der martinistischen sehr nahe. Für den Illuminismus eines Martines de Pasqually und eines Saint- Martin von besonderer Bedeutung ist jedoch noch ein anderer Aspekt des Kults: die Lektüre der zoroastrischen Schriften als Wort-Wirken, als Magie. Dem entspricht zwar bei den Martinisten keine analoge Schriftlektüre, denn die hebräischen Bücher sind bei Martines nur ein Teil der Tradition, der Kabbala; der wichtigere ist der mündliche Kommentar, wie er sich in seinem eigenen Traité niederschlägt. Bei Saint-Martin gar sind die Schriften der Bibel nur Bestätigung dessen, was der gläubige Mensch an sich und in sich erfährt. Gleichwohl kommt bei beiden in jeweils etwas verschiedener Weise dem menschlichen Wort, der Wortmagie in ihrer Analogie zum Schöpfungslogos, eine besondere Bedeutung zu, die wir noch näher betrachten werden. Anquetil fasst die diesbezügliche zoroastrische Tradition folgendermaßen zusammen: 486 Anquetil 1771, III, S. 593 487 Anquetil 1771, III, S. 594 488 Anquetil 1771, III, S. 616 230 D’abord, comme la Loi est, pour ainsi dire, le corps sous lequel s’est manifestée la Parole primitive qui a créé le Monde, la lecture des Livres qui la renferme est un hommage rendu à cette Parole, & devient par là d’une nécessité absolue. De plus, ces Livres, lus avec les dispositions requises, doivent avoir sur la terre une efficace qui réponde en quelque sorte à ce que la Parole primitive a opéré à l’origine des êtres. 489 Der besondere Kult schließlich, der dem Feuer zuteil wird, rührt von dessen besonderer Rolle im Kosmos her, die teils von den Martinisten ähnlich beschrieben wird. Das materielle Feuer ist eine niedrigere Repräsentation des Urfeuers, das alle Wesen beseelt. Es ist, wie Ormusd selbst, Lebensprinzip. 490 Eine ähnliche Rolle schreibt die martinistische Naturphilophie dem „feu principe“ zu. 491 Soweit die Rekonstruktion des zoroastrischen Systems durch Anquetil Duperron. Wie aber ist es um den Standpunkt des referierenden Textes selbst bestellt? Bei der Beurteilung der Moral der Reinheit, 492 die Zoroaster seinen Jüngern auferlegt, dringt ein Blick fürs Praktische, vielleicht eine Art utilitaristischer Religionsauffassung durch: Mais au milieu de cette sévérité extrême, on démêle toujours le second objet de Zoroastre; il ordonne des punitions qui contribuent au bien de la Société; il veut en même-tems que la Nature jouisse de ses droits: après avoir reglé ce qui regarde les biens du coupable, on doit, selon ce Législateur, donner de quoi vivre à sa femme, avant que de payer les Prêtres chargés de prier pour lui. 493 Die quellenkritische Erschließung außereuropäischer Mythen und Religionen hat Teil an jenem Interesse an der Archäologie der Mythen, das uns in diesem Kapitel beschäftigt. Aus Saint-Martins Sicht ist Anquetils Arbeit sogar ein Indiz dafür, dass das ‘Geistzeitalter’ 494 anbricht und die Wissensform sich ändert: Die Menschen werden durch die Erkenntnis der Übereinstimmungen verschiedenster Religionen den spirituellen Wert dieser Überlieferung wieder schätzen und vom materialistischen Wissen abkommen. 495 In Wirklichkeit haben allerdings gerade die Forschungen über die regionale Mannigfaltigkeit religiöser Überlieferungen jenen Kritikern der Religionen Argumente geliefert, die in deren unvorhersehbarer, ja beliebiger Vielgestalt einen Beleg ihrer Zufälligkeit gesehen haben. 489 Anquetil 1771, III, S. 595 490 Anquetil 1771, III, S. 596 491 Vgl. etwa Saint-Martin 1775, S. 60-61, S. 90, vor allem aber S. 138-145, sowie 1782, I, S. 143-4 und 150. 492 Anquetil 1771, S. 604 493 Anquetil 1771, S. 618 494 Saint-Martin bezieht sich hier implizit auf so etwas wie die Geschichtsauffassung des Joachim von Fiore. 495 Vgl. Saint-Martin 1802, S. 9. 231 2.3.3.4. Court de Gébelins physiokratische Mythendeutung und die Ruinen Wie wir am Beispiel der Theorie von der Ursprache gesehen haben, betreibt auch Court de Gébelin Analyse-Genese im Sinne unseres Modells, jedoch mit der Besonderheit, dass die verlässlichen Anfänge nicht auch offenbar sind, sondern erst historisch erschlossen werden müssen. Die Heranziehung eines festen Menschenbildes ermöglicht es, die Ruinen der Vergangenheit zu entschlüsseln und das darin aufbewahrte Urwissen der Gegenwart wieder zur Verfügung zu stellen. Court betrachtet es als seine Aufgabe, das dem Menschen ursprünglich aufgetragene Glück wieder zu ermöglichen, indem er die Überlieferungen, die das zu diesem Glück nötige Wissen enthalten, von späteren Verfälschungen und den Überkrustungen einer fehlgeleiteten Deutungstradition reinigt - ein protestantischhumanistisches ad fontes also, das hier auf die Mythologie übertragen wird und in Anlehnung an und zugleich Absetzung von Rousseaus Ursprungsspekulationen zwei strukturverwandte Restitutionsbewegungen vereinen will: „Zurück zu den Quellen“ und „Zurück zur Natur.“ Das Analyse- Genese-Modell, wie wir es bei der Metaphysik-Kritik ebenso wie bei der sensualistischen Sprachentstehungstheorie gesehen haben, wird hier auf die Kulturgeschichte übertragen. Sein Potential der Überprüfung einer Herleitung wird dabei jedoch, ähnlich wie bei Rousseau, über den erkenntniskritischen Bereich hinaus in den einer normativen Kulturkritik ausgeweitet: Auch die Lebensweise und die Werte der Gegenwart sind anhand einer kritischen Analyse und (Neu-) Genese auf ihre richtige Ableitung aus der Gewissheit eines Urzustandes zu überprüfen. Der sich in Court de Gébelins Formulierungen zeigende Widerspruch zwischen einer Dekadenz- und einer Fortschrittskonzeption erweist sich als Gabelung eines intrinsischen Widerspruches im Analyse-Genese-Modell, kann aber in Courts Argumentation auch abgesichert werden: Eine im Prinzip perfektible Menschheit kann durchaus immer wieder hinter ihre Möglichkeiten und sogar hinter schon Erreichtes zurückfallen, wenn sie vom Weg der korrekten Genesen und Ableitungen abweicht. Charakteristisch an Court de Gébelins Art, diese beiden geschichtlichen Bewegungsrichtungen zusammenzudenken, ist vor allem die Vorstellung, Rückschläge ergäben sich aus dem Opakwerden textlicher Überlieferungen. Die differenzierte Höherentwicklung muss also nicht nur korrekt sein, sondern auch auf die Gewissheit der Ursprünge hin transparent bleiben: Die Traditionen müssen sie selbst bleiben. An die Stelle der leeren Abstraktionen der Metaphysik-Kritik Condillacs stellt er den Traditionsverlust. Die kritisierten Entwicklungen sind demnach bei ihm nicht leer, sondern undurchsichtig. Dies gilt in besonderem Maße für seine Erschließung mythischer und religiöser Überlieferungen. So sieht er die Umformung der urzeitlichen Gründungsmythen in frivole Götteranekdoten ebenso als einen Verlust 232 bereits erlangten Wissens wie die Verfälschung des Urchristentums durch die römisch-katholische Kirche und die populäre Heiligenverehrung. Das Gewucher der Äste heutigen Wissens bedarf auch in der Mythologie eines Rückschnitts durch diejenigen, die wie Court de Gébelin die Tradition auf ihren eigentlichen Gehalt zu reduzieren unternehmen. Dieser Gehalt ist in der kosmischen Ordnung durch den Natur-Schöpfer beschlossen, wie wir sie schon in der Sprachentstehungsgeschichte Court de Gébelins kennegelernt haben. Das Wissen um diese Ordnung und um die astronomisch-kalendarischen Gesetze, die in ihr zum Wohle des Menschen walten, ist der Inhalt der ältesten Mythen. 496 Dies ergibt sich aus den Deutungen der „Trois allégories orientales,“ der zweiten Lieferung des ersten Bandes des Monde primitif, wo die Mythen um Saturn und Herkules als Gründungsgeschichte des Ackerbaus, die um Merkur als solche der Astronomie gelesen werden. (Die pointierende Rekonstruktion von Courts Interpretation bei Mercier- Faivre ist hier besonders erhellend. 497 ) Die kultivierte Erde ist irdisches Paradies, Ort des Goldenen Zeitalters. Diese mit hohem interpretatorischen Aufwand den Texten abgerungene Allegorese ist keine materialistische Reduktion. Die Mythen behalten nämlich auch in dieser physiokratischen Lesart ihren religiösen Offenbarungscharakter, denn der Ackerbau erscheint in ihnen als göttliches Gebot. Insgesamt stellt sich Court de Gébelin mit seiner allegorischen Lektüre der Mythen gegen den Strom seiner Zeit, die eher euhemeristische, historische Mythendeutungen hervorbrachte. Er schließt an christliche Autoren wie den Abbé Pluche mit seiner Histoire du ciel 498 an, die bereits allegorischastronomische Deutungen von Mythen versuchten. Die bei Court begegnende Vorstellung, eigentlich astronomische Symbole seien aus Machtgier verunklart worden, zieht sich, so Mercier-Faivre, 499 von Kirchers Oedipus aegyptiacus über Boulanger und d’Holbach bis zu Dupuis. Im Gegensatz zu Kircher betrachtet Court die Hieroglyphen allerdings nicht als Chiffren eines geheimzuhaltenden Priesterwissens, sondern als durch die Machtgier dieser Priester verunstaltete Symbole eigentlich einfacher, profaner Informationen zu Gesetzen und Gebräuchen. Gleichwohl sind alle diese profanen Gebräuche in den Textmonumenten Hinterlassenschaften inspirierter Weiser, mit Hilfe derer die Menschheit sich lenken soll. Der Verlust des Schlüssels zu diesen Überlieferungen ist eben das Vergessen der gottgewollten Ordnung. Wenn man so will, gelingt Court de Gébelin der Spagat zwischen einer reduktionistischen Tradition, die religiöse und mythische Überlieferungen auf rein diesseitige 496 Vgl. Court de Gébelin 1774-84), I, S. 121 und S. 156 497 Mercier-Faivre 1999, S. 163-178 498 Pluche 1739 499 Mercier-Faivre 1999, S. 196 233 Kausalitäten zurückführt, und der aus der Renaissance bis in seine Gegenwart reichenden Anschauung der ältesten Mythen als prisca theologia, in der die christlichen Heilswahrheiten bereits angedeutet sind. Der Schnittpunkt beider Überlieferungen, der dieses Kunststück ermöglicht, ist die physiokratische Vorstellung vom Wirtschaften des Menschen in einem von Gott gestifteten kosmischen Zusammenhang, der das Glück des edenischen Ackerbauern sichert. Und so verwundert es auch nicht, dass Court zwar astrologische Mythen auf astronomisch-kalendarische Gegebenheiten des bäuerlichen Jahresablaufs zurückführt (und selbst katholische Heiligenlegenden als Deformationen landbaurelevanter Informationen begreift), in diesem selbst aber wiederum einen Typus, eine Figura des Lebens Christi erblickt, den erst die christliche Neulektüre des von den Alten übernommenen Kalenders enthüllt: Le Calendrier n’offrait aux Nations anciennes que les revolutions physiques; il ne leur présentait que des biens terrestres; que la naissance & la mort du Soleil Physique, salut de l’Agriculture & de l’homme attaché à la Terre. Le Calendrier des Chrétiens au contraire, s’élève avec leur doctrine au-dessus de cette vie. Les révolutions Physiques du Temps n'y sont que l’emblème de révolutions spirituelles: on y voit l’annonce, la naissance, la mort & le retour à la vie d’un Soleil de Justice. 500 Hier ist die Neudeutung durch Spätere keine Verdunklung des ursprünglichen Sinnes, sondern die Freilegung eines verborgenen, welcher den Bewohnern des monde primitif nur im Sinne einer figuralen Vorausweisung, wenn überhaupt, gegeben war. Die christliche Offenbarung (in ihrer protestantischen, nicht durch Heiligenverehrung und volkstümlichen Katholizismus entstellten Form) ist ein neuer Schlüssel, der weniger die astronomischen Mythen als eigentlich das von ihnen beschriebene Geschehen selbst neu erschließt. Interpretierten die alten Texte das Buch der Natur auf der Ebene des sensus literalis, der von ihnen ihrerseits allegorisch verschlüsselt wurde, so fördert die christliche Lesart den allegorischen Sinn des liber naturae zutage und lässt so die ursprünglichen Mythen zu Allegorien zweiter Ordnung, Allegorien von Allegorien, werden. Dennoch glaubt Court de Gébelin gerade zu ihnen zurücksteigen zu müssen. Sie halten eine Ursprünglichkeit fest, ein rechtes Maß zivilisatorischer Entwicklung, zu dem die Menschheit wieder gelangen muss, oder welches sie als Maßstab des Menschengemäßen an ihre spätere arbeitsteilige Ausdifferenzierung anlegen soll. Wenn aber, wie es oben heißt, die kalendarische Mythologie dieses idealen Entwicklungsstandes die typologische Deutung des Naturgeschehens als Figura Christi noch nicht enthielt, bedeutet dies dann nicht, dass der gläubige Protestant Court de Gébelin damit unter der Hand den Wunsch nach einer Rückkehr zum Heidentum 500 Court de Gébelin 1773-84), IV, S. 4 234 vorbringt? Oder stellt er hier ein weiteres Mal seine behauptete Ursprungssehnsucht in Frage? Wollte man Court de Gébelins Sache stärken, so müsste man die Antwort in seiner Konzeption des Protestantismus und in der oben erwähnten Vorstellung der prisca theologia suchen. Wenn, wie er annimmt, alle Religionen Deformationen einer auf der menschlichen (agrarischen) Rationalität basierenden Ur-Religion sind und der Protestantismus die Rückführung der Religion auf ihren einfachen Ausgangszustand, so bedeutet dies, dass die vorchristlichen Heiden eigentlich bereits Protestanten avant la lettre waren. Der erst in der Inkarnation sich offenbarende Christus wäre dem Weltgeschehen bis dahin als Logos der großen Ordnung immer schon inhärent gewesen, und insofern wären die kalendarische und die christologische Lektüre der astronomischen Abläufe letztlich identisch; ihr Unterschied wäre weniger einer zwischen zwei Ebenen der Allegorese als vielmehr ein Unterschied zwischen Implizit und Explizit. Die Inkarnation würde das Implizite explizit machen. Eine solche Vorstellung vom Christusereignis als Deutungsgeschehen berührt sich mit gewissen martinistischen Konzeptionen, die wir an anderer Stelle noch kennenlernen werden. Zusammenfassend lässt sich Court de Gébelins Ruinendeutung demnach folgendermaßen rekonstruieren: Aus einer letztlich direkter Schau entnommenen überzeitlichen Menschennatur erhellen sich die in der Überlieferung undurchsichtig gewordenen Zeichen der Vergangenheit. In ihnen kann man zirkulär die Bestimmung des Menschen und seine Natur, von der die Betrachtung ausging, wiederum bestätigt und in idealer Weise verwirklicht finden. Die ideale Verwirklichung des Menschen in einer ursprünglichen Zivilisation ist teils wiederzugewinnender Idealzustand, teils ideale Grundform, die von der späteren, komplexeren Entwicklung ausgestaltet wurde; wo diese Ausgestaltung zu Überwucherungen führte, bedarf es eines Rückschnitts. In jedem Fall aber ist die unübersichtliche heutige Form, ob höher entwickelt oder tiefer abgefallen, erst vor der Folie der Urgestalt dem analytischen Blick begreifbar. Im Bild der Ruine erhält jedoch das Modell von Analyse, Genese und korrigierender Alternativ-Genese einen neuen Akzent. Die ersten und verlässlichsten Elemente sind nun nicht mehr offenliegend, sondern müssen (unter Heranziehung der gleichen fixen Menschennatur, die das Analyse- Genese-Modell insgesamt garantiert) aus den Verfallsstufen der vorfindlichen Welt erst gewonnen werden. Genau wie bei den Martinisten ist die Gegenwart nicht mehr nur komplexe Weiterentwicklung der Ursprünge, sondern auch Ruine vergangener Größe. Die Freilegung der ursprünglichen Gestalt dieser Monumente wird zur Offenbarung einer Geschichtstiefe. Bevor diese freilich im Sinne von Foucaults Modell die Geschichtstiefe der épistemè des neunzehnten Jahrhunderts werden kann, muss der Begriff von Geschichte selbst erst noch aus dem Schatten des Analyse-Genese- 235 Modells hervortreten. Dies werden wir im übernächsten Kapitel beobachten. Vorerst aber interessiert uns noch ein anderer Aspekt der auf den letzten Seiten untersuchten Reduktion der Mythen. Wir sahen diese als eine Möglichkeit, mythische Rede durch die Freilegung einer kritisierbaren Rationalität zu reduzieren und zu disziplinieren, die narrative Logik des Mythos einzuebnen. Aber eine Art narrativer Logik kennzeichnet ja auch das Analyse-Genese-Modell, als dessen ausgegrenztes Anderes der Mythos insofern erscheint. Im Martinismus stellt sich nun das Mythische auch als Alternative zum herrschenden Modell dar - eine Alternative, die in einigen Punkten dem Wissensmodell der Epoche entspricht, es in anderen jedoch subvertiert. 2.4. Der Mythos als Gegenentwurf zur Genese: Martines de Pasqually Zwei Dinge setzt die Grunderzählung des Martinismus der Genese entgegen: die narrative Stringenz des Mythos und die Interpretation eines nicht mehr durchschaubaren Welt-Textes im Midrasch, einer besonderen Form von Kommentar, in welcher diese Erzählung sich bei Martines de Pasqually darbietet. In den Geheimlehren des achtzehnten Jahrhunderts, besonders im Bereich der Hochgradfreimaurerei, blüht die narrative Logik des Mythos. Dieser konstituiert teilweise in Reichweite der Lebenszusammenhänge, in denen aufklärerische Wissenschaft betrieben wird, eine Alternative zum Genesemodell, die zugleich dessen Gegenentwurf und abgedrängtes Anderes ist, zeigt sie doch auf die Logik der Erzählung, der auch die Erzählungen der Hervorgänge komplexer Zustände aus anzunehmenden einfachen Einheiten gehorchen müssen. Die Ur-Erzählung des Ordre des Élus Coens, den Martines de Pasqually in den Fünfzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts nach einem gescheiterten Versuch, eine eigene Freimaurerloge zu gründen, zunächst in Bordeaux, dann auch in Paris aufbaute, weist allerdings die oben angesprochene besondere erzählerische Stringenz nur auf der histoire-, nicht auf der discours-Ebene 501 , auf, denn es handelt sich um einen in seiner Grundform wie seiner Textredaktion recht verworrenen Text, der nie darauf zielte, in den öffentlichen Diskurs einzugehen. Das nur handschriftlich verbreitete Schriftstück war den höheren Einweihungsgraden des Ordens vorbehalten 501 Wir verwenden hier die französische Schreibung, um innerhalb unseres Textes die narratologische Konzeption von discours als Vertextung (im Gegensatz zum Handlungssubstrat der histoire) von der eingedeutschen Form ‘Diskurs’ abzusetzen, die für den „discours“ im Sinne Foucaults stehen soll. 236 und existiert in mehreren Redaktionen, deren ausführlichste von Martines’ Schüler, Sekretär und Nachfolger Saint-Martin niedergeschrieben wurde. Sein Titel: Traité sur la réintégration des êtres dans leur première propriété, vertu et puissance spirituelle divine. 502 Die darin enthaltene esoterische Lehre wird nicht nur spezifisch narrativ vermittelt, sondern die dargebotenen teils originellen Lösungen überkommener theosophischer Probleme geschehen, wie sich zeigen wird, auch gerade in narrativer Form. Dabei ist offensichtlich, dass diese Erzählung der Schöpfungs- und Weltgeschichte gleichzeitig das Fundament der theurgischen Praxis des Ordens legen soll, die auf eine Erfahrung der Gegenwart der Geisterwelt, passe oder chose genannt, hinausläuft. 503 2.4.1. Der Traité sur la réintégration als Midrasch und Erzählung Martines’ moderner Herausgeber, Robert Amadou, hat die Textgattung, der dieser Traktat angehört, - entgegen der Gattungsangabe im Titel: Traité - als Midrasch 504 bezeichnet. Mit diesem in der jüdischen Theologie beheimateten Terminus für einen homiletischen Bibelkommentar verbindet Amadou eine These über die Traditionen und Quellen dieses Textes. Martines de Pasqually sei, so Amadou, wahrscheinlich jüdischer Abstammung gewesen und habe eine möglicherweise in der Tradition seiner zum Christentum konvertierten Familie überkommene Offenbarung in diesem Text systematisiert. 505 Was nun die Bezeichnung ‘Midrasch’ für die Gattung des 502 Es gibt mehrere handschriftliche Redaktionen dieses Textes. Die hier verwendete ist die ausführlichste davon und wird nach der modernen Ausgabe der Version Saint- Martins, Martines 1771, zitiert. Zur Textgeschichte vgl. das Vorwort dieser Ausgabe von Robert Amadou, sowie Mazet 1979, S. 278-280. 503 Diese werden wir hier beiseite lassen. Man kann sich darüber informieren bei Le Forestier 1928, S. 72ff. 504 Martines 1771, S. 13 505 Das sehr spezielle Christentum, das sich im dogmatischen Gehalt des Textes dokumentiert, spricht ihm dafür, dass diese Familie sich eine gewissermaßen vornizänische Form eines unorthodoxen Judenchristentums bewahrt habe, die an der offiziellen Dogmenentwicklung vorbei ins 18. Jahrhundert überlebt habe. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Spekulation ein wenig im Dienste eines apologetischen Interesses steht, denn hier wird Martines’ Aktualität dadurch erwiesen, dass er zum Bürgen für Amadous Traum von einem dogmatisch offenen esoterischen Christentum erkoren wird. Diese Annahmen sind jedoch Rückprojektionen von aus dem Text gewonnenen Gegebenheiten, die dann zirkulär wiederum aus diesen Projektionen erklärt werden. Demgegenüber ist festzuhalten, dass man über Martines de Pasqually äußerst wenig weiß und insbesondere seine jüdische Abstammung, ganz zu schweigen von einer eventuellen parachristlichen Familientradition, nur eine Konjektur ist. Um Marrannentum, also ein geheimes Festhalten am jüdischen Glauben oder Teilen davon unter dem Deckmantel der Konversion, kann es sich jedenfalls nicht handeln, denn in Martines’ Text wird der jüdische Glauben nach dem Erscheinen des Messias als Verirrung dargestellt, so in Kapitel 94, wo der zerrissene Tempelvorhang als Typus des Schicksals der Juden gedeutet wird: Ihre Einheit wird zer- 237 Traité angeht, so ist zwar über weite Strecken eines der wichtigsten Kennzeichen dieses Texttyps nur implizit vorhanden: der Bezug auf einzelne Bibelverse, die in einem echten Midrasch meist zitiert und dann mystisch ausgelegt werden. Die beiden anderen wichtigen Kennzeichen dieser Gattung jedoch, die aus der freien Anordnung solcher Kommentare resultierende fragmentarische Gestalt des Ganzen und die Pseudepigraphie, durch die die Deutungen als Aussprüche berühmter oder legendärer Weiser mit Autorität ausgestattet werden, sind deutlich vorhanden - und das zweite ist sogar in ganz besonderer Weise ausgearbeitet. 506 Der Text präsentiert sich zunächst als an eine (als die Martines’ erkennbare) Sprecherstimme gebundene Erzählung mit erklärenden Einschüben, die zwar an der Bibel entlangführt, aber ihre Fortschreitungslogik aus ihrer eigenen narrativen Filiation und nicht aus der Abhängigkeit vom Bibeltext gewinnt. Es wird eigentlich eine mythische Parallel- und vielleicht sogar Konkurrenzerzählung zur Bibel dargeboten, die (und hier zeigt sich eine Nähe zu einem Typus von Midrasch, wie er im Sohar anzutreffen ist) den eigentlichen spirituellen Wortsinn des Textes zutage fördern will. In dieser narrativen Strukturierung hat Le Forestier eine wichtige Parallele zum Element der Haggada der jüdischen Tradition gesehen. 507 Dabei wird aber meist nicht wie in der kabbalistischen Tradition des Sohar am einzelnen Bibelvers vermittels intensiver Interpretation ein überraschender Sinn gewonnen, sondern der neue Sinn ergibt sich ganz zwanglos aus der Erzählung, die oft augenfällig von derjenigen der Bibel abweicht. Insbesondere werden Komponenten des biblischen Mythos verstellt und verändert, sowie durch freie Einschübe angereichert, nicht zuletzt durch erfundene Reden, die den biblischen Figuren in den Mund gelegt werden. 508 Es sind nun gerade diese Passagen, wo sich die pseudepigraphische Technik des Midrasch in besonderer Weise realisiert. Insbesondere in den beiden großen Reden des Moses bei der Gesetzesstiftung am Berge Sinai wird ein Gutteil der Information des Textes vergeben. Diese erhalten damit die höchste mögliche Autorität, ist es doch Gottes Wort, das hier von Moses verkündet und weitergegeben wird. Die aus Pasquallys eigenen Erfahrungen, sowie den Weisungen derer, die ihn angeblich einrissen wie das Vorhangtuch, sie müssen sich zerstreuen, weil sie den wahren Messias nicht erkannt haben und der Materie verfallen sind. Hier und an mehreren anderen Stellen zeigt sich geradezu ein religiöser Antijudaismus. Dennoch ist es richtig, die „prétention d’être un commentaire secret du Pentateuque“, die dem Traité eingeschrieben ist, als Bezug auf jüdische (Text-)Tradition zu werten, wie es Le Forestier 1928, S. 182, tut. 506 Diese Strukturähnlichkeit bemerkt schon Le Forestier 1928, S. 183. 507 Le Forestier 1928, S. 186 508 Die Tatsache, dass sich dies auf einen Teil des Alten Testaments beschränkt, ist, wie aus dem Text (der auch Vorwegnahmen neutestamentarischen Geschehens enthält) unmissverständlich klar wird, lediglich daraus zu erklären, dass er unvollendet ist. 238 geweiht haben, gewonnene Erzählung führt also auf einen sehr umfassenden Passus hin, der sich als wörtliche Rede desjenigen ausgibt, von dem alle geheime Tradition, alle Kabbala kommt (nichts anderes meint dieser Begriff, und im allgemeinen setzen die kabbalistischen Überlieferungen genau an dieser alttestamentarischen Stelle an mit der Behauptung, von hier gehe eine mündliche Tradition aus, die den Bibeltext selbst wieder hinter sich zurücklässt 509 ). Die geheime Lehre, die Moses hier verkündet, ist der Ausgangspunkt der Tradition, in der Pasquallys Erzählung zu stehen vorgibt. Sie wird selbst wörtlich wiedergegeben - ein unerhörter Vorgang, dessen Respektlosigkeit auch wiederum dagegen spricht, dass Pasqually einer genuin jüdisch-kabbalistischen Schule angehört. In dieser wörtlichen Rede aber wiederholen sich viele Informationen, die auch schon in Pasquallys eigener Erzählung, in die diese Rede eingebunden ist, vergeben werden. Damit wird auch dessen Eingeweihtsein bestätigt oder doch zumindest suggeriert. In einer grandiosen Zirkelfigur autorisiert sich der Text durch das Zitat einer ihn bestätigenden Rede, für deren Authentizität jedoch wiederum nur der Text selbst bürgen kann. Martines de Pasqually greift die Form des Midrasch auf, um sie in besonderer Form zu radikalisieren und damit eine geheime Einweihung zu behaupten und weiterzugeben, die sich als christliche Kabbala polemisch gegen die jüdische Tradition wendet, aus der sie sich speist. Nicht nur die Tendenz, der Bibel einen ungewohnten, mystischen Sinn zu geben, auch schon die für Martines de Pasquallys Verfahren vorauszusetzende Annahme, es könne einen neben dem überlieferten Bibelwort maßgebenden Traditionsstrang geben, ist im oben referierten Sinne des Wortes kabbalistisch. Nicht zu vergessen ist auch die hebräische Bezeichnung der Ordensmitglieder als Coens (‘Priester’), sowie die im Titel unter dem Begriff der réintégration möglicherweise verborgene Anspielung auf den kabbalistischen Begriff des Tikkun. Die Kenntnis der Kabbala als tradierter Technik mystischer oder spekulativer Meditation über die Heilige Schrift, sowie als Überlieferung der Früchte dieser Meditation, ist jedoch im 18. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich den Juden vorbehalten. Seit dem Spätmittelalter, auf breiterer Front seit der Renaissance, haben sich Gelehrte bemüht, teils christliche Adaptionen der Kabbala zu erarbeiten, teils die Originalschriften in lateinischer Übersetzung zugänglich zu machen. So veröffentlichte Knorr von Rosenroth 1677 eine Übersetzung des Sohar und anderer kabbalistischer Schriften unter dem Titel Cabbala Denudata, die sehr verbreitet war. Aber nicht nur gelehrte Vermittlungswege müssen hier angesetzt werden. Das Wissen des achtzehnten Jahrhunderts 509 Und die Annahme, in dieser nichtschriftlichen Tradition liege eine uralte und universale Wahrheit, ist auch das Argument der christlichen Kabbala dafür, in der jüdischen Überlieferung christliche Wahrheit suchen zu können. Vgl. etwa Dan 1998, S. 119. 239 über diese Überlieferung ist auch mündlich vermittelt worden; so hat C. F. Oetinger, einer der großen deutschen Theosophen jener Zeit, sich im Frankfurter Ghetto von Koppel Hecht in die Kabbala einweihen lassen. 510 Ähnlich wie bei der rätselvollen Quellenlage für das traditionsgesättigte (teils paracelsische) Vokabular eines Jakob Böhme im Jahrhundert zuvor wird man darüber hinaus auch für Martines de Pasqually ‘abgesunkene’ Formen der Motivvermittlung wie Hörensagen, fahrende Alchemisten und Wanderpredigertum annehmen dürfen. Insofern lässt sich auch ohne Amadous biographische Annahmen die Kabbala als mögliche Quelle für Pasquallys Denken beibehalten. Die Lehren der Kabbala werden uns einiges, was bei Martines dunkel erscheint, explizieren können. Dies gilt in ähnlicher Weise für hermetische und alchemistische Quellen, sowie mit Einschränkungen auch für die Gnosis. 511 Hier ist jedoch zu beachten, dass sowohl im Corpus Hermeticum als auch in der späteren (lurianischen) Kabbala gnostische Elemente auftreten: Was im Denken des 18. Jahrhunderts gnostisch ist, wird meist eher von hierher als etwa aus Marcion oder Valentinus stammen. Ähnlich wie bei Paracelsus ist anzunehmen, dass auch Martines’ hermetisch-gnostisches Wissen im Anschluss „an die unterirdisch und außerhalb der Universitätsmauern vegetierende Tradition der Herbalisten, Destillierer von Quintessenzen, Bergleute, Alchemisten und Wundärzte […] verknüpft mit der neuplatonischen und gnostischen Ideologie und Symbolik“, 512 also auf nicht literarischem Wege, zustande gekommen ist. 2.4.2. Emanation und Fall der Geistwesen Eine Rekonstruktion des Gehalts der äußerst unübersichtlichen kommentierenden Erzählung Pasquallys wird versuchen müssen, die Inhalte des Textes analytisch darzulegen. Um die spezifisch narrative Begründung der Lehre rekonstruieren zu können, gilt es jedoch gleichzeitig, die Welterzählung des Traité in ihrem narrativen Fluss darzubieten. Dabei sollen die einzelnen Schleifen ihrer unendlichen Wiederholungen, so gut es geht, aufeinander gelegt und mit den Versionen von Martines’ Schülern abgeglichen werden. 510 Vgl. Scholem 1957/ 1980, S. 259. 511 Le Forestier 928, S. 295, sieht starke Parallelen zwischen Martines und der Gnosis, vor allem in der Tatsache, dass in beiden Systemen die stoffliche Welt durch einen Konflikt in der Geisterwelt entsteht (hier ist allerdings einschränkend anzumerken, dass dies im Fall der Gnosis eine Entstehung, im Falle des Martinismus eine gezielte Schöpfung ist). Die gnostischen Versionen neuplatonischer Konzepte wie Emanation und Pneumatologie haben ebenfalls Ähnlichkeiten mit den entsprechenden Lehren Pasquallys. 512 Pagel 1979, S. 100 240 Martines beginnt seine Erzählung mit dem In-Sich-Ruhen der Gottheit vor der Zeit. Dies ist eine, wenn man so will, kabbalistische Umschreibung des biblischen „Im Anfange.“ Vor der Zeit liegt das geheime Leben der Gottheit, zunächst undifferenziert, als En-Sof, das Unendliche. 513 Wie wir später erfahren, ist Martines’ Gott, auch wenn er als Schöpfer in Erscheinung tritt, nicht sehr ausdifferenziert. Er ist Einer, und Martines vermeidet die Begrifflichkeit der Trinität im christlichen Sinne, obwohl an manchen Stellen insbesondere ein gewisser Logos-Sprachgebrauch offenbart, dass der Abstand dazu so groß nicht ist. Die Trinität wird jedoch als Trias dreier Aktionsweisen des Einen dem kabbalistischen Sefirot-Denken angenähert; darüberhinaus ist Gottes Essenz vierfach. Diese gewisse Aussparung des Trinitarischen ist eine Eigenheit von Martines de Pasqually. Seine wichtigsten Schüler vermeiden es weitgehend, ihm hier zu folgen, nicht nur der „clerc tonsuré“ Fournié, sondern auch Saint-Martin und Willermoz. 514 Der Satz, mit dem der Traité beginnt, ist erzählerisch, doch der erzählte Vorgang scheint dem Gehalt der darin enthaltenen Zeitangabe zu widersprechen: Avant le temps, Dieu émana des êtres spirituels. 515 Etwas, das sich vor der Zeit befindet, wird im historischen Perfekt erzählt, als Vorgang also, und mithin als etwas Zeitliches. Zugleich aber wird durch die Bevorzugung des Perfekts vor dem Imperfekt ein durativer oder iterativer Aspekt vermieden: Weil die Zeit noch nicht begonnen hat, erscheint jenes unerschöpfliche und ewige Hervorquellen der Emanation punktuell. Der Text lässt sich darauf ein, das innere Leben der Gottheit vor der Zeit zu erzählen, im Mythos das nicht Sukzessive in erzählbare Sukzession zu überführen, will aber an der Nichtzeitlichkeit des geschilderten Geschehens festhalten. Zunächst ist alles in Gott, die Geistwesen existieren als Möglichkeit in ihm. Sie werden dann (und dies ist schon wieder implizite Sukzession) konkretisiert und gewinnen eigene geistige Gestalt, sind aber noch bei Gott; die Kluft zwischen Schöpfer und Geschaffenem ist erst dabei, sich zu öffnen. Die Zeit als Möglichkeit der Interaktion von Getrenntem existiert noch nicht. Im weiteren Verlauf unterschlägt der Text jedoch einige bedeutsame Stadien neuplatonischer und kabbalistischer Spekulation und schließt sich wieder mehr einer christlichen Logos-Konzeption an. Der Schöpfer emaniert vor allem den Sohn, Christus, der von Anfang der Schöpfung bei ihm ist und mit der direkten Tätigkeit seines Willens identisch. Christus ist demnach in allen Werken des Schöpfers und umgekehrt 513 Zum kabbalistischen Hintergrund dieser Konzeption vgl. Le Forestier 1928, S. 195. 514 Vgl. vor allem Fournié 1801, Willermoz 1805 und Saint-Martin 1805 in: Willermoz 1805. Zu Fournié vgl. auch Faivre 1967a, S. 85. 515 Martines 1771, S. 77 241 - hier sind auch Reste einer trinitarischen Sprache von Intention, Wille und Aktion. Der Schöpfer emaniert nun ferner zu seiner Herrlichkeit Geistwesen, die dazu da sind, ihm zu huldigen und direkten Anteil an seinem Denken haben. Ihre Huldigung wird zunächst als ein vor-zeitliches Kreisen begriffen. Gemäß der vierfachen Essenz der Gottheit entstehen sie in vier Klassen. Ihr Wissen ist unbegrenzt, weil das seine unbegrenzt ist; sie haben Einsicht in die Gesamtheit des göttlichen Denkens, weil ihre eigene Denkbewegung in und mit ihm im Gleichklang schwingt. Bis hierhin befinden wir uns vor der Zeit. Die Zeit kommt nun in Gang, weil sich Geschichte, und zwar zunächst Unheilsgeschichte, ereignet, indem die Geistwesen ihre Pflicht vergessen. Wie kann es dazu kommen? Hier ist Martines in seiner Erzählung sehr abrupt und setzt zwei Dinge voraus, die scheinbar im Widerspruch zu dem oben beschriebenen Zustand stehen: Die Geistwesen haben einen freien Willen, und es steht nicht in Gottes Macht, sie im Guten zu halten. Dies ist überraschend, haben wir doch gerade erst erfahren, dass der Schöpfer alles in sich begreift und unendlich ist: Warum ist er nicht auch allmächtig? Zugleich haben wir erfahren, dass die Geistwesen Emanationen von ihm sind, die nur langsam nach außen treten und stets Anteil an Gottes Denken und Wissen haben. Wie können sie dann aus seinem Denken ausscheren? Hier zeigt sich, dass ein Rückzug der Gottheit stattgefunden haben muss, wie ihn die lurianische Kabbalah unter dem Begriff ‘Zimzum’ kennt. Der Schöpfer konkretisiert sich, konzentriert sich und lässt dadurch einen Raum frei, in dem sich von ihm Getrenntes ausbilden kann, und zwar im Dienste seiner Herrlichkeit. Um nämlich die Huldigung der Geistwesen an seine Herrlichkeit allererst zu ermöglichen, gesteht er ihnen den Status von Sekundärursachen zu, die ihm aus freiem Willen huldigen sollen. Diese Huldigung kann nur dann gut sein, wenn es auch ein Nicht-Gut geben kann. Hier ist schon Welt (und ansatzweise auch schon Zeit) durch Differenz, denn der Schöpfer hat nunmehr ein Gegenüber und er gestaltet und bindet sowohl dieses als auch sich selbst durch Gesetze. Jedes geistige Wesen ist nun auf unveränderliche Gesetze gegründet, auch Gott selbst, der sozusagen zum Opfer seiner Selbstfestlegung wird, da er nämlich den Geistwesen ihre Macht und ihre Eigenständigkeit nicht mehr nehmen kann, ohne seine eigene nunmehr konkretisierte Identität als unveränderlicher Gott wieder aufzulösen. Dies geht so weit, dass Gott nun auch nicht mehr voraussehen kann, was er nicht geplant hat: Die Schöpfung ist aus der Vorsehung entlassen. Hier richtet sich Martines’ Formulierung gegen die christliche Vorstellung von Vorsehung als von einem Vorauswissen, wie sich ein freies Wesen entschieden haben wird; dazu unten mehr. 242 2.4.3. Diabolus und mythische Theodizee Das Böse ist also zunächst einmal ein möglicher Effekt der Freiheit und ein möglicher Preis der Herrlichkeit. Was nun seine tatsächliche Herleitung betrifft, so weicht Pasqually wiederum von der kabbalistischen Überlieferung ab. Dort wird bekanntlich, ähnlich der Konzeption in der valentinianischen Gnosis, das Böse im Zuge der Ausdifferenzierung der Gottheit schrittweise aus dieser selbst abgeleitet, wobei durch komplizierte Konstruktionen vermieden wird, das Böse Gott selbst zuzuschreiben. (Es entsteht in der Kabbala - und ähnlich auch später bei Böhme - durch eine Art Unfall, den ‘Bruch der Gefäße’, durch den ein im Prinzip positiver, zornigfeuriger Aspekt der sich ausdifferenzierenden Gottheit freigesetzt wird und sich in Abwesenheit seines balancierenden Gegenpols negativ entwickeln kann, aber stets parasitär bleibt, also kein eigenes Prinzip wird. Bei Valentinus ist es Sekundärprodukt eines sich immer mehr zum Rand des Pleromas hin verlagernden Dramas der Liebe). Andererseits wird vermieden, es als eigenständiges Prinzip im manichäischen Sinne anzuerkennen. Martines will Gott als gänzlich gut darstellen, ohne aber ein gleichursprüngliches gegenteiliges Prinzip anzunehmen. Er vermeidet jedoch die recht abstrakten Spekulationen der genannten Systeme und verlässt sich auf den Mythos. Die christliche Tradition kennt als Erzählung vom Ursprung des Bösen jene Konflation aus der (ursprünglich auf den König von Babylon gemünzten) Luziferstelle Jesaia 14,12-15 mit einigen neutestamentlichen Nennungen Satans (Lk 10, 18; Joh 12,31; Apok 12,7-12) als Geschichte vom Sturz des stolzen Engels. Diese flicht Martines hier in eine spirituelle Deutung der superbia ein. Die spirituellen Wesen, die der Schöpfer emaniert hat, leben zwar im Gleichklang mit ihm, sind aber nunmehr abgetrennt von ihm zu denken. Der Emanationsbegriff ist, wie wir gesehen haben, nun dahingehend zu deuten, dass diese Wesen ein in dem freigemachten Raum freigesetztes Gegenüber Gottes sind, dessen Verehrung für den Schöpfer kein inneres Geschehen ist, sondern ein dem anderen, sozusagen einem Du, dargebrachtes Geschenk. Damit dieses Geschenk ein Werk freiwilliger Liebe sei, hat der Schöpfer seinen Geschöpfen (wie wir sie nun wohl nennen müssen) den liberum arbitrium gegeben, der sie befähigt, aus diesem Gleichklang auch auszuscheren. In dem Augenblick, in welchem nun einige von ihnen kraft ihres freien Willens ihre Gedanken auf sich selbst richten, geschieht das Unglück. Sie verlieren jenen vollkommenen Gleichklang mit dem Schöpfer und damit die selbstverständliche Teilhabe am Guten. Unter Hinzuziehung anderer Stellen des Traité ist dies so zu deuten, dass das Böse im platonischen Sinne lediglich negativ als Abwesenheit des Guten existiert. Da alles Gute bei und in Gott ist, bedeutet die Abwendung davon die Hinwendung zum Mangel am Guten, zum Nichts. Martines geht also noch über die kabbalistische oder valentinianische Konzeption des 243 Bösen als eines pervertierten Restbestandes von etwas, das in einem Unfall freigesetzt wurde, hinaus. Im Sinne einer christlich-platonischen Auffassung 516 spricht er dem Bösen jede metaphysische Substanz, und sei sie parasitär, ab; das Böse ist zunächst pure Negation. Saint-Martin wird selbst in den schlechten Taten des Menschen nur eine Verschiebung oder Verfälschung des Guten am Werk sehen; er gibt mehrere Beispiele dafür, dass auch Untugenden sich nicht auf eigene Substanz gründen, sondern verfälschte Tugenden sind. 517 Erst aus diesem Negativen entsteht dann nach Martines’ Auffassung der Gedanke an ein eigenes Gutes, das von dem Guten Gottes unterschieden ist. Da aber alles Gute bei Gott ist (weil er platonisch auch als die Idee des Guten gedacht ist), ist dieses eigene Gute (das folglich an der Idee des Guten keinen Anteil haben kann) nichtig. Martines’ Schöpfer ist also nicht wie bei Böhme zunächst ‘Ungrund’, aus dem sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse erst ausdifferenziert, sondern vielmehr das Gute, das dem Bösen, welches selbst nur Negation dieses Guten ist, vorausgeht. Dies ist natürlich in menschlicher Sprache und Logik nicht zu rekonstruieren, da ja die Differenz zwischen Gut und Böse einerseits vorausgesetzt wird, um überhaupt ein Gutes annehmen zu können, andererseits aber erst aus dem vorgeordneten Guten als dessen nachträgliche Negation hervorgeht. Der Gedanke der emanierten Wesen, selbst herrlich oder gar schaffend sein zu wollen, sich aus Sekundärursachen in Primärursachen verwandeln zu wollen, ist also bereits Auflehnung gegen die Allherrlichkeit des Schöpfers, denn die Wesen wollen seiner Herrlichkeit und Einheit eine eigene Herrlichkeit zur Seite stellen, nicht mehr in dem Einen, sondern neben einem von mehreren sein und ihn selbst somit auf die Stufe einer Sekundärursache herabziehen. Der Übergang von einem bloß negativen Bösen zu diesem positiv eigensüchtigen Gedanken wird von Martines nicht näher ausgearbeitet. Das Böse bleibt jedoch ganz traditionell als Negierung begriffen. In der Tat bräuchten nur diejenigen, die böse denken, davon abzulassen, und das Böse würde verschwinden, sogar den gefallenen Wesen würde sofort vergeben werden. Folgerichtig gibt es für Martines zwar Verdammnis für 516 Diese findet sich etwa in der Scholastik, so bei Thomas 1936, I, 48, 1, resp. (Bd. 4, S. 88): „Unde non potest esse quod malum significet quoddam esse, aut quamdam formam seu naturam. Relinquitur igitur quod nomine mali significetur quaedam absentia boni.“ 517 So ist der Brauch ‘wilder Völker’, Gästen ihre Frauen zu ‘leihen’, keine eigentliche Unzucht, sondern irrtümliche hospitalité, wo fidélité sein müsste, also eine richtige Tugend in falscher Position; der freiwillige Opfertod indischer Witwen ist falsch verstandene Frömmigkeit (Verfälschung einer Tugend), das Menschenopfer ist falsche Nobilitierung des Opferaktes (falsch interpretierte Tugend): Saint-Martin 1782, I, S. 52-53. Eine solche Auffassung liegt auch der scholastischen Sündenlehre zu Grunde, die etwa die Struktur des Purgatoriums in Dantes Commedia prägt. 244 „une éternité“, aber nicht für die Ewigkeit - auch der Teufel (der im Übrigen nur als der „chef des démons“ primus inter pares ist) kann der göttlichen Vergebung teilhaftig werden. Martines’ Reintegration berührt sich hier mit so etwas wie Origenes’ apokatastasis ton panton (einer von der Kirche verworfenen Lehre) und mit dem kabbalistischen Tikkun. Auch in der Lehrschrift von Martines’ Schüler Fournié 518 wird Luzifers Fall als Verabsolutierung des Nichts gedeutet: Luzifer, dessen Substanz nur aus der Teilhabe an Gott kommt, fand sich von diesem durch die Gegenüberstellung der huldigenden Interaktion unterschieden und verkannte dabei seine Abhängigkeit. Seine Selbstbehauptung ist demnach eine nichtige Aussage. Soweit aber diese Aussage nicht nur eine falsche Erkenntnis, sondern auch eine existenzielle Selbstsetzung beinhaltet, läuft das Subjekt der Aussage Gefahr, sich auch im Nichts zu gründen, also Nichts zu sein. 519 Dies aber hat Gott zunächst verhindert - wir werden sehen, wie -, denn seine Liebe gilt auch noch dem gefallenen Engel. Und hier zeigt sich bei Martines wie bei Fournié eine Stringenz der Narration, die die Bibel nicht aufweist. Rekonstruiert man nämlich solchermaßen unter Hinzunahme der Engelsfallstradition die Entstehung des Bösen in der Bibel, so stößt man auf ein gewissermaßen narratives Problem, eine Laküne im wohlgeordneten Erzählablauf: Wie kommt man vom Fall Luzifers zur Genesis? Augustin, Fulgentius und Anselm von Canterbury hatten eine Verbindung zwischen Engelsfall und Erschaffung des Menschen herzustellen versucht, indem sie den Menschen in die freigewordene Position Luzifers einrücken ließen. Die Formulierungen von Fulgentius sind für uns besonders interessant: Per quam voluntatem (sc. liberam) ad seipsos, non ad Deum conversi, effecti per superbiam tenebrosi et in hujus aeris ima detrusi servantur in judicium puniendi: nullum in eis voluntatis bonae remansit vestigium. […] Ergo post lapsum malorum, et stabilitatem bonorum, placuit omnipotenti Deo aliam condere creaturam rationalem, libero arbitrio exornatam, per quam numerus ille angelorum de coelo labentium qui perierat suppleretur. 520 Der Mensch ist damit Supplement, und sein Fall ruft einen neuerlichen Mangel hervor; eine unendliche Geschichte der Ausfälle und Substitutionen wäre von hier aus möglich, wird aber durch das korrigierende Eingreifen des Messias verhindert. 521 Dieser Nexus der Substitution kann je- 518 Vgl. Faivre 1967a, S. 89f. 519 Fournié 1805, S. 24ff. 520 „De Trinitate“, cap. VIII und IX in: Fulgentius 1892, col. 504-505. 521 Bei Augustin vgl. „Enchiridion, sive de fide, spe et charitate liber unus“, cap. XXIX in: Augustinus 1887b, col. 246. Bei Anselm vgl. vor allem die Kapitel XVI-XVIII („Ratio cur numerus angelorum, qui ceciderunt restituendus sit de hominibus“, „Quod alii angeli pro illis, non possint restitui“, „Utrum plures futuri sint sancti homines, quam 245 doch keine Begründung für die Erschaffung der Welt geben, denn der Mensch als Ersatz-Höfling braucht keinen eigenen Wirkungskreis, er kann am Hofe Gottes verbleiben. Genau diese Begründung aber versucht die Kabbala Martines de Pasquallys. Die gefallenen Engel, die sich, wie Fulgentius sagt, zu sich selbst bekehrt oder gekehrt haben, sind verfinstert, und es bleibt keine Spur des guten Willens in ihnen. Von hier aus lässt sich eine Brücke zur Erschaffung von Welt und Mensch schlagen, die bei Fulgentius noch fehlt. 2.4.4. Die Erschaffung des Kosmos und des Menschen Aus einer konsequenten erzählerischen Verbindung dieser Gegebenheiten gewinnt Martines seine kabbalistische Konzeption von der Stellung und Aufgabe des Menschen, die zugleich seine Anthropologie und Ethik, sowie seine Theurgie zu begründen vermag. Attraktiv an seiner Erzählung ist, dass der Mensch und der Kosmos nun nicht einfach Dreingabe sind, ein Neuansatz oder eine konfliktlose Weiterführung einer neuplatonisch gedachten Emanation, sondern notwendig aus diesem Drama erwachsen. Um nämlich die gefallenen Geister zunächst in ihrer Wirkung zu beschränken, schafft Gott mit Hilfe aus ihm emanierter Sekundärursachen gezielt ein zunächst feinstoffliches Universum mit der Erde als Mittelpunkt. Die im Grunde gnostische Vorstellung, die materielle Welt sei ein Abstieg, eine Katabole, gegenüber der göttlichen, geschaffen für die bösen Seelen, findet sich schon bei Origenes, 522 ist aber sint mali angeli“) im ersten Buch von Anselms Cur Deus homo? , Anselmus 1966, col. 381-389. 522 Origenes (o.J.): „Peri archon“, III, 5, 4, col. 328. Pagel 1979, S. 96, hat darauf hingewiesen, dass diese Lehre bei Paracelsus („De meteoris“ I, 5, in: Paracelsus 1922-1995), XI- II, S. 253-254) wieder auftaucht, und zwar bereits in einer Fassung, die die Welt als Gefängnis für den Teufel darstellt. Freilich ist in ihr die Vergänglichkeit der unteren Welt die entscheidende Neuerung gegenüber der oberen Welt; der Erziehungsauftrag dieses Gefängnisses hat weit weniger Profil als bei Martines, und Gleiches gilt von der Rolle des Menschen. Man sieht jedoch, dass Martines in einer gnostischen Tradition steht (die auch die Kabbala zum Teil geprägt hat) - seine Konzeptionen sind keine freien Erfindungen, sondern Entwicklungen überkommener Elemente; die genauen Filiationen lassen sich allerdings nicht mehr nachweisen, da über Pasquallys Lektüren nichts bekannt ist. Immerhin ist davon auszugehen, dass Bruchstücke der Lehre des Paracelsus ebenso wie die (seit dem 16. Jh. gedruckt vorliegenden) Überlieferungen zur Gnosis aus der Feder des Origenes und des Irenaeus, außerdem alchemistisch-hermetische Literatur, sowie kabbalistische Schriften und Berichte über sie (etwa die Georg von Wellings und Knorrs von Rosenroth) im achtzehnten Jahrhundert entweder direkt oder in mündlicher, ‘okkulter’ Tradition, zugänglich waren. Mazet 1979, S. 280, weist darauf hin, dass Martines die Einsperrung der gefallenen Geister nicht so verstanden wissen will, als hätten diese nun zu diesem Zweck Leiber erhalten (wie etwa bei Origenes), sondern als rein räumliche Umgrenzung selbst geisthafter Wesen. 246 bei Martines in besonderer erzählerischer Stringenz in die Gesamtgeschichte eingewoben - möglicherweise, wie Le Forestier meint, in Weiterentwicklung eines Erzählmotivs der Avesta, in welchem die Schöpfung als Bollwerk gegen Übergriffe des Bösen geschieht. 523 Die Erschließung dieser religiösen Überlieferungen für das französische achtzehnte Jahrhundert durch Anquetil Duperron haben wir bereits erwähnt. Freilich ist dies bei Martines in besonderer Weise ausgestaltet. Das nun geschaffene Universum wird als festen göttlichen Gesetzen unterworfen begriffen, und genau darin liegt seine Funktion für die Kontrolle über die Dämonen. Sie werden in dieses Universum gestürzt, darin eingesperrt und fortan seinen Naturgesetzen unterworfen. Die so modern anmutende Gesetzhaftigkeit der Natur ist mithin Überwachungsmaschinerie für die Bösen. Dies gilt jedenfalls für die Version des Traité. Ihr zur Seite ist eine ebenfalls aus der Lehre Pasquallys entwickelte Version zu stellen, die von dessen Schüler Pierre Fournié aufgezeichnet wurde. Danach ist der Kosmos weniger Gefängnis als vielmehr Bewährungsort der Gefallenen, entstanden aus dem Mitleid des Schöpfers. Das ist nur eine Akzentverschiebung, denn auch die Gefängniskonzeption schließt eine Perspektive der Besserung ein. Interessant an Fourniés Ausgestaltung ist jedoch das Element der Zeit. Die Notwendigkeit von Zeit erwächst hier aus der Natur der Verfehlung Luzifers: Oben wurde schon referiert, dass diese nach Fournié darin besteht, sich selbst als Nichts absolut gesetzt zu haben. Die Leugnung Gottes schließt zugleich eine Art Selbstleugnung ein. Das Ergebnis müsste nun eigentlich sein, dass Luzifer auf ewig dem Nichts, als das er sich selbst setzte, anheimfällt 524 und dabei die Fülle der Realität Gottes als fernes Gegenbild stets wahrnimmt und begehrt: […] dans le néant ou la privation de la réalité, qui est Dieu, privation jointe à la connoissance intuitive de l’éternelle réalité qui est Dieu; d’où résulte une tendance continuelle, un desir toujours brûlant de la posséder, et l’affreux tourment de ressentir en soi tout l’opposé de cette réalité. 525 Damit dies jedoch nicht geschieht, wird den Dämonen ein Moratorium in der dazu geschaffenen Zeit gewährt, die sie zugleich vor den Qualen einer ewigen inquiétude schützt und ihnen die Chance zur Gnosis einräumt. Die 523 Le Forestier 1928, S. 209, der diese Verbindung hergestellt hat, vermutet allerdings auch die Möglichkeit, diese Mythen seien auf einer jüdischen Traditionslinie (die letztlich auf die babylonische Gefangenschaft zurückgeht) zu Martines gelangt. 524 Er kann nicht selbst zu Nichts werden, weil er als Emanation Gottes von ewiger Substanz ist. Diese Auffassung Pasquallys tritt freilich beim späten Saint-Martin etwas zurück; dort wird zwar darüber nichts vorausgesagt, aber die Möglichkeit einer Selbstvernichtung scheint zu bestehen. 525 Fournié 1805, S. 27. Eine ähnliche Konzeption für das Ende der Zeiten findet sich in Saint-Martins „Traité des bénédictions“, Saint-Martin 1807, II, S. 110ff.: Das Begehren des Teufels gegenüber dem nun sichtbar gewordenen Gott wird so groß sein, dass Satan alles Böse in seiner Qual ausspuckt. 247 Zeit ist der Aufschub der Ewigkeit, alle Zeit ist erkenntnisermöglichende Gnadenfrist. Denn die Erkenntnis der Nichtigkeit der eigenen Position ist diejenige Arbeit, die ihnen aufgegeben ist, die sie aber, wie wir sehen werden, allein nicht leisten können, sind sie doch in ihrem Nichts, in ihrem Dunkel, von aller Verbindung zur Wahrheit, mithin zu Gott, abgetrennt (auch das ist eine durchaus traditionelle Vorstellung 526 ). Saint-Martin sieht in dieser Verdunklung im übrigen auch den Grund, warum die sich auflehnenden Dämonen in keinem Augenblick etwas gegen Gott hätten ausrichten können: Das bloße Fassen des bösen Gedankens ist schon eine Verkennung des Guten und also Gottes; die Dämonen, die bereits in diesem Augenblick Gott nicht mehr erkennen, können auch nicht mehr auf ihn einzuwirken versuchen, „puisqu’à l’instant qu’ils conçurent cette horrible pensée, ils perdirent de vue sa présence.“ 527 Aber nicht allein die Verdunklung trennt sie von der Erkenntnis Gottes. Eine „connoissance intuitive“ hätte ihnen Fournié ja in der Ewigkeit sogar als Instrument besonderer Qual zugestanden. Es ist die Tatsache, dass die Geister nun in Zeit und Raum gefangen sind, die besonders dazu beiträgt, dass sie Gott nicht erkennen (dies ist im Grunde der gnostische Gedanke vom unbekannten Gott 528 ). Die Dämonen könnten, wären sie der Nichtigkeit in der Ewigkeit anheimgefallen, Gottes Realität noch vergeblich begehren, wenngleich die wahre Gotteserkenntnis auch für diesen Zustand ausgeschlossen werden muss. Die Zeit aber, welche ihnen Schutz vor der Ewigkeit gibt und die Gelegenheit verschafft, sich zu bekehren, macht zugleich Gott unsichtbar für diejenigen, deren Wesen schon verdunkelt ist. Aber nur in dieser Zeit können sie ihre Erkenntnisarbeit leisten und sich dann wiederum für oder gegen Gott ‘manifestieren’, das heißt, auch diese Erkenntnis wiederum existenziell umsetzen. 529 Laut dem Traité wird nun zur Ermöglichung dieser Erkenntnisarbeit der Mensch als ein weiteres Geistwesen von der Klasse der mineurs erschaffen, den ursprünglichen in nichts nachstehend. Der Begriff mineur gehört in das schon aufgezeigte pneumatologische Klassifikationssystem von supérieur, inférieur, majeur und mineur. Zugleich aber spielt er auf einen exegetischen Zusammenhang an, den wir unten näher ausführen werden. Auch er hat Teil am allumfassenden Denken des Schöpfers, ja er ist allen anderen geschaffenen Wesen übergeordnet, weil er eine besondere Aufgabe hat: die Reintegration aller Gefallenen in ihren ursprünglichen Stand. Er soll von seinem Schöpfer künden und es so Luzifer und seinen Anhängern ermögli- 526 So beantwortet etwa Thomas von Aquin die Frage, „utrum intellectus daemonis sit obtenebratus“ weitgehend positiv: Das lumen naturale ist ihnen zwar nicht genommen, aber die gnadenhafte Teilhabe an der Weisheit Gottes durch die caritas haben sie verloren. Vgl. Thomas 1936, I, 64, Bd. 4, S. 378ff. 527 Saint-Martin 1782, I, S. 161 528 Vgl. hierzu besonders Jonas 1958 529 Fournié 1805, S. 27 und 103 248 chen, den Weg zu Gott zurück zu finden, den sie alleine nicht mehr finden können. Zu diesem Zweck wird der spirituelle Adam mit einem Geistleib 530 angetan und als Herr über die feinstoffliche Erde gestellt. Indem das, was in der christlichen Lehre in gewisser Hinsicht eigentlich die Aufgabe des Messias ist, auf Adam zurückprojiziert wird, die figurale Deutung Christi als eines „zweiten Adam“ also auch umgekehrt auf Adam als Proto- Christus übertragen wird, wird die narrative Lücke zwischen dem Engelsgeschehen und der Genesis durch einen Kausalbezug geschlossen, der nicht nur den Menschen, sondern die ganze Schöpfung aus dem Engelsfall herleitet. Die Grundoperation des martinistischen Diskurses, alles auf den Sündenfall zurückzuführen, gilt hier also auch schon für den ersten Sündenfall, denjenigen Luzifers, auf den die Schöpfung und der Mensch zurückgehen. Hier ist es angebracht, die schon mehrfach erwähnte Nähe der pasquallyschen Konstruktion zum kabbalistischen Tikkun auszuführen. In der lurianischen Kabbala ist der primäre Bruch derjenige der ‘Gefäße’ in der oberen Welt. Adam ist hier gesandt, um mit seiner frommen Huldigung die Ganzheit Gottes wiederherzustellen. Hätte Adam nicht am siebten Tage gesündigt, so hätte sein Sabbatgebet die obere Welt wiederhergestellt. Aufgrund von Adams Fall gibt es nun eine untere Welt, in der sich der Mensch befindet. Durch das hermetische Mikrokosmos-Makrokosmos-Prinzip kann dieser Mensch jedoch auf den kosmischen Adam Kadmon, die kosmische Manifestation Gottes in der oberen Welt, positiven Einfluss nehmen. Bei Isaak Luria ist die Sendung des gefallenen Menschen also derjenigen Adams analog: Er soll sich selbst und dadurch Gott wiederherstellen, und zwar durch die Werke der Frömmigkeit. 531 Bei dem Begriff der ‘Erde’, auf die Martines’ Adam gesetzt wird, wirkt sich die illuministische Annahme einer doppelten, zuerst geistigen, dann stofflichen, Schöpfung aus. Das Vorfindliche ist nicht das Authentische, zu jedem benannten Phänomen gibt es ein dahinterstehendes Eigentliches, das denselben Namen trägt, aber der wahre Referent ist. Die ‘vorzeitliche Zeit’ ist nicht unsere Zeit, genau wie die Materie und die Erde, ja der Mensch im Folgenden nicht unsere Materie und Erde, nicht der Mensch, der wir sind und den wir kennen, sein werden. Die Erde, um die es hier geht, ist eine feinstoffliche Realisierung der von Gott gedachten Erde, aber sie ist noch nicht die grobstoffliche Erde, auf der wir uns befinden. Die Doppelung in eine geistige und eine feinstoffliche Schöpfung wird also, wie wir gleich sehen werden, durch eine Verdoppelung auch des Sündenfalls zu einer Dreierstruktur: Geistige Welt - feinstoffliche Welt - durch den Fall des Menschen vergröberte Welt. Das 530 Faivre 1986, S. 64, führt die traditionelle esoterische Konzeption der Geistleiblichkeit auf Proklus zurück. 531 Vgl. Scholem 1957, S. 267ff. 249 heißt: Nichts, was wir an unserer gegenwärtigen Welt beobachten, gilt für die ‘eigentliche’ Welt, und nichts, was in den ersten Abschnitten des Traité über die ursprüngliche Welt erzählt wird, ist dem Leser in seiner Welt unmittelbar gegenwärtig. Diese Figur ist letztlich ein Effekt des Bestrebens, zwei widersprüchliche Traditionen zusammenzuführen, das gnostische Unbehagen an der materiellen Welt und die jüdisch-christliche Tradition des einen guten Schöpfergottes. Dabei kann nicht wie in der dualistischen Gnosis der Schöpfer gedoppelt werden in einen verborgenen Gott und einen Demiurgen (denn dies widerspräche dem bei Martines besonders streng gefassten Monotheismus), und so muss es zwei Schöpfungen geben: Die Zeit und die Materie, die wir kennen, sind Verfallsprodukte der eigentlichen Zeit und Materie, so dass die Schöpfung verworfen und zugleich gut genannt werden kann, je nachdem, ob von der geistigen, der grobstofflichen oder der (im paulinischen Sinne) gefallenen die Rede ist. Diese Vervielfältigung ist eine Fortsetzung der Tradition, den Genesiseingang im Sinne einer doppelten, geistigen und materiellen, Schöpfung zu deuten. Die Aufgabe des Menschen ist es also, den Teufeln, die in die feinstoffliche Welt eingesperrt sind, bei der Reintegration behilflich zu sein und insbesondere von der nicht mehr erkennbaren Wahrheit Gottes zu künden. Wie sich schon anlässlich der Erwähnung der dreifachen Gestalt der Welt zeigte, wird der Mensch jedoch versagen, er wird selbst fallen. Bevor wir uns diesem zweiten Fall zuwenden, soll jedoch noch eine bemerkenswerte literarische Filiation aufgezeigt werden, die ebenfalls von der kabbalistischen Auffassung der besonderen Aufgabe des Menschen gegenüber den Dämonen und Zwischenwesen ausgeht. 2.4.5. Der beinahe gerechtfertigte Teufel: Cazotte und Montfaucon de Villars Die besondere Stellung des Menschen in der Geisterwelt, seine besondere Aufgabe gegenüber allen anderen, ist, wie wir sahen, kabbalistisches Gedankengut. In abgesunkener, durch die Vermischung mit alchemistischen Traditionen auch gewissermaßen materialisierter, Form findet sich dieses Motiv in einem Roman des siebzehnten Jahrhunderts, der auch im achtzehnten noch aufgelegt und sogar durch Fortsetzungen vermehrt wurde: im Comte de Gabalis von Montfaucon de Villars (dessen Titelheld schon durch seinen Namen mit der Kabbala verbunden ist). Dies gibt uns Gelegenheit, dem Kontakt des Mythos mit dem Roman, im achtzehnten Jahrhundert bereits dem narrativen Genre par excellence, nachzuspüren. 250 Die Erlösungsaufgabe des Menschen ist in diesem Roman auf die aus der paracelsischen Tradition bekannten Elementargeister 532 gerichtet, mit denen der Mensch vor dem Sündenfall Bekanntschaft hatte; wenn er ein wahrer Weiser ist, kann er diese Bekanntschaft jedoch auch nach dem Fall von neuem knüpfen. Die Geister der vier Elemente, Sylphen, Nymphen, Gnome und Salamander, sind Träger eines behebbaren Mangels der gefallenen Schöpfung: Sie haben zwar ein langes Leben und bewahren sich in diesem auch bis zum Ende in ihrer Schönheit, dann aber sterben sie ohne Hoffnung auf Auferstehung, weil sie (dies ist alchemistisches Gedankengut) nur jeweils aus einem einzigen Element bestehen. Beim Menschen ist es genau umgekehrt: Er ist aus verschiedenen Elementen gemischt und kann daher das ewige Leben erlangen, stirbt aber früh und altert schnell. Der alchemistisch naheliegende Gedanke ist nun sozusagen eine Legierung dieser beiden zum Ausgleich der Imperfektionen der Natur, und in der Tat kann der Mensch, wenn er sich mit einem Elementargeist vermählt, diesen mit ins ewige Leben nehmen. Sein eigener Vorteil dabei: Er hat einen für die ganze Dauer der Verbindung jung bleibenden (und ohnedies besonders schönen) Sexualpartner. Das berechtigte Interesse der Elementargeister an dieser Verbindung ist, so der Roman, biblisch dokumentiert, und zwar in der (von den Kirchenvätern bis zu den Martinisten jeweils vollkommen anders gedeuteten) Erzählung von den Söhnen des Himmels, die sehen, dass die Menschentöchter schön sind. 533 Der Mensch ist berechtigt, hier die Schöpfung zu korrigieren, die er selbst verdorben hat, denn er ist ein Bote Gottes und zugleich ein Teil Gottes; er hat also im Sinne der lurianischen Kabbala die Aufgabe des Tikkun. 534 Zugleich ist aber diese Verbindung mit einem Elementargeist eine Art Versicherung, die sozusagen die Verlustseite der Pascalschen Wette neutralisiert: Ist der jeweilige Mensch unter den Erwählten, so gelingt der oben beschriebene Handel. Ist er aber nicht für das Himmelreich prädestiniert, 532 Vgl. den „Liber de nymphis, sylvis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus“ in der Philosophia magna (VII) in Paracelsus 1922-1995, XIV, S. 115-151; hierzu Pagel 1979, S.80-81, der auf den Bezug der paracelsischen Elementargeisterlehre zu Gen VI, 2 (Hochzeit der Söhne Gottes mit den Töchtern der Menschen) hinweist. Das achtzehnte Jahrhundert und mithin Cazotte konnte auch aus Brucker 1741 Kenntnis von dieser Konzeption des Paracelsus erhalten haben (wenn dies auch im Falle Cazottes unwahrscheinlich ist; der Weg über Montfaucon de Villars ist naheliegender, schon wegen des bei Brucker fehlenden erotischen Motivs), nicht aber aus Diderots Artikel T HEOSOPHES in der Encyclopédie: Wie nämlich Fabre 1963, S. 77, nachweist, hat Diderot Brucker, der für diesen Artikel ausgeschlachtet wird, hier so irreführend übersetzt, dass die Lehre des Paracelsus sich nicht mehr von einer bloßen Zuordnung der Nymphen zum Wasser etc. im Sinne der antiken Mythologie unterscheidet. Vgl. Brucker über Paracelsus: „Aquae sunt nymphae. Terrae sunt gnomi“; Diderot: „Les eaux ont leurs nymphes, les terres ont leurs gnomes.“ 533 Genesis 6,2 534 Montfaucon de Villars 1670, S. 73-74 251 so gewinnt er doch, spiegelbildlich zu der Möglichkeit, seinen Elementarpartner unsterblich zu machen, selbst erlösendes Vergessen und Tod. Das heißt, er stirbt den Seelentod, und die Hölle bleibt ihm erspart. Für beide Seiten bringt also eine solche Vermählung nur Vorteile, und darüberhinaus heilt sie gemäß alchemistischer Tradition 535 die Mängel der gefallenen Schöpfung. Diese „voluptés Philosophiques“ 536 sind denn auch die verlorene wahre Bestimmung des Menschen, die nach dem Fall nur noch den Eingeweihten erreichbar ist. Der Sündenfall des Menschen besteht nämlich, wie wir es ähnlich in der freilich wesentlich differenzierteren Version Martines de Pasquallys sehen werden, auch hier in der fleischlichen Fortpflanzung: Hätten Adam und Eva nur mit Sylphen Nachkommen gezeugt, so wäre der Mensch nicht gefallen, nicht grobstofflich geworden. 537 Für alle Elementargeister hätten genügend menschliche Partner zur Verfügung gestanden, und der Tod hätte sie genauso wenig erfasst wie den Menschen. In der Wendung vom menschlichen zum elementaren Partner kann der Mensch seinen Sündenfall rückgängig machen. Man sieht, dass es sich hier um eine alchemistisch-gnostische Kabbala handelt: Die richtige Verbindung der Elemente würde die Welt richtigstellen, aber solche Reparatur der Welt ist nur den Eingeweihten möglich. Damit verbunden präsentiert der Roman eine galante Version der incubus-Thematik, die der christlichen Dämonologie widerspricht. Die Wesen, mit denen sich die Weisen in alchemistischer Umarmung verbinden, sind keine Teufel, die den Menschen verderben, sondern Partner in einem erotischen Erlösungs-Handel. Auf diesen weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein rezipierten Roman antwortet in dem uns interessierenden Zeitalter Jacques Cazotte mit einem auch heute noch beliebten Klassiker der phantastischen Literatur, dem Diable amoureux. Cazotte transponiert die incubus-Thematik in den illuministischen Kontext seiner Zeit (wenn er auch zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans selbst dieser Strömung noch nicht verbunden war), wobei er auf den ersten Blick einen der offiziellen Kirchenlehre näherstehenden Standpunkt einzunehmen scheint als Montfaucon de Villars. Er wider- 535 Vgl. hierzu Lenglet DuFresnoys 1742, III, Nr. 325, S. 168, wo der esoterische Gehalt des Comte de Gabalis auf ein bekanntes alchemistisches Buch des 17. Jhs. zurückgeführt wird: „Ce Livre a fait beaucoup de bruit en son tems. On l’attribue à l’abbé de Villars; il est curieux, bien écrit & tiré presque tout de la Chiave del Gabinetto di Cavaliere Borri.“ Bernardus 1704 nimmt gar den Alchimisten Borri als möglichen Autor des ursprünglich anonym publizierten Romans an (Vorwort). Er gibt darüberhinaus als Traditionsreihe Hermes Trismegistos, Robert Fludd, Böhme, Nollius an (S. II-III) und konstatiert: „cum sententia de habitatoribus elementorum non noua sit, sed ab omni fere aeuo a Platonico-Kabbalistica schola asserta.“ (S. IV). Vintz 1705 reiht die Elementargeisterlehre des Comte de Gabalis in alchemistisch-hermetische, neuplatonische und kabbalistische Traditionen ein (vor allem: S. VIIIf.). 536 Montfaucon de Villars 1670, S. 35 537 Montfaucon de Villars 1670, S. 103 252 spricht nämlich der These des Comte de Gabalis, die Luftwesen, denen sich der Mensch vermählen könne, seien harmlose, gar gute, Elementargeister. Bereits der Titel seines Romans kennzeichnet einen der beiden Protagonisten als Teufel - freilich als verliebten Teufel, und darin liegt, wie sich zeigen wird, auch wieder eine Abkehr von der katholischen Dämonologie. 538 Dem Ich-Erzähler des Diable amoureux, einem unerschrockenen spanischen Offizier namens Alvare, der in Italien Dienst tut, eröffnet sich in einem geselligen Gespräch das Wissen um eine Beschwörungstechnik, mit deren Hilfe man sich Dämonen untertan machen kann. Er wendet sie an (sie erweist sich den theurgischen Praktiken eines Martines de Pasqually verwandt) und gewinnt so einen dienstbaren Geist, der sich (in Überbietung der Galanterien des Comte de Gabalis) als weiblich und ungemein reizvoll erweist, in Wirklichkeit aber der Teufel ist. Biondetta, wie sich der Dämon nennt, versteckt nun ihre wahre Identität genau hinter jener Lehre von den Elementargeistern, die durch den Comte de Gabalis zum Allgemeingut des Jahrhunderts geworden war: A votre contenance héroïque, les Sylphes, les Salamandres, les Gnomes, les Ondins, enchantés de votre courage, résolurent de vous donner tout l’avantage sur vos ennemis. Je suis Sylphide d’origine, et une des plus considérables d’entre elles […] Je me soumis avec joie, et goûtai de tels charmes dans mon obéissance, que je résolus de vous la vouer pour toujours […] Il m’est permis de prendre un corps pour m'associer à un sage: le voilà. Si je me réduis au simple état de femme, si je perds par ce changement volontaire le droit naturel des Sylphides et l’assistance de mes compagnes, je jouirai du bonheur d’aimer et d’être aimée. 539 Dies ist aber nur vorgeschoben. Biondetta ist in der Tat der Teufel und versucht, Don Alvare zu verführen. Dass Alvare dem Teufel nicht verfällt, verdankt er teils seiner Zurückhaltung, was Versprechungen angeht, teils der Frömmigkeit seiner Mutter. Der große Rahmen der Geschichte gibt sich also kritisch gegen die Hinwendung des Menschen zu den Zwischenwesen zwischen Himmel und Erde, in denen sich das Böse verstecken kann. Aber gleichzeitig unternimmt der Text nichts, um dem Leser die tatsächlich böse Natur des Teufels wirklich plausibel zu machen. Biondetta liebt und leidet. Sie wird um ihrer Liebe willen verfolgt, sie liegt vor Alvare auf den Knien. Natürlich gehört die systematische Verunsicherung des Lesers bezüglich des Realitätsstatus des Berichteten zu den Kennzeichen des sich etablierenden phantastischen Genres. 540 Insofern kann alles Schlimme, was Biondetta widerfährt, teuflische Machenschaft zur Täuschung des Beobachters sein. Nimmt man jedoch den (für den esoterischen Hintergrund des Romans nicht abwegigen) Standpunkt Martines de Pasquallys ein, nach dem die Bosheit des Teufels selbst keine Substanz habe, sondern nur in den bösen 538 Zu ihrer Aktualität vgl. Fiard 1791. 539 Cazotte 1772, S. 50 540 Vgl. dazu besonders Wehr 1997 253 Taten liege und jederzeit durch Unterlassung aus der Welt zu schaffen wäre, so muss man sich über weite Strecken der Erzählung fragen, worin diese Bosheit denn noch besteht. Die schöne Teufelin scheint durch ihre Liebe zu Alvare ihrer bösen Natur entfremdet, fast als solle innerhalb des Rahmens eines vor Dämonen warnenden Textes der einer solchen Warnung stets zu Grunde liegende Begriff von Dämonie unter der Hand aufgelöst werden. Dass Cazotte hier eine solche besondere Auffassung vom Bösen zumindest erprobt, erhellt schon am Kontrast der Titelfigur zu den märchenhafteren, aber auch dämonologisch konventionelleren Dämonenfiguren, die er anderswo gezeichnet hat. 541 Nicht zuletzt der Titel trägt zur Ambiguität Biondettas bei: Zwar handelt es sich eindeutig um Le diable, aber dieser ist ebenso explizit selbst amoureux, nicht nur ein vorgespiegeltes Objekt der Liebe, sondern ihr Subjekt. Ein Teufel, der liebte, wäre ein gerechtfertigter Teufel. Die Motivik des Tikkun, der reparierenden Sendung des Menschen (die hier freilich wie andernorts scheitert), hat Cazotte also aus der zurückgewiesenen alchemistischen Version mit ihren elementicolae nicht getilgt, und das Interesse illuministischer Kreise an seinem Werk mag mehr mit diesem Umstand zu tun gehabt haben als mit seiner mehr oder minder korrekten Wiedergabe auch anderswo divulgierter Beschwörungspraktiken. Wie auch immer die Wertung, die dieser Text an die kabbalistische Vorstellung von der Heilsaufgabe des Menschen heranträgt, genau zu fassen ist, für unser Interesse festhaltenswert ist jedenfalls die Tatsache, dass dieses Motiv hier über eine weitgehend literarische Filiation von Roman zu Roman in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hineinreicht. Eine genuin narrative Tradition stellt hier den illuministischen Mythen vom Tikkun ein Tikkun der Liebe und sogar der Erotik an die Seite. 2.4.6. Adams Fall in die Materie Wie sieht nun in Martines des Pasquallys Mythos die Heilsaufgabe des Menschen näher aus? Sie besteht zunächst in der Entsendung Adams, seinem Austritt aus der göttlichen Einheit. Adam wird zum Herrn der Welt und der darin Eingesperrten, also zum Gefängnisdirektor, der neben den Überwachungsaufgaben auch Erziehungsaufgaben erhält. Zieht man hier noch einmal Fourniés Version heran, so lässt sich für die erzieherische Aufgabe des Menschen eine, wie schon angedeutet, gnostische Konkretion 541 Vgl. vor allem den Dämonen Maugraby in „Histoire de Maugraby ou le magicien“ und „Histoire des amours de Maugraby avec Sœur des planètes, fille du roi d’Égypte“ in der Continuation des Mille et une nuits 1788: Hier sind die seelenfängerischen Absichten im Dienste des Zatanai viel plakativer im Sinne der traditionellen Dämonologie, was allerdings auch mit dem märchenhaften Genre zusammenhängen mag (Cazotte 1817 II, S. 119ff. und S. 382ff.). 254 gewinnen. Die gefallenen Geister haben ja insbesondere das Wissen um die Realität Gottes als des einzigen wahrhaft existierenden und allgütigen Wesens verloren. Blieben sie in diesem Nichtwissen und in ihrer nichtigen Selbstbehauptung, so würden sie ewige Qualen erleiden. Die Aufgabe des Menschen ist es jedoch, von dieser Wahrheit Gottes zu zeugen. Demnach ist es gerade die Rückgewinnung eines verlorenen Wissens, die Adam Luzifer ermöglichen soll. Der Gefängnisdirektor ist ein Lehrer, dessen erkenntnisvermittelnde Tätigkeit zugleich die Möglichkeit des sittlichen Guten für die Gefallenen wieder herstellen müsste, so dass sie im willentlichen Ergreifen der Wahrheit auch wieder zum Guten gelangen könnten. Für seine Aufgabe erhält Adam Macht über die materielle Welt, auf die er als Sekundärursache einwirken soll. In einer „Instruction secrète“ des Ordens ist Adam gar analog zur neuplatonischen Weltseele als „âme spirituelle du monde temporel“ 542 bezeichnet. Aber gerade diese Machtstellung, sowie die mit seiner neuen Position verbundene Trennung von Gott wird ihm zum Verhängnis. Als Gott ihn nämlich zum Statthalter über die Erde einsetzt, verfällt Adam, ähnlich den schon Gefallenen, darauf, über seine Macht in ihrer Eigenheit nachzudenken, also gewissermaßen Subjektivität zu entfalten, an die eigene Herrlichkeit zu denken. Nun gibt es aber nach Martines keine autonome Vernunft und kein autonomes Denken. Wie in allen Traditionen der philosophia adepta wird Wissen und Vernunft stets als Teilhabe, nie als Eigenleistung begriffen. „Pensant“ ist man demnach eigentlich nur in und mit Gott, der alle Rationalität als Totalität in sich begreift. Jedes Ausscheren aus dem göttlichen Denken kann nur Unvernunft sein. Indem er seine Gedanken auf sich selbst richtet und aus dem vollkommenen Gleichklang mit Gott herausfällt, begibt sich der Mensch der Möglichkeit des Denkens überhaupt. Die Tatsache, dass er damit zugleich sein eigentliches, spirituelles Wesen verfehlt, drückt der Mythos dadurch aus, dass er ihn in Ekstase verfallen lässt. Da er nun aus sich selbst herausgetreten ist, ist in ihm ein geistiges Geschehen möglich, das vorher, insbesondere während seines innigen Gleichdenkens in und mit Gott, nicht möglich war. Er kann - und das ist die Bedingung menschlichen Denkens bis auf den heutigen Tag - nur noch Gedanken fassen, die ihm von Zwischenwesen, seien sie gut oder böse, übermittelt werden. Diese Einflüsterungen nennt man je nach ihrer Qualität gute oder böse Intelligenzen. 543 Das jedem Menschen wie ein Schutzengel zugeordnete gute einflüsternde Wesen ist der von Gott zu diesem Wesen gesandte Intellekt oder inférieur, der jedoch von dem Subjekt, zu dem er geschickt wird, dem mineur, unab- 542 „Instruction secrète des conducteurs en chef des colonnes d’orient et d’occident, et d’un vénérable maître du temple“ in: Amadou 1988, Zitat: S. 44 543 Die Nähe dieser Konzeption zu gewissen talmudischen Vorstellungen hat Le Forestier 1928, S. 193 aufgezeigt. 255 hängig zu denken ist. 544 Vereinigt er sich mit dem seelischen Menschen, so verändert er auch dessen ontologischen Status, denn die Vier, die Zahl des mineur, wird durch die Addition der Drei, die dem Intellekt oder inférieur gehört, zur Sieben, zur Zahl des majeur oder Geist (esprit). Insofern wäre ein vollkommen mit seinem Intellekt verbundener Mensch schon kein Mensch mehr, sondern ginge in die göttliche Sphäre (supérieur) über. Die Reintegration wäre geglückt, und zwar bezeichnenderweise durch die Vereinigung mit einem Erkenntnisträger; sie ist einmal mehr gnostisch gefasst. Diese ‘Hochzeit’ zweier Wesen zur Stiftung eines höheren steht im übrigen deutlich jenseits der christlichen Anthropologie. 545 Statt in diesem Sinne „pensant“ zu sein ist der Mennsch in seinem verirrten Zustand nun „pensif“: Le Forestier weist auf den Anklang an passif hin, 546 was im Kontext eines als Empfangen aufgefassten Erkennens unmittelbar einleuchtet. Adams Sündenfall geschieht nun, da ihn in seinem Moment der Ekstase böse Intelligenzen erreichen, die von den gefallenen Geistern stammen. Durch die Verbindung von Ekstase und Einflüsterung wird Adam also weitgehend entlastet. Dies gilt jedoch nur für die Herleitung der Erbsünde, nicht für ihre Konsequenzen. Die bösen Wesen konkretisieren Adams selbstbezügliche Meditation dahingehend, dass sie in ihm den Wunsch wecken, selbst Schöpfer neuer Wesen (also wiederum von einer Sekundärursache zu einer primären) zu werden und sich dazu der von Gott geschaffenen und in Adams Gewalt gestellten Materie zu bedienen. Dieser Wunsch steht nun gegen eine weitere Bestimmung Adams, welche darin gelegen hätte, in der Einheit mit Gott neue Geistwesen zu schaffen, die Gott im Einklang mit Adam emaniert hätte. 547 Der Schöpfer hatte dem spirituellen Adam einen Logos („verbe“) gegeben, der die Intention und der Wille war, durch den Adam mit einem schöpferischen Machtwort mit Gott zusammen eine spirituelle Nachkommenschaft hervorbringen sollte. Die drei Elemente dieses Logos („verbe“) waren: Intention, Wille, Wort 544 In der „Instruction secrète“ ist ein Intellekt: „une influence spirituelle, un être créé de l’esprit émané de Dieu. Il suit, immédiatement sa destinée vers le sujet auprès duquel il est envoyé par l’ordre et par la puissance de l’esprit dont il dépend...Cet intellect, être spirituel simple, n'a et ne peut prendre aucune forme et figure corporelle pour se faire voir, entendre et connaître à l’homme qui le désire et le cherche par son travail journalier dans l’ordre...Il se fait connaître à l’âme par un son distinct qu’il occasionne dans l’air auprès de nous, ou par voix lente que nous nommons conversation secrète entre l’âme et l’intellect...il laisse cependant connaître sa présence invisible par des formes caractéristiques et hiéroglyphiques à celui qu’il doit diriger. Il porte aussi avec lui son nombre particulier, qui est ternaire...“ (Amadou 1988, S. 35) 545 „Instruction secrète“ in: Amadou 1988, S. 37 546 Le Forestier 1928, S. 28 n. 547 Le Forestier 1928, S. 200, weist darauf hin, dass die Kabbala die Vorstellung kennt, Adam hätte, wenn er nicht gefallen wäre, mit dem Heiligen Geist spirituelle Nachkommen hervorbringen können, die als dessen Emanationen anzusehen gewesen wären. 256 („parole“). Dies sind abhängige Bildungen, die von der im Rahmen der Schöpfungstheologie Martines’ schon referierten höheren analogen Trias der Aktionsweisen Gottes abstammen. Die drei Aktionsweisen dieses Logos gehören also Adam aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit auch dann noch, als Gott ihn von sich trennt, damit Adam Gottmensch („homme- Dieu“) auf der Erde sei. Die spirituellen Gestalten, die er damit hätte schaffen können, wären genau jene gewesen, die in der Imagination des Schöpfers waren, keine anderen, und sie hätten also auch nicht von irdischer Gestalt sein können. Sie hätten Adams feinstofflichen Glorienleib besessen, eine nur erscheinende („apparente“) Gestalt, die der Geist zeugt („enfante“), und die sofort reintegriert wird, sobald sie entsteht. Die Glorienleiber, die er im Einklang mit Gott hätte produzieren sollen, hätten der Inkorporierung anderer mineurs dienen sollen, die Gott aus sich herausstellen würde. Adam hätte also den Leib, Gott die Seele bereitgestellt. 548 Dies führt zu einem besonders interessanten Aspekt der Erschaffung des Menschen: Auch ein mit Gott zusammen emaniertes Geistwesen, das selbst nicht gefallen ist, müsste gleichwohl reintegriert werden. Die Konkretisation dieses Wesens ist bereits ein Mangel an Gottnähe. Die von Gott gertrennte Welt ist schon hier so kompliziert, so gottfern und in sich differenziert, dass eine Reparatur vonnöten ist. Gott selbst schafft im Dienst der Aufgabe, die er für den Menschen hat, bereits eine Not, die er beheben muss. Alles, was draußen existiert, ist schon dadurch getrennt von ihm. Gleichwohl ist der geistige Mensch ein göttliches Wesen, ein „homme- Dieu“ (der Begriff „Dieu“ ist für Martines von geringerem Wert als der des „Créateur“ und kommt im Unterschied zu diesem auch emanierten Wesen zu), der unsterblich, geistig und ‘impassiv’ ist, das heißt unbeeinflusst von den Elementen und vom Zentralfeuer, nur der „influence pure et simple“ 549 untergeordnet. Adam verweigert sich nun dieser - gemäß kabbalistischer Tradition: ungeschlechtlichen 550 - Geistzeugung. Stattdessen schafft er nach seinem Bilde ein materielles Wesen, indem er Gottes Schaffenstechnik nachahmt: Wie dieser zieht er sechs konzentrische Kreise (den sechs Schöpfungsgedanken und -Tagen analog), unterlässt es aber, jenen siebten Kreis zu ziehen, der Gottes besondere Verbundenheit mit Adam (wohl im Kultus des Sabbat) ausdrückte. Adam verfehlt Gottes Schöpfung also gerade um den Aspekt, der sein eigenes Wesen bestimmt hatte, nämlich den der Gottverbundenheit und Spiritualität. Damit aber verändert Adam die Natur insge- 548 Mazet 1979, S. 306, begründet diese Lesart einer dunklen Passage des Traité unter Heranziehung einer sehr klaren Passage in einem Brief von Martines’ Schüler Willermoz. 549 Martines 1771, S. 117 550 Das Hermaphroditentum Adams und seine Fähigkeit zu ungeschlechtlicher Zeugung ist etwa ein Motiv des Sohar. Vgl. hierzu Bonheim 1992, S. 208 n., der dies als mögliche Quelle für eine ähnliche Konzeption bei Jakob Böhme ansieht. 257 samt, er bringt sie aus dem Gleichgewicht. Martines bemerkt, die Natur sei von nun an „physiquement condensée.“ 551 Dies lässt sich unter Heranziehung von Vorstellungen, die dann Saint-Martin 552 genauer entwickelt hat, so deuten: Oben wurde schon referiert, dass die von Gott geschaffene Materie nach Martines nicht mit der uns Heutigen erfahrbaren Materie identisch ist: Sie ist geistiger, leichter, ‘feinstofflich’. Durch Adams Eingriff verdichtet und verdüstert sich nun die Materie. Adam nimmt demiurgische Züge an; die gnostische Tendenz der Entlastung des höchsten Gottes durch einen Demiurgen ist damit in einer besonderen Erbsündenlehre christianisiert: Im Sinne der schon erwähnten paulinischen Konzeption von Römer 8, 18-22, wird die Schöpfung insgesamt von Adam mit in die Tiefe gerissen. Die verdichtete Materie ist nach Saint-Martin eine Wunde in der geistigen Natur. In diesen geistigen Lebenszusammenhang hat der Mensch durch seinen vergröbernden Eingriff ein Loch gerissen, das ontologisch leer, materiell voll ist. Die grobstoffliche Materie ist Illusion, gerade weil sie dichter und schwerer ist als die lebende feinstoffliche Natur. (Näheres dazu in unserem Kapitel III 3. zur illuministischen Naturphilosophie.) Aufgrund dieser Schuld des Menschen sagt Saint-Martin in Le ministère de l’homme-esprit, der Mensch sei das Grab der Natur. 553 Das Materiewesen, das Adam in Martines de Pasquallys Erzählung nun schafft, ist demgemäß auch ein Schreckensbild. Er gerät darüber in Verzweiflung und bittet in seiner Reue Gott um Vergebung und Versöhnung. Er erkennt seine Schuld an und verewigt diese Anerkenntnis, indem er dem Wesen den Namen Houva oder ‘Männin’ („Hommesse“) gibt, was nach Martines bedeutet: ‘Fleisch von meinem Fleische’, ‘Bein von meinem Beine’ und ‘Werk meiner befleckten Hände.’ Hier sind offenbar zwei Genesis-Stellen übereinandergelegt: In I Mose 2, 23 erkennt Adam die aus seiner Rippe geschaffene Frau als Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch und nennt sie daher „Ischa“, also Frau, etymologisch übersetzt ‘Männin’ (Isch / Ischa sind die beiden hebräischen Begriffe für ‘Mann’ und ‘Frau'), die vom Manne Genommene. Aber nicht ‘Ischa’ setzt Martines hier ein, sondern „Houva“, wohl eine französisierte Schreibung von „Chawwa“, zu Deutsch ‘Eva’. Die Bedeutung dieses Namens ist wiederum Bestandteil der biblischen Geschichte, aus der er stammt, diesmal I Mose 3, 20. Da Eva die Mutter aller Lebenden sein wird, wird sie eben mit dem Namen Chawwa belegt, der dem hebräischen Wort für ‘Leben’ nahesteht. Die (für die Kabbala wichtige) Technik, Zusammenhänge in Namen aufzuheben 551 Martines 1771, S. 115 552 Saint-Martin 1800, I, S. 289 553 Saint-Martin 1802, S. 58-59 258 und über die Namensdeutung wiederum erschließbar zu machen, 554 wird hier also aus der Bibel direkt übernommen, aber die Inhalte werden charakteristisch verändert. Denn dass hier nicht banalerweise nur die Bibel fehlerhaft zitiert wird - was bei einem, wie sich bislang wohl schon zeigte, kommentierend und diskutierend teils an ihr entlang, teils gegen sie gesetzten Erzähltext wie diesem ohnehin unwahrscheinlich ist -, zeigt sich wohl schon in der Deutung, die Adam dem Namen „Houva“ gibt: Neben den beiden Bedeutungen von „Ischa“ wird nämlich auch ein Element der zweiten Genesis-Stelle mit hereingenommen. ‘Werk meiner befleckten Hände’ spielt just auf den Zusammenhang an, in welchem der Name Evas zum ersten Mal fällt: die Erbsünde. Erst bei der Vertreibung aus dem Paradies wird die Abstammung aller Menschen von Eva aktuell. Zusammengelesen bedeutet das für die Stelle im Traité: Dass Adam nach seinem Bilde ('Fleisch von meinem Fleische') ein Wesen geschaffen hat, das nun Ausgangspunkt eines grobstofflichen ‘Lebens’ sein wird, genau das erkennt er in dieser Benennung als seine Sünde an, und darin besteht nach Martines die Erbsünde, die I Mose 3 durch einen anderen Mythos darlegt. Die Erbsünde ist parallel zu der Sünde Luzifers, denn in beiden Fällen wird die Abhängigkeit von Gott in Frage gestellt. Aber in dem Maße, in welchem Adams Sünde konkreter ist (er will wie Gott selbst etwas erschaffen), ist sie auch weniger schwer, denn er behauptet nicht eine absolute Unabhängigkeit von Gott, die ihn vom Wissen um die Wahrheit Gottes ebenso abtrennen würde wie den Teufel. Die beiden Sünden sind wie Urbild und Abbild aufeinander bezogen und in ähnlicher Weise ontologisch zu unterscheiden. Die Selbstsetzung Luzifers macht das Andere Gottes allererst denkbar, und in dem dadurch geöffneten Raum spielt sich die Verfehlung Adams ab, aber sie ist dazu sekundär. Daher erscheint sie im Mythos auch als Verführung durch Luzifer. Wie Saint-Martin bemerkt, ist demnach auch der Fluch, der auf Adams Nachkommen lastet, nicht die Schuld selbst, sondern nur noch die negative Veränderung seiner Möglichkeiten, die Adam sich selbst zugefügt hat. 555 Adams Leib verwandelt sich nun in einen ebensolchen Leib wie der Evas es ist. Beide werden auf die grobstoffliche (heutige) Erde gestürzt. In neuerlicher Betonung der Selbstbeschränkung Gottes durch Machtaufgabe lässt Martines diesen jedoch, obwohl ihm das Materiewesen missfällt, Adams Schöpfung krönen, indem er dem neuen Wesen ein Geistwesen eingibt, das selbst ein mineur, ein geistiger Mensch, ist. Damit ist der Mensch in einem Materieleib gefangen, und alle künftigen Generationen 554 Martines wendet diese Technik im Traité unentwegt an, ohne dass man, wie Le Forestier wohl zu recht meint, die Zuschreibungen mit Hilfe der kabbalistischen Traditionen im Einzelnen wirklich plausibilisieren könnte; sie sind wohl teils imaginär. Vgl. Le Forestier 1928, S. 183. 555 Saint-Martin 1802, S. 32 259 müssen, statt in einem Glorienleib, in einem solchen Gefängniskörper zur Welt kommen. Dieses soma/ sema hat ihr Vorfahre Adam selbst geschaffen, es ist seine Sünde und seine Strafe zugleich und der Fluch über seine Nachfahren - und ist außerdem noch Frucht der Gnade Gottes, der den Erdenleib als Schöpfung seines Bundesgenossen durch diese Einschließung vollendet, weil er von seinem Versprechen nicht abweichen kann, ohne seine Identität als unveränderlicher Gott zu zerstören. Nach dem Tode wird der mineur aus diesem grobstofflichen Leib wieder befreit. Da aber auch schon der urprüngliche feinstoffliche Leib Adams nur ein Hilfsmittel für seine Sendung war, muss die Reintegration am Ende ganz ohne Körper stattfinden. Konsequent lehnt daher Saint-Martin die damals übliche Übersetzung von Hiob 19,26 mit „Ich werde in meinem Fleisch Gott sehen“ ab; er argumentiert bereits philologisch für eine Deutung der Stelle, die der heute üblichen Version „ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen“ entspricht, 556 nutzt also die philologischen Möglichkeiten, die die Bibelkritik des achtzehnten Jahrhunderts geschaffen hat, als Instrument für seine von der Gnosis beeinflusste Argumentation. Freilich haben die anderen ‘Vierergeister’ oder mineurs, die in diese Leiber geschickt werden, an der Tat Adams eigentlich keinen Anteil; sie müssen nur die Folgen tragen. Es ist also nur konsequent, dass die Martinisten die Erbsünde nicht als Schuld, sondern als ererbten Schaden auffassen. Bemerkenswert an dieser Sequenz ist die anspruchsvolle Schilderung von Verstrickungen und Notwendigkeiten, die diesen Mythos in besonderer Weise als Instrument gerade bei der Verhandlung der dringenden Theodizeefragen des achtzehnten Jahrhunderts (man denke an Leibniz oder an Voltaire und das Erdbeben von Lissabon 557 ) nutzbar macht. Darin ist er den ebenfalls aus jüdischen Traditionen entwickelten Überlegungen analog, die im zwanzigsten Jahrhundert Hans Jonas zur gedanklichen Bewältigung der Shoah aufbot. Der Schöpfer erscheint beinahe selbst als Opfer jenes „Dramas der Freiheit“ (Rüdiger Safranski), das er in seiner Selbstbeschränkung in Gang gesetzt hat. Gleichzeitig wird Martines’ Schöpfergestalt nirgends 556 Die beiden zitierten deutschen Versionen entsprechen der ursprünglichen Lutherübersetzung (Luther 1956, X,1, S. 44-45; überarbeitete Ausgaben der Lutherbibel gleichen diese der neuen Lesart an) und der neuen Einheitsübersetzung. Luther hält sich in seiner Deutung an die Vulgata, die die Stelle Job 19, 26 mit „in carne meo videbo Deum“ wiedergibt. Saint-Martin 1782, II, S. 64, legt dar, dass Niquephou nicht ‘umgeben’ (mit Fleisch), sondern „il a brisé, il a coupé, il a corrodé“ bedeuten müsse. Folglich wäre die Stelle so zu verstehen: „Lorsque mes maux auront corrodé ou détruit mon enveloppe corporelle, je verrai Dieu, non pas dans ma chair, comme disent les traducteurs, mais hors de ma chair. Car dans...mibbefari...la particule...mem est un ablatif extractif qui représente l’existence, hors d’un lieu, hors d’une chose, et non pas l’existence dans cette chose ou dans ce lieu“. Die Geschichte der Bibelübersetzung hat ihm Recht gegeben. 557 Hierzu vgl. unter anderem Behrens 1994. 260 zum bloß strafenden Gott. Er stürzt die gefallenen Geistwesen in ein Gefängnis, das letztlich eine Besserungsanstalt ist. Er schließt auch Adam nicht einfach ein in den Leib, den dieser geschaffen hat, sondern er erhört in erster Linie dessen Gebet, seine misslungene Schöpfung zu retten und zu krönen. Auch die traditionelle Aporie zwischen Weltekel, gar gnostischer Abwertung der Materie, und Schöpfungsglauben ist in dieser Erzählfolge aufgehoben und in eine Filiation überführt: Die Materie ist Gottes Schöpfung, aber mit einem Ziel, das selbst schon in Funktion zum ersten Sündenfall steht. Ihre unzureichende heutige Form hat sie erst durch den Fall des Menschen angenommen. Der Geistleib des Menschen steht als Gottes Schöpfung zwar dem Materieleib als Produkt des Falles gegenüber, aber die Konjunktion beider ist das erste Gnadenzeichen des verzeihenden Gottes und daher nicht gering zu achten. 2.4.7. Reintegration Dem Fall, der damit in doppelter Form den martinistischen Mythos bestimmt, steht ein Aufstieg gegenüber, der auch die Verheißung dieses Mythos ist und daher integrierender Bestandteil desselben. Um was es Martines vor allem geht, das ist, wie der Titel seiner Schrift schon zeigt, die Reintegration, die Korrektur des Falles sowohl des Menschen als auch des Teufels. Wir haben schon gesehen, wie der Mensch dies auf der Ebene der Heilsgeschichte in der Welt bewirken soll oder hätte sollen. Aber auch die Rückkehr des einzelnen Menschen zu Gott ist eine Reintegration, und auf dem Weg dorthin gehen die heilsgeschichtlichen Tätigkeiten weiter. Innerhalb des Kosmos der Martinisten ist diese Reintegration des Einzelnen auch eine Bewegung in der kosmischen Ordnung. Der Mensch muss nach dem Tod aus dem Gefängnis der Erde und des Leibes emporsteigen. Sein Wirken in dieser Welt, sowie okkulte Praktiken der Beschwörung, Evokation und Theurgie entscheiden hier über den Erfolg. Das erinnert durchaus an gewisse gnostische Techniken, wie der Aufstieg vorbei an den zu überwindenden bösen Archonten zu bewerkstelligen sei; hier spielen insbesondere Machtworte eine wichtige Rolle. Hier wie dort geschieht dieser Aufstieg auch von einem Kreis zum nächsthöheren, immer weiter aus den Festlegungen und Konkretisationen der Gefängniswelt hinaus zu Gott. Bei Martines folgt auf den sensiblen Kreis, den Erdkreis, der sogenannte visuelle Kreis, der weiter oben im Universum liegt. Ziel des innerweltlichen Weges ist der oberste, der intellektuelle Kreis. Christi Heilstat hat dem Menschen den Weg dorthin verkürzt, aber es bedarf gleichwohl nicht wenig, dorthin zu gelangen. Naturgemäß erfahren wir aus dem Traité keine Details über die Tätigkeiten der Verstorbenen im visuellen Zirkel, aber schon in diesem Leben, im sensiblen Kreis, muss einiges an Kultus und Theurgie geleistet werden, damit der Mensch für den Aufstieg gerüstet ist. Es geht wohl bei diesen Operationen im wesentlichen darum, die 261 Spuren der Materie und der Materieverfallenheit zu tilgen, sich zu vergeistigen und dadurch die ursprüngliche Macht der Menschen über die anderen Geistwesen wiederzuerlangen. Nun geht die Arbeit des geistigen Menschen weiter. Am Ende der Zeiten muss der mineur gegen die gefallenen Geister bestehen und an ihrer Reintegration mitwirken. Wie das genau aussehen wird, erfahren wir nicht aus dem Traité sur la Réintégration, aber das wäre vielleicht auch etwas zu viel verlangt. Was wir jedoch erfahren, ist Gottes Vorhaben mit der Zeit am Ende der Zeit. Ein Weltgericht wird kommen, das beurteilt, was nach der Zeit geblieben ist, und zugleich für seine Strafmaßnahmen noch einmal neue, überkosmische und überzeitliche Zeit benötigen wird. Wer in der Zeit nicht umgekehrt ist, wird noch einmal in eine Ewigkeit (aber nicht die Ewigkeit) des Leidens gestürzt werden, bevor er reintegriert werden kann. Das Weltgericht benötigt also für die Abschaffung des Zeitlichen neue Zeit, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sind die Begriffe der Strafe und der Besserung letztlich nicht überzeitlich denkbar. Auch die Höllenvorstellungen des Volksglaubens müssen sich in ihrer Vorstellung von ewigen Qualen noch an der Zeit orientieren, denn die Ewigkeit dieser Qualen als solche zu erleben setzt das Erlebnis von ablaufender Zeit voraus, von den technischen Abläufen der Qualen selbst gar nicht zu reden. Aus diesem Zirkel entkommt nur eine etwas abstraktere Vorstellung von Verdammnis, die diese als Selbstverlust durch eine in der Zeit nicht mehr korrigierte und ohne das Gnadengeschenk des Purgatoriums nicht mehr korrigierbare Selbst-Entstellung begreift, einen Verlust des Menschlichen an die Nichtigkeit des Bösen (und damit natürlich ohne den Begriff der Strafe auskommt). Genau dies aber nimmt Pasqually nicht an, und das führt uns zu dem zweiten Grund für die Neuauflage der Zeit nach dem Ende der Zeit: Eine apokatastasis ton panton kann nur gelingen, wenn auch dem Letzten noch die Möglichkeit gegeben ist, sich noch zu reinigen und damit zu retten. Dafür gibt es diese neue Zeit der Reinigung. Wenn aber die Geschichte solchermaßen immer und für jeden, der in ihr fällt, ein immer neues Netz ausspannt, wieso soll der Einzelne sich überhaupt noch bemühen? Diese Frage rührt an den Nerv jeder christlichen Ethik, ganz zu schweigen von einer theurgischen Praxis einer Einweihungssekte: Wozu all die geheime und wohl teils mühevolle Praxis, wenn für mich immer schon gesorgt ist und ich mich am Ende der Geschichte gerettet wissen darf? Martines de Pasquallys Antwort darauf bewegt sich nun wieder vom Tikkun weg und auf bestimmte christliche Paradiesvorstellungen zu (wie sie vor allem bei Dante dichterisch Gestalt gewonnen haben), nach denen die Differenzen des Diesseits auch im Jenseits nicht zu tilgen sind. Analog zur dionysischen Vorstellung einer Hierarchie der Engel wird es am Ende auch eine Hierarchie der Seligen und damit der Seligkeiten geben, und 262 zwar bei Pasqually eine Zweierhierarchie. Am Ende werden diejenigen, die noch in der Zeit reintegriert worden sind, die also den Weg zu ihrem Schöpfer in der Zeit (einschließlich ihrer Operationen nach dem Tode, aber vor dem Gericht) gefunden haben, seliger sein als die, die erst danach reintegriert worden sind. Dies aber bedeutet, dass auch Gott selbst nach der Geschichte nicht wieder in seinen vorgeschichtlichen Zustand zurückkehren kann: Christus wird auf alle Zeiten nicht mehr in seine Ausgangslage in der göttlichen Unendlichkeit zurückkehren können, denn er wird (als unterscheidendes Wort) die Aufgabe haben, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Das heißt, ein Aspekt Gottes wird durch die Geschehnisse der Geschichte auf alle Zeiten gebunden sein. Christus muss verschieden auf die zuerst und die zuletzt Reintegrierten einwirken. Die Tatsache, dass eine solche Unterscheidung die Aufrechterhaltung einer Zweiheit, einer Spaltung, in der Gottheit impliziert, wird hier also mythisch als Aufgabe Christi, der nicht gänzlich zum Vater zurück kann, beschrieben. Noch in dieser Spaltung leidet der Schöpfer an seiner Schöpfung, die Narben der Zeit bleiben bestehen. Die Differenz, die der Preis der Herrlichkeit war, und aus der die Geschichte kam, ist am Ende auch der Preis der Allgüte, denn nur wenn Gott auf die Rettung aller Wesen verzichtete und die Bösen ins Nichts stürzen ließe, könnte er diese Differenz ausräumen. Der Mythos Martines de Pasquallys will noch einmal die Welt durch eine Erzählung von Gut und Böse plausibel machen. Besonders in den Ausblühungen dieser Geheimerzählung in den veröffentlichten Texten Saint- Martins, Fourniés und anderer wird die in ihr liegende Tendenz, jedes Detail der Natur, der Geschichte und der Moral aus dieser Erzählung herzuleiten, in immer neuen Einzelheiten offenbar. Dem narrativen Genese- Modell der offiziellen Philosophie tritt so eine geradezu mythomane Narrationslogik gegenüber, die genau wie jene den unübersichtlichen Zustand der Gegenwart durch eine Genesis begründet und auch genau wie sie als wichtige Größe in dieser erzählenden Deutung ein genau festgelegtes Bild vom Menschen hat. Dieses nach Saint-Martins Auskunft in Innenschau mit Hilfe des inneren Christus-Logos zu gewinnende Bild ist der Schlüssel zu Welt und Geschichte. 2.5. Die Emanzipation der Geschichte von der Genese Die fiktionale oder mythische Erzählung markiert, wie wir sahen, eine Grenzlinie des Analyse-Genese-Modells. Eine andere stellt die Geschichtsschreibung dar, die, wie wir anhand der Sprachgenesen sahen, innerhalb des gleichen Modells betrieben werden kann, von der aus sich jedoch drei Fragen an die Genese stellen lassen. Diese Fragen gehen auf die Gegebenheit der Ausgangsmaterialien (hypothetische Setzung oder Empirie? ), die Gewissheit der Ableitungsschritte (gibt es so etwas wie eine offene Ge- 263 schichte? ) und die Übertragbarkeit der Methode der kritischen Neugenese (stellt Geschichte die Gegenwart in Frage? ). 2.5.1. Condillac, Rousseau und die philosophes In seiner als Bestandteil des Ausbildungsprogramms für den jungen Prinzen von Parma verfassten Histoire Ancienne verweist Condillac auf die geschichtliche Gewordenheit aller Dinge, die auch für die Größe Roms gilt: Vous avez été étonné, Monseigneur, la première fois qu’on vous a parlé de l’origine de Rome. Il y avait trop loin pour vous d’un petit nombre de cabanes à la capitale d’un grand empire; et vous avez supposé que Rome a toujors été une ville puissante. Quoique vous commenciez, vous avez de la peine à comprendre que chaque chose a commencé […] 558 Die Erfahrung eigenen Werdens hätte den Prinzen darauf aufmerksam machen müssen, dass auch die großen Mächte und Zivilisationen einmal klein und unbedeutend waren. Es begegnen sich in dieser Formulierung zwei einander widersprechende Geschichtsauffassungen: eine solche von kontingenter Geschichte und eine solche von Geschichte als vorhersehbarer Genese aus gegebenen Grundelementen. Einerseits konnte man aus den niederen Hütten der ersten Stadtgründung nicht folgern, dass hier der Grundstein zu einem Weltreich gelegt wurde, andererseits wird die Entwicklung Roms durch den Vergleich mit derjenigen des Prinzen dann doch wieder wie eine Entfaltung im Sinne einer Genese dargestellt. Die Frage, die sich aus der geschichtlichen Kontingenz des Gegenwärtigen für einen Aufklärer ergeben müsste (und Rousseau hat sie, wie wir sehen werden, gestellt), wäre die nach der Zufälligkeit der gegenwärtigen Ordnung: Wenn alles begonnen hat - bedeutet dies, dass alles auch anders hätte kommen können und folglich die gegenwärtigen Verhältnisse aus der Perspektive ihrer Genealogie zu hinterfragen wären? Man denke an den Artikel „Maître“ in Voltaires Dictionnaire philosophique, wo gerade tradierte, scheinbar von Gottes Gnaden gegebene Herrschaft durch ihre Rückführung auf einen einzelnen Geschichtsmoment der Bemächtigung durch einen körperlich Stärkeren in Frage gestellt wird; und neben dieser hypothetischen Narration, einer „fable indienne“, 559 hat Voltaire auch seine eigentlichen Geschichtsdarstellungen (Essai sur le mœurs, Siècle de Louis XIV) kritisch zugespitzt. Von hier aus könnte man im Sinne der oben eingeführten Operation der korrigierenden Neugenese fragen: Hätte es nicht besser anders kommen sollen? Dass Condillac hier Voltaire nicht folgen kann, ergibt sich allerdings schon aus der Tatsache, dass seine Erzählung sich an den Spross einer Herrscherfamilie richtet. Die Infragestellung der 558 Condillac 1782, I, S. 19-20 559 Voltaire 1764, S. 373 264 Gottgegebenheit monarchischer Herrschaft wäre also aus Machtgründen hier nicht möglich. Condillac weicht daher in der Histoire Ancienne diesem Problemkomplex aus. 560 Condillac denkt Geschichte weitgehend noch im Rahmen des Genese- Modells. Aus den schon anlässlich ‘klassischer’ Sprachgenesen angeführten Gründen ist ja die Geschichte individueller intellektueller Entfaltung in diesem Modell nicht von der allgemein menschlicher Zivilisationsprozesse zu unterscheiden. An anderer Stelle, im „Discours préliminaire“ der ‘Grammatik’ dieses Kurses, weitet Condillac die in dem Zitat anklingende Parallelisierung des Heranwachsens seines Schülers mit der Entfaltung menschlicher Geschichte zur Methode aus: Die einzelnen Lernschritte des Prinzen sollen noch einmal die Entwicklung menschlicher Zivilisation nachvollziehen, denn die Entwicklung von Einzelnem und ganzer Menschheit sind analog. 561 Die Gewordenheit des Gegenwärtigen wird also, wie nicht weiter verwunderlich, nicht im Sinne einer offenen Geschichte, sondern im Sinne einer idealtypischen Genese aufgefasst; deshalb verläuft auch jede Entfaltung individueller Kenntnisse genau wie die Zivilisierung der Menschheit. Der widersprüchlichen Konzeption von Kontingenz versus Genese entspricht auf der Ebene der Geschichtswissenschaft eine Gegenstellung von Betonung unvoreingenommener Empirie und Reduktion von Geschichte auf voraussagbare Schemata. Wenn nämlich alles offen ist, alles sich entwickeln könnte oder auch nicht, dann kann Geschichtswissenschaft nicht hypothetisch betrieben werden, sondern sie muss sich an die empirische Bestandsaufnahme tatsächlicher Geschichtsdokumente halten, wie sie Bayle mit seiner „Liebe zum Faktischen“ 562 vorgemacht hat. Gegen die selbstverständlichen Annahmen einer hypothetischen Geschichtsschreibung betont Condillac die Notwendigkeit, Konjekturen auf ein Minimum zu beschränken und, wo immer möglich, empirische Daten der Geschichtserzählung zu Grunde zu legen; im Zusammenhang mit der Frage nach der 560 Er entfaltet hier, im Unterschied zu den Urgeschichtsspekulationen, denen wir bei seiner Sprachhistorie begegneten, die Alte Geschichte aus dem Alten Testament. Der historische Primat monarchischer Herrschaft wird so aus einer mythischen Urgeschichte belegt, ganz im Stile älterer Modelle von Geschichtsschreibung - und dies, obwohl Condillac sich frei genug von diesen Modellen fühlt, um die neutestamentarische Heilsgeschichte im Spalt zwischen Alter und Neuer Geschichte verschwinden lassen zu können; die Inkarnation gilt ihm nicht mehr als relevantes geschichtliches Ereignis. Damit umgeht er einfach das Problem, denn er muss die Entstehung von Gesellschaft (und mithin Herrschaft) nicht in gleicher Weise aus einem vorgesellschaftlichen Zustand herleiten, wie er die Sprache aus einem vorsprachlichen Zustand gewann. 561 Vgl. Condillac 1775/ 1782, S. 263 562 Cassirer 1932, S. 271 265 Bevölkerungsdichte der Erde vor der Sintflut kritisiert er denn auch die haltlosen Spekulationen seiner Zeitgenossen. 563 Andererseits übernimmt er von Montesquieu die Vorstellung einer in typischen Phasen ablaufenden und daher bis zu einem gewissen Grade voraussagbaren Geschichte. Ähnlich wie Montesquieu dachte, jeder Staatstypus trage eine ihm spezifische Möglichkeit der Dekadenz in sich, die dann etwa von der Monarchie zum Despotismus führe, nimmt nämlich auch Condillac an, Geschichte ereigne sich in wiederkehrenden Schritten, die jeweils aus den Gegebenheiten des ihnen voraufgehenden Stadiums zu erklären seien. Ihn interessiert dabei vor allem das Verhältnis zwischen Natur und Kultur: Geschichte ist in dieser Perspektive eine sich zyklisch wiederholende Stufenfolge idealtypischer Zivilisationsstadien, die das Verhältnis von Natur und Kultur in drei seiner vier logischen Möglichkeiten (wie bei einer Genese) entfaltet: Es gibt entweder nur Natur, oder naturgemäße Kultur, oder aber widernatürliche Kultur (die Möglichkeit eines Auftretens von Kultur ohne Natur ist wohl für das Lebewesen Mensch nicht anzunehmen). Diese drei Formen sind nun zugleich drei Stadien einer wiederkehrenden Abfolge, und getreu dem Analyse-Genese-Modell wird auch hier behauptet, so träten sie in der Geschichte tatsächlich auf. Auf eine Periode bloßer Naturnähe (einer relativ positiv bewerteten Barbarei) folgt die ideale Zivilisation als Entfaltung naturgegebener Möglichkeiten, geleitet durch die wahren Bedürfnisse, die die Natur in uns gelegt hat; darauf folgt eine neue und nunmehr negativ beurteilte Barbarei, wenn nämlich eine widernatürliche (und das heißt immer auch: nicht mehr rationale), nicht mehr von vernünftiger (und also naturgemäßer) Zivilisation kontrollierte Bedürfnisbefriedigung sich gleichwohl zivilisatorischer Mittel (etwa zum Zwecke des Luxus) bedient. Die darauf folgende Anarchie führt wieder in den Urzustand zurück. Die insgesamt trotz allem fortlaufende Genese menschlicher Rationalität als Fortschrittsgeschichte ist auf der Ebene der einzelnen Nationen in solche Zyklen artikuliert, 564 ähnlich wie bei Voltaire sich Fortschritt und unwandelbare Gesetzhaftigkeit des Menschlichen gegenüberstehen. 565 Daraus ergeben sich die Aufgaben des Fürsten, die Condillac seinem Zögling nahebringen möchte: Beschleunigen des ersten Schrittes, Verlangsamen des zweiten. Eine idealtypische (zweifellos selbst ‘genetische') Zyklik wird so in ein übergeordnetes Genese-Modell eingepasst. Die Entfaltungsstruktur der Genese im Großen und die Struktur des Zyklus im Kleinen geben den Rahmen einer wissenschaftlichen Berechenbarkeit von Geschichte ab, in der die Freiheit der Geschichtssubjekte nur eine solche 563 Condillac 1782, I, S. 6-7 564 Vgl. Knight 1969, S. 224 565 Vgl. Cassirer 1932, S. 290 266 zur Beschleunigung oder Verlangsamung ohnehin ablaufender Geschehnisse ist. Sowohl die Natürlichkeit von Geschichte wie die berechenbaren Kausalitäten ihrer möglichen Entfernung von der Natur verhindern so ihre Offenheit: Es gibt allenfalls etwas Richtiges und seine Verfehlung, und diese schlägt stets wieder in das Richtige um. Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, dass diese idealtypische Abfolge auch einen Rest eines zyklischen Geschichtsverständnisses bewahrt, das noch in der Rede von den révolutions durchschlägt. Mit Turgot und Condorcet werden diese Reste zugunsten der Vorstellung einer Fortschrittsgeschichte verabschiedet. Wie sein Vorbild Voltaire bleibt allerdings auch Condorcet in einem Widerspruch zwischen einer Vorstellung unwandelbarer Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns und einer Fortschrittsgeschichte befangen. 566 Die Konzeption der perfectibilité (ein zuerst von Rousseau negativ eingeführter, dann von Condorcet positiv umgeprägter Begriff 567 ) ist demgemäß zwar nicht mehr zyklisch, aber sie ist im Sinne einer Entfaltung angelegter Möglichkeiten zu verstehen und insofern mit dem Genese-Modell noch verwandt. Die an Condillac aufgewiesenen Widersprüche innerhalb des Diskurses der Geschichte sind intrinsische differenzierende Widersprüche, die sich in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in kritische verwandeln. Geschichtsschreibung verändert sich also durch die Realisierung von gegebenen Möglichkeiten innerhalb einer Struktur. Mit unserem Wissen um die Kritik als zentrale Denkform des ‘klassischen’ Zeitalters, wie sie Foucault dargestellt hat, sowie um das Analyse- Genese-Modell, das das Gegebene durch seine Herleitung erklärt, können wir sagen: Die Hinterfragung der Gegenwart durch ihre Geschichte steht im Mittelpunkt der ‘klassischen’ Wissensform überhaupt; exemplarisch zeigte sich dies an der Metaphysik-Kritik der Sensualisten. Mit Voltaires gerade erwähnter kritischer Geschichtsdarstellung hat jene gemeinsam, dass sie Kritik an einer ‘falschen’ Entwicklung vor dem Hintergrund einer Vorstellung ‘richtiger’ Abläufe übt. In dieser Perspektive ist Geschichte nicht wirklich offen, sondern lediglich fehlbar. Sobald aber kritische Geschichtsdarstellung nicht mehr nur eine Entfaltung von Komplexität aus ersten, sicheren Elementen ist, sondern eine Erzählung komplexer Kausalitäten, deren Aufeinanderfolge sich auch anders hätte ereignen können, tritt die Geschichte aus dem Horizont der Genese heraus. Erst dann kann ihr kritisches Potential voll zur Entfaltung kommen, denn dann ist nicht mehr nur eine als mangelhaft empfundene Gegenwart mit einer postulierten idealen Entwicklung vergleichbar, sondern auch das fraglos Gegebene (und etwa nicht als mangelhaft Empfundene) wird generell als Kontingen- 566 Vgl. Cassirer 1932, S. 290-292. 567 Rousseau führt ihn im zweiten discours ein, Condorcet verwendet ihn in seiner berühmten Esquisse. Vgl. Minski 1998, S. 19. 267 tes hinterfragbar: Wenn alles auch anders hätte kommen können, muss nichts so sein, wie es ist. Die Ablösung der Genese als hypothetischer Ausfaltung von Komplexität durch die Geschichte als Abfolge nicht mehr in dieser Entfaltung aufgehender Ereignisse ist innerhalb des Diskurses der Geschichte gleichzeitig eine Ablösung eines älteren, quasi statischen Begriffs von Historie durch jenes dynamische Geschehen, das wir noch heute mit Geschichte verbinden. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat in seiner Studie Geschichte als absoluter Begriff eine solche Herausbildung einer Vorstellung von Geschichtlichkeit im Unterschied zu einem tradierten Konzept von Historie als quasitopischer, nicht in geschichtlicher Bewegung begriffener Anordnung von „Praecepta, Weisheiten, Loci communes“ 568 anhand der Diskussion zwischen Süßmilch und Herder über die Ursprache dargestellt. Mit dem Heraustreten der Episoden von Geschichte aus einem in sich logisch verfassten System entsteht eine „Veränderungsgeschichte, die Widersprüchliches enthält“, denn nun sind die einzelnen historischen Elemente nicht mehr Teile eines widerspruchsfreien Ganzen, sondern bloß Aufeinanderfolgendes, dessen Abfolge nur mehr erzählt werden kann. 569 Diese Veränderung ist eine „Verzeitlichung des Begriffs Historie“, insofern, als hier ein „Wechsel von einer Dispositionslogik einer Geschichte zum Bildungskonzept von Geschichte“ vorliegt. 570 Es sei nur en passant bemerkt, dass Süßmilchs Argumentation wie diejenige Saint-Martins aus dem (von Condillacs Konzeption von den natürlichen Zeichen ausgehebelten) Argument Rousseaus, zur Einführung von Sprache hätte es bereits der Sprache bedurft, die Gottgegebenheit der Sprache folgert. Herders Antwort geht über Condillacs Version in charakteristischer Weise hinaus: Die Sprache ist wohl eine Umbildung natürlicher Gegebenheiten, verdankt sich aber gleichwohl einem als ein Moment der Diskontinuität bewerteten Schritt aus diesen heraus (und nicht einer unmerklichen Entwicklung) - insofern, als sie mit einer Selbstreflexion des Menschen einhergeht, die ihrerseits „durch die Unbestimmtheit seiner Lebensenergie in Trieben möglich wurde“, also einem spezifisch menschlichen Zustand, der von der diesbezüglichen Festlegung der Tiere unterschieden ist. 571 Dieser Ausgang aus der Natur ist bei Herder die Bedeutung der biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies. Für Frankreich hat Paul Geyer eine in mancher Hinsicht ähnliche Herausbildung einer Vorstellung von Geschichtlichkeit bei Rousseau, teils ebenfalls anhand der Ursprachendiskussion, dargestellt. Ein Blick auf Rousseaus Geschichtsverständnis hinsichtlich der Sprachthematik kann 568 Schmidt-Biggemann 1991, S. 21 569 Schmidt-Biggemann 1991, S. 27 570 Schmidt-Biggemann 1991, S. 28 571 Schmidt-Biggemann 1991, S. 33 268 uns helfen, diese französische Entwicklung auch wieder an die oben referierten Sprachgenesen anzuschließen. Isabel Knight hat gezeigt, dass Rousseau besonders hinsichtlich seines Begriffs von der Natur als Führerin viel von Condillac gelernt hat (dessen Konzeption davon uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird). 572 Das große Thema Rousseaus ist bekanntlich das Heraustreten des Menschen aus dem von der Natur vorgegebenen Rahmen: Ist dieser Sündenfall durch eine korrigierende Neugenese behebbar, ähnlich der Neubildung metaphysischer Begriffe bei Condillac? Und: wenn die Entfernung von der Natur ein geschichtlicher Unglücksfall war, sind dann nicht die gegenwärtigen Machtverhältnisse fragwürdige Produkte eines aus den Garantien der Naturordnung heraus gefallenen Zufallsgeschehens? Rousseaus Genealogie der Eigentumsbegriffe im Discours sur l’origine de l’inégalité versucht in der Tat eine solche Kritik durch Aufweis von Kontingenz. 573 Wie aber denkt Rousseau im Gegensatz dazu den verlorenen Ursprung der Sprache? Im Essai sur l’origine des langues lässt Rousseau die Sprachgeschichte in einem südlichen, günstigen Klima beginnen. Dort lebten die Menschen nicht in größeren organisierten Gesellschaften, da sie keinen Ackerbau betreiben mussten, der dies notwendig gemacht hätte, sondern Jäger und Hirten waren. 574 Daher ist die Ursprache des Menschen nicht durch Bedürfnisse diktiert, sondern bei den Begegnungen der Jünglinge und Mädchen, etwa beim Wasserholen an der Quelle, als singender Ausdruck menschlicher Emotionalität entstanden. 575 Wie Geyer 576 gezeigt hat, ist jedoch für Rousseau diese Emotionalität selbst keine dem Menschen von Anfang mitgegebene, sondern eine historische Errungenschaft, die sich menschheitsgeschichtlich nach einer Phase der Instinkte und vor der Entdeckung der Rationalität ansetzen lässt. Die Sprache ist damit dem Menschen nicht ursprünglich gegeben; sie tritt im Laufe seiner Entwicklung erst auf, markiert aber zugleich den Moment der eigentlichen Menschwerdung bei der Ausdifferenzierung der Emotionalität. Dieses Stadium, das Stadium der Hirtenexistenz, ist dasjenige des emotionsgesättigten Gesanges und zugleich das verlorene ideale Entwicklungsstadium des Menschen. Die Ursprache der Emotionalität ist transparent, weil vorrationale, affektische Selbstkundgabe; sie ist bildlich, so wie auch die Urschrift aus Bildern besteht. Aber die Ursprache ist keine geoffenbarte adamitische Sprache; sie drückt nicht das Wesen der Dinge aus, sondern „das emotionale Verhältnis des Sprechers zum Besprochenen.“ 577 572 Vgl. Knight 1968, S. 217. 573 Vgl. hierzu Ricken 1990, S. 87ff. 574 Vgl. Rousseau 1782, S. 91 und 97, sowie S. 108-109. 575 Vgl. Rousseau 1782, S. 41-43 und S. 123, sowie S. 127. 576 Geyer 1997, S. 179ff 577 Geyer 1997, S. 183 269 Für Rousseau wird dieses Stadium durch die aufgrund kälteren Klimas nötig werdende Landwirtschaft und die damit einhergehende Aufteilung des Grundbesitzes beendet. 578 Nun muss es Gesetze zur Sicherung des Eigentums an Land, Geräten und Ernte geben, und so tritt Rationalität in Erscheinung - gleichzeitig verkommt die ursprüngliche Emotionalität, da die zur ihr nötige Muße der Arbeit weicht. Die Sprache tritt in diese Machtverhältnisse ein und wird ein Mittel der Verstellung, zugleich aber auch wieder der Befreiung. 579 Das heißt, für den Rousseau des Essai sur l’origine des langues ist die agrarische Ordnung gerade nicht die ursprüngliche, und Court de Gébelins Naturordnung ist bei Rousseau bereits wieder Verfall. Wie Court, wie Saint-Martin und wie die christliche Tradition sieht auch Rousseau die Gegenwart als einen Zustand des Verlustes, aber im Gegensatz zu diesen nicht als Endpunkt einer zweistufigen Geschichte, sondern einer dreistufigen, denn er denkt dieses Dekadenzmodell mit einem Evolutionsmodell zusammen. Die Menschheitsgeschichte erscheint so in Geyers Worten als „ein Prozeß des Sich-Findens und Sich-Wieder-Verlierens.“ Die Nähe zu dem oben für Condillac dargestellten dreistufigen Modell von Natur, naturgemäßer Kultur und unnatürlicher Kultur ist unverkennbar. Insofern kann man nicht nur Knight beipflichten, Rousseau habe Elemente des condillacschen Naturbegriffs übernommen, sondern sogar sagen, er habe die kritische Konsequenz aus der dort angelegten Dreistufigkeit gezogen. Wie Geyer 580 jedoch bemerkt, ist Rousseaus früherer Discours sur les sciences et les arts (1750) der einzige Text dieses Autors, „in dem allen Ernstes die Möglichkeit eines ‘Zurück-Zur-Natur’ erwogen wird.“ - dies besonders in dem berühmten Gebet, das am Ende den Nachgeborenen in den Mund gelegt wird: „Dieu tout-puissant, toi qui tiens dans les mains les Esprits, delivre-nous des Lumières et des funestes arts de nos Pères et rends-nous l’ignorance, l’innocence et la pauvreté, les seuls biens qui puissent faire notre bonheur et qui soient précieux devant toi.“ 581 Schon im Essai sur l’origine des langues gelangt diese Hoffnung nicht mehr zum Ausdruck. Das heißt: Das zyklische Element, das in Condillacs Entwurf noch vorhanden war, ist dabei, zu verschwinden. Der Mensch kann nicht einfach vom dritten Stadium wieder ins Erste springen, wenn auch 578 Vgl. Rousseau 1782, S. 129-131. 579 Zur Ambivalenz der vergesellschafteten Sprache bei Rousseau vgl. Geyer 1997, S. 257: „Sprache dient immer auch schon der Verstellung und ist von vornherein Inbegriff der unhintergehbaren Mittelbarkeit jeder Kommunikation. Dennoch ist sie als Mittel der Abstraktion auch Bedingung für die Freisetzung des Subjekts aus dem Zwang naturhafter oder vermachteter Lebenszusammenhänge.“ 580 Geyer 1997: erstes Zitat S. 187, zweites S. 175, FN 58 581 Rousseau 1955, S. 52 270 diese Idee als utopischer Horizont in Rousseaus Schreiben immer gegenwärtig bleibt. Die Kontingenz der durch Rousseaus Ursprungserzählung kritisierten rationalen Sprache und ihrer Eigentumsbegriffe wird jedoch nicht empirisch aufgewiesen, etwa durch Zeugnisse historischer Sprachen, die diese Begriffe nicht kennen würden. Auch das Gegenbild, die Ursprache, bleibt eine Fiktion. Deshalb sah sich Rousseau auch immer mehr genötigt, seine Hypothese vom ursprünglichen Zustand auf andere Weise zu rechtfertigen. So hat Rainer Zaiser herausgearbeitet, dass die berühmte „illumination de Vincennes“ im achten Buch von Rousseaus Confessions ein Versuch ist, seine Sicht vom ursprünglichen Wesen des Menschen als Epiphanie- Erlebnis glaubhaft zu machen. 582 Rousseau bemächtigt sich hier eines Erlebnismusters, das aus der religiösen Literatur (etwa aus Augustins Confessiones) bekannt ist, mit dem Ziel, dass der „profane Offenbarungsinhalt“ seiner Schau vom Urmenschen „eine sakrale Ausstrahlung“ erhalten soll, 583 die Rousseaus Berufung zum Schriftsteller begründen und seine Kritiker zum Verstummen bringen soll. Zwei Aspekte sind hieran für unser Interesse besonders wichtig: die Begründungsnot selbst und der Bezug auf religiöse Muster. Insofern, als Rousseaus geschichtlich begründete Kritik an der Gegenwart nämlich ein Rückstieg auf hypothetische erste Elemente mit dem (wenngleich utopischen) Ziel einer Neugenese ist, bleibt seine Argumentation dem Analyse-Genese-Modell verpflichtet, und die Schlagkraft seiner Argumente leidet gerade unter dieser Fiktionalität. Sein Geschichtsbild hat sich zwar von besagtem Modell emanzipiert, seine Geschichtsmethode jedoch ist zum Schaden seiner kritischen Stoßrichtung noch vor-empirisch wie die Methode der Genese auch. Auf diesen Umstand verweist die Notwendigkeit der quasi-sakralen Begründung von Rousseaus Schau. Dass er diese aber heranzieht, zeigt noch auf eine Strukturanalogie zwischen seinem Unternehmen und der christlichen und illuministischen Grunderzählung von gegenwärtigem Verfall und verlorener Vollkommenheit. Rousseau gibt hier ja nicht nur in der Begründung seiner These, sondern auch in der These selbst (wie Zaiser, Jean Starobinski folgend, betont 584 ) eine säkulare Version eines Grundgedankens christlicher und esoterischer Traditionen: des Sündenfalls (der dort ebenfalls nicht eigentlich empirisch, sondern schauend oder durch Schriftoffenbarung begründet wird). Zwar ist Rousseau kein Illuminist (es fehlt bei ihm die Betonung der ewigen Geistnatur, wie überhaupt das Übernatürliche und Göttliche als Begründung seiner Argumentationen nur selten auftaucht), aber er trifft sich in seiner negativen Genese mit den illuministischen Mythen von Auf- 582 Vgl. Zaiser 1995, S. 104ff. 583 Zaiser 1995, S. 133 584 Vgl. Zaiser 1995, S. 116. 271 stieg und Fall, besonders dem Sündenfall des Menschen (nicht umsonst hat Saint-Martin ihn intensiv gelesen 585 ). Und dies bedeutet für das Verhältnis von Aufklärung und Illuminismus: Bei allen grundsätzlichen Unterschieden (die teils, wie wir sahen, auch zu Inkompatibilitäten führen) ist die Möglichkeit einer negativen Interpretation von Genese ein Begegnungspunkt der Diskurse, die sich um den Sündenfall organisieren (Illuminismus, katholische Apologetik) und derjenigen, die um Analyse und Genese kreisen (etwa Allgemeine Grammatik, Erkenntnistheorie, Sprachhistorie). Rousseaus Betonung der Zukunftsoffenheit von Geschichte ist dagegen dasjenige, was aus dem Genese-Modell hinaus tendiert. Und auch darin können wir ihn mit dem Illuminismus vergleichen. Eine vollkommene Offenheit von Geschichte ist nun zwar bei einer christlichen Spielart von Esoterik nicht wahrscheinlich, denn die Vorstellung der Allmacht Gottes schließt generell ein, dass dieser auch der Herr der Zukunft sein wird. Dennoch ist die Frage nach der Freiheit der Geschichte bei den Martinisten teils sehr im Detail behandelt worden. 2.5.2. Das Ringen um die Freiheit der Geschichtssubjekte bei Martines de Pasqually Im neunundsechzigsten Brief der Lettres Persanes von Montesquieu weist Usbek auf einen Punkt hin, bezüglich dessen ihm seine heimische theologische Tradition der der Christen überlegen zu sein scheint: Ainsi, il n’y a point sujet de s’étonner que quelques-uns de nos docteurs aient osé nier la prescience infinie de Dieu; sur ce fondement, qu’elle est incompatible avec sa justice. Quelque hardie que soit cette idée, la métaphysique s’y prête merveilleusement. Selon ses principes, il n’est pas possible que Dieu prévoie les choses qui dépendent de la détermination des causes libres; parce que ce qui n’est point arrivé n’est point, et, par conséquent, ne peut être connu […] […] il (sc.: Dieu) laisse ordinairement à la créature la faculté d’agir ou de ne pas agir, pour lui laisser celle de mériter ou de démériter […] 586 Die Freiheit ist Bedingung der Eigenverantwortlichkeit und damit auch der Begriffe von Verdienst und Sünde. Da das, was ein freier Wille beschließen wird, erst in dem Augenblick entsteht, indem es beschlossen wird, kann auch Gott es als nicht Existentes vor diesem Moment nicht voraus wissen. Es handelt sich hier um ein altes Problem der Theologie. Ein Blick auf die katholische Apologetik des achtzehnten Jahrhunderts kann uns auch über die Aktualität einer der ältesten Lösungen in dem von uns betrachte- 585 Saint-Martin betont übrigens an vielen Stellen eine gewisse Affinität zu Rousseau, wenn er auch dessen Auffassungen nicht in jeder Hinsicht teilt und sich gewünscht hätte, Rousseau zum wahren Glauben bekehren zu können. Zu Rousseau und Saint- Martin vgl. Jacques-Chaquin 1971. 586 Montesquieu 1721, S. 182-183 272 ten Zeitalter informieren: Flexier de Reval etwa weist darauf hin, dass „Il n’est pas vrai que la certitude emporte la nécessité“, denn Gott kann als ein Wesen außerhalb der Zeit wissen, wie sich ein Wesen innerhalb der Zeit frei entschieden haben wird 587 : Er befindet sich ja gar nicht in einer historischen Gegenwart vor dem Augenblick einer freien Entscheidung, sondern außerhalb der Struktur der Sukzession, in der die Frage des Vorauswissens überhaupt gestellt werden kann. Sein Wissen ist insofern kein Vorauswissen, da ihm ein zeitrelativer Standpunkt, von dem die Richtungsangaben voraus oder zurück auszugehen hätten, überhaupt nicht zugewiesen werden kann. Eine ähnliche Argumentation wurde schon von Augustinus im fünften Buch von De civitate Dei gegen Cicero aufgeboten. 588 Martines de Pasqually bedient sich dieses Arguments nicht, und deshalb ist sein Umgang mit dieser Problematik von besonderen Schwierigkeiten belastet. Er scheint sich eher der Denkweise Usbeks anzuschließen: Wir sahen schon, dass bei Martines die Geschichte bei der Emanation der Geistwesen aus der Vorsehung entlassen und Gottes Vorauswissen tendenziell negiert wird, und zwar vor allem deshalb, weil Martines ja das Böse überhaupt aus der Freiheit erklären und Gott von jedem Kontakt damit freihalten will. Wie aber wirkt sich diese Entlassung der freien Ursachen auf die Lesbarkeit der Welt, auf die Selbstoffenbarung Gottes im Buch von Natur und Geschichte aus? Ist der Gott, der seine Geschöpfe in die vollkommene Freiheit entlassen hat, der nicht einmal mehr wissen kann, was diese in der Zukunft tun werden, überhaupt noch der Autor dieser Bücher? a) Typologie und offene Geschichte Martines de Pasquallys Traité wird immer wieder bewegt von der Spannung zwischen dem Motiv der Vorausdeutung auf Geschichte, sei es durch Typologie oder Prophetie, und der offenen Geschichte, die die Grundlage für Martines’ Lösung des Theodizeeproblems ist. Die Offenheit der Geschichte garantiert die absolute Güte eines Gottes, der alles Geschaffene in die Freiheit entlassen hat und deshalb am Bösen keinen Anteil haben kann. Auch Gott kann daher die Geschichte nicht voraussehen - deutet aber gleichwohl typologisch auf sie voraus. Die Geschichte kann damit zwar keinen zentralen Autor mehr haben, wird jedoch gleichzeitig in einer Weise geformt, die, so würde man annehmen, von einer zentralisierten Handlungsführung abhängt. Wie ist das möglich? In der den Text beschließenden deutenden Nacherzählung der Episode um Saul, Samuel und die Hexe von Endor definiert Pasqually in dem Bemühen, in dieser Hinsicht einen kohärenten Standpunkt einzunehmen, 587 Flexier de Reval 1773, S. 107-108 588 Augustinus 1845, V, ix und x, col. 148ff. 273 seinen Prophetie-Begriff: Propheten können demnach, ebenso wie Gott selbst, nur aufgrund der (natürlich bei Gott und den Menschen grundsätzlich verschieden umfassenden) Zusammenschau von Vergangenheit und Gegenwart auf eine wahrscheinliche Zukunft schließen. Es gibt keine Wahrsagerei, auch Gott kann nicht wahrsagen. Könnte der Schöpfer wahrsagen, so wäre er selbst der Schöpfer auch des Bösen oder doch zumindest ein Tyrann, der das Böse geschehen lässt, um dann die Sünder für etwas zu bestrafen, das er selbst hätte voraussehen und dann wohl auch verhindern können. 589 Nur die Gesetze, in deren Rahmen sich alles kosmische Handeln abspielen muss, hat er festgelegt. Insoweit er diese dem Menschen offenbart hat, ist dieser in Grenzen zu einer Voraussage des Wahrscheinlichen, unter Inspiration sogar zu einer Prophetie, fähig. Unter Prophetie versteht Martines freilich eine Androhung der Folgen von Fehlverhalten, die nicht eintreffen muss. Ändern die durch die Prophetie bedrohten Personen ihr Verhalten, so ist auch die Prophetie hinfällig. Sie bezieht sich also nur warnend auf die wahrscheinlichen Folgen des in der Gegenwart sich Abzeichnenden. Die Zukunft ist offen. Demgegenüber nimmt Pasqually für seine Welt- und Heilsgeschichte immer wieder etwas in Anspruch, das ohne die Vorstellung von einer von Gott gelenkten und vorausgewussten Geschichte nicht denkbar scheint. Er liest die Heilsgeschichte typologisch; das heißt, er bedient sich jener Methode christlicher Allegorese, welche alttestamentarische Figuren und Ereignisse als Präfigurationen neutestamentarischer Figuren und Ereignisse interpretiert, die das in jenen gegebene Versprechen dann einlösen. Dies ist traditionell so zu verstehen, dass Gott die Geschichte in einer Weise lenkt, dass zur geistigen Führung derer, die in ihr zu lesen vermögen, eine allegoria in rebus entsteht (die im Übrigen nach der Lehre vom vierfachen Schriftsinn neben der typologischen auch noch eine tropologische und eine anagogische Bedeutungsebene kennt). Die bedeutenden Elemente dieser Allegorie sind jedoch keine bloßen Textfiguren der Bibel oder gar Fiktionen, sondern Ereignisse der Geschichte, das heißt, Gott tritt als Autor der Geschichte in Erscheinung. Eine Geschichte, innerhalb derer zeichenhafte Querverweise angenommen werden sollen, bedarf eines solchen Autors. Nur eine Geschichte, die von einem Geschichtsschöpfer geformt ist, kann Vorausweisungen enthalten, denn, was Gott nicht weiß, auf das kann er auch nicht typologisch vorausdeuten, und was er nicht lenkt, das kann er auch nicht mit Bedeutung erfüllen. Die Geschichte als unbeschriebenes Blatt, das von allen in gleicher Weise beschrieben werden darf, wie sie bei Martines de Pasqually erscheint, macht solche zentralisierten Strategien der Handlungsführung unmöglich. Liegt hier ein Widerspruch, der Martines’ Geschichtsbild absurd werden lässt? Oder schafft er sich einen gegenüber der christlichen Tradition veränderten Typologie-Begriff, der sich dieser 589 Martines 1771, S. 402 274 Spannung entziehen kann? Um dies zu entscheiden, ist ein genauerer Blick auf die Anwendung und Definition der Typologie im Traité vonnöten. b) Der zeichensetzende Gott Ein neutestamentliches Beispiel für eine figura bei Martines de Pasqually ist das Zerreißen des Tempelvorhanges bei der Kreuzigung (eine Episode, die der Traité in seiner Geschichtsfolge nicht erreicht, sondern vorwegnimmt). Der zerrissene Vorhang figuriert im Sinne eines sensus anagogicus die Befreiung der mineurs aus ihrer göttlichen Privation, das Verschwinden des Materieschleiers zwischen ihnen und Gott, auch das endliche Zerreißen der sieben Planetensphären, die dem Menschen das göttliche Licht verbergen, sowie das ‘Zerbrechen’ (aber natürlich nicht die Vernichtung) der gefallenen Geister, die den Menschen in Unwissenheit halten. Ist dies eine Vorausdeutung auf bereits gewusste, endgültig verfügte Geschichte? Es sieht durchaus danach aus. Die Konzeption der offenen Geschichte wird dadurch allerdings nicht so tief berührt, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat; zugleich aber muss diese Konzeption doch einer Korrektur unterzogen werden. Die Freiheit der Geistwesen, die die Bedingung der Möglichkeit von Geschichte ebenso wie von göttlicher Herrlichkeit ist, findet ihren Platz in einem kosmogonisch-eschatologischen Rahmengeschehen, das selbst nicht dem geschichtsschöpferischen Einfluss der emanierten Wesenheiten ausgesetzt ist. Die geschaffene Welt ist ein Gedanke Gottes und wird verschwinden, wenn sie zu Ende gedacht ist. Die Zeit ist eine Funktion dieser geschaffenen Welt, zugleich aber auch der Rahmen der Tätigkeit der in diese Welt Eingesperrten. Insbesondere was der mineur für sich und andere erreichen kann, wird durch die Zeit begrenzt. Andererseits ist jedoch zu beachten, dass die Geistwesen keine materiellen Wesen sind. Ob Mensch oder Teufel, die emanierten Wesen sind lediglich in die materielle Welt eingesperrt, sie gehen nicht in ihr auf. Insofern ist zwar mit dem zeitlichen Rahmen des Universums ihrem Geschichtsschaffen darin eine Grenze gesetzt, ihr Dasein bleibt jedoch davon unberührt. Dies zeigt sich schon darin, dass ja die Geistwesen vor der Zeit gefallen sind. Auch nach der Zeit wird ihr Verhältnis zum Schöpfer gestaltet werden müssen. Wie wir andernorts von Martines erfahren, wird am Ende der Zeit bei der Reintegration jedes Wesen seine Identität behalten. Zu dieser zählt auch die Freiheit. Theoretisch könnte alles von vorn beginnen, aber dies gilt nicht für die Differenzierung selbst. Die Ungeschiedenheit der Möglichkeiten im Busen des Schöpfers vor der Emanation wird nie wieder erreicht werden, und insofern ist die Eröffnung der überkosmischen Geschichte durch die Emanation eine nicht mehr reversible Differen- 275 zierung. 590 Wäre die Reintegration am Ende der Zeit radikal gedacht, so würde dies eine Rücknahme auch der Freiheit der Wesenheiten erfordern, denn wo, wenn nicht in der Möglichkeit von Abläufen, sollte sich Freiheit verwirklichen? Die Möglichkeit freien Handelns ist die Möglichkeit von Zeit - dies muss ja auch schon für den vorzeitlichen Geisterfall angenommen werden. Aber die Freiheit als Nichtabfall muss sich ebenfalls in einer Art von Zeit bewähren. Die Nichtrealisierung von möglicher Differenz, von möglichem Abfall, der Verzicht auf Handlungsmöglichkeiten im Sinne eines Stillhaltens steht auch negativ vor einem Hintergrund möglicher Fortschreitung, ohne den auch das Stillhalten als solches nicht Wirklichkeit wird - ganz zu Schweigen vom Lob der göttlichen Herrlichkeit, vom Kultus. Auch der Zustand der Vorzeit oder der Nachzeit bewahrt also in Pasquallys Aussagen über ihn Züge von Zeitlichkeit auf, die erst zu tilgen wären, wenn der Schöpfer alles Ausdifferenzierte, alle zugestandene Freiheit, alles Nichtidentische in sich wieder einsöge und somit auf seine Herrlichkeit verzichtete. In diesem Zusammenhang sind einige Bemerkungen zum ontologischen Status der Geschichtsbeiträge der in die Freiheit emanierten Wesen angezeigt. Die positiven, gottgefälligen Gedanken und Taten sind dies, wie schon dargestellt wurde, durch vermittelte oder unvermittelte Teilhabe am Göttlichen. Alle guten Möglichkeiten sind vom Schöpfer, der selbst das Gute ist, schon vorgegeben. Insofern kommt ihm in der Huldigung der emanierten Wesen nichts als sein Eigenes wieder zurück. So gesehen verwirklicht sich die Freiheit der Geistwesen nur durch die Möglichkeit, Gottes Angebote anzunehmen oder aber zu verwerfen. Das Böse, die Zurückweisung des göttlichen Guten, ist, wie wir sahen, keine eigenständige Seinsform, die dem Guten gegenübertreten könnte. Dies zeigt sich schon an den beiden dominierenden Fassungen, in denen das Böse bei Martines auftritt. Da gibt es zum einen die „prévarication“, also eine Verweigerung gegenüber einem positiv Gegebenen, die sich zu diesem stets parasitär verhalten muss. Der Ungehorsam der gefallenen Engel scheitert ja gerade dabei, sich gegenüber der ersten Ursache gleichwertig zu behaupten. Keinen Augenblick scheint die Möglichkeit auf, dass dies gelingen könnte. Der Versuch, sich gleichzeitig mit der Ablehnung des Schöpfers selbst zum Schöpfer zu erheben, scheitert gewissermaßen schon an den konzeptuellen Möglichkei- 590 Was die typisch martinistische Begriffsdoppelung in zwei Zeiten angeht, so verhalten sich die jeweils gegenüberzustellenden Elemente aufgrund der negativen Konnotation des Zeitbegriffs umgekehrt zueinander wie etwa beim Kosmos- oder Menschenbegriff: Die eigentliche Zeit ist die materielle, endliche, letztlich nichtige. Sie ergibt den Begriff des Zeitlichen. Die überkosmische Zeit ist dazu parasitär und wird auch folgerichtig bei Martines nicht thematisiert, obwohl sie in den Fugen und Ritzen seines Weltgeschehens immer wieder zum Vorschein kommt. Sie ist ein Restbestand eines nicht zuendegebrachten Widerspruchs zwischen einer zyklischen und einer heilsgeschichtlichen Auffassung vom Schicksal des Kosmos. 276 ten. Was selbst nicht erste Ursache ist, kann sich nicht zu einer solchen machen, sondern sich nur negativ gegen seine erste Ursache wenden. Alle späteren Handlungen der Gefallenen zielen nur noch darauf, Gottes Plan zu vereiteln. Somit ist die Entscheidung für das Böse eine solche gegen das einzig wahrhaft Seiende und also für das Nichts. Die menschliche Erscheinungsform des Bösen ist bei Martines meist ein Verfallensein an die Materie. Die Materie ist nun, wie schon dargestellt, im Gegensatz zu den in ihr wohnenden emanierten Geistern, nicht wirklich. Sie ist lediglich ein Gedanke des Schöpfers, von seinen Geistwesen teils weitergetragen, teils (wie durch Adam) verfälscht, aber letztlich nichtig, da sie enden wird, wenn Gott seinen Gedanken zuende gedacht hat. Gibt man sich ihr hin, so ist man wieder beim nicht wahrhaft Seienden. Die Entscheidung zwischen gottgefälligem und eigensüchtigem geschichtlichen Handeln ist damit eine solche zwischen der Ergreifung einer vorgegebenen Seinsfülle und deren bloßer Negierung. Die Freiheit der Geschichtssubjekte als Freiheit zum Nichts bietet damit für den großen Ablauf der kosmischen Historie nicht allzu viele Möglichkeiten. Gott kann aus den in die Freiheit Entlassenen bestenfalls einen Widerschein seiner selbst zurückerhalten, schlimmstenfalls ein Nichts, einen Blick in einen blinden Spiegel. Das große Uhrwerk der kosmischen Geschichte und der gesetzhafte Rahmen alles darin möglichen Handelns umgreift also die individuelle Freiheit der an der Geschichte Teilhabenden. Das kosmische Gesetz als Einschränkung der absoluten Freiheit der Geschichte tritt beispielsweise in Pasquallys spirituellem Kommentar zur alttestamentarischen Figur des Enoch in Erscheinung. Die Ankunft Enochs steht für die allgemeine Versöhnung. Das Wirken des messianischen Prinzips in Enoch weist zurück auf die Versöhnung Adams, auf die allgemeine Versöhnung der Menschen durch Christus und auf die Versöhnung aller Nachkommen Adams am Ende der Zeiten. Dann werden die Bösen ihren Irrtum erkennen und „pour un temps immémorial“ 591 in noch größere ‘göttliche Privation’ fallen als zuvor und eine noch schwierigere ‘Arbeit’ leisten als zuvor. Auch hier scheint das Ende der Geschichte dem Schöpfer also bekannt zu sein, und die Freiheit der Wesen findet ihren Platz in einem Rahmen von Determination. Insofern, als damit auch das individuelle Verhalten der Guten und der Bösen in gewisser Weise festgelegt erscheint, ergibt sich ein Widerspruch zu einem Gottesbegriff, nach dem gerade im Aushalten des in die Freiheit entlassenen Anderen die Garantie für die absolute Gerechtigkeit Gottes liegt. Natürlich kann man anführen, dass der Schöpfer als der Allmächtige immer der Stärkere sein wird. Insofern kann er, wenn nicht wissen, so doch ziemlich sicher annehmen, dass es ihm am Ende gelingen wird, die abgefallenen Wesen umzuerziehen. Wäre jedoch das andernorts immer wieder aufscheinende, dem kabbalistischen Zimzum 591 Martines 1771, S. 191 277 analoge Konzept des sich selbst beschränkenden Schöpfers in Richtung auf einen leidenden Gott hier zu Ende gedacht, so wäre diese Gewissheit nicht mehr gegeben. Die Freiheit der Geschichte bleibt also im Rahmen der vom Schöpfer vorgegebenen Gesetze, sowie in demjenigen seiner Übermacht über seine Geschöpfe. Gelegentlich wird diese Tatsache, wie wir gesehen haben, auch so stark betont, dass die Freiheit und mithin die Grundlage für Pasquallys Lösung des Theodizeeproblems gefährdet scheint. Wie aber sieht nun im einzelnen Typologie im Text aus? Hier ist zu unterscheiden zwischen Handlungen, die vom Schöpfer ausgehen und also die Freiheit der anderen nicht oder kaum berühren, und solchen, die den anderen Geschichtssubjekten entspringen. Von Gott geht das typologische Verhältnis zwischen Christi Inkarnation und dem Fall Adams in die Materie aus. Christus gibt in freier Entscheidung seinen Wohnsitz im göttlichen Kreise auf, um menschliche, materielle Gestalt anzunehmen, so wie Adam sich einen Materiekörper schuf. Gemeint ist hier so etwas wie eine korrigierende Wiederholung des Urbildes, eine Wendung zum Positiven, die durchaus mit der theologischen figura- Vorstellung im Einklang steht: Auch dort wird ja durch das zweite Ereignis das erste eingelöst, erst richtig zu sich selbst gebracht oder ins Gute gewendet. Gott wirkt hier also kommunikativ in die Geschichte hinein, die Handlung seines Gesalbten ist zugleich Korrektur an der Geschichte und Kommentar zu ihr. Dieses Prinzip der Zeichenhaftigkeit des Handelns von Gottes Gesandten zeigt sich auch in anderen Figuren, in denen gleichfalls das messianische Prinzip wirkt, zum Beispiel in Abel. Dieser ist der Typus der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Seine Handlungen bringen eine solche Versöhnung, sprechen aber auch zugleich von ihr. Es zeigt sich hier, dass Martines’ Begriff type nicht auf die Typologie im engeren Sinne beschränkt ist, denn nicht nur die Vorausweisung der Versöhnung durch Abel auf diejenige durch Christus bezeichnet er hier, sondern überhaupt das zeichenhafte Verweisen einer Handlung auf eine Klasse heilsgeschichtlicher Begebnisse. Damit nimmt type eine Bedeutung von ‘Exemplar’ oder ‘Realisierung’ an: Das messianische Prinzip realisiert sich in Abel, Abel ist ein Exemplar davon, die durch ihn erwirkte Versöhnung gehört selbst zur Klasse der Versöhnungen, auf die sie zugleich zeichenhaft verweist. Noah ist der zehnte Patriarch und durch die Zehn Typus des Schöpfers. Hier wäre der Typus wieder ein Zeichen, das der Schöpfer setzt, indem er zehn mineurs mit besonderen Gaben ausstattet, so dass sie die heilsgeschichtliche Rolle von Patriarchen spielen können. Die Zahl Zehn ist unter diesem Aspekt aber weniger in Funktion auf heilsgeschichtliche Notwendigkeiten zu lesen, sondern als Selbstoffenbarung dessen, den die Zehn kennzeichnet, zugleich als Siegel oder Autorisierung. In der Zehnzahl der 278 Patriarchen offenbart sich, dass der, der sie gesandt hat, der Richtige ist. Solche Kundgaben durch Gottes Mitwirken an der Geschichte bleiben für Martines’ Geschichtsbild unproblematisch, so lange sie im Rahmen von Gottes privilegierter Mitwirkung an der Geschichte spielen und die Freiheit der anderen Teilnehmer an ihr nicht bedrohen. Auf diese Weise spricht sich Gott in verschiedenen Aussagetypen aus, so wie in der klassischen figura-Technik grundgelegt. 592 c) Selbstaussprache Gottes in der Schöpfung Ein Sonderfall solcher Kundgabe ist die Formel. Die Zahlen sind Aspekte von Gottes Schöpfungslogos und seiner Operationen und gleichzeitig seine Signatur auf seinem Werk. Insofern sind sie Bauplan und Beschriftung des Erbauten zugleich. In einer theurgischen ‘Operation’ Adams mit seinen Söhnen zeigt sich in der Gruppierung von 3 + 3 Personen das „double ternaire“ als Typus der Trennung von Gut und Böse: Zerteilt man die sechs Schöpfungsgedanken, so erscheinen zwei Gruppen, die jeweils den drei Essenzen entsprechen, die sowohl im Bösen wie im Guten zu finden sind. Die Zweiheit oder Zweiteilung zeigt auf die Zwei, die Zahl der Konfusion. Die Operation der genannten Personen bezieht sich auf diese Formeln, geht von ihnen aus, um sie zu nutzen. Hier ist also der Typusbegriff im Zusammenhang mit der uns schon bekannten, auf die Formeln der Welt zielenden Zahlensymbolik gebraucht. Der Typus ist hier auf das von ihm dargestellte Gesetz durch eine bewusste Übereinstimmung bezogen. Das Siginifizierte aber ist selbst nicht geschichtlich. Auch die ‘Typologie’ des Berges Sinai in Moses’ großer Rede, sein zeichenhaftes Einstehen für die Struktur des Universums, ist nicht geschichtlich, sondern durch die Schöpfung schon vorgegeben und insofern im Rahmen der Geschichtskonzeption Martines’ kein Problemfall, da das Mitwirken anderer dafür nicht entscheidend ist. Es handelt sich auch eigentlich nicht um einen Typus, wenn dieser Begriff hier auch verwendet wird, sondern vielmehr um eine Analogie von der Art der Beziehung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, die vom Schöpfer des Kosmos in diesen eingeschrieben ist. 592 So begegnen wir bei der Arche Noah beispielsweise auch einmal einer anagogischen Allegorese. Gott formt seinen Geschichtsbeitrag so, dass der Mensch daraus etwas über sein Hinübergehen ins Jenseits lesen kann. Das Ruhen der geretteten Wesen in der Arche steht für die Ruhe der gerechten Verstorbenen, die alle ihre zeitlichen Operationen, auch die nach dem Tode, schon vollendet haben, im Kreise des Saturn, dem Rationalkreis, wo sie ihrer Reintegration harren. Der Berg Moria, wo Isaak geopfert werden soll, begegnet analog an anderer Stelle als Typus des ‘sensiblen Kreises’, vulgo ‘Fegefeuer,’ wo die mineurs nach ihrem Tode in ‘göttlicher Privation’ den Rest ihrer Operationen vollbringen müssen. Hier ist ein Vorgang analog zu einem anderen, wobei beide von Gottes Initiative gelenkt werden. Vgl. Martines 1771, S. 261 279 d) Typologie und freies Geschichtssubjekt Problematischer wird das Verhältnis von Typologie und freier Geschichte dort, wo die Zeichenhaftigkeit der Geschichte sich nicht mehr auf Gottes eigenen Geschichtsbeitrag beschränkt. Abraham ist bei Martines, wie nicht weiter verwunderlich, Figur des Schöpfers, der seinen Sohn opfert. Die Aufforderung an Abraham, Isaak zu opfern, ist damit Kundgabe des göttlichen Heilsplanes. Wie in den traditionellen typologischen Deutungen dieser Episode auch, ist diese Art der Selbstoffenbarung Gottes eigentlich ein Skandalon, denn Abraham und Isaak (der übrigens bei Pasqually sofort erfasst, was geschieht und sich willig als Opfer anbietet) wird um dieser Kundgabe willen das Äußerste zugemutet, was Menschen auferlegt werden kann. Es stellt sich sofort die Frage, ob denn Gottes Aussagevorhaben misslingen könnte, wenn Abraham sich ihm etwa verweigern würde. Im Gegensatz zu noch zu behandelnden Fällen wäre dies aber wohl kein Problem, denn das Verhältnis zwischen Figura und Einlösung ist so oder so eines von gescheitertem Urbild und vollendeter Neugestaltung, und in der Tat erlässt Gott selbst Abraham das Opfer, ohne dass seine Kommunikationsabsicht dadurch vereitelt wäre. Problematischer wird die Typologie bei Jakob und Esau. Hier soll sich ein zentraler Aspekt von Martines’ Anthropologie angeblich in der menschlichen Geschichte zeigen: Jakob und Esau sind Zwillinge, Jakob wurde, so der hier erzählte Mythos, zuerst gezeugt, aber Esau wurde als erster geboren. Jakob versucht nun Esau, indem er ihm sein Erstgeburtsrecht mit einem Linsengericht abkauft. Esau ‘fällt’ und beklagt sich, nun durch Jakob in seiner Stellung als Erstgeborener verdrängt worden zu sein. Dies weist nach Martines auf das Verhältnis zwischen den gefallenen majeurs und dem mineur. So wurden auch die pflichtvergessenen Geister zuerst emaniert, aber nachdem sie gefallen waren, wurde ihnen Adam, der nach ihnen emaniert war, als der neue Erstgeborene vorangestellt. Sie versuchten nun Adam, und dieser fiel, allerdings ohne dass dadurch das Erstgeburtsrecht wieder auf die bösen Geister übergegangen wäre. Pasquallys Konzeption von den Ersten, die die Letzten sein werden, 593 gewinnt hier außerdem noch eine Bedeutungskomponente für spätere Phasen der Heilsgeschichte: Auch die Juden sind Erstgeborene, die zu Zweitgeborenen werden, denn sie waren die Ersten, die das Gesetz erhielten, aber sie wurden, als sie den Messias Jesus Christus nicht erkannten, von den Christen in dieser Rolle verdrängt. Martines hat dies wohl aus einer Exegese- Tradition entwickelt, die im siebten Buch von Augustins Confessiones greifbar ist: videlicet Aegypticum cibum quo Esau perdidit primogenita sua: quoniam caput quadrupedis pro te honoravit populus primogenitus, conversus corde in Aegyp- 593 „...les premiers deviendront les derniers“ (Martines 1771, S. 269), vgl. Matth. 19, 30. 280 tum, et curvans imaginem tuam, animam suam ante imaginem vituli manducantis fenum. Inveni haec ibi, et non manducavi. Placuit enim tibi, Domine, auferre opprobrium diminutionis ab Jacob, ut major serviret minori; et vocasti Gentes in haereditatem tuam. 594 Hier begegnen das Oppositionspaar major-minor und der Verkauf des Erstgeburtsrechts in Gen. 25, 33f. als Figura für die Ablösung des erstgeborenen Gottesvolkes, der Juden 595 (deren ‘ägyptische Speise’ die Verehrung des goldenen Kalbes ist 596 ), durch die „gentes.“ Betrachten wir einmal nur die pneumatologische Seite von Pasquallys Gebrauch dieser Figur. Hier verwickelt die Typologie jedenfalls den frei handelnden Menschen in die Bedeutungsabsichten Gottes, denn es ist wohl kaum anzunehmen, Jakob habe Esau das Linsengericht angeboten, um dadurch aus eigener kommentierender Absicht späteren Generationen die Stellung der emanierten Geister zueinander aufzuweisen. Mag noch die Zeugung der Zwillinge durch Gottes Mitwirkung erfolgt sein, mag er in die Reihenfolge der Geburt hineingewirkt haben - dies alles lässt sich noch aus dem in Adams Versöhnung neu geschlossenen Einvernehmen Gottes und des Menschen in der materiellen Reproduktion erklären. Aber Jakobs späteres Handeln kann nicht Zeichen für einen höheren Zusammenhang sein, soll er nicht zu Gottes Marionette werden. Im Gegensatz zu dem Beispiel der Opferung Isaaks würde diese Typologie auch bei einer Verweigerung der handelnden menschlichen Zeichen vollkommen obskur und unlesbar. Hier muss man also, will man den Traité nicht einfach als Unsinn abstempeln, den Begriff des Typus umdeuten, und zwar unter Einbeziehung einer oben schon im Zusammenhang mit dem messianischen Prinzip aufgefundenen Deutungsmöglichkeit des pasquallyschen Typusbegriffs. Man müsste davon ausgehen, dass hier anstelle einer Figur oder einer allegoria in rebus eine geschichtliche Modellrealisierung vorliegt, die nicht von einem anderen Ereignis spricht oder auf es zeigt, sondern sich in den dort vorfindlichen Formen bildet oder ein Exemplar davon ist. Jakob tut, was man tun kann, weil andere diese Handlungsmöglichkeiten vorgeprägt haben, aber er hätte sich auch für ein anderes Modell entscheiden können. Geschichte realisiert sich in Modellen, die sie selbst entwickelt hat. In der Jakobsgeschichte liegt im übrigen wahrscheinlich der Ansatzpunkt für eine eigenartige Benennung, die Martines für den ungefallenen Adam gewählt hat: „homme roux.“ 597 In der Bibel heißt Esau aufgrund seiner Vorliebe für rote Linsen nämlich Edom, ‘der Rote’ 598 . Adam wird 594 Augustinus 1987, VII, ix, S. 332 595 Vgl. Exod. 4, 22 596 Vgl. Exod. 32, 1-6; dafür steht das Linsengericht, da einerseits Linsen in der Bibel als ursprünglich ägyptische Speise gelten und andererseits der Tierkult (unter den die Verehrung des goldenen Kalbes fällt) ebenfalls aus Ägypten kommt. 597 Martines 1771, S. 97 598 Vgl. Gen. 25, 30 281 also, analog zu Esau, obwohl er als zweiter emaniert ist, der ‘Erstgeborene vor aller Schöpfung’ 599 und dies wird durch die von Esau übernommene Röte markiert. e) Der Typus als geschichtliche Prägeform Kann also type bei Martines auch so etwas wie ein evolviertes Modell sein, das sich in der Geschichte wiederholt, so lohnt es sich, den ältesten und ersten solchen Typus einmal in den Blick zu nehmen. Modell und Ausgang menschlicher Geschichte ist Adams Ungehorsam: […] c’est de là d’où sont sortis toutes les époques, tous les types et tous les différents événements qui sont survenus depuis le commencement du monde jusqu’à nous et qui se perpétueront jusqu’ à la fin des siècles. 600 Das Modell selbst kann aber, bleibt man bei der Konzeption einer offenen Geschichte, nicht vorherbestimmt oder geplant sein. Es ensteht aus Adams freiem Willen. Wie kann aber die Geschichtsgestaltung des Vorvaters der Menschen verbindlich für den gesamten Ablauf der Geschichte sein? Wie kann man wissen, dass sich diese Muster wiederholen werden? Dies hängt zum einen damit zusammen, dass der Mensch feste Wesensgesetze hat. Der mineur ist ja unter einem Gesetz emaniert worden, zu dem unter anderem seine Willensfreiheit gehört. Er verändert sein Wesen durch seinen Fall, und es werden ihm auch der neuen Situation angemessene neue Gesetze von Gott gegeben. Das grundlegende Funktionieren des Menschen ist also bekannt. Es lässt sich unter der Prämisse der Gesetzhaftigkeit aus der Vergangenheit extrapolieren, freilich mit der großen Unbekannten der Freiheit, die zum Guten wie zum Bösen aller Prophetie entgegenwirkt. Die Ausgangsposition der menschlichen Geschichte, der Sündenfall, legt die Problemstellung menschlichen Handelns fest. Zusammengelesen mit der gesetzhaften Anlage des Menschen ergibt sich eine Konfiguration möglicher Geschichte, ein Modell, dessen Wiederkehr wahrscheinlich, aber nicht notwendig ist. Darin werden nun weitere Muster geprägt, die den Möglichkeitsraum noch weiter eingrenzen. 601 599 Vgl. Kol. 1,15 600 Martines 1771, S. 113 601 Ein weiteres Beispiel für ein solches Muster, diesmal für das Handeln Gottes selbst, ist die leichte, von der Gnade erfüllte Schwangerschaft Evas mit Abel, die in der Mitte der Zeit von Elisabeth und von Maria wiederholt werden wird; hier bedient sich Gott als der Lenker der menschlichen Reproduktion eines solchen Musters. Abel ist eine Figur Christi. Enoch und Noah sind ebenfalls Figuren Christi, weil sie die Nachkommen Adams mit Gott versöhnen. Das heißt, sie deuten nicht voraus auf eine in der Zukunft erst stattfindende Handlung, sondern sie tun bereits für eine kleinere Gruppe, was Christus dann für alle mit dem Siegel der Gerechtigkeit Gezeichneten tun wird. Ihre Handlung ist von der gleichen Art wie die Christi. 282 Aber Geschichte wiederholt sich noch aus anderen Gründen. Oben zeichnete sich schon ab, dass für Martines die Heilstat Christi nicht mehr das singuläre Ereignis darstellt, das es im orthodoxen Christentum ist. Sie ist vielmehr Höhepunkt einer Kette von Manifestationen des messianischen Prinzips der Versöhnung, welches durch die gesamte Heilsgeschichte hindurch wirkt. Die großen Versöhner der Menschheit bilden zusammen die zehn Typen des Messias: Abel, Enoch, Noah, Melchisedech, Joseph, Moses, David, Salomon, Zorobabel und Christus selbst. Die Tatsache, dass letzterer in der Reihe erscheint, zeigt, zusammengelesen mit der Vorstellung von der ständigen Anwesenheit des Messias auf Erden, 602 dass der Typus hier die sichtbare Erscheinungsform des messianischen Prinzips ist. Die Typologie im Sinne der Kirche ist hier aufgegeben: Noah kündigt nicht mehr den Messias an, er ist selbst schon einer, und Jesus ist nur einer von zehn, wenn auch der bedeutendste. Dass die Genannten insgesamt die göttliche Zehn bilden, macht sie zu einer Gesamtheit von Erscheinungsweisen eines göttlichen Prinzips, geradezu zu einem irdischen Sephirotbaum oder Pleroma. Hier ist der Typus also Realisation, Exemplar. Gerade die ersten Bücher des Alten Testaments, in denen Gott stets um den Menschen wirbt und mit ihnen seinen Bund immer wieder erneuert, eignen sich sehr für diese Interpretation. Es gibt also so etwas wie geschichtliche Archetypen. Diese Deutung der Typologie als permanente Prägung der Geschichte aus ihren ersten Vorgängen wird in folgender Erklärung Pasquallys sinnfällig: […] toutes les époques et les élections premières se répètent parmi les hommes et nous font connaître qu’elles se répèteront jusq'à la fin des siècles […] je montrerai clairement qu’à la fin tout reviendra comme au commencement. 603 Die Formulierung unterstreicht die Rolle der ersten Vorgänge: Nicht aufgrund vorgeschichtlich verfügten Schicksals ist die Geschichte berechenbar, sondern, weil die ersten Epochen und Erwählungen musterbildend waren. Aus ihnen lässt sich die Zukunft als Ergebnis sich immer weiter konkretisierender Möglichkeiten extrapolieren. Dass gerade die ersten Handlungen besonders prägend sind, hängt zweifellos mit der geistigen Wirkungsweise der ersten Menschen zusammen. Adam wirkte ja auf die Geistschöpfung, und seine Nachkommen nach dem Fall wirken auf eine sich immer mehr vergröbernde Welt auf immer weniger geistige Weise. Das bedeutet: Die Realität des Geschichtshandelns nimmt stetig ab (denn je geistiger eine Aktion, desto realer), und deshalb müssen die ersten Taten prägend sein für das, was auf sie folgt, sozusagen geschichtliche Archetypen sein, weil sie sich in der archetypi- 602 „...le vrai Messias a toujours été avec les enfants de Dieu, mais toutefois inconnu“ (Martines 1771, S. 166). 603 Martines 1771, S. 255 283 schen Welt ereignen. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Luzifer und Adam: Wir sahen bereits, dass der Sündenfall des Menschen in einem durch den Fall der Engel erst geöffneten Möglichkeitsraum stattfindet. 604 Der christliche Figura-Begriff, die Typologie, scheint also bei Martines auf eine Vorstellung von einem kontingent entstandenen Muster hin verschoben, welches zwar als Modell mögliches künftiges Handeln mitbestimmt, aber nicht in der vollkommenen Gestaltungsmacht Gottes liegt, sich mithin gerade nicht mehr für die zeichenhaften Vorausweisungen auf die Vorsehung eignet, wie man sie in der traditionellen Typologie findet. Martines’ eigene Definition des Typus scheint dem zu widersprechen: Un type est une figure réelle d’un fait passé, de même que d’un fait qui doit arriver sous peu de temps […] Un type enfin est supérieur à la prophétie, en ce que les prophéties ne sont que des menaces pour l’avenir, et qui peuvent se retirer par la miséricorde du Créateur ou le changement de conduite du peuple sur lequel la prophétie tombe, au lieu qu’un type annonce un événement infaillible et qui est sous le décret immuable du Créateur. 605 Ist damit die Vorsehung, die durch Martines’ Freiheitsbegriff ausgehebelt schien, wieder inthronisiert? Will man dies auf eine innere Vernünftigkeit des Textes hin lesen, so kann man es so deuten: Der Typus ist, soweit er sich auf das Handeln Gottes bezieht, eine Absichtserklärung Gottes und tritt deshalb mit Sicherheit ein, weil Gott sich in seiner Selbstkonkretisation als unveränderliches Wesen festgelegt hat und seine deklarierten Absichten nicht ändert. Er betrifft nur Dinge „sous le décret immuable du Créateur“, also jenes beträchtliche Feld, auf das er durch das gesetzhafte Funktionieren der ungefallenen Sekundärursachen hindurch Einfluss nehmen kann, und wo er aufgrund seiner vergleichsweise machtvollen Position auch der jeweils entscheidende Einfluss sein kann. Gerade aber die Unterscheidung von der Prophetie weist auch auf die Grenzen dieses Einflussbereiches: Sie liegen da, wo der Bereich der Freiheit der Geistwesen beginnt. Die Prophetie als Androhung einer negativen Folge für den Fall, dass das 604 So verstandene Typologie als Muster des Verhältnisses geschichtlicher Akteure zueinander begegnet am dichtesten am Ende der Jakobserzählung: Abraham, Isaak und Jakob verhalten sich zueinander ebenso wie Noah, Sem und Japhet sich zueinander verhalten haben, und diese reproduzieren die Relation zwischen Adam, Abel und Seth. Christus, Moses und Elias sind einander zuzuordnen, weil sie Operationen auf dem Berge Tabor vollbracht haben. Der Kuss, den Jakob Isaak gab, „präfiguriert“ den Judaskuss. Aber gleich im Anschluss wird klar, dass auch diese Präfiguration nichts als die freie Aneignung eines vorgeprägten Handlungsmusters ist, denn es heißt: „Prenez garde que la cupidité de la matière ne vous porte à répéter un type aussi inique.“ (Martines 1771, S. 277) Es steht in der Macht des Menschen, sich davor zu hüten, Bestandteil einer solchen Typenreihe zu werden. Die Typologie ist keine im Vorhinein feststehende Filiation schicksalhaft auftretender Figuren, sondern eine Lehre von Strukturen der Geschichte, die sich wiederholen können. 605 Martines 1771, S. 203 284 freie Wesen sich nicht für das angebotene Gute entscheidet, setzt gerade voraus, dass in diesem Bereich Gott nicht der Herr der Geschichte ist. Weit entfernt davon, die Vorsehung wieder einzusetzen, setzt die Unterscheidung zwischen Typus und Prophetie die Grenzen der göttlichen Gewissheit. Der Typus im engeren Sinne ist - wo er nicht nachträgliche Deutung von bereits Geschehenem ist - eine Absichtserklärung Gottes, die dort und nur dort absolute Gültigkeit hat, wo Gottes eigenes Handeln und nicht das der aus ihm zur Freiheit emanierten Wesen betroffen ist. Wie nun aber, wenn sich alles wirklich und vollkommen zum Guten wendete? Wäre dann nicht die Aussage, dies sei die Struktur aller Ereignisse ‘bis zum Ende der Zeiten’ Lügen gestraft? Nein: Wenn sich alles zum Guten wendet, endet nämlich die Zeit, da sie nicht mehr nötig ist. Das Ende der Zeiten wäre gerade die Konsequenz der Durchbrechung jenes Geschichtsmusters, das das zeitliche Weltgeschehen ausmacht. Umgekehrt ist es auch deren mögliche Voraussetzung: Ist der vom Schöpfer verfügte Zeitrahmen des Universums ausgefüllt, so wird ein Endgericht einsetzen, das dann seinerseits die Muster der Heils- und Unheilsgeschichte außer Kraft setzen wird. Zeit und Geschichte sind eins. f) Problemfälle Bei Martines begegnen neben einem das aufgezeigte System verwässernden etwas unspezifischen Gebrauch des Typus-Begriffs als Exempel 606 auch Problemfälle, die die Grenzen seiner Geschichtsdeutung zeigen. Am Ende seines Kommentars zur Sintflut-Episode begegnet ein Beispiel für eine Vorausdeutung, die sich nur noch mit viel Wohlwollen in das Modell der unvorhersehbaren Interaktion zwischen dem Schöpfer und den von ihm emanierten Wesen einpassen lässt - will man den sensus historicus der Schrift nicht gänzlich preisgeben und den Literalsinn als Fiktion abtun, deren einzige Bedeutung die übertragene wäre. Der Rabe, der nach Süden zieht, erinnert an Kain und kündigt Cam, sozusagen dessen Nachfolger, an. Nur wenn man diese Ankündigung als Prophetie, also als abwendbare Drohung im Sinne von Martines’ Definition wertet, lässt sich diese Passage mit Martines’ Geschichtsvorstellung vereinbaren - sonst wäre an dieser Stelle die Verworfenheit der nächsten Generation schon verfügt. Diese Prophetie ist allerdings auch nur für denjenigen lesbar, der den Süden und 606 Martines verwendet seinen Typusbegriff bisweilen einfach im Sinne eines Exempels. Booz, der zehnte Nachkomme Kains, zieht sich zur Buße in die Wüste zurück und versöhnt sich mit Gott. Dies zeigt dem Leser, dass der Mensch frei ist, das Böse zurückzuweisen. Hier wird also an der Heilsgeschichte beispielhaft etwas dargelegt. Der Typus ist so exemplum, aber nicht selbst Prägemuster, denn nicht aufgrund der Handlung des Booz sind die Menschen frei geworden, sondern sie waren es schon vor Anbeginn aller Geschichte, ja, die Geschichte verdankt sich selbst dieser Freiheit. 285 damit Ägypten als den Ort ‘göttlicher Privation,’ das Land des Fluches zu deuten weiß. 607 Ein weiterer Problemfall ist der Tod Abels. Er wird Adam und Eva von einem Geisterboten typologisch erklärt: Er ist zunächst einmal Marke des Zornes Gottes, eine Geißel für den Ungehorsam des Menschen. Das hieße natürlich, dass Gott diesen Tod herbeigeführt hat, also einen Gerechten verdarb. Auch wenn es wohl genügend Möglichkeiten gibt, die Verantwortung Gottes mit Pasquallys Instrumentarium wegzuinterpretieren, so muss man doch eine Spannung konstatieren zwischen dem Geschehenlassen seitens eines leidenden Gottes und der Geißel, die ein aktiver Gott schickt. Mag er auch keinen Anteil an den Sekundärursachen nehmen, so ist doch in dem Begriff des fléau oder flagellum Dei 608 zumindest ein indirektes Eingreifen dessen, der die Geißel schickt, mitzuverstehen, denn sonst wäre der Begriff sinnlos. 609 In dieser ersten Deutung ist Abels Tod ein willkürlich gesetztes Zeichen, und in diesem Falle fällt die Verantwortung für dieses Zeichen ganz auf den es durch eine leidende Kreatur Setzenden. Die zweite Deutung, die der Engel Adam und Eva überbringt, lässt das Zeichen als Vorausdeutung auf ein Heilsvorhaben erscheinen: Abel kündigt die Versöhnung durch Christus an, der ebenfalls für die Menschen sterben wird. Gleichzeitig ist aber Abels Tod auch bereits ein Versöhnungswerk für die erste Generation der Menschen, diejenige Adams. Das ist aus zwei Gründen etwas weniger prekär. Zum einen ist die Ursachenkette zwischen Gott und dem guten Intellekt, dem Abel sich verbindet, eine 607 Diese Bedeutungsbeziehung wird dadurch ermöglicht, dass Ägypten (wie wir sahen) für Martines auch historisch ein Land des Materialismus ist. Dieses historische und zugleich allegorische Ägypten ist der Ort, an den (entgegen der biblischen Josephserzählung) die Nachkommen Abrahams geraten sind, weil sie von Gott abgefallen und der Materie verfallen sind. Wie Moses den Israeliten später erklärt, waren sie, als sie „dans les abîmes de l’Egypte“ gestürzt waren, mit den Bewohnern des dämonischen Kreises vermischt. Unverkennbar verweist diese Formulierung auf den Sturz des Menschen in die Materie. Gleichwohl muss der sensus historicus ebenfalls gelten. Ägypten steht hier also nicht nur für den Ort der Verdammnis, es ist selbst einer, etwa weil Gott hat die ohnehin schon Verworfenen an diesem Ort gesammelt hat. Die Deutung kann in diesem Falle nur eine nachgeordnete Lehre aus dem Erkannten ziehen, sie kann keine vorgeordnete Aussageabsicht rekonstruieren. Wäre es anders, wäre Ägypten zuallererst eine allegoria in rebus, die mit Mann und Maus in erster Linie als Zeichen geschaffen wäre, damit die abgefallenen Israeliten darin ihren Zustand lesen sollten, so wäre der Setzer dieses Zeichens auch ein Autor des Bösen. 608 Martines 1771, S. 140 609 Es muss hinzugefügt werden, dass der Begriff der „colère“ (Martines 1771, S. 140) Gottes hier nichts mit den anspruchsvollen Konzeptionen einer von Gott losgelösten, der sie ausbalancierenden Gnade entkoppelten, Zornesqualität zu tun hat, die in der Kabbala das Grundprodukt ist, aus dem sich das Böse entwickeln kann. Diese Konzeption würde auch nicht in Martines’ Versuch passen, das Böse konsequent als metaphysisch nichtig zu beschreiben, denn in ihr entwickelt es sich ja aus einem Etwas, das sich verändert. 286 nur gute. Die Berührung Gottes mit der Geschichte lässt ihn hier nicht schuldig werden, denn Abel wählt aus freiem Willen das ihm vom guten Intellekt angebotene Gute. 610 Was nun die Zeichensetzung durch dieses Gute betrifft, so ist sie aus den gleichen Gründen keine Schmerzensschrift Gottes auf der leidenden Kreatur. Vielmehr wählt diese selbst die Möglichkeit, für Gott ein Zeichen zu setzen. Im Gegensatz zu dem bereits referierten Beispiel der Opferung Isaaks wäre jedoch auch hier wiederum Gottes Aussageabsicht vereitelt, wenn Abel nicht mitspielen würde, denn es ist hier kaum eine Version der Geschichte erzählbar, die auch als Misslingen noch genügend Distinktivität aufweisen würde, dass daraus auf spätere heilsgeschichtliche Einlösung geschlossen werden könnte. Aus dieser Abhängigkeit von der Teilnahme des Menschen ergibt sich also ein Problem für Gottes Selbstaussprache in der Typologie. Wenn das liberum arbitrium stets über die positiven oder negativen Verhaltensmuster, die dem Menschen angeboten werden, verfügen darf, so liegt es letztlich in der Macht des Menschen, ob Gott in der Typologie aussprechen kann, was er meint. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen dem Buch der Geschichte und dem der Natur. So ist Seth nicht nur ein Typus der Versöhnung wie Abel, sondern seine Standhaftigkeit steht auch für die Unabänderlichkeit der Naturgesetze (bis zum Ende der Zeit). Gott scheint hier das Handeln eines von ihm Gesandten so zu beeinflussen, dass darin etwas über die Beschaffenheit der Welt lesbar wird, Heilsgeschichte wird zur Allegorese der Naturgeschichte. Entweder ist aber die Freiheit Seths durch die Intertextualität von Natur und Geschichte in Frage gestellt, oder ein Abweichen Seths von seiner Standhaftigkeit könnte diesen Querverweis tilgen. Auch die Konstellation von Adam, Kain und Abel verweist auf ein Element der Natur: Sie steht für die ideale Dreiecksgestalt der Erde und für die drei Essenzen der materiellen Schöpfung (Sulphur, Sal und Mercurius). Dies müsste man wohl darauf zurückführen, dass die Weltformeln auch Geschichtsformeln sind. In der Welt sind sie, wenn man von den Manipu- 610 Es muss nämlich aus dem Gesamtkontext zweierlei ergänzt werden: Zum einen wissen wir von Martines (nicht aber aus der Bibel), dass Kains Zorn gegen Abel von dessen Tadel an Kains Materievergötzung seinen Ausgang nimmt. Abel als Ausnahmemensch, der ganz dem guten Intellekt ergeben ist, hat (wie Christus) die Möglichkeit, das Sinnen und Trachten des Dämons im Anderen unverstellt zu erkennen: Er weiß also um seine Gefährdung. Abel leitet folglich seinen Tod bereits durch eine eigene Heilstätigkeit ein. Zum anderen ist klar, dass alle gute Tat eine bewusste freie Entscheidung für eine vom guten Intellekt und damit am Ende der Ursachenkette doch wieder von Gott bereitgestellte gedankliche Möglichkeit ist. Das Gute kommt also von Gott, aber der Mensch entscheidet sich frei dafür. Insofern ist Abels Tod ein gottgefälliger Opfergang. Diese Deutung kann nicht auf die erste Erklärung von Abels Tod durch den Engel als fléau übertragen werden, denn eine Geißelung hat nur Sinn, wenn die Tätigkeit hauptsächlich vom Geißelnden, nicht vom Gegeißelten, ausgeht, sonst wäre das Ganze nur Vortäuschung. 287 lationen des gefallenen Menschen einmal absieht, perfekt umgesetzt, weil die Sekundärursachen der Schöpfung für die Dauer der Zeit ihres freien Willens beraubt sind. Das Diktat des auctor ist weitgehend identisch mit dem liber naturae, das seine Schreiber (auf der Ebene des Feinstofflichen) schrieben. Im Falle der Geschichte wissen wir jedoch, dass die Freiheit des Menschen eine solche direkte Umsetzung potentiell behindert. Insofern ist auch die Annahme einer vom Diktierenden vollkommen beherrschten Intertextualität zwischen den beiden Werken prekär. Dies gilt zum Mindesten für diese Stelle, wo die Konstellation der Personen als solche, nicht ihr Tun, auf Weltzusammenhänge weist. Andere Passagen, wie etwa die Erbauung der Bundeslade nach typologischen Vorgaben des Schöpfers, sind Beispiele für ein bewusstes Sich-Einlassen des Schreibers auf das Diktat. Moses, dem die Strukturen der Welt direkt offenbart wurden, macht sich zum Mitautor der auf diese kosmischen Zusammenhänge verweisenden Lade. Insgesamt bemüht sich Martines de Pasqually um maximale Verweisdichte zwischen dem Buch der Schöpfung und dem der Geschichte. So etwa bei der Sintflut, die neben ihrer Funktion als Strafe, als Extremform göttlicher Teilnahme am Geschichtsprozess, der dadurch beinahe zum Stillstand gebracht wird, auch wieder eine didaktische Funktion für die Überlebenden erhält: Ihr Wasserschleier ist „allusion“ 611 auf den Kristallhimmel, der den Schöpfer von der Schöpfung trennt. Die ganze Noah- Episode wird zu einer Neuschöpfung, die zugleich deutend auf die erste Schöpfung zurückweist. Selbst der Engel, der die Tiere aus der Arche geleitet (wohl eine Umdeutung der anthropomorphen Gottesvorstellung von I Mose 8 und 9), wird zum Bild des sich (bei der feinstofflichen Schöpfung) aus dem Chaos ordnend zurückziehenden Logos, der dem Schöpfer die nunmehr distinkten Formen vor Augen treten lässt. Dieses Verhältnis zur ersten Genesis ist natürlich im Bibeltext durch die Wiederholung der Fruchtbarkeitsaufforderung und andere Motive angelegt. 612 Die 40 Tage, die die Lebewesen in der Arche ohne Licht verbrachten, stehen nach Martines für die ersten 40 Tage der Embryonalphase: Erst nach diesen kann die menschliche Leibesfrucht aktives (seelisches) und passives (materielles) Leben erhalten, erst dann also wird sie zum Menschen. Die Heilsgeschichte kommentiert hier die Ontogenese, 613 allerdings nicht aufgrund einer strukturellen oder kausalen Beziehung, sondern im Sinne eben einer kommentierenden Intertextualität: Der Schöpfer ordnet seinen Geschichtsbeitrag so an, dass er ein Element der Schöpfung erhellt, und zwar 611 Martines 1771, S. 208 612 Vgl. I Mose 9 613 - in einer Figur, die dem dann im neunzehnten Jahrhundert von E. Haeckel (und vor ihm von Erasmus Darwin und L. Oken) formulierten Biogenetischen Grundgesetz ähnelt. 288 eines, das ursprünglich von ihm nicht intendiert war. Die materielle Fortpflanzung des mineur ist ein Aspekt der Erbsünde, den Gott jedoch durch die Beseelung des Materiewesens sanktioniert hat. Der Kommentarbezug von Gottes Geschichtshandeln zu dieser materiellen Reproduktion autorisiert sie ein weiteres Mal, und zwar just in jenem Zusammenhang einer korrigierenden Neuschöpfung auch des Menschen, welche die Sintflut ist. (Man muss allerdings anmerken, dass die Sintflut für Martines mit einer solchen Fülle von Bedeutungen aufgeladen ist, dass die Distinktivität einzelner Bedeutungselemente sich verwischt. 614 ) Dieses Aufgreifen wiederum vom Menschen geprägter Modelle durch Gott ist nicht nur ein Verweis darauf, sondern es ist selbst Teilnahme an einem von beiden Seiten geformten Geschichtsprozess. g) Freiheit der Geschichte bei Martines de Pasqually Martines de Pasqually gestaltet das traditionelle christliche Allegoreseverfahren der Typologie im Sinne seiner Ablehnung der Vorsehung um. Typologie ist Erscheinungsform des gesetzhaften, aber gleichwohl freien Ablaufs von Geschichte. Diese Gesetzhaftigkeit ist in der geistigen Gestaltungsmacht der ersten, noch in einer geistigeren Welt wirkenden Menschen begründet; die folgenden Handlungen, die materieller und daher nichtiger sind, bleiben von diesen ersten archetypischen Prägungen abhängig. Wie bei Condillac (aber aus völlig anderen Gründen) ist der Lauf der Geschichte vermittels aus der Vergangenheit gewonnener Muster berechenbar, wenn auch mit der Kautele der Willensfreiheit, die die Grundlage von Martines’ Lösung des Theodizeeproblems bildet. Gleichwohl bleibt seine Argumentation nicht gänzlich frei von den Aporien der Theodizee. Je 614 So steht das feinstoffliche Regenwasser, das in das grobstoffliche Meerwasser fällt, für den Abstieg des ersten mineur in den Materieleib, und die 40 Regentage stehen für die 40 Jahre der Schmerzen, die Adam nach seinem Ungehorsam erduldete. Das Problem einer göttlichen Vorausweisung auf eigentlich freies menschliches Verhalten stellt sich hier zwar nicht, da beide Verweise rückwärtsgewandt sind. Die Problematik dieser beiden Verweise liegt jedoch in dem Bezug zwischen einem nicht sonderlich distinkten Signifikanten (es ist nicht sonderlich auffällig, dass bei einer Flutkatastrophe Wasser von oben sich mit solchem von unten mischt und dass die Katastrophe eine gewisse Zeit dauert) mit einem hochdifferenzierten Signifikat. Will man nicht die etwa von Eco vertretene polemische Position einnehmen, in einem analogischen Diskurs stehe ohnehin alles für alles, wie könnte dann diese Verweisung von Undifferenziertem auf Differenziertes sinnfällig werden? Diese Schieflage lässt sich nur korrigieren, wenn man von der Prämisse einer nur kommentierenden Bezugnahme wieder abrückt und etwa einen spezifischeren Bezug zwischen den jeweiligen Gliedern aufzuweisen sucht als den bloßer Zeichenhaftigkeit. Hier bietet sich wiederum das bereits am Text aufgewiesene Muster der typologischen Geschichtsprägung an: Der Abstieg des Menschen in den Materieleib ist nicht ein singuläres Ereignis, sondern ein Prototyp möglichen Unheils, der für alle Zukunft als Modell von Geschichte bereitsteht, ebenso wie die 40 als Maßzahl einer dunklen Geschichtsperiode. 289 deutlicher sich der Schöpfer in den Zeichen der Typologie selbst ausdrückt, desto mehr wird er in das Böse verwickelt. Gleichzeitig ist er in seiner Aussagemächtigkeit durch den freien Willen der anderen Geschichtshandelnden beschränkt. Bemerkenswert ist das Bemühen, innerhalb der engen Grenzen eines christlich-illuministischen Diskurses mit seinen Vorstellungen der Typologie und der Allmacht Gottes eine Konzeption von Freiheit der Geschichte einzuführen. Auch darin berührt sich Martines de Pasqually mit einer Tendenz der säkularen Geschichtsbetrachtung seiner Zeit, wenn auch seine Gründe für dieses Tun gänzlich eigene sind, da sie aus seiner Version der Theodizee kommen. Synergien aus verschiedenen Spielzügen können, wie man daran sieht, auch dann entstehen, wenn die Beweggründe der einzelnen Spieler miteinander unvereinbar sind. 2.5.3. Das Böse als Modus der Selbstzerstörung bei Fournié und Saint-Martin Saint-Martin betont in der Nachfolge seines Lehrers ebenfalls die menschliche Freiheit und lehnt daher die Prädestinationslehre ab (wobei er versucht, einen offeneren, positiveren Begriff der „destination“ als Erwählung dagegen abzugrenzen): La destination ne semble jamais se prendre qu’en bonne part: la prédestination a deux faces. Dieu donne souvent des destinations aux hommes, et c’est par là qu’il a eu des élus de toute espèce; mais il ne leur donne point de prédestination, parce que, sous le rapport même le plus avantageux, ce mot entraîne avec lui une sorte de contrainte qui semble nuire à la liberté; et, sous le rapport désastreux, il entraîne une sorte de fatalisme qui semblerait nuire à la justice. 615 So gesehen muss auch für ihn die Geschichte eine gewisse Offenheit haben. Im Gegensatz zu Martines denkt Saint-Martin diesbezüglich sogar an die Möglichkeit, dass Luzifer am Ende nicht reintegriert wird. Jedenfalls kann vom gegenwärtigen Standpunkt aus darüber nichts gesagt werden: D’ailleurs ceux qui enseignent hautement le retour final de cet être coupable, ne font pas attention à l’impossibilité où ils sont d’avoir dans ce monde une notion positive sur ces grands objets. 616 Für Saint-Martin ist es also zumindest denkbar, dass das schuldige Wesen nicht zu Gott zurück kommt, ohne dass deshalb Gott dafür verantwortlich sein muss. Dass die Güte Gottes nicht vermindert wird, wenn am Ende Luzifer doch noch verloren geht, ergibt sich gemäß den schon referierten Anschauungen Fourniés (die auch Entsprechungen bei Saint-Martin haben) daraus, dass die Selbstsetzung des Bösen als Nichts ja in dem Augenblick, 615 Saint-Martin 1802, S. 361 616 Saint-Martin 1802, S. 360 290 in dem der sich so Setzende dem Nichts anheimfällt, sozusagen gelingt und ihre Erfüllung findet. Böse sein ist so gesehen ein Modus der Selbstzerstörung und der Negation, dem weder Strafe noch Errettung positiv entgegenzusetzen sind. Das Böse verliert beim späten Saint-Martin dementsprechend manchmal das Personale und wird zu einem Prozess der Vernichtung, oder vielleicht kann man auch sagen: das personale Element verliert sich durch diese Vernichtung. Wenn also Luzifer nicht reintegriert würde, so wäre dies nur die Konsequenz (und nicht die Strafe) seiner selbst gewählten Nichtigkeit. Es sei nur im Vorübergehen darauf hingewiesen, dass Emanuel Swedenborg eine etwas kuriose optimistische Version einer solchen Konzeption kennt. Jeder Geist sucht sich nach Swedenborg gemäß seinen Neigungen einen Platz im Jenseits, und auch die Hölle (in der es keinen Luzifer gibt) ist solch ein selbst gewählter Ort. 617 Das Böse ist nicht mehr der Preis der Freiheit, sondern eine ihrer Möglichkeiten, und die Hölle ist nicht die Qual der Gott Entfremdeten, sondern ein zwar gottferner, aber doch für manche durchaus ansprechender Ort. Hier wie dort ist die Hölle lediglich die Erfüllung von Wahlfreiheit. 2.5.4. Die Revolution und die Freiheit des Erkennens in Saint- Martins Crocodile Die bösen Geister, die sich auf das Nichts gegründet haben, sind, wie wir von Fournié erfuhren, in der Materie und in der Zeit einerseits eingesperrt, andererseits geschützt. Für die Dauer der Zeit können sie sich bewähren, sind vor dem schrecklichen Anblick ihrer Gottferne und ihrer Gründung auf die Leere bewahrt und haben - wenn der Mensch seine Aufgabe erfüllt - vielleicht sogar die Chance, Gott zu erkennen und sich auf dessen Fülle neu zu gründen. Wie wir gleichfalls wissen, stehen jedoch diese Chancen augenblicklich schlecht, da der Mensch selbst, von ihnen verführt, in die Materie gestürzt ist und nun Schwierigkeiten hat, sein eigenes Wesen, seinen Auftrag und sogar Gott und die Natur zu erkennen. In Saint-Martins prosimetrischem „poème épico-magique en 102 Chants“ Le Crocodile, ou la guerre du bien et du mal arrivée sous le règne de Louis XV, etwa 1792 geschrieben und 1799 publiziert, ist nun der Moment gekommen, „où le moule du temps doit être brisé pour tout l’univers, en attendant que le temps soit brisé lui-même.“ 618 Dieser Vorgang ist schon seit einiger Zeit im Zerfall der Natur und des Universums zu spüren, „dans un continuel dépérissement, par l’isolement et la désunion des qualités qui 617 Vgl. Jonsson 1979, S. 253. 618 Saint-Martin 1799b, S. 68 291 la composent.“ 619 Die Ruinen und Lücken der Natur sind für Saint-Martin keine Indizien einer Evolution, sondern Vorboten des Endes der Zeit. Diesen Moment der Erwartung des Eschatons hat Saint-Martin in seinem Crocodile spielerisch und ironisch gestaltet. Er verlegt, wie schon im Titel zu sehen, die Handlung in die Regierungszeit Ludwigs XV, bricht aber diese Zuordnung, wie Nicole Jacques-Chaquin gezeigt hat, indem er den handelnden Personen mit Begriffen wie nation u.ä. ein für die Revolutionszeit (in der der Text verfasst wurde) typisches Vokabular in den Mund legt. 620 Aber auch die Handlung selbst ist eine phantastische Umformung von Motiven der Hungersnot, der Revolte, des Straßenkampfes, die so zu Figuren des Revolutionsgeschehens werden. Der Roman spielt also zwar vor der Revolution, deutet jedoch auf diese voraus und gleichzeitig noch über sie hinaus auf das Ende der Welt. Wie dies genauer aufzufassen ist, wird sich nach einem kurzen Durchgang durch einige Handlungselemente dieses magisch-phantastischen Prosimetrums erweisen. Paris hungert am Anfang dieses Romans (so würde man ihn wohl aus heutiger Sicht nennen), und zwar weil es sich zu wenig um spirituelle Nahrung bemüht hat. 621 Dies führt zu politischer Instabilität, die vom Krokodil, dem Dämon der Materie, genutzt und befördert wird. Das gigantische Krokodil (es kann ganze Armeen verschlucken) ist mit seinem Schwanz unter einer Pyramide in Ägypten festgeklemmt, kann sich jedoch auf der Erde (wohl aufgrund seiner elastischen Beschaffenheit) ansonsten frei bewegen. Es kommt nun nach Paris, um in der allgemeinen Verwirrung gegen einen Eingeweihten vorzugehen, der bei der Herbeiführung des von allen Dämonen gefürchteten Endes der Zeiten eine wichtige Rolle spielen könnte. Es handelt sich dabei um den spanischen Kabbalisten Eléazar, wohl eine Art fiktionaler ‘Figura’ Martines de Pasquallys, 622 der vor der (im Text polemisch eingeführten 623 ) Inquisition nach Paris geflüchtet ist. Eléazar predigt eine Naturerkenntnis durch Betrachtung des Menschen 624 , nicht durch nutzloses Bücherwissen, 625 und hat Einblick in spirituelle Zusammenhänge gewonnen, die dem Krokodil verschlossen bleiben müssen. Dieses Wissen Eléazars könnte dem Krokodil gefährlich werden, da die 619 Saint-Martin 1799b, S. 89 620 Vgl. Jacques-Chaquin 1998, S. 185. Dies ist zweifellos richtig; allerdings ist anzumerken, dass Saint-Martin lange vor der Revolution die Menschen (unter dem Aspekt der Heilsgeschichte) als „concitoyens“ bezeichnet (vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 204). Zu Saint-Martins Auffassung von der Revolution vgl. außerdem Konno 1985. 621 Saint-Martin 1799b, S. 88 622 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 100 623 „Quel abîme d’horreurs, s'écrie Sédir! Et ces hommes qui professent une religion de paix et de charité croient servir Dieu par l’ingratitude et par des jugements si cruels et si précipités! “ (Saint-Martin 1799b, S. 103). 624 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 105 625 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 106 292 Regeneration der Menschen das Moratorium der Zeit verkürzen würde. Anscheinend ist in der diesem Text zu Grunde liegenden Fassung des martinistischen Mythos die Fortdauer der Materie nicht mehr von einer Bekehrung der bösen Geister abhängig, sondern nur noch von der Geschichte des Menschen. Agent des Krokodils ist der aus Ägypten gekommene „grand homme sec“, der als Adept der Materie den Schlüssel im Schloss der Natur immer falsch herum dreht und seine Anhänger in die Irre führt: Ce qui le rend si à craindre, c’est qu’au moyen de quelques fausses lumières et de quelques puissances encore plus pernicieuses, il fascine les yeux de ses disciples, et leur ferme l’entrée aux lumières véritables. 626 Es wurde schon angedeutet, dass man, Tourlet (1804) folgend, hinter dieser Figur Cagliostro vermutet hat, nicht zuletzt, da dieser mit einem ‘ägyptischen’ Ritus arbeitete. 627 Es kommt nun zu einer Revolte des Volkes in Paris und zum Bürgerkrieg zwischen einer guten und einer bösen Partei; letztere wird von den Agenten des Krokodils geleitet. Als sich die zwei Armeen gegenüberstehen, verschluckt das Krokodil beide und gibt sodann den Bürgern von Paris einen materialistischen „cours scientifique“, aus dem wir einiges darüber erfahren können, wie dieser Dämon der Materie genau aufzufassen ist. Der Kurs des Krokodils erklärt die Welt als Selbstdifferenzierung eines immer schon vorhandenen Krokodils (also einer ewigen Materie). Das Krokodil als Prinzip der Materie weiß nichts von seinem Schöpfer. 628 Durch diese Anspielung auf die Ignoranz des gefallenen Geistes, der wie der gnostische Demiurg vom wahren Gott nichts weiß und ihn leugnet, wird die materialistische Welterklärung als das Böse greifbar: Das Krokodil ist zwar Symbol der Materie, aber zugleich, wie Amadou nachweist, von Saint-Martin nach ägyptischen Vorbildern als Typhon oder „mauvais principe“ gebildet. 629 Das Krokodil ist somit das Böse und die Materie zugleich, es ist sozusagen das in die Materie eingeschlossene böse Prinzip, das nun als materielles Prinzip versucht, sich absolut zu setzen (wie vorher als böses). 626 Saint-Martin 1799b, S. 108-109 627 So Amadou im Vorwort zu Saint-Martin 1799b. Auch diese Zuordnung wird jedoch durch Saint-Martins Angabe, das Ganze spiele sich unter Ludwig XV ab, zu einer ‘figuralen’, denn Cagliostro war während dessen Regierungszeit nur einmal kurz in Paris (im Winter 1772/ 73). Seine ägyptische Loge, über die er im Text identifizierbar ist, hat er jedoch erst 1784 in Lyon gegründet, also bereits unter Ludwig XVI. Vgl. Kiefer 1991, S. 639 628 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 118ff. 629 Vgl. Amadou (Vorwort) in: Saint-Martin 1799b, S. 17. Saint-Martin bezieht sich auf Savarys 1786 erschienene Lettres sur l’Égypte, III, S. 212-213. 293 Eingeschlossen in die materielle Welt kann es nun die Ideen nicht mehr erkennen und hat nur noch eine undeutliche Erinnerung daran, dies einmal vermocht zu haben (an Gott hat es keine Erinnerung mehr). Dies führt dazu, dass das Krokodil versucht, nun in der Materie zu lesen, was es auf andere Weise nicht mehr erkennen kann. Dabei gelingt es ihm jedoch nicht, die Schöpfung richtig auf den Schöpfer hin zu deuten. Es verkennt außerdem, dass die Natur eigentlich (wie wir in Kapitel IV sehen werden) sensorium Dei ist und glaubt, die Durchsinnlichung der Natur sei eine Genese der Sinnlichkeit der Materie und damit des Krokodils selbst. Dies führt in Saint-Martins Text zu einer Parodie auf die Darstellung der Genese der Sinnlichkeit bei Condillac 630 , die zugleich als falsch und als illegitim (weil materialistisch) dargestellt wird: Toutes ces corporisations particulières […] devinrent comme autant de sens pour le grand crocodile, qui était moi; et antérieurement je n'en avais pas besoin, puisque j'appercevais et que j'approchais tout sans intermède. Aussi je me rappelle bien qu’à mesure qu’il se formait de ces sens pour moi, je perdais en échange autant d’idées, ce qui paraît être absolument le contraire de ce que vos doctes vous enseignent aujourd’hui, puisque, selon eux, le moyen de vous retrancher les idées est de vous retrancher les sens […] toutes ces productions qui se formaient autour de moi, n'étaient plus que les figures corporisées de ce que je pouvais antérieurement apercevoir et connaître en réalité. 631 Je sinnlicher die Erkenntnis, desto weniger kann der Erkennende zu den Ideen vordringen. Das Krokodil zieht daraus jedoch nicht den platonischen Schluss, das Sinnliche sei nicht regelmäßig und daher nicht wissenschaftlich erfassbar, sondern es unterstützt im Gegenteil die Naturwissenschaften - allerdings unter der Bedingung, dass sie die wahren Verhältnisse (so weit sie dem Krokodil überhaupt erkennbar sind) nicht preisgeben und an der Oberfläche bleiben sollen. In den folgenden Abschnitten wird die Oberflächlichkeit der zeitgenössichen Kultur, die Saint-Martin auch in seinen anderen Werken rügt, dem Wirken des Krokodils zugeschrieben. Das Krokodil erzählt aus seiner Sicht eine Geschichte der translatio sapientiae, die satirische Funken sprüht 632 - wie überhaupt trotz der ‘hohen’ Thematik dieses Buch bemerkenswerten Humor aufweist. 630 Die Statue Condillacs wird von Eléazar an anderer Stelle mit der blinden Fortuna verglichen: „j'ai cru appercevoir que la fortune était comme une statue privée de tous les sens“ (Saint-Martin 1799b, S. 102). 631 Saint-Martin 1799b, S. 121-122 632 „Aussi Pythagore avait eu la sagesse dans l’esprit et dans le cœur; mais son disciple Socrate l’eut beaucoup plus dans le cœur que dans l’esprit, et la chose allant toujours en décroissant, son disciple, le fameux Platon, eut la sagesse plus dans l’esprit que dans le cœur; Aristote, disciple de Platon, l’eut plutôt dans la mémoire que dans le cœur et dans l’esprit; enfin son royal disciple, Alexandre, ne l’eut que dans l’estomac et au bout de son épée.“ (Saint-Martin 1799b, S. 129). 294 Das Krokodil hat in die Kulturgeschichte auf zwei Arten eingegriffen: Zum einen verwirrte es das christliche Europa durch die Entsendung Mohammeds, der Astrologen, Kolumbus’, der Erfinder des Buchdrucks und der Inquisition - man beachte die Reihung, die die Opposition von Aufklärung und Obskurantismus destruiert und ihre Elemente nach den Vorgaben illuministischer Kulturkritik klassifiziert. Andererseits versuchte es stets, mit Hilfe der Menschen zu erkennen, was es selbst nicht mehr erkennen konnte - aus Machtgier (aber diese Machtgier könnte sich, vor dem Hintergrund des Mythos Martines de Pasquallys betrachtet, für das Krokodil positiv auswirken, wenn es durch das Erkennen des Menschen hindurch auf Gott stieße) und durch einen Willen zum Wissen, der jedoch immer an der Erkenntnis des Göttlichen scheitert; auch das Christentum kann es nicht erkennen, ja nicht einmal nennen. 633 Die Kombination von Machtgier und Ignoranz ist damit zugleich die conditio daemoniaca schlechthin und das, was Saint-Martin der materialistischen Wissenschaft vorwirft (und sie ist natürlich auch das, was die Aufklärer umgekehrt den ‘Obskurantisten’ vorwarfen). Im achtzehnten Jahrhundert gehen auf das Konto des Krokodils: der Sensualismus (teils in genauen Bezugnahmen auf die in unserer E INLEI- TUNG referierten Kontroversen Saint-Martins mit Garat kenntlich gemacht), die (von vielen Diskursteilnehmern betriebene 634 ) Leugnung der Erbsünde, der Magnetismus und Somnambulismus (zu diesen in Kapitel III), der Materialismus und die Illusion der Naturwissenschaften, ein zu Experimentierzwecken isoliertes Materiepartikel sei ein Auszug der Natur und nicht lediglich ein Zeuge ihrer Zerstörung. Am Ende fallen Skeptizismus und Obskurantismus zusammen: […] qu’il y en ait parmi eux qui qui ne croient à rien, et qui cependant aillent consulter des sorciers et des tireuses de cartes. 635 Auch hier ist die Opposition von Aufklärung und Obskurantismus aufgehoben, aufklärerische und okkultistische Diskurse sind gleichermaßen vom Dämon der Materie bestimmt. (Saint-Martin distanziert sich damit außerdem indirekt selbst vom Okkultismus). Die Verwirrung der Wissenschaften wird nun auch in der Romanhandlung selbst greifbar durch eine „plaie des livres“, die alles Gedruckte debil, weich und grau macht. Die Gelehrten essen gierig von dieser „pâte molle et grisâtre“. 636 Der Gesang 41 führt den Unsinn vor Augen, der sich nach der Lektüre der befallenen Bücher im Bericht der Akademie breit macht. 633 Saint-Martin 1799b, S. 131-133 634 Vgl. Cassirer 1932, S. 182ff. 635 Saint-Martin 1799b, S. 133 636 Saint-Martin 1799b, S. 136-137 295 Ein kurzer Blick auf die Vorgänge im Bauch des Krokodils, in welchen die beiden verschluckten Armeen geraten sind, ist von Nutzen. Wir sahen schon in der E INLEITUNG , dass eine Hauptfigur des Romans, Ourdeck, darin Entdeckungen macht. Im Inneren des Krokodils befinden sich Instanzen der Steuerung des Geschehens in der Materie. Alles Disharmonische, Kontingente und Unregelmäßige der sublunaren Welt wird durch im Inneren des Krokodils stattfindende Operationen (unter anderem auf einem disharmonischen clavecin) in Gang gesetzt. Im Inneren des Krokodils verbreitet sich nun die Nachricht, dass die in dieser Unterwelt gefangenen Menschen (sie stehen wohl für die Verstorbenen in der Unterwelt, sowie für die in der Materie eingesperrten Menschen allgemein 637 ), soweit sie „grâciables“ sind, bald erlöst sein werden, „parce que le moule du temps sera brisé, et que l’empire des mauvais génies sera aboli.“ 638 Hier unten, in einem Seitenarm des Kapillarsystems des Krokodils, findet Ourdeck auch die „ville d’Atalante“, mit deren fossilisiertem geistigem Leben (einschließlich einer Preisfrage) wir uns bereits befasst haben. Es gibt in dieser verschütteten Stadt bewundernswerte Errungenschaften vergangener Weisheit wie einen „Cours de silence“ (Gesang 71), aber auch Negatives, etwa einen Redner im „temple de la vérité“, der, wie man an den Spuren seiner Worte sieht, das Gegenteil dessen denkt, was er sagt. 639 Das Krokodil speit nach einiger Zeit (und nach allerlei Begebnissen, die wir nicht referieren können) die beiden Armeen wieder aus, die dadurch zu den Sternen emporfliegen - was aufgrund der leichten, elastischen Natur der Himmelskörper nicht gefährlich ist. Anlässlich der Betrachtung der Sterne wird gegen Dupuis (der allerdings nicht genannt wird) polemisiert: Keineswegs sind alle Religionen auf die Astrologie zurückzuführen. 640 Nun tritt eine weitere wichtige Figur in Erscheinung: Der „Joailler“, der für den Christus-Logos steht, klärt die Menschen im Zusammenhang mit dem Weltraumflug der beiden Armeen über die Frage nach der Abhängigkeit der sublunaren Welt von den siderischen Influenzen auf. Zweifellos bestimmen die Sterne das Tun der unter sie gefallenen Wesen, und alles, was auf Erden geschieht, ist von dem, was auf die Sterne geschrieben ist, abhängig. Aber erstens werden diese Einflüsse vom Wirken der bösen Mächte verunklart und verwirrt und zweitens ist die Interaktion der Sterne untereinander so komplex, dass nichts wirklich berechenbar ist. Multikausale Zusammenhänge verhindern also das Projekt der Astrologie ebenso wie das der Astronomie. Zudem kann der regenerierte Mensch, der sich 637 Die Fiktion zeigt also eine analogische Korrespondenz zwischen den beiden Referenten in der Wirklichkeit auf, auf die sie weist. 638 Saint-Martin 1799b, S. 180 639 Gesang 72, vgl. besonders Saint-Martin 1799b, S. 202. 640 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 224. 296 einem höheren Licht unterstellt hat, aus dem Einflussbereich der Sterne entkommen und auch auf Erden davon frei werden. Der Mensch kann immer zwischen verschiedenen von den Sternen übermittelten Handlungsangeboten wählen. Die Gestirne determinieren also nicht, sondern sie ermöglichen nur, eben weil ihr komplexes Zusammenwirken jede monokausale Determination verhindert. 641 Die Wahlfreiheit des Menschen rührt außerdem daher, dass er seinen Ausgang von einer Stelle überhalb der Sterne nahm und einschließlich seiner höheren Vermögen unter den Einfluss der Sterne gefallen ist. Er muss sich also nur seiner eigentlich den Sternen überlegenen Macht erinnern und sie sich zurückholen. Nun kommt es zur Entscheidung. Eléazar hat die Bahnen der Armeen so gelenkt, dass die guten sideralen Einflüsse überwiegen. Als sie zurück zur Erde gelangen, wird das Krokodil besiegt und verbannt, die Form der Zeit zerbricht, und der Joailler nimmt Eléazar in die Société des Indépendants, eine Art Gemeinschaft der Heiligen, auf. 642 Am Ende des Romans steht also das Ende der Geschichte bevor, denn, wie wir oben erfuhren, wenn das Formgehäuse der Zeit zerbricht, wird auch die Zeit selbst enden. An die Figura der Revolution im Roman muss sich demnach die (wie wir sahen, mitbedeutete) Revolution selbst anschließen, die damit Bestandteil des eschatologischen Geschehens wird. Dabei muss man jedoch bedenken, dass die Tonart des Crocodile insgesamt spielerisch und ironisch ist. Jacques-Chaquin hat sogar darauf aufmerksam gemacht, dass man das ‘Poem’ auch als Parodie auf den Millenarismus des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts lesen kann. 643 Die Revolution wird nicht in heiligem Ernst angekündigt, sondern es wird figural und zugleich spielerisch fiktional auf sie vorausgedeutet. Die fiktionalen Geschehnisse sind Figuren einer Revolution, die selbst nur Figur ist, „les épisodes relatés figurent la Révolution, laquelle figure à son tour le futur triomphe de l’homme-esprit.“ 644 In seiner Lettre à un ami, ou Considérations politiques, philosophiques et religieuses sur la Révolution française nennt Saint-Martin die Revolution „une image abrégée du Jugement dernier.“ 645 Ein Blick auf die in diesem Text enthaltenen Äußerungen Saint-Martins über die tatsächliche Französische Revolution soll unsere Lektüre des Crocodile nun vervollständigen. 641 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 228-229. 642 Vgl. Saint-Martin 1799b, S. 231-147. 643 Vgl. Jacques-Chaquin 1998, S. 185ff. Die millenaristische Lesart der Revolution findet sich etwa bei Bardin de Lutece 1790, wo alle Ereignisse der Zeit auf die Apokalypse bezogen werden, wobei in diesem Fall das apokalyptische Reich der Gerechten durch ein von der Revolution zu ermöglichendes Wiedererwachen des Protestantismus realisiert werden soll. 644 Jacques-Chaquin 1998, S. 187 645 Saint-Martin 1795, S. 12 297 Die Revolution gehört nach der eben zitierten Aussage Saint-Martins in ein Zeichenprogramm, sie ist Figura des Eschaton. Vor dem Hintergrund der martinistischen Typologie muss dies jedoch nicht bedeuten, dass die Revolution von Gott verfügt wurde. Sie kann durch die Entscheidungen (und durch die Reife) der Menschen herbeigeführt sein und damit zu einer im Jüngsten Gericht einzulösenden Figura werden, die selbst die Grundlagen für das Ende der Zeit schafft. Saint-Martin sieht in der französischen Revolution einen Schritt auf die Möglichkeit einer Regeneration des Geistmenschen hin, und insofern ist der Typus hier auch Bestandteil einer Geschichtsfiliation, die seine Einlösung enthält. Im Sinne Martines de Pasquallys könnte man sagen: Die Revolution eröffnet den geistigen Raum, in dem sich die Regeneration ereignen kann, die dann wiederum das Ende der Zeiten nach sich zieht. Insofern, als damit die Franzosen den Weg zur Vergeistigung des Menschen neu eröffnen, könnte man sie, so Saint-Martin, als das neue auserwählte Volk verstehen. 646 Anne-Marie Amiot hat diesen Glauben an die Erwählung der Franzosen ins frühe neunzehnte Jahrhundert weiter verfolgt. 647 Wie Delon dargelegt hat, begrüßt Saint-Martin die Revolution als Ende der Lethargie und Auflösung alter Verfestigungen, vor allem der katholischen Kirche - als Moment der Energie. 648 Diese positive Bewertung der Revolution mag bei einem die Welt von Gott her denkenden Autor verwundern, denn theokratische Gesellschaftsentwürfe tendieren oft zu einer monarchistischen Ausrichtung. Nicole Jacques-Chaquin hat darauf hingewiesen, dass Saint-Martin anlässlich der Revolution seine anfänglich eher paternalistische Vorstellung eines idealen Staates revidierte. 649 Obwohl er persönlich als Adeliger von ihr bedroht war, begrüßte Saint-Martin die Revolution, zum einen aus sozialkritischen Motiven, die ihren Platz in seinen christlichen Grundanschauungen haben - zum anderen aber, weil die Revolution als Aktion „le signe de l’action divine“ ist. 650 Jacques- Chaquin kann daher gängige Vergleiche mit der reaktionären Einstellung eines Joseph de Maistre mit guten Argumenten zurückweisen. 651 Für Saint- Martin haben die aktuellen Gesellschaftsformen keine Autorität, da sie erst nach dem Fall aufgetreten sind, und Versuche, sie aus religiösen Überlegungen zu begründen, sind eine unzulässige Übertragung vom Geistigen auf das Materielle, meist von unlauteren Motiven geleitet. 652 Es gibt hier 646 Vgl. Saint-Martin 1795, S. 74. 647 Vgl. Amiot 1975, S. 383ff. 648 Delon 1988, S. 230 649 Jacques-Chaquin 1974, S. 211. Zu Saint-Martins politischer Theosophie vgl. neuerdings Schmidt-Biggemann 2004. (Dieses Buch lag bei der Abfassung der vorliegenden Untersuchung noch nicht vor.) 650 Jacques-Chaquin 1974, S. 213 651 Jacques-Chaquin 1974, S. 213 652 Vgl. Jacques-Chaquin 1974, S. 216-217. 298 also nichts Gegebenes oder Festes. Vielmehr sind politisches Handeln und Geschichte ein „tissu vivant et mobile“, das auch an der Bewegung der Regeneration teilhaben soll (wenn diese auch selbst innerlich und individuell ist). 653 Die Revolution ist so eine Krise auf dem Weg zu einer besseren Staatsform der Selbstbestimmung (wobei, wie Jacques-Chaquin anhand einer Fülle von Textbeispielen zeigt, die gewaltbetonte Form dieser Krise Saint- Martin, der sogar ein früher Gegner der Todesstrafe war, abstieß). Sie soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Mensch seine Möglichkeiten erkennt und aktiv verfolgt. 654 In ihrem Verlauf verstärkt sich, wie Jacques- Chaquin ebenfalls zeigt, die bei Saint-Martin von Anfang an zu beobachtende ablehnende Haltung gegenüber dem Versuch, das Recht auf Eigentum als Naturrecht zu begründen. 655 Sein auch anderswo zu beobachtender Antiklerikalismus lässt ihn hoffen, die Revolution werde die sichtbare Kirche, die sich zwischen Gott und die Menschen gestellt hat, verschwinden lassen; nur die unsichtbare Kirche soll bleiben. 656 Denn alle Menschen sind als Mikrokosmen gleichermaßen inspiriert und daher befähigt, den inneren Weg zu Christus zu gehen, ohne dass es einer Priesterschaft bedürfte. Daher gibt es auch weltliche Autorität nur als verliehene oder geliehene, der Regierende (der gewählt werden soll) repräsentiert nicht Gott, sondern das Volk, dessen Abglanz auf ihm liegt und das ihm übergeordnet ist. 657 Die Regierungsgeschäfte müssen daher für jedermann offen liegen. Saint-Martin spricht sich aus für ein „gouvernement démocratique, à qui appartient la théocratie naturelle“ 658 : Theokratie ist so gerade keine durch Priesterhierarchien, Monarchie und Staatsreligion definierte Regierungsform, sondern das demokratische Zusammenwirken von Bürgern, die auf der voie intérieure zu ihrem inneren Christus-Logos gefunden haben. Jacques-Chaquin weist zu Recht darauf hin, dass dieses Programm keine Rückkehr zum Urzustand oder zur Natur bedeutet, denn Saint-Martin will ‘zurück’ zu etwas, das zwar vor dem Fall im Menschen angelegt war, aber in der tatsächlichen Geschichte nie realisiert wurde. 659 Er denkt also Perfektibilität, festes Menschenbild und Dekadenzmodell auf besondere Weise zusammen. Zwar wird so auch hier das Ziel der Entwicklung aus der Gestalt des Menschen abgeleitet, aber nicht aus derjenigen des gefallenen Menschen, sondern aus der geistigen Gestalt des ungefallenen Adam. Im Idealfall führt die Realisation der demokratischen Theokratie zu einer Art harmonischer Anarchie. Nicht umsonst heißt die Gesellschaft der 653 Saint-Martin 1795, S. 66 654 Vgl. Saint-Martin 1795, S. 76. 655 Jacques-Chaquin 1974, S. 220 656 Vgl. Saint-Martin 1795, S. 15 und Jacques-Chaquin 1974, S. 221. 657 Vgl. Saint-Martin 1795, S. 46ff. 658 Saint-Martin 1795, S. 60; vgl. Jacques-Chaquin 1974, S. 223. 659 Vgl. Jacques-Chaquin 1974, S. 223-224. 299 Erleuchteten im Crocodile „Société des Indépendants.“ Und so ist dasjenige, was die Revolution ermöglichen soll, etwas, das man gemeinhin als Anliegen der Aufklärung betrachtet: die Freiheit des Erkennens. Befreit von Kirche und Obrigkeit, aber auch von der Materieverfallenheit der philosophes soll der Mensch Gott an und in seiner eigenen Menschengestalt erkennen und erfahren. Und genau darin liegt auch die figurale Vorausweisung auf das Ende der Welt: Wenn der Materieschleier und die Gussform der Zeit verschwinden, wird Gott wieder selbst sichtbar, den Gerechten zum Lohn und den Gottfernen zur Qual. Saint-Martins Erzählung, die das Tableau der Weltordnung vom Bauch des Krokodils bis hinauf zu den Sternen durchläuft, führt sowohl die Genesen der aus seiner Sicht allzu selbstgewissen materialistischen Philosophie (womit er freilich nur einen Teil der Benutzer des Genese-Modells trifft) als auch ihre mythischen Gegenentwürfe über in eine Phantastik der Freiheit. Der aus allen Bevormundungen entlassene Leser soll in sich selbst den Schlüssel zu den spirituellen Wahrheiten finden, nicht im grauen Schleim der in Selbstauflösung begriffenen Bücher. Dass Le Crocodile selbst ein Buch ist, scheint dabei durchaus mit reflektiert zu sein. So erscheint das, was diesen Text für heutige wie damalige Leser so schwer verdaulich macht, 660 seine hybride und chaotische Gestalt aus romanhafter Prosaerzählung, theosophischer Abhandlung und satirischen Versen, seine ungezügelte Phantastik und seine Brüche, seine Verweigerung gegenüber jeder Gattung und jeder Form, als Selbstauflösung des Buches und als Widerspiegelung der Befreiung seines Lesers. 660 Der Text wurde nicht noch einmal aufgelegt, und selbst noch die Herausgeber der einzigen modernen Ausgabe meinten, ihn durch die Weglassung des Traktats über die Zeichen entlasten zu müssen. 300 3. Die Dimension der Referenz Es gilt nun, die zweite der von uns herausgeschälten Dimensionen des Repräsentationsmodells zu untersuchen, die Referenz: Wie verhält sich der repräsentierende Diskurs zur Welt? Der Bezug zwischen den Worten und den Dingen im Repräsentationsmodell ist dabei zerlegbar in einen erkenntnistheoretischen Teil (wie verhalten sich die Ideen zu den Sachen? ) - und einen semiotischen Teil (wie werden die Ideen und die Zeichen zusammengeordnet? ). Der erstgenannte Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit, da (wie wir in Kapitel I,1 feststellten) für Foucault das ‘klassische’ Zeitalter die Erkenntnistheorie besonders ausprägt. Die Ideen werden, wir wir gesehen haben, von den Sensualisten als (transformierte) Wahrnehmungen gedeutet. Das Verhältnis solcher Wahrnehmungs-Ideen zu den Objekten der äußeren Welt kann grundsätzlich auf zwei Arten gedacht werden: Entweder es lässt sich bestimmen, ob die Sinnesdaten etwas von den Dingen an sich vermitteln, oder es lässt sich lediglich zeigen, dass sie uns mehr oder weniger nützlich sein können, also die Dinge für uns in einer bewertbaren Weise erschließen. Es muss sodann entschieden werden, ob die Wahrnehmungen für sich geschehen und anschließend mit Sprache verbunden werden oder bereits in einem durch sprachliche Entwürfe vorstrukturierten Feld auftreten. Die genaue Art der Verbindung von Wahrnehmung und Sprache ist sodann zu definieren: Handelt es sich um eine Kausalreaktion: eines bringt das andere hervor (so denken die Sensualisten etwa spontane Lautäußerungen) - oder um eine sprachliche Etikettierung von Wahrnehmungselementen durch eine archivierende Instanz (dies haben wir bislang als den sensualistischen Normalfall vorgefunden) - oder um ein Sich-Ausdifferenzieren eines konzeptuelllautlichen Netzes, in dem die Sinneseindrücke gefangen werden können (das wäre die Konsequenz der gleichfalls sensualistischen Betonung der Sprachabhängigkeit des Denkens)? Besonders für diejenigen Begriffe, die nicht unmittelbar mit einer Sinneswahrnehmung verbunden werden können, insbesondere die Abstrakta, muss dann die wichtige Frage beantwortet werden, ob sie für die jeweiligen Autoren nur Ordnungsmittel des Sprachbenutzers sind oder ob sich mit solchen Allgemeinbegriffen Strukturierungen der Welt selbst erfassen lassen. Aus all diesen Teilentscheidungen ergäbe sich sodann eine Beantwortung der Frage nach den Wörtern und den Sachen im Frankreich des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Wir müssen uns dabei allerdings auf einige stellvertretend hervorzuhebende Züge beschränken, da wir nur einen kleinen Teil der énoncés zu diesem Thema betrachten können. Auch kann es hier nicht darum gehen, ob diesen Autoren gültige oder gar richtige Erfassungen der betreffenden Gegenstände geglückt sind, sondern al- 301 lenfalls darum, ob sie überzeugende Geschichten darüber erzählen und wie diese strukturiert sind. 3.1. Sensualismus und Gewissheit 3.1.1. Condillacs Lehre vom Urteil In seiner Untersuchung zu Lamartines Méditations poétiques hat Andreas Kablitz gezeigt, dass im frühen neunzehnten Jahrhundert einige der fundierenden Annahmen traditioneller Poetik nicht mehr gelten. Vor allem zwei (miteinander verbundene) Aspekte führt er auf Veränderungen der epistemologischen Voraussetzungen zwischen Lamartine und seinen Vorgängern zurück: Zum einen ist die liaison des idées nicht mehr Garantie eines Diskurses, der in seinen Verkettungen die Verknüpfungen der Wirklichkeitsstruktur abbilden kann; zum anderen ist eine solche Abbildung insgesamt fraglich geworden: Insbesondere der Zweifel an einer voraussetzbaren Entsprechung zwischen den als Begriffe der Sprache begegnenden Ideen und so etwas wie den Gestaltideen der Welt führt dazu, dass die äußere Realität zunehmend der dichterischen wie der philosophischen Rede zu entgleiten scheint. Diese Veränderung weist Kablitz anhand von zwei wichtigen französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts auf: Gilt ihm Condillac noch als teilweise in den alten Vorstellungen befangen, so steht Condillacs Nachfolger Destutt de Tracy für deren konsequente, freilich selbst wieder neue Probleme aufwerfende Verabschiedung im Sinne eines strengen Nominalismus. Wie man an dem aus der Philosophiegeschichte des Mittelalters bekannten Begriff ‘Nominalismus’ sieht, ist das Problem zu dem Zeitpunkt, auf den sich unser Interesse konzentriert, schon recht alt. Besondere Aktualität erhält es jedoch in dem uns interessierenden Zeitraum durch die von Descartes vorgegebene Problemlage. Bekanntlich geht Descartes’ Versuch, Gewissheit in Absetzung von der Theologie und gegen die Skeptiker zu begründen, von dem Zweifel aus, ob denn die Welt überhaupt, nicht nur ihre mögliche Gestaltung nach Ideen, menschlichem Erkennnen zugänglich sei. Der Preis, den Descartes für seine Begründung von Gewissheit entrichtet, ist der Dualismus von res cogitans und res extensa, der eine extreme Verschärfung des Gegensatzes zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt nach sich zieht: Da die Gewissheit zunächst nur für das Zweifeln und mithin das Denken besteht, wird alles andere von diesem aus als das ihm Gegenüberstehende erschlossen. Durch diesen Gegensatz ist etwa eine holistische Lösung, die Erkennende und Erkanntes in einer höheren Einheit aufhöbe und so einander als immer schon verbunden zuordnete, ausgeschlossen. Um in einem solchen Konstrukt noch Ideen annehmen zu können, die die Welt der Objekte begründen und gleichzeitig im Geist des Menschen vorhanden sind, bedarf 302 es göttlicher Garantien. So sind die Ideen bei Descartes dem Menschen angeborene Handreichungen Gottes, Unterpfand von dessen Wahrhaftigkeit, welches das Vertrauen des Menschen in das lumen naturale rechtfertigt. Bei Malebranche sind die Dinge dem Menschen gar nur in Gott als dessen Ideen erkennbar. Da nämlich zwischen den beiden entgegengesetzten Seinsformen der denkenden und der ausgedehnten Substanz gar keine Interaktion denkbar ist, können wir die äußere Welt nicht direkt erkennen; wir schauen jedoch die Ideen im Geist Gottes, und diese sind wiederum die Urbilder der äußeren Dinge, die uns dadurch indirekt zugänglich sind. Diese Ausgangslage, sowie die allgemeine Tendenz der Aufklärung, sich von Descartes und Malebranche abzusetzen, haben eine Fülle gegensätzlicher Lösungsversuche auf den Plan gerufen, und von hier zeigt sich schon, dass die diesbezüglichen Verhältnisse in der von uns betrachteten Periode keineswegs übersichtlich sein werden und im übrigen eher zu den Spielzügen als zu den Grundregeln des diskursiven Spiels zu rechnen sind. Betrachten wir zunächst, angeleitet von Kablitz, Condillac und die Ideologen. a) Implizites und explizites Urteil Kablitz geht bei seiner Lektüre von der Frage aus, ob die Forderung Condillacs, sprachliche Formulierungen müssten eine möglichst lückenlose Verkettung aufweisen, statt lediglich eine stilistische Norm auszudrücken, auf eine diskursive Mimesis analoger (erkennbarer) Strukturierungen auf der Ebene der dargestellten Welt zielt. In diesem Zusammenhang stellt sich für ihn die Frage nach der gedachten Relation von Sprachzeichen und Welt zunächst bei Condillac, später im Vergleich dazu bei Destutt de Tracy, jeweils am Beispiel der Analyse des Urteils untersucht, da „Sprache und außersprachliche Realität in dieser Instanz zusammentreffen.“ 661 Das Beispiel, das Kablitz analysiert, stammt aus Condillacs Grammaire, aus einem Kapitel, das aufweisen möchte, welche Rolle die Sprache bei der Analyse unseres Denkens, also unserer (transformierten) Wahrnehmung spielt. Für Condillac ist Wahrnehmung ja, wie wir sahen, anders als für Maupertuis auch ohne Sprache bereits gewisser Differenzierungen fähig. In dem in Kapitel I, 2.2.2.1 schon zitierten Brief an Maupertuis kritisiert Condillac an dessen Réflexions philosophiques etwas, das er auch an seinem eigenen Frühwerk, dem Essai sur l’origine des connaissances humaines, korrekturbedürftig fand: die Überbewertung der gleichwohl immer noch wichtigen Rolle der Sprache bei der Herausbildung von Gedanken. 661 Kablitz 1985, S. 150 303 Je souhaiterois que vous eussiez fait voir comment les progrès de l’esprit dépendent du langage. Je l’ai tenté dans mon Essai sur l’Origine des Connoissances humaines, mais je me suis trompé et j’ai trop donné aux signes. 662 Wahrnehmung ist für Condillac auch schon ohne Sprache im Ansatz Denken, und wir haben bereits gesehen, dass sogar Tiere für Condillac implizite Urteile fällen können. Der Unterschied zur sprachlich artikulierten Wahrnehmung liegt hauptsächlich darin, dass die komplexen Sinneseindrücke vor ihrer Versprachlichung als unanalysiertes Ganzes (aber wohl nicht als unverständlicher, unnützer Klumpen) gleichzeitig auftreten, wenn auch bereits durch die Mitwirkung der unterschiedlichen Sinnesorgane grob nach diesen eingeteilt. Deshalb muss Condillac auch der These von Maupertuis, die ersten Äußerungen seien dem propositionalen Gehalt nach eher wie Sätze denn wie Einzelbegriffe zu beschreiben gewesen, widersprechen. Wo Maupertuis selbst schon die Zerlegung einer komplexen Wahrnehmung in Einzeleindrücke und die Konstruktion dazu passender Objekte von Sprache abhängig macht, setzt Condillac eine anschauende Verstandestätigkeit, die zunächst Einzelheiten isoliert und diese erst dann mit Einzeletiketten versieht. Nicht zunächst unzerlegbare Propositionen sind demnach für Condillac die ersten Sprachlaute, sondern bereits zerlegte Einzelbegriffe: Je pense que votre langage ne seroit dans le commencement qu’un langage d’action, que quand vous imagineriez des sons articulés, ce ne seroit d’abord que pour les objets sensibles […] Ainsi au lieu de commencer par des propositions pour les décomposer ensuite, il me semble au contraire que vous commenceriez par donner des signes à vos idées pour en faire ensuite des propositions. 663 Condillac nimmt also an, dass unbegriffliches Denken im Prinzip (und auf einfachste Weise) möglich ist - eine Annahme, die sich freilich in der Sprache kaum exemplifizieren lässt, da es schwierig ist, anhand eines formulierten Gedankens zu beweisen, dass dieser auch unformuliert ein solcher wäre. Erst nach dieser selbst vorbegrifflichen Ausbildung erster Ideen werden diese etikettiert und können dann zu analytischen Propositionen verbunden werden. In dem Abschnitt der Grammaire, um den es uns jetzt geht, erscheint das Urteil „cet arbre est grand“ als Herstellung einer Beziehung zwischen zwei Ideen beziehungsweise Wahrnehmungsaspekten, nämlich derjenigen eines Baumes und derjenigen von Größe. Dabei soll bewiesen werden, dass der in der Sprache erfolgende ‘Vergleich’ der Ideen grand und arbre, der zu der Aussage „cet arbre est grand“ führt, nur eine spezifische, sprachlich analysierte, Fassung einer analogen Operation auf der Ebene der vorsprachli- 662 Condillac 1947-51), II, S. 536 663 Condillac 1947-51), II, S. 536 304 chen Wahrnehmung und daher letztlich mit dieser identisch ist. Würde man Condillac entgegenhalten, die Wahrnehmung und die sprachliche Affirmation seien zwei verschiedene Operationen, so wäre sein Gegenargument folgendes: Je réponds que la perception et l’affirmation ne sont, de la part de l’esprit, qu’une même opération, sous deux vues différentes. Nous pouvons considérer le rapport entre arbre et grand, dans la perception que nous en avons, ou dans les idées de grand et d’arbre, idées qui nous représentent un grand arbre comme existant hors de nous. Si nous le considérons seulement dans la perception, alors il est évident que la perception et le jugement ne sont qu’une même chose. Si au contraire nous le considérons encore dans les idées de grand et d’arbre, alors l’idée de grandeur convient à l’idée d’arbre, indépendamment de notre perception, et le jugement devient une affirmation. Envisagée sous ce point de vue, la proposition, cet arbre est grand, ne signifie pas seulement que nous apercevons l’idée d’arbre avec l’idée de grandeur: elle signifie que la grandeur appartient réellement à l’arbre. 664 Diese Stelle ist etwas dunkel und sei hier darum einmal pointierend und ein wenig interpretierend paraphrasiert: In der vorsprachlichen Perzeption eines großen Baumes ist es nach Condillac bereits möglich, die Elemente Baum und Groß aus der Wahrnehmung herauszulösen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Da für Condillac Sinnesdaten insbesondere durch die Strukturierung der Sinnlichkeit mit Hilfe des Tastsinns auch schon vorsprachlich unterscheidbar sind, kann in der Wahrnehmung einer Beziehung zwischen ihnen ein nicht sprachliches Urteil erfolgen. Diese Unterscheidung ist eine Art von Analyse: Die komplexe Wahrnehmung wird mit Hilfe der Aufmerksamkeit, die sich auf verschiedene Aspekte richten kann, in Bestandteile zerlegt, die sodann in Beziehung zueinander gesetzt werden (wobei auch dieser rapport in der Wahrnehmung auftaucht). Auf der Ebene der konkreten Einzelwahrnehmung handelt es sich also sozusagen um ein analytisches Urteil: Der wahrgenommmene Großbaum ist erstens ein Baum und zweitens groß. Nun zur sprachlichen Version. In der sprachlichen Fassung sieht dieses Urteil zunächst wie ein synthetisches aus: Ich bilde ein Urteil mit Hilfe verallgemeinerter Wahrnehmungen („idées“), die ich mit den Etiketten grand und arbre versehen habe, und setze diese beiden Zeichen zusammen. Aber auch diese Operation würde Condillac (wir sahen es in Kapitel I, 2.1.2.) als Analyse auffassen, nämlich als Zerlegung einer individuellen Totalidee („cet arbre“) in ihre Bestandteile. So gesehen enthält also das explizite Urteil nichts, was nicht schon im impliziten Urteil enthalten wäre - außer, wie wir sehen werden, den Akt der Affirmation bezüglich einer Außenwelt. Um zu verstehen, warum dieser Unterschied für Condillac so unwichtig 664 Condillac 1775/ 1782, S. 383 305 ist, müssen wir uns nun die explizite Version dieses Urteils etwas genauer ansehen. b) Proposition und Außenwelt Die sprachliche, explizite Version ist als Abfolge klarer als die vorsprachliche Version, da die Elemente in ihr besser dekomponiert werden können: Pour faire cette décomposition, vous avez distribué avec ordre les mots qui sont les signes de vos idées. Dans chaque mot vous avez considéré chaque idée séparément; et dans deux mots que vous avez rapprochés, vous avez observé le rapport que deux idées ont l’une à l’autre. 665 Diese Abfolge hat die Form eines Satzes, einer Aussage. Dieser unterscheidet sich von dem impliziten Urteil durch drei Eigenschaften: Zunächst ist er linear und dadurch analytischer, zum zweiten ist er explizit, zum dritten ist er eine Proposition: Dès qu’elles seraient ainsi enveloppées, il est évident que les comparaisons et les jugemens de votre esprit ne seraient pour vous que ce que nous appelons perception. Vous ne pourriez pas faire cette proposition, cet arbre est grand; puisque ces idées seraient simultanées dans votre esprit, et vous n'auriez pas de moyens pour vous les représenter dans l’ordre successif qui les distingue, et que le discours peut seul leur donner. Par conséquent, vous ne pourriez pas juger de ce rapport, si, par en juger, vous entendez l’affirmer. Dennoch minimiert Condillac den Unterschied zur weniger analytischen, impliziten, nicht propositionalen Form: Tout vous confirme donc que le jugement, pris pour une affirmation, est, dans votre esprit, la même opération que le jugement pris pour une perception; et qu’ayant par vous-même la faculté d’apercevoir un rapport, vous devez à l’usage des signes artificiels la faculté de l’affirmer ou de pouvoir faire une proposition. L’affirmation est en quelque sorte moins dans votre esprit que dans les mots qui prononcent les rapports que vous apercevez. 666 Der dritte der genannten Unterschiede bedarf nun noch einer näheren Ausführung. Die Form der Aussage geht als affirmation insofern über die Wahrnehmung hinaus, als in ihr eine These über eine nicht unmittelbar verfügbare Außenwelt gemacht wird, die Condillac (zu Unrecht 667 ) als distinktiv für die sprachliche Form ansieht: Es ‘gibt’ ein Exemplar der Wahr- 665 Condillac 1775/ 1782, S. 384 666 Condillac 1775/ 1782, S. 385-386 667 Der Fehler Condillacs ist, den Unterschied zwischen explizitem und implizitem Urteil nicht allein an die Versprachlichung, sondern an eine bestimmte sprachliche Form, die Tatsachenaussage, zu binden. Er kann so weder explizite bloße Wahrnehmungen („Ich sehe einen Baum, der mir groß erscheint“), noch implizite Tatsachenhypothesen erklären: Die Tiere, die für ihn, wie wir sahen, auch urteilen, urteilen ja, dass tatsächlich vor ihnen ein Beutetier steht, denn sie beißen zu. 306 nehmungsklasse, aus der ich den Begriff des Baumes gebildet habe, und dieses koexistiert vor mir mit einem Exemplar der Wahrnehmungsklasse, die meinem Begriff von ‘Groß’ zugrundeliegt. Der Satz „alors l’idée de grandeur convient à l’idée d’arbre, indépendamment de notre perception“ gibt also den Inhalt des Urteils wieder, der Baum sei tatsächlich groß (dies zeigt sich schon an der Fortsetzung des Satzes: „et le jugement devient une affirmation“, die anders keinen Sinn ergäbe). Mit der Affirmation wage ich mich insofern weiter vor als in der Perzeption, als ich nun die These vorbringe, meine Wahrnehmung entspreche der Wirklichkeit. Das eigentlich immer als analytisches gedachte Urteil erhält dabei bis zu einem gewissen Grade das Aussehen eines synthetischen, aber dies scheint für Condillac nur ein zusätzlicher Aspekt zu sein, der weitgehend unproblematisch bleibt. Wir werden noch sehen, warum. Der Proposition eignet also ein zusätzlicher Risikofaktor, der hinsichtlich der stummen Wahrnehmung nicht mit bedacht wird: die Frage nach der Gewissheit der formulierten Erkenntnis (die sich zweifellos auch schon für die stumme Wahrnehmung stellen ließe). Condillac führt sie folgendermaßen ein: Il y a donc trois choses à distinguer dans nos sensations: 1° la perception que nous éprouvons; 2° le rapport que nous en faisons à quelque chose hors de nous; 3° le jugement que ce que nous rapportons aux choses leur appartient en effet. Il n'y a ni erreur, ni obscurité, ni confusion dans ce qui se passe en nous, non plus que dans le rapport que nous en faisons au dehors. Si nous réfléchissons, par exemple, que nous avons les idées d’une certaine grandeur et d’une certaine figure, et que nous les rapportons à tel corps, il n’y a rien là qui ne soit vrai, clair et distinct; voilà où toutes les vérités ont leur force. Si l’erreur survient, ce n’est qu’autant que nous jugeons que telle grandeur et telle figure appartiennent en effet à tel corps. 668 Bemerkenswert ist, dass hier anlässlich der ersten beiden Punkte die Gewissheit betont wird, und dass der grundsätzliche Zweifel an der Wahrheit unserer Rede nur als dritter Punkt ins Spiel kommt, fast als handle es sich um eine unwesentliche Ergänzung. Die ersten beiden Operationen finden in uns statt und sind daher sicher und gewiss, so weit sie korrekt ablaufen. Es handelt sich um die Perzeption selbst und so etwas wie die Herstellung eines Konstruktes von Außenwelt. Nur wenn wir aussagen wollen, dass unserer Wahrnehmung tatsächlich und außerhalb ihrer etwas entspricht, begeben wir uns auf das Glatteis der Hypothese; dies tun wir immer dann, wenn wir ein implizites Urteil in eine sprachliche affirmation überführen. Denn die Realität als solche entzieht sich unserer Kenntnis. Wir wissen nicht, was es ist, das in uns eine bestimmte Wahrnehmung auslöst, und wir wissen auch nicht, ob es dieser Wahrnehmung ähnelt; die Wahrnehmung 668 Condillac 1746, S. 21 307 ist eine Repräsentation, die über die Hypothese der Kausalität einer anzunehmenden Außenwelt zugeordnet werden kann: La neige est blanche, si l’on entend par blancheur la cause physique de notre perception; elle ne l’est pas, si l’on entend par blancheur quelque chose de semblable à la perception même. 669 Aber das scheint für Condillac kein Problem zu sein. Irrtum ist diesbezüglich möglich, aber so lange wir unsere Perzeptionen auf korrekte Weise in Konstrukte überführen, solange wir die Ideen und ihre Verkettungen in richtigen, an der tautologischen Struktur der Mathematik orientierten Genesen aus den ersten Bestandteilen hervorgehen lassen, müssen wir uns keine Sorgen machen. Die ersten Wahrnehmungen bleiben demnach auch dann hinlänglich verlässlich, wenn wir nicht wissen können, ob sie der wahren Essenz der Dinge entsprechen. Diese können wir ohnehin nicht erfassen, ein solcher Versuch wäre anscheinend für Condillac sinnlos. In einer seiner für argumentative Zwecke immer wieder gebrauchten Spekulationen über die Ursprache nimmt Condillac (ebenfalls in der Grammaire) dazu Stellung: Il y a des philosophes, Monseigneur, qui ont pensé que les noms de la langue primitive exprimaient la nature même des choses […] et ils se trompaient. La cause de leur méprise vient de ce qu’ayant vu que les premiers noms étaient représentatifs, ils ont supposé qu’ils représentaient les choses telles qu’elles sont […] Ils est donc à propos de remarquer que, lorsque je dis qu’ils représentaient les choses avec des sons articulés, j’entends qu’ils les représentaient d’après des apparences, des opinions, des préjugés, des erreurs; mais ces apparences, ces opinions, ces préjugés, ces erreurs étaient communes à tous ceux qui travaillaient à la même langue, et c’est pourquoi ils s’entendaient. Un philosophe, qui aurait été capable de s'exprimer d’après la nature des choses, leur eût parlé sans pouvoir se faire entendre. On pourrait ajouter que nous ne l’entendrions pas nous-mêmes. 670 Zwar kann man nach dieser Stelle die Möglichkeit einer Einholung des wahren Seins nicht generell ausschließen, aber weder die ursprüngliche noch unsere heutige Verständigung kann sich darauf beziehen; vielmehr referieren alle Äußerungen auf Konstrukte aus Wahrnehmungen. Ihre Zustimmungsfähigkeit beziehen sie innerhalb einer Gemeinschaft aus der Gemeinsamkeit der Erfahrungen und der gemeinsamen Arbeit an deren sprachlicher Etikettierung. Wir kennen die Essenz der Dinge demnach nicht, sondern wir wissen nur, wie wir unsere Konstrukte nennen: 669 Condillac 1746, S. 24 670 Condillac 1775/ 1782, S. 368 308 Mais quelle est la nature de ces êtres? Elle (sc. la statue) l’ignore et nous l’ignorons nous-mêmes. Tout ce que nous savons, c’est que nous les appelons corps. 671 Auch die Idee der Substanz bedeutet nichts Interessanteres als „cela“: Mai si on lui (sc. à la statue) demandait ce que c’est qu’un corps, qu’elle pût répondre, elle en montrerait un, et dirait: c’est cela […] Un philosophe répondrait: c’est un être, une substance étendue, solide, etc. Comparons ces deux réponses, et nous verrons qu’il ne connaît pas mieux qu’elle la nature du corps […] car dans le vrai les mots être, substance ne signifient rien de plus que le mot cela. 672 Die wahre Essenz der Dinge bleibt uns verborgen. Aber wenn wir Wahrnehmungen haben, die für uns die Ausgedehntheit des wahrgenommenen Objektes voraussetzen, so konstruieren wir eine ‘Sekundäressenz’, von der wir zwar nicht wissen können, ob sie der eigentlichen Natur der Dinge entspricht, wohl aber, ob sie unsere Wahrnehmungen in konsistenter Weise hinterfüttern kann: Si je vous demande encore pourquoi le corps est étendu, et pourquoi l’âme sent? plus vous y réflechirez, et plus vous verrez que vous n’avez rien à repondre. Vous ignorez donc l’essence véritable de ces deux substances. Cependant vous considérez que toutes les qualités que vous voyez dans le corps supposent l’étendue, et que toutes celles que vous aperceverez dans l’âme supposent la faculté de sentir. Vous pouvez donc regarder l’étendue comme l’essence seconde du corps, et la faculté de sentir comme l’essence seconde de l’âme. 673 Trotz der Nichtverfügbarkeit des Dinges an sich lohnt es sich nach Condillac, die ersten Sinneseindrücke mit den von ihm gelehrten Methoden gewissenhaft weiter zu entwickeln, denn anscheinend sind sie auch ohne die Möglichkeit einer direkten Erkenntnis der Essenz der Dinge von Wert. Wir werden sehen, wie Condillac dies begründen kann. c) Platonische Ideen? Zurück zu unserem Beispiel aus der Grammaire. Kablitz liest diesen Abschnitt kritischer als wir dies oben getan haben. Er versteht den Satz „alors l’idée de grandeur convient à l’idée d’arbre, indépendamment de notre perception“ nicht (wie wir oben) als Referat einer These, sondern als Argument für deren Richtigkeit - was zugegeben die an der sprachlichen Oberfläche plausiblere Lektüre ist. Unsere Deutung musste im Grunde Condillac eine gewisse Schludrigkeit der Formulierung unterstellen, denn um sie zu erzwingen, hätte Condillac korrekterweise sagen müssen: *’alors nous disons que la grandeur convient […] ‘ statt „alors la grandeur con- 671 Condillac 1754, S. 284 672 Condillac 1754, S. 289-290 673 Condillac 1775/ 1782, S. 31 309 vient […] “. Nur eine wohlwollende Lektüre des Gesamtzusammenhangs (beispielsweise unter Einbeziehung der unmittelbar anschließenden Aussage „et le jugement devient une affirmation“, die in Kablitz’ Lektüre weniger gut unterzubringen ist 674 ) kann Condillac hier vor dem Vorwurf eines uneingestandenen Universalienrealismus bewahren. Denn folgt man Kablitz, so folgert hier Condillac aus der Verbindung der Ideen selbst die Gewissheit seiner Aussage, weil die Ideen, die darin vorkommen, den Elementen der in der Wahrnehmung zutreffend analysierten Außenwelt entsprechen, die selbst nach dem Bauplan dieser Ideen geschaffen ist. Dies nicht in der Weise, dass Bäume grundsätzlich groß sind und also auch dieser; vielmehr handelt es sich um ein Verhältnis der Konvenienz („convient“) der Allgemeinbegriffe, dessen Aussagewert eher darin liegt, dass diese Allgemeinbegriffe, Baum und Groß, auch fundierende Kategorien der tatsächlichen Welt darstellen. Kablitz legt hier in der Tat einen platonischen Restbestand bloß; gleichwohl müssen wir, um diesen Befund mit unseren übrigen Condillac-Lektüren sinnvoll verbinden zu können, seine These ein wenig modifizieren. Im Gegensatz zu der eben referierten Interpretation lasen wir ja den Abschnitt so, dass die Allgemeinbegriffe hier nicht als Mittel zur Herstellung von Gewissheit über die Strukturen der Welt, sondern als Zwischenergebnisse eingeführt werden, die lediglich helfen, eine komplexe Einzelwahrnehmung zu zerlegen, die in der Formulierung „cet arbre est grand“ mit einer durch das Demonstrativpronomen implizierten Zeigehandlung indiziert ist. 675 Diesem Baum kommt, so die Hypothese, die ausgedrückt werden soll, „réellement“ Größe zu. In der Tat werden, wenn man genau hinsieht, die beiden Ideen, die beiden allgemeinen Begriffe von Baum und Größe, hier nur unter der Voraussetzung eingeführt, dass sie zusammen wiederum eine konkrete Repräsentation leisten: Sie repräsentieren „un grand arbre comme existant hors de nous“. Insofern ist der mit den Allgemeinbegriffen gebildete Satz eine komplexe Repräsentation einer individuellen Idee mit Hilfe von (wiederum aus solchen konkreten Ideen entwickelten) Allgemeinbegriffen - gemäß der resolutiv-kompositiven Methode der sensualistischen Sprachtheorie. Dem Großbaum entspricht dann auf der Ebene der Sprache das Zeichen „cet arbre“, welches für eine (relativ verlässliche) komplexe konkrete Idee aus zwei (weniger gewissen, aber nützlichen) allgemeinen einfachen Ideen steht und in diese wieder zerlegt wer- 674 Wenn die Richtigkeit der Wahrnehmung durch die Konvenienz der Ideen garantiert ist, ist nicht plausibel, warum es die Hinzuziehung dieser Ideen sein sollte, die das Urteil in eine Affirmation verwandelt. Vielmehr begründet diese Hinzuziehung das Urteil, verwandelt es also in ein begründetes, nicht in ein explizites. 675 Es ist aus dem Kontext deutlich, dass Condillac hier weder von einem hypothetischen Urteil (*Ich träume oft von einem Garten, in dem ein Baum steht. Dieser Baum ist groß.) noch von einem in Zeit oder Raum verschobenen spricht (*Am Ende der Welt steht ein Baum. Dieser Baum ist groß.). 310 den kann. So ist für Condillac, der ja kein anderes als das analytische Urteil kennt, auch dieses ein solches. Die Allgemeinbegriffe, die dabei ins Spiel kommen, verbürgen keine Gewissheit, sondern sie sind nur Instrumente der Zerlegung. Die Hypothese über die Welt, wie sie wirklich ist, kommt bei Condillac eigentlich als Zusatz zur analytischen Zerlegung der Wahrnehmung im Satz ins Spiel, sie ist Preis oder Nebenprodukt der Analyse, aber nicht unbedingt selbst ihr Ziel. Die im Mittelpunkt der Argumentation stehende Behauptung, die Proposition sei im Grunde das gleiche wie die Wahrnehmung, ist dabei in unserer Lektüre nicht dadurch begründet, dass die Ideen der Anschauung auch die Strukturen der Schöpfung sind, sondern dadurch, dass implizites und explizites Urteil nur graduell verschieden sind (und gerade hieran sieht man, dass die These über die Außenwelt, die Condillac unbegründet an die sprachliche Form bindet, nur ein Zusatzelement ist). Die Komplexität der Argumentation dieses Absatzes rührt daher, dass Condillac hier zwei einander entgegengesetzte Dinge beweisen und miteinander versöhnen will: Zum einen will er in diesem Kapitel insgesamt zeigen, dass die Analyse der Wahrnehmung durch das Nacheinander eines syntaktischen Ablaufes klar abgegrenzter Teilbegriffe besser gelingt als in stummer Betrachtung. Zum anderen aber will er getreu seiner in dem Brief an Maupertuis formulierten Erkenntnis, sein eigenes Frühwerk, der Essai sur l’origine des connaissances humaines betone die Rolle der Sprache bei der Differenzierung des Denkens zu sehr, doch festhalten, dass bereits auf der Ebene der wortlosen Anschauung so etwas wie ein Urteil möglich ist. Und dies ist genau der von Saint-Martin gegenüber Garat (wir sahen es) aufgezeigte Widerspruch zwischen einer Betonung des vorbegrifflichen Denkens (die nötig ist, um zu beweisen, dass Sprache ohne Zutun Gottes entstehen kann) und einer Betonung der Rolle der Zeichen für das Denken (die helfen soll, den ontologischen Primat des Geistes zu unterminieren). Obwohl wir Kablitz demnach nicht dahingehend folgen können, dass die Gleichsetzung von Perzeption und Affirmation durch die Identität der Sensations-Ideen mit den Archetypen der Schöpfung garantiert sei, bleibt doch die Zuversicht Condillacs bemerkenswert, mit seinen Methoden der Transformation von Wahrnehmungsideen auch in einer auf ihre fundierenden Elemente nicht durchsichtigen, ja überhaupt in ihrer Essenz nicht erkennbaren Welt erfolgreich handeln zu können. Dies schlägt immer wieder in einem quasi universalienrealistischen Sprachgebrauch durch, den Kablitz aufdeckt und für seine These, Condillacs Sensualismus ruhe immer noch auf einem letztlich platonischen Fundament, ins Feld führt. So anlässlich von Condillacs Definition der Modifikationen einer Substanz: 311 Les choses que nos idées ou nos sensations nous représentent dans les corps, se nomment qualités, manières d’être, ou modifications. 676 Das klingt so, als ob die Einteilungen der Sprache auch die der Welt seien - obgleich man auch diesen Satz in einer Weise paraphrasieren kann, die diese Annahme nicht einschließt: Die Dinge, die unsere Wahrnehmungen uns als in den Körpern existent vorstellen, können nach traditionellen ontologischen Vorstellungen klassifiziert und benannt („se nomment“) werden. Wir erfuhren schon, dass ‘Substanz’ für Condillac nicht mehr bedeutet als cela. An einer an diese anschließenden Stelle gewinnt Condillac abstrakte Qualitätsbegriffe aus der Anschauung eines einzelnen Körpers, nicht aus dem Vergleich mehrerer. 677 Kablitz schließt aus der Möglichkeit dieser Operation: Die „idée abstraite wird beim einzelnen Gegenstand bereits vorausgesetzt.“ Auch hier könnte eine wohlwollende Lektüre Condillac noch zugestehen, dass er zunächst nur Sinnesreizungen registriert und diese nach den Organen, in denen sie geschehen, voneinander unterscheidet. Warum sollte man in Condillacs System nicht einen Reiz X im Organ Y Weiß nennen und - natürlich in der Hoffnung späterer, vergleichender Bestätigung - X allgemein als möglicherweise wiederkehrende Weiße sowie Reizungen einer Stelle in Y allgemein als eventuell öfter auftretende Farbe etikettieren? - immer vorausgesetzt, dass es überhaupt möglich ist, Sinneseffekte, die nicht in einen bereits strukturierten begrifflichen Rahmen eintreten, gegeneinander abzusetzen. Wie aber verhält sich die Weiße zur Welt? Hier entscheidet sich Kablitz wieder für eine universalienrealistische Lesart einer zugegeben gewagten Formulierung Condillacs: Si, par conséquent, de toutes les idées qui me viennent par les sens, je fais autant d’idées abstraites, j’aurai la décomposition de toutes les qualités que je connois dans les corps, puisque je les aurai toutes séparées. 678 Für die von Kablitz vorgeschlagene Deutung, die sprachliche Dekomposition einer komplexen Wahrnehmung sei hier mehr als nur die Analyse dieser Wahrnehmung als solcher, muss man allerdings „les qualités que je connois dans les corps“ mit ‘die Eigenschaften, die ich in den Körpern als tatsächlich existierend erkenne’ paraphrasieren, nicht etwa: ‘die Eigen- 676 Condillac 1775/ 1782), Grammaire, „Précis...“, I, S. 303 677 Condillac macht in einer Fußnote des „Extrait raisonné“, den er seinem Traité des sensations voranstellt, klar, dass für ihn Ideen von Qualitäten gar nicht aus einem Vergleich von rohen Sinneswahrnehmungen gebildet werden können, da die Operation des Vergleichs bereits rein geistig ist, also Ideen, mithin die Modifikation von Sinnesdaten, voraussetzt: „Enfin M. Buffon dit que les idées ne sont que des sensations comparées, et il n'en donne pas d’autre explication. C’est peut-être ma faute; mais je n'entends pas ce langage. Il me semble que pour comparer deux sensations, il faut déjà avoir quelque idée de l’une et de l’autre. Voilà donc des idées avant d’avoir rien comparé.“ (Condillac 1746, S.36, n.) 678 Condillac 1775/ 1782), Grammaire, „Précis...“, I, S. 305 312 schaften, die ich den Körpern zuerkenne’, mit anderen Worten: Das Gelingen der Anschauung muss grundsätzlich möglich (und überprüfbar) sein, damit die Qualitäten in der Wahrnehmung auch solche der Welt selbst sein können. Darüber hinaus muss ich, wenn ich so die von mir klassifizierten Eigenschaften als solche der Welt bestätigt habe, auch noch die in der Klassifikation hergestellten Relationen in der gleichen Weise dort wiederfinden; dann würde ich mich der (Welt und Sprache gleichermaßen fundierenden) Ideen anlässlich meiner Wahrnehmungen erinnern. Kablitz entscheidet sich für diese kritische Lesart und schließt: Die idées gehen der einzelnen Wahrnehmung u n d den Gegenständen voraus. Condillacs - scheinbar - sensualistische Erkenntnistheorie gründet auf letztlich platonischen Annahmen, die die idées zu den ‘eigentlichen’ Entitäten erheben; diese organisieren den Erkenntnisprozeß und bilden zugleich die Bausteine der erkannten Gegenstände. ‘Sensualistisch’ ist Condillacs Analyse nur, weil er die idées abstraites/ générales bereits auf die Ebene der perception projiziert. Weil die idées immer schon voraufgehen und die Gegenstände / idées individuelles letztlich erst konstituieren, werden sie zum eigentlichen, freilich ungenannten, Garanten von Condillacs Überzeugung, daß die Wahrnehmung konkreter Fakten und das Urteil als Relation von idées dieselben Operationen bilden. 679 Wieder mit Hilfe der Annahme, Condillac setze voraus, Wahrnehmung könne die Welt als solche erfassen, könnte damit auch seine Forderung, auf die Verkettung der sprachlichen Strukturen besonders zu achten, auf das Ding an sich hin geöffnet werden. Die Verkettung der Sprachzeichen bildete in dieser Lektüre nicht nur diejenige unserer Wahrnehmungsoperationen ab, sondern die Struktur der Welt, da wir ja nur die in der Wahrnehmung treffend isolierten konstituierenden Bestandteile der Welt mit Sprachzeichen versehen und sodann im Verlauf sprachlicher Reflexion separieren würden. ‘Meint’ also, salopp gesprochen, Condillac, wir könnten mit den sprachlich vermittelten Ideen, insofern sie mit den die Gegenstände selbst konstituierenden Ideen zusammenfallen, die Natur der Dinge einholen? - Oder hat Kablitz in seiner Analyse nur ein ‘platonisches’ Beschreibungsvokabular (und eine in Resten vorhandene, damit verbundene Hintergrundvorstellung) innerhalb eines nominalistischen Rahmens aufgedeckt, dessen Position dort jedoch immer noch problematisch und erklärungsbedürftig wäre? d) Der ontologische Status der Allgemeinbegriffe Anlässlich der Betrachtung des Aufbaus von Ideenketten wurden wir schon auf die nominalistische Tendenz der Schule Condillacs aufmerksam, die ja darin gründet, dass die Begriffe stets nur als Zwischenergebnisse aufgefasst werden. Alle Allgemeinbegriffe sind nur Ordnungsmittel unseres 679 Kablitz 1985, S. 154 313 Verstandes, die nur in diesem „une sorte de réalité et d’existence“ 680 annehmen. Es gibt nur Individuen, keine Klassen, in der Natur: Il faut bien que nos premières idées soient individuelles; car, puisqu’il n’y a hors de nous que des individus, il n’y a aussi que des individus qui puissent agir sur nos sens. Les autres objets de notre connaissance ne sont point des choses réelles qui aient une existence dans la nature; ce ne sont que différentes vues de l’esprit, qui considère dans les individus les rapports par où ils se ressemblent, et ceux par où ils diffèrent. 681 Nicht nur die Hintergrundvorstellung des Zwischergebnisses begründet diesen Nominalismus. Wie Lovejoy 682 bemerkt, steht er außerdem in einer von Locke 683 her rührenden Tradition; gleichzeitig aber schließt er, so Lovejoy, an eine bestimmte Naturbetrachtung an, die in dem traditionellen spekulativen Motiv von der ‘Kette der Wesen’ (wir werden dieses in Kapitel III näher betrachten) neben einem ‘Prinzip der Fülle’ (nach dem alles dem Schöpfer Denkbare auch das Sein erhalten haben muss) ein radikales Kontinuitätsprinzip findet: Alle Wesen sind einander auf der Kette benachbart, und gerade die Annahme einer Kontinuität kleiner Unterschiede, einer Kette ohne Sprünge, lässt es nahe liegend erscheinen, die Gattungen (die ja als ihre Grenzen eigentlich Sprünge brauchen) abzulehnen und statt ihrer eine Reihe von Individuen anzunehmen, die sich in einer kontinuierlichen Unterscheidungsreihe situieren lassen. Namentlich Buffon hat aus dieser Sicht den Gattungsbegriff (zumindest am Anfang seiner Tätigkeit) abgelehnt, 684 und es ist leicht einzusehen, dass diese Vorstellung nahe am Fundament der taxonomischen Wissensform liegen muss, denn sie garan- 680 Condillac 1775/ 1782, S. 438 681 Condillac 1775/ 1782, S. 392-393. Vgl. auch Condillac 1780a, S. 349: „D’après tout ce que nous avons dit, former une classe de certains objets, ce n’est autre chose que donner un même nom à tous ceux que nous jugeons semblables; et, quand de cette classe nous en formons deux ou davantage, nous ne faisons encore autre chose que choisir de nouveaux noms pour distinguer des objets que nous jugeons différens. C’est uniquement par cet artifice que nous mettons de l’ordre dans nos idées; mais cet artifice ne fait que cela; et il faut bien remarquer qu’il ne peut rien faire de plus. En effet, nous nous tromperions grossièrement, si nous nous imaginions qu’il y a dans la nature des espèces et des genres, parce qu’il y a des espèces et des genres dans notre manière de concevoir. Les noms généraux ne sont proprement les noms d’aucune chose existante; ils n'expriment que les vues de l’esprit, lorsque nous considérons les choses sous les rapports de ressemblance ou de différence...il n'y a que des individus.“ 682 Lovejoy 1936, S. 275-277 683 Locke führt für seine These, die Begriffseinteilungen seien nicht in der Natur, das Beispiel eines Jamaikaners an, der nicht zwischen Eis und Wasser unterscheiden würde, vgl. Locke 1690, III, v und vi. 684 Vgl. Buffon 1749, I, S. 12-13. Lovejoy 1936, S. 278, weist darauf hin, dass Buffon später aufgrund der Unfruchtbarkeit von Mischwesen die Gattungen dann doch als von der Natur gegeben annahm. 314 tiert die Möglichkeit einer lückenlosen Reihung durch kleinste Unterschiede getrennter Entitäten. In dem bereits erwähnten Brief an Maupertuis pflichtet Condillac diesem bei, dass selbst die Unterscheidung zwischen Substanz und Modus nicht in der Natur zu finden sei: Il est hors de doute que la distinction de substance et de mode n’est point fondée dans la nature des choses et que c’est par cette raison que les philosophes diffèrent si fort de sentiment à ce sujet. Ils se seroient épargné bien des mauvaises raisonnements, s’ils avoient vu comme vous qu’elle n’est fondée que dans la partie universelle des perceptions: mais je ne sais si on porroit vous accorder que dans le cas où tous les objets soient verds, la verdeur pût être prise pour une substance; car elle ne seroit partie uniforme que pour l’œil; l’étendue au contraire le seroit pour l’œil et pour le tact. Vous ne pourriez pas par des abstractions dépouiller l’arbre de l’étendue et de la figure et lui conserver la verdeur, car la verdeur ne peut pas ne pas être étendue. Il y auroit de la différence entre la philosophie de deux peuples qui n’auroient eu aucun commerce ensemble, et la différence des langages pourroit y contribuer: je doute cependant que cette différence fût aussi considérable que vous paroissez le supposer, les hommes ayant partout les mêmes sens et des besoins semblables; je crois que sans se communiquer, ils seroient sûrement conduits à faire les mêmes abstractions et les mêmes raisonnements. 685 Der Abschnitt wurde deshalb so ausführlich zitiert, weil sich darin auf engem Raum Condillacs sonst verstreute diesbezügliche Argumente versammelt finden. Die Hierarchie der Begriffe ist hier nur durch die Sinnlichkeit bestimmt. Sie hängt wesentlich an der Frage, wie viele Sinne an einer Wahrnehmung beteiligt sind, denn für Condillac sind es, zumindest auf der Ebene der einfachen Begriffe, nicht die sprachlichen Operationen, die Differenzierungen ermöglichen, sondern schon die Sinne. Wir werden dies gleich noch etwas weiter verfolgen. Condillacs universalienrealistisches Vokabular situiert sich also in einem betont nominalistischen Rahmen. Es kündet in jedem Falle von erstaunlichem Vertrauen in die konstrukthaften transformierten Wahrnehmungen einer die Essenz der Dinge nicht erreichenden Anschauung. Wie kann Condillac diese scheinbar widersprüchlichen Aspekte seines Schreibens versöhnen - oder anders gefragt: Ist die Menge der mit ‘Condillac’ etikettierten Texte überhaupt konsistent benutzbar? 3.1.2. Die messianische Natur Auch Knight sieht in einer Annahme der möglichen Korrespondenz zwischen der Ordnung der Ideen und der der Realität eine Grundlage von Condillacs Philosophieren, vor allem für sein ‘genetisches’ Verfahren: „Although the Essai had a subjectivist orientation, it is clear that Condillac 685 Condillac 1947-51), II, S. 536-537 315 assumed a real external order giving rise through sensation to ideas that represent and correspond to those external objects. Therefore he deduced the derivation of perceptual order from what he believed to be its meaning.“ 686 Knight meint, im Traité des sensations sei der Subjektivismus konsequenter, denn dies entspreche der späteren Entwicklung Condillacs. Aber demgegenüber muss bemerkt werden, dass etwa der Art de raisonner und selbst noch die späte Logique voller Vertrauen auf die Erkennbarkeit der Welt in den menschlichen Begriffen sind. a) Sündenfall Um dies zu klären, wollen wir einen Blick auf jene Passage werfen, in der Condillac am Anfang seines Schreibens seinen sensualistischen Weg verteidigt: L’ame peut donc absolument, sans le secours des sens, acquérir des connoissances. Avant le péché, elle étoit dans un systême tout différent de celui où elle se trouve aujourd’hui. Exempte d’ignorance et de concupiscence, elle commandoit à ses sens, en suspendoit l’action, et la modifioit à son gré. Elle avoit donc des idées antérieures à l’usage des sens. Mais les choses ont bien changé par sa désobéissance. Dieu lui a ôté tout cet empire: elle est devenue aussi dépendante des sens, que s’ils étoient la cause physique de ce qu’ils ne font qu’occasionner; et il n’y a plus pour elle de connoissances que celles qu’ils lui transmettent. De-là l’ignorance et la concupiscence. C’est cet état de l’ame que je me propose d’étudier, le seul qui puisse être l’objet de la philosophie, puisque c’est le seul que l’expérience fait connoître. Ainsi, quand je dirai que nous n'avons point d’idées qui ne nous viennent des sens, il faut bien se souvenir que je ne parle que de l’état où nous sommes depuis le péché […] 687 In der Ökonomie von Condillacs Argumentation ist dies zunächst einmal Abgrenzungs- und Entlastungsgestus. Die übernatürliche und die natürliche Welt und ihre Erklärungen werden so getrennt: Wenn, wie Knight 688 feststellt, damit die natürlichen Erklärungen nicht für die übernatürlichen Phänomene gelten, so ist unter der Hand auch dargelegt, dass umgekehrt die übernatürlichen Erklärungen nicht für die natürlichen Phänomene gelten, die Philosophie also von der Theologie emanzipiert ist. Dies ist eine der aufklärerischen Grundentscheidungen, die wir in der E INLEITUNG aufführten, hat aber eine Vorgeschichte in früheren Epochen, die von Pomponazzi über Galilei und Bacon bis in Condillacs Gegenwart zu verfolgen ist. 689 Aber die Stringenz dieser Argumentation trügt. Zum einen ist sie zirkulär: Condillac will die Notwendigkeit einer sensualistischen Erkenntnis- 686 Knight 1968, S. 104 687 Condillac 1746, S. 16-17 688 Knight 1968, S. 139 689 Vgl. Knight 1968, S. 140. 316 lehre erst noch beweisen, setzt sie aber insofern auch schon voraus, als er als Grund für die Beschränkung der Philosophie auf die Sinneseindrücke des gefallenen Menschen angibt, der gefallene Zustand sei „le seul que l’expérience fait connoître.“ Die Erfahrung, deren Vorrang vor anderen Erkenntnisweisen bewiesen werden soll, fundiert bereits diesen Beweis. Zum anderen ist Condillacs Argumentation mit dem Sündenfall im Vergleich zu derjenigen der augustinischen und der teils auf dieser fußenden esoterischen Tradition nicht besonders radikal, setzt sie doch voraus, dass das, was dem Menschen nach dem Fall geblieben ist, noch genügt, um Basis des Philosophierens, vielleicht sogar von Gewissheit zu sein. Insofern baut Condillacs Konsequenz aus dem Fall des Menschen darauf, dass die Folgen dieses Falles, und damit die Prämisse seiner Folgerung, nur eingeschränkt gelten. „L’ignorance et la concupiscence“ sind für ihn keine grundsätzlichen Verdunklungen des menschlichen Verstandes. Das wichtigste aber, was wir dem obigen Zitat für unseren Zweck entnehmen wollen, ist scheinbar eine Konzession an die Theologie, betrifft aber bereits die Frage nach der Seinsweise der Allgemeinbegriffe: Vor dem Sündenfall konnte die Seele des Menschen Ideen erwerben, die nicht durch die Sinne zu ihr gelangten. Es gibt also durchaus platonische Ideen, wir können sie nur nicht erreichen. Mag auch der heutige Mensch keine angeborenen oder sonst unter Umgehung der Sinnesorgane zu ihm gelangten Ideen haben, grundsätzlich ist das Sein der Ideen nicht an die Sinne gebunden. Der universalienrealistische Sprachgebrauch Condillacs stützt sich hier also auf einen Mythos, der sowohl die Annahme, es gebe Ideen in oder vor der Natur, als auch die Unmöglichkeit, sie zu schauen, begründet; gleichzeitig aber spricht dieser Mythos von der Möglichkeit, Ideen durch die Sinne zu bilden: Sind diese Sinnesideen am Ende mit den unerreichbaren Schöpfungsideen identisch? Wenn wir Condillacs referiertes Misstrauen gegenüber den Allgemeinbegriffen der Sprache ernst nehmen wollen, so muss dies bedeuten, dass die Abstraktionen aus unseren Wahrnehumgsideen nicht identisch sind mit den Archetypen der Schöpfung, sondern diese nur mehr oder minder gut treffen können. Und da wir, wie wir oben von Condillac erfuhren, die Essenz der Dinge nicht erkennen können, können wir auch nicht überprüfen, ob unsere Konstrukte mit den platonischen Ideen zusammenfallen. Alle unsere Urteile über die Objekte, die wir als Ursachen unserer Sinneswahrnehmungen annehmen müssen (selbst bezüglich ihrer Ausgedehntheit), können falsch sein. Jede absolute Erkenntnis wäre überdies nutzlos; wichtig sind nämlich nur unsere Bedürfnisse (dies werden wir vertiefen). 690 Condillac denkt also gerade nicht an einen ‘Spiegel der Natur’ und eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, welche die Erkenntnis von einem postulierten Außenstandpunkt aus mit der Wirklichkeit an sich verglei- 690 Condillac 1754, S. 282-283 317 chen wollte. Es kann sein, dass sich uns die Dinge so zeigen, wie sie sind, es kann aber auch nicht sein. Alles, was wir haben, sind unsere Konstrukte davon. Gleichwohl hat Condillac großes Zutrauen zu diesen, und auch dieses Vertrauen begründet er durch eine Art Mythos. b) Die Natur als Erlöserin Es ist nämlich die Natur selbst, die uns durch unsere Bedürfnisse zur Herausbildung eines relevanten Begriffssystems anleitet, in dem dann auch die Klassen und Allgemeinbegriffe ihren Ort haben. Die Systematik der menschlichen Bedürfnisse garantiert diejenige der Ideen: [Les classes,] qui se multiplient plus ou moins, forment donc un système dont tous les parties se lient naturellement, parce que tous nos besoins tiennent les uns aux autres; et ce système, plus ou moins étendu, est conforme à l’usage que nous voulons faire des choses. Le besoin qui nous éclaire nous donne peu à peu le discernement qui nous fait voir dans un temps des différences où, peu auparavant, nous n’en apercevions pas; et si nous étendons et perfectionnons ce système, c’est parce que nous continuons comme la nature nous a fait commencer. 691 Dies beginnt bereits mit dem quasi körperlichen Denken, das wir beim impliziten Urteil am Werk sahen. Durch die Beteiligung der verschiedenen Sinne sind ja die Eindrücke bereits auf einer vorsprachlichen Ebene analysiert: Les objets commencent d’eux-mêmes à se décomposer, puisqu’ils se montrent à nous avec des qualités différentes, suivant la différence des organes exposés à leur action. Un corps, tout à la fois solide, coloré, sonore, odoriférant, et savoureux, n’est pas tout cela à chacun de nos sens; et ce sont là autant de qualités qui viennent successivement à notre connaissance par autant d’organes différens. 692 Natürlich zeigt sich auch hier ein ‘realistischer’ Sprachgebrauch, der uneigentlich oder fahrlässig sein könnte, insofern, als die Objekte die ihnen zukommenden Qualitäten ‘zeigen’. Für den Augenblick geht es uns um die Körperlichkeit dieses Denkens: Nicht die Begriffe analysieren bei diesem ersten Kontakt mit den Erscheinungen die Eindrücke, sondern die Sinnesorgane, auf die die Eindrücke verteilt sind. Um auf den Brief an Maupertuis zurückzukommen: Eine Hierarchisierung geschieht bereits über die beteiligten Sinnesorgane, wobei etwa die anzunehmende Ausgedehntheit eines Körpers besonders viele Sinne affiziert und daher eine besonders allgemeine begriffliche Fassung erheischt. Und genau in dieser Körperlichkeit des Denkens liegen nach Condillac wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Anschauungssystemen verschiedener Völker begründet: Wo die Klassifizierungen 691 Condillac 1780a, S. 348 692 Condillac 1775/ 1782, S. 389 318 der Eindrücke beliebig sind, weil überhalb dieser rein sinnlichen Ebene vorgenommen, da unterscheiden sich nicht nur Sprachen, sondern auch Philosophien; aber in der Verteilung der Eindrücke auf die allen Menschen gemeinsamen Sinnesorgane und also in ihrer ersten Analyse müssen sie gewissermaßen aus physischen Gründen übereinkommen. Die Gefahr, dass auf rein sprachlichem Wege dann Begriffsbildungen erfolgen, die sich von aller Erfahrung entfernen, ist für Condillac zwar gegeben (und sie ist eines der Hauptthemen seiner Frühwerke, des Essai wie des Traité des systèmes), aber doch wohl geringer als etwa für Maupertuis. Zumindest die einfachen Vorstellungen von Substanzen und Modifikationen scheinen bei aller Fiktionalität unsere Wahrnehmungen gut zu erfassen (denn sonst wären, um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen, nichtsprachliche und sprachliche Version des Urteils nicht gleich 693 ). Die ersten, schon körperlich artikulierten Eindrücke werden dann, wie gesagt, durch die Bedürfnisse klassifiziert. Ein Kind belegt den ersten Baum, den es sieht, mit dem Individualnamen arbre. Dann nennt es aus Bequemlichkeit (weil es nicht für jede Einzelwahrnehmung eigene Namen behalten könnte) auch alle anderen Bäume und vielleicht sogar Pflanzen oder überhaupt Wesen so. Später stellt es fest, dass es nützlicher ist, ein wenig zu differenzieren und unterscheidet beispielsweise Pflanzen von anderen Wesen, Bäume von anderen Pflanzen oder verschiedene Obstbäume von einander, weil ihre Früchte ihm verschieden gut schmecken: „il ne fera qu’obéir à ses besoins. 694 Aus Individualnamen werden so aufgrund eines unseren besoins eingeschriebenen Ökonomieprinzips Generalisationen, aus diesen wiederum aufgrund eines ebenfalls unseren besoins mitgegebenen Instrumentalitätsprinzips nutzenbedingte Unterscheidungen: 695 Nos idées commencent donc par être individuelles, pour devenir tout à coup aussi générales qu’il est possible; et nous ne les distribuons ensuite dans différentes classes qu’autant que nous sentons le besoin de les distinguer. Voilà l’ordre de leur génération. 696 Daraus ergeben sich, auf von Bedürfnissen ausgehenden Fundamentalideen aufbauend, verschiedene Ideenketten, die sich auch untereinander verschränken und begegnen. Die Bedürfnisse organisieren so das System unserer Begriffe. 697 Dies ist die natürliche Ordnung der Begriffsbildung. 693 - oder nur um den Preis der für Condillac untragbaren Annahme, die Wahrnehmung selbst könne durch falsche Begriffe verändert werden; dies brächte jedoch sein ganzes System, das Gewissheit ja im Rückstieg auf die einfachen Grundwahrnehmungen sucht, zum Einstürzen. 694 Condillac 1780a, S. 347 695 Vgl. auch Condillac 1754, S. 288. 696 Condillav 1780a, S. 347 697 Condillac 1746, S. 50. Vgl. auch Condillac 1775/ 1782, S. 390-91: Ein Kind wird den Individualnamen ‘Papa’ bilden und dann aus mangelndem Unterscheidungsvermögen alle ‘Papa’ nennen, also diesen Namen sogleich zu abstrakten Idee bilden: 319 Vom ganz Individuellen schreitet man durch bequemes Nichtunterscheiden zum ganz Allgemeinen und bildet dann die Mitte der bedürfnisrelevanten Abstufungen und Unterschiede, und dadurch ergibt sich ein systemhafter Zusammenhang: § 29. Tous nos besoins tiennent les unes aux autres, et l’on en pourrait considérer les perceptions comme une suite d’idées fondamentales, auxquelles on rapporterait tout ce qui fait partie de nos connaissances. Au-dessus de chacune s’éleveraient d’autres suites d’idées qui formeraient des espèces de chaînes, dont la force serait entièrement dans l’analogie des signes, dans l’ordre des perceptions et dans la liaison que les circonstances qui réunissent quelquefois les idées les plus disparates auraient formé. A un besoin est liée l’idée de la chose qui est propre à le soulager; à cette idée est liée celle du lieu où cette chose se rencontre […] 698 Aber von welchem Standpunkt aus kann Condillac hier eigentlich noch sagen, die Umstände verketteten bisweilen „les idées les plus disparates“? Wenn denn die Verkettung durch unsere Bedürfnisse die einzige relevante Systematik für die Begriffe bereitstellt, dann kann es kein dem Menschen zugängliches Vergleichsmodell außerhalb ihrer geben, von dem die Ideen als disparat zu bezeichnen wären. In der Tat ist dies eine der wenigen Stellen, an denen Condillac hypothetisch einen Gottesstandpunkt einzunehmen scheint, der dann doch wieder das System der platonischen Ideen als Vergleichsmaßstab impliziert. Man müsste sagen: Für Gott oder für den ungefallenen Adam sind unsere Begriffsverkettungen von der Systematik der archetypischen Ideen verschieden und also die darin verbundenen Ideen eigentlich disparat, wir selbst können dies nicht feststellen. Deshalb kommt auch das Bemühen darum, diesen Standpunkt doch noch einzunehmen, einem neuerlichen Sündenfall gleich. Ähnlich wie der gefallene Adam hat sich der Systemphilosoph in eigenen Imaginationen verirrt, weil er die Stimme der Natur nicht gehört hat und ihre Lektionen vergaß: Nous avons donc oublié ces leçons; et c’est pourquoi, au lieu d’observer les choses que nous voulions connaître, nous avons voulu les imaginer. De suppositions fausses en suppositions fausses, nous nous sommes égarés parmi une multitude d’erreurs. 699 Dies geschah, weil er teils unnötige und ‘frivole’ Bedürfnisse entwickelt hat, durch die er aus der systematischen Erkenntnisgarantie der Natur her- „Il n'a pas eu de peine à faire cette abstraction: il lui a suffi de ne pas remarquer les qualités qui distinguent les individus. Or il lui est bien plus facile de saisir les ressemblances que les différences; et c’est pourquoi il est naturellement porté à généraliser.“ Mit der Zeit wird das Kind unterscheiden zwischen Mensch, Mann und Papa, also engere Begriffe bilden. 698 Condillac 1746, S. 49 699 Condillac 1780a, S. 394-5 320 ausgetreten ist. Er fing an, anstelle der natürlichen Analytik imaginäre Verkettungen und Begriffsbildungen zu verwenden. Er entwickelte das unnatürliche Bedürfnis, die Thesen über die Wirklichkeit an sich, die die Affirmation oder Proposition mit sich bringt, in den Mittelpunkt seines Interesses zu stellen und um sie herum fiktionale Systeme der Gewissheit zu erbauen. Deshalb (das sehen wir jetzt) ist die Hypothese über die Außenwelt für Condillac nur ein Zusatz, den die propositionale Form der Wahrnehmungsanalyse mit sich bringt. Nicht ihre Begründung im Absoluten ist die Aufgabe des Denkens, sondern der korrekte Umgang mit den Wahrnehmungen, durch den der Mensch, der sich innerhalb seiner natürlichen besoins bewegt, in der Wahrheit gehalten wird. Nur die Begriffe, die durch korrekte Analyse biologisch bedürfnisrelevanter erster Wahrnehmungen entwickelt sind, sind also durch die Garantie der Natur welthaltig. 700 c) Konstruktivismus ohne Evolution? Gleichgültig, ob wir also die wahre Systematik der Ideen treffen oder nicht, die Natur leitet uns nach Condillacs Auffassung dazu an, innerhalb unserer Nische bedürfnisrelevante Konstrukte zu bilden, die nur in diesem Zusammenhang von Nutzen sind. 701 Deshalb führt uns die Natur auch nicht bis zu den Essenzen, deren Kenntnis unnütz wäre: Nos besoins, et les moyens d’y satisfaire, ont leur raison dans la conformation de nos organes, et dans les rapports des choses à cette conformation […] Je ne puis avoir de toutes ces différentes conformations qu’une connaissance bien imparfaite; je les ignore proprement: mais l’expérience m'apprend l’usage des choses qui me sont absolument nécessaires; j’en suis instruit par le plaisir ou par la douleur […] il me serait inutile d’en savoir davantage, et la nature borne là ses leçons […] Nous voyons dans ses leçons un système dont toutes les parties sont parfaitement bien ordonnées. Ce système resserre naturellement mes connaissances dans la sphère d’un petit nombre de besoins, et d’un petit nombre de choses à mon usage. Mais, si mes connaissances ne sont pas nombreuses, elles sont bien ordonnées, parce que je les ai acquises dans l’ordre même de mes besoins, et dans celui des rapports où les choses sont à moi. Je vois donc dans la sphère de mes connaissances un système qui correspond à celui que l’auteur de ma nature a suivi en me formant […] Tout est lié également dans l’un et l’autre système. Mes organes, les sensations que j’éprouve, les jugemens que je porte, l’expérience qui les confirme ou qui les corrige, forment l’un et l’autre système pour ma conservation, et il semble que celui qui m’a fait 700 Vgl. Condillac 1780a, S. 410 701 Vgl. Condillac 1754, S. 288 321 n’ait tout disposé avec tant d’ordre que pour veiller lui-même sur moi. Voilà le système qu’il faudrait étudier pour apprendre à raisonner. 702 Und in dieser Hinsicht korrespondiert unsere konstrukthafte Nische mit dem kleinen Ausschnitt der Schöpfung, in den wir gestellt sind. Dafür ist bei dieser frühen Form von ‘Konstruktivismus’ allerdings nicht eine biologische Evolution verantwortlich (ihre theoretische Erfassung beginnt zu Condillacs Zeit gerade erst), sondern zunächst einmal mythisch der ‘Autor der Natur’, also Gott. Dennoch hat etwa Condillacs Genese der Sinnlichkeit einer Statue im Traité des sensations einen evolutiven Zug, wenn es sich auch hier eher um eine notwendige Entfaltung als eine Evolution zu handeln scheint und auch nicht in erster Linie die biologische Gestalt des Menschen Thema dieser quasi mythischen Erzählung ist. Gerade aber weil sie als mythische Erzählung auch offen ist, könnte sie einer solchen Interpretation unterworfen werden, wenn auch damit keineswegs ausgemacht wäre, dass der Autor der Natur verschwinden müsste. Die von Gott gestaltete Natur, das große Ganze, der Logos in der Schöpfung springt sozusagen als Messias dem gefallenen Menschen bei, der die Ideen nicht mehr schauen kann. Der Rückgriff auf diesen Mythos ist aber nicht nur Abwehrgeste gegen die Zensur, sondern er garantiert das System Condillacs und seine Schwebe zwischen Nominalismus und Vertrauen in die menschlichen Begriffe - und er erlaubt ihm einen holistischen Ansatz, demgemäß der Mensch mit Hilfe seiner eigenen Natur (seiner Bedürfnisse) auf die Natur seiner Nische immer schon hingeordnet ist. Condillacs Nachfolger werden diese delikate Balance nicht mehr halten können (teils wohl, weil sie die betreffenden Mythen nicht so explizit bemühen wollen) und werden daher andere Lösungen suchen müssen. d) Erkennen und Naturordnung bei Court de Gébelin Bevor wir uns aber diesen Nachfolgern, den idéologues, zuwenden, wollen wir noch einmal einen Blick auf die religiöse Entsprechung zu Condillacs Philosophie werfen, die uns bei Court de Gébelin begegnete. Courts Auffassung weicht natürlich in wesentlichen Punkten von derjenigen Condillacs ab - so etwa darin, dass Court de Gébelin ganz gewiss kein Nominalist ist. Uns kommt es jedoch darauf an, dass diejenigen Aspekte, die beiden gemeinsam sind, bei Court explizit religiös unterfüttert sind und so die religiösen Möglichkeiten (wo nicht gar Implikationen) von Condillacs Konzeption beleuchten. Die besoins des Menschen und die ihn umgebende Natur werden im Monde primitif von Gott aufeinander abgestimmt. So trifft die Sprache der Menschen die den Sinnen vollkommen zugängliche Welt durch enge, gott- 702 Condillac 1780a, S. 391-392 322 gelenkte Imitation, 703 und das Sprechen des Menschen wird geradezu zum notwendigen Ausdruck der göttlichen kosmischen Ordnung. 704 Sprache und Erkenntnis werden von Court de Gébelin nicht einer damit zunächst unvermittelten Welt gegenübergestellt, und die Zeichen sind auch nicht arbiträr. 705 Die Frage, ob denn der Gegenstand meiner Erkenntnis und Rede überhaupt vorhanden sei, stellt sich nicht. Die göttliche Ordnung der Natur beinhaltet den Menschen und seinen erkennenden Bezug zu ihr ebenso wie seine Sprache. Die tatsächliche Entwicklung dieser Sprache ist dann nur eine Realisation dieses im Anfang schon grundgelegten Bezuges, die durch notwendige Kausalmechanismen erfolgt (im Gegensatz zu Rousseaus Auffassung, die im Menschen angelegten Möglichkeiten hätten sich ebensogut auch nicht entfalten können 706 ). Interpretiert man den Naturbegriff bei Court de Gébelin als die göttliche Ordnung des Kosmos, so kann man ihm beipflichten, die Sprachentstehung sei vollkommen natürlich erfolgt, „par des moyens absolument physiques,“ 707 eine bloße Entfaltung gegebener Virtualitäten nach einfachen Kausalgesetzen - und zugleich göttliche Offenbarung. Die Sprache ist dem Menschen natürlich, weil er Sprachwerkzeuge und die Tendenz, mit ihnen Objekte und Ideen zu imitieren, besitzt. Gerade diese Natürlichkeit aber ist göttlich. Wir sahen dies schon in Kapitel I, 2.2.2.2. Aber die Spache ist dem Menschen auch deshalb natürlich, weil sie seinen besoins entspricht: Ob aus Gründen der Nützlichkeit oder solchen der Erotik, Sprache dient immer der als Grundbedürfnis aufgefassten Gesellschaftlichkeit 708 des Menschen. Mercier-Faivre deutet dies als eine Art vor- 703 Diese Imitation ist nicht immer nur Onomatopöie einer Lautäußerung. Sie kann auch eine Nachahmung anderer als bloß akustischer Eigenschaften sein; so können, wie es in der „Histoire naturelle de la parole“ im II. Bd. des Monde primitif heißt, angenehme Dinge durch angenehme Töne, bewegliche durch schnelle Folgen imitiert werden. (Vgl. Court de Gébelin 1774-84), II, S. xiv.) 704 Vgl. hierzu die Darlegungen von Mercier-Faivre 1999, S. 182 und 189. 705 Insofern sie Imitation sind, sind sie notwendig: „Ces moyens furent tous dans la Nature, jamais dans l’arbitraire, parce que la Parole n'étant qu’une peinture, elle ne sauroit dépendre de la convention...Dieu voulant que l’homme parlât, & que ses discours eussent l’énergie de la peinture, il mit entre son langage & la Nature un rapport si intime, que celui qui entendoit parler son semblable apercevoit aussi-tôt, comme dans une vive peinture, tout ce qu’on vouloit lui dire, & que l’homme ne fut jamais embarassé pour étendre ses mots & leur faire égaler le nombre des objets qu’il avoit à peindre.“ (Court de Gébelin 1774-84), III, S. 69) 706 Vgl. Rousseau 1755, S. 166: Hier werden die „vertus“ und die „facultés“ des Menschen aus Virtualitäten hergeleitet, die nur durch Zufälle auch wirklich zur Entfaltung kamen. 707 Court de Gébelin 1774-84), III, S. 68 708 „...l’art de parler...lien doux & flatteur de la Société, par lequel un esprit se peint à un autre, & l’homme s'élève continuellement à de nouvelles connoissances...“ (Court de Gébelin 1774-84), III, S. 66). In diesem Zitat zeigt sich auch bereits, dass Court gerade 323 weggenommene Synthese der beiden komplementären Sprachursprungstheorien Rousseaus im Essai sur l’origine des langues (der erst posthum 1781 veröffentlicht wurde und Court de Gébelin daher bei seiner Abfassung des Monde primitif wohl nicht vorlag). 709 Was bei Rousseau eine Alternative mit klarer Hierarchie ist (hier die eigentliche, emotionale Ursprache, dort die regionale, verderbte Variante aufgrund von besoins), ist bei Court de Gébelin in der (aus Rousseaus Perspektive problematischen) gesellschaftlichen Natur des Menschen synthetisch aufgehoben: Die Erwägungen der Nützlichkeit sind genauso wie die erotischen und familiären Beziehungen nur in der Gesellschaft möglich und dort dann kaum noch voneinander zu unterscheiden, da beide zu den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Menschen gehören. 710 3.1.3. Erkenntnismechanismus und Willensenergie bei Condillac Wir sahen anhand des Motivs des neuerlichen Sündenfalls der Systemphilosophie, dass die Naturordnung der besoins für Condillac nur dann die Erkenntnis garantieren kann, wenn der Mensch sich ihr gewissermaßen hingibt, darauf verzichtet, aus ihr auszuscheren. In der Tat ist eine gewisse Passivität und ein Sich-Fügen in eine Art Mechanik des Erkennens, 711 also eine Zurückdrängung von Willen und Aktivität, bei Condillac der Preis der Gewissheit. Es ist, als müsse sich der Wille des Menschen ganz den Mechanismen der Wahrnehmung und damit der messianischen Natur unterstellen. Dies fasst Condillac freilich weniger normativ als deskriptiv: Obwohl er den Willensbegriff verwendet, drängt er die Vorstellung von Aktivität, die dem Willensbegriff etwa in der Theologie eignet, zurück. Wille ist für Condillac ebenso wie Erkenntnis nur ein Effekt der Wahrnehmung. Knight hat herausgearbeitet, 712 dass bei Condillac allgemein die Wahrnehmung von Lust und Schmerz die Grundlage der Entwicklung von Erkenntnis und Willen ist. Dabei spielt für jene die Aufmerksamkeit, für angesichts der Sprache dann doch eine Fortschrittskonzeption vertreten muss: Der Mensch erhebt sich durch sie zu neuen Kenntnissen. 709 Mercier-Faivre 1999, S. 189 710 Letzteres läuft allerdings aus einem rousseauesken Blickwinkel auf eine Verflachung des Begriffs der Leidenschaft hinaus: Courts biologisch motivierte familiäre Bedürfnisse sind noch keine Emotionen im Sinne des Essai sur l’origine des langues, und insofern bedarf es keines menschheitsgeschichtlichen Fortschrittes, um das Bedürfnis nach Sprache entstehen zu lassen. Folgerichtig wird bei Court die Sprache bereits am Anfang der Menschheitsgeschichte erfunden. Diese ist zweiphasig und beinhaltet eine schnell entfaltete Idealität, auf die ein Verfall folgt, während Rousseau eine dreiphasige Entwicklung vom Tiermenschen über den glücklichen Hirten zum entfremdeten Gegenwartsmenschen annimmt. 711 Vgl. ähnlich Knight 1968, S. 106. 712 Vgl. Knight 1969, S. 88 324 diesen das désir die entscheidende Rolle - beides für Condillac Sensationen, und zwar von Differenz. Dies wollen wir kurz entfalten. Selbst die anfänglich auf den Geruchssinn beschränkte Statue des Traité des sensations kann attention ausüben: Dies ist jedoch nur der Zustand, in dem sie einer sensation vollkommen überlassen ist - entweder, weil kein anderer Geruch auftritt, oder, weil einer von mehreren auftretenden der stärkste ist, oder weil er mit den Bedürfnissen der Statue am meisten verbunden ist. 713 In letzterem Falle wird durch die Aufmerksamkeit aber, wie wiederum Derrida kritisch zeigt, nicht so sehr etwas herausgegriffen als vielmehr ein Gefälle von Präsenz durch Verminderung hergestellt. Derrida bemerkt, Condillac habe einen „roman de la force“ geschrieben, und versucht gegen gängige Deutungen zu beweisen, dass Condillac besonders seine Beschreibung der Genese der Erkenntnisvermögen auf eine Energetik der Präsenz aufbaut. Die attention, die für das Herausgreifen von Wahrnehmungsaspekten so wichtig ist, funktioniert in Derridas Lektüre überhaupt nur ‘energetisch’ - insofern nämlich, als hier alle Eindrücke bis auf jeweils einen in ihrer Kraft und Präsenz vermindert werden müssen: Nur wenn es eine energetische Differenz zwischen verschiedenen Wahrnehmungsaspekten gibt, wenn manche flacher, weniger lebendig wirken als andere, kann eine solche Hierarchisierung überhaupt gelingen, denn bestürmten uns alle Teile unserer Empfindung gleichermaßen intensiv, so könnte die Erkenntnis nirgends ansetzen. 714 Diese Energie ist aber nicht im Menschen, sondern in der Natur, sie kommt aus der anzunehmenden Welt und teilt sich dem Mechanismus der Sensation mit. Die ebenfalls aus Sensationen entwickelten Bedürfnisse drängen nicht dazu, eine energetische Präsenz vor anderen zu verstärken, etwas aktiv herauszugreifen und zu wählen, sondern sie führen selbst in Derridas etwas kühner Lektüre nur dazu, dass Energie vermindert wird. Sind die Differenzen hergestellt, so setzen sie ohne eigentliches Zutun des Subjekts die Automatik der Erkenntnis in Gang. Die Energie, die in diesem Vorgang insofern zweifellos zu konstatieren ist, gehört letztlich der Natur; sie ist ein Instrument jener Anleitung der Erkenntnis durch das große Ganze, die wir für Condillacs Konzeption als grundlegend herausgearbeitet haben. Attention ist selbst also ein mehr oder weniger passiver Effekt, in jedem Falle eine sensation. Die besoins, die dabei oft (aber nicht immer 715 ) mitwir- 713 Vgl. Condillac 1754, S. 44f. 714 Derrida 1973, S. 51. Vgl. hierzu auch Delon 1988, S. 76. 715 Wir erinnern uns, dass, wie oben bemerkt, Condillac auch das Hingegebensein an eine konkurrenzlose Sensation als attention bezeichnet. Da hier das determinierende Element die Absenz anderer Reize ist, kann das Bedürfnis in diesem Falle gar keine Rolle übernehmen. 325 ken, sind (wie sich gerade zeigte) ebenso wie die Aufmerksamkeit bei der Statue auch im Stadium des bloßen Geruchssinns bereits vorhanden bzw. werden dort ausgebildet (und spielen eine Rolle für die Weiterentwicklung der attention), und zwar als désirs. Diese sind nicht Instinkt, sondern ebenfalls sensation. In dem Moment, in welchen auf eine erste Geruchswahrnehmung eine zweite folgt, die angenehmer oder unangenehmer ist, nimmt die Statue diese Differenz als plaisir oder douleur wahr. Die Erkenntnis ist dadurch durch ein Gefälle der Wahrnehmungseffekte strukturiert. Das désir ist sozusagen die transformierte Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem abwesenden guten und einem anwesenden schlechten Sinneseindruck: Die Statue ‘begehrt’ den guten. 716 Selbst das Begehren ist also ein Wahrnehmungseffekt, der der Statue mehr oder minder ‘geschieht’. Lust oder Schmerz bestimmen also ein beinahe quantifizierbares Hinneigen der Aufmerksamkeit zu einem Gegenstandsaspekt, das am Anfang der für Condillac so wichtigen Möglichkeit steht, einzelne Aspekte schon vor der Sprache durch die attention zu isolieren; daraus entwickeln sich alle geistigen Vermögen. Das désir baut dann darauf auf, denn es ist nichts als ein Urteil über die Differenz zwischen einem erinnerten und einem gegenwärtigen Wahrnehmungszustand. Die Vermögen des Willens wie auch die Leidenschaften differenzieren sich dann wiederum aus dieser Differenzwahrnehmung aus. Diese im wesentlichen passive Konzeption des Mentalen ist dabei jedoch nicht so sehr, wie Knight meint, 717 eine Befangenheit Condillacs in der Abhängigkeit von Locke, sondern sie ist der Garant für die Gewissheit der naturgeleiteten Erkenntnis. Wille und Erkenntnis sind als Effekte der Wahrnehmung, wenn man so will, von der ‘Nische’ des Menschen geformt und geführt. Die Natur führt uns über eine weitgehend passive Mechanik zu Entschlüssen und Urteilen, die, je weniger sie von kultureller Überformung denaturiert sind, desto besser mit der Umwelt in Interaktion treten. Erkenntnis und Wille als gleichermaßen natürliche Wahrnehmungseffekte sind demnach umso erfolgreicher im Umgang mit der Welt, je weniger sie in der Macht eines Subjekts stehen. Die messianische Natur erlöst denjenigen von den Folgen des Sündenfalls, der sich jeden Eigensinns und letztlich jeder Aktivität entäußert. Auf der Hand liegt jedoch, dass die Konzeption, die dieses System sich vom Willen macht, eine sehr flache, energielose ist. Selbst noch die Grundkondition der uneasiness, die bei Locke die Vernunft energisiert, stets nach Besserung des gegenwärtigen Zustandes zu suchen, ist ausgebremst und erscheint nur punktuell als Effekt je einzelner Wahrnehumgsabläufe. Die Tatsache, dass in der Organisation der Erkenntnis nach Bedürfnissen 716 Vgl. Condillac 1754, S. 44ff. 717 Vgl. Knight 1968, S. 89. 326 „need, not logic,“ 718 die Grundlage der Rationalität ist, passt zwar zur antiintellektualistischen Stoßrichtung Condillacs und anderer Aufklärer, fundiert jedoch nicht die Erkenntnis in einem als Grundenergie aufgefassten Willen, sondern in der Ordnung der Natur: Die Bedürfnisse gehören zu ihr, und Unruhe und désir sind nur transformierte Wahrnehmungen davon. Die Vernunft schuldet dem Willen, selbst wenn er sich nur als Unruhe zeigt, möglichst wenig; andererseits ist sie aber auch nicht im Sinne von Descartes als autonome Rationalität gefasst, die über allem anderen steht. Vielmehr ist sie ebenso wie der Wille Bestandteil der Sinnlichkeit. Da die Vernunft weder Effekt des Willens noch autonome Rationalität ist, muss sie ihren Grund in der Sinnlichkeit haben und darf bei ihrer Aufgabe, die Sensationen zu entwickeln und zu transformieren, von keiner inneren Unruhe und von keiner ihr fremden Aktivität gestört werden. Deshalb ist die Verflachung der Willensenergie nur konsequent. So kann die Natur (die ja bei Condillac nicht durch angeborene Instinkte 719 im Menschen aktiv wird) vermittels aus und an Wahrnehmungen herausgebildeter Bedürfnisse die Führung übernehmen. In jenem anonymen Text, der, wie wir in der E INLEITUNG sahen, vorgibt, der Schlüssel zu Saint-Martins erstem Buch zu sein, findet sich unter dem Deckmantel der Nachahmung des illuministischen Diskurses eine äußerste Zuspitzung dieser sensualistischen Konzeption von Erkenntnis als Sich- Schicken in einen Naturmechanismus. Konnte bei Condillac der Mensch immerhin noch fehlgehen und sich aus dem Geleit der Natur entfernen, so wird in der polemischen Clef des erreurs et de la vérité gegen die illuministische Vorstellung von der Freiheit des Willens eine vollkommen mechanistische Auffassung desselben gesetzt, in der alles von physischen Ursachen determiniert ist: Donc toutes nos actions sont nécessaires, puisque de l’aveu même de l’auteur que je combats, nous agissons conformément à notre volonté; et je crois avoir prouvé 1° que la volonté est nécessairement déterminée par le jugement de l’entendement: 2°, que ce jugement dépend de la nature de nos idées; et enfin 3° que nos idées ne dépendent point de nous […] 720 Der Wille soll sich nicht darein schicken, was die Natur mit unseren Ideen macht, um eine sichere und naturgeleitete Erkenntnis zu erhalten, sondern er kann gar nicht anders als sich darein zu schicken, da er selbst von der Erkenntnis abhängt. Nicht nur Erkenntnis, sondern auch Wille sind bloße mechanische Folgen des Gefälles zwischen zwei sinnlichen Eindrücken. Damit ist Condillacs Konzeption zu einer extremen deterministischen Konsequenz geführt, die es dort nicht gibt (und man fragt sich, wozu der Autor überhaupt so vehement argumentieren muss, wo doch die sinnlichen Ein- 718 Vgl. Knight 1968, S. 96. 719 Der Instinkt ist bei Condillac erworben und als Gewohnheit automatisiert. 720 Anonym 1789a, S. 38 327 drücke ohnehin unsere Erkenntnis determinieren und so niemand zu anderen als den natürlichen Auffassungen gelangt sein kann, also auch niemand überzeugt werden muss). Damit setzt der Verfasser gegen Saint- Martins (noch zu betrachtende) voluntaristische Erkenntnistheorie ihr genaues Gegenteil. Trotz seiner Betonung des Passiven und Mechanischen kann man jedoch Condillac, wie dies etwa Annie Becq getan hat, in eine Geschichte der kreativen Imagination als Prozess einschreiben. Denn betont man den Ablaufcharakter der Herausbildung von Erkenntnis bei Condillac (in Absetzung von eher statischen Modellen der Schau der Ideen in Gott etwa bei Malebranche), so kann man selbstverständlich Bewegung und Energie auch in dieser Konzeption finden. Die Rolle der Imagination bei der Wiedererinnerung von Sinneseindrücken in Abwesenheit des sie hervorrufenden Objekts kann man ebenfalls im Hinblick auf eine Geschichte der imagination créatrice interpretieren. 721 Aber es handelt sich nicht eigentlich um eine Aktivität des Ich, sondern um ein Mitvollziehen von im Körper und in der ihn umgebenden Natur ablaufenden Mechanismen. Becq selbst sieht, dass sogar die künstlerische Imagination, also der Ort, wo eine subjektive entwerfende Aktivität am ehesten auftreten müsste, bei Condillac bloßes Explizitmachen natürlicher Prozesse ist. 722 Die Energetik gehört also der Natur an und betrifft gerade nicht die Aktivität eines autonomen Willens. An dieser Stelle hat zumindest einer von Condillacs Nachfolgern, wie wir gleich sehen werden, Defizite festgemacht. 3.1.4. Die Antworten der idéologues und ihr Verhältnis zu illuministischen Positionen Die idéologues, die sich auf Condillac beriefen, entwickelten dessen Modell weiter. Wir sahen an den zahlreichen bislang zitierten Übereinstimmungen, dass sie dabei weitgehend in dem von ihm vorgegebenen Horizont verblieben. Im Folgenden sollen einige im Grunde kleine Verschiebungen herausgearbeitet werden, die im Gesamtentwurf des jeweiligen Autors zweifellos einen geringeren Stellenwert einnehmen, als es unsere zuspitzende Darlegung vermuten lassen würde, aber in jeweils besonderer Weise auf Problemlagen innerhalb des sensualistisch-ideologischen Diskurses zeigen. Zugleich wollen wir das illuministische Gegenüber dieses Diskurses wieder in den Blick nehmen, zunächst punktuell, im dann folgenden Kapitel als Gesamtposition. 721 Becq 1984, S. 444ff. 722 Becq 1984, S. 459 328 a) Destutt de Tracy Wir sahen anlässlich der Analyse von Saint-Martins Zeichenkonzept, dass dieser den Sonderfall einer Kausalbeziehung zwischen Idee, Gegenstand und (natürlichem) Zeichen zum Normalfall von Referenz erklärte, wobei das ontologische Verhältis von Idee und Sache gegenüber dem Normaldiskurs vertauscht und eher wie im Platonismus aufgefasst war. Die Idee realisierte sich in einem Exemplar, und dessen Erscheinungsweise stand zeichenhaft für beide. Bei Saint-Martin lag dies darin begründet, dass er Zeichen als Manifestationen auffasste, in denen sich das innere Prinzip einer Sache produktiv offenbarte. Er gelangte somit durch eine genuin theosophische Argumentation, die die Durchsichtigkeit der Schöpfung auf den Schöpfer hin in den Mittelpunkt stellt, zu einer besonderen Entscheidung innerhalb der Möglichkeiten des Repräsentationsmodells, wie wir sie an der Logique de Port-Royal aufzeigten. Auch Condillac hatte ähnlich wie Saint-Martin bereits im Essai das Verhältnis zwischen Ding und (Wahrnehmungs-) Idee nicht als Ähnlichkeit, sondern als Kausalität gedacht, 723 die aufgrund des umgekehrten ontologischen Verhältnisses zwischen Idee und Sache natürlich auch in umgekehrter Richtung wirkte: Das Objekt ‘okkasionierte’ einen ideenhaften Sinneseindruck, der dann mit einem Zeichen verbunden wurde. Condillac betonte, nicht eine mögliche Ähnlichkeit verbinde Ding und Wahrnehmung, sondern eine anzunehmende Kausalbeziehung: Wir wissen nicht, was es ist, das in uns den Reiz ‘Weiß’ auslöst, und wir wissen nicht, ob dieses im Geringsten so beschaffen ist wie der Reiz es uns vermuten lässt, aber wir wissen, dass wir unser Konstrukt von der Sache (das wir ‘Schnee’ nennen), den Reiz selbst, sowie seine Auslösung in einem Kausalmodell denken dürfen, da die Natur uns das Denken in Kausalität (mit Hilfe des Tastsinns 724 ) im Zusammenhang mit der Befriedigung unserer Bedürfnisse gelehrt hat. Kablitz kann nun in seiner oben zitierten Untersuchung zeigen, dass Destutt de Tracy gerade diesen Aspekt der Kausalität besonders betont (etwa, wenn er im Vorwort seiner Éléments d’Idéologie das Verhältnis zwischen Idee und Sache nicht als Abbildung, sondern als Kausalrelation definiert 725 ), und zwar deshalb, weil für ihn die mythischen Garantien für die Welthaltigkeit der Rede, wie sie Condillac kannte, nicht mehr gelten. Zwar fasst Kablitz diesen Gegensatz schärfer als wir es können, da er ja Condillac die Annahme einer Identität zwischen Sprachideen und Schöpfungsideen zuschreibt, 726 aber auch ohne diese starke These vom Platonismus Condil- 723 Vgl. Condillac 1746, S. 24. 724 Vgl. Condillac 1754, S. 9. 725 Vgl. Destutt de Tracy 1801/ 1817, S. 26. 726 Und er konstatiert einen größeren Unterschied in der Auffassung des Urteils, als wir das vermögen: Stellt Kablitz für die Position der im Urteil explizit gemachten Ideen- 329 lacs können wir sagen: Sein platonisches Beschreibungsvokabular stützte sich auf einen doppelten Mythos von vorweltlichem Sein der Ideen und messianischer Natur, den Destutt nur noch in Resten beibehalten kann. Der Rest, den dieser bewahrt, ist nun gerade derjenige Teil der Vorstellung von der messianischen Natur, der am wenigsten mythisch ist: die Kausalität der Erkenntnismechanik. Zwar lässt sich Destutt nicht darauf ein, aus der Naturnähe der Sinnlichkeit irgendwelche Garantien für die Erkenntnis abzuleiten, aber auch er sieht in den kausalen Abläufen des Erkennens eine mögliche Grundlage von so etwas wie Gewissheit. So meint er, „un jugement naît nécessairement des impressions qui en sont l’objet“ 727 : Wenn also der Vorgang nicht verfälscht oder aufgehalten wird, dann sind unsere Urteile kausalmechanische Folgen der Sensationen selbst. Nicht, weil unsere Bedürfnisse uns zur Konstruktion einer Nische anleiten, die einen von der Einheit des großen Ganzen umgriffenen Platz in der Natur hat, können wir nach Destutt die Welt erkennen, sondern allenfalls, weil unser wichtigstes und erfolgreichstes Konstrukt, die Kausalität, am wahrscheinlichsten einer Struktur der Welt entspricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kausalität ‘wirklich’ ist, fundiert für Destutt de Tracy alles andere, bis hin zu der Annahme einer Außenwelt überhaupt. Zwar können wir in der Tat auf diese nicht direkt zurückgreifen, denn „rien n'existe pour nous que par les idées que nous en avons,“ 728 also in unseren Sinnesempfindungen; selbst die anderwärts als Grundkategorie begriffene Ausdehnung definiert Destutt ganz im Sinne Condillacs als Wahrnehmungsidee, als „représentation permanente de la quantité de mouvement nécessaire pour la (sc. l’étendue d’un corps) parcourir.“ 729 Gegen die „deux romans“, die Malebranche und Berkeley geschrieben haben, führt er jedoch in seiner Dissertation sur l’Existence ins Feld, dass wir zwar nicht wissen können, was unseren Wahrnehmungen in der Welt entspricht, wohl aber, dass sie eine Ursache haben, dass mithin eine Außenwelt existieren muss. 730 Dies erfahre ich bereits durch den Widerstand gegen eine Bewegung, die ich an mir selbst wahrnehme. Von hier aus konstruiere ich die Welt als Beziehung zwischen Sensationen und (materiellen) Ursachen, gleichgültig, wie sie ‘wirklich’ ist 731 - aber eine andere Welt als diese wäre, so Destutt, für uns beziehung eine Konvenienz von zwei Ideen bei Condillac einer Vorstellung von Inklusion einer Idee innerhalb einer anderen bei Destutt gegenüber, so müssen wir aus den in Kapitel I, 2.1.2. angeführten Gründen die Vorstellung vom Urteil als Analyse einer Inklusionsbeziehung für Condillac und die Idéologues als gleichermaßen gültig annehmen. 727 Destutt de Tracy 1801/ 1817, S. 414 728 Destutt de Tracy 1796, S. 37-38 729 Destutt de Tracy 1796, S. 59 730 Destutt de Tracy 1800b, S. 209-214 731 Vgl. Destutt de Tracy 1800b, S. 217-218. 330 gar nicht verständlich. 732 Bemerkenswert ist die ‘konstruktivistische’ Formulierung, die Destutt für diesen Aufbau in der später für die Éléments d’Idéologie erstellten Fassung dieser Argumentation gefunden hat. Umwelt und Ich werden aneinander konstruiert: […] c’est pourquoi, en même-temps que nous découvrons la propriété d’être étendu dans ce qui résiste à notre volonté, nous la découvrons dans notre moi qui sent; il s’étend et se repand, pour ainsi dire, dans toutes les parties par lesquelles il sent et qui se meuvent à son gré. 733 Bezüglich Destutts Argumentation für die Existenz einer materiellen Welt sei bemerkt, dass von einem Stadpunkt wie dem der Martinisten, demzufolge die Materie eine Illusion ist, deren Nichtigkeit (wie wir in Kapitel III genauer sehen werden) gerade in ihrer materiellen Verdichtung liegt, aus dem Widerstand genau das Gegenteil, nämlich ihre Nichtexistenz, folgen würde. Destutt bleibt damit zwar in dem von Condillac vorgegebenen System, muss aber einerseits etwas von dessen Zuversicht aufgeben, andererseits die nunmehr allein sein Gebäude tragende Kausalität besonders betonen. Der Aufweis und die genaue Verfolgung kausaler Verkettungen sind nun die einzige Möglichkeit, Einzelerkenntnisse abzusichern. Ähnlich wie manche Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts 734 gelangt Destutt so zu einer Vorstellung, nach der zwar jede einzelne Erkenntnis falsch sein kann, eine möglichst große Zahl verketteter Hypothesen über die Welt jedoch wahrscheinlich nicht vollkommen fehlgehen wird. Das einzelne Element wird dann nur noch durch seine Verbindung mit einem möglichst großen Zusammenhang von Entwürfen ‘gehalten’. Kablitz zeigt auf, dass die hier verstärkt hervortretende Fassung von Wahrheit als Kausalzusammenhang die ältere Korrespondenztheorie der Wahrheit als Darstellung verdrängt, so dass in der Literaturbetrachtung des neunzehnten Jahrhunderts selbst noch die Wahrheit emotiver Rede durch den Aufweis von Kausalbeziehungen zur Autorbiographie dargelegt wird. 735 Das von Descartes und Locke ererbte Problem des ‘Schleiers der Ideen’ besteht also am Ende des achtzehnten Jahrhunderts fort und wird sogar immer intensiver bearbeitet. Die Ablösung der Bildchen-Idee durch die Idee als Kausaleffekt ist zwar nur eine Akzentverschiebung innerhalb des diesbezüglich offenen Repräsentationsmodells, zeugt jedoch von dem Bemühen, den ‘Schleier der Ideen’ abzulegen und der Welt auf andere Weise habhaft zu werden. Die Verabschiedung von Wahrheit als Korrespondenz 732 So können wir, meint Destutt de Tracy 1800b, S. 216, innerhalb dieser Vorgaben (und also überhaupt) nicht wissen, was ein esprit sein soll. 733 Destutt de Tracy 1801/ 1817, S. 163 734 Vgl. etwa Davidson 1993, S. 94ff. 735 Vgl. Kablitz 1985, S. 170. 331 verhilft den idéologues dazu, den Aporien des ‘Spiegels der Natur’ im Sinne Rortys bis zu einem gewissen Grade zu entrinnen. Bei Saint-Martin werden wir (in Kapitel IV) eine etwas andere Möglichkeit kennen lernen, teils ebenfalls durch so etwas wie Kausalität aus dem impasse dieser Spiegelvorstellung zu entkommen, und zwar interessanterweise durch eine mythische Konzeption, die selbst wieder (in anderer Weise) um das Bild eines Spiegels herum angeordnet ist. b) De Gérando und Maine de Biran Auch Gérando ist der Ansicht: „Les idées archétypes ne sont que des romans.“ 736 Von ihnen können keine Garantien ausgehen, denn alles, was wir haben, sind unsere sensations. Stärker als Destutt de Tracy problematisiert Gérando jedoch den ‘Schleier der Ideen’, der bei ihm geradezu als camera obscura eines auf sich selbst verwiesenen Geistes erscheint: Le monde entier ne nous est connu que dans une sorte de chambre obscure; et lorsqu’au sortir d’une société nombreuse nous croyons avoir lu dans les esprits et dans les cœurs, avoir observé des caractères et senti, si je ouis dire ainsi, la vie d’un grand nombre d’hommes, nous ne faisons en effet que sortir d’une grande galerie dont notre imagination a fait tous les frais, dont elle a créé tous les personnages, et dessiné avec plus ou moins de vérité tous les tableaux. 737 Auch Fremdverstehen lässt sich nicht mehr überprüfen, denn der andere Sinn ist ebenso wenig einzuholen wie das Ding an sich. Die Tatsache, dass dieses Problem bei Gérando schwerer zu wiegen scheint, mag mit einer charakteristischen Verschiebung gegenüber Destutt und Condillac zusammenhängen. Wir sahen ja bei Condillac, dass der Garant des Mechanismus der naturgeleiteten Erkenntnis eine Verflachung der menschlichen Willensenergie ist. Der Mensch ist in einem Ablauf aufgehoben oder soll sich zumindest in einen solchen schicken. Bei Destutt de Tracy war das Urteil eine mechanische Folge der Perzeption. Gérando scheint dies kontraintuitiv zu sein. Er sucht nach einer Weise, die Wahrnehmung selbst bereits als Aktivität des Menschen deuten zu können. Dem Begriff der perception stellt er den der apperception gegenüber, der ein aktives Ergreifen der sensation bedeutet. Wie bei Condillac ist dazu gelegentlich eine Verminderung der Präsenz-Energie von Sensationen nötig, aber nun folgt die Aufmerksamkeit nicht mehr notwendig aus dem dadurch entstehenden Gefälle, sondern sie bestimmt schon dessen Herstellung. 738 Auch das Urteil ist nicht mehr ein mechanischer Vorgang, sondern das moi und die sensation wirken zusammen, so dass eine Gesamtheit von 736 Gérando 1800, II, S. 146 737 Gérando 1800, I, S. 132-133 738 Vgl. Gérando 1800, I, S. 9. 332 Perzeptionen aktiv zusammengefügt wird, „et l’acte par lequel l’esprit les (sc. perceptions) associe, est un jugement.“ 739 Die Imagination ist nun ebenfalls nicht mehr durchwegs passiv, sondern sie kann auch aktiv sein; die attention analysiert, die imagination synthetisiert, und beides sind Aktivitäten. 740 Die Unterschiede zu Condillac und Destutt sind nicht groß, aber die Betonung der Rolle des Ich und der Aktivität, ja des Willens, setzen diese Vorstellung von jenen ab. Delon bemerkt in seiner Geschichte des Energiebegriffs im achtzehnten Jahrhundert (die wir in Kapitel III verfolgen werden), dass eine nun dem Menschen, nicht mehr allgemein der Natur, zugeschriebene Energie bei Gérando eine tragende Rolle spielt. 741 Die Willensenergie des erkennenden Subjekts findet also stärker als in früheren Konzeptionen Eingang in die Erkenntnis; Destutt 742 hatte den Willen noch im Sinne Condillacs als Wahrnehmung aufgefasst. Maine de Biran, der anfänglich den Ideologen nahe stand, sich später jedoch von ihnen distanzierte, entwickelte eine ähnlich aktive, energetische Auffassung in Absetzung von der (als sozusagen bio-mechanisch empfundenen) physiologischen Psychologie des idéologue Cabanis. Um seine Vorstellung von einer immateriellen Seele als „sens intime“ 743 gegen Cabanis abzusetzen, wählt Maine de Biran als fundierende Merkmale: „la pensée, la liberté, le moi“ 744 , die sich durch eine „libre activité“ auszeichnen sollen. 745 Das Ich ist, wie Delon herausgearbeitet hat, bei Maine de Biran eine innere aktive Wirkkraft, die nicht auf die Organe zu verrechnen ist: „L’énergie intérieure est hyper-organique, c’est-à-dire supérieure aux simples forces matérielles. Elle fait de la conscience un dynamisme par lequel l’être se construit.“ 746 Wir sahen es schon an Martines’ Lehre von den Intelligenzen, und wir werden unten noch genauer sehen, dass auch die Illuministen Anteil haben an dieser Bewegung zu einer energetischen und voluntaristischen Fassung des Erkenntnisgeschehens. Was nun Gérando angeht, so entsteht aus der Aktivität des Ich bei der Erkenntnis offensichtlich das Problem, dass damit die Erkenntnisgarantie der mechanischen naturnahen Abläufe der sensation, wie sie Condillac kannte, nicht mehr gelten. Die freie Energie des Subjekts verhindert ein passives Sich-Schicken in die Abläufe der natürlichen Erkenntnis. Zum Ausgleich dafür greift Gérando auf eine ebenfalls mythische Version einer 739 Gérando 1800, I, S. 14-15 740 Gérando 1800, I, S. 70-71 741 Vgl. Delon 1988, S. 103-104. 742 Vgl. Destutt de Tracy 1796, S. 89, wo volonté als „faculté de percevoir des désirs“ definiert wird. 743 Maine de Biran 1834, S. 81 744 Maine de Biran 1834, S. 82 745 Maine de Biran 1834, S. 117 746 Delon 1988, S. 257-258 333 solchen Garantie durch die Natur zurück, die diesmal jedoch nicht mehr im Bilde einer Anleitung, sondern in dem einer vorstrukturierten Lesbarkeit gefasst ist. Die Natur hat unsere Klassifikationsarbeit bereits vorbereitet, so dass diese problemlos ablaufen kann. Qui ne pourroit s’empêcher d’admirer ici la sage et bienfaisante disposition par laquelle la nature a préparé pour nous le grand travail de la classification des êtres, et le constant et étroit rapport qu’elle a établi entre le systême de nos facultés et les sujets sur lesquels il devoit s’étendre! En effet, où en seroit la formation des genres et des espèces, si tous les objets qui nous sont offerts étoient où entièrement différens, ou parfaitement semblables entre eux, et si les nuances graduées de l’analogie ne venoient nous aider à les lier par des rapports plus ou moins étroits? 747 Wohl gemerkt: die Gestaltideen der Natur selbst bleiben uns im Letzten unzugänglich, wir können uns ihnen nur von außen durch die Naturerkenntnis nähern. Aber da die mechanische Einbindung unserer Erkenntnis in die Natur wegfällt, muss die Natur Vorarbeiten leisten, die ihre Erkennbarkeit bis zu einem gewissen Grade sichern. Ihre Strukturiertheit ist also hier quasi zweckgerichtet, auf den Leser des Buches der Natur abgestimmt - das Element von Als-Ob, das der zitierten Formulierung eignet, macht den Eindruck eines bloßen Feigenblattes. So wird der theologische Hintergrund der Annahme der klassifikatorischen Wissensform, die Natur sei eine lückenlose Reihe von benachbarten Wesen, bloß gelegt. In Gérandos Text erscheint sogar kurz darauf das traditionelle theologische Motiv des liber naturae, das hinter dieser Passage steht, auch explizit: : Mais par l’heureuse distribution de leurs propriétés, les objets se trouvent d’avance enregistrés dans le grand livre de la nature, selon l’ordre que nous imiterons nous-mêmes en croyant en être les auteurs. 748 Diese Betonung der Lesbarkeit der Welt (wie sie auch in etwas anderer Weise im Illuminismus auftritt) ist nötig, weil durch die Emanzipation der Erkenntnis aus der Mechanik der bloßen sensation neue Garantien für die Erfassbarkeit der Natur durch die Sinnlichkeit (deren Begründung nach wie vor ein strategisches Hauptziel ist) gebraucht werden. Nun ist nicht mehr, wie bei Condillac, eine holistische Erkentnnistheorie durch die Anpassung der Erkenntnisvermögen an die Nische begründet, sondern umgekehrt durch die Anlage der Natur für die Sinne des sie erkennenden Menschen - eine Auffassung, die auch in der Naturwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts gelegentlich vorgebracht wurde. 749 Natürlich ist auch dadurch nicht letztlich gesichert, dass wir die Dinge erkennen, wie sie sind, aber unser Erfolg beim Umgang mit der Natur, unser empire über sie, 747 Gérando 1800, II, S. 27 748 Gérando 1800, II, S. 28 749 So bei Davies 1992. 334 spricht dafür, dass wir ihre Schrift entziffern. 750 Vor allem das Postulat der Verkettung des Naturtextes spielt bei Gérando wie bei Destutt eine große Rolle, denn: […] il n’est rien d’isolé dans la nature; tout s’y lie pour former des faisceaux plus ou moins composés; tout s’y réunit autour de divers centres communs. 751 Im günstigen Falle hat der Mensch dann einen geradezu göttlichen Platz in der entzifferten Natur: L’homme, reposant en quelque sorte dans le sein des idées sensibles, comme dans l’élément où l’avait placé la nature, apperçoit au-dessous de lui tous les degrés de l’abstraction, au-dessus de lui, tous les ordres de composition, et descend aussi facilement aux uns qu’il s’élève aux autres. Mille rapports s’établissent entre nos conceptions, jusques-là isolées et indépendantes, ces rapports embrassant par leur puissance toute l’étendue du monde idéal, en tirent les élémens du chaos informe dans lequel ils étoient ensevelis, fixent à chacun sa place, et du sein de cet amas confus de matériaux assemblés au hasard, et entassés sans ordre, nous voyons s’élever subitement une pyramide régulière et majestueuse, dont la base s’étend sur l’univers entier, et dont le cîme semble se perdre dans les cieux. 752 Diese Passage ist bemerkenswert, da sie in einer beinahe illuministischen Bildlichkeit, die vom ungefallenen Adam bis zur Scheidung der Essenzen aus dem Chaos bei der feinstofflichen Schöpfung (Näheres dazu in Kapitel III) reicht, zwei widerstreitende Gedanken versöhnen will: Zum einen ist der Mensch von der Natur an einen Platz gesetzt worden, an dem er ihre Regelmäßigkeit erkennen kann. Zum anderen offenbart sich diese Regelmäßigkeit zunächst nicht in den Sinneseindrücken, die der Mensch zu Ideen formt, sondern sie muss erst hergestellt werden. Die Ordnung der Ideen kommt einer Schöpfung aus dem Chaos gleich, und so ist die Repräsentation der Naturordnung in den Ideen eine schöpferische Leistung des Menschen. Die Lesbarkeit des Buches der Natur ist damit schon wieder problematisch geworden, Lektüre wird nun quasi zur Neuschöpfung. Der Mensch muss also die Vorgaben der Natur aktiv entwickeln und kann dabei leicht fehlgehen. Die Betonung der schöpferischen Aktivität des Erkennens schließt eine neue Unsicherheit, ja Dunkelheit ein. Mit gleichfalls illuministisch anmutendem Vokabular (germes cachés, vérité, erreur) mahnt Gérando daher zur Rationalität und zur Kontrolle der (gleichwohl nötigen) Imagination - eine Mahnung, die sich auch gegen die verirrten génies der Theosophie richten könnte, zugleich aber die Erkenntniszuversicht Condillacs durch eine Motivik der nebelverhüllten Abgründe modifiziert, die unmittelbar aus dieser Betonung der Aktivität erwächst und (wie 750 Vgl. Gérando 1800, II, S. 28. 751 Gérando 1800, II, S. 32 752 Gérando 1800, II, S. 41-42 335 wir sehen werden) neben dieser Betonung der Aktivität selbst der zweite Begegnungspunkt Gérandos mit den Illuministen ist: Les germes cachés de la vérité ont été semés par-tout sous nos pas; mais l’erreur, sous mille formes diverses, nous environne aussi de tous côtés. L’imagination, mère du génie, nous ouvre les sentiers qui conduisent du connu à l’inconnu; mais elle couvre aussi d’un funeste nuage les précipices qui les bordent […] 753 Mit dieser Poesie der Wolkenschwaden, die sozusagen eine Extremform des ‘Schleiers der Ideen’ darstellt, nähert sich Gérando auch stilistisch dem esoterischen Anderen ideologischer Vernunft, dem Illuminismus. Dessen Darstellung der Erkenntnis und ihrer Schranken soll deshalb als Nächstes rekonstruiert werden. 3.2. Schleier, Täuschungen und lumière astrale im Illuminismus Auch Saint-Martin fasst Erkenntnis als einen durch schlechte Sicht erschwerten Gang am Abgrund: Quelle est donc cette région, où rien de ce qui est nous, n’accomplit sa loi, et où nous ne goûtons pas une joie qui ne nous trompe! Oui, un prestige dominateur, et comme constitutif, semble composer l’atmosphère où nous sommes plongés. Nous sommes réduits à respirer sans cesse et presque exclusivement cette vapeur d’illusion qui nous environne, et que nous transmettons ensuite les uns aux autres, après l’avoir infectée encore de notre propre corruption; ou si nous voulons nous en garantir, il faut que nous nous condamnions à suspendre le jeu de toutes nos facultés, et à exister dans une entière immobilité. Dans les Alpes, voyez ce chasseur qui quelquefois est surpris soudain d’une mer de vapeurs épaisses, où il ne peut pas seulement apercevoir ses propres pieds, ni sa propre main; et où il est obligé de s'arrêter là où il se trouve, faute de pouvoir faire en sûreté un seul pas […] s'il ne veut pas, au moindre mouvement se briser et se plonger dans des précipices. 754 Ganz wie Gérando verdichtet Saint-Martin den ‘Schleier der Ideen’ zu einer trüben Wolke, und wie er betont er die Gefahr, zu Fall zu kommen. Neben der Motivik der „Voiles et prestiges“ selbst, die von Jacques-Chaquin (1988) untersucht wurde, interessieren uns drei Reizwörter: région, plongés, immobilité. Von jedem dieser Punkte aus lässt sich auch noch einmal zu den idéologues zurückblicken. a) „Région“ Der Ort, an dem sich gemäß der gerade zitierten Passage aus dem Vorwort zu Saint-Martins letztem Buch, Le ministère de l’Homme-Esprit das Seinsgesetz des Menschen nicht erfüllt und wo alles trügerisch ist, ist in einem der 753 Gérando 1800, IV, S. 569 754 Saint-Martin 1802, S. 8 336 prominentesten Texte christlicher Literatur ebenfalls als regio bezeichnet: in Augustins Confessiones. In Buch 7 heißt es: intravi in intima mea […] et vidi qualicumque oculo animae meae, supra eumdem oculum animae meae, supra mentem meam, lucem incommutabilem […] tu es Deus meus […] Et cum te primum cognovi, tu assumpsisti me, ut viderem esse quod viderem, et nondum me esse qui viderem. Et reverberasti infirmitatem aspectus mei, radians in me vehementer, et contremui amore et horrore; et inveni longe me esse a te in regione dissimilitudinis, tanquam audirem vocem tuam de excelso: Cibus sum grandium; cresce, et manducabis me. Nec tu me in te mutabis, sicut cibum carnis tuae; sed tu mutaberis in me. 755 Augustin befindet sich kurz vor dieser Passage auf einer verzweifelten Suche nach der Wahrheit (zuletzt in den Schriften der Neuplatoniker), er irrt in einer Region der Täuschungen und des Trugs umher, die er hier als regio dissimilitudinis bezeichnet. Der Begriff dissimilitudo zeigt auch bereits den Weg auf, wie Wahrheit einzig zu finden ist. ‘Unähnlich’ und also auf die Wahrheit Gottes nicht durchsichtig ist die Welt für den Menschen, weil er selbst seine Gottebenbildlichkeit durch die Sünde verdunkelt hat und deshalb am Christus-Logos, der die Struktur der zu erkennenden Schöpfung genauso wie die der erkennenden Vernunft begründet, aktuell keinen Anteil hat. Aus den Schleiern und Nebeln des Truges kann er daher nur heraus gelangen, wenn sich ihm die wahre Sonne, der Christus-Logos, offenbart. Dies ist jedoch, wie sich in den zitierten Zeilen ebenfalls erkennen lässt, keine einfache Illumination, sondern ein dialektisches Geschehen aus verschiedenen Akten der Gnade und der Ergreifung von Gnade: Zunächst wird dem Menschen die Möglichkeit gegeben, in sich zu kehren und seinen Mangel überhaupt zu konstatieren. Dann folgt wie ein Blitz das erste Erscheinen der göttlichen Sonne. Diese enthüllt jedoch zuerst nur, dass es etwas zu schauen gäbe, wenn der Mensch schon in der Lage dazu wäre. Durch die emotionale Erschütterung, die darauf folgt, ist der Weg frei für ein weiteres Ineinandergreifen gnadenhafter Angebote und menschlicher Mitwirkung. Der Mensch muss wachsen, um den nun im Bilde der eucharistischen Speise gefassten Christus-Logos in sich aufnehmen zu können, aber nicht, um ihn zu verdauen und ihn sich anzuverwandeln, sondern um sich selbst in ihn zu verwandeln und so seine Ebenbildlichkeit wiederzugewinnen, die allein die Nebel der regio dissimilitudinis zerstreuen kann. Saint-Martin fasst die Lösung des inneren Rätsels des Menschen durch die Christus-Sonne in seinen Stances sur l’origine et la destination de l’homme in Verse: Flambeau surnaturel qui vient de m’apparaître, 755 Augustinus 1987, VII, x, S. 334-336 337 Par toi s’explique enfin l’énigme de mon être. 756 Was bei Gérando ein durch systemimmanente Verschiebungen (hin zur Erkenntnis-Aktivität) auftretendes neues Dunkel war, das ist im Illuminismus die Grundbeleuchtung der gefallenen Welt, die nur mit Hilfe der ewigen Sonne aufgehellt werden kann. b) „Plongés“ Die „région“ der Unkenntlichkeit ist in dem oben zitierten Ausschnitt aus Saint-Martins Ministère de l’Homme-Esprit eine solche, in die die Menschen „plongés“ sind. Damit ist das gnostische Bild vom Sturz in die Materie und unter die Sterne aufgerufen. Und so erfahren wir, wie die Nebelschleier der regio dissimilitudinis bei den Illuministen genauer aufzufassen sind. Wir sahen schon bei Aucler und in Saint-Martins Crocodile, dass der Mensch, solange er nicht zu seinem inneren Christus gefunden hat, den Einflüssen der Sterne ausgesetzt ist, die sein Erkennen und Handeln durch die Trugbilder der Leidenschaften und die komplexen Zufälle der ebenfalls von den Sternen gesteuerten materiellen Welt manipulieren. Dies bedeutet natürlich, dass gerade die Sinnlichkeit, die für die Sensualisten die einzige Möglichkeit von Erkenntnis ist, stets im Dunkeln tappt. Die Irrlichter der „lumière astrale“ sind etwa bei Dutoit-Mambrini der Grund, warum die Naturwissenschaften abzulehnen sind und ihr vermeintliches Wissen durch Glauben ersetzt werden muss: Jusques à quand une philosophie de tout temps plus ou moins abusive, mais affreuse auhourd’hui, entraînera-t-elle les hommes dans des erreurs sans fin? […] Il est temps d’enlever à cette raison toujours en commerce avec les passions, toujours inquiete & mécontente de ses bornes, voulant tout envahir dans le domaine de la lumiere; il est temps de lui enlever sa fausse couronne & l’empire que son orgueil a injustement usurpé […] La lumiere de la foi ne triomphera-telle pas enfin des lueurs de cette raison trempée dans les passions & teinte de tous les écarts d’une imagination maîtresse d’erreur & de mensonge; & le jour ne se montrera-t-il pas, après un si long crépuscule, après une aurore si douteuse, si incertaine, à faux jour & à faux reflets? 757 Was hier ins Herz des aufklärerischen Projekts der Aufwertung der Sinnlichkeit zielt, ist alte esoterische Tradition, verbunden mit dem platonischen Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt des Wechsels und Wandels. Die Abwertung einer den Sternen bzw. Archonten und den durch sie bestimmten Leidenschaften unterworfenen Vernunft hat etwa Paracelsus aus der gnostischen Astrologie in die Neuzeit weiter gegeben. 758 Diese „viehi- 756 in: Saint-Martin 1807, I, S. 183 757 Dutoit-Mambrini 1793, S. V 758 Vgl. „De lunaticis“ (Philos. magna II) in: Paracelsus 1922-1995, XIV, S. 67, bei Pagel 1979, S. 96-97. 338 sche Vernunft“ umfaßt bei Paracelsus auch das rationale syllogistische Denken, das der Natur Vorschriften und Erklärungen unterlegt, die den beobachtbaren wahren Sachverhalten fremd sind“, wie Pagel resümiert. 759 Paracelsus wertet namentlich die Scholastik im Namen dieser Kritik an der „gestirnischen weisheit“ 760 und zugunsten einer speziellen (paracelsischen) Art von Empirie ab (die ein schöpferisches Lesen im Buch der Natur ist). Dutoit-Mambrini stellt sich in diese Tradition und gelangt so zu einer seltsamen Übereinstimmung mit der Stoßrichtung der Aufklärung gegen die Scholastik und zugleich zu einer Gegenstellung zu ihr, die durch die Allgemeinheit seiner Vernunftkritik und seine Abwertung der Sinnlichkeit gegeben ist. Die empirische Philosophie irrt also im Zwielicht umher, im gebrochenen Widerschein der lumière astrale. Die ersten Sinneseindrücke sind in dieser Sichtweise gerade nicht das Sicherste, sondern das Irreführendste. Insofern kann man sagen, dass der illuministische Diskurs in dieser Hinsicht einfach die Grundannahmen der Sensualisten umkehrt. Bei Saint-Martin liegen die Dinge allerdings etwas komplizierter, denn er interessiert sich trotz allem sehr stark für Naturwissenschaft - solange sie nicht losgelöst von der inneren Logosform und Gottebenbildlichkeit des Menschen betrieben wird. Ein Blick auf die Rationalitätskritik am Anfang von Des erreurs et de la vérité kann dies verdeutlichen. Dort beschreibt der philosophe inconnu das Umherirren einer unruhigen, ihrem Ursprung entfremdeten Menschheit in der gefallenen Welt. Aufgrund der dort herrschenden Finsternis sieht der Mensch nicht, dass sein „désir de connaître“ im Dunkeln tappt. Die Lichttäuschungen und Erscheinungen, die er in seiner Imagination entdeckt, verflüchtigen sich sofort, wenn man sie richtig untersucht. Der Mensch gebiert Phantome und ersetzt sie, wenn sie sich als untauglich erweisen, durch Illusionen. Aber sein Irrtum kommt nicht nur aus seiner Schwäche, sondern auch aus seinem regellosen Willen, denn er lenkt seine wenigen Kräfte stets gegen das Gesetz seines Seins. Da es aber für alle Wesen ein ersichtliches Gesetz gibt, müsste der Mensch in analoger Anwendung dieser Evidenz auf sich selbst erkennen können, dass es auch für ihn ein solches geben muss. 761 Was dessen Auffindung erschwert, ist die ständige Mischung aus Gut und Böse, aus Licht und Schatten im Menschen, die eine Quelle der Unordnung und Orientierungslosigkeit ist. Diese Orientierungslosigkeit ist jedoch zugleich Erkenntnisdrang. Die verschiedenen und nach Ansicht des philosophe inconnu größtenteils falschen Lösungen des Problems von Gut 759 Pagel 1979, S. 98; vgl. „De generatione stultorum“ I, 1 in: Paracelsus 1922-1995, XIV, S. 88. 760 Paracelsus, „Auslegung über etliche Figuren Jo. Lichtenbergers“ VII, 511, bei Pagel S. 99. 761 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 3-8. 339 und Böse, die die Menschen ersonnen haben, um diese Mischung zu durchdringen, referiert Saint-Martin als Indizien für den Zustand der Verdunklung, in dem der Mensch sich befindet. Diese und andere Irrtümer wären der Menschheit erspart geblieben, wären die Denker, statt die Natur zu beobachten, in sich selbst hinabgestiegen, um dort den Schlüssel zur Welt zu finden. An dieser Stelle erhebt Saint-Martin seine berühmte Forderung: „expliquer les choses par l’homme, et non l’homme par les choses.“ 762 In einer Mischung aus gnostischer und zeitgemäß philosophischer Sprache legt Saint-Martin hier also eine weitgehend augustinische Rationalitätskritik vor, und ähnlich wie der Weg Augustins ist auch seine voie intérieure eine Dialektik von gnadenhaften Angeboten und Mitwirkung des Menschen 763 - vielleicht mit einer stärkeren Betonung menschlicher Möglichkeiten als sie bei Augustin zu finden ist. Dies bringt uns zu dem dritten Punkt unserer Lektüre, der Frage nach der Aktivität des Menschen. c) „Immobilité“ Besonders frappierend bei dem Vergleich zwischen dem Umherirren der Erkenntnis am umnebelten Abgrund bei Gérando und den Nebelschleiern und Schluchten der regio dissimilitudinis bei Saint-Martin ist ja die Gefahr, die in beiden Fällen von der Bewegung ausgeht. Bei Gérando kann jeder Schritt zum Absturz führen, da das aktiv gewordene Erkenntnissubjekt nicht mehr von der Natur getragen wird. Bei Saint-Martin wird die ängstliche Immobilität, die sich bei Condillac zeigte, als typische Beschränkung einer nur diesseitigen Intelligenz gedeutet, die sich von der Unerkennbarkeit der Welt in völlige Passivität zwingen lässt. Die Verarbeitung und das Ergreifen der Wahrheit ist aber, so formuliert Saint-Martin gegen die Ideologen, in Wirklichkeit „un pouvoir actif“. 764 Darin trifft sich Saint-Martin mit Gérando; im Gegensatz zu dessen Auffassung ist jedoch die Aktivität für ihn nicht der Grund für die Unsicherheit, sondern dasjenige, was aus ihr hinaus führt. Erkenntnis ist ein Willensakt; schon bei Augustin war die voluntas Bestandteil der cogitatio. 765 Dies lässt sich an Saint-Martins Entwicklung der Pasquallyschen Intelligenzen-Lehre studieren. Gemäß seiner Methode, eigene Positionen oft in kritischem Anschluss an sensualistische oder ideologische Positionen zu entwickeln, gesteht Saint- Martin den observateurs (Empiristen) zu, dass aktuell alle Ideen durch die Sinne zu uns gelangen. 762 Saint-Martin 1775, S. 9 763 Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 171-2: Liebe, Freiheit, Wille des Menschen und Wille Gottes (Gnade) greifen ineinander; vgl. auch Jacques-Chaquin/ Becque 1972, S. 183 764 „Quelle est la source de nos connaissances et de nos idées? “ in: Saint-Martin 1807, I, S. 207-208. 765 Vgl. Augustinus 1886, col. 988f.: cogitatio ist eine Trinität von memoria, interna visio und voluntas. 340 Dans la malheureuse condition de l’homme actuel, aucune idée ne peut en effet se faire sentir en lui, qu’elle ne soit entrée par les sens; en sorte qu’il faut convenir encore, que ne pouvant pas toujours disposer des objets et des Etres qui actionnent ses sens, il ne peut, par cette raison, être responsable des idées qui naissent en lui […] C’est là ce qui a fait croire aux Observateurs que nos pensées et toutes nos facultés intellectuelles n'avaient point d’autre origine que nos sens. 766 Allerdings muss man einschränken, dass Saint-Martin die Vermögen („facultés“) nicht aus den Sinnen, sondern aus der geistigen Gestalt des Menschen begründet. Ähnlich wie Condillac und Locke leugnet Saint-Martin aber hier die eingeborenen Ideen. Waite hat hierin eine seltsame Übereinstimmung zwischen spiritualistischem und materialistischem Denken gesehen, 767 aber in Anbetracht der in I, 3.1.2.a) zitierten Sündenfallserzählung Condillacs wird man zugestehen müssen, dass dieser immerhin den gleichen religiösen Mythos bemüht wie Saint-Martin; materialistische Konsequenzen haben allenfalls Condillacs Nachfolger gezogen, nicht er selbst. Drei Differenzierungen bringt Saint-Martin jedoch gegenüber Condillac und den observateurs an: Zum einen sind die materiellen Konstellationen, die zu Ideen führen können, ihrerseits gemischt zwischen Gut und Böse und mithin Wahr und Falsch, denn die körperliche Welt durchweben teuflische Agenten ebenso wie diejenigen Gottes. Das Gute ebenso wie das Böse, Wahrheit ebenso wie Irrtum können sich demnach den Sinnen darbieten, und damit kommt es auf eine Auswahl zwischen verschiedenen Erkenntnisangeboten an, die aufgrund der inneren Gestalt des Menschen getroffen werden muss. Zum zweiten ist der Mensch in dieser Weltsicht ein geistig-materielles Doppelwesen, was Saint-Martin zu dem Postulat führt, es müsse auch immaterielle, den materiellen analoge, aber von ihnen verschiedene, Sinne geben, sozusagen innere Sinne (in der E INLEITUNG begegneten wir seinem „sens moral“). Damit gibt es auch geistige Erkenntnisangebote, Einflüsterungen, die ebenso wie die materiellen von guten oder bösen Agenten an den Menschen herangetragen werden können. Diese beiden Punkte kommen in Saint-Martins bekannter Formulierung zusammen, die Ideen seien nicht in, sondern bei uns - in seinem Gedicht „Le cimetière d’Amboise“: L’idée, objet profond qui vous divise tous, N’est pas innée en vous, mais à côté de vous. Vous naissez, vous vivez au milieu des pensées. Et ce qui vous fait homme, est le droit merveilleux D’admettre en vous ces fruits, de former avec eux Un doux lien, fondé sur votre analogie […] 768 766 Saint-Martin 1775, S. 62 767 Vgl. Waite 1970, S. 196 768 Saint-Martin 1807, I, S. 199-200. Vgl. auch Saint-Martin 1990, S. 364: „Ils (sc. les spiritualistes) croient que nos idées ne sont point innées en nous, mais à côté de nous. Ils 341 Die Ideen kommen durch natürliche Zeichen, menschliches Sprechen und Handeln und innere Einflüsterungen zum Menschen, müssen aber von diesem (wie wir in Kapitel IV sehen werden) entwickelt werden. Der Akt der Erkenntnis als frei gewählte Verbindung mit dem ihm Analogen ist in einer Bildlichkeit der Eheschließung als „doux lien“ bezeichnet. Was nun die dritte Differenzierung gegenüber den observateurs betrifft, so ist dem Menschen ein entscheidendes Werkzeug geblieben: Die Gnade Gottes hat dem gefallenen Menschen just jenes Organ gelassen, durch das er überhaupt fehlgehen konnte, nämlich den freien Willen. Dieser ist nun auch die Kraft, durch die der Mensch zwischen den guten und bösen Intelligenzen wählen kann. 769 Die guten Intelligenzen sind also je einzeln in einer Situation wirkende Gnadenakte, die der Mensch durch die habituell gewährte Gnade des freien Willens ergreifen kann. Dazu muss er freilich diesen Willen in der richtigen Weise bewegen. Erkenntnis ist also ein Willensakt, ein moralisches Geschehen, und die Ästhetik wird so in eine Ethik überführt: „c’est à nous de choisir.“ 770 Auf den Seiten, die in Des erreurs et de la vérité auf die oben referierten folgen, deduziert Saint-Martin aus der Möglichkeit des Bösen (das als Nichtübereinstimmung mit dem eigenen Seinsgesetz verstanden wird) die Notwendigkeit der Freiheit. Aus dem Freiheitsbegriff selbst folgert er sodann die Freiheit des Willens. Gemäß einer Argumentationsform, die wir im nächsten Kapitel näher beleuchten wollen, beweist für Saint-Martin die Sklavenkette, die der Mensch trägt, nicht, dass er nie frei gewesen sei, sondern im Gegenteil seine eigentliche Bestimmung zur Freiheit. Was nun die Natur des Willens angeht, so ist dieser für Saint-Martin nicht, wie dies oben etwa für Condillac aufgezeigt wurde, ein passives Hinneigen zu einem sich darbietenden Anziehungsobjekt. Denn wenn solchermaßen die Gründe, die an uns herantreten, den Willen determinieren würden, wäre er nicht frei. Gegenüber Condillac bezieht Saint-Martin mit dieser Vorstellung croient que notre esprit naît et vit au milieu des pensées, comme nos corps naissent et vivent au milieu des élémens, et de toutes les productions de la nature. Ils croient que notre esprit peut cueillir autour de lui...toutes ces diverses idées dont il est environné, et qui sont son aliment de première nécessité...Ils croient que s'il n'y avait pas dans notre esprit une base analogue aux idées dont il est environné, elles ne pourraient jamais pénétrer en lui, ni former avec lui aucune alliance; comme s'il n'y avait pas dans notre estomac des sucs analogues aux sucs des fruits terrestres, jamais ces fruits ne pourraient, dans nos viscères, se transformer en chyle et en sang.“ 769 Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Intelligenzen geschieht durch eine Erfahrung der Unruhe oder Ruhe. Der Mensch kommt bei schlechten Intelligenzen nicht zur Ruhe, weil diese relativ und zusammengesetzt sind. Gute Intelligenzen führen zur Ruhe, weil sie aus der Einfachheit, Einheit und daher Wirklichkeit kommen - sie rühren von einem einfachen Prinzip her. Insofern wirkt sich hier eine ontologische Unterscheidung existenziell aus und begründet damit Erkenntnis. Vgl. Saint- Martin 1782 I, S. 188. 770 Saint-Martin 1802, S. 299 342 eine extreme Gegenposition, die zugleich eine mögliche Schwäche in Condillacs Konzeption offenbart. Der Automatismus der sinnengeleiteten Ideenerzeugung im sensualistischen Modell lässt ja keinen Raum für freie Aktivität; wir haben oben schon gesehen, dass Wille eigentlich in ihm kaum erklärbar ist. Der Wille trägt nach Saint-Martin sein eigenes Prinzip in sich und ist bezüglich seiner Wahlmöglichkeiten in jedem Augenblick so frei, wie es die Sündhaftigkeit oder Reinheit des betreffenden Menschen ermöglicht. Die Tatsache, dass wir die Attraktion der vielen Dinge in unserem Gesichtskreis als Tyrannei empfinden können, beweist für Saint-Martin bereits, dass unser Wille dafür geschaffen ist, unabhängig von ihnen agieren zu können. Der Mensch ist demnach eigentlich frei, wenn auch aktuell versklavt. Wie dem ‘Prinzen in der Fremde’ der Gnosis 771 muss ihm seine wahre Herkunft offenbart werden, damit er zu sich und seiner Freiheit finden kann. Immer schärfer tritt so im Verlaufe der ersten Seiten von Des erreurs 772 die Spaltung des Menschen zwischen einer eigentlichen Bestimmung und einer aktuellen Verirrung als historische Differenz auf, die zugleich Interpretationsinstrument der vorfindlichen Welt ist. Der Mensch erfährt an sich schmerzhaft eine Spaltung, die ihn auf die Grundoperation des martinistischen Diskurses drängt, alles auf den Sündenfall hin zu deuten. Dass dadurch ein wesentlicher Aspekt des Schlüssels zu den Dingen ein energetisches Phänomen ist, ein Drang und ein Begehren, werden wir im nächsten Kapitel vertiefen. Der Wille des Menschen, der somit Grundlage nicht nur des Handelns, sondern sogar des Erkennens wird, ist jedoch, wie Saint-Martin im Einklang mit katholischer Orthodoxie impliziert, durch den Fall geschwächt. 773 Er ist zwar die einzige Möglichkeit des Menschen, den Ausgang aus dem Dunkel zu finden, aber er genügt nach dem Fall nicht für den Weg ins Licht. Ist einmal eine gute Intelligenz ergriffen, die ansatzweise zur Einsicht in das wahre Prinzip der Dinge führt, so bedarf es auch noch eines 771 Bekanntlich ist die Literarisierung des gnostischen Motivs der „Botschaft des fremden Gottes“ an den in der Materie verirrten Pneumatiker - vgl. Jonas 1958 - im Roman des Hellenismus eben jener Prinz in der Fremde etwa der Aithiopika des Heliodor und in dieser Gestalt unabhängig von ihrem weltanschaulichen Gehalt in der Literatur tradiert worden - von der Narrativik der frühen Neuzeit bis hin zu Beaumarchais’ und Da Pontes Figaro, der als verlorener Sohn erkannt und dadurch aus einem intrigenhaften impasse in die Hochzeit mit Suzanne gerettet wird. 772 Saint-Martin 1775, S. 1-26 773 Die Illuministen haben dieses theologische Traditionsgut verschieden ausgearbeitet. Fournié meint beispielsweise, der Sündenfall des Menschen habe überhaupt in der Setzung eines Eigenwillens bestanden, und Jesus selbst habe zur Erlösung des Menschen seinen Menschenwillen vernichtet und sich in den des Vaters gefügt; vgl. Faivre 1967a, S. 123. 343 grundlegenden Willensaktes, der in gewisser Weise diese Willensfreiheit aufhebt 774 und sie dadurch neu begründet. […] nous savons aussi actuellement quelle est la main qui doit l’y conduire, et que si par lui-même il ne saurait faire un pas vers cette source féconde, il peut être sûr d’y parvenir, en oubliant sa volonté, et laissant agir celle de la Cause active et intelligente qui doit seule agir pour lui. 775 Der Mensch muss in einem Willensakt sein eigenes Wollen zugunsten desjenigen der „cause active et intelligente“ aufgeben, hinter der sich der Christus-Logos verbirgt. 776 Erst dann kann Erkenntnis stattfinden. Da die Aufgabe des Menschen aber die Lesbarmachung der Welt für die in sie gestürzten Geister ist, ist die Ergreifung des Schlüssels zur Welt nicht nur eine Bedingung für je eigenes Heil, sondern heilsgeschichtliche Aufgabe. Die Naturerkenntnis ist keine Beigabe zum menschlichen Glück, sondern sie steht im Mittelpunkt seiner Bestimmung. Erkenntnis hat dadurch für Saint-Martin einen ähnlich hohen Stellenwert wie bei den Sensualisten und Ideologen. Sie ist jedoch kein wertfreier Mechanismus, sondern moralisches Handeln. Die Betonung der Aktivität, die bei Gérando noch das Gebäude der Erkenntnislehre bedrohte, wird nun für Saint-Martin zur Grundlage einer neuen Gewissheit, die aber nicht in Messungen oder Schlüssen zu haben ist, sondern in einem existenziellen Akt. Diesen und seine energetischen Grundlagen wollen wir als nächstes anhand eines im achtzehnten Jahrhundert heftig umkämpften Topos untersuchen: der inquiétude. 3.3. Energie, Wille und Erkenntnis: inquiétude Im zweiten Kapitel von Voltaires Micromégas unterhält sich der Titelheld, der vom Stern Sirius stammt, mit seiner interstellaren Bekanntschaft, dem Sekretär der Akademie der Wissenschaften des Planeten Saturn. Sie vergleichen ihr sterbliches Los miteinander und gelangen zu der Einsicht, dass jedes denkende Wesen zur Unzufriedenheit neige, gleichgültig, ob es wie Micromégas eine Leibeshöhe von 32 Kilometern und eine Lebenserwartung von über zehn Millionen Jahren hat oder ob es, wie sein Gesprächspartner, ein Zwerg von nur zwei Kilometern Höhe ist, mit einer Lebenserwartung von lediglich fünfzehntausend Jahren. „Vous voyez bien que c’est mourir presque au moment que l’on est né, notre existence est un point, notre durée un instant, notre globe un atome. A peine a-ton commencé à s'instruire un peu que la mort arrive avant qu’on ait de 774 Vgl.: „pas un désir qui ne fût une obéissance“ (Saint-Martin 1802, S. 300). 775 Saint-Martin 1775, S. 257 776 Saint-Martin 1782, I, S. 156, formuliert dies alchemistisch-sophiologisch: Das „grand œuvre“ (in der Alchemie bedeutet dieser Terminus die Gewinnung des Steins der Weisen) besteht darin, den Eigenwillen in den der „sagesse“ zu verwandeln. 344 l’expérience. Pour moi, je n'ose faire aucuns projets; je me trouve comme une goutte d’eau dans un océan immense […] “ 777 Das hier erscheinende Motiv des Tropfens im Ozean gehört zum einen in ein Programm rhetorischer Verfahren zur Verdeutlichung von Relativität (insofern, als hier, wie Ursula Schick bemerkt, „innerhalb eines Vergleichs wieder ein Maßsystem aufgestellt“ wird 778 ), zum anderen aber bringt es an den Ursprüngen seiner Geschichte einen Text ins Spiel, der ebenfalls die relative Kürze auch des längsten (menschlichen) Lebens zum Thema hat; bei Jesus Sirach 18: 8 heisst es: […] numerus dierum hominum multum centum anni quasi guttae aquae a mare et sicut harenae sic exigui anni in die aevi Wie Tropfen verlieren sich auch die längsten Menschenleben im Meer der Ewigkeit, denn auch hundert Jahre sind im Vergleich zu ihr nichts als ein Sandkorn. Dieses alttestamentarische Sich-Fügen ist genau jene bescheidene Haltung, die der weise Micromégas im Gegensatz zu anderen Sternenbewohnern gefunden hat. Sein Gesprächspartner hingegen steht mit seiner Unzufriedenheit ironisch für einen ‘neueren’ Menschentypus - denjenigen, der sich (vor allem aufgrund der Verheißungen des Neuen Testaments, aber auch einiger des Alten) für die Ewigkeit geschaffen wähnt und sich daher mit seinem Platz in dieser Welt nicht mehr abfinden mag. Das daraus resultierende Umgetriebensein in einer Welt, die man nicht als die eigene und eigentliche akzeptieren will, ist der Topos, um den es uns hier gehen soll; er bietet sich in vielen zeitgenössischen und älteren Versionen Voltaires Spott dar und ist auch ein verborgener Nebenschauplatz der philosophischen Gefechte des Micromégas. Voltaires Satire richtet sich vor allem gegen die diesem Topos inhärente Annahme, das Unglück des Menschen sei bereits ein Indiz dafür, dass er eigentlich zu einem warum auch immer verfehlten größeren Glück geschaffen sei. Diese Idee durchkreuzt er dadurch, dass er dem Menschen in den Helden dieser Erzählung zwei ihm unendlich überlegene Wesen gegenüberstellt. Der Saturnianer, der die gleichen Klagen vorbringt wie der Mensch, ist der kleinere und weniger intelligente der beiden, aber auch der weniger bescheidene. Der „Held dieser Demonstration einer ‘Relativitätstheorie’ als Lebenshaltung“ hingegen, Micromégas, der größere und klügere der beiden, „funktioniert durchweg als allegorische Verkörperung von Bescheidenheit, Demut und Verantwortungsbewustsein“ 779 ; dieses nur scheinbar paradoxe Zusammenfallen von Größe der Möglichkeiten und Kleinheit des Anspruchs gibt denn auch thesenhaft der Erzählung und 777 Voltaire 1958, S. 99 778 Schick 1968, S. 94 779 Schick 1968, S. 112 345 ihrem Titelhelden ihren Namen. Die Stellung des Menschen im Kosmos (Voltaire schrieb den Text kurz nach Beendigung seiner Éléments de la philosophie de Newton) wird so zu einer relativen Größe, aus der nichts über seine Bestimmung geschlossen werden kann. Seine Unzufriedenheit ist lediglich ein Verfehlen des Gleichgewichts zwischen seinen Wünschen und seiner Natur. Die Wünsche, mit denen ein solchermaßen ökonomischer Umgang angeraten wird, sind für Voltaire wiederum nicht eine rätselvolle Sehnsucht nach höherer Erfüllung, sondern natürlicher Effekt einer uneasiness, die er aus Lockes Essay 780 übernimmt. Diese setzt er als gesunde Triebfeder menschlichen Überlebens polemisch gegen jenen anderen, topischen Begriff von Unruhe, die inquiétude christlich-apologetischer und besonders pascalscher Spielart, die sich eben nicht mit dem Platz des Menschen in der Welt abfindet; sie hat Voltaire schon in seinen „Remarques sur les pensées de M. Pascal“ zurückgewiesen. 781 Dass dieser Hintergrund hier relevant ist, wird nicht nur aus dem en passant über Pascal im ersten Kapitel dieses conte ausgegossenen Spott, sondern auch daraus ersichtlich, dass der Begriff der inquiétude selbst auch im zweiten Kapitel des Micromégas erscheint und durch den Kontext als selbst verschuldetes Unglück derjenigen definiert wird, die verkennen, dass sie in der Natur bereits an ihrem richtigen Platz sind: […] et il nous reste encore je ne sais quel désir vague, je ne sais quelle inquiétude, qui nous avertit sans cesse que nous sommes peu de chose, et qu’il y a des êtres beaucoup plus parfaits […] 782 Wie also sieht der hier debattierte Topos der inquietudo näher aus? 3.3.1. Inquiétude und die Fortüne des Pascalschen Augustinismus Gegen Voltaires Kritik an Pascal betont der Abbé Gauchat in seinen Lettres critiques, dass der Mensch im Gegenteil nicht an seinem Platz in der Welt sei. Seine Begründung dafür führt uns mitten in die Thematik der Unruhe, wie sie von den christlichen Apologeten verstanden wird: 780 Locke 1690, II, xx, 6: „Desire: the uneasiness a man finds in himself upon the absence of anything whose present enjoyment carries the idea of delight with it is that we call „desire,“ which is greater or less as that uneasiness is more or less vehement. Where, by the by, it may perhaps be of some use to remark, that the chief, if not only, spur to human industry and action is uneasiness.“ 781 XXIVe Rem in: Voltaire 1734, S. 159. Im Zusammenhang mit der Zurückweisung der These, der Mensch sei durch die Erbsünde an den für ihn falschen Ort gelangt und die inquiétude zeuge davon, interpretiert er diese als uneasiness im Sinne Lockes, s. o.: „Cet instinct secret étant le premier principe et le fondement nécessaire de la société, il vient plutôt de la bonté de Dieu, et il est plutôt l’instrument de notre bonheur qu’il n’est le ressentiment de notre misère.“ Vgl. dazu den weiter unten referierten Einspruch des abbé Gauchat. 782 Voltaire 1958, S. 99 346 L’homme n’est point en sa place […] L’homme sent toute la grandeur de sa destination, & il y aspire inutilement. Fait pour le repos et le bonheur, dont sans cesse la vive idée le tourmente, son corps souffre, son esprit est dans les ténèbres, & son cœur est agité de passions. 783 Dieser locus communis der inquietudo begegnet in klassischer Ausprägung in Malfilâtres Ode „Le Bonheur“: […] De tous les faux biens l’homme avide En vain recherche le secours; Ils n'ont jamais rempli le vide Que dans lui-même il sent toujours: […] De la félicité parfaite, Sainte compagne, aimable paix, Mon âme toujours inquiète T'appelle et ne te sent jamais; À l’ardeur le dégout succède: D’un bien, avant qu’on le possède, La vaine apparence éblouit: Jouit-on? Ô retour funeste! Le charme fuit, le désir reste, Et le bonheur s'évanouit […] 784 Die innere Unruhe wird hier als Grundgegebenheit des Menschseins aufgefasst, als ein treibendes „désir“, das von einem inneren „vide“ ausgeht und im Diesseits, in der Welt der bloßen „apparence,“ ihr Ziel stets verfehlen muss, jenseits derselben aber auf die Möglichkeit einer „félicité parfaite“ zählen kann. Diese Kombination aus platonischer Ontologie und aristotelischer Entelechie wird in dem Motto des Gedichts auf ihre augustinische Herkunft transparent gemacht. Sie wird damit als lieu commun in der Nachfolge Pascals erkennbar, dessen in vielen Aspekten augustinisch gefärbte Pensées, wie anhand Voltaires schon angedeutet, im achtzehnten Jahrhundert noch Gegenstand kritischer Debatte waren. Das Motto von Malfilâtres Ode zitiert nämlich das erste Kapitel von Augustins Confessiones: Fecisti nos ad te, Domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te. 785 Damit präsentiert dieser Text in sich bereits jene Filiation, die Jean Deprun auf anderen Wegen und anhand zahlreicher anderer Beispiele als Teilstrang seiner Geschichte des „'fait apologétique’ par excellence“ der inquiétude im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts herausgearbeitet hat. 786 Auch er gelangt (auf den Spuren Pierre Courcelles) zum Eingang der Con- 783 Gauchat 1758, S. 64 784 zitiert nach: Delon 1997, S. 226-228. 785 Malfilâtre in: Delon 1997, S. 226; vgl. Augustinus 1987, S. 12. 786 Deprun 1979, S. 124. Die Hinzunahme des Textes von Malfilâtre zu dem von Deprun untersuchten Korpus schlägt schon Delon 1997, Anm. S. 484, vor. 347 fessiones und zeigt die spezifisch apologetische Struktur dieser Unruhe, wie sie dann vor allem in der Argumentation Pascals zu Tage tritt: Si l’homme n’est fait pour Dieu, pourquoi n’est-il heureux qu’en Dieu? […] L’homme ne sait à quel rang se mettre. Il est visiblement égaré et tombé de son vrai lieu sans le pouvoir retrouver. Il le cherche partout avec inquiétude et sans succès dans des ténèbres impénétrables. 787 In Pascals „ténèbres impénétrables“ erkennt man unschwer die regio dissimilitudinis, der wir oben begegenet sind. Die in dieser Lektüre der Unruhe als Indiz für eine höhere Bestimmung des Unruhigen implizite Annahme, die Unruhe sei motiviert, sie dränge auf etwas Abwesendes, jedoch Existentes und Erreichbares hin, führt Deprun auf einen Syllogismus folgender Art zurück: Tout besoin naturel a un objet réel (et donc accessible). Or l’inquiétude (prise au sens fort) est un besoin naturel. Donc l’inquiétude a un objet réel. 788 Dies ist die Gedankenfigur, die wir in dieser Untersuchung als argumentum privationis bezeichnen und die bei Saint-Martin auf Schritt und Tritt begegnet. Akzeptiert man die beiden (freilich selbst schon fraglichen) Prämissen, so wäre also die Unruhe des Menschen nicht nur eine Energie, die auf die Lösung des Rätsels um seine Bestimmung hinwirkte, sondern zugleich ein Indiz für diese Lösung selbst. Sie triebe nicht nur zur Interpretation an, sie selbst müsste interpretiert werden, und zwar wiederum als Interpretant eines - wie wir sehen werden - undurchschaubar gewordenen Zeichens. Die Kluft zwischen Bestimmung und Wirklichkeit, über die sich der Mensch beunruhigt, ist dabei nicht als ursprünglicher Zustand aufzufassen. Sie wird in der christlichen Apologetik der inquiétude vielmehr auf den Fall Adams zurückgeführt. Damit verweist die Unruhe des Menschen zu- 787 Pensées in: Pascal 1670, S. 399 und 400. Vgl. Courcelle 1963, S. 432-3. Der platonische Zweig der Vorgeschichte des Motivs bei Deprun 1979: Die Instabilität des unvollkommenen Wesens hat erst Ruhe in der Stabilität Gottes als des Wesens mit der „densité ontologique maximale“ (S. 125), im Neuplatonismus kommt noch das Motiv der Odyssee als einer Rückkehr zum Eigentlichen hinzu (Plotin, Enneade I, vi, 8, bei Deprun S. 267, n. 12). Zur Einbeziehung der aristotelischen Lehre vom richtigen Ort in diesen Motivkomplex bei Augustin vgl. Conf, XIII, ix: „In dono tuo requiescimus: ibi te fruimur. Requies nostra „locus“ noster...Corpus pondere suo nititur ad locum suum.“ (Augustinus 1987, S. 766) 788 Deprun 1979, S. 129. Wie er (S. 126) zu Recht darlegt, ist diese Argumentation nicht an eine aristotelische Kosmologie gebunden. Er weist sie bei Descartes (VI. Meditation), dem Malebranchisten Lamy und Franz von Sales nach. Eine weitere Etappe der Geschichte dieser Argumentation bei Deprun ist der abbé Duguet (Traité des Principes de la foi chrétienne, Paris 1736), wo eine volontaristische, autozentrische Genese des Sehnens nach Gott und selbst des Gedankens an ihn ausgeschlossen wird: nur Gott konnte uns den Gedanken an Gott eingeben (Deprun S. 131, Duguet S. 30-31 und 23). Duguet baut daraus einen Gottesbeweis. Diese Argumentationsweise wird bei Saint- Martin wiederbegegnen. 348 gleich auf seine Geschichte. Dieser geschichtliche Aspekt der Unruhe wird besonders plastisch in einer anderen Ode, die Deprun Antoine-Louis de Chalamont de La Visclède zuzuschreiben vorschlägt: Grand Dieu, quand l’homme téméraire Renversa de ta loi le sacré fondement, Du sceau vivant de ta colère, Tu sçus éterniser son crime & son tourment; […] Cependant maîtresse inflexible, La loi subsiste encore dans son cœur ulcéré, Et lui défend d’être paisible, En suivant le penchant qui l’entraîne à son gré […] […] Par ces biens dont elle s'enivre, L’ame sçait de son sort suspendre la rigueur. A ses vœux le bonheur se livre: O ciel! Qui cause encore sa mortelle langueur? Je la vois s'égarer, inquiète, incertaine […] […] Cette inquiétude cuisante Qui livre tant d’assauts à ton cœur irrité, Est une semence agissante, Un germe précieux de l’immortalité […] . 789 Die Unruhe wird also bewirkt durch die Spaltung zwischen der immer noch gültigen ursprünglichen „loi“ des Menschen und seiner gegenwärtigen Entfernung davon, also durch die Erbsünde. Sie ist so sehr Bestandteil der Religiosität des achtzehnten Jahrhunderts, dass Sade die Kopräsenz von Devotion und Getriebensein geradezu als Kürzel des instabilen Charakters seiner Antiheldin Justine verspotten kann. 790 Wollte man Depruns Textsammlung auch noch in die letzten Jahre des für uns interessanten Zeitraumes fortsetzen, so könnte man als spätes Exemplar dieser apologetischen Dichtung noch eine ode sacrée von Gence aus dem Jahre 1801 anführen, in der sich noch einmal die aristotelische Lehre vom richtigen Ort (am Beispiel der zum Feuerhimmel zurückstrebenden Flamme) und der oben beschriebene Syllogismus finden: Mais si l’homme est lui-même un tout, une puissance, Il doit comme la flamme à son foyer s'unir, Voir Dieu par l’harmonie! […] Un rayon d’espérance A dans ce cœur mortel ranimé le desir […] […] L’homme se développe; il veut aimer, connaître, 789 Bei Deprun 1979 als Note annexe D, S. 140-141: „L’inquiétude de l’homme,“ dort zitiert nach: Chabaud 1748, S. 110-113. 790 Sade 1791, S. 231: „les tourments de l’inquiétude se réveillèrent dans mon coeur“, vgl. dazu Deprun 1979, S. 101. 349 Veut devenir heureux: il est donc fait pour l’être. 791 Chateaubriand kann im folgenden Jahr mit seinen Überlegungen zum „Desir de bonheur dans l’homme“ im Génie du christianisme an diese Tradition anknüpfen. 792 3.3.2. Die Gegendarstellung der philosophes Die apologetische Rede von der Unruhe findet einen Gegenstrom in sensualistischen und materialistischen Beschreibungen dieses Phänomens, die sich teils neben sie, teils gegen sie stellen. Oben wurde schon gezeigt, wie Voltaire den Topos der pascalschen inquiétude destruiert. Einerseits betont er, dass der Mensch an seinem richtigen Platz in der Natur sei und kein höheres Los ersehnen müsse. Andererseits leugnet er aber nicht die Unruhe des Menschen - nur erklärt er sie nicht als Ausbruchstendenz aus einem Zustand wesensfremden Mangels, sondern als uneasiness im Sinne Lockes, als Energie zur Lebensgestaltung. Condillac neutralisiert diese uneasiness weiter. Die Energie der menschlichen (wie der tierischen) Seele ist für ihn, wie wir sahen, ein Effekt des Vergleiches zweier Möglichkeiten, von denen die eine Lust, die andere Unlust verschafft. Damit wird sie zur bloßen Differenz, zu einem Gefälle, über das das menschliche Handeln dahingleitet. Analog zu Condillacs Erklärung der denkerischen Tätigkeiten aus der sensation ist auch im Falle menschlicher Entscheidungen der Energieträger nicht eigentlich der Mensch: Die Außenwelt wirkt in einer Weise auf ihn, dass seine Tätigkeit beinahe als bloßer Effekt derselben erscheint. Damit ist das movens der Gottsuche, das die inquietudo des Augustinismus war, undenkbar geworden. Wenn denn der Mensch Gott finden kann, so muss dies in Condillacs Denken als Effekt der Außenwelt auf die Sinne geschehen - und in der Tat ist eine sensualistische Version des kosmologischen Gottesbeweises Condillacs Weg zu Gott. 793 Die energetische Lesart der uneasiness wird bei Helvétius schließlich zum Prinzip der Perfektibilität des menschlichen Geistes. Diese inquiétude legt die Statik der condillacschen Konzeption ab, aber nicht, um wieder zu einem verlorenen Ort des Glücks zurück zu gelangen, sondern, um in die Zukunft der Perfektibilität zu streben. Deprun zeigt auf, dass es diese energetische Unruhe ist, die dann Sade zum Motor seiner Logik der Infraktion machen wird. 794 Aber diese gewissermaßen säkularisierende Entwicklungslinie zu privilegieren hieße, die Komplexität des achtzehnten Jahr- hunderts aus einer Art Siegerperspektive zu reduzieren. Ein viel gelesener 791 Gence 1801 792 Ie partie, livre VIe, ch. 1er, „Desir de bonheur dans l’homme“ in: Chateaubriand 1802, I, S. 162ff. 793 Vgl. Condillac 1755, S. 422ff. 794 Vgl. Deprun 1979, S. 202. 350 Naturphilosoph wie Delisle de Sales kann beispielsweise lange nach dem Erscheinen von De l’esprit neben einer Unruhe des Wissenwollens 795 auch noch den für die Apologetik der inquiétude so typischen Beweis zugedachter, aber verfehlter Fülle aus vorfindlichem Mangel führen, wenn er die Unsterblichkeit des Menschen herleiten will: […] tout nous dit que la grandeur de l’homme ne doit pas se borner à la petitesse de ce globe; la vie est pour la moitié du genre humain une nuit orageuse, & pour l’autre, elle n’est qu’un instant de sommeils; il est donc nécessaire pour le bonheur de l’Humanité entiere, que cette vie ne soit que l’aurore d’un jour éternel. 796 3.3.3. Inquiétude außerhalb des Horizonts christlicher Apologetik Die augustinische Konzeption der Unruhe ist freilich nicht auf die reiche apologetische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts und ihre Antipoden beschränkt. Sie findet sich auch bei Autoren, die gewissermaßen neben oder zwischen den Lagern stehen. Ein locus classicus freidenkerischer Religiosität ist die „Profession de foi du vicaire savoyard“ in Rousseaus Émile. Hier erscheint der Topos der inquiétude in charakteristisch abgewandelter Form: […] quelque chose en toi cherche à briser les liens qui le compriment: l’espace n’est pas ta mesure, l’Univers entier n’est pas assez grand pour toi; tes sentiments, tes désirs, ton inquiétude, ton orgueil même, ont un autre principe que ce corps étroit dans lequel tu te sens enchaîné. 797 Bei Rousseau fällt eine Verschiebung der ursprünglich diesem Topos eigenen Argumentation auf. Sie bewegt sich nun in jenem Bereich, der von Voltaire noch satirisch gegen die Prätentionen einer Menschheit eingesetzt wurde, die sich für eine Schar gefallener Engel hielt: dem der Größe (Delisle de Sales hat dies, wie wir gerade sahen, übernommen). Hatte Voltaire nämlich die grotesken Größenverhältnisse zur Abweisung und Verspottung des menschlichen Anspruchs auf ein höheres Los eingesetzt, so wird hier gerade auf Größe, und zwar auf innere Größe, abgehoben. Das Universum, so unendlich weit es auch sein mag, bietet keinen Raum für die innere Größe des Menschen, die wiederum als eine solche des Gefühls verstanden wird. Und in dieser Größe des Gefühls verschwinden auch alle Unterscheidungen, die etwa die Kirche bei der Bewertung menschlicher Aufwallungen vorgenommen hat, so dass selbst die superbia („ton orgueil même“) daran mitwirken darf. Die Selbstüberhebung, die bei Augustin 795 „Notre esprit inquiet ne sçait jamais s'arrêter; fatigué des tourments de l’incertitude, il veut embrasser dans le cercle de ses connaissances, le passé dont il ne reste aucune trace, et l’avenir qu’il n'atteindra jamais.“ (Delisle de Sales 1780, I, S. 151) 796 Delisle de Sales 1770, I, S. 156 797 Rousseau 1762, S. 364 351 noch den Sünder daran hinderte, seine Fremdheit in dieser Welt und seine Unterordnung unter eine höhere, Glück verheißende Macht einzusehen, ist bei Rousseau geradezu ein Instrument der Weltüberschreitung, das große Gefühl, das auch den großen Zusammenhang fordert und garantiert. Insofern erfolgt der Beweis verfehlter, aber erreichbarer Fülle auch hier analog zu dem oben angeführten Syllogismus aus dem Mangel selbst. Bei Rousseaus ‘Schüler’ Bernardin de Saint-Pierre nimmt dann dieses Motiv der Unruhe wieder eine Form an, die vom christlich-apologetischen Original kaum mehr zu unterscheiden ist. Für ihn ist der Mensch „le seul être qui montre jusque dans la misère, le caractère de l’infini et l’inquiétude de l’immortalité.“ 798 Ebenfalls im Gefolge Rousseaus ist der Romancier Joseph Marie Loaisel de Tréogate anzusiedeln, in dessen Werk diese Motivik in ähnlicher Weise auftaucht. 799 Auch in der Vernunftreligion der Revolution ist im Übrigen diese Argumentationsstruktur noch zu finden. So folgert Poisson de Lachabeaussière die Unsterblichkeit der Seele in seinem republikanischen Katechismus aus dem Wunsch danach: „Dieu lui donneroit-il des desirs superflus? “ 800 Auch Deprun hat hierzu noch ein Beispiel: ein von Jacques Delille auf Robespierres Geheiß verfertigtes bürgerliches Glaubensbekenntnis in Form einer Dithyrambe, die sowohl diese Folgerung als auch das Motiv der inquietudo direkt aus der augustinischen Apologetik in den Kultus des être suprême hinübernimmt: D’où me vient de mon cœur l’ardente inquiétude? […] Et rien ne peut calmer, dans les choses mortelles, Cette indomptable soif de l’immortalité. 801 Schließlich sei noch auf eine abgewandelte Form des Arguments hingewiesen, die bei dem heute vergessenen Jean Antoine Gleizes auftaucht, und zwar in seinem Roman Les nuits élyséennes von 1800, den wir in Kapitel II näher betrachten werden und der an dieser Stelle als Schnittstelle zwischen Rousseau und den Illuministen stehen soll: J’ai vécu seul sur la terre, cherchant le vent, les eaux, et les sites les plus tristes: je voulais démêler les énigmes de la vie, et voir comment la douleur était liée dans 798 Bernardin de Saint-Pierre 1784, VIII, i, S. 473 799 Deprun gibt folgendes Beispiel aus dem 1777 zuerst in Berlin publizierten „roman philosophique“ Dolbreuse, ou l’Homme du siècle ramené à la vérité par le sentiment et par la raison: „Mes plaisirs étaient mêlées de continuelles inquiétudes, et néanmoins je ne cessais pas de m'y livrer. Ces inquiétudes, cette tristesse intérieure dégénérant en une sorte de langueur inséparable de mes fausses jouissances, m'y attachaient davantage...S. 55: Tout cela est une aspiration indirecte à un état de perfection inconnu sur la terre.“ (Loaisel de Tréogate 1777, I, S. 77 und S. 55; bei Deprun 1979, S. 328-9) 800 Poisson de Lachabeaussiere 1793, S. 4 801 Delille 1794, S. 876-877 352 le systême du monde. L’homme seul gémit sous les cieux: il n’y a point pour lui d’ombrage sur cette terre où tous les êtres goûtent le repos. En vain le sommeil vient le couvrir de sa douce obscurité, le sommeil appartient à la vie. C’est la mort qui est son véritable asyle. 802 Nicht mehr die Unruhe, sondern das Unglück des Menschen, der in der Welt seinen Platz nicht findet und einen solchen erst im Tod erhoffen darf, wird hier als Indiz dafür gewertet, dass er auf Weltüberschreitung hin geschaffen ist. Etwas überraschend ist jedoch, dass diese Heimatlosigkeit im Leben als Fremdheit gegenüber der Natur gezeichnet wird, die gleichwohl in diesem Roman durchweg verklärt wird. Gleizes, wie Charles Nodier ein Mitglied der Gruppe der médiateurs um den Maler David, die Illuminismus, fernöstliche Religionen und pythagoreische Philosophie pflegten, 803 vertritt in seinen Schriften eine Naturmystik, die das hier in Rede stehende Motiv eigentlich ausschließen müsste. Die bei ihm zutage tretende Ambivalenz zwischen Naturverehrung und der Erfahrung des Ausgeschlossenseins von ihr, wie sie sich in der zitierten Passage zeigt, lässt sich jedoch ganz präzise auf das gedankliche Gebäude beziehen, das seiner Welt zu Grunde liegt. Zum einen trennt die Tatsache, dass der Mensch auf den Tod hin ausgelegt ist und erst jenseits desselben seine Erfüllung findet, Mensch und Natur, denn die Natur ist ein Kreislauf des Lebens, für den es kein Jenseits gibt. Nur der Mensch findet im Tod den Übergang zu einer anderen Welt. Daher muss er im Leben ein Ausgeschlossener bleiben. Zugleich aber ist die Natur Künderin und Bewahrerin des Guten, und die Bewährung des Menschen findet in und an ihr statt. Die Spaltung, die auch Gleizes im Menschen bemerkt, ist bei ihm eine an Rousseau gemahnende Form von Erbsünde, nämlich die Abkehr von jener Natur, an deren Busen der Mensch seine die Natur zugleich transzendierende Bestimmung finden sollte. Ganz konkret ist für Gleizes die Erbsünde des Menschen die Fleischfresserei, die ihn von seiner ursprünglich vegetarischen Natur entfernt hat. 804 Er propagiert daher den Vegetarismus als Möglichkeit, sich der Natur wieder anzunähern, damit jedoch spiritueller und also zum Überschreiten der Natur befähigt zu werden. Dies ist allerdings nur ein scheinbarer Widerspruch, denn die ursprüngliche Bestimmung der Natur besteht eben darin, den Menschen emporzuheben, und diejenige des Menschen besteht in jenem Aufstieg, den ihm die Natur ermöglicht. Die Fremdheit des Menschen, sein Unglück und sein Umhergetriebensein in ihr sind bei Gleizes ein Rätsel, das ihm aufgegeben ist. 802 Gleizes 1800, S. 267 803 Vgl. Viatte 1928, II, S. 153f. 804 Vgl. Crossley 1989. Viatte 1928, S. 155, resümiert Gleizes’ Doktrin in einem Satz: „c’est un illuminé végétarien“. 353 3.3.4. L’Homme de désir In besonders ausgeprägter Form begegnet das argumentum privationis bezüglich der Unruhe in Saint-Martins Prosadichtung L’homme de désir: Tu n’es pas à ta place ici-bas; un seul de tes désirs moraux, une seule de tes inquiétudes prouve plus la dégradation de notre espèce, que tous les arguments des philosophes ne prouvent le contraire. 805 Wie Deprun gezeigt hat, ist diese Version der inquiétude (ebenso wie drei weitere, die in Saint-Martins Werk verstreut sind) von Saint-Martin explizit an Pascal angeschlossen worden. 806 Aber Saint-Martins Unruhe ist mehr als ein Gemeinplatz christlicher Apologetik. Über der Eingliederung seiner Fassung in die Überlieferung darf nicht übersehen werden, dass er eine ganz spezifische und sehr detaillierte Ausarbeitung dieses Topos vorlegt. Um dies beleuchten zu können, ist es nützlich, die frühesten Formulierungen dieses Motivkomplexes in Saint-Martins Werk aufzusuchen, mit denen er sich und sein Werk zum ersten Mal gegen den traditionellen Hintergrund des Topos definiert. In Des erreurs et de la vérité lesen wir: Chacune de ses souffrances est un indice du bonheur qui lui manque […] en un mot, sentir aujourd’hui qu’il n'a rien, c’est une preuve secrète qu’autrefois il avait tout […] Il n’obtient actuellement quelque paix et quelque tranquillité que par des efforts infinis et des sacrifices pénibles, de là nous concluons qu’il était fait pour jouir perpétuellement et sans travail, d’un état calme et heureux, et que le séjour de la paix a été sa véritable demeure. 807 Die Unruhe ist Bestandteil einer ganzen Motivreihe, die in jedem ihrer Elemente den Schluss von gegenwärtigem Mangel auf vergangene Fülle, das argumentum privationis, aufweist. Einer der ersten und sachkundigsten Leser Saint-Martins, Johann Friedrich Kleuker, hat in seinem Magikon diese Schlussform denn auch scharfsichtig kritisiert: Zu meiner eigenen Belehrung möcht’ ich wissen, in welchem Archiv des Himmels oder der Erde die Magna Charta aufbewahrt wird, wonach sich die insinuierten Ansprüche eines so hohen Adels und glänzenden Urstandes vor Gott, Engeln und Menschen rechtfertigen ließen. Die Apellation an das Tableau unserer jetzigen Natur scheint wohl zur Möglichkeit, aber nicht zur Nothwendigkeit des Beweises hinreichend. Jede Geschichte, sie sey Vor- oder Nachgeschichte, muß in der That durch etwas Näheres als blos gegenwärtige Erfahrung heterogener Art, beglaubigt werden. Jene menschlichen Fußstapfen im Sande unter mathematischen Figuren führten auf die natürliche Vermuthung, daß „ein Wesen von zwei Naturen“ daselbst gewesen seyn müsse, wenn gleich keins zu sehen und zu hören war; wie kann ich aber von einem unerfahrnen Etwas, wie „von dem Daseyn meines jetzigen Zustandes“ überzeugt werden, ohne ein unzweideu- 805 Saint-Martin 1790, S. 167 806 Deprun 1979, S. 137, verweist hierzu auf einen Brief Saint-Martins an Lanjuinais. 807 Saint-Martin 1775, S. 32 354 tiges Zeugniß, welches mich nicht zweifeln läßt, ich sey einmal ein Prinz gewesen, und so sey es noch, aber in die Wildniß gerathen, zu einer Zeit, da ich noch nicht Gutes und Böses unterscheiden konnte? 808 Die gesuchte Beglaubigung nimmt Saint-Martin aus der Innenschau - und nicht etwa aus der Bibel (sie wäre das Zeugnis, welches Kleuker hier vermisst; wir sahen bereits, dass die Heilige Schrift für Saint-Martin nur nachträgliche Bestätigung an sich selbst erfahrener Schau sein kann). Aber schon die Form des Beweises aus dem Mangel ist bei ihm gegenüber seiner verbreiteten Fassung in einer Weise differenziert, die geeignet ist, Kleukers Bedenken wenigstens einzuschränken, denn er beruht nun nicht mehr einfach auf einem Terminus, dessen Gegenteil postuliert wird, sondern auf einer Relation. So ist die Unruhe bei Saint-Martin nicht so sehr Abwesenheit eines zu erschließenden Gegenteils, sondern Produkt einer Spaltung, einer Entfernung von einem ursprünglichen Gesetz, die eben als Kluft zwischen zwei Termini wirkt: Mais s’il cherche un autre appui que celui de cette loi qui lui est propre, sa joie est d’abord inquiète et timide; il ne jouit qu’en se reprochant sa jouissance, et se partageant un moment entre le mal qui l’entraîne et le bien qu’il a quitté, il éprouve sensiblement l’effet de deux lois opposées, et il apprend par le mal-être qui en résulte, qu’il n'y a point alors d’unité pour lui, parce qu’il s’est écarté de sa loi. 809 In dieser Argumentation ist die inquiétude zwar immer noch wie in den Beispielen aus der vorgängigen Tradition Indiz für einen anderen, verlorenen Zustand. Weil der Mensch sich gespalten findet zwischen einem ursprünglichen Gesetz und einem Zustand der Entfernung davon, der jedoch selbst nur parasitär zu jenem als dessen Negation verstanden werden kann, findet er keine Ruhe. Das impliziert, dass der ursprüngliche Zustand ein solcher der Ruhe gewesen sein muss. Das Argument des gegenwärtigen Mangels zum Erweis verlorener Fülle ist hier jedoch etwas raffinierter als in den bislang betrachteten Versionen. Nicht die Privation allein beweist schon die Denkbarkeit und Erreichbarkeit eines daraus hypothetisch zu gewinnenden Gegenteils. Vielmehr ist es die Spaltung zwischen einem Terminus und dessen Negation, die als Verhältnis gegeben ist. Der Mensch ist nicht von einem Seinsgesetz in ein anderes, in sich gegründetes, gewechselt, sondern er hat sich von einem ursprünglich einmal gegebenen entfernt in Richtung auf dessen nicht ganz erreichte Negation. Er erfährt diese Entfernung demnach als Relation, und somit ist der positive Terminus derselben stets postulierbar (wenn auch nicht als solcher erkennbar). Zugleich wird auch die Energisierung dieser Unruhe sinnfälliger, als dies in einer Struktur bloßer Abwesenheit eines zu erschließenden Guten der Fall wäre. Denn 808 Kleuker 1784, S. 305-306 809 Saint-Martin 1775, S. 11 355 ist das Leben des Menschen stets zwischen auseinandertretenden Polen aufgespannt, so ist schon in diesem Nirgendwo dazwischen, dieser Ortlosigkeit, eine Ursache der Unruhe anzunehmen. Ruhe wäre nur an einem der beiden Pole möglich. Der positive ist verloren; das einzige Wesen aber, das im negativen (nicht seienden) Pol ‘ruht’ und daher kein Wissen vom Guten mehr hat, ist bei Saint-Martin der Teufel. Bei dieser Grundenergie der inquiétude soll es jedoch für Saint-Martin nicht bleiben. Der Mensch, der das Rätsel seines Wesens entschlüsselt hat, verwandelt seine Unruhe in ein positives Prinzip. In Anlehnung an den Begriff des vir desideriorum im Buch Daniel, 810 der dort die besondere Verbundenheit dieses Propheten mit Gott bezeichnet, ist der homme de désir bei Saint Martin der mit Gott in Liebe verbundene Mensch, der sich nicht lediglich von der inquiétude treiben lässt, sondern sein Getrenntsein von Gott zu einem aktiven Lebens- und Erkenntnisprinzip gemacht hat. Denn der Mensch, der verstanden hat, inwiefern er von sich selbst getrennt ist, weiß auch, dass er von seinem Prinzip, von der Einheit, aus der er kommt, abgespalten ist. Die Erfahrung der Spaltung wird so überführt in ein Sehnen nach Vereinigung, ähnlich wie im Mythos vom androgynen Urmenschen in Platons Symposion. In uns ist dieser Lehre zu Folge das analoge Gegenstück zu Gott und zeigt uns, dass wir zu einer verlorenen Ganzheit zurück streben müssen; und auch das désir kündet ebenso wie die inquiétude von der Realität seines Gegenstandes. Le désir ne résulte que de la séparation ou de la distinction de deux substances analogues, soit par leur essence, soit par leur propriétés; et quand les gens à maximes disent qu’on ne désire pas ce qu’on ne connaît point, ils nous donnent la preuve que si nous désirons quelque chose, il faut absolument qu’il y ait en nous une portion de cette chose que nous désirons, et qui dès lors ne peut pas se regarder comme nous étant entièrement inconnue […] Je peux ajouter ici que le désir est le principe de tout mouvement 811 Dieses Begehren ist seit Beginn der Zeit, seit der Mensch aus Gott heraus gestellt wurde, eine konstante Grundenergie des Menschen, die nicht erst - wie bei den Sensualisten - durch die sinnliche Erfahrung einer Differenz im Diesseits fallweise entsteht, und es ist sogar Grundlage von Leben und Bewegung überhaupt. Freilich haben beide Konzeptionen auch einiges gemeinsam: Hier wie da wird Bedürfnis aus Differenz erklärt, und hier wie da werden mit Hilfe dieses Bedürfnisses Ideen und Zeichen aneinander entwickelt. Das désir treibt nämlich den Menschen dazu, Intelligenzen zu ergreifen und die Welt der Ideen aktiv zu gestalten, sein désir ist Entwicklung von idées: 810 Daniel 9, 23; 10,11; 10,19. Vgl. Saint-Martin 1790, S. 278f. und Le Forestier 1928, S. 175. 811 Saint-Martin 1802, S. 351 356 Un homme desire d’avoir un vêtement pour se garantir de l’incommodité du froid; à ce desir, quand il est converti en résolution, succède l’idée ou le plan du vêtement; ensuite le vêtement arrive, et procure à celui qui l’a desiré toute la jouissance qu’il se proposoit. 812 Saint-Martin entwickelt so die apologetische Tradition der inquiétude weiter und stützt damit seine Wendung gegen eine passivistische Erkenntnisauffassung. Mit Condillacs Spielart davon verbindet ihn allerdings die Vorstellung von einer messianischen Instanz, der sich der Mensch hingeben muss. Diese Hingabe ist für ihn jedoch gerade kein passiver Vorgang, sondern ein aktives désir, das, wie sich noch zeigen wird, die gesamte geistige Tätigkeit des Menschen von der Naturerkenntnis über die Rede bis hin zur Dichtung bestimmt. An dem oben angeführten Zitat ließe sich nun auch Saint-Martins Lehre vom Urteil aufzeigen, an der deutlich würde, dass das, was uns hier vielleicht als Phantastik erscheinen mag, von Saint- Martin in durchaus nachvollziehbarer Weise konkretisiert worden ist. Da das Urteil des homme de désir jedoch in noch stärkerem Maße als das bisher Dargelegte in einer Konzeption der Sprache als Energie ihren Ort hat, müssen wir die Fortführung dieser Gedanken auf unser Kapitel IV, 3 verschieben. Es dürfte insgesamt klar geworden sein, dass die illuministischen Konzeptionen von inquiétude und désir aus der Wissensform der Tableaux hinausführen. Ihre Darlegung präludierte jener Geschichte der Energie, die wir im Z WEITEN T EIL dieser Untersuchung zunächst als Bewegung innerhalb der in den Blick genommenen Epochenstruktur, dann als Krisis, die Neues ermöglicht, erzählen wollen. 812 Saint-Martin 1990, S. 177 357 4. Zusammenfassung I Das erste Kapitel untersuchte Begegnungen des illuministischen Diskurses mit anderen Diskursen, die teils als Schnittpunkte des Verschiedenen, teils als Momente der Teilnahme greifbar wurden. Der illuministische Diskurs selbst war dabei vor allem durch eine Grundstruktur von Aufstieg und Fall, sowie die Annahme der Ewigkeit des Geistes und einer geistigen Grundgestalt der Welt gekennzeichnet. Der martinistische Diskurs fasste dies genauer als Hinordnung aller Elemente der erkennbaren Welt auf zwei wiederum miteinander verknüpfte Sündenfallserzählungen, sowie als Lektüre der gefallenen Natur auf ihre verschüttete Geistigkeit hin. Für die épistémè, gegen die und (teils) innerhalb derer sich der Illuminismus insgesamt definiert, wurden aus der Allgemeinen Grammatik bestimmte Leitelemente entwickelt, die vor allem aus der Fassung des Zeichenbegriffs stammen: Das Zeichen ist als Repräsentation gedacht, deren wichtigste Dimensionen Linearität und Referenz sind; die Wissensform, die dieses Zeichenmodell ermöglicht, ist diejenige der Taxonomie. Eine Teilhabe des Martinismus an der taxonomischen Wissensform zeigte sich ansatzweise in der Klassifikation der Geister, die jedoch (wie sich in Kapitel III zeigen wird) zugleich in einer Wissensform der ‘Energie’ ihren Ort hat (deren Verhältnis zum taxonomischen Diskurs zu klären sein wird). Die Teilhabe des martinistischen Zeichenmodells an demjenigen der Repräsentation ist gleichfalls nur teilweise gegeben; immerhin zeigte sich, dass das Zeichen bei Saint-Martin als Repräsentation verstanden wurde und nicht durch eine Ähnlichkeitsrelation mit dem Bezeichneten verbunden war, dass Saint-Martins Vorstellung von den natürlichen Zeichen als Sonderfall innerhalb des Repräsentationsmodells erklärbar ist und dass tradierte Elemente des analogischen Diskurses (die in einer Esoterik immer eine wichtige Rolle spielen müssen) in die Wissensform des achtzehnten Jahrhunderts eingepasst wurden. Wie sich in Kapitel II noch zeigen wird, gilt dies in besonderer Weise für die Zeichenhaftigkeit der Welt und des Menschen selbst. Gegenüber den Sensualisten und Ideologen entscheidet sich Saint-Martin für eine in seiner Zeit exzentrische, aber nicht undenkbare platonische Fassung des Verhältnisses von Idee und Referent, wie sie auch durch die (selbst in einer platonischen Tradition stehende) illuministische Grundannahme einer Geistnatur nahegelegt wird. Einzelne Begegnungspunkte zwischen dem illuministischen Diskurs und denen der Allgemeinen Grammatik, der Erkenntnistheorie und der Naturgeschichte, sowie der Historie zeigten entweder eine polemische oder subversive Form der Teilnahme der Illuminsten an diesen Diskursen oder aber ein Verhältnis kritischer Gegenstellung der Diskurse zueinander, 358 die gelegentlich auch grundsätzliche Defizite oder ansonsten verborgene Tendenzen des jeweils anderen Diskurses aufzeigten. In der Dimension der Linearität zeigte sich als Grundoperation der von der Allgemeinen Grammatik bestimmten Diskurse die Strukturierung der Menge der Repräsentationen durch Analyse und Genese. Die Strukturanalogie der Genese mit dem Schöpfungsmythos ermöglicht eine Vielzahl interessanter Überschneidungen und Begegnungen mit dem Illuminismus. So ist die grundsätzliche Abhängigkeit des sensualistischen Nominalismus (welcher Begriffe nur als Zwischenergebnisse stets zu überprüfender Genesen versteht) von der Mathematik zunächst Anlass einer Gegendarstellung im Sinne der von den Illuministen gepflegten pythagoreischen Zahlenauffassung. Die Hinordnung der Taxinomia auf eine quantifizierende Mathesis wird sodann durchkreuzt durch das dazu quer stehende Projekt einer qualitativen Mathematik, das die Martinisten im polemischen Dialog mit den herrschenden Wisensformen besonders reich entwickelten. Die dabei aufgestellten mythischen Formen der mathematischen Operationen verweisen sodann wieder auf den mythischen Restbestand der Genese, die komplexe Verhältnisse stets aus im Grunde fiktionalen Herleitungsgeschichten erklären will. Besonders bei den als hypothetische Entfaltungen erzählten Sprachgenesen der philosophes zeigen deren religiöse Umerzählung durch Court de Gébelin, sowie die Gegenerzählung Saint-Martins auf die nicht empirische Natur der sich in ihnen zeigenden Geschichtsauffassung, sowie auf deren religiöse Restbestände. Bei Court de Gébelin bemerkten wir in diesem Zusammenhang eine neue Fassung des durch die Genese erklärten Tableaus als Ruine. Saint-Martin stellte den sensualistischen Ursprachenhypothesen in polemischer Weiterentwicklung von deren Lehre von den natürlichen Zeichen einen Ursprachenmythos gegenüber, der ebenso wie derjenige Courts den gegenwärtigen Entwicklungsstand als Verfallsprodukt deutet, das nicht mehr als Grundlage einer Sprachtheorie taugt. In diesem Lichte erscheinen für ihn die Entwürfe der Sensualisten und Ideologen als treffende, aber gleichwohl irreführende Beschreibungen einer opak gewordenen Oberfläche, die die eigentliche Natur der Sprache verdeckt. Das Projekt eines Universaldiskurses, welches als Extremform des Analyse-Genese-Modells das eigentliche Ziel der idéologie ist, berührt sich mit einer esoterischen Tradition, die bei Saint-Martin im Mythos des Buches von zehn Blättern greifbar ist. Saint-Martin erweist durch diesen Mythos die Irrationalität der Hoffnungen der Ideologen und kritisiert deren Wissensform als von steriler Zirkularität gekennzeichnet. Die Genese versucht sich gegenüber dem Narrativen und Fiktionalen als ihrem ausgegrenzten Anderen teils vergeblich abzusetzen. So weist Saint-Martin auf die Unhaltbarkeit von erdgeschichtlichen Hypothesen hin (und kritisiert in diesem Zusammenhang die in den Naturwissenschaften 359 gängige, aber eigentlich unbegründete Annahme, allgemeine Wirkgesetze müssten einfach sein). Den ‘Romanen’ eines Buffon und Laplace stellt er kurzerhand den Planentenmythos Jakob Böhmes gegenüber, der zugleich die Vorstellung der Gleichförmigkeit und Einfachheit allgemeiner Abläufe durch eine in sich mannigfaltige Geschichte der Entfaltung von Mannigfaltigkeit ersetzt. Ein Mittel der Abgrenzung der Genese von der Unwahrheit des Erzählerischen ist die Genese-Geschichte aufklärerischer Mythendeutung. Gegen diese reduktionistische Mythendeutung entwickelt Saint- Martin eine Auffassung vom Mythos als prisca theologia, in deren Horizont jedoch selbst noch die katholische Kirche einrückt, denn der regenerierte Mensch muss nach Saint-Martin aus eigener Innenschau, nicht anhand verkündeter Lehre, die Überlieferungen der Völker, einschließlich der Kirchen, überprüfen. Court de Gébelin betrachtet auch die Mythen im Bild der Ruine eines verlorenen Urzustandes. Der Mythos kann daneben auch als Gegenentwurf zur Genese auftreten. Der martinistische Mythos setzt die narrative Logik des Schöpfungsmythos mit seiner Betonung erzählerischer Stringenz gegen die Genese und berührt sich dabei auch mit einer esoterischen Roman-Tradition. Der Mythos ist dadurch eine der beiden Grenzlinien, an denen sich die Genese definieren lässt. Die andere ist die eigentliche Geschichtsschreibung. Die Etablierung eines Bildes von offener Geschichte stellt die vorhersehbaren Entfaltungen der Genese in Frage, eröffnet jedoch zugleich neues Potenzial für die kritische Stoßrichtung, die dem Analyse-Genese-Modell mit ihrem Rückstieg auf erste sichere Elemente und der Vorstellung einer kritischen Neugenese fragwürdiger Begriffe immer schon eignete. - So in Rousseaus Genealogie der Machtverflochtenheit von Sprache, die jedoch insofern noch im Horizont des Analyse-Genese-Modells verbleibt, als ihre Ausgangselemente nicht empirisch, sondern hypothetisch gewonnen sind. In der quasi religiösen Begründung, die Rousseau für seine Thesen später gibt, offenbart er die strukturelle, wenn auch nicht unbedingt weltanschauliche Nähe seiner Erzählungen zu den Mythen des Illuminimus. Die Frage nach der Offenheit von Geschichte bewegt auch die Martinisten: Martines de Pasqually ringt um eine Vorstellung von Freiheit der Geschichtssubjekte innerhalb einer dieser widersprechenden Konzeption des Buches der Geschichte als eines durch typologische Vorausweisungen strukturierten Textes. Saint-Martin bewertet die Französische Revolution als Moment nicht der Offenheit, sondern der Öffnung von Geschichte. Sie ist der heilsgeschichtliche Moment, in welchem der Geistmensch von allen geschichtlich gewachsenen Bevormundungen befreit wird, und deutet auf das Ende der Zeiten voraus, an welchem allen Gottfernen durch den Zusammenbruch von Zeit und Materie Gott und mithin ihre Entfernung von ihm schmerzhaft sichtbar werden. Der von der Revolution zu erhoffende (aber zum Zeitpunkt der Endredaktion des Textes eigentlich bereits ver- 360 wirkte) Wegfall der Institutionen und des Bücherwissens wird in diesem seine eigene Buchstruktur kritisch hinterfragenden Buch als Befreiung der Erkenntnis durch die Geschichte gefeiert. In der Dimension der Referenz ging es um die Welthaltigkeit sprachlicher Erkenntnis. Der Versuch Condillacs, Gewissheit durch die Einbindung des Erkenntnissubjekts in Naturabläufe holistisch zu begründen, geschah um den Preis einer passivistischen Fassung des Erkenntnisgeschehens. Diese Konzeption bricht bei Gérando, der, einem allgemeinen Zug zur ‘Energie’ folgend, Erkenntnis als Aktivität betrachten möchte, zusammen. Die Gewissheit wird nun vom neuen Dunkel der Subjektivität bedroht. Dieses Dunkel wird von den Illuministen als Normalzustand der gefallenen Menschheit aufgefasst. Die Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis, die im Mittelpunkt aufklärerischer Bemühungen stehen, werden bei ihnen aufgrund einer augustinischen und gnostischen Tradition radikal abgewertet. Aber nicht die Aktivität ist hier das Problem (wie bei Gérando), sondern die Pasivität eines sich auf tote Materie stützenden Weltumgangs. Neue Gewissheit kann demgegenüber gerade durch Aktivität erzielt werden, und so ist die allgemeine Tendenz, die bei den Ideologen das Gebäude der Erkenntnislehre bedrohte, bei den Martinisten eine zentrale Stützkraft ihrer Konstruktion. In Weiterentwicklung des im achtzehnten Jahrhundert heftig umkämpften Topos der inquiétude setzen sie gegen die Mechanik des Erkennens eine Welterfassung durch aktive Wahl, existenzielle Setzung und begehrende Energie. Diesen ‘energetischen’ Aspekt, den wir hier in einem unpräzisen Vorgriff mehr benannt als erfasst haben, werden wir im Z WEITEN T EIL genauer eingrenzen und verfolgen. Er ist der eine von zwei (wie sich zeigen wird: miteinander zusammen hängenden) Resten, die in einer Konstruktion der ‘klassischen’ Wissensform als einer solchen der Repräsentation, der Taxonomie und des Tableaus nicht aufgehen. Der andere ‘Überhang’ ist das Bild der Ruine. Die Fassung des genetisch zu erklärenden gegenwärtigen Entwicklungszustands als eines Überbleibsels verfallener Größe ist eine besondere Uminterpretation des Tableaus, die die Genese durch Verfall und, wenn man so will, die Natur durch Geschichte zu ersetzen scheint. Die Ruine als Zeichen und das Zeichen als Ruine sollen daher im Mittelpunkt unserer nun in Kapitel II folgenden Rekonstruktion eines wesentlichen Elements des illuministischen Diskurses stehen: der Zeichenhaftigkeit von Mensch und Schöpfung. Hier soll nun, umgekehrt zu der Blickrichtung des gerade zu Ende gehenden Kapitels, der illuministische Diskurs die Vorgaben liefern, und die Äußerungen nicht illuministisch ausgerichteter Diskursteilnehmer werden nun ihrerseits von ihm aus beleuchtet werden - denn auch einige von ihnen sind in die Thematik der Zeichenhaftigkeit von Mensch und Natur und der Ruinenhaftigkeit dieser Zeichen verwickelt. 361 Kapitel II: Ruinen. Die Rede Gottes als Repräsentation Im vorliegenden Kapitel soll nun also die Zeichenhaftigkeit von Mensch und Natur im Sinne des Illuminismus vor dem Hintergrund des Repräsentationsmodells untersucht werden: Inwiefern ist die solchermaßen zeichenhaft zu verstehende Rede Gottes eine Repräsentation? Von diesem Blickwinkel aus sollen auch diejenigen, die selbst nicht am illuministischen Diskurs teilnehmen, betrachtet werden, ohne dass damit gesagt sein müsste, die ontologischen und theologischen Annahmen der Illuministen gälten auch für sie. In der Tat war das göttliche Aussagesubjekt der fraglichen Rede nicht für alle Teilnehmer am Gespräch des achtzehnten Jahrhunderts gleichermaßen interessant; man denke an LaMettrie, d’Holbach, Helvétius oder Sade. 1. Die illuministische Pansemiotik und das Repräsentationsmodell Nimmt man einmal eine der bekanntesten Formulierungen des Motivs des liber naturae als Folie für den Umgang Saint-Martins und der Martinisten mit dieser Konzeption, den Rhythmus von Alain de Lille: Omnis mundi creatura Quasi liber, et pictura Nobis est, et speculum. 1 - so zeigt sich zunächst, dass Saint-Martin liber und pictura gleichermaßen als zeichenhafte Manifestationen auffasst, speculum aber gerade nicht (wie Alain) auf die Selbsterkenntnis des Menschen bezieht. Wir werden in Kapitel IV sehen, dass Saint-Martins ‘Spiegel der Natur’, der bei ihm auch nicht wie in der Erkenntnistheorie im Sinne eines genitivus objectivus aufzufasssen ist 2 , vor allem im Spätwerk unter dem Einfluss Böhmes ein Instrument der Selbsterkenntnis Gottes wird. Durch dieses Buch und dieses tableau spricht Gott zu uns also nicht von einer moralischen Wahrheit über unsere Hinfälligkeit (wie es eben durch den ‘Spiegel’ bei Alain de Lille geschieht), sondern er drückt sich selbst im Buch der Natur aus. Dies wer- 1 Alain de Lille 1965, col. 579 2 Weder liegt also im Sinne Alains von Lille ein genitivus subjectivus vor: Die Natur ist ein Spiegel, in dem der Mensch seine Sterblichkeit erblickt - noch ein genitivus objectivus im Sinne der Korrespondenztheorie von Wahrheit: Der Mensch ist ein Spiegel, der die Natur spiegelt - sondern ein genitivus subjectivus im Sinne Böhmes: Die Natur ist der Spiegel Gottes. 362 den wir in Kapitel IV genauer in den Blick nehmen. Für den Augenblick kommt es uns auf noch etwas anderes an: darauf, dass Saint-Martin das quasi kassiert. Die Welt ist nicht mehr nur zeichenhaft, sondern sie ist ein Zeichen für die Gefallenen (wenn sie auch - zumindest hier noch - gleichzeitig deren Gefängnis ist). Das Universum ist nach Saint-Martins Tableau naturel ein Zeichen Gottes, das nur nötig ist, da er zu Wesen sprechen will, die nicht bei ihm sind. 3 Wie die meisten Diskurse des von uns betrachteten Zeitabschnitts nimmt der martinistische also die Sprache als Bezugsmodell für die Welt. Aber dieser Bezug wird nun sozusagen ontologisiert: Alles ist Sprache - wenn auch Sprache für die Illuministen etwas anderes ist als für ihre nicht esoterisch denkenden Zeitgenossen. Sprache ist also mehr als ein universales Referenzmodell (sie ist auch dies): Die Welt wird insgesamt als Sprache höherer Form, als Manifestation, gedacht. Alle Dinge und alle Zeichen sind demgemäß der Ausdruck ihres lebendigen produktiven Prinzips 4 (und dieses Sprachmodell schlägt dann wiederum zurück auf die Vorstellung von den empirischen Sprachen, die demgegenüber als Schwundstufen erscheinen). Da solchermaßen Schöpfung und Zeichenstiftung zusammenfallen, erhalten die Zeichen der Welt bei Saint-Martin ganz wie bei Condillac ihren Stellenwert durch ihre Position auf einer Achse der Genese, wie Nicole Jacques-Chaquin zeigt: Chaque production est le signe où l’on peut lire son origine et son histoire […] Le signe saint-martinien appartient à un réseau déchiffrable dans la synchronie à la fois horizontalement (ce sont les rapports entretenus entre eux par tous les éléments, à un moment de l’histoire de la création) et verticalement, selon une „échelle“ ou „chaîne des êtres“ qui va de la matière à Dieu, en passant par l’homme, dont la place qu’il occupe fait un signifiant essentiel. 5 Sowohl die ontologische Leiter wie die Systematik der Beziehungen zwischen gleichgeordneten Elementen sind durch die Schöpfungsgeschichte bestimmt. Die Pansophie als eine Theosophie, die in ihrer Erkenntnis von den Dingen zu Gott fortschreitet, tritt bei den Martinisten demnach als Pansemiotik auf. Die Natur ist nicht etwa eine zunächst einmal für sich hingestellte Schöpfung, an der der Mensch in den auf ihr angebrachten Ähnlichkeiten (wie in derjenigen Wissensform, die Foucault der Renaissance zuschreibt 6 ) zeichenhafte Verweise entdecken könnte. Sie ist vielmehr von 3 Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 40-41. 4 Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 42. 5 Jacques-Chaquin 1983, S. 19-20 6 Bei dem ein wenig älteren Emanuel Swedenborg kann Jonsson 1979 dieses Wissen noch wesentlich näher an seiner älteren Gestalt finden, vor allem als extreme Form der Korrespondenzenlehre, die analogische Strukturierungen der Welt auch außer- 363 allem Anfang an als Zeichen geschaffen worden, und zwar nicht als schlummerndes Zeichen, das gelesen werden könnte oder auch nicht, sondern immer schon zum Zwecke der Entzifferung durch die gefallenen Geister. Welt und Mensch sind Repräsentationen des fernen Gottes, und in ihrer diesseitigen Gestalt zumindest sind sie nichts als dies. Der martinistische Mythos mit seiner narrativen Integration von Engels-und Menschenfall ermöglicht geradezu das Einrücken des analogischen Wissens der Pansophie in das Repräsentationsmodell: Die Schöpfung repräsentiert den fernen Gott, Schöpfung ist ein Akt der Zeichenstiftung (wenn auch, wie wir sahen, die Zeichenbeziehung immer in extremer Zuspitzung als eine bestimmte Art der Zuordnung gedacht wird). Ganz ähnlich wie bei den idéologues, aber aufgrund gänzlich anderer Vorentscheidungen, ist so alle Philosophie eigentlich Semiotik geworden, und sogar die Grundoperation dieser Semiotik, die Zeichen auf einer Genese zu situieren, ist im Grunde dieselbe. In dieser Hinsicht ist der illuministische Diskurs, so wie die von den idéologues betriebenen Varianten der Allgemeinen Grammatik und der Erkenntnistheorie, ein ‘klassischer’ Diskurs. Nicht seine ontologischen Annahmen machen ihn zu einem solchen, sondern seine Verfahren. Gleichwohl kann, wie sich schon abzeichnete und wie noch deutlicher werden wird, diese Übereinstimmung nicht sehr weit gehen. Die Nützlichkeit des Begriffs der ‘Klassik’ hängt an einer differenzierten Verwendung, die nicht auf eine bloße Subsumption zielen darf. Gerade in den Elementen der subversiven Teilnahme, der polemischen Einführung spielfremder Züge und der Gegenstellung offenbart sich bei aller Gemeinsamkeit das Interessante des Illuminismus. Wenige Beispiele für die Pansemiotik der Martinisten (die uns ja ohnehin ständig begegnet) seien herausgegriffen. So liest Saint-Martin „la forme des astres qui comme l’homme sont des lettres vivantes du grand alphabet,“ 7 und das Universum kann für den, der es lesen kann, sogar eine Prophetie künftiger Ereignisse sein. 8 Bei Martines ist der Berg Sinai ein Mikrokosmos der ganzen Schöpfung, und die Bundeslade ist wiederum ein dreidimensionales Planmodell für den eigentlichen Mikrokosmos, den Menschen. Aber alle diese Korrespondenzen sind Offenbarungen, sie sind angelegt für einen Leser und finden ihre Erfüllung in dieser Lektüre. Die Bundeslade ist nach göttlicher Offenbarung als Zeichen erbaut, der Berg ist gar vom halb einer konkreten Kommunikationsbeziehung annimmt. (Vgl. S. 251). Auch bei Swedenborg gibt es übrigens eine Art Adam Kadmon: Die Engelsordnungen bilden zusammen einen maximus homo (S. 252), dessen Seele und Leben Gott ist. Diese Vorstellungen sind sehr nah an denen der Martinisten (da sie teils in derselben Tradition stehen), aber sie spielen nicht in einer Kommunikationsgeschichte, die alle Elemente der Welt in ein konkretes Zeichengeschehen einbände. 7 Saint-Martin 1782, I, S. 227 8 Vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 237. 364 Schöpfer selbst zeichenhaft angelegt. Sie gehen in ihrem Zeichensein auf, und dies gilt für die Welt insgesamt. Deshalb sucht der illuministische Diskurs überall nach Korrespondenzen und Analogien, denn eigentlich ist die pansemiotisch verfasste Welt von äußerster Kohärenz. Dies ist bei einer Konzeption wie der vorliegenden unausweichlich, denn wenn die Welt als Gedanke Gottes verstanden wird, und wenn Gott zugleich der Inbegriff des Denkens ist, das einzige wirkliche „être pensant“, dann muss in seinen Gedanken und damit in der Welt das absolute Höchstmaß an Kohärenz herrschen. Gleichwohl ist bei weitem nicht jedes Zeichen in der Welt verständlich, nicht überall können durchsichtige Verweisbeziehungen aufgewiesen werden. Dies liegt, wie wir schon wissen, am Fall des Menschen, der sowohl dessen Erkenntnisfähigkeit als auch die Erkennbarkeit der nun grobstofflich verdichteten Welt vermindert hat. Das Aufdecken oder sogar Stiften von Kohärenz auf der Ebene der Geistschöpfung ist denn auch die erste Heilsaufgabe des Menschen. Allerdings ist diese Tätigkeit, wie wir schon sahen, nicht autonom möglich, sondern nur als Ergreifen guter Intelligenzen. Der Umgang des Menschen mit der Pansemiotik der Schöpfung ist demgemäß die Freilegung einer verschütteten Bedeutung, die Rekonstruktion einer Ruine: les êtres de la nature […] Leurs noms, leurs propriétés, leurs sept puissances, leur langue enfin, tout est enseveli sous les décombres de l’univers primitif. 9 2. Mikrokosmos und Makrokosmos In dieser Pansemiotik spielt, wie sich gerade schon abzeichnete, das Motiv des Mikrokosmos, demgemäß der Mensch ein in sich systematisches Abbild des in analoger Systematik strukturierten gesamten Makrokosmos ist, eine wichtige Rolle. Es begegnete uns schon in Saint-Martins Mythos vom Buch mit zehn Blättern (in Kapitel I, 2.2.3.2.b), wo das vierte Blatt, das sich auf den Menschen bezog, als Spiegelung und Verknüpfungspunkt des gesamten Buches auftrat. Der Mensch war dort ein Text, der sich selbst unleserlich geworden war, und dieser Text war wiederum der Schlüssel zum großen Buch der Natur. Wie wir noch genauer sehen werden, wird der menschliche Text durch Christi Inkarnation wieder lesbar, und Christus ist so der Schlüssel des Schlüssels der Welt zu sich selbst. Auch im Traité de la Réintégration ist der Mikrokosmos, der Mensch, immer wieder als Repräsentation der Schöpfung aufgefasst, vor allem im Anschluss an kabbalistische Versionen dieser Motivik. 10 9 Saint-Martin 1802, S. 102 10 Zu den kabbalstischen Hintergründen im Einzelnen vgl. Le Forestier 1928, S. 198f. 365 In der E INLEITUNG wurde schon referiert, dass dieses Motiv zuerst wohl bei Demokrit greifbar ist und auf verschiedenen Wegen tradiert wurde. Vor allem die berühmte Smaragdtafel ist ein gemeinsamer Bezugspunkt verschiedener Lehren, die allesamt annehmen möchten (so der Kern dieser Anschauung), dass das, was ‘unten’ ist, genauso strukturiert sei, wie dasjenige, was ‘oben’ ist. 11 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie spielt auch im neuplatonischen Denken Philos von Alexandria und im Adam- Kadmon-Gedanken der Kabbala eine Rolle. 12 Den Adam Kadmon wollen wir hier im Vorgriff auf Kapitel IV als den großen Urmenschen beschreiben, der zugleich der geistige Plan der Schöpfung ist. Eine der ersten Schriften, die das Mikrokosmos-Makrokosmos-Motiv in einem spezifisch christlichen Kontext präsentiert, ist, wie Faivre bemerkt, De natura hominis von Nemesius Emesenus, um 400 geschrieben. 13 Ein einflussreicher Propagator dieses Gedankengutes in der Neuzeit ist Paracelsus. „Grundlegend für den paracelsischen Mikrokosmus-Gedanken ist die Annahme, daß der zuletzt erschaffene Mensch eine Zusammenfassung aller übrigen Geschöpfe war,“ wie Pagel bemerkt. 14 Wir werden sehen, wie ein naturwissenschaftliches Denken, das sich etwa in Robinet zeigt, diese Annahme noch als Hintergrund mit sich trägt, allerdings unter Umkehrung des Abbildungsverhältnisses: Der Mensch ist in dieser Fassung deshalb Auszug aller Wesen, weil seine Gestalt (wie die des Adam Kadmon) als Entwurf der Schöpfung (oder in Robinets Denken: Evolution) vorausgeht. Das hermetische Wissen um Oben und Unten wird dann etwa von Robert Fludd (in seiner Utriusque cosmi historia, 1617-18) weiter verbreitet. 15 Saint-Martin nimmt die Tradition auf, wenn er etwa meint, wie jeder Sohn Extrakt seines Vaters sei, so sei der Mensch ein solches des „grand monde.“ 16 Im Untertitel von L’Esprit des choses kann deshalb der Mensch auch „le mot de toutes les énigmes“ sein. Er ist im Tableau naturel ein „tableau vivant“, in dem man die Geheimnisse der Schöpfung lesen kann. 17 Auch in dem als erweiternder Kommentar zu Des erreurs et de la vérité angelegten anonymen Diadème des sages ist der Mensch ein „Tableau Microcosmique“, Auszug aller Werke des Schöpfers, „abrégé de tous ses ouvrages“: 18 11 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 208ff. 12 Vgl. Le Forestier 1928, S. 161. 13 Faivre 1986, S. 72 14 Pagel 1979, S. 56 15 Vgl. Blay 1998, S. 543ff. 16 Saint-Martin 1782, I, S, 114 17 Saint-Martin 1782, I, S. 186 18 Anonym 1781, S. 36-38 366 L’Homme étant donc l’abrégé de toute la Nature, doit apprendre à se connoître, comme étant le précis & le raccourcis d’icelle. 19 Die Erkenntnis der Natur ist also durch die Erkenntnis des Menschen möglich. Da aber, wie wir wissen, die Gestalt des Menschen durch den Fall verändert ist, ist der Mikrokosmos-Makrokosmos-Bezug bei Saint-Martin nicht mehr ohne weiteres gegeben. Er muss erst dadurch wieder hergestellt werden, dass der Mensch sich dem eigentlichen Bauplan der Schöpfung, dem Christus-Logos, wieder angleicht, denn nur durch diese innere Gottebenbildlichkeit war seine Übereinstimmung mit der großen Welt eigentlich begründet. Weil der Christus-Logos in dieser christlichen Theosophie die Position des Adam Kadmon als die des Schöpfungsplans einnimmt, und weil der Mensch sein Ebenbild ist, ist Adam Mikrokosmos gewesen, und durch Adams Verlust der Gottebenbildlichkeit ist er auch seiner Mikrokosmos-Eigenschaft verlustig gegangen. So wird die Wiederherstellung der Analogie zum Makrokosmos wiederum zur Heilsaufgabe: Souvenez-vous que selon l’enseignement des Sages, les choses qui sont en haut sont semblables à celles qui sont en bas; et concevez que vous pouvez concourir vous-même à cette ressemblance, en faisant en sorte que les choses qui sont en bas soient commes celles qui sont en haut. 20 Und auch diese Aufgabe ist die Rekonstruktion einer Ruine. Der innere Christus-Logos im Menschen erscheint in Saint-Martins Nouvel Homme als das zerstörte Jerusalem, verbunden mit der Mahnung: „Ne te donne donc point de relâche que cette ville sainte soit rebâtie en toi.“ 21 Mikrokosmos und Makrokosmos, Mensch und Kosmos, erscheinen so als zwei einander eigentlich erschließende, aktuell aber verfallene Zeichen, zwei Ruinen. Die Erklärungsrichtung kann entweder von diesem zu jenem oder von jenem zu diesem gehen. Wir wollen nun die beiden Möglichkeiten nacheinander in den Blick nehmen und im Anschluss noch einen Fall wechselseitiger Erhellung der Ruinen von Mensch und Natur betrachten. 19 Anonym 1781, S. 41 20 Saint-Martin 1782, II, S. 229 21 Saint-Martin 1790b, S. 368 367 3. Der Mensch als Interpretant der Natur Saint-Martin bevorzugt, wie wir schon anhand von Des erreurs et de la vérité sahen, die Erklärung der Welt durch den Menschen (obwohl wir auch bei ihm Beispiele für aus der Schöpfung entnommene interpretierende Handreichungen für das Menschenrätsel finden werden): l’homme est né pour être le chiffre universel, le signe vivant et le tableau réel d’un Etre infini. Il est né, dis-je, pour prouver à tous les Etres qu’il y a un Dieu nécessaire, lumineux, bon, juste, saint. 22 Der Mensch muss also die genannten Prädikate Gottes in der Welt ausdrücken und ist deshalb ein „signe vivant“ im Sinne einer Manifestation. Er trägt, insofern er diese Prädikate ausdrückt, „étant l’expression des facultés du grand Principe“ 23 , eine Gottebenbildlichkeit („tableau réel“) auf sich und wird, da er zugleich Mikrokosmos der ebenfalls durch die göttlichen Vermögen geschaffenen Natur ist, zum „chiffre universel“ der Welt- und Gotteserkenntnis, zum Mittelpunkt von Theosophie und Pansophie. Wir wollen ihn nun unter diesen drei Hinsichtnahmen näher betrachten: als Universalformel der Welt, als Zeichen Gottes, und in seiner Gottebenbildlichkeit unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Christus. 3.1. „Expliquer les choses par l’homme“ Die Auffassung vom Menschen als chiffre universel vergleicht Saint-Martin in Le ministère de l’Homme-Esprit der cartesischen Revolution der Geometrie: Descartes a rendu un service essentiel aux sciences naturelles en appliquant l’algèbre à la géométrie matérielle. Je ne sais si j’aurai rendu un aussi grand service à la pensée, en appliquant l’homme, comme je l’ai fait dans tous mes écrits, à cette espèce de géométrie vive et divine qui embrasse tout, et dont je regarde l’Homme-Esprit comme étant la véritable algèbre et l’universel instrument analytique. 24 Das, was in Saint-Martins Denken eigentlich ein Erbe einer analogischen Wissensform ist (der Mikrokosmos-Gedanke), wird so in das neue Wissensmodell eingepasst, es erscheint als Analyse-Methode. Die Proportionen des menschlichen Leibes sind nämlich durch Zahlen erfassbar, und insofern kann Saint-Martin die Anwendung der Algebra auf die Geometrie von Descartes übernehmen. Aber wir sahen ja, dass die mathematischen Operationen, die Saint-Martin anwendet, nicht eigentlich solche der Algebra 22 Saint-Martin 1782, I, S. 73 23 Saint-Martin 1782, II, S. 228 24 Saint-Martin 1802, S. 10 368 sind, sondern mythische, die immer darauf ausgehen, Zeugung und Abstammung, also narrativ zu erfassende Verhältnisse des Hervorgangs auf einer Skala vom Göttlichen über die Schöpfung bis zum Nichtigen, zu verfolgen. Und so sind es gerade die Proportionen, die für Saint-Martin beweisen, dass der menschliche Geist von Gott kommt: Les proportions du corps de l’homme démontrent le rapport de son Etre intellectuel avec un Principe supérieur à la nature corporelle. 25 Der Bezug dieses Zeichens zu seinem Bezeichneten ist aufgrund dieser Betrachtungsweise (trotz der unterliegenden Vorstellung der Gottebenbildlichkeit) weniger ein solcher der Ähnlichkeit als der Hervorbringung, der Kausalität. Die Zahlen, die Erscheinungsformen von Hervorbringungsgesetzen in Gott sind, zeigen sich im Menschen als Proportionen. Ähnlichkeit ist allerdings dann bei der weiteren Anwendung des chiffre universel durchaus ein Kriterium. Je ähnlicher etwa heidnische Symbole der menschlichen Gestalt sind (die selbst Ausdruck des höchsten Prinzips ist), desto näher sind sie an der Wahrheit: s’il est vrai que la forme de l’homme est la plus expressive de toutes les formes, sur laquelle sont fondés tous les rapports, et toutes les relations, plus les signes et les monumens et les monumens de l’idolâtrie en seront éloignés, plus ils seront inférieurs et altérés. 26 3.2. ‘Der schönste Buchstabe Gottes’ Die Mikrokosmos-Relation ist, wie sich schon abzeichnete, nicht losgelöst von der heilsgeschichtlichen Aufgabe des Menschen zu sehen. Der Mensch sollte ursprünglich den Kosmos durch seine Gestalt durchsichtig auf denjenigen machen, dessen Ebenbild er gleichfalls ist: Gott. Er hätte „une lampe brillante et secourable“ sein sollen, „placée dans le sentier du Trône de l’Eternel, afin d’éclairer les pas de ceux qui s’en étoient éloignés.“ 27 Er hätte die Welten des Göttlichen und Geistigen, des Materiellen und des Nichtigen verbinden sollen. Hier berührt sich das Motiv des Mikrokosmos mit demjenigen der officina omnium, die (wie wir schon bei unserem ersten Überblick über esoterische Motive erfuhren) nach Maximus Confessor die verschiedenen Ebenen der Schöpfung zusammenhält: 28 Der Mensch ist hier Verbindungsstück, aber wiederum durch einen doppelten Zeichenbezug, der durch seine Gottebenbildlichkeit und seine (von dieser garantierten) Mikrokosmos-Gestalt gegeben ist. Er ist Repräsentant des fernen Gottes in 25 Saint-Martin 1782, I, S. 50 26 Saint-Martin 1782, I, S. 240-241 27 Saint-Martin 1782, II, S. 129 28 Faivre 1986, S. 75 369 der Finsternis der Schöpfung 29 und gleichzeitig Repräsentation der geistigen Natur dieser Schöpfung. Insofern ist er ein Zeichen Gottes, „une parole qui est liée à la parole universelle“. 30 Er drückt Gott aus als „signe vivant“ der göttlichen Kräfte 31 : Si chacun des Etres de la Nature est l’expression d’une des vertus temporelles de la sagesse, l’homme est le signe ou l’expression visible de la Divinité même. 32 Die Schönheit seiner Gestalt ist demnach direkte Folge dieser Zeichenhaftigkeit, und zwar erstens, weil das Zeichen Folge einer göttlichen Ursache ist, zweitens aber (und hier kommt aufgrund der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit dann doch noch die Ähnlichkeit zu ihrem Recht), weil der Mensch Gottes Porträt ist. En effet, l’homme étant la plus noble pensée de Dieu, il ne devroit pas être étonnant que les pensées divines qui viennent jusqu’à lui eussent des analogies avec la plus belle des formes, qui est celle de l’homme […] le corps de l’homme est la plus belle lettre de tous les alphabets existans sur la Terre, et par conséquent la copie la plus correcte du portrait invisible de la Divinité. 33 Im Spätwerk Saint-Martins wird die Zeichenhaftigkeit des Menschen dann noch einmal etwas anders gefasst: Gott selbst will im Menschen Form annehmen und diesen zu seinem Buch werden lassen, damit die von Gott entfernten Leser dieses Buches durch die appellative Wirkung des Textes wieder zu Gott zurück geführt werden: C’est pourquoi Dieu ne cherche qu’à prendre forme dans l’homme, afin que l’homme, sentant vivement, virtuellement et naturellement en soi la vie de Dieu, la génération de Dieu, il puisse ensuite, comme un livre vivant, raconter toutes ces merveilles, entraîner l’âme de ses lecteurs et leur faire naître l’ardent désir de connaître aussi pour eux-mêmes ces ineffables magnificences. 34 Hier begegnet sich die Aufgabe der Rückführung der gefallenen Engel mit einer Konzeption der Gestaltwerdung Gottes im Menschen, die von Jakob Böhme zu Saint-Martin gelangt ist. Das Verhältnis der beiden zueinander, sowie die interessanten Aspekte einer Poetik des lebendigen Wortes, die sich in diesem Zitat zeigen, werden wir in Kapitel IV untersuchen. 29 Vgl. „Les voies de la sagesse“ in: Saint-Martin 1807, S. 41ff. 30 Saint-Martin 1800, II, S. 186 31 Saint-Martin 1782, II, S. 123 32 Saint-Martin 1782, I, S. 58 33 Saint-Martin 1782, I, S. 227 34 Saint-Martin 1800, I, S. 94 370 3.3. Das Christusereignis als Wiederherstellung eines Zeichenbezugs Wir sahen oben, dass die Herstellung der Mikrokosmos-Makrokosmos- Relation ebenso wie die Restauration der sie begründenden Gottebenbildlichkeit 35 im Illuminismus ein Auftrag an den Menschen ist. Der Mensch trägt nach Saint-Martin in sich eine Tempelruine, „les vestiges et les ruines d’un magnifique temple.“ 36 Dieser innere Tempel ist der Ort des ursprünglichen Kultus des Menschen und daher auch die Teilhabe am Logos, welche wiederum Voraussetzung aller Erkenntnis, ob mikrokosmisch oder makrokosmisch, ist - wie wir dem in I, 3.2.1. betrachteten Ausschnitt aus Augustins Confessiones entnahmen. An anderer Stelle fasst Augustin die Aspekte der Teilhabe am Logos, sowie der Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit und der Wiedergewinnung der Unsterblichkeit und göttlichen Natur des Menschen, als die entscheidenden Aspekte der Heilstat Christi zusammen: Illuminatio quippe nostra participatio Verbi est, illius scilicet vitae quae lux est hominum […] Adjungens ergo nobis similitudinem humanitatis suae, abstulit dissimilitudinem iniquitatis nostrae: et factus particeps mortalitatis nostrae fecit nos participes divinitatis suae. 37 Die Rekonstruktion des inneren Tempels ist auch für Saint-Martin durch die Inkarnation Christi erleichtert worden. Der Mensch muss nun versuchen, wie Christus zu werden, 38 denn der réparateur hat ein Modell des Menschen gegeben. 39 Das menschliche Zeichen für Gott und Kosmos kann auf seine Bedeutungen wieder transparent gemacht werden, wenn es sich selbst wieder zu deuten lernt. Das Christusereignis ist die Wiederherstellung eines Zeichenbezugs, und die Mitwirkung des Menschen daran ist die Herstellung einer Analogie, sowie einer Selbstreflexivität und Selbsttransparenz dieses Zeichens (es soll sich selbst als Zeichen für einen anderen erkennen) - beides ermöglicht durch so etwas wie eine Informationsvergabe: Weil Christus dem Menschen seine Situation explizit macht, kann dieser sich selber in Christi Bilde restaurieren und zugleich wieder selbst lesen, und nur dadurch wird er auch für die gefallenen Wesen, denen er von Gott künden soll, wieder lesbar. Darüber hinaus aber wird die Natur, die der Mensch gleichfalls auf ihren Schöpfer deutbar machen muss, nur durch die Selbsttransparenz ihres Interpretanten, des Menschen, durchschaubar, denn die Natur ist ja, wie wir sahen, vom Menschen aus zu erfassen und nicht umgekehrt. Alles hängt daher an der Neuinterpretation des mensch- 35 Vgl. „Les voies de la sagesse“ in: Saint-Martin 1807, S. 47. 36 Saint-Martin 1782, II, S. 118 37 Augustinus 1886 („De Trinitate“ IV,ii,4), col. 889 38 Vgl. Saint-Martin 1800, II, S. 256. 39 Vgl. Saint-Martin 1800, II, S. 271. 371 lichen Zeichens durch Christus. (Diese sozusagen gnostische Version des Heilsgeschehens ist übrigens zwar nicht die einzige, die sich bei den Martinisten findet, aber eine sehr zentrale.) Sehen wir uns die Informationen näher an, die Christus durch sein zeichenhaftes Handeln vergibt. Da gibt es zunächst einmal ein selbst mikrokosmisches Verhältnis der Repräsentation zwischen Christi Taten auf Erden und Gottes Handeln im Großen. 40 Die Erlösung durch Christus ist keineswegs die ganze Erlösung, sondern sie ist ein mikrokosmischer Ausschnitt daraus (wenn auch ein besonders wichtiger), der auf das Ganze zeigt. Im Laufe seines Schreibens glich sich Saint-Martin diesbezüglich allerdings immer mehr an traditionell-theologische Fassungen des Heilsgeschehens an; so wird Christus bei ihm nach und nach weniger ein Typus oder eine Realisation des messianischen Prinzips (wie bei seinem ersten spirituellen Lehrer Martines de Pasqually) und immer mehr der Erlöser im orthodoxen Sinne. Dennoch bleibt das Element der Explizitmachung und Interpretation eines verschütteten inneren Wortes wichtig. Christus musste das Buch von zehn Seiten wieder lesbar machen, divulguer aux hommes la Loi secrete voilée pour eux depuis leur exil dans ce séjour d’expiation […] il a dû rétablir devant eux, les mots qui s'étoient effacés dans cet ancien Livre confié autrefois à l’homme, et que cet homme avoit defigurés; il a même dû leur donner un nouveau Livre plus étendu que le premier […] 41 Vor allem die Enträtselung der gefallenen Natur des Menschen, also seiner Herkunft und gegenwärtigen Privation, war ein wesentlicher Aspekt der Erlösungstat: Ainsi il ne s’est montré sur la terre […] que pour peindre à l’homme sa propre situation, et pour lui tracer l’histoire entiere de son Etre; c’est-à-dire, que si le Régénérateur a dû présenter à l’homme le tableau de son état mixte et dégradé, il doit aussi lui avoir manifesté celui de son état simple et glorieux […] 42 Christus „a dû présenter aux hommes, au milieu des temps, le tableau de leur Etre.“ 43 Er wirkte überdies als Lehrer der Menschheit, der die wahre Bedeutung der bienfaisance enthüllte 44 (und auch dies ist nicht nur moralisches Beispiel, sondern Explizitmachen). Weil dieses Heilsgeschehen aber in erster Linie Neuexplikation und nur nebenbei so etwas wie Loskauf ist, ist es auch kein Garant für den weiteren Fortbestand der Erlösung, dafür 40 Vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 161f. 41 Saint-Martin 1782, II, S. 158-159 42 Saint-Martin 1782, II, S. 174 43 Saint-Martin 1782, II, S. 223; vgl. auch ebenda, S. 129. Vgl. Jacques-Chaquin/ Becque 1972, S. 187: Christi Mission ist es, dem Menschen seine Situation erkennbar zu machen. 44 Vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 184f. 372 also, dass die Menschen von nun an mit ihrem Gesetz im Einklang bleiben werden. 45 Saint-Martins erkenntniszentrierte Interpretation der Heilstat wagt sich weit auf heterodoxes Terrain vor: Selbst Christi Tod ist eine „analyse“, die die Zusammengesetztheit von Seele und Körper offenbart. 46 Die gnostische Seite dieser Auffassung von Erlösung, von ihrem bloßen Enthüllungscharakter, ist hier besonders weit getrieben und dabei der Begriffllichkeit der zeitgenössischen Naturwissenschaft angenähert. Der Kreuzestod wird fast zum biologisch-pneumatologischen Experiment, dessen Ziel nun nicht mehr wie bei Augustin die Herstellung von Unsterblichkeit durch Angleichung von menschlicher und göttlicher Natur ist, sondern der Erweis einer immer schon vorhandenen Unsterblichkeit (und in der Tat ist für die Martinisten der Mensch als Geistwesen grundsätzlich unsterblich). Aufgrund der semiotischen Ausrichtung des Heilsgeschehens ist es auch noch in der am meisten christologisch orientierten Schrift Saint- Martins, im Ecce Homo, die Aufgabe des Menschen, in Christus die Genese des Menschenzeichens zu lesen: „lire dans ce réparateur l’histoire universelle de l’homme.“ 47 Es ist klar, dass dadurch - im Einklang mit der schon erwähnten martinistischen Tendenz zur Marginalisierung der Sündenschuld des Menschen - Christi Tod seinen Loskauf- und Opfercharakter weitgehend verliert. Durch seine Interpretation als Explizitmachung des menschlichen Zeichens für sich selbst und für die anderen Geister wird er gewissermaßen aus der Rechtfertigungslehre in die Erkenntnis- und Zeichentheorie verschoben. In dieser Verschiebung und in der Abwertung der Erbsünde könnte man durchaus etwas Aufklärerisches erblicken. Die Wiedergeburt des Christen wird so zu einer Neugenese eines überprüften und verbesserten Zeichens im Sinne des Genesemodells, und sie ist grundsätzlich (mit Gottes Hilfe) ‘machbar’. 3.4. Der Mensch als Blaupause der Kreaturen bei Robinet Die Naturgeschichte steht mit ihren ontologischen Annahmen zum Teil in neuplatonischen Traditionen. Das Motiv der ‘Kette der Wesen,’ das hinter der für die taxonomische Wissensform entscheidenden Erwartung steht, die Naturwesen müssten sich auf einer lückenlosen Kette einfacher Unterschiede situieren lassen, wurde schon erwähnt. Es wird uns in Kapitel III beschäftigen. Für den Augenblick interessiert uns die Verwicklung eines Autors, dem wir dort wieder begegnen werden, in die Mikrokosmos- Tradition. Es handelt sich um Jean-Baptiste Robinet, dessen Considérations 45 Vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 215. 46 Saint-Martin 1782, II, S. 174 47 Saint-Martin 1792, S. 77 373 philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’Être zwar nicht im Mittelpunkt der Historia naturalis des achtzehnten Jahrhunderts stehen (Haller spricht in einem Brief an Bonnet von dem „Livre ridicule de Robinet“ 48 ), aber doch große Beachtung fanden. Der Untertitel des Buches zeigt bereits das Motiv, auf das es uns ankommt: Essais de la nature qui apprend à faire l’homme. Der Mensch ist ein immer schon vorausgesetzter Plan der Natur, aber die Natur ist ein Prozess des Suchens. Grundlage aller Evolutionstheorie ist der Gedanke, die Natur sei nicht einfach Realisierung vorgegebener Gestalten, sondern könne in sich etwas herausbilden, sei also bereits belebt 49 - dies wird uns im Z WEITEN T EIL beschäftigen. Bei Robinet kommt jedoch in diese Vorstellung von einer selbst belebten natura naturans noch ein Rest des alten Keimdenkens in Form einer teleologisch gefassten ‘Evolutions’- Konzeption herein: A la tête de cette grande échelle des habitans de la terre, paroît l’homme le plus parfait de tous; il réunit, non pas toutes les qualités des autres, mais tout ce qu’elles ont de compatible en une même essence, élevé à un plus haut degré de perfection. 50 Der Mensch ist so Mikrokosmos und Blaupause der Leiter der Lebewesen. Dabei kann sich Robinet jedoch zunächst nicht entscheiden, ob das Tasten der Natur („en tâtonnant“ 51 ) tatsächlich einem schon vorgeformten Wesen, dem Menschen, gilt, oder mehr das Ertasten eines Weges in eine offene Zukunft ist, mit anderen Worten: Ist der Mensch der Plan, der von Anfang an fest stand, oder ist er nur die nachträgliche Zusammenfassung dessen, was die Natur bislang versucht hat? Der zitierte Untertitel scheint für das erste zu sprechen, es gibt jedoch auch Formulierungen, die diesbezüglich zumindest offen sind. 52 Daneben gibt es als Drittes noch so etwas wie eine kombinatorische Erklärung: Die Natur musste alle denkbaren Variationen erschöpfen („épuiser“ 53 ), um den Menschen zu finden. Hier erscheint der Mensch sozusagen als die komplexeste oder interessanteste Hervorbringung innerhalb einer Totalität ausgeschöpfter Möglichkeiten. Nicht ein immer schon fest stehender Plan, und auch keine offene Evolution, sondern das Durchspielen einer begrenzten Gesamtheit von Variationen hätte so eine Reihe hervorgebracht, in der der Mensch dann dem nachträglichen Blick als das höchst entwickelte Exemplar erschiene. Am Ende seiner Über- 48 Haller an Bonnet, 10.12.1769, in: Bonnet 1762, S. 503, n. 49 Kondylis 1981, S. 277, weist darauf hin, dass dieser Gedanke vor allem zu materialistischen Konsequenzen geführt hat. Vgl. Robinet 1768, S. 8: „Toute la matière est organique, vivante, animale.“ 50 Robinet 1768, S. 3 51 Robinet 1768, S. 3 52 Vgl. Robinet 1768, S. 3: „au moins nous le prenons pour le dernier, parce que c’est à lui que se termine notre échelle naturelle des Etres.“ 53 Robinet 1768, S. 4 374 legungen legt Robinet diese Möglichkeiten übereinander, wobei der Prototyp-Gedanke dann doch die Oberhand behält: L’homme ( […] ) est le prototype, plus le résultat de toutes les combinaisons que le prototype a subies en passant par tous les termes de la progression universelle de l’Etre. 54 Die Gestalt des Menschen als geistiger Entwurf ist in allen Lebewesen zu erkennen, aber erst im biologischen Menschen ist sie voll realisiert. Die belebte Materie enthält nach Robinet immer schon Aktivität, die sich aber bei den niedrigen Seinsformen nicht zeigt. Sie tritt auf der Leiter der Wesen immer mehr in Erscheinung, je höher das betreffende Wesen steht, und im Menschen ist schließlich die Aktivität das Zentrum, die Materie bloß noch Organ. 55 Daraus schließt Robinet sodann auch die Existenz einer geistigen Welt. 56 Dass der Prototyp darin seinen Ort als „force prototype“ 57 hat, zeigt, dass wir uns hier in einem Denken der ‘Energie’ befinden, wie es uns im Z WEITEN T EIL begegnen wird. Für unser Interesse am Mikrokosmos sind noch zwei Elemente von Robinets Lehre von Belang: Zum einen verfolgt er tatsächlich die Form des menschlichen Körpers über die ganze Kette der Lebewesen von den Fossilien (die er als steinerne Lebewesen auffasst, an denen keine Aktivität sichtbar wird, 58 aber die Menschengestalt schon skizzenhaft in Erscheinung tritt) über die Pflanzen und Tiere bis zum Orang-Utan und zum „homme marin.“ Letzterer soll ein Meereswesen sein, das Robinet nur aus Berichten von Seefahrern kennt, aber als Zwischenwesen zwischen Affe und Mensch gelten lässt, weil diese Position auf der Kette der Wesen sozusagen vorgesehen ist und weil die ausgewerteten Berichte den Eindruck der Verlässlichkeit machen 59 - weil also Systematik und Empirie hier zusammenkommen. Der zweite Aspekt, der uns im Hinblick auf den Mikrokosmos bei Robinet interessieren soll, betrifft die menschlichen Rassen, die er im dreizehnten Teil seines Werks bespricht. Wir sahen oben bei Saint-Martin, dass die Schönheit des menschlichen Zeichens von seinem Rang kündet. Auch Robinet will die Schönheit als Indiz für Rang verwenden, und zwar näherhin als Kriterium des Vergleichs von Rassen. Hier wirkt sich allerdings ungünstig aus, dass Robinet seinen Begriff von Schönheit der Kunst entnimmt, und zwar noch dazu einer regionalen Kunst, nämlich dem europäischen Klassizismus seiner Zeit. So sind für ihn die Spanier und Franzosen 54 Robinet 1768, S. 5 55 Robinet 1768, S. 8-9 56 Robinet 1768, S. 10 57 Robinet 1768, S. 11 58 Vgl. Roninet 1768, S. 38. 59 Vgl. resp. Robinet 1768, S. 42, S. 58, S. 151 und S. 156. 375 zwar bereits „bienfaits […] réguliers […] proportionnés“ 60 , aber erst die Griechen und Italiener sind das „chef-d’œuvre de la Nature,“ 61 die hier als klassizistische Bildhauerin und Malerin auftritt. Denn, so Robinet, die griechischen Bildhauer und die italienischen Maler schufen deshalb so Schönes, weil sie in ihren Ländern die besten Modelle vorfanden. Die klassizistische Ästhetik diktiert hier also die Gradation der Wesen im Sinne von so etwas wie einem klassizistischen Rassismus. Die griechische Statue und ihr lebendiges Vorbild sind das Ziel einer Evolution, das (in Umkehrung der paracelsischen Vorstellung, der Mensch sei nachträglich als Auszug der Wesen geschaffen worden) als Blaupause vor aller Naturentwicklung bereits vorhanden war und in jedem Stadium derselben aufgewiesen werden kann, so dass auch noch die Fossilien Vorstufen klassizistischer Bildhauerei sind. 3.5. Die Ruinen der Welt und ihr menschlicher Schlüssel Bei Saint-Martin ebenso wie bei Condillac war die Erkenntnis der äußeren Natur nur von der Natur des Menschen aus möglich - in diesem Falle durch die Mechanik der besoins, in jenem durch die Eingliederung des eigenen Wollens und Wünschens in den Christus-Logos. Was bei Condillac jedoch nicht vorhanden ist, das ist die bei Court de Gébelin und Saint- Martin anzutreffende Vorstellung, die zu entschlüsselnde Welt sei eine Ruine eines früheren, besseren Zustandes. Die Menschennatur ist in diesen Fällen Interpretant eines verschütteten Zeichens, eben einer Ruine. 3.5.1. Cœuilhe: vanitas und Naturgeschichte Die moralisierende Betrachtung von Ruinen hat im Anschluss an die barocke vanitas-Motivik des siebzehnten Jahrhunderts im achtzehnten eine Fortentwicklung zu einem vielseitig verwendbaren rhetorischen Topos der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit erfahren. Dieser Gemeinplatz erschien manchen geradezu als Textproduktions-Maschine, 62 aber er war auch Anlass für empfindsame Dichtung, die nicht selten den Horizont moralisierender Deutungen hinter sich lässt. Die Kumulation antiker Bruchstücke in der französischen Revolution und im Kaiserreich, teils gespeist durch Beutestücke aus der Plünderung von Adelssitzen, teils durch Importe aus den Kampagnen der Armee in Italien und im Orient, war schließlich 60 Robinet 1768, S. 187 61 Robinet 1768, S. 188 62 So nennt Saminadayar-Perrin 2000, S. 59, noch den Ruinentopos in der Literatur des 19. Jhs, der diese Entwicklung, die ja ihrerseits auf so frühe Quellen wie Lukans Pharsalia zurückgeht, erneuert und fortschreibt; ein erster Anschluss an unsere Thematik im 19. Jh. wird, so Saminadayar-Perrin, von Chateaubriand (in Les Martyrs) als Erneuerung antiker Topik gestaltet. 376 auch eine neue Vorlage für eine Poetik des Malerischen, Ungeordneten, die das Bild von der Ruine veränderte und es einer Poetik des génie dienstbar machte, wie Éveline Manna herausgearbeitet hat. 63 Das lediglich Malerische verdrängt um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert für kurze Zeit die Vergänglichkeitsthematik weitgehend; diese tritt jedoch in der Romantik bald wieder in den Vordergrund. 64 Für eine kurze Bestandsaufnahme dieser Topik wollen wir einen Blick auf eine Versepistel von Étienne F. Cœuilhe werfen, die für den Preis der Académie Française 1768 (im Erscheinungsjahr von Robinets Considérations) eingereicht wurde: Fragiles monumens, magnifiques fantômes, Nobles fruits du génie & de l’orgueil des hommes; Qui, par-tout dispersés, vains restes de splendeur, Attestent leur néant, bien plus que leur grandeur. […] Rome, Rome n’est plus la ville des Césars. […] Tout y retrace d’elle un triste souvenir. Tout est débris enfin, ou va le devenir. 65 Natürlich ist hier Du Bellays Romdichtung ein mögliches Vorbild. Es geht allerdings mehr um Pompei als um Rom. Der Anblick der erst seit 1748 erforschten und 1763 namentlich identifizierten Ruinenstadt wird in diesem Gedicht zu moralisierenden Betrachtungen genutzt. Die Ruinen lehren den Betrachter: Alors, de ce qui fut contemplant ce qui reste, De tout ce qui sera je vois l’arrêt funeste. […] Combiens alors, combien je plains l’humaine espèce, Qui voit, à chaque instant, ses œuvres s'écrouler, Et pour l’éternité croit toujours travailler! 66 Die Schönheit der Ruinen liegt jedoch nicht nur in ihrer ernsten Mahnung, sondern auch darin, dass in ihnen die Kultur in die Natur zurückkehrt. Der Betrachter erfreut sich daran, dass Pflanzen die Ruinen überwuchern und des Abends das (als Teil der Natur aufgefasste) Hirtenvolk („Corilas y poursuit Aminte qui soupire“) sich dort liebend begegnet; freilich zeigt sich 63 Manna 2000 weist vor allem auf die Sammelstellen hin, an denen sich diese Relikte in poetischer, ungeordneter Weise begegneten, so das Dépôt des Petits-Augustins, das dann zum Musée des Monuments français wurde (S. 14). Für die Auffassung von der ‘inspirierenden’ Unordnung der angesammelten Bruchstücke ist vor allem der Widerstand Sébastien de Merciers gegen eine historische Katalogisierung und Anordnung der Stücke bezeichnend (vgl. Manna 2000, S. 23). 64 Vgl. Saminadayar-Perrin 2000, S. 60-61 und Sylvos 2000, S. 82. 65 Cœuilhe 1768, S. 4-5 66 Cœuilhe 1768, S. 7 377 in den der Pastoraldichtung entnommenen Hirtennamen, dass die Vorstellung von dieser Natur eine literarisch vermittelte ist. In einer alptraumhaften Vision sieht das lyrische Ich in den vom Dunkel der Nacht umhüllten Ruinen eines Tempels den alten Zeitgott Saturn wiederkehren. 67 Im Traum scheint es, als wolle er seine zerstörerische Macht auch auf Paris ausdehnen, als müsse auch Paris vergehen. 68 Nichts entgeht der Zeit, selbst die Natur nicht. Ozeane und Landmassen verschwinden und entstehen, sogar Sterne und Sonnen erlöschen: Là, nos yeux ont cru voir, aidés en leur foiblesse, Des Mondes ébauchés, des Mondes en vielliesse. Tel fut, tel est encor, tel sera l’Univers. Abîme féconde, source d’Êtres divers; Tout mobile & constant, qu’une main immortelle Meut, façonne, entretient, détruit & renouvelle, Qui, sans se démentir, roule, poursuit son cours, Renaît en vieillissant, & se survit toujours. 69 Nur der „Souverain du Monde“ bleibt ewig unbewegt. Der Gedanke Maupertuis’ und Delisle de Sales’, die heutige Natur sei eine Ruine einer früheren, ist hier ebenfalls formuliert. Aber auch die Einbindung dieses Zerstörungsgeschehens in eine beständige Selbsterneuerung des großen Ganzen einer als produktiv verstandenen Natur ist hier vollzogen: Die Ruinen der Geschichte sind, anders als im Jahrhundert zuvor, bei Cœuilhe ebenso wie bei Delisle de Sales so auch Zeugen von Leben und Energie. Der Gedanke, dass die Natur ein Prozess der Veränderung ist, ergreift also auch die Topik der Ruinen. Bei Cœuilhe ist jedoch die Deutung der Ruinen, so sehr sie auch diese zeitgenössischen Züge aufnimmt, durch die Tradition der vanitas garantiert. Selbst noch das Verhältnis zwischen der wechselhaften Natur und dem unbewegten Beweger ist topisch und wird zum Anlass genommen, die Unwandelbarkeit der Freundschaft des Epistelabsenders zu deren Adressaten zu illustrieren. 70 Die Rede der Ruinen muss nicht wie bei Court de Gébelin mühsam rekonstruiert werden. Aber auch Court hatte ein traditionelles Element, eine unwandelbare Menschennatur, bemüht, um sein Entzifferungsprojekt zu ermöglichen. Die Ruinen sprechen, so scheint es, immer nur von dem, was der Betrachter schon weiß. 67 Cœuilhe 1768, S. 11 68 Cœuilhe 1768, S. 13 69 Cœuilhe 1768, S. 13-14 70 Cœuilhe 1768, S. 15 378 3.5.2. Volney: Die Befreiung von den Ruinen Auch in Volneys 1791 publizierter didaktischer Prosadichtung Les ruines, ou Méditation sur les révolutions des empires wird der Anblick einer Ruinenstadt zum Anlass moralischer (und politischer) Reflexion genommen, und die Rede von den révolutions des empires verweist bereits auf die zyklische Geschichtsvorstellung, die historisch (aber nicht systematisch 71 ) mit der vanitas-Motivik verbunden ist. Volney ist jedoch, wie wir sehen werden, kein Anhänger einer zyklischen Geschichtsauffassung, und die Ruinenmotivik ist für ihn hauptsächlich eine Folie. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Betrachtung der Ruinen durch den Ich-Erzähler zwar zunächst zu einem Aufruf bestimmter mit dieser Topik verbundener Elemente führt: Der Erzähler ist melancholisch, erkennt die Eitelkeit allen Strebens und führt die zyklischen Katastrophen der Reiche auf das Schicksal und den göttlich verfügten Lauf der Welt zurück. Diese Fehldeutung der Ruinen wird sodann aber von einem Gespenst, dem génie der betrachteten Ruinen, zornig zurück gewiesen: Jusques à quand l’homme importunera-t-il les cieux d’une injuste plainte? Jusques à quand, par de vaines clameurs, accusera-t-il le S ORT de ses maux? Ses yeux seront-ils donc toujours fermés à la lumière, et son cœur aux insinuations de la vérité et de la raison? […] Homme injuste! si tu peux un instant suspendre le prestige qui fascine tes sens, si ton cœur est capable de comprendre le langage du raisonnement, interroge ces ruines! Lis les leçons qu’elles te présentent! Et vous, témoins de vingt siècles divers, temples saints, tombeaux vénérables, murs jadis glorieux, paraissez dans la cause de la nature même! Venez au tribunal d’un sain entendement déposer contre une accusation injuste! venez confondre les déclamations d’une fausse sagesse ou d’une piété hypocrite, et vengez la terre et les cieux de l’homme qui les calomnie! 72 Die unassistierte Ruinenlektüre im Sinne der Topik der Ruinen war ein Fehlschlag. Unter der Anleitung des génie muss nun die Natur und besonders die Natur des Menschen bemüht werden, die richtige Deutung der Trümmer und Fragmente zu finden. Und so ist es, wie bei Court de Gébelin, die unwandelbare Menschennatur, die es ermöglicht, die Ruinen einer Deutung zu unterziehen. Wie bei diesem findet sich auch hier das Motiv der Setzung des Menschen an seinen Platz im Garten Eden, und zwar in einer wörtlichen Rede der allegorisch präsentierten Natur: „Faible ouvrage de mes mains, je te ne dois rien, et je te donne la vie; le monde où je te place ne fut pas fait pour toi, et cependant je t’en accorde l’usage: tu le trouveras mêlé de biens et de maux; c’est à toi de les distinguer, c’est à toi de 71 In der Tat verflüchtigt sich die Zyklik, wenn immer das Motiv stark christlich gefärbt ist, da durch die Heilsgeschichte ja ein nicht zyklisches Geschichtsbild ins Spiel kommt. 72 Volney 1791, S. 12 379 guider tes pas dans les sentiers de fleurs et d’épines. Sois l’arbitre de ton sort; je te remets ta destinée.“ 73 Dies erinnert an eine andere Einsetzungs-Formel, mit der einem der großen exempla humanitatis der europäischen Literatur, dem Jenseitswanderer Dante, beim Eintritt in den verlorenen Garten Eden ebenfalls der liberum arbitrium über sich selbst als Grundausstattung paradiesischer Existenz zugesprochen wird, und zwar auch hier von einer allegorischen Figur, nämlich dem für die innerweltliche Rationalität des lumen naturale stehenden Vergil: „Non aspettar mio dir più, né mio cenno: Libero, dritto e sano è tuo arbitrio, E fallo fora non fare a suo senno: Per ch’io te sopra te corono e mitrio.“ 74 Mit dieser Folie hat Volneys Text noch vieles andere gemein - von der anfänglichen Verzweiflung des Ich-Erzählers in allegorischer Landschaft über das Erscheinen eines übernatürlichen Führers (in Volneys Fall des génie der Ruinen) bis zum gemeinsamen Aufstieg von Erzähler und geisterhaftem Mentor in die Lüfte, von denen aus die Erde klein und unbedeutend erscheint; schließlich gibt es sogar in beiden Fällen eine Vision der religiösen und politischen Geschichte und ihrer künftigen Weiterentwicklung. 75 Um so schärfer treten die Unterschiede hervor: Der freie Wille von Volneys Menschheit ist nicht Wiedergewinn einer durch den Sündenfall verlorenen ursprünglichen Natur, sondern unverlierbare Ausstattung des Menschen. Demgemäß müssen die Menschen auch nicht als Sünder wie bei Dante einer paternalistisch-imperialen Tugendleitung überantwortet werden, sondern sie sollen sich als „un peuple libre et législateur“ 76 selbst regieren. Eden ist jederzeit möglich, aber es ist eines, aus dem Gott sich fast vollkommen verflüchtigt hat, um es der menschlichen Freiheit zu überlassen. Gott gibt es bei Volney überhaupt nur noch als Naturordnung, 77 als 73 Volney 1791, S. 16 74 Dies ist das Ende von Purgatorio XVII in der Divina Commedia (Alighieri 1911, Purg. XVII, 139-142, S. 337). 75 Die Kleinheit der Erde und ihrer Geschichte, vor allem der menschlichen Aktivitäten, dient bei Volney der kritischen Distanzierung vor allem vom Kriege. Armeen erscheinen von dort oben wie „animalcules insensés qui se détruisent“ (Voley 1791, S. 23). Die Erde erscheint Dante klein in seiner Sicht von ganz oben herab auf „l’aiuola che ci fa tanto feroci“ am Ende von Par. XX, Verse 151-154 (Alighieri 1911, S. 510). Seine Geschichtsvision findet sich vor allem im allegorischen Triumphzug der Kirche in den letzten Gesängen des Purgatorio. Bei Volney tritt sie als Tribunal zur historischkritischen Diskussion von Politik und Religion in Erscheinung, geführt von einer künftigen, befreiten Menschheit (Volney 1791, S. 33-71). 76 Volney 1791, S. 33 77 Viel radikaler als bei Court de Gébelin wird Gott auf die Konstanz der Naturordnung reduziert: „Dieu a-t-il troublé cet ordre primitif et constant qu’il assigna lui-même à la nature? “ (Volney 1791, S. 12). 380 säkulares Gegenstück zu dem Gedanken der kosmischen Ordnung, den wir bei Court de Gébelin fanden: Quand la puissance secrète qui anime l’univers forma le globe que l’homme habite, elle imprima aux êtres qui le composent des propriétés essentielles qui devinrent la règle de leurs mouvements individuels, le lien de leurs rapports réciproques, la cause de l’harmonie de l’ensemble […] 78 Die Naturgesetze halten alles in seiner Harmonie, und das Gesetz des Menschen ist der „amour de soi.“ 79 Auf Eigennutz und Schadensvermeidung lässt sich alles reduzieren, was im monde moral vor sich geht. Liest man die eingangs zitierten Einsetzungsworte der Natur an den Menschen damit zusammen, so ergibt sich eine dezidiert säkulare Absetzung von allen religiösen Versionen dieser Naturordnung, auch und gerade von der Court de Gébelins. Das ackerbauliche Glück des Menschen ist nun nicht mehr Auftrag Gottes, sondern eine von vielen Möglichkeiten, aus denen der Mensch frei wählen kann. Die Erde ist nicht für ihn geschaffen, er ist „jeté au hasard“ 80 auf unwirtlichem Boden: Weder ist er, wie bei Court de Gébelin, an seinem gottgwollten Ort, noch wie in der christlich-apologetischen oder illuministischen Version, von einem eigentlichen, geistigen Ort auf die Erde hinabgestürzt worden, die dann Gegenbild und (durch ihre Unwirtlichkeit: ) Indiz seiner wahren, über sie hinaus weisenden Bestimmung wäre. Vielmehr ist er grundlos auf sie gesetzt und kann, wenn er dies möchte, sie aus einem Dschungel- und Morastgebiet in eine bebaute, bewohnenswerte Kulturlandschaft verwandeln. Es ist der Mensch, der den Garten Eden anlegt, und niemand als nur sein Wesensgesetz der Eigenliebe leitet ihn dazu an, indem es aus seinen Sinneswahrnehmungen seine Bedürfnisse entwickelt und Mittel zu deren Befriedigung sucht. Bei Volneys Beschreibung der Transformation anfänglicher Wildnis in einen fruchtbaren Garten schlägt allerdings dann doch noch eine teleologische Betrachtungsweise durch, die den Verdacht aufkommen lässt, der Naturordnung könne der Platz des Menschen nicht egal sein. Denn die Überwindung der anfänglichen Natur durch den agrarischen Menschen wird selbst als natürlicher Vorgang dargestellt. Die Natur muss demnach die Mittel zu ihrer eigenen Überwindung schon in sich tragen, eine Entelechie besitzen, die den Garten als die zu sich selbst gekommene Entwicklungsstufe des Urwaldes ausweist. So gesehen liegt auch in der harscheren, entgöttlichten Version Volneys ein Rest jener kosmischen Konzeption, wie wir sie bei Court de Gébelin fanden, ein Nachhall des großen Logos - oder des Naturganzen Condillacs. Dies zeigt sich auch in der Vorstellung vom idealen Maß, die Volneys Beschreibung der Vergesellschaftung des Men- 78 Volney 1791, S. 15 79 Volney 1791, S. 16 80 Volney 1791, S. 16 381 schen innewohnt. Denn auch bei der Gründung der Gesellschaft durch den schwachen Menschen wirkt der „amour de soi, principe de tout raisonnement […] moteur de tout art et de toute jouissance.“ 81 Aber gerade hier trifft die Eigenliebe auf Grenzen; es zeigt sich, dass dem Grundgesetz des Menschen auch ein rechtes Maß eingeschrieben ist. Neben der Ignoranz ist nämlich die entfesselte Gier Hauptursache der Hinfälligkeit menschlicher - Gesellschaften. Wo also der gesunde Egoismus aus der aristotelischen Mitte der Tugend in das Extrem des Lasters abgleitet, hebt sich das Funktionsgesetz des Menschen selbst auf. In gut aufklärerischer Weise werden Tyrannei, Krieg und falsche Religion solch fehlgeleiteter Gier zugeschrieben. Nur eine vollkommene Harmonie von konventionellen und Natur-Gesetzen lässt die Staaten prosperieren. 82 Die Erweckung illusorischer Jenseitshoffnungen und die verfälschende Interpretation eines unerreichbaren und also auch uninterpretierbaren Gottes durch religiöse Machthaber dient der Kompensation diesseitiger Mängel und verdunkelt dazu noch die Naturgesetze. 83 Wenn diese überschritten werden, fallen die einst prosperierenden Staaten der Unterdrückung, dem Verbrechen und schließlich dem Umsturz anheim - jenen révolutions des empires, um die es dem Untertitel gemäß in den Ruines gehen soll. Alle diese Informationen, die anhand der Trümmer vergangener Zivilisationen vergeben werden, stammen aus dem Munde des génie; sie erschließen sich nicht von selbst. Der Erzähler ist bei seiner anfänglichen Meditation über die Überreste des Vergangenen ja eigentlich ratlos, erst das Gespenst vermittelt ihm die richtige Betrachtungsweise. Seiner Trauer und emotionalen Verwicklung in die Trümmerlektüre setzt das génie kritisch entgegen, dass die Menschheit sich stets fortentwickeln könne, dass der Einklang mit ihren Naturgesetzen erreichbar sei; schließlich zeugten die Ruinen nicht nur von verlorenem Glanz, sondern auch von überwindbarem Elend, welches sich nicht zuletzt im Verfall der vergangenen Zivilisationen dokumentiere. 84 Demgegenüber befinde sich die heutige Gesellschaft auf dem Weg zur Weltgesellschaft, etwa aufgrund der kritischen Öffentlichkeit, die durch den Buchdruck hergestellt sei. In diesem Fortschrittsgedanken sind das rechte Maß und die Harmonie mit der Natur auch als Ziele einer Entwicklung vorgegeben, die nun nicht mehr offen sein kann. Die Entelechie als metaphysischer Restbestand zeigt sich auch hier: Die Natur des Menschen ist als Ende, nicht als Ausgangspunkt vorgegeben. In der Zurückweisung der Vergangenheitsverklärung, die als verdeckte Misanthropie decouvriert wird, wird andererseits deutlich, dass diese Rui- 81 Volney 1791, S. 17 82 Volney 1791, S. 19 83 Volney 1791, S. 23 84 Volney 1791, S. 29 382 nendeutung sich auch gegen die Vorgaben ihrer Gattungstradition wendet. Dies gilt etwa für die Nostalgie eines Court de Gébelin. Nicht nur wird dessen Ansatz hier säkularisiert; auch seine Suche nach der Religion des monde primitif als prisca theologia wird implizit zurückgewiesen. Insbesondere der Aufweis einer Genealogie der Religion, der in typisch reduktionistischer Weise durch die Rückführung einer Wahrheit auf ihre Genese deren Nichtigkeit suggerieren will, versucht dieser Denkrichtung den Boden zu entziehen. Volney säkularisiert Court de Gébelins Rückführung der ursprünglichen Religion auf physische Gegebenheiten (die dort ja wiederum religiös unterfüttert war), wobei er an Boulanger und Dupuis anknüpfen kann, jedoch im Einklang mit seinem Hintergrund als idéologue die religiösen Bezeichnungen spezifisch als personifizierende Begriffe für noch nicht versprachlichte Wahrnehmungen fasst, also als vorbegriffliche Allegorien mit einer präzisen Rolle im Prozess der Sprachwerdung von Ideen, die erst durch ein falsches Wörtlich-Nehmen zu Göttern wurden. 85 Ähnlich wie Court beschreibt er die dann folgenden Entwicklungsstufen der Religionen als Verfall und Sinnverlust, ohne jedoch der ursprünglichen Stufe ihre Verankerung in einer geoffenbarten Ur-Ordnung zu lassen. Konsequent endet der Text auch mit der Forderung des vollkommenen Ausschlusses der Religion aus der öffentlichen Diskussion: Nur eine Religion, die Umsetzung unbezweifelbarer Einsichten in die Naturgesetze wäre, dürfte noch im Leben eines Staates eine Rolle spielen; diese wäre dann freilich nicht eigentlich eine Stimme in der öffentlichen Diskussion als vielmehr eine Umsetzung derjenigen Gesetzlichkeiten, die ohnehin das öffentliche Handeln und Verhandeln bestimmen. Insofern ist Volneys Op- 85 Die Relativität der Religionen und die Tatsache, dass es sogar Völker ohne Religion gebe (eine Behauptung, die etwa von Saint-Martin immer wieder bestritten worden ist), lässt für Volney den Kern der Religion zu einer Schimäre werden (Volney 1791, S. 41). Die religiöse Rede ist für ihn zunächst nur eine allegorische Krücke des menschlichen Verstandes, die der begrifflichen Erfassung von Wahrnehmungen dient. Erst als diese Rede wörtlich verstanden wird, ergibt sich die Religion, die insofern Effekt eines Irrtums ist. (S. 50) Seine Genealogie ist bemerkenswert: „Et c’est ainsi que la Divinité, après avoir été dans son origine l’action sensible, multiple, des météores et des éléments; Puis la puissance combinée des astres considérés sous leurs rapports avec les êtres terrestres; Puis ces êtres terrestres eux-mêmes par la confusion des symboles avec leurs modèles; Puis la double puissance de la nature dans ses deux opérations principales de production et de destruction; Puis le monde animé sans distinction d’agent et de patient, d’effet et de cause; Puis le principe solaire ou l’élément du feu reconnu pour moteur unique; C’est ainsi que la Divinité est devenue, en dernier résultat, un être chimérique et abstrait; une subtilité scolastique de substance sans forme, de corps sans figure... (S. 61) In der Folge wurde die Religion Instrument der Herrschaft. Es folgten: „Religion de Moyse, ou culte de l’âme du monde... Religion de Zoroastre“ (dieser als Dualismus, S. 62), „Brahmisme“ (als Triadisches System, S. 62-63), „Boudisme“ (metempsychotische Weltverneinungsmystik, S. 63), „Christianisme, ou culte allégorique du soleil, sous ses noms cabalistiques de Chris-en ou Christ, et d’Iésus ou Jésus“ (synkretistische Religion, die ihren Gehalt verschiedenen Zufällen verdankt, S. 63-65). 383 tion auf die religiöse Verehrung der Naturgesetze eher eine religionspolitische Finte als eine Aussicht auf einen künftigen Kultus. Konsequent beschreibt Volney den wahren Kult in seinem Catéchisme du citoyen français ou La loi naturelle des Revolutionsjahres VI auch als Ausführung dieser Naturgesetze, 86 wobei auch hier der Mensch nicht als Wilder, sondern im rechten Maß und in Harmonie mit der Gesellschaft seinem Selbsterhaltungstrieb folgender Bürger den drei Axiomen folgt: Conserve-toi; Instruis-toi; Modère-toi; 87 Aber nicht nur die Träumereien von einer verlorenen Ursprünglichkeit oder einer ursprünglichen Religion, die sich von der Ruinenmeditation nähren könnten, auch die Form dieser Meditation selbst wird in den Ruines kritisiert. Wie wir schon sahen, richtet sich die Rede des Gespenstes ja gerade gegen die trauernde Orientierungslosigkeit und die schwärmerische Vergangenheitsverklärung, eigentlich überhaupt gegen die emotionale Lektüre der Überreste durch den Ich-Erzähler, der nicht nur „réflexions“, sondern auch „sentiments“ mit seiner Betrachtung verbindet. 88 A ces mots mes yeux se remplirent de larmes, et couvrant ma tête du pan de mon manteau, je me livrai à de sombres méditations sur les choses humaines. Ah! malheur à l’homme! dis-je dans ma douleur; une aveugle fatalité se joue de sa destinée! Une nécessité funeste régit au hasard le sort des mortels. Mais non: ce sont les décrets d’une justice céleste qui s’accomplissent! Un Dieu mystérieux exerce ses jugements incompréhensibles! 89 Gerade der Vorwurf an das Schicksal und die Götter wird ja im Folgenden vom génie energisch zurückgewiesen: Der Mensch ist an seinem Unglück allein schuld. Der emotionale Ausbruch erweist sich so als Verirrung, der schnell abgeholfen wird. Mit dem Inhalt der ersten, noch nicht durch das Gespenst geleiteten Meditation, ihrer Vergangenheitsverklärung, der Trauer über das Schicksal des Menschen, das Spiel der Mächte und dergleichen, wird letztlich die ganze zeitgenössische empfindsame Ruinendichtung zurückgewiesen. Das einzige, was von den Assoziationen des Betrachters über die Ruinen in allerdings umgedeuteter Form Bestand haben wird, ist gerade dasjenige Element, das hinter die Ruinenmode des späten achtzehnten Jahrhunderts scheinbar in die Barockzeit zurückzugehen scheint. Gemeint ist die Deutung des Verfalls im Sinne einer alle Hierarchien dieser Welt ein- 86 Volney 1798, S. 10 87 Volney 1798, S. 70; vgl. auch S. 18-19 zur Zurückweisung der „vie sauvage“ als wahres Glück. 88 Volney 1791, S. 9 89 Volney 1791, S. 11 384 ebnenden vanitas in der Nachfolge der schon im Mittelalter anzutreffenden Topik der Gleichheit aller im Totentanz. Allerdings wird der lehrhafte Gehalt dieser älteren Ruinendeutung durch das Gespenst neu bestimmt: Nicht etwa, weil alles vergeht, versinken auch diese Zivilisationen, sondern wenn und nur wenn sie sich gegen die Naturgesetze stellen. Nicht die Egalität des Totentanzes, sondern die égalité aller vor dem Naturgesetz lässt sich in der Deutung des génie den Ruinen entnehmen. 90 Was nun aber diese autoritative Ruinendeutung des in ironischer Anspielung auf die Ruinengespenster der Literatur aus den Trümmern aufsteigenden génie mit derjenigen Court de Gébelins und Saint-Martins verbindet, das ist die Tatsache, dass auch hier die richtige Deutung nicht unmittelbar aus der Betrachtung der dargebotenen Oberfläche zu gewinnen ist. Die Natur und die Überreste der Kultur sind stumm und unleserlich. Hier wie dort wird die Geschichtsdeutung erst durch die Schau einer überzeitlichen Menschennatur ermöglicht, durch das Wissen um das selbst nicht geschichtliche Seinsgesetz des amour propre und dessen notwendige Mäßigung im zivilisierten Zusammenleben. Wenn auch der Offenbarungscharakter der Darlegungen des Gespenstes hier nur noch zitathaft erscheint und die Irrationalität dieser Vermittlung durch den rationalistischen Gehalt der Belehrung ausgehebelt wird, so verweist sie doch auf die Tatsache, dass aus unassistierter Ruinenlektüre diese Lehren nicht zu gewinnen wären. Das Wissen um den Wesenskern des Menschen ist auch hier der von außen herangetragene Schlüssel, der den Sinn der Ruinen erschließt, und das Gespenst ist somit Supplement eines argumentativen Mangels: Auch die säkulare Intelligenz Volneys vermag den Text der Ruinen ohne die Offenbarung eines Interpretanten in Form des Menschen nicht zu dechiffrieren. 4. Die Natur als Interpretant des Menschen Nach der Betrachtung von Fällen, in denen die Ruinen des Makrokosmos vom Mikrokosmos aus gedeutet wurden und in denen der Mensch der Interpretant oder die Planzeichnung von Welt und Natur war, nun zum umgekehrten Fall. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gibt es auch immer wieder den Gedanken, der Mensch trage ein Rätsel in sich, das nur durch die Durchleuchtung der ihn umgebenden Welt zu lösen sei. 90 Volney 1791, S. 9 und passim 385 4.1. Delisle de Sales und die Illuministen In Delisle des Sales’ De la philosophie de la nature ist der Mensch nicht mehr das Modell der Naturdeutung, ja: er kann seine eigene Bestimmung nicht mehr in sich lesen, da er die Sprache seines Herzens missversteht: Mais l’homme n’est pas toujours à portée d’entendre les oracles qui partent de son cœur; souvent, à force de se contredire, il l’oblige à se taire […] Il est donc nécessaire que la saine Philosophie écarte le voile qui semble envelopper la Nature. Puisse-t-elle un jour faire pour le monde moral ce que l’auteur de la gravitation a fait pour le monde physique! 91 Delisle de Sales versucht diese Erschließung des monde moral durch die Natur mit Hilfe einer Systematisierung der Naturrechtslehren von Pufendorf, Cumberland, Burlamaqui und anderen, wobei er besonders auf die Einbindung des Menschen in das große Ganze der Natur im Sinne seiner Zeit abhebt. Das Ergebnis deckt sich in vielerlei Hinsicht mit den Auffassungen von ‘natürlicher Moral’, deren eine wir bei Volney kennen gelernt haben, wird aber mit ungewöhnlich hohem Aufwand durchgeführt. So durchläuft Delisle de Sales’ Philosophie de la nature praktisch die gesamte Menschheitsgeschichte, um die aus der Natur angeblich abgeleiteten Vorstellungen von bienfaisance, Gesellschaftlichkeit und ‘Menschlichkeit’ als Maßstab an alle betrachteten Epochen anzulegen. Es kann hier nicht geklärt werden, ob diese Begründung der Moral aus der Natur gelingt. Es geht uns hier vielmehr um das Beispiel eines Blicks in die umgekehrte Richtung: Der Mensch kann seine eigene Natur nicht mehr verstehen und benötigt als Schlüssel dazu die ihn umgebende Natur. Der Gleichklang des Mikrokosmos mit dem Geschehen im Makrokosmos ist ein wieder herzustellender Urzustand, der durch genaue Betrachtung des Makrokosmos ermöglicht werden soll. Erwartungsgemäß ist die Blickrichtung vom Makrokosmos auf den Mikrokosmos bei den Martinisten nur am Rande zu konstatieren, denn die Welt soll ja immer von der Form des Menschen her erschlossen werden. Wo allerdings beide aufeinander verweisenden Zeichen ruinenhaft sind, kann auch einmal der Mensch aus der Natur etwas über sich selbst entnehmen, vor allem dann, wenn ihm gute Intelligenzen durch natürliche Zeichen übermittelt werden. Diese sind ein Weitertragen des göttlichen Schreibens in die Natur: ces Agens sur lesquels Dieu écrit sans cesse aujourd’hui, comme il écrivoit autrefois sur l’homme, et qui à leur tour écrivent sur toutes les parties de l’Univers, afin que l’homme soit par-tout à portée de s’instruire. 92 91 Delisle de Sales 1770, I, S. xxxiii und xxxv 92 Saint-Martin 1782, II, S. 105 386 Gerade die Korrespondenzen können den Menschen über sich aufklären. So lässt sich die gesamte Struktur der Schöpfung und die Heilsgeschichte am Regenbogen ablesen, von den sieben Geistern, die die universelle Schöpfung in ihrer Funktion halten, über den Engelsfall bis zum Fall des Menschen. 93 Insofern, als dieser Fall entscheidende Spuren im Menschen hinterlassen hat, kann man sagen, hier erkläre die Natur dem Menschen das Rätsel seiner Herkunft. In ähnlicher Weise waren das Buch der Heilsgeschichte und das Buch der Natur bei Martines de Pasqually (nicht ohne Probleme, wie wir sahen) durch intertextuelle Verweisbeziehungen miteinander verbunden. 4.2. Das Pathos des Sublimen: Senancours Naturmeditationen Der Verfall der menschlichen Natur, erfahren und gedeutet in meditativer Betrachtung wilder Landschaft, ist ein Zentralmotiv im Frühwerk Édmond de Senancours, das noch dem achtzehnten Jahrhundert angehört. Er, der gerne als „dernier disciple de Rousseau“ bezeichnet wird, 94 erweist sich auch als ‘dernier disciple de Volney’, was die Form betrifft; gelesen hat er zumindest die Ruines. 95 In den im Jahr nach Volneys berühmtem Buch erschienenen Premiers ages begibt sich der Erzähler in die „sublimes deserts“ der Alpen, die nun die Ruinen als Ort der Meditation abgelöst haben. Damit ist der Topos der sublimen Landschaftserfahrung angesprochen, mit dem wir uns in Kapitel IV, 3.2.2. noch befassen werden. So viel sei an dieser Stelle angemerkt: Anders als die rhetorische Tradition entwickelte Addison am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts eine Konzeption des Sublimen, die nicht literarisch ist, sondern in der Betrachtung der Natur eine Selbstüberschreitung des Betrachters anstrebt. 96 Die Diskussion um das Sublime können wir hier nicht näher verfolgen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass auch in Frankreich, etwa in Silvains Traité du Sublime, das Sublime als Erhebung der Seele zu einem Ziel „dans la nature“ erscheint. 97 Die sublime Naturerfahrung ist also eine Überschreitung der (gegenwärtigen) Verfassung des Menschen im Angesicht von Größe der Landschaftsformationen, Gewalt der Witterungsphänomene, Einsamkeit. Ob die Beiräge von Burke und Kant zur Theorie des Sublimen bei Senancour von Bedeutung sind, ist fraglich. Aber schon in dem, was wir bis hier- 93 „Rapports spirituels et temporels de l’arc-en-ciel“ in: Saint-Martin 1807, II, S. 135ff. 94 So im Titel der Arbeit von Lévy 1979. Diese Zuordnung gilt nicht nur, was die vertretenen Positionen betrifft, sondern auch für die Motivik etwa von Senancours frühem Roman Aldomen, der eine an Clarens gemahnende idyllische Rückzugswelt in den Bergen beschreibt. 95 Dies hat Didier 1988 anhand von nachgelassenen Dokumenten bewiesen. 96 Vgl. Addison 1712, Essays 409 und 411-421 und Crowther 1998, S. 202, sowie unser Kapitel IV, 3.2.2. 97 bei Knabe 1972, S. 453. 387 hin erfahren haben, findet sich das für Senancour Wesentliche. Wir werden darauf zurück kommen. Senancour greift Volneys Technik einer Allegorie aufklärerischen Inhalts, aber pathetischer, geheimnisvoller Atmosphäre auf. Allerdings baut er nicht, wie Volney, Pathos auf, um es sodann zurückzuweisen. Es wird vielmehr konsequent durchgehalten und dient auch der Unterstreichung der pessimistischen Gesamtkonzeption. Die Sublimität der Alpenregion, ihrer Einsamkeit und ihrer Stürme, ermöglicht das Pathos leidvoller Erkenntnis. Die Landschaft wird, ähnlich wie am Anfang von Volneys Text die Ruinen, mit emotionaler Beteiligung gelesen: In ihr zeigt sich die Verlorenheit des Menschen im All. 98 Sie wird sodann zum Ort einer Anrufung Gottes und der Natur - aber kein génie erscheint, die leidvolle Erkenntnis ist zunächst einmal eine Erkenntnis des Ungehörtbleibens: La nature ne m'entend pas […] l’univers se tait […] 99 Die Natur als Person, als Projektion des Menschen, antwortet nicht. Auch Gott, der hier nur noch als „Principe universel“ auftaucht, bleibt fern. 100 Selbst als Schöpfer gewinnt er keine persönliche Gestalt; die Entwicklung der Erde aus dem Chaos wird in ganz materialistischen Termini beschrieben. 101 Aber auch der Mensch, den der Ich-Sprecher nun anruft, antwortet nicht, denn er ist aus gewissermaßen entgegengesetzten Gründen fern: Er hält sich für gewöhnlich nicht in diesen sublimen Höhen auf, sondern weilt unten im Tal, wo er sich belangloser Geschäftigkeit überlässt. 102 Der Mensch hat sich aus der urtümlichen Natur in eine verfälschte, weil bewirtschaftete Natur begeben. In Abwesenheit von tatsächlichen Menschen versucht das Ich, die unwandelbare Natur des Menschen aufzurufen, um von ihr Antwort auf seine Fragen zu erhalten, aber auch sie gibt keine Antwort. Aber gerade das ist die Antwort. Ähnlich wie bei Rousseau hat sie sich nämlich verflüchtigt, es gibt sie gar nicht. Der Mensch war nicht immer, wie er heute ist, aus dem heutigen Zustand kann man keine ursprüngliche Kultur schließen. Wer könnte […] […] nombrer ces siècles oubliés, où, avant de devenir souverain infortuné des autres animaux, l’homme encore leur égal, naissoit sans douleur, se sustentoit sans inquiétude, & finissoit en s’ignorant lui-même […] 103 Damit wendet sich Senancour gegen Court de Gébelins Rekonstruktion einer ursprünglichen Kultur aus der stets gültigen Menschennatur und setzt dagegen eine aus Rousseau entwickelte Vorstellung vom Geworden- 98 Senancour 1792, S. 8 99 Senancour 1792, S. 25 100 Senancour 1792, S. 9 101 Senancour 1792, S. 17 102 Senancour 1792, S. 26 103 Senancour 1792, S. 24 388 sein des Menschlichen. Die Überschreitung der aktuellen conditio humana, die wir oben als Bestandteil sublimer Naturerfahrung dargestellt haben, leistet hier die Verabschiedung eines allzu selbstverständlichen, fest gewordenen Menschenbildes. Hier oben, in der Einsamkeit der Natur, verflüchtigen sich die falschen Gewissheiten über den Menschen. Gleichwohl wird ohne nähere Begründung dann doch ein ursprünglicher Zustand postuliert, wenn auch kein menschlicher und schon gar kein kultureller: Der Mensch war anfänglich ein Tier wie die anderen. Hier taucht auch ein Begriff auf, den wir schon kennen, die inquiétude. Dass sie früher im Gegensatz zu heute kein Zug des Menschen war, belegt hier, dass der Mensch ursprünglich kein Fremder in der Natur, sondern ein Tier war und als solches glücklich. Seine gegenwärtige Unruhe belegt im Gegensatz dazu seine gegenwärtige Entfernung von dieser selbstverständlichen Einbindung in die tierische Natur. Wieder ist die inquiétude also Indiz eines Mangels, der hier nur umgekehrt interpretiert ist: Nicht, weil der Mensch der irdischen Natur, in der er sich aktuell befindet, eigentlich nicht angehört, wird er umher getrieben, sondern weil er ihr eigentlich angehören müsste, sich jedoch von ihr entfernt hat. Die tierische Vergangenheit des Menschen wird so zum neuen Garten Eden. Die Zivilisationsgeschichte ist eine Dekadenzgeschichte, und erst durch die Perfektionierung in ihr ist der Mensch geworden, was er ist: ein sozusagen ‘entartetes’ Tier, das durch prévoyance und souvenir unglücklich und ängstlich geworden ist. Rousseaus Vorstellung von der Historizität des menschlichen Wesens wird so gegen die häufigere, etwa bei Court anzutreffende Konzeption von seiner Unwandelbarkeit verteidigt. 104 Die Entwicklung des Menschen zum Herren der Natur, der er ursprünglich nicht war, wird als Schuldverstrickung dargestellt, als Fall von dem ihm eigentlich zugedachten Ort, mithin als Sündenfall: [l’homme…] fera de lui-même un je ne sais quoi discordant avec le tout, & d’un animal, la proie de plusieurs autres; & destiné de ne faire la sienne d’aucun, va devenir le fléau de tous. 105 Die Vorstellung, der Mensch verliere seinen richtigen Platz im Gesamtzusammenhang durch eine Art erworbenen Raubtierwesens, haben wir bei der kurzen Begegnung mit Jean Antoine Gleizes im ersten Kapitel dieser Untersuchung schon kennengelernt. Auf Gleizes’ vegetarische Version des Sündenfalls werden wir gleich noch zurück kommen. Die Zivilisations- und Gesellschaftsfähigkeit, die den Weg aus der Tiernatur erst richtig ermöglichen, sind nun nach Senancour im Menschen zwar angelegt, aber nur durch ein Spiel von Zufällen aktualisiert worden - ganz, wie wir es oben 104 Senancour 1792, S. 34f. und 44. 105 Senancour 1792, S. 48 389 schon bei Rousseau gefunden haben. 106 Senancour übernimmt außerdem Rousseaus Verklärung des Hirtenstadiums der Menschheitsgeschichte. 107 Kurz darauf aber entdeckt der Mensch seinen Drang zu ungebremstem Fortschritt. 108 Dass der solchermaßen zivilisierte Mensch nicht mehr an seinem Platz, nicht mehr in Harmonie mit der Natur ist, zeigt sich in seiner naturwidrigen Destruktivität: […] ce qui prouve qu’il n’est plus dans un rapport naturel avec le tout, c’est que toutes ses opérations sont marquées par la destruction, que son ouvrage est sans cesse en opposition avec celui de la nature. 109 Auch die Religion gehört zu den Fehlleistungen der Kultur, und wie bei Volney und Dupuis wird sie als falsche Lektüre urtümlicher Mythen erklärt. Senancour setzt dagegen eine auf Naturphänomene ausgerichtete Allegorese des Genesiseingangs, in der etwa die sechs Schöpfungstage einfach als sechs Stadien der Entfaltung der Natur gedeutet werden. 110 Diese Säkularisierung einer „fameuse allégorie orientale“ 111 ist polemisch gegen Court de Gébelin gerichtet (auch in der Formulierung - man erinnere sich an den Bandtitel Trois allégories orientales aus dem Monde primitif). Die Naturbetrachtung liefert also, wenn sie nicht spekulativ betrieben wird, doch Fingerzeige für das Verständnis des Menschen. Nicht die personifizierte Naturgöttin, die nach menschlichem Bilde gemacht ist, sondern die Erfahrung der wilden Natur vermag die Fragen des Menschen zu beantworten. Die Selbstüberschreitung des Ich in der sublimen Naturerfahrung begründet eine neue Sicht auf den Menschen, die nun von der Natur ausgeht, den Mikrokosmos vom Makrokosmos aus deutet. Der unvoreingenommene, nichts Transzendentes mehr suchende Blick des Erzählers wird so doch noch mit einer (als ironisches Zitat eingeführten) ‘Offenbarung’ belohnt. In der abschließenden Rêverie, deren Titel an Rousseau erinnert, wird dem Wanderer im Gebirge nämlich eine übernatürliche Mahnung zuteil: […] votre devoir c’est d’être heureux. 112 Damit sind wir natürlich wieder bei Court de Gébelins Einsetzung des Menschen in das natürliche Glück, und auch die übernatürliche Stimme, die dieses Wort spricht, spielt auf die religiöse Fassung dieser Bestimmung des Menschen bei Court de Gébelin an. Dass gerade die transzendente Stimme nichts Transzendentes zu verkünden weiß, macht jedoch die säku- 106 Senancour 1792, S. 50 107 Senancour 1792, S. 60 108 Senancour 1792, S. 64 109 Senancour 1792, S. 66 110 Senancour 1792, S. 69-74 111 Senancour 1792, S. 76 112 Senancour 1792, S. 84 390 lare Absetzung von Court besonders plastisch. Von der großen Ordnung, die etwa in der Religion gegeben wäre, ist nichts zu hören. Die besondere Wendung bei Senancour liegt freilich darin, dass der Mensch die Natur nicht weiter verunstalten soll, sie nicht nach seinem eigenen, durch die Zivilisation entstellten Bilde zurecht stutzen soll. Analog zu einer paulinischen oder illuministischen Vorstellung eines durch den Menschen herbeigeführten Falls der Natur (aber, wie wir sahen, auf ganz anderen Grundentscheidungen aufbauend) wird hier, am Übergang zum Zeitalter der industriellen Revolution, bereits der Umgang des Menschen mit der Natur problematisiert. Wir werden einen ähnlichen Gedanken (vor anderen Hintergründen) bei Saint-Martin finden. In der Tat ist die unzugängliche Alpenregion gerade deshalb ein Beispiel sublimer Landschaft, weil der Mensch hier noch nicht eingegriffen hat: ces lieux augustes que l’homme n’a pu encore défigurer. 113 In einer allegorischen Erzählung steigt nun der Erzähler, vom Hunger, also seinen Bedürfnissen, getrieben, immer weiter ins Tal und verstrickt sich dabei immer mehr in die Zwänge des Besitzes, der Gier und der Tyrannei. Die Bedürfnisse des Menschen sind hier also nicht mehr wie noch bei Condillac Anleitungen zum guten Leben, sondern Instrumente der Verstrickung. Bereits die Tatsache, dass der Hunger den Erzähler zu den Ackerbauern ins Tal und nicht etwa zum Pilzesammeln in die Einsamkeit der Wälder treibt, zeigt, wie sich eben auch die Natur der Bedürfnisse von der Kultur verfälschen lässt. In seinem entfremdeten Leben dort unten hat der Wanderer jedoch eine Vision von einer Schrift in den Lüften vor Augen, die - ähnlich wie die Lehren des Gespenstes bei Volney - gegen Tyrannei und falsche Religion, für eine freie Menschheit eintritt. Als der Erzähler erwacht, erinnert er sich der Geisterschrift und zieht daraus noch eine abschließende kritische Wendung gegen zwei Denker, deren Vorstellungen er bis dahin (unter anderen) widersprochen hat: ce ne fut que à l’aide de ces caractères sacrés, que je discernai quelques erreurs et quelques vérités. 114 Wir haben schon gesehen, dass diese Formulierung der erreurs und der vérité von Saint-Martin ebenso wie von Condillac verwendet wurde und möglicherweise sogar eine polemische Bezugnahme des einen auf den anderen trägt. Senancour radikalisiert Condillac und säkularisiert Saint- Martin. Condillacs Vorstellung der Anleitung des Menschen durch die naturgegebenen besoins hatte ja eine normative Seite: Die besoins konnten auch in die Irre führen, wenn sie unnatürlich wurden, wenn auch dies für Condillac kein grundsätzliches Problem darzustellen schien. Man musste 113 Senancour 1792, S. 83 114 Senancour 1792, S. 106 391 darauf achten, nahe an der Natur zu bleiben, aber die Lebensform seiner Zeit schien Condillac dies nicht in besonderem Maße zu erschweren. Für Senancour ist im Gegenteil der gegenwärtige Zustand des Menschen so weit vom ursprünglichen entfernt, dass wir von den vorfindlichen besoins nicht mehr auf die ursprüngliche Natur des Menschen zurück gelangen können. Die Genese ist durch die Kontingenz der Geschichte ersetzt, und kaum etwas verbindet den Menschen noch mit dem Tier, das er einst war. Saint-Martins Des erreurs et de la vérité, das Senancour aufmerksam gelesen hat, 115 bietet in seiner Betonung der Verfälschung des menschlichen Wesens und sogar der zerstörerischen Einwirkung des Menschen auf die Natur hier eher Ansatzpunkte für eine Anverwandlung, wenn auch diese aufgrund der eingangs aufgezeigten religiösen Skepsis Senancours säkularisierend ausfallen muss. Deshalb erscheint Saint-Martins vérité hier auch im Plural: der Totalitätsanspruch der göttlichen veritas kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Mit Saint-Martin, vor allem aber mit Rousseau verbindet Senancours Menschheitsgeschichte jedoch die Grundform der Erklärung des Gegenwärtigen aus einer Sündenfallserzählung. Diese tritt zwar weniger dogmatisch in Erscheinung. Senancour bemüht sich mehr als die beiden Genannten um eine Begründung seiner Thesen aus Naturbeobachtung und äußert, wie wir sahen, Skepsis gegenüber allzu zuversichtlichen Rekonstruktionen des ursprünglichen Menschenwesens - aber auch er kann seine Geschichtsthesen nicht wirklich empirisch begründen. Vielmehr ist seine sublime Naturerfahrung letztlich, wie Rousseaus illumination de Vincennes und Saint-Martins voie intérieure eine Art Schau. So ist zwar der Offenbarungscharakter der im Traum erblickten Geisterschrift bei Senancour in größerem Maße als bei Volney ironisch und zitathaft. Viel mehr als dieser hat nämlich Senancour seine Thesen induktiv gewonnen und argumentativ abgestützt und, wo er keine Sicherheit fand, den Zweifel stehen gelassen. Der Begriff sacré zeigt jedoch auch hier auf einen Restbestand von Offenbarung. Was bei Volney nicht gelingt, ist auch hier nur teilweise eingelöst: eine vernünftige Darlegung der conditio humana auf die bloße Natur bezogen, die bei Senancour unter der Hand selbst wieder heilig wird. In den Rêveries sur la nature primitive de l’homme setzt Senancour diese säkularisierende Umformung der Naturverehrung fort, wobei durch den Begriff der Rêverie die Anlehnung an Rousseau (Les Rêveries du promeneur solitaire) markiert ist. Die richtige Interpretation der Natur wird hier zur Grundlage für die Rückführung des Menschen in ihren Schoß: J’ai vu la nature mal interprétée, j’ai vu l’homme livré à de funestes déviations: j’ai cru entendre la nature, j’ai desiré ramener l’homme. 116 115 Vgl. Lévy 1979, S. 254. 116 Senancour 1800, S. 3 392 Der Mensch, der, so die „Première Rêverie“, auf ein Weiterleben nach dem Tode nicht hoffen darf, ist nicht gut und nicht schlecht, nur mehr oder minder gut in die Natur integriert; darauf muss, so die „IXe Rêverie“, die Erziehung zielen. Die „XIIIe Rêverie“ präsentiert eine kritische Genealogie der Metaphysik nach dem Vorbild von Volneys Genealogie der Religion. 117 Die Natur erscheint als großes Ganzes, das aber keine personalen Züge trägt; die Welt ist materiell. Bewegung, Leben und Substanz sind nur verschiedene Modifikationen der Materie. 118 Gleichwohl gibt es das Ewige, weit weg und fast ohne Bezug zum Menschen außer dem einen, über die Naturordnung dessen Rationalität ‘emaniert’ zu haben, wie es in der „XIVe Rêverie“ heißt: L’Eternel est; s’il nétoit pas, rien ne seroit […] L’infinité, la puissance et l’ordre sont nécessairement inséparables. La raison humaine est une émanation de l’ordre, elle suffit donc à la morale. 119 Der Begriff der Emanation ist eine weitere Säkularisierung, in diesem Falle einer neuplatonischen Vorstellung, die im Illuminismus eine wichtige Rolle spielt. Aus der eingeborenen Rationalität des Menschen kann eine natürliche Moral gewonnen werden, weil sie, ebenso wie bei Court de Gébelin, immer schon Bestandteil der kosmischen Ordnung ist. Sie ist nicht subjektiv, einer Objektwelt gegenübergestellt, sondern von seiner ‘Nische’ in einem Bezug zum Ganzen gehalten, der ihre Angemessenheit garantiert. Die universelle Harmonie, dieser ordre, ist die säkulare Version der christlichen Naturreligion Court de Gébelins und fügt sich in die Tendenz holistischer Naturbetrachtung des achtzehnten Jahrhunderts. Nicht mehr der Mensch ist nun also der Schlüssel zur Natur und zur Welt, sondern umgekehrt: Aus der richtigen Lektüre der Natur lässt sich die verschüttete Natur des Menschen wieder gewinnen. Die wilde, ungezähmte Natur ist authentischer als die bebaute Natur im Tal, ihre Erfahrung ermöglicht eine Selbsttranszendenz im Sinne des Sublimen, die die menschliche Natur des Mikrokosmos wieder für die große Natur öffnet. Das Zeichen, das den verschütteten Text des Menschen zu deuten hilft, ist demnach ein sublimes, aber gerade dadurch doch noch ein geoffenbartes. 117 Senancour 1800, S. 184-185 118 Senancour 1800, S. 192 119 Senancour 1800, S. 193 393 5. Mensch und Welt als einander deutende Ruinen: Les nuits élyséennes von Jean Antoine Gleizes Volney bezieht sich, wie wir sahen, auf eine zeitgenössische empfindsame Form der Ruinen-Dichtung. Das Pathos der Ruinen aber überwindet er mit Hilfe des ganz aufklärerischen Geistes der Ruinen selbst. Die Betrachtung der Ruinen lässt die Ruinen-Melancholie hinter sich, die doch gleichwohl die emotionale Energie für die persuasio der aufklärerischen Rede bereitstellt. Gehen wir aber noch einmal zurück zu jenen anfänglichen, sentimentalen Meditationen des Ich-Sprechers: Hélas! j’ai parcouru la terre; j’ai visité les campagnes et les villes; et voyant partout la misère et la désolation, le sentiment des maux qui tourmentent mes semblables a profondément affligé mon âme. Je me suis dit en soupirant: „L’homme n’est-il donc créé que pour l’angoisse et pour la douleur? “ Et j’ai appliqué mon esprit à la méditation de nos maux, pour en découvrir les remèdes. J’ai dit: „Je me séparerai des sociétés corrompues; je m’éloignerai des palais où l’âme se déprave par la satiété, et des cabanes où elle s’avilit par la misère; j’irai dans la solitude vivre parmi les ruines; j’interrogerai les monuments anciens sur la sagesse des temps passés […] “ 120 Dieses Pathos der einsamen Meditation über ein vermeintlich zum Unglück verdammtes Menschengeschlecht, über die vergangenen Zeiten, deren Ruinen von einem verlorenen Glück und einer verlorenen Weisheit künden, wird von Volneys génie relativiert. Weder ist der Mensch immer unglücklich, noch sind die vergangenen Zeiten immer besser gewesen. Sie liefern lediglich Material zu aufgeklärter Geschichtsbetrachtung, aus der im Einklang mit den Naturgesetzen eine ebenso aufgeklärte Politik zu gewinnen ist. Im Kapitel I, 3.3.3. dieser Untersuchung wurde ein Abschnitt aus dem Roman Les nuits élyséennes von J. A. Gleizes zitiert, der in seinen Formulierungen an diese Passage aus Volneys Ruines anzuschließen scheint. In der Tat stellt der Roman in mancher Hinsicht eine Korrektur an Volney dar, wenn auch beide Texte gewisse Voraussetzungen miteinander teilen. J’ai vécu seul sur la terre, cherchant le vent, les eaux, et les sites les plus tristes: je voulais démêler les énigmes de la vie, et voir comment la douleur était liée dans le systême du monde. L’homme seul gémit sous les cieux: il n’y a point pour lui d’ombrage sur cette terre où tous les êtres goûtent le repos. En vain le sommeil vient le couvrir de sa douce obscurité, le sommeil appartient à la vie. C’est la mort qui est son véritable asyle. 121 Auch der Sprecher dieser Passage fragt nach dem Unglück des Menschen, nach seiner Stellung in der Natur - und, wie wir sehen werden, zieht auch 120 Volney 1791, S. 13-14 121 Gleizes 1801, S. 267 394 er in die Einsamkeit der Ruinen, um auf seine Fragen Antwort zu erhalten. Aber ihm erscheint kein optimistischer Ruinengenius, um ihn von seiner Schwermut abzubringen. Gleizes behauptet gegen Volneys Version, dass die Rede der Ruinen von Verfall, Abfall, Sündenfall und Fremdheit spricht, und dies mit schwermütiger Stimme. Dem allopathischen Konzept Volneys stellt er ein homöopathisches gegenüber: Nicht distanzierende, sondern nachvollziehende Lektüre (nicht nur der Ruinen) schlägt er vor, jedoch mit dem Ziel, die Schwermut der Betrachtung zu durchsteigen und letztlich ebenfalls zu überwinden, negative Emotionalität mit Hilfe von Emotionalität durcharbeitend zu transzendieren. Denn auch für Gleizes gilt es, aus der Betrachtung der Welt zu lernen, dass der Mensch in ihr glücklich sein kann, wenn er nur der Natur folgt. Wie später in Nervals Sylvie sind auch hier die Ruinen eine Fortschreibung der auf Erschütterung und Bildung des Betrachters ausgerichteten Mahnmale in den Landschaftsgärten des achtzehnten Jahrhunderts, in denen man sich gerührt ergehen soll; 122 mehr als diese jedoch sprechen sie, wie wir sehen werden, von der Natur - nicht so sehr von der Kultur und ihrer Hinfälligkeit. Dass die Lektüre einer Welt aus ruinenhaften Zeichen in den Nuits élyséennes eine emotionsbeteiligte Lektüre ist, zeigt sich schon in der Anlage des Rahmens. Zunächst wird in einem Vorwort der Leser eingeladen, den Schmerz der Autorfigur um ihren kürzlich verstorbenen Vater mitzuvollziehen. Damit wird zugleich ein zweites wichtiges Thema eingeführt, das ebenso wie die Spurendeutung mit Kommunikation zu tun hat: Die Vaterschaft (und Mutterschaft) als Einweisung in das Leben und die Welt. Die Weitergabe von Weltwissen durch die Vaterfigur ist dabei nur eine mindere Form der Welterfahrung am Busen der Mutterfigur schlechthin, der Natur. Wichtig ist jedoch, dass der Leser schon mit diesem Vorspiel auf Gefühlsbeteiligung geeicht wird. Insofern erschließt sich ihm auch sofort die Perspektive der Erzählerfigur am Anfang der eigentlichen Erzählung als ein zu gleichgestimmtem Mitvollzug einladender sentimentaler Blick. Der unbenannte Ich-Erzähler wandert am Beginn der Geschichte in einer stürmischen Nacht durch die Montagne Noire, die mit ihrer Düsternis, Einsamkeit und Erhabenheit einen Hintergrund des Sublimen abgibt und den sie Durchwandernden erschüttert, aus sich heraushebt und so zur Teilnahme vorbereitet. Hinzu kommt, dass diese Landschaft in gewisser Weise symbolisch auf die Schauplätze des eigentlichen Geschehens hin geöffnet ist, steht sie doch durch die in ihr vorherrschenden Südwinde, „le vent funèbre du midi,“ 123 in Kommunikation mit dem südlichen Mittelmeerraum. Dort nämlich spielt sich die Handlung ab, die dem Erzähler von Kantzi, einem Bergbewohner, den er auf seiner Wanderung antrifft, berichtet wird. Kantzi wird sozusagen als Ruine eingeführt, die zur Lektüre auf- 122 Vgl. Sylvos 2000, S. 82-85 123 Gleizes 1801, S. 232 395 fordert, denn er ist ein vorzeitig gealterter, durch ungezügelten Bartwuchs entstellter Mann mittleren Alters, dessen melancholischer Blick im Verein mit der ihn umgebenden düsteren Landschaft seine den Hauptteil des Buches einnehmende Lebensgeschichte von vornherein als Verlustgeschichte markiert. Béni soit, me disais-je, le vent qui a poussé vers ces bords cet homme infortuné! que de choses j’ai lu sur son front! […] En vain j’aurais erré dans cette région déserte […] , la nature fût restée voilée pour moi, ou un rude langage eût été le seul que j’eusse entendu; mais l’ombre du palmier m’a dit tout ce que je devais apprendre, un soupir de cet infortuné a enlevé mon ame. 124 Die Lektüre der Stirn dieses Unglücklichen liefert den Schlüssel zu den Rätseln der Natur, aber diese Lektüre muss eine emotionale sein, denn erst durch den angemessenen Nachvollzug der Seufzer Kantzis wird die Seele seines Zuhörers zu diesem Verständnis befähigt. Das rätselhaft verfinsterte menschliche Zeichen erläutert sich selbst, indem es seine Geschichte erzählt und den Erzähler ebenso wie den impliziten Leser zur emotionalen Teilhabe bewegt. Die Erkenntnisse über Natur und Welt, die sich auf dieser Stirn lesen lassen, sind zum Teil selbst Lesefrüchte Kantzis auf seinem schmerzvollen Lebensweg - in diesem Licht werden wir sie weiter unten in einer Rekonstruktion dieses Lektürewegs kennenlernen. Teils sind sie aber auch mitgeteilte Erkenntnisse, die sich ihm auf dem schon angesichts des Vorworts kurz angesprochenen Wege väterlicher Unterweisung erschlossen haben. Neben die Spurenlese in der mütterlichen Natur tritt nämlich auch im Roman selbst die Unterweisung in Rede und Tat durch eine Vaterfigur, eine Art Adoptiv-Vater, aus dessen Lehren der Unbekannte ein eigenes System der Natur weiterentwickelt hat. Die wesentlichen Punkte dieser Lehre seien vorab kurz umrissen. 5.1. Esoterische Naturreligion Der Adoptivvater Kantzis ist ein Weltmüder, dessen Erkenntnisse aus der Erfahrung gewonnen sind. 125 Er ist orientalischer Herkunft und verweist damit auf eine bereits zu Gleizes’ Zeiten anerkannte Herkunft esoterischer Weisheit. 126 Er ist jedoch ein ‘Aussteiger,’ der seinerseits den Ort der Ver- 124 Gleizes 1801, S. 230 125 Gleizes 1801, S. 86 126 Besonders durch die Übersetzung des Zend-Avesta durch Anquétil Duperron (s.o.), aber auch durch andere Kunde von den Lehren des mittleren und sogar fernen Ostens war bereits das 18. Jh. von der Weisheit der orientalischen Völker überzeugt. Die Philosophiegeschichtsschreibung ebenso wie die Theosophie und die verschiedenen Traditionen der philosophia perennis bemühten sich, diese östlichen Traditionen an einen authentischen Traditionsstrang anzubinden, welcher alles als wertvoll Erkannte 396 wirklichung seiner eigenen, in Schmerzen gefundenen Weisheit im ‘Westen’, genauer gesagt, in der arabischen Wüste, gesucht hat: „l’Arabe est toujours le premier des mortels,“ 127 und zwar deshalb, weil der Araber in der Kargheit der Wüste auf das Wesentliche beschränkt ist, keine aufwändige Kultur verwirklichen kann und daher frei ist, die Strenge, aber auch die Güte der Natur besonders unmittelbar an sich zu erleben. 128 Die hier gemeinte Weisheit ist also gerade keine solche der Tradition, sondern der Selbst- und Naturerfahrung. Selbst der in esoterischen Traditionen groß gewordene Orientale verlässt seinen Kulturkreis, um in einer kulturlosen Umgebung, in der Deutung und involvierten Erfahrung der Natur, die eigentliche Natur-Weisheit zu suchen. Was nun den Inhalt der Lehre angeht, so ist dieser ein „Zurück zur Natur“ in einer spezifisch religiösen Lesart. Die Natur erscheint als quasi göttliche Instanz, von welcher physische Zwänge auf den Menschen ausgehen, die dieser in dem Maße, in dem er sie durch Kultur umgehen könnte, zugleich als moralische Gebote interpretieren und auf sich nehmen muss. Zugleich ist der Mensch in seinem Handeln von bewegenden höheren Energien beeinflusst, die ein wenig den Intelligenzen des Martinismus ähneln, aber gänzlich als innerhalb der Natur wirkend gedacht werden müssen, so wie auch das Feuer und die Sonne höhere Agenten der Natur sind. 129 In dieser Naturreligion gibt es auch einen Sündenfall, dessen spezifische Natur auch für Gleizes’ späteres philosophisches Schaffen zentral bleiben wird: Der Mensch ist aus der Harmonie mit der Natur herausgetreten, als er begann, gegen seine Natur Tiere zu töten und zu verzehren - ein Motiv, das im achtzehnten Jahrhundert seit Pope gelegentlich auftaucht. 130 aus einer ursprünglichen, vielleicht sogar geoffenbarten, Überlieferung erhalten haben sollte. 127 Gleizes 1801, S. 36 128 Gleizes 1801, S. 87-89 129 Gleizes 1801, S. 105 und Gebet des Alten an das Feuer S. 97-98. 130 Vgl. „An Essay on Man“, III. Epistel, § IV in: Pope 1994, S. 64-65. Gauchat 1758, VIII, S. 301, kritisiert Pope vom Standpunkt der Kirche, aber auch der Vernunft: Es ist für ihn nicht einzusehen, warum etwas, das von allen als legitim empfunden wird, Sünde sein kann; außerdem sei es nicht plausibel, wie dieser Sündenfall zum gegenwärtigen Unglück des Menschen führen hätte sollen. Aber Gauchat liest hier nicht genau. In der I. Epistel macht Pope klar, dass der Stolz, die superbia, auch für ihn hinter dem Sündenfall steht. Der frühere Vegetarismus des Menschen ist für ihn zwar der Urzustand, aber nicht unbedingt schon identisch mit der Sündelosigkeit. Die Fleischfresserei ist die Folge des Stolzes, der Selbstüberhebung, und eigentlich Bestandteil der Zivilisation, die hier im Rahmen des Mythos vom Goldenen Zeitalter als egoistische Verfallsstufe auftaucht. Pope nimmt aufgrund seiner Lehre von der Kette der Wesenheiten an, Harmonie mit den anderen Wesen bestünde auch darin, sich keine Nachbarn auf der Kette als Nahrung zu nehmen. Darin nähert er sich pythagoreischen Lehren, ohne jedoch die für Pythagoras den Vegetarismus fordernde Metempsychose anzunehmen. Der Stolz jedoch durchbricht die Kette der Wesen, denn er verleitet dazu, die anderen Glieder der Kette, in diesem Fall die Tiere, gering zu 397 Dementsprechend nimmt das Lob des Vegetarismus eine wichtige Position im Roman und bei Gleizes überhaupt ein. 131 Diese Einheit mit der Natur sieht der Alte in der inzwischen versunkenen Kultur Ägyptens exemplarisch verwirklicht und stellt sich damit in eine lange Traditionsreihe von Denkern, die die Weisheit im alten Ägypten suchten (und zu denen, wie wir sahen, die Martinisten nicht gehören wollten). Aber nicht in der Hermetik als einem auserwählten Priestern geoffenbartem Einblick in das innere Wirken der Natur sieht er die Weisheit Ägyptens, sondern in der beispielhaften Umsetzung des Naturrechts und der natürlichen Moral. Dies fasst er als normative Umformung der seit Montesquieu gängigen Beobachtung, dass die Gesetze und Sitten der Völker vom jeweiligen Klima abhängig seien: Mais un peuple soumis à une législation, à une religion, à des mœurs fondés sur le climat, sera nécessairement infiniment sage, parce qu’en suivant ces choses il ne fera que suivre sa pente naturelle […] Ils ne chercherent point loin d’eux les principes de leur conduite; ils les reçurent de la terre qu’ils habitaient, qui fut pour eux sacrée. L’Egypte était leur temple, et leurs prêtres étaient ceux de la nature. […] les Egyptiens étudiaient paisiblement l’histoire de la nature et en formaient leur premiere, leur principale histoire […] et c’était là leur religion, leur loi suprême: ils avaient vu que l’homme n’était point jeté au hasard sur la terre, qu’il tenait à tout et que s’il venait à s’éloigner de l’accord général des êtres, […] il périssait […] 132 Dass Sitten, Gesetze, ja Religion kausal durch das Klima beeinflusst sind und sich darauf zurückführen lassen, ist eine der zentralen Thesen von Montesquieus Esprit des loix. Ob daraus ein Wertrelativismus oder eine Technik des Überwindung widriger Gegebenheiten abzuleiten sei, diesbezüglich bleibt Montesquieu ambivalent. Gleizes nimmt nun die Grundschätzen. Lovejoy 1936, S. 236, situiert Popes Argumentation in der Tradition des Motivs der Kette der Wesen (siehe unten) als Spielart der Überlegung, der Gedanke an die Wichtigkeit jedes einzelnen Gliedes der Kette müsse Demut, nicht Stolz, nach sich ziehen. 131 Vgl. Gleizes 1801, S. 37-38 und S. 89. Gleizes war wie auch Charles Nodier Mitglied der Gruppe der médiateurs um den Maler David, welche sich für den Illuminismus, für fremde Religionen, aber auch für die Schule des Pythagoras interessierte und aus letzterer Tradition Argumente für den Vegetarismus gewann. Vor allem in seinem Spätwerk Thalysie ou la nouvelle existence, Paris 1840-42, wird die in Les nuits élyséennes angelegte Lehre vom karnivoren Sündenfall ausgearbeitet und in den Kontext eines Regenerationsauftrages an den Menschen gestellt: Er muss hinter der Welt der Erscheinungen die moralische Welt entdecken und richtig lesen, seine Dekadenz erkennen und den Weg seiner Spiritualisierung gehen, um, wie eine der wenigen heutigen Leserinnen Gleizes’ resümiert, die Einheit des Kosmos wieder herzustellen: „Man is charged with restoring the primitive unity of creation and allowing the cosmic principle to return unto itself.“ (Crossley 1989, S. 17) 132 Gleizes 1801, S. 42-43. Man beachte die Formulierung „jeté au hasard sur la terre“, die wir oben bei Volney fanden, und der hier widersprochen wird („point“), denn bei Gleizes ist die Naturordnung wieder religiös gefasst. 398 elemente von Montesquieus Anschauung auf, schichtet sie aber um: Gerade weil die Ägypter nicht versuchten, über die durch die Zwänge des Klimas und der Bodenbeschaffenheit gegebenen Sitten hinaus auf andere, kulturell machbare Lebensformen auszugreifen, gerade weil sie die „pente naturelle“ ihrer Konditionierung zum Sittengesetz erklärten, objektivierten sie jene durch den montesquieuschen Kausalmechanismus vorgegebene Harmonie mit der Natur, und darin besteht „la sagesse d’une nation.“ 133 Aus der Beobachtung der Kausalverkettungen des menschlichen und des natürlichen Seins schlossen sie (formal gesehen unberechtigterweise) die Notwendigkeit der Gegebenheiten und interpretierten sie einerseits als sinnstiftend und andererseits als unhintergehbar. Diese Vorgehensweise führt gewissermaßen eine Beobachtung und Beschreibung von Abläufen in eine Hermeneutik über, das Symptom wird zur Rede eines Subjekts, das man verstehen möchte - in diesem Falle der Natur. Die Natur interpretiert dann wiederum das anders nicht zugängliche moralische Gesetz im Menschen. Nicht nur ist der Mensch in diesem Roman Schlüssel zur Natur (wie in obigen Beispiel die Stirn Kantzis), die Natur ist auch der Schlüssel zum Menschen. Diesen Schlüssel haben die Ägypter inzwischen verloren. Und so ist es auch kein Zufall, dass der Übergang der Ägypter von ihrer früheren Weisheit zu dem Verfallsstadium der Romangegenwart als Verdunklung von Zeichen beschrieben wird. Früher war die Natur für die Ägypter sinnbildhaft: „ […] la nature entière n'était pour eux qu’une suite d’images.“ 134 Solche von der Natur an den Menschen gerichteten Bilder jedoch sind keine gesellschaftlichen Konventionen, sie konstituieren eine Rede, die sich an den Einzelnen, den Einsiedler richtet, der allein der Natur zuhört. Dies ist der tiefere Grund des Einsiedlertums des Alten und später auch Kantzis: Die Gesellschaft verunklart die ursprünglich dem einzelnen vorgetragene Bildrede der Natur, indem sie sie zu zweckgerichteten Verständigungsmitteln macht - darin findet sich ein Anklang an Rousseaus Sprachkritik. So bleiben den Ägyptern nur noch leere Symbole, die sie nicht mehr verstehen. 135 Dies ist eine originelle Beschreibung des Verfalls der ägyptischen Hieroglyphen, die sich mit derjenigen Saint-Martins berührt. Auch für diesen waren die eigentlichen Hieroglyphen natürliche Zeichen (wenn sie sich auch ursprünglich, gemäß seiner doppelten Schöpfungslehre, auf die Geistnatur, das Prinzip der Dinge, bezogen), von denen die überlieferten, dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr bzw. noch nicht verständlichen ägyptischen Hieroglyphen nur ein Verfallsprodukt waren. Der Verlust der Hieroglyphen ist in beiden Fällen ein Opakwerden von Naturzeichen, 133 Gleizes 1801, S. 43 134 Gleizes 1801, S. 44 135 Gleizes 1801, S. 45-47 399 wenn auch Gleizes damit in engerem Sinne als Saint-Martin eine Kommunikationsbeziehung zwischen Mensch und Natur verbindet. Die privilegierte Unterredung des Einzelnen mit der Natur geht für den Alten einher mit einer antisozialen Lebensweise. Er arbeitet nicht mit anderen zusammen, sein Mustergut in der Wüste kennt - im Gegensatz zu Rousseaus Clarens - keine Angestellten oder sonstigen Mitarbeiter. 136 Er lebt von dem, was ihm die Natur ohne allzu viel Organisation überlässt und gestaltet sein Leben nach Weisungen, die er von einem Jünger Zoroasters erfahren haben will. Die wesentlichen Punkte sind hier die Liebe zu Mensch und Tier gleichermaßen, die Achtung vor allem, was ist, also vor der Natur, die es zu kennen aber nicht sezierend zu erforschen gilt: „Connais la nature et ne l’approfondis point.“ 137 Das heißt: Gehe nicht über die Grenze deines Erkenntnisvermögens hinaus, dann leitet Gott dein Erkennen. Dies lässt sich als Radikalisierung der Erkenntnistheorie Condillacs auffassen, die in ihren Grundzügen ähnlich war, aber nie zu solchen extremen Empfehlungen führte, nicht zuletzt, weil sie noch in der (nach Kondylis’ Auffassung) typisch aufklärerischen Ambivalenz zwischen einer Vorstellung von der Natur als Mutter und einer solchen von ihr als Dienerin ihren Ort hatte. Bei Gleizes ist die Dienerin verschwunden. Denn als Letztes hat der Zoroastrianer dem Alten auch noch den Rat mitgegeben, er solle nicht sesshaft werden. Dies ist wohl so zu verstehen, dass die privilegierte Position des Menschen am Busen der Natur dann gestört würde, wenn er sein Glück auf Macht über diese Natur - Konstanz, Kontrolle, Ackerbau, Vergesellschaftung - stellte. Hier sind Gedanken Rousseaus fortentwickelt worden, aber unter größerer Betonung einer existenziell erfahrenen Naturnähe. Das Nomadenleben, von dem der Alte freilich nur Ansätze bewahrt, garantiert die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, verhindert Emanzipation und Bemächtigung, bewahrt also just den Zustand der Natur-Kindschaft. Deshalb übt der Alte mit seinen Töchtern gelegentlich noch immer das gänzliche Ausgesetztsein, denn sie haben ihre Macht nicht so weit gegen die Natur behauptet, dass sie ihren Zwängen gänzlich enthoben wären, ja: Es ist zu bezweifeln, dass selbst diejenigen, die die Natur zu beherrschen meinen, nicht doch einmal auf die „vie sauvage“ zurückgeworfen werden könnten, denn diese ist premiere fille de la terre, elle se joue par-tout des travaux de l’homme, et, s’il ne veille sans cesse, en a bientôt détruit jusqu’à la moindre trace. 138 Weitere, aus den Vorgaben des Alten und aus eigener Schau entwickelte Philosopheme Kantzis werden dem Leser am Ende des Romans in einem Fragment zur Naturphilosophie Kantzis mitgeteilt. Der Mensch ist diesen 136 Gleizes 1801, S. 89-95 137 Gleizes 1801, S. 57 138 Gleizes 1801, S. 97 400 zu Folge Produkt einer Art in Stufen stattfindender Evolution etwa im Sinne Bonnets, 139 die jedoch im Pflanzenreich stattfindet. Jede Pflanze bringt ein Tier hervor. Dies wird verbunden mit der traditionellen Konzeption der Analogie und der martinistischen Vorstellung, ein Wesen sei Ausdruck eines Prinzips: Chaque espece de plante donna ainsi la vie à une autre espece d’animal qui lui était analogue et qui exprimait ce qu’elle était elle-même, c’est-à-dire son bon ou son mauvais principe. L’homme enfin nacquit le dernier: la plante la plus élaborée lui donna le jour; et comme ce fut à cette plante que le grand génie de la nature s’arrêta, là vint se réunir tout ce qu’il avait répandu séparément dans les diverses plantes qu’il avait créées; et tel fut aussi l’homme. L’animal peut donc être considéré comme l’expression de la plante qui lui a donné la vie. 140 Der Mensch ist „expression“ der höchsten Pflanze(n), und insofern ist Gleizes’ Welt eine Blumen- und Früchtewelt, in der Signifikation und Fruktifikation zusammenfallen - der Mensch ist Aussage und Frucht der Erde. Dieses Motiv klingt auch in der eigentlichen Erzählung an, wenn der Alte die Namen seiner Töchter auf die Samen zweier Mandelbäume graviert, so dass alle ihre Früchte den jeweiligen Namen auf sich tragen. 141 Alles Irdische vergeht, nur die Frucht der Erde, der Mensch, reicht über den Tod hinaus. Er wird auf einer höheren Stufe, in anderen Welten, sich weiter vervollkommnen, bis er sich schließlich mit der Gottheit verbindet. Der Mensch ist aber nicht nur Ziel der Schöpfung, er ist auch, ähnlich wie bei den Martinisten (und bei Robinet), ein Auszug der Schöpfung, denn er vereinigt in sich Züge, die ansonsten in verschiedenen Wesenheiten verstreut sind. Die Tatsache, dass er somit eine Zusammenfassung aller Weltwesen ist, lässt auch umgekehrt zu, dass er durch die Betrachtung dessen, was er in der Natur zerstreut findet, seine eigene Beschaffenheit rückspiegelnd erfassen und beschreiben kann. Er kann seine Natur und auch die Planungsabsichten des Schöpfers in der ihn umgebenden Natur erkennen, und insofern ist es nicht ein naives Nachahmen tierischer Verhaltensweisen, das Gleizes’ natürliche Moral begründet, sondern die Lektüre der eigenen Bestimmung, der eigenen wahren Verhaltensanlagen, in den verstreuten Daten der umgebenden Natur. 142 Im Tode werden Gut und Böse geschieden: Die Seele des Bösen verschwindet, der noch nicht gänzlich Gute muss noch einmal das Erdenleben durchwandern, der Gute darf aufsteigen. (Ähnliche Vorstellungen werden uns bei Dupont de Nemours begegnen; Gleizes kann sie dort gefunden, 139 Eine ähnliche nicht kontinuierliche Evolution des Aufstiegs über stufenartig aufeinander folgende Weltzustände hin nimmt Bonnet 1770 an. Wir betrachten sie im Kapitel III dieser Untersuchung. 140 Gleizes 1801, S. 256 141 Gleizes 1801, S. 111 142 Gleizes 1801, S. 257-259 401 aber auch aus dem Wissen der Gruppe der médiateurs über pythagoreische und östliche Lehren entwickelt haben.) Wer in diesem Leben nur kurze Zeit verbleiben kann, dem wird in der nächsten Welt mehr Zeit zugestanden. Alle diese Vorgänge werden jedoch durch Ausgleichszeiten so aufeinander abgestimmt, dass die Generationen immer zusammenbleiben, so dass etwa Ehegatten gemeinsam durch die Welten gehen können. Der persönliche Verlust, der eines der Themen dieses Romans ist, findet hier eine phantastisch-religiöse Überwindung. 143 Die Erde selbst wird (ähnlich wie bei Maillet) an Trockenheit und Hitze zu Grunde gehen, denn Helios, der Agent Gottes, ist auch die Triebkraft der Zeitlichkeit dieser Welt. Die heißen Winde sind schon die Ursache der evolutionären Abirrung gewesen, durch die fleischfressende Tiere entstanden. Durch die Hitze werden einst zunächst die Afrikaner verschwinden, die Europäer werden sodann schwarz werden und ihm nachfolgen. Schwärze wird so zur Markierung des Weges, den die Völker unter der Sonne auf ihr Verschwinden hin zurückgelegt haben. 144 5.2. Der Lebensweg als erzieherische Ruinenlektüre Der Weg Kantzis wird im Hauptteil des Textes als Bildungsroman erinnert und erzählt, wobei, wie wir sehen werden, die Lektüre verblichener Zeichen in Natur und Kultur diesen Weg zu einem Lektüreweg macht. Der Name ‘Kantzi’ soll ein griechischer sein, Griechentum aber erscheint im Kontext des Romans selbst wiederum als kulturelle Ruine. Die unklassische Namensform mit der Endung -i verweist auf ein gegenwärtiges Griechentum, das zugleich vor einen Hintergrund verlorener Größe gestellt wird, denn nicht zufällig gibt der Fremde als seinen Geburtsort „Clazomène“ an, welches dem gebildeten zeitgenössischen Leser gewiss als einer der Orte der vorsokratischen Philosophie bekannt gewesen sein dürfte. Klazomene, Geburtsort des Anaxagoras und schon früh als einer der klassischen Orte der ionischen Naturphilosophie bezeichnet, 145 steht für einen doppelten Verlust: Zum einen ist es eine Stätte klassischen Griechentums, die nun im Kernland der Türkei liegt und damit noch mehr als das ebenfalls türkisch besetzte eigentliche Hellas auch noch den Hoffnungen der philhellenischen Bewegung der Schreibgegenwart unerreichbar bleiben muss - dies mit der Einschränkung, dass die Romangegenwart in einer allegorisch-gnomischen Allgemeinzeit verbleibt und kaum durch spezifisch historische Markierungen auf die Schreibgegenwart bezogen 143 Gleizes 1801, S. 259-260 144 Gleizes 1801, S. 262-263 145 Vgl. Platon, Parmenides 126a. Im Parmenides-Kommentar des Proklos wird aus dieser Nennung eine Geographie der Philosophie-Geschichtsschreibung entwickelt, die dem Interesse der süditalienisch-großgriechischen Schulen für die intelligiblen Dinge dasjenige der ionisch-kleinasiatischen für die Natur gegenüberstellt. 402 wird. Zum anderen verweist Kantzis Herkunftsort eben auf die verschüttete ‘Naturphilosophie’ (als wieder einzuholende Urerkenntnis vor dem Fall in die zersetzenden Deliberationen und Spekulationen späterer Zeiten) - ein Begriff, der in dem Roman in einer zeittypischen Umdeutung zu einer Art Naturethik (wie wir sie etwas anders bei Delisle de Sales und Senancour fanden 146 ) aufscheint. Der Aufbruch Kantzis aus Clazomène steht nun ebenfalls im Zeichen der Ruinendeutung. Bei einer Betrachtung kleinasiatischer Ruinen ganz in der Art von Volneys berühmter Meditation nämlich findet Kantzi Seelenverwandte, die seinen gefühlsgesättigten Blick für die Überreste des Vergangenen teilen und ihn überreden, mit ihnen zu ebenfalls archäologischen Zwecken nach Ägypten zu reisen. 147 So vorbereitet, trifft er auf dem Wege, in Syrien, auf dasjenige Zeichen, welches für seinen persönlichen Lektüreweg entscheidend sein wird: In einer syrischen Ruinenstadt steht unter anderen Überresten ein hieroglyphischer Wegweiser, den nur er erkennt und deutet und der den durch emotionale Zeichendeutung nunmehr auf ein existenzielles Sich-Einlassen auf die Schrift der Welt Vorbereiteten unmittelbar anspricht. Kantzi verlässt die Reisegruppe und bricht in die Wüste auf. Dieser nur noch scheinbar archäologisch motivierte Weg lässt aber zugleich die Altertumswissenschaft hinter sich zurück. Haben sich dem seelisch mitbewegten Betrachter die Reste verfallener Zivilisationen nämlich bis hierher schon nicht als Hinweise auf vergangene Größe, sondern auf die Vergänglichkeit selbst enthüllt, so wird diese Vergänglichkeit nunmehr geöffnet auf ihre Grundlagen in der Natur und somit zugleich der Sinn des Verfalls und die Nichtigkeit des verfallenen Kulturgutes erschlossen. Das nun folgende Geschehen kann man folglich als eine narrative Ausgestaltung der Belehrung durch das génie in Volneys Version sehen - allerdings mit beträchtlichen inhaltlichen Unterschieden. Kantzi gelangt zum Meer, wo er einer rätselhaften Schönen begegnet, der er hilft, von einer Insel Blumen als Heilmittel für ihre erkrankte Schwester zu beschaffen. 148 Sie verschwindet, und ein Sandsturm verwischt ihre Spuren. Er erkennt, dass er die Fremde liebt, und sucht nun zwei Spuren in der Wüste: den Weg zu ihr und denjenigen zu jenem Ort des Glücks, den ihm die Hieroglyphe verheißen hat. Die allegorische Struktur der Erzählung kommt ein wenig zum Vorschein, als klar wird, dass die beiden Orte zusammenfallen. Dies jedoch bleibt Kantzi zunächst verborgen. Er findet nämlich als erstes den verheißenen Ort, der von jenem Alten bewohnt 146 Delisle de Sales hatte um die Wende zum 19. Jh., also zur Entstehungszeit des Romans, große Wirkung; so baut etwa Fabre d’Olivet 1801 seine gesamte Natur-und Menschengeschichte für Jugendliche nur auf Rousseau und Delisle de Sales auf: préface ii-iij (zu Delisle) und S. 78 (zu Rousseau). 147 Gleizes 1801, S. 5-7 148 Gleizes 1801, S. 13-14 403 wird, der sich im Laufe der Erzählung zum symbolischen Vater Kantzis entwickeln wird; damit schlägt der implizite Autor eine Brücke zum bereits erwähnten Vorwort des Buches, in welchem er selbst seines leiblichen Vaters bedauernd in bereits auf die emotionale Einbeziehung des Lesers zielenden pathetischen Formulierungen gedenkt. Die Vergänglichkeit wird so in der (wie auch immer authentischen) Autorbiographie als authentisch erlebtes Phänomen eingeführt und mit dem Text zugleich markiert und durch die Überführung der verlorenen Vatergestalt in eine Figur der Erzählung kompensiert - ohne freilich dadurch zu verschwinden, spricht doch auch Kantzi durchgängig aus der Perspektive des Verlustes. Einen wesentlichen Anteil des Textes macht nun die Unterweisung Kantzis durch seinen Ziehvater aus. Diese Unterweisung geschieht in einer insgesamt für den Roman typischen Mischung aus Inschriften, didaktischer Landschaftsgärtnerei, allegorischen Bildern, mündlicher Lehre und Anstoß zur Erfahrung. 149 Erst als die erste Unterweisungsphase durchlaufen ist, tritt die Schöne vom Meer wieder in Erscheinung und erweist sich als die Tochter des Alten mit Namen Séléna; die Anspielung des Namens auf die Mondgöttin steht wohl für kosmische Naturzusammenhänge. Nun wird der bisherige Weg Kantzis als Erwählung, Versuchung und Prüfung transparent. 150 Auch die in der Belehrung vermittelte Weltlektüre des Alten ist eine solche der Beteiligung. Leiderfahrung und Sich-Aussetzen garantieren die Authentizität dieser Deutung, auch wenn diese selbst dann wieder in quasi allegorische Interpretanten umgesetzt wird, so die landschaftliche Anlage der Oase des Alten insgesamt und der noch näher zu betrachtende „jardin des larmes“ im Besonderen. 151 Die sprachliche Naturerfassung des Alten ist zunächst ein Versuch einer ‘energetischen’ Sprache der Wortmalerei im Sinne von Saint-Martins Ursprache, sodann - da dies sich als zu schwierig erwiesen hat - ein Bemühen, das Arabische und auch das homerische Griechisch als archaische, naturnahe Sprachen zu pflegen. 152 So ist die Naturhaftigkeit der beiden Töchter Effekt dreier Stimmen: der „voix de la nature“ selbst, der „voix particulière“ des Alten und des „langage ordinaire avec art combiné“, denn dieser kann, wenn er richtig und naturgemäß eingesetzt wird, die Geheimnisse der Natur durchaus vermitteln: […] dénombrant tous les êtres, en exprimant tous les rapports, donnant sans cesse des leçons et prêtant un appui, ajoutant pour ainsi dire la vie de ceux qui le parlent à votre vie même; tous ces moyens, dis-je, ainsi amenés devaient faire 149 Vgl. Gleizes 1801, S. 26, S. 111, S. 120, S. 191. 150 Gleizes 1801, S. 61 151 Gleizes 1801, S. 191 152 Gleizes 1801, S. 117f. 404 nécessairement de Séléna et de sa sœur les deux objets les plus touchans et les plus parfaits de la nature. 153 Bevor er eines dieser beiden perfekten Naturobjekte zur Frau erhält, muss sich Kantzi noch einmal bewähren und nach Ägypten gehen, mit dem Auftrag, dort dazu beizutragen, dass die Ägypter ihre verlorenen Traditionen wieder gewinnen, die verschütteten Zeichen und Hieroglyphen auf ihre ursprüngliche Naturreligion hin transparent machen und den Weg der Regeneration antreten können. Dieser Auftrag ist nun in einer illuministischen Sprache verfasst und öffnet damit die ohnehin schon allegorisch anmutende Vater-Sohn-Konstellation auf eine heilsgeschichtliche Dimension - ohne dass die erzählte Geschichte freilich darin aufgehen würde, denn sie enthält durchgängig und konsequent zu viele das konkrete Leben des Menschen im Diesseits berührende Details für eine solche Reduktion. […] vous rétablirez leur ancienne image et vous verrez la sagesse de l’homme changer la balance primitive du bien et du mal, les mauvais génies domtés et les bons régner dans toute leur gloire. 154 Die Ägypter sind von ihrer Naturreligion abgefallen. Ägypten ist damit ganz martinistisch als Ort des Falles und des Gefallenseins eingesetzt, allerdings mit dem Unterschied, dass Gleizes den Ägyptern eine frühere Weisheit zugesteht, die die Martinisten leugnen. Wenn das vorherige Bild wieder eingesetzt ist, wenn die Bilder und Hieroglyphen wieder transparent werden, dann ist die Macht des Bösen gebrochen. Dies ist der Auftrag an den martinistischen Adam. Aber es wird sich zeigen, dass dieser Auftrag in Gleizes’ Roman gewissermaßen zu groß ausgelegt ist, und Kantzis Scheitern daran wird bei Gleizes im Gegensatz etwa zu Martines de Pasqually eher nebenhin erzählt, als etwas ohnehin Erwartbares. Die Plausibilität dieses Scheiterns folgt nämlich aus einer ganz selbstverständlichen, alltäglichen Ereignisfolge, die uns eine Art säkularisierter Geschichte eines nachvollziehbaren, vielleicht sogar guten Adamsfalles präsentiert. Kantzi geht äußerst widerwillig fort, kann sich nicht von Séléna trennen, die im Text durchweg als Inbegriff der Naturnähe, beinahe als die Natur selbst dargestellt ist. Wie der vorweltliche Gottmensch der Martinisten, wie auch der Mensch des hermetischen Poimandres 155 , neigt sich der Mensch also in Liebe herab zu der (in der zweitgenannten Quelle ihn auch ihrerseits liebend anschauenden) Natur und verfehlt dadurch seine hohe Bestimmung. Diese Ereignisform wird jedoch bei Gleizes dadurch kompliziert, dass die Naturhaftigkeit Sélénas selbst eine Art Göttlichkeit ist. Das vermeintliche Herabbeugen ist in Wahrheit ein Emporrecken, denn Gleizes zeichnet - 153 Gleizes 1801, S. 120 154 Gleizes 1801, S. 42 155 Vgl. „Poimandres“ in: Sloterdijk 1993, S. 161-162. 405 auch in seinen späteren Werken 156 - die Naturnähe der Frau durchgehend als eine höhere, spirituellere Form des Menschseins als die Lebensweise des Mannes. Es wird hier also eine Korrektur an der martinistischen Sicht der Sendung des Menschen vorgenommen: Die Naturzeichen sind verdüstert, weil der Mensch nicht am Busen der Natur lebt, die Vergeistigung des Menschen ist nur durch Naturnähe zu erreichen. Der Fall in die Natur ist in Wahrheit ein Aufstieg. Der scheinbar heilsgeschichtliche Auftrag in Ägypten ist demnach nur ein Umweg, der denn auch nicht weiter verfolgt wird. Kantzi genügt die Kunde, dass seine Ruinen suchenden Freunde längst weitergezogen sind, um sich endgültig von seinem ursprünglichen und durch den Alten ein zweites Mal gesetzten Ziel abzuwenden. 157 Kantzi muss aber sein Scheitern kompensieren, indem er, bevor er Séléna erhält, noch eine Reise unternimmt und dem Alten einen Zweig eines heiligen Baumes bringt. Damit wird endgültig die heilsgeschichtliche Berufung des Menschen als in der Natur und ihr folgend, nicht über ihr oder gegen sie, festgelegt. Der Zweig des heiligen Baumes steht dafür und symbolisiert zugleich die Teilhabe des nunmehr bewährten Kantzi an der Naturweisheit. Freilich ist diese Weisheit keine durch Studien oder Reisen erworbene, sondern eine wiederentdeckte. Ähnlich wie in der Konzeption des inneren Weges der Martinisten wird die Teilhabe an der Weisheit als dem Menschen immer schon gegebenes, verschüttetes und freizulegendes Herzensgut betrachtet: Si la sagesse n’était que le fruit de l’étude ou des voyages, on pourrait sans injustice l’appeler vaine et de nulle utilité; mais comme elle est indispensable au bonheur, la nature l’a placée dans le cœur de l’homme […] 158 Nach einer frei-religiösen Hochzeitszeremonie in der Natur darf er mit Séléna leben. Er wird in die Lebensweise und Lebensweisheit des Alten und seiner beiden Töchter initiiert und liest mit ihnen im Buch der Natur: […] elles ne connaissaient d’autres livres que les montagnes, les rivages de la mer et la voûte des cieux, ouvrages éternels qui parlent à tous sans contradiction un même langage. Les livres, tant vantés, sont le fléau de l’espece humaine; ce sont eux qui l’ont fait déchoir en établissant parmi les hommes leur uniforme monotonie, inférieure à l’instinct des animaux. Leur but était de rendre l’homme plus savant, et ils lui ôtent la science naturelle sans laquelle sa vie est imparfaite. Depuis qu’ils existent l’homme néglige son ame et ne vit que par un mouvement étranger: il ne cherche point dans la nature ce que la providence y plaça pour son bonheur; c’est d’un autre qu’il l’apprend, un autre est pour lui l’interprete de la nature, et il reçoit en aveugle tous ses présens. Ainsi le plus dur esclavage, celui de la pensée, lie à jamais les infortunés mortels. Les livres, par leurs séduc- 156 Vgl. hierzu die durch den feministischen Blick allerdings etwas reduktiven Ausführungen von Crossley 1989. 157 Gleizes 1801, S. 70 158 Gleizes 1801, S. 77 406 tions, ont appris à parler plutôt qu’à agir; ils ont détruit la fleur de la sagesse, de la beauté, de l’innocence; ils ont pris à l’ame son énergie, sa force, sa sensibilité […] 159 Der Verfall des menschlichen Verstandes durch seine literarische Kultivierung geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen wird die Erstarrung der Verstandestätigkeit in den Archiven der Bücher angeprangert, denn die Energie, die Kraft, die durch das Bücherlesen verlorengeht, gehört zu einem dadurch verfehlten spontanen Fließen und Tun, das der Aufbewahrung von Wissen entgegenstünde; Ähnliches haben wir in Saint-Martins Ursprachentheorie schon gehört. Zum anderen richtet sich die Lektüre auf den falschen Gegenstand, nämlich die Bücher des Menschen anstelle des Buches der Natur. Eine ähnliche Ablehnung menschlicher Buchkultur haben wir ebenfalls bei Saint-Martin, etwa im Crocodile, vorgefunden. Die selbst gemachten Bücher des Menschen verstellen in Gleizes’ Vorstellung dem Leser den Blick für das Buch der Natur, in dem er eigentlich zu lesen hat. Es genügt auch nicht, die Untersuchungen anderer über die Natur nachzulesen, denn diese redet nur direkt zu ihren Betrachtern. Es geht also bei der Naturlektüre offensichtlich nicht um die Gewinnung einer Information, die man auch in menschliche Sprache übersetzen und zwischen Buchdeckeln aufbewahren könnte. Die emotionale Lektüre der Natur, ein Sich-Einlassen auf sie, ist der einzige Weg, das, was die Natur für den Menschen bereithält, wirklich zu ergreifen: Der Mensch muss sich ohne die Distanz des Lesenden in die Natur hinein begeben, kein Archiv auswerten, sondern Energien austauschen. Insofern gerät die Rede von dem in der Natur aufbewahrten Wissen und damit auch die Buchmetapher hier an ihre Grenze. Der Text der Nuits élyséennes markiert diese Grenze durch eine mise en abyme: Die emotional entgrenzende Lektüre der Natur, die sich als Lektüre aufhebt und zur Partizipation wird, wird in einem Buch eingefordert, das von entgrenzendem Pathos lebt, den Leser in sich hineinziehen will und zugleich die Nutzlosigkeit von Büchern behauptet. In beiden Fällen wird die Lektüre durch Lektüre in Frage gestellt und in Verschmelzung überführt. Das hat natürlich auch Konsequenzen für die Ruinenlektüre: Et moi aussi, né sur une terre célebre, sur une terre de destruction et de ruines, j’ai voulu connaître les événemens du passé; j’ai étudié les phénomenes de la nature; mais mon esprit ne s’est accrû que des richesses de mon cœur […] Reviens, reviens, ô douce ignorance avec tes mysteres et tes charmes! 160 Dies erinnert an das Ende von Rousseaus Discours sur les sciences et les arts, und in der Tat steht Gleizes in vieler Hinsicht in der Nachfolge Rousseaus, nicht nur, was seine Kulturskepsis, seine Naturgläubigkeit und seine Betonung der Wahrheit des Herzens angeht. Auch in der grundlegenden 159 Gleizes 1801, S. 108-9 160 Gleizes 1801, S. 109 407 Figur einer nicht christlichen Sündenfallserzählung berühren sich die beiden, wenngleich Gleizes davon eine sehr spezifische, vegetarische Version ausgearbeitet hat. Nicht nur die Bücher werden nun also in Frage gestellt, auch die Lektüre der Ruinen und selbst der Oberflächenphänomene der Natur führen nicht sehr weit. Eigentlich gelangt man nur durch eine Naturdeutung im eigenen Herzen, durch einen inneren Weg in der Art Saint- Martins, zum Ziel. Die erscheinenden Strukturen der Natur führen nämlich in die Irre. Dies wird quasi als Schleiertanz dargestellt, der nicht, wie die „voiles et prestiges“ der Martinisten, Verwirrung durch den Fall der Natur ist, sondern Verführung: […] le beau désordre n’appartient qu’à la nature, c’est un voile transparent dont elle couvre l’ordre le plus parfait; et en cela on peut dire, qu’elle ne se cache que pour mieux se montrer. 161 Hier wie da ist die Unordnung nur ein Oberflächenphänomen, in der Tiefe ihres Wesens ist die Natur regelmäßig. Aber bei Gleizes ist dies eine als weibliche Verführungskunst beschriebene Verhüllung und Enthüllung für den liebenden Blick. Die erotische Beziehung zu einer als vollendet regelmäßig aufgefassten Schöpfung ruft als Folie die Sophia-Spekulation der christlichen Esoterik auf. Im alttestamentarischen (deuterokanonischen) Buch der Weisheit spricht Salomo über die als Frau dargestellte Weisheit Gottes: hanc amavi et exquisivi a iuventute mea et quaesivi sponsam mihi adsumere et amator factus sum formae illius 162 Diese Weisheit offenbart sich als Form in der Natur und ist Gegenstand der Liebe des Weisen. Bei Gleizes wird allerdings zwar die Formvollendetheit und das Element der liebenden Anschauung, nicht aber die Rückbindung an Gott betont; diese können wir nur erschließen, wenn wir den göttlichen Zweck der Natur bei Gleizes ergänzen. Wenn die bloße Beobachtung der Natur Unregelmäßigkeiten zu Tage fördert, so liegt dies eben an der Beobachtung, nicht am Gegenstand. Und so tritt an die Stelle des Christus-Logos und der an ihn angeglichenen inneren Gestalt des Menschen, die bei Saint-Martin die Entschlüsselung der Natur auf ihre geistige Regelmäßigkeit hin ermöglichen, hier das liebende Herz: Ah! c’est dans le cœur de l’homme que vit toute la beauté de la nature! 163 Ganz im Gegensatz zu Saint-Martin ist für Gleizes jedoch die Erkenntnis der materiellen Natur keine Stufe auf einer Leiter über sie hinaus, sondern 161 Gleizes 1801, S. 101 162 Liber sapientiae 8, 2 163 Gleizes 1801, S. 134 408 in sie hinein. Unter naturreligiösen Vorzeichen radikalisiert er Rousseaus Ursprungsnostalgie zu einem Zurück-Zum-Instinkt, musterhaft vorgelebt von den beiden schönen Töchtern des Alten, deren eine nun Kantzis Frau geworden ist: […] elles suivaient alors leur instinct, qui n’est autre chose que les mouvemens de l’ame abandonnée à la seule nature. 164 Die Ehe Kantzis mit Séléna endet allerdings nicht im Idyll, sondern sie wird über eine Bewährungsprobe zur Reife und schließlich zur Katastrophe weitergeführt. Bewährung und Reife werden als Geschichte einer säkularen Vertreibung aus dem Paradies erzählt. In dem Sündenfall, von dem diese Entwicklung ihren Ausgang nimmt, kann man auch bereits die grundsätzliche Verfehlung Kantzis erkennen. Die Einsamkeit, sonst im Roman so positiv berwertet, kann, falsch gebraucht, die Rolle der Ursünde spielen: wenn sie nämlich als Mittel der Subjektivierung gebraucht wird. Kantzi ist nach seiner Verheiratung einige Tage in der Wüste gewesen und hat sich dort verändert: […] j’avais goûté les fruits de la solitude, j’avais bu son onde empoisonnée. 165 Diese Einsamkeit ist nicht die Ruhe am Busen der Natur, die im Rückzug von der Gesellschaft möglich wird, sie ist keine Teilhabe am Ganzen dieser Natur. Vielmehr ist sie selbstsüchtige Vereinzelung. Durch diesen Rückfall auf sich selbst bringt Kantzi das Böse in die idyllische Welt des Alten: J’ai réveillé le mauvais génie dans la contrée bienheureuse où le bon avait établi sa demeure, et il est descendu du haut des airs au bruit de mes soupirs. 166 Es ist wohl kein Zufall, dass das böse génie aus der ikonographisch falschen Weltgegend, nämlich aus den Lüften, herabgestiegen ist. Denn wie der Aufstieg des Menschen bei Gleizes eigentlich ein Abstieg in die Tiefen der Natur ist, so ist der Fall des Menschen ein Verlust der Bodenhaftung in ihr. Zugleich wird damit eine allzu figurale Interpretation, die von der Form des Hintergrundmythos nahegelegt wird, auch wieder in Frage gestellt. Denn diese Episode spielt nicht in erster Linie auf der Ebene der Unheilsgeschichte der Menschheit, sondern auf der moralischen Ebene des exemplarischen Einzelschicksals. Kantzi entwickelt eine Subjektivität, die es ihm zunächst erschwert, selbstverständlich in dem schwiegerväterlichen Idyll zu verbleiben. Er muss hinaus in die Einsamkeit; der Alte versteht dies und verbannt ihn und seine Frau gemeinsam aus seinem Garten Eden in die Wüste, in „pays inconnus“, wo sie „faire l’apprentissage de la vie, remplir 164 Gleizes 1801, S. 116 165 Gleizes 1801, S. 144 166 Gleizes 1801, S. 147 409 véritablement notre destinée“ 167 sollen, um dann, selbstständig geworden, wieder zu ihm zurückkehren zu können. Der - ansonsten ikonographisch recht genau anzitierte - Paradiesesverlust ist zunächst herabgemildert zum Auszug der Lehrlinge. Gleichwohl ist mit der „onde empoisonnée“ schon der melancholisch brütende Rückzug aus der Kommunion mit der Natur als eine Versuchung angesprochen, die es in dieser Lehrzeit zu überwinden gilt und die schließlich Kantzis Verhängnis sein wird. Die beiden richten sich nun in der Fremde ein, bauen Garten und Heim und proklamieren sich in einer Inschrift zu Herren des Gartens. Aber: Ah! il n’y a point de sécurité sur la terre! […] la terre n’avertit point l’homme de son malheur; elle lui sourit, le frappe et le dévore. 168 Séléna gebiert eine Tochter und stirbt im Kindbett. In dieser Situation zeigt sich, dass die Vision vom Aufgehobensein in der Natur keine fürsorgliche Abschirmung meint. Es ist sinnlos, die Natur der Unbilden anzuklagen, die ihrem Wirken selbst angehören: […] elle n’était plus! Je me précipite hors de la cabane implorant le secours de toute la nature; mais la nature entiere me glaça d’horreur. Je maudis le ciel et la terre […] ainsi la fleur des champs succombe à l’haleine un peu trop forte des zéphyrs. O femmes, ô célestes compagnes de l’homme […] 169 Der Tod der Geliebten wird durch den Naturvergleich als natürlicher Vorgang dargestellt und in der Hoheliedformel vom flos campi sakralisiert. 170 Gerade in der sich in diesem Tode zeigenden Kreatürlichkeit liegt zugleich das Himmlische, das Göttliche an der Frau, deren Aufgabe in der gleichen Passage als diejenige bezeichnet wird, den Mann zu Höherem zu führen, „d’élever ses regards vers les cieux“, indem sie ihn mit der Natur verbindet. Kantzi kehrt mit seiner Séléana genannten Tochter zurück zu dem Alten und wird von diesem in seinem zypressenbestandenen jardin des larmes angesiedelt. An dieser Stelle erreicht die Pflanzen-Allegorik und Garten-Semantik des Buches einen ihrer Höhepunkte. Der Text der angelegten Natur ist die Meditationsvorlage zur Bewältigung von Kantzis Schmerz. Zugleich aber ist dieser Trauergarten mit seinem unterirdischen See, dessen Nebenbassins so angeordnet sind, dass ihre Wasser einmal am Tag die Lautfolge: „Cher époux, ne me suis pas dans cette nuit profonde“ 171 hervorbringen, eine Erbschaft, denn der Alte hat ihn bereits zur Trauer über den Tod seiner eigenen Frau angelegt. Die Trauer und das Leid sind 167 Gleizes 1801, S. 149 168 Gleizes 1801, S. 179 169 Gleizes 1801, S. 184 und S. 187 170 Vgl. Canticum Canticorum 2, 9: „ego flos campi.“ 171 Gleizes 1801, S. 197 410 insofern (und das zeigte sich ja schon in unserem allerersten Gleizes-Zitat) Erbteil des Menschen: Ainsi, me disais-je, en héritant de la vie, nous héritons de l’infortune et des larmes! 172 Kantzi zieht später mit seiner Tochter wieder hinaus, und es ereilt ihn neues Unglück. Als Séléana von einem Prinzen umworben wird, versucht der Vaer, da er sie für ein naturnahes Leben fern von Hofe bestimmt glaubt, diese Liaison zu verhindern. Am Ende ist der Prinz tot und die Tochter verschollen. Der Versuch, Naturhaftigkeit in aktivem Handeln gegen die Gesellschaft zu behaupten, ist an dieser gescheitert. Die Verstrickung in Gesellschaft und Kultur trägt das menschliche Handeln hinaus aus der imitierenden Teilhabe an der Natur, seine Hinordnung auf den Tod bestimmt sein kulturelles Handeln, das ihn zum Fremden in der Natur macht: L’homme dans ses ouvrages imite la nature; mais il les couvre du voile de la mort, de cette mort qui le frappe lui-même après un terme si court; au lieu que la vie découlant de l’Eternel se fair sentir dans tout ce qui est émané de sa puissance […] 173 Der Mensch hat sich von der Natur entfernt, ist zum Fleischfresser und zum Mörder geworden, hat sich mit seiner Kultur gegen die Natur gestellt und lebt in seinem Wissen um den Tod auf diesen zu, statt im Weiterverströmen des Lebens aufzugehen. Seine technische Selbststeigerung und seine kulturell ausgearbeitete Melancholie und Angst vor dem Tode bewirken, dass er den Tod in seine Lebensvollzüge hineinnimmt und daher an seiner Aufgabe, Natur zu sein, scheitert. Positiv betrachtet zeigt sich im Tode auch, dass der Mensch über das Diesseits hinausreicht: Wie Kantzi in einer eingelassenen Erzählerrede darlegt, besteht die Arbeit des Menschen in der Lebensbewältigung im Hinblick auf eine künftige Existenz, deren Erwartbarkeit unmittelbar aus dem besonderen, unglücklichen Status des Menschen in der Natur folgt. Denn einerseits ist der Mensch „entre tous les êtres le seul condamné au malheur,“ andererseits folgt aus dieser Sonderstellung: c’est du moins à lui que tout vient aboutir, et il paraît le but principal de la création. Cette prédilection de la Divinité envers l’homme, jointe au malheur de son existence, prouve assez qu’il n’est point borné à un simple passage sur la terre. 174 Dies ist ein argumentum privationis im Sinne der Martinisten, denn das Unglück des Menschen selbst ist eines der Indizien für sein höheres Geschick. 172 Gleizes 1801, S. 195 173 Gleizes 1801, S. 226 174 Gleizes 1801, S. 54-55 411 Das künftig erwartbare Leben jenseits der Erde gestaltet sich dann unmittelbar aus dem diesseitigen wie ein Schattenbild, das jede diesseitige Aktion dort nachzeichnet und aufgrund der Unveränderlichkeit des Geschehenen, wo keine Zeit mehr die Möglichkeit zur Arbeit daran bietet, ewig bewahrt. Die Bilder unserer Taten restent malgré les siècles, elles nous attendent, et là où il n’y a plus de travaux elles seront notre vêtement, notre nourriture, l’air même que nous respirerons. 175 Wir hörten schon vom Spiegel der Geistnatur, der bei Saint-Martin (etwa im Crocodile) jedes gesprochene Wort auf ewig bewahrt. Dies wird bei Gleizes ohne markierten Bezug zum Diskurs der Theologie oder der Theosophie scheinbar aus der Natur abgeleitet. An dieser Stelle des Romans tun sich demnach zwei Ambivalenzen auf: Der Tod ist einerseits Übergang zu höherem Sein, andererseits Ursache für das unnatürliche Verhalten des Menschen, für seinen Fall. Will man dem entkommen, so muss man versuchen, im tragischen Bewusstsein der eigenen Hinfälligkeit gleichwohl allen Selbstbehauptungsmaßnahmen und insbesondere auch einer unproduktiven Schwermut zu entsagen und sich der Natur gemäß zeugend und schaffend verhalten, so als wüsste man nicht vom eigenen Ende; dies wird freilich erleichtert durch die Einsicht in den positiven Charakter des Todes als Moment möglichen Aufstieges. Die Gesellschaft wird ebenfalls ambivalent beurteilt: Als Trägerin zivilisatorischer Entfremdung ist sie negativ; als Familie ist sie uns hingegen schon als Schoß des Natürlichen begegnet. Hier geht es darum, die Familie eben gerade nicht zur Keimzelle der Zivilisation zu machen. Darauf zielen die einsiedlerischen Lebensformen, in denen der Alte und auch Kantzi ihre Familien beheimaten. Im übrigen ist das Handeln in der Welt, solange es naturverbunden bleibt, durchaus geboten; Einsamkeit ist für den, der im Unterschied zu Kantzi das Leben noch vor sich hat, nur ein Moment der Besinnung: Mais cette vie sauvage et solitaire, considérée sous le rapport de l’utilité, qui doit être le premier but des actions humaines, n’est bonne que par intervalles, soit pour préparer le cœur à recevoir la sagesse, soit pour remettre à sa place l’ame bouleversée par les désordres du monde. Lorsqu’elle devient permanente […] elle augmente le cercle de l’imagination, elle rétrécit celui de la raison; et le solitaire, d’ailleurs, indifférent pour les hommes, qu’il ne voit point, ne leur dit jamais ce qu’il a pu découvrir de bon et de juste. 176 Aus dem Verlust der Familie folgt nun aber für Kantzi (irrtümlicherweise) der Rückzug in die vollkommene Einsamkeit der Montagne Noire, wo er einerseits mit dem Südwind eine sehr indirekte Verbindung zu den Schauplätzen seines früheren Lebens hat, zum anderen aber sein Einsiedlertum 175 Gleizes 1801, S. 55 176 Gleizes 1801, S. 248 412 in den Bergen als sublime Naturerfahrung erleben kann (der der Roman seinen Titel der Nuits élyséennes verdankt), ganz ähnlich wie wir es schon bei Senancour gefunden haben. So heißt es am Anfang der „Quatrième nuit“: La nuit, les montagnes, le clair de lune, les bois, au milieu de l’été, forment, indépendamment de toute autre chose, un tableau élyséen. 177 In einer Sturmnacht, umpeitscht von Winden aus der libyschen Wüste, betrachten Kantzi und der Erzähler ein Ruinendorf mit einem verfallenen Wind-Tempel. Dieses Sublime ist pathetisch und schwermütig; wir werden in Kapitel IV sehen, dass Saint-Martin aus anderen Gründen ebenfalls eine Theorie des pathetischen Natur-Sublimen entwickelt. Kantzi und der Erzähler lassen sich von der Einsamkeit und Melancholie der Szene mitreißen und kommen überein, dass die Bestimmung allen Menschenwerks der Verfall ist: O terre de tristesse! […] tu étais faite pour rester déserte […] 178 Nur in der unbebauten Landschaft findet der Mensch, dessen Naturzustand das Weinen ist, 179 Trost und Sympathie. Interessant ist nun aber, dass der Erzähler nicht in dieser Trauer bei Kantzi stehenbleiben darf, sondern von diesem ermahnt wird, selbst hinauszuziehen und sich eine Gefährtin zu suchen. Die Lektion der Ruinen kann der Mensch nur in eigenem Erleben lernen, nicht durch bloße Anschauung, und sein eigenes Erleben muss sich immer in den Vollzügen seiner biologischen Bestimmung abspielen. Darüber hinaus wird nun immer klarer, dass Kantzis Trauer und Vereinsamung in ihrer Maßlosigkeit sündhaft sind. Er will den Erzähler vor einem ähnlichen Rückfall auf sich selbst und seine Schwermut bewahren. Was sich in der Wüste schon andeutete, stellt sich nun als Kantzis Verhängnis heraus. Der Rückzug auf das Gift der Einsamkeit und Trauer lässt den Menschen scheitern. Auch hier zeigt sich ein Widerspruch: Genau wie die Einsamkeit in der Ambivalenz zwischen erwünschtem Rückzug aus der Zivilisation und verhängnisvoller Vereinzelung angesiedelt ist, so ist auch die emotionale Lektüre der Verfallszeichen dieser Welt, die bei der einsamen Meditation geschaut werden, eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits ist nämlich das existenzielle Sich-Einlassen auf die Schrift und Rede der Natur die einzige Möglichkeit wirklichen Naturverständnisses. Andererseits aber beginnt sich abzuzeichnen, dass es Kantzis Fehler war, sich in der Betrachtung des Verfalles, im Leid an der Vergänglichkeit gänzlich verloren zu haben. 177 Gleizes 1801, S. 230 178 Gleizes 1801, S. 237 179 „Ah! sans doute les pleurs sont l’état naturel de l’homme“, Gleizes 1801, S. 242. 413 Bevor dieses Problem gelöst wird, inszeniert der Roman das Verfallsmotiv noch einmal an sich selbst. Vom nun folgenden Hinausziehen des Erzählers an beginnt nämlich der Text immer mehr zu zerfallen, zur Ruine seiner selbst zu werden. Zunächst folgt das oben schon ausgewertete Fragment über die Naturphilosophie Kantzis. Zwischen diesem Fragment und der „Cinquième nuit“ folgt noch ein ebenfalls fragmentarisches erzählendes Zwischenstück, in welchem der Erzähler bei einem neuerlichen Besuch Kantzis Hütte in Ruinen vorfindet. Text und Welt konvergieren im Bild der Ruine. In dem verlassenen Gelände liest der Erzähler außerdem noch eine Inschrift. Im übrigen wird auch nach der ‘Fünften elysischen Nacht’ noch ein dem Zeitgeschmack entsprechendes Grab-Gedicht („Séléana au tombeau de son amant“) mitgeteilt, das die Erzählung indirekt authentifiziert, jedoch auch weiter fragmentiert. Zugleich wird das Spiel um die emotionale Identifikation des Lesers auf die Spitze getrieben. Der Erzähler will nun an Stelle des totgeglaubten Kantzi in den Bergen wohnen und dessen Klagen weiterführen. Seine Sympathie und Identifikation ist ein Doppel der durch die Pathos-Strategien des Textes insgesamt angezielten ebensolchen Rezipienten-Haltung. Dabei wird in dieser Figur der Übernahme der Exempel-Charakter jedes nacherlebten Lebens für das eigene vorgeführt. Wie Kantzi das Trauern des Alten in dessen Tränengarten fortführt, so übernimmt der Erzähler Kantzis Trauer, und so soll der Leser diejenige des Erzählers weitertragen, gedoppelt durch die Trauergeste des Autors im Vorwort, wo ja ebenfalls der Leser eingeladen wird, den Verlust des Vaters, den die Autorstimme beklagt, mit zu beweinen. Am Ende wechselt der Text in einer „Rêverie“ die Realitätsebene und entfernt sich damit noch mehr als in den fragmentarischen Erzählabschnitten davor von der positiven Enunziation. Hier wird die Spannung zwischen identifikatorischer und kritischer Ruinenlektüre aufgelöst. Im Traum glaubt der Erzähler, Kantzi noch einmal in Trauer um seine Tochter zu finden, und zwar als Geist, der nach dem in gemeinsamer Trauer um Séléna zusammen mit seiner Tochter erlittenen Tod an gebrochenem Herzen nunmehr ein Schattendasein führt. Kantzis Seele findet keine Ruhe, denn sie muss zu Ende bringen, was Kantzi in seinem Leben unvollendet ließ (so wie die mineurs bei Martines de Pasqually im Jenseits ihre Operationen weiter führen müssen). Kantzi wäre nämlich eigentlich zum Glück bestimmt gewesen. Sein Anhalten beim ersten Unglück (dem Verlust der Frau) war moralisch falsch. Nun ist er dazu verdammt, so lange am Grab seiner Tochter zu bleiben, bis er es betrachten kann, ohne davon niedergeschlagen zu sein. Die Bestimmung des Menschen zum Glück in der Natur haben wir schon bei Court de Gébelin angetroffen. Nun wird diese Vorstellung mit 414 einem zentralen (christlich derivierten) Begriff des Martinismus verbunden: Alors tu deviendras un nouvel homme: tu reverras tout ce qui te fut cher revêtu d’une parure céleste; tu découvriras en toi le sentiment de ton bonheur, caché jusqu’à present par une suite de faiblesses […] 180 Der „nouvel homme“ 181 ist der erneuerte Mensch, der regenerierte Mensch - in diesem Falle derjenige, der den geistigen Sinn des Erlittenen entschlüsselt hat. Er muss im Leid des Irdischen sein Glück erkennen. Dazu muss er freilich mehr als der von dem génie aufgeklärte Ruinenbetracher Volneys dieses Leid auch erfahren; es kann nicht nur Folie für eine Gegendarstellung sein. Die Bewältigung des Schmerzes der Ruinenbetrachtung ist also Aufgabe des Betrachters wie des Lesers, und letztlich ist das Verharren in melancholischer Einsamkeit Sünde, wie sich schon bei Kantzis erstem einsamen Wüstenaufenthalt nach seiner Heirat zeigte. Das Motiv der Versuchung in der Wüste wurde dort insofern nicht nur mit dem des Paradiesesverlustes gekreuzt, sondern auch noch mit dem der schwermütigen Ruinenmeditation. Das Nachdenken über die Sterblichkeit angesichts der Ruinen der Natur, angesichts der Wüste, darf, in christlichen Moralbegriffen gesprochen, nicht in die acedia führen. Bereits die Kantzi nicht zufällig zusammen mit seiner Familie aufgegebene Bewährung durch Hinausziehen ist zugleich Sühne und Bewältigung eigener Schwäche. Der gefühlsgesättigte Mitvollzug des Gelesenen muss dessen Verarbeitung einschließen. Die Lektüre der Ruinen der vorfindlichen Welt erscheint somit bei Gleizes im Unterschied zu Volney und analog zum ‘inneren Weg’ der Martinisten als eine beteiligte Lektüre, eine Lektüre am eigenen Leib. Der Mensch wird hier wie dort zum Schlüssel der verschütteten Botschaften in Natur und Geschichte, die ihn umgebende Natur wird durch den Menschen lesbar, weil alles auf ihn bezogen und ihm eingeschrieben ist. Umgekehrt deutet der Mensch sich selbst durch die liebende Betrachtung der Natur. Um diesen interpretierenden Bezug zwischen dem eigenen Sein und der umgebenden Welt herzustellen, bedarf es für den Leser und Weltbetrachter eines existenziellen Sich-Einlassens auf seinen Text. Genau wie Volney feilich wendet sich auch Gleizes dagegen, dass solche involvierte Betrachtung gerade der Vergänglichkeit in der Natur zu Schwermut führt und so die Glücksfähigkeit des Menschen stört. Dieser muss das Erlebte verarbeiten und über es hinaussteigen, denn seine Bestimmung ist (wie bei Court de Gébelin) das Glück in der Natur. Das Zeichengeschehen in diesem pansemiotischen Roman hat noch ein weiteres Element gemeinsam mit demjenigen in der martinistischen Welt: 180 Gleizes 1801, S. 279 181 Vgl. den Titel von Saint-Martin 1790b. 415 es ist ‘energetisch’. Die Energie der Klangmalerei in den Versuchen mit einer Ursprache, die der Alte anstellt, die energetische Sprache des Buches der Natur im Unterschied zu den menschlichen Büchern, die Fassung der Rede der Natur als Blühen und Fruchtbringen, sie alle gehen im Repräsentationsmodell der Sprache nicht mehr vollständig auf. Das nächste Kapitel wird sich daher dem untersuchten Zeitraum unter dem Aspekt einer Geschichte der ‘Energie’ nähern. 416 6. Zusammenfassung II Die illuministische Pansemiotik passt ihr aus einer Wissensform des Analogischen stammendes Erbe in die ‘klassische’ épistémè mit ihrem Repräsentationsmodell ein, sie ist kein Renaissance-Wissen im Sinne Foucaults mehr, denn alle Zeichen sind nun in eine konkrete Kommunikationssituation gestellt. Das schlummernde Zeichen, das auf die divinatio wartet, aber auch ohne diese zeichenhaft ist, verschwindet; zugleich wird das Zeichen immer weniger durch Ähnlichkeit definiert. Dabei wird jedoch das übernommene ‘klassische’ Modell subvertiert. So ist die Repräsentation im Martinismus die Seinsweise aller Bestandteile der Welt, denn es gibt nur noch Zeichen für den fernen Gott. Nichts ist Nicht- Zeichen, alle Philosophie ist Semiotik - wie in der idéologie, aber aus gänzlich anderen Gründen. Die besondere Struktur der Mikrokosmos- Makrokosmos-Beziehung wird ebenfalls in die ‘klassische’ Wissensform eingepasst, wodurch das Christusereignis zu einer Wiederherstellung eines Zeichenbezugs wird - zugleich wird vom Gedanken des Christus-Logos aus das ‘klassische’ Zeichen- und Erkenntnismodell wiederum in Frage gestellt. Auch die martinistische Fassung des Mikrokosmos-Motivs bringt im Übrigen wieder die schon in Kapitel I aufgewiesene Ersetzung des Tableaus durch die Ruine ins Spiel, die sich damit auch in diesem Kapitel als Modifikation oder Überschreitung des ‘klassischen’ Modells erweist. In den Ruinen wird in besonderer Weise das Ursprüngliche als das Eigentliche verstanden. Aus jedem vorfindlichen, ruinenhaften Phänomen der Welt ist durch eine Art Allegorese des Falls (die eine Grundoperation des martinistischen Diskurses ist, aber auch in anderen Diskursen auftauchen kann, da sie auch vom Analyse-Genese-Modell aus möglich ist) die eigentlich dahinter liegende geistige Urgestalt zu erschließen. Mag dieses Verfahren auch in gewisser Weise auf eine Auffassung von Geschichtstiefe hinführen, so muss doch gesagt werden, dass sie zu Errungenschaften des achtzehnten Jahrhunderts wie einem Begriff von offener Geschichte oder auch von Evolution quer liegt. Dieser Widerspruch wird sich im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert weiter öffnen, etwa zwischen einer Biologie der Evolution (bei Darwin) und einer Tiefenpsychologie des Rückstiegs zum Eigentlichen, Ursprünglichen (bei Freud). Sodann wurde der Mikrokosmos-Gedanke ausserhalb des illuministischen Diskurses verfolgt. Bei Robinet erwies er sich als Hintergrundannahme einer in spekulativen Traditionen (wie der Kette der Wesen) stehenden Naturgeschichte. Der Mensch war für ihn Bauplan der Evolution. Bei Volney zeigte sich, dass die Ruinen der großen Welt nur durch ein festes Menschenbild, einen inneren Mikrokosmos, zu deuten waren. Dieser war strukturanalog zum theosophischen Mikrokosmos, wenn auch zwei- 417 fellos nicht von ihm (sondern allenfalls von in der allgemeinen Kultur mit transportierten theologischen Traditionsbeständen) abstammend. Man könnte den Mikrokosmos in seiner Funktion als Schlüssel zur Welt als mythische Vor- und Nebenform einer neuen Wissensart verstehen, die von der Gestalt der Rationalität des Menschen aus das, was in dieser Rationalität erscheinen kann, erfasst. Freilich ist eine solche Anthropologie auch in der Theologie selbst, nicht nur in theosophischen und illuministischen Diskursen, angelegt. Ihre Entstehung dürfte ein Synergie-Effekt aus verschiedenen Bestrebungen sein. Was die umgekehrte Blickrichtung anging, von der Welt auf den Menschen, so sahen wir bei Senancour eine Überschreitung der überkommenen Menschengestalt durch sublime Naturerfahrung, die zu einer Hinterfragung der gegenwärtigen Lebensverhältnisse im Sinne Rousseaus führte. Von der Natur aus wurde der Mensch sodann neu entworfen. Bei Gleizes deuten sich die Ruinen der Welt und des Menschen gegenseitig, wenn auch die Natur selbst hier nicht (wie im Martinismus) als Ruine erschien, sondern als (gleichfalls zu erkennender Tätigkeit einladende) verschleierte Geliebte. Bei Gleizes zeigte sich noch einmal deutlich jenes andere, ebenfalls schon in Kapitel I als Überhang aufbewahrte Element, die ‘Energie,’ die im ‘klassischen’ Wissensmodell eine Randposition einnimmt, bei den von uns betrachteten Autoren jedoch immer mehr in den Mittelpunkt zu geraten scheint. ‘Energie’ und Ruinen sind so die beiden Elemente, die aus dem ‘klassischen’ Modell der Anordnung und der Tableaus herauszuführen scheinen. Sie sind jedoch in gewisser Weise miteinander verbunden, vielleicht kann man sogar sagen: Sie sind eins. Das Bild der Ruine ist zunächst einmal negatives Gegenstück des Tableaus. Aber in der Vorstellung von Stillstand, Verfall, vergangener Blüte, Zusammenbruch der Funktion und Störung ursprünglicher Organik hat es einen (negativen) energetischen Aspekt, der es vom Tableau als statischer Anordnung des Erkennbaren unterscheidet. Die Ruine ist ein Schritt vom Wissen des Klassifizier- und Repräsentierbaren zum Wissen des Energetischen, Lebendigen. Ruinen sind Reste vergangenen Lebens und zerfallener Organisation. Natürlich kann man einwenden, eine Ruine sei als Rest eines Bauwerks etwas Statisches. Aber das Bauwerk war nicht eine bloße Anordnung, sondern eine funktionale Struktur mit Fenstern, Türen etc., die auf einen lebendigen Gebrauch gerichtet waren. In dessen Abwesenheit und nicht etwa in einer lediglich gegenüber dem ursprünglichen Bauwerk veränderten Ordnung der Steine, liegt ja das Gespenstische der Ruine. Die Bewegung hin zu diesen Konzeptionen innerhalb und außerhalb des ‘klassischen’ Wissens gilt es nun in einer diachronischen Betrachtungsweise zu erfassen. Z WEITER T EIL : D ER I LLUMINISMUS ALS S TRANG EINER D IACHRONIE 421 Kapitel III: Leben. Die Sprache Gottes als Energie Dieser Teil befasst sich mit der Natur, die hier analog zum vorhergehenden als Sprache Gottes verstanden werden soll - Sprache, und nicht Rede, weil nun, in der hier zu erzählenden Geschichte der ‘Energie’ (die im Übrigen wie im vorigen Kapitel auch diejenigen einschließen soll, die im Gegensatz zu den Illuministen kein Interesse an dem im Titel genannten Sprechersubjekt haben), der Blick sich nicht auf eine Diskursmenge, sondern ein energetisches Hervorbringungssystem richtet: natura naturans, nicht naturata. 1. Organisation und Energie Foucaults Epochenmodell will als synchronisches gerade die geschichtlichen Übergänge zwischen verschiedenen Systemkonfigurationen nicht analysieren. Solange wir mit unserer um den Illuminismus erweiterten Rekonstruktion seines Modells innerhalb des ihm eigentlichen synchronischen Horizontes verblieben, konnten wir daher die allem Anschein nach aus ihm hinaus strebenden Elemente der Geschichte, der Energie, des Lebens und der Organisation darin nur als Randphänomene oder gar als Unverrechenbares fassen. Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen nun diese überhängenden Reste als Ansätze möglichen Wandels analysiert werden, und dazu soll innerhalb des systematischen Gesamtbildes unserer Epoche noch ein diachronischer Blick auf einzelne Filiationen, ihre Herkunft, Entwicklung und Zukunftsmöglichkeiten geworfen werden. Kein synchronisches Modell kann schließlich mit letzter Strenge das Phänomen der Veränderung ausschließen, und selbst eine Analyse etwa des Tageszeitungs- Diskurses einer bestimmten Woche müsste mit von dem beschriebenen System ermöglichten Spielzügen rechnen, die gleichwohl in der Lage wären, dieses System in sich zu verschieben. Trotz seiner synchronischen Ausrichtung hat Foucault in Les mots et les choses im Übrigen durchaus versucht, den Wandel der épistémè am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wo nicht zu erklären, so doch zu skizzieren. Entgegen seiner eigenen Ratlosigkeit, was solchen Wandel angeht 1 , muss doch zumindest festgehalten werden, dass er die neu auftretenden Elemente und damit Einzelheiten des Überganges recht genau in den Blick nimmt. Was er nicht anbietet, sind kausale Verknüpfungen der neuen Elemente mit früheren Zuständen, die ihr Auftreten plausibel machen könnten. Der 1 „D’où vient brusquement cette mobilité inattendue des dispositions épistémologiques...? “ (Foucault 1966, S. 229) 422 Grund dafür, dass Foucault dies nicht kann, liegt (neben seiner Verweigerung gegenüber dem Diachronischen) zum Teil auch darin, dass seine Beschreibung der Form des Denkens unter Marginalisierung der einzelnen ‘Meinungen’ ein wesentliches Mittel zur Erfassung von Wandel aus der Hand gibt: Wie sich schon im Laufe unserer Untersuchungen ergab, wird die Form des Spiels ja durch die Teilnahme daran und damit durch die einzelnen Spielzüge, also durchaus durch die Äußerung von ‘Meinungen’, bestimmt. Insbesondere subversive Spielzüge müssen, wenn sie von anderen Spielern aufgenommen oder weitergeführt werden, auch die Form (die sie zwar wie alle Spielzüge erst ermöglicht, die von diesen aber auch konstituiert wird) wiederum in Mitleidenschaft ziehen. Als solchen subversiven Spielzug haben wir in Ansätzen die ‘Energisierung’ des ‘klassischen’ Modells im Sinne von Geschichte und Unruhe und die organische und geschichtliche Interpretation des Tableaus im Bilde der Ruine kennen gelernt. Die Konzeption der Genese von Anordnungen öffnet sich, wie wir sahen, der Vorstellung tatsächlicher geschichtlicher Gewordenheit, ihr negatives Analogon, die Ruine, verweist auf die einstmals lebendige oder bedeutungsvolle Organisation solcher Anordnungen, und die Statik des ‘klassischen’ Menschenbildes wird von der Vorstellung einer Grundenergie aufgeweicht, die von Anfang an innerhalb des Modells wenigstens am Rande vorhanden war und dann als Antwort auf offen gebliebene Probleme zur Verfügung stand: Der perfektible, gar der sehnende Mensch durchmisst das Bild der Repräsentation nicht mehr, sondern er enteilt ihm. Vor allem aber die ‘energetischen’ Aspekte des martinistischen Zeichenmodells schienen über das Repräsentationsmodell hinauszuweisen. Diese subversiven Spielzüge lassen sich auf die von Foucault in Les mots et les choses beschriebenen Neuerungen beziehen. Nach Foucaults Beobachtung ersetzt an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert scheinbar abrupt ein Wissen um die geschichtlich auseinander hervorgehenden Zustände organischer, durch Funktionszusammenhänge definierter Zusammenhänge das Wissen um die repräsentierbaren Anordnungen nach Identität und Differenz. 2 Diese Veränderung ist für den Foucault der Archéologie du savoir nichts anderes als die Vertiefung eines intrinsischen kritischen Widerspruchs innerhalb des Diskurses der Naturgeschichte. Gegen die (unten noch näher vorzustellende) These des von Foucault nicht namentlich genannten Arthur O. Lovejoy, der Gedanke der Evolution sei durch das Eindringen einer Vorstellung von ‘Zeit’ in ein traditionelles, am Motiv der Kette der Wesen ausgerichtetes Denken mit seinem ‘Prinzip der Fülle’ entstanden, setzt er die Überlegung, dass die allen Diskursteilnehmern gemeinsame Praxis, Wesen durch ihre sichtbare Organstruktur zu beschreiben, zunächst einmal zwei logische Möglichkeiten einschließt: Entweder man stellt die beobach- 2 Foucault 1966, S. 230-231 423 teten Organe einzeln in Reihen von Unterschieden und betreibt also Taxonomie. Oder man bezieht sie auf den jeweils einzelnen Gesamtorganismus und bildet aus dieser Beobachtung Familien von Lebewesen, bei denen ein jeweils analoger Bezug solcher Organe zum Gesamtorganismus feststellbar ist. In dem letzteren Falle ist nicht mehr eine geschlossene Serie das Ergebnis, sondern eine Klasse von funktionierenden Systemen, die mehr oder weniger offen sein und durch neue analog funktionierende Organismen ergänzt werden kann; außerdem können die nunmehr nur noch durch Funktionsrelationen definierten Organismen selbst ins Gleiten kommen. An diese zweite logische Möglichkeit der allen Diskursteilnehmern gemeinsamen Praxis würde dann die Evolutionslehre anknüpfen. So vermeidet man es nach Foucault, Geschichten über tief liegende Glaubensannahmen zu erzählen und übertünchende Kohärenzen zu stiften. Vielmehr zeigt man in der Struktur der diskursiven Praxis den Punkt, an dem sich die Alternative öffnet. 3 Von einem synchronischen Standpunkt aus ist dies zweifellos richtig. Aber damit hat Foucault nur aufgezeigt, dass die Möglichkeit bestand, eine solche Veränderung vorzunehmen. Es wäre zwar gewiss zu viel verlangt, wollte man nach einer Notwendigkeit solcher Entwicklungen fragen. Die unübersichtlichen Kausalitäten innerhalb von und zwischen diskursiven Systemen lassen den Begriff der Notwendigkeit ohnehin fragwürdig erscheinen. Aber damit ist der Versuch einer plausibilisierenden Erzählung von Veränderungsgeschichten über die einzelnen Geschehnisse an dieser sich öffnenden Schere nicht illegitim geworden. Will man also fragen, wie es dazu kam, dass aus der zweiten Möglichkeit die evolutionäre Konsequenz gezogen wurde, so könnte man Lovejoys Thesen (solange man sie nicht im Sinne von tief liegenden Notwendigkeiten interpretiert) durchaus heranziehen. Es ist auch nicht einzusehen, warum das Motiv der Kette der Wesen, welches, wie schon mehrfach angedeutet, der mythische Lieferant für eine der von Foucault selbst als solchen erkannten ontologischen Grundannahmen der Klassifikation stellt (eben das Prinzip der Fülle), dabei keine Rolle spielen dürfte. Keineswegs müssen dabei ja den Diskursteilnehmern unbewusste oder sonst in einer unauslotbaren Tiefe anzusiedelnde Glaubenssätze zugeschrieben werden. Es genügt, dass die beobachtete Praxis sich auf Grundannahmen stützt, die aus einem traditionellen Motiv in die je synchronisch beschriebene Gegenwart gelangt sind. Manche der Teilnehmer mögen dies reflektieren, andere nicht. Manche mögen aus der gleichen Tradition noch andere Elemente bewahren (wir sahen dies an Robinet), andere mögen so etwas als „ridicule“ abtun (wir erinnern uns an Hallers Bemerkung über Robinet). Eine Offenlegung einer solchen mythischen Tradition kann in jedem Falle einen Aspekt des auf ihr aufbauenden Diskurses selbst plastisch machen. 3 Vgl. Foucault 1969, S. 198-199. 424 In der vorliegenden Untersuchung soll im Übrigen auch gar nicht versucht werden, mit Hilfe solcher Geschichten einen Epochenwechsel zu erklären. Wir brauchen uns nicht einmal darauf einzulassen, dass am Ende des von uns beschriebenen Zeitabschnittes ein solcher anzunehmen wäre. Wir wollen allenfalls Vorarbeiten zu einem möglichen solchen Projekt leisten, insofern, als wir das Element, welches sich uns als mit dem ‘klassischen’ Modell unverrechenbar darbot, zum Mittelpunkt einer Geschichte machen wollen, die (je nach Standpunkt) aus diesem Modell herausführen oder es verändern könnte: die ‘Energie’. 4 Unsere These wird sein, dass die Energie zunächst einmal im Sinne Foucaults eine Seite einer sich ausdifferenzierenden intrinsischen Opposition von Energie und Anordnung innerhalb jenes Hintergrundmythos der Taxonomie, eben der Kette der Wesen, ist. Innerhalb neuplatonisches und esoterisches Erbe verarbeitender Diskurse, wie es der Illuminismus ist, kann man etwa den Logos (und auf einer niedrigeren Ebene: das geistige Prinzip einer Sache) sowohl als Bauplan als auch als energetisches Lebensprinzip begreifen. In diesen Diskursen ist nun die energetische Seite (aufgrund der dort herrschenden Annahmen) die wichtigere, und so ergibt sich ein Gefälle zwischen Energie und Anordnung, das in den Beiträgen dieser Diskurse zum allgemeinen diskursiven Geschehen als eine Betonung der Energie auftritt - dergestalt, dass energetische Vorgänge dann tendenziell die Anordnungen begründen. Die Positionen auf der Kette der Wesen sind dann nicht mehr durch hypothetische Genesen zu erfassen, sondern Ergebnisse von Emanation, Zeugung, Entwicklung, Geschichte. Aber der gerade gebrauchte Begriff der Genese illustriert, dass diese Auffassung zunächst durchaus innerhalb des herrschenden Systems auftreten kann, denn die Genese ist der Genesis strukturverwandt. Die Betonung der Energie durch die Illuministen tritt sodann, so unsere These, in synergetische Interaktion mit gänzlich anders motivierten Strategien der Hervorkehrung des Energetischen, deren eine etwa bei Diderot greifbar ist. Im Übrigen kommen Anordnung (nun allerdings nicht taxonomische, sondern funktionale) und Energie in dem von Foucault besonders herausgestellten organischen Modell wieder zusammen. Bei seiner Untersuchung des Auftretens des Organischen interessiert sich Foucault im Übrigen durchaus für Feinabstufungen; diese bringen ein diachronisches Element in die sonst synchronische Ausrichtung, denn solche Zwischenzustände sind ja vor allem als Etappen eines Ablaufs interessant. 5 Foucault unterscheidet sogar zwischen einer ersten Phase, in der sich diese Veränderungen noch innerhalb des Repräsentationsmodells anbahnen, und einer zweiten, wo dieses dann zerbricht. In der ersten Phase wird etwa in der Naturgeschichte das Prinzip der Organisation der Wesen, 4 Vgl. hierzu auch Friedrich 1935, S. 164-165. 5 Foucault 1966, S. 233 425 also die Vorstellung, die zu beschreibenden Naturobjekte seien durch Funktionszusammenhänge ihrer Teile zu definieren, in die herkömmlichen Klassifikationen eingebracht. Es ersetzt nun dort die bis dato der Anordnung zu Grunde gelegten, meist nach dem Kriterium der Sichtbarkeit isolierten Unterschiede und Gleichheiten der Gestalt. 6 Wodurch aber ist eine funktionale Organisation von einem bloßen Aggregat zu unterscheiden? Offensichtlich durch ihr Funktionieren, das heißt im Falle von Lebewesen: durch das Leben. Das Prinzip des Lebens ist also für die Beschreibung dieser Funktionszusammenhänge unentbehrlich; es verdrängt etwa bei Lamarck als Tiefe und Grund der Organisation die oberflächlichen Anordnungen und zerschneidet die klaren Zuordnungen von Tableau und Nomenklatur. 7 Die Dichotomie von organisch und anorganisch oder belebt und unbelebt ersetzt nun die ältere Vorstellung von den vier Reichen der Natur. 8 In der Sprachbetrachtung ist es unter anderem die Flexion des Verbs, die die älteren Vorstellungen verdrängt. Nicht mehr die Rede als Repräsentation, sondern die Sprache als Organisation, als produzierendes System, wird nun in den Blick genommen, und dazu leistet die Erkenntnis der Analogie des Flexionssystems in verschiedenen Sprachen einen wichtigen Beitrag. Die Flexionen des Sanskrit und des Lateinischen zeigen eine Gleichheit der Systematik, der Organisation und der Funktion, nicht mehr eine Abstammungslinie von Wörtern und Silben. 9 In dieser Vorstellung verliert nun die Repräsentation und damit auch die Analyse nach Identitäten und Unterschieden ihre Ordnungsmacht, denn die Bedingungen für jede Anordnung liegen nun in einer der Repräsentation nicht mehr zugänglichen Tiefe, in einer Organik und Systematik und den darin funktionierenden Kräften: Retirés vers leur essence propre, siégeant enfin dans la force qui les anime, dans l’organisation qui les maintient, dans la genèse qui n’a cessé de les produire, les choses échappent, en leur vérité fondamentale, à l’espace du tableau […] 10 Voraussetzung für das Leben der organischen Wesen ist aber die Energie. Die Tatsache, dass Organisation durch Funktionszusammenhänge definiert ist, zeigt, dass sie untrennbar mit Abläufen, mit Bewegungen, verbunden ist. Geschichte kommt so nicht nur als Veränderung organisierter Strukturen als ganzes ins Spiel, nicht nur als Geschichte von Organismen und ihrer Systematik (etwa der Sprache), sondern auch als Dynamik, die sich innerhalb dieser Organismen abspielt, als Produktion, Revolution und gelebte 6 Foucault 1966, S. 238-239 7 Foucault 1966, S. 241-242 8 Foucault 1966, S. 244 9 Foucault 1966, S. 245-246 10 Foucault 1966, S. 252. Der Begriff ‘genèse’ ist in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht mehr im Sinne einer idealen Herleitung statischer Verhältnisse, sondern im Sinne eines Werdens gebraucht. 426 Perfektibilität. Die Organismen, die das Wissen nun beherrschen, haben eine Energie. Es liegt daher nahe, auch die Vorgeschichte der Bevorzugung des Organischen innerhalb des von Foucault dargestellten intrinsischen Widerspruchs in der Geschichte des Energiebegriffs zu suchen. So können wir unsere Reste und Überhänge, die sich anlässlich von Historie und inquiétude, von Sprache und Welt als Energie und Produktion im Martinismus und von der negativen Energie der Ruinen dargeboten haben, als Teile einer Veränderungsgeschichte auf das von Foucault vorgeschlagene Modell beziehen. Wir wollen daher im Folgenden untersuchen, inwiefern Energie eines der Verbindungsglieder zwischen dem ‘klassischen’ und einem auf ihn eventuell folgenden Wissenstyp sein könnte. 1.1. Das Hervortreten des Energiebegriffs Michel Delon hat in einer groß angelegten Untersuchung des Energiebegriffs zwischen 1750 und 1850 gerade dies versucht: die Geschichte der Energie als Geschichte eines Epochenwechsels zu erzählen. Delon stellt das Jahrhundert von 1750 bis1850 als eine Art Sub-Epoche des Wandels dar, für die die Konzepte der Bewegung und der Energie kennzeichnend sind. Hier entwickelt sich „une nouvelle vision du monde qui aux essences substitue des devenirs et des existences“ 11 . Ob diese Epoche zwischen den Epochen eigenes Gewicht haben soll, diesbezüglich bleibt Delon ambivalent. In jedem Fall soll das Potenzial der Epochenbildung, das Delons Modell hat, in unserem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Wir begnügen uns damit, in Delons Vorschlag ein Instrument zur Erzählung und Plausibilisierung einer Geschichte des Wandels innerhalb des uns interessierenden Zeitabschnitts zu sehen. Wichtig an Delons Erzählung ist für uns, dass der Energie-Begriff, um den es geht, in der ‘klassischen’ épistémè bereits einen bestimmten, aber untergeordneten Platz hat. Er ist bereits vorhanden und entwickelt sich lediglich, verschiebt seine Position und gelangt dadurch zu einer Dominanz, die es ihm ermöglicht, schließlich alles andere mit sich zu reißen. Die Ansätze für den Wandel sind so schon im synchronen Epochenbild enthalten. Das ‘klassische’ Zeitalter übernimmt den Energie-Begriff aus einer langen Tradition und ‘bändigt’ ihn - so Delon 12 - gewissermaßen, indem es ihm einen bestimmten Platz in einem Wissen zuweist, das insgesamt (das zeichnete sich ja bis hierhin ab) dynamischen Konzeptionen abhold ist. 11 Delon 1988, S. 31 12 Delon 1988, S. 58 427 1.1.1. Tradition Zunächst müssen wir uns darauf gefasst machen, dass die bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein reichende Tradition der Energie diejenige eines mehrdeutigen Wortes und nicht einer präzisen Konzeption ist. Insbesondere mögliche Erwartungen, der Begriff könne etwa physikalisch genau eingegrenzt werden, werden enttäuscht werden. Die Energie ist traditionell eine geradezu okkulte Ursache und streckenweise vielleicht auch ein Phantasma, wenn sie auch gelegentlich in die Nähe moderner naturwissenschaftlicher Vorstellungen gerät; solche Nähe als Fortschritt zu preisen kann nicht das Ziel unserer Untersuchung sein, und so wollen wir dem Begriff der Energie seine ganze Unschärfe und sein phantastisches Potenzial lassen. Grundlegend für die Überlieferung ist die aristotelische Unterscheidung von Energeia als Akt und Dynamis als Kraft, sowie die Definition der Energie des Menschen als Aktivität der Glückssuche. 13 In der Tradition vermischt sich mit diesem Energie-Begriff bekanntlich die Enargeia, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit in der Rhetorik. 14 Diese schöpferische Verwechslung ist über viele Jahrhunderte immer wieder produktiv und wird dem ‘klassischen’ Zeitalter dazu dienen, die Energie in die Rhetorik abzuschieben. Im Neuplatonismus kommt es zu einer weiteren Begriffsverwischung, denn hier wird die (nun im allgemeinen Gott zugeschriebene) Energie eher als Potenz interpretiert, also im Sinne der Dynamis. Diese Unschärfe ist, wie wir sehen werden, auch für die Energiekonzepte des achtzehnten Jahrhunderts charakteristisch. Bei Thomas von Aquin wird die ursprüngliche Unterscheidung allerdings wieder richtig gestellt, nun mit dem lateinischen Begriffspaar von actus und vis. Der lateinische Begriff des actus sorgt außerdem dafür, dass der griechische Energie-Begriff in den folgenden Jahrhunderten in den Hintergrund gerät und sich der Neuzeit sozusagen als frisches, unverbrauchtes Konzept empfehlen kann. Das ‘klassische’ Zeitalter übernimmt den tradierten Energiebegriff, schränkt ihn aber weitgehend auf Sonderfälle der Rhetorik ein, da Energie und Bewegung der Klarheit der Tableaus und der Transparenz der wissenschaftlichen Sprache, kurz: der Repräsentation, im Wege stünde. 15 Frain du Tremblay (1709) will nur der biblischen und liturgischen Sprache Energie zuerkennen. Die säkulare Rede ist nicht dynamisch, sondern unbewegte, klare Repräsentation. Die Energie der Sprache situiert sich so im oberen 13 Vgl. Nikomachische Ethik I,6, 1098 a 5 und Delon 1988, S. 36. 14 Bei Aristoteles angelegt in Rhetorik III, 1410 b 36. Isidor von Sevilla (Etymologiae II, cap. 21, nr. 34) definiert: „Energia est rerum gestarum aut quasi gestarum sub oculis inductio“ (Isidor 1797, col. 138), definiert also die Energeia als Enargeia; vgl. Delon 1988, S. 39. 15 Delon 1988, S. 58 428 Teil einer Art von Emanations-Schema, wie wir es in der Esoterik finden. Wie Delon feststellt (und Derrida kritisiert 16 ), wird in diesem Schema auch der Vorrang des Logos vor der Schrift als Fortsetzung eines Energie- Verlustes von oben nach unten beschrieben: De Dieu à l’homme, on assiste à une perte d’énergie que va répéter dans le domaine humain le passage de la pensée, parole intérieure, à la parole extérieure, puis de la parole à l’écriture. 17 Das ‘klassische’ Zeitalter definiert sich insofern als gefallenes, als Saeculum irdischer Statik; Energie ist jenseitig oder utopisch und damit in Sonderdiskurse gebannt, die der Transparenz rationalistischer Rede nichts anhaben können. 1.1.2. Die Entfesselung der Energie im Zeitalter der lumières In dem Augenblick aber, in welchem die Energie sich (aus Gründen, die wir noch betrachten werden) dieser Bande entschlägt, verschiebt sich auch die Umgebung dieses Konzepts. Der emanzipierte Energie-Begriff verändert nun die „leçon classique“ in dreifacher Weise: Er führt vom Gleichgewicht zum Dynamismus, von der Klarheit der Rede zur rhetorischen Effizienz und vom Dualismus von Materie und Bewegung zur Vorstellung eines „monde animé de forces.“ Die Idee vom Ganzen entwickelt sich zu einer Vorstellung von einer in Bewegung und Werden begriffenen Totalität. „À l’ancien dualisme, elle fait préférer soit le monisme matérialiste, soit un spiritualisme qui anime l’univers.“ 18 Diese Emanzipation zeigt Delon an den Lexika des achtzehnten Jahrhunderts auf, wo der Energie-Begriff immer mehr aus dem Schatten der rhetorischen Enargeia heraustritt und am Ende dann auch auf den Menschen bezogen werden kann. 19 Die Encyclopédie behandelt neben rhetorischen bereits physikalische Aspekte des Begriffs. Im Artikel E NERGETIQUE von Mallet wird die naturphilosophische Konzeption der energetischen Partikel, etwa des Feuers, referiert, die für das Bestreben des achtzehnten Jahrhunderts, eine energetische Materie anzunehmen, Anknüpfungspunkte bereitstellt. 20 Umgekehrt strahlt auch die Emanzipation des Energiebegriffs zurück auf die Rhetorik, wo sich neben der bloßen Anschaulichkeit nun das „je ne sais quoi“ des energetischen Stils von Boileau und Bouhours bis zu Marivaux entwickelt. 21 16 Vgl. Derrida 1967 17 Delon 1988, S. 61 18 Delon 1988, S. 32 19 Delon 1988, S. 45 20 Delon 1988, S. 46-47 21 Delon 1988, S. 65-68 429 Diderots wichtigen Beitrag zur Geschichte der Energie werden wir gleich näher betrachten. Im neunzehnten Jahrhundert ist dieser Begriff dann fest an den des Organismus gebunden und dadurch seiner selbständigen Bedeutung beraubt, 22 aber die Epoche des Übergangs dorthin, die Epoche der Diskussion um die Energisierung der Materie, die Wahlverwandtschaften, den Magnetismus und die Elektrizität steht ganz in ihrem Zeichen. 23 So ist die Energie vielleicht das wichtigste unter jenen Elementen der ‘klassischen’ Wissensform, die das Neue, vor allem das Wissen des Organischen und der Geschichte, vorbereiten: L’énergie est mouvement; si la pensée classique la fixe dans la rhétorique, le mouvement historique la rend à elle-même. Elle apparaît comme typique de l’époque révolutionnaire et du premier romantisme. 24 […] Idée-force, elle participe à la constitution d’une linguistique de l’effet, d’une esthétique de la création, à la définition de la physique et de la chimie comme sciences des relations, à une représentation du monde et de l’individu comme devenir. 25 Die Position der Energie am Epochenübergang ist in Delons Analyse, wie man sieht, sehr plastisch. Was freilich ihre Wertigkeit im Gespräch zwischen Aufklärern und Illuministen angeht, ihre strategische Rolle innerhalb des polemischen Denkens der Aufklärung, wie es Kondylis dargestellt hat, dazu gilt es, noch einige Erkundigungen einzuholen: Zunächst soll ein kurzer Blick auf Diderot die fragliche Motivik noch etwas textnäher erschließen. Sodann gilt es, genauer zu ermitteln, wie sich der Energiegedanke als Spielzug zu dem Spiel verhält, dem er angehört. Dabei wird uns neben dem Magnetismus als halb esoterischer Version, wie angekündigt, ein wichtiges Bindeglied zwischen taxonomisch-repräsentativem und energetisch-organischem Modell interessieren, das wie jener ebenfalls einer Tradition der philosophia perennis nahesteht, aber mitten im naturwissenschaftlichen Denken des achtzehnten Jahrhuderts gewirkt hat: die Lehre von der großen Kette der Wesen; diese wird es uns dann auch ermöglichen, die Position des Illuminismus in diesem Geschehen darzustellen. Wie wir sehen werden, wird der Energiegedanke nämlich in verschiedenen Regionaldiskursen von unterschiedlichen Teilnehmern mit teils gegensätzlichen Zielsetzungen und ontologischen Grundannahmen in das Spiel des ‘klassischen’ Wissens eingeführt, und zwar als Entwicklung von Möglichkeiten, die bereits in ihm vorhanden sind. 22 Delon 1988, S. 50 23 Delon 1988, S. 174-176. Vgl. die Rolle der Energie als Motor der Natur überhaupt etwa bei Tressan 1786. Auf den Magnetismus werden wir unten noch eingehen. 24 Delon 1988, S. 49 25 Delon 1988, S. 516 430 1.2. Ein ‘Herold der Energie’: Diderot Diderot ist ein Kontinent (oder ein Archipel), den wir im Rahmen dieser Arbeit aus Raumgründen nur von Ferne betrachten können; im Gegensatz etwa zu Condillac steht er ohnehin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Forschung über das achtzehnte Jahrhundert. Gleichwohl darf er in einer Zusammenschau von Aufklärung und Illuminismus nicht fehlen, vor allem dann nicht, wenn es um den Energiebegriff geht. Es ist bemerkt worden, dass Diderot für jene Veränderung des Wissens zum Organischen, zum Strukturfunktionalismus, hin, die Focault in Les mots et les choses anhand anderer Autoren beschreibt, als einer der Hauptzeugen angesehen werden könnte. 26 Die Vorstellung aber, die Diderot vom Organischen entwickelt, hängt von der Annahme einer belebten Materie, von einer energiedurchwirkten Welt, ab. In den Pensées sur l’interprétation de la nature entwickelt Diderot in Anschluss an und auch in Abgrenzung von Maupertuis’ Erlanger Dissertation 27 , in welcher „le docteur Baumann“ 28 (hinter diesem Pseudonym versteckte sich Maupertuis zunächst) der Materie Sensibilität, Gedächtnis und Intelligenz zuspricht (und damit die Bekämpfung des cartesiansichen Dualismus vorantreibt), eine Art von energetischer Lesart der aristotelischen Lehre vom angemessenen Ort, angewandt auf eine Atomtheorie des Organischen: Lebewesen sind demnach Systeme aus organischen Molekülen, die von einer blinden „inquiétude“ getrieben werden, welche sie automatisch nach dem besten Platz „convenable à sa figure et à son repos“ suchen lässt. 29 Energie und Leben sind als physikalische oder biologische Form der inquiétude in der Materie vorhanden; sie werden ihr von keinem ihr fremden Geist mitgeteilt. 30 Diesen vitalistischen materialistischen Monismus entwickelt Diderot im Rêve de d’Alembert weiter. 31 Die (obwohl über die bekannten Thesen von d’Holbachs etwa gleichzeitigem Système de la nature nicht hinausgehende) bemerkenswerte Kühnheit seines hier vorgestellten Entwurfes wird von der literarischen Form dieses Textes abgesichert und in gewisser Weise erst ermöglicht. Zum einen erlaubt es die Dialogfiktion des Rêve, Dinge sozusagen als Rollenprosa zu äußern, die selbst in der nicht öffentlichen Zirkulationsform eines Manu- 26 So Wokler 1998, S. 66-67. 27 Maupertuis 1751 28 Diderot 1753, S. 587-588 29 Diderot 1753, S. 591 30 Diderot 1753, S. 598 31 Nicht zuletzt, weil es sich hier um einen der berühmtesten Texte Diderots handelt, können unsere Ausführungen hier knapp bleiben. Es sei verwiesen auf die Untersuchungen von Dieckmann 1973 und 1966), Belaval 1975, Starobinski 1975, Lund 1975, Mortier 1976, Behrens 2003 u.a. 431 skripts (der Text wurde zu Lebzeiten Diderots nicht herausgegeben) provokant waren. Dabei wird, wie Dieckmann zeigt, die traditionelle Dialogform durch eine energetische, lebendige und alltagsnahe Ausgestaltung praktisch aufgehoben und in ein prozesshaftes Finden von neuen Gedanken umgemünzt. 32 Der Dialog leistet also nicht nur eine Fiktionalisierung kontroverser Positionen, sondern auch die Entgrenzung der Darlegung in Richtung auf eine Art offenes brainstorming; dieses unterscheidet sich von der aus der Tradition des Dialoges bekannten sokratischen Maieutik dadurch, dass nicht vorausgesetztes Wissen zu Tage gefördert wird, sondern neues Wissen quasi entsteht, und erinnert darin an gewisse Möglichkeiten des Renaissance-Dialogs. Zum anderen leistet die Traumthematik des Mittelteils sowohl die Absicherung wie die Autorisierung der innovativen Thesen Diderots: Nicht nur stellt sich der philosophisch-seherische Traum, der fiktiv einer bekannten Persönlichkeit zugeschrieben wird, in eine Gattung der Traumvision vom Typ des „Somnium Scipionis“ aus Ciceros De re publica, der für das (von den Aufklärern als Gegenbild zur eigenen Zeit gedachte) Mittelalter aufgrund des in der Überlieferung mit ihm verbundenen Kommentars des Macrobius Transportmedium und Repertorium für die neuplatonische Theosophie und Kosmologie war; nicht nur also beansprucht dieser neue Traum mindestens jene Autorität, die für das Mittelalter der alte Traum mit seinen ‘obskurantistischen’ Lehren gehabt hatte (wenngleich Diderots Auffassungen mit dem Gehalt des Neuplatonismus mehr gemein haben, als man vielleicht annehmen würde). - Sondern der seherische Traum unter den Einwirkungen einer Grippe, die d’Alembert hier zugeschrieben wird, ist auch ein Mittel Diderots, über das Wissen seiner Zeit hinauszugreifen und in der Energetik des seherischen Rasens, im Enthusiasmus, die Energetik der organischen Materie gleichzeitig zu erahnen und zu exemplifizieren. Jean Starobinski hat mit anderen Zielsetzungen eine sensible Analyse des ‘energetischen’ Stils in diesem Dialog durchgeführt, auf die hier verwiesen sei. 33 Wir wollen diesen Stil jedoch, anders als Starobinski, nicht auf einer psychologischen, sondern als Korrespondenz zur thematischen Ebene des Textes verstehen: Energie kennzeichnet sowohl Form als auch Inhalt des Textes. Sie ist Ursache und Modus der Auffindung und Präsentation seiner Thesen und gleichzeitig deren Thema. Die Materie ist nun immer (auch wenn sie leblos scheint), wenn nicht gerade aktuell, so doch wenigstens potentiell sensibel. Zur bloßen Energie gesellt sich also nun die Rezeptivität: Aktivität und Erkenntnisfähigkeit sind demnach keine Privilegien eines immateriellen Geistes mehr, sonder beide in der Materie selbst zu finden. Höhere Vermögen der Lebewesen, 32 Vgl. Dieckmann 1973, S. 16-18 33 Starobinski 1975, vor allem S. 9-18. 432 etwa Bewusstsein, enstehen durch höhere Organisation. 34 So weit der einleitende Dialog. In dem nun folgenden fragmentierten Traumdiskurs werden d’Alembert delirierende Ahnungen in den Mund gelegt, die ihre besondere Pointe auch dadurch erhalten, dass sie das lebensweltliche Gegenstück des fiktionalen d’Alembert, der mechanistisch denkende Mathematiker und vorsichtige Mitherausgeber der Encyclopédie, wohl nie geäußert hätte. 35 Lebewesen sind demnach wechselnde Organisationsformen belebter Materie, deren Form keineswegs (wie traditionell angenommen) in den Keimen für alle Zeit festgeschrieben ist. Sie sind (ähnlich wie im hermetischen Denken) als Mikrokosmen verstanden, die wie der Makrokosmos der (jetzt als radikal heterogen begriffenen) Natur für Diderot jedoch jederzeit veränderlich sind, bis hin zur Entstehung neuer Gattungen. 36 Diese radikalisierende Aneignung des esoterischen Mikrokosmos-Konzepts wird durch eine Rede der Julie de Lespinasse über die systemhafte Einheit des réseau eines Organismus in den Bildern der Spinne und des Bienenschwarms breiter ausgeführt. 37 Der Kosmos ist ein belebtes Ganzes, das ständig im Fluss ist. 38 Die kleinen Teile sind sensibel, durch Organisation werden aus ihnen größere Wesen gebildet, bei denen die organisiserte Sensibilität dann als Leben zutage tritt: B ORDEU . - Deux qualités presque identiques; la vie est de l’agrégat, la sensibilité est de l’élément. 39 Leben ist also nicht unerklärlich, sondern es entsteht durch Organisation sensibler Moleküle, die die Lebensenergie bereits in sich tragen. Selbst die Genialität eines Newton ist ein Effekt von Organisation, 40 aber auch von Energie, denn Genialität ist mit Enthusiasmus verbunden. Damit wären wir bei dem neben der Energisierung der sensiblen Materie zweiten wichtigen Aspekt von Energie in diesem Text. Es wurde schon angedeutet, dass sich die Erkenntnisse des fiktionalen d’Alembert dem seherischen Zustand verdanken, in den Grippe und Traum ihn versetzen. Die Energie wird also in gewisser Weise zum Objekt einer mise en abyme, denn sie bestimmt die Semantik der eingebetteten Rede genauso wie die ihrer fiktionalen Erklärung. Energie ist als Enthusiasmus (hier wohl eine Biologisierung der platonischen Konzeption des von Diderot geschätzten Shaftesbury 41 ) auch die Grundlage des Genies, das sie entdecken kann. So erwächst etwa das Genie 34 Diderot 1769, I, S. 612ff 35 Es ist bekannt, dass sich d’Alembert über den Text Diderots echauffierte. 36 Diderot 1769, II, S. 631-633 37 Diderot 1769, II, S. 638-639 38 Diderot 1769, II, S. 636 39 Diderot 1769, II, S. 666 40 Diderot 1769, II, S. 665 41 Vgl. Delon 1988, S. 71, Becq 1984, S. 701-2, Fabre 1963, S. 88. 433 des Künstlers aus der aneignenden Nachbildung der Energie in der Natur, wie Diderot im Salon de 1767 darlegt. 42 Enthusiasmus und Imagination sind so bei Diderot fast deckungsgleich. 43 Die Imagination ist eine Kraft, die es ermöglicht, Beziehungen zu entdecken, die nicht einfach gegeben sind; sie ist insofern eine schöpferische Energie. Die Produktion des Künstlers schafft überdies wiederum Emotionen beim Rezipienten und lässt so die Energie der Natur, die im Bild gebannt war, wieder frei. 44 Der Artikel G E- NIE von Saint-Lambert und Diderot in der Encyclopédie verbindet den Energie-Begriff mit einer Konzeption des Genies als eines Menschen, der durch Schaffenskraft seine Schranken überwindet. 45 Diese Energetik des Genies führt uns schließlich zurück zu der von Jean Fabre gestellten Frage nach dem Verhältnis Diderots zu den Theosophen; wir haben in der Einleitung bereits erfahren, dass er ihre Lehren kannte und für die Encyclopédie resümierte. Die dort gleichfalls referierte These Fabres, Diderot habe in den Theosophen seine seherisch-wahnsinnigen Geschwister erkannt, muss nun konkretisiert werden: Worin bestand die Gemeinsamkeit zwischen seinem Schreiben und den Visionen jener aus seiner Sicht verirrten Genies? 46 Neben der Betonung des ‘Lebens’ (wenngleich die Diskussionspartner hierunter nicht ganz das Gleiche verstehen), ist es wohl vor allem die Bemühung, anstelle von so etwas wie einem cartesianischen Dualismus einen Monismus anzusetzen, die beide eint. So ist der Gedanke, Leben sei Energie, Prozess (und nicht nur eine definierende Eigenschaft eines Reiches der Natur), bei Paracelsus zu finden, der es als feurigen Verbrennungsprozess auffasst. 47 Dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurde die paracelsische Lehre unter anderem durch Johannes Baptista Van Helmont vermittelt, bei dem der Gedanke einer prozessualen, energetischen Welt noch stärkeres Profil erhält: So sucht er in den von ihm untersuchten Gasen die göttliche Entelechie der Dinge, und selbst noch das unbelebt Scheinende ist bei ihm Teil einer göttlich allbelebten Natur. 48 Das ist zwar noch kein Monismus, schon gar kein materialistischer. Aber bei Saint-Martin finden wir dann zweifellos zumindest eine Tendenz auf einen spiritualistischen Monismus hin, der Aktivität (die als geistig aufgefasst wird), zur eigentlichen Wirklichkeit erklärt. Saint-Martin betont zwar (wie wir sahen) immer wieder, dass der Mensch aus zwei Komponenten, nämlich Körper und Geist, 42 Bei Delon 1988, S. 73. 43 Vgl. Becq 1984, S. 668-670. 44 Vgl. Becq 1984, S. 724. 45 Vgl. Delon 1988, S. 48. 46 Fabre 1963, S. 91 47 Vgl. Paracelsus, „Liber de longa vita“ in: Paracelsus 1922-1995), III, S. 228. Zur Überlieferungsgeschichte, in der Van Helmont und verschiedene freimaurerische Traditionen eine Rolle spielen, vgl. Pagel 1979a, S. 100. 48 Vgl. hierzu Pagel 1979b, S. 209-210. 434 bestehe - aber die Körperwelt ist ja für die Illuministen nur Illusion. Sie ist eine Kontraktion einer Geistschöpfung, die in dem Maße, in dem sie fest, also grobstofflich wird, sich dem Nichts nähert. Aber auch die feinstoffliche Schöpfung ist nur ein Gedanke Gottes, der - im Gegensatz zu den emanierten Geistwesen - verschwindet, sobald er zu Ende gedacht ist. Nur der Geist ist wirklich und nur er bleibt. Im Angesicht beider Bemühungen, die Einheit des Universums durch einen Monismus zu begründen, weist Fabre nachdrücklich auf das Verschwimmen der in der aufklärerischen Selbststilisierung so klaren Demarkationslinien zwischen Aufklärung und Esoterik hin: Sous le signe du monisme vitaliste, un spiritualisme et un matérialisme qui se veulent également absolus, se rejoignent plus qu’ils ne s'opposent. Diderot et Saint-Martin ont fait l’un vers l’autre la moitié du chemin. Qui pourrait tracer une ligne de démarcation entre l’illuminisme et l’idéologie, Delisle de Sales et Condorcet, Lavater et Cabanis? 49 Hier wie da ist die Natur ein Reservoir von Möglichkeiten und Kräften, hier wie da wirkt der Mensch in einem prozesshaften Universum. 50 Mag auch für Saint-Martin dieser Prozess nicht so offen sein wie für Diderot und durch die Schuld des Menschen aktuell beinahe stillstehen, mag die Energie nach dem Fall des Menschen in eine vergröberte Natur eingesperrt worden sein, und mag der philosophe inconnu auch in Vielem andere Voraussetzungen einbringen und andere Schlüsse ziehen als der philosophe tout court, so spielen doch „Diderot le matérialiste“ und „Saint-Martin le théosophe“ in dem gleichen Spiel mit und verändern es als „les deux hérauts de l’énergie“ 51 durch analoge, wenn auch keineswegs gleiche Spielzüge. Um jedoch die Darstellung von Diderots voll entwickelter Version des energisierten Universums nicht selbst nur durch das enthusiastische Genie dessen, der sie formuliert hat, plausibilisieren zu müssen, wollen wir nun die Rolle des Energiebegriffs im strategischen Geschehen der Wissensspiele des achtzehnten Jahrhunderts weiter verfolgen. Auch der andere Herold der Energie, Saint-Martin, wird darin seinen Platz finden. 49 Fabre 1963, S. 83 50 Fabre 1963, S. 90 51 Fabre 1963, S. IX 435 2. Wege zur Energie im strategischen Geschehen der Diskurse Wir haben gesehen, dass der Energiebegriff bei den Veränderungen im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt, und bei Diderot zeigte sich uns bereits eine radikale Fassung eines von Energie durchwirkten und gestalteten Universums. Um diese Rolle spielen zu können, musste der Energie-Begriff jedoch nicht nur zur Verfügung stehen, er musste auch in dem polemischen Spiel seiner Epoche eine Funktion übernehmen können. Diese gilt es jetzt genauer zu analysieren. 2.1. Zielsetzungen Zunächst müssen die verschiedenen Ziele der einzelnen Gruppierungen von Diskursteilnehmern dargelegt werden. 2.1.1. Aufwertung der Sinnlichkeit und Anticartesianismus Descartes’ Projekt einer Grundlegung säkularer Gewissheit (die selbst noch für religiöse Positionen rationale Begründungen finden will) geschieht im Wesentlichen durch einen hierarchischen Dualismus: Das Ausgedehnte ist vom Geist streng geschieden, und dieser ist einzig gewiss und daher jenem vorzuordnen. Der Geist ist (als Schöpfer und Beweger eines toten Mechanismus) Seinsursache und (als einzig Gewisses) Erkenntnisgrundlage für das Ausgedehnte. Die Aufklärung im engeren Sinne polemisiert nun, wie Kondylis gezeigt hat, gegen diese aus der polemischen Konsequenz des Cartesianismus kommenden, einander im Grunde entgegengesetzten Systeme des Intellektualismus und des Mechanizismus 52 mit dem (unter anderem eine neue nicht asketische Moral ermöglichenden) Ziel einer Aufwertung der Sinnlichkeit „im (erkenntnistheoretisch) antiintellektualistischen und (moralphilosophisch) antiasketischen Sinn.“ 53 Die neue Definition des Menschen als Sinnenwesen legte es nahe, ihn als Natur aufzufassen. Da allerdings der (biblische wie cartesianische) Herrschaftsanspruch über die Natur nicht aufgegeben werden sollte, musste der Mensch - wie wir bereits sahen - gleichzeitig Bestandteil der Natur und Herrscher über sie sein, die Natur somit ebenso treu sorgende Mutter wie Dienerin. Eine solche Natur 52 „Der cartesianische Dualismus, so einheitlich und konsequent in seiner polemischantischolastischen Absicht er auch sein mochte (und eben deswegen), brachte gleichzeitig zwei völlig entgegengesetzte Systeme, ein mechanizistisches und ein intellektualistisches, hervor.“ (Kondylis 1981, S. 195) 53 Kondylis 1981, S. 170 436 konnte nicht mehr als tote Mechanik aufgefasst werden, zumal dann, wenn der Mensch ein Teil von ihr war. Man musste folglich die cartesianische Trennung von Materie als Ausdehnung einerseits und Geist als Ursache von Bewegung und Leben andererseits bekämpfen. Dies tat man, so Kondylis, indem man zunächst die Definition der Materie als bloßer Ausdehnung aushebelte, denn eine Materie, die Bewegung einschließt, „kann […] nicht auf die nackte Ausdehnung reduziert“ sein. 54 More und Newton machten sich teils in Fortentwicklung hermetischer und kabbalistischer Modelle daran, Gott (also Geist) und Raum zusammenzudenken, die feste Zuordnung von Materie und Raum jedoch zu lockern. 55 Nun wird ein leerer Raum denkbar, der nicht das Nichts sein muss. So sind „Annäherung von Geist und Materie“ und „Auseinanderfallen von Materie und Raum“ gekoppelt. Dann wird, um noch einige Stationen von Kondylis’ ebenso überzeugender wie komplexer Geschichte zu resümieren, diese „Entkoppelung von Materie und Ausdehnung in eine dynamische Konzeption“ überführt. 56 Materie bzw. Masse wird nicht mehr nur durch Ausdehnung, sondern zusätzlich durch Dichte definiert. Damit ist der Körper nicht mehr bloß geometrisch erfassbar, sondern er hat eine Trägheit, die bereits als innere Kraft aufgefasst werden kann. Das auf dieser Grundlage entwickelte Gravitationsgesetz bringt Kräfte ins Spiel, die nicht mehr mit der cartesianischen Mechanik erklärbar sind, da sie über eine Distanz hinweg wirken. Eine Ausweitung des bei Newton noch recht unbestimmten Anziehungsbegriffs etwa bei Voltaire im Artikel „Matière“ im Dictionnaire philosophique führt dazu, dass vor allem nicht spezialisierte Denker begannen, der Materie aufgrund dieser Verhältnisse eine inhärente, sozusagen okkulte, Anziehungskraft zuzuschreiben, die dann etwa in der Chemie der „Wahlverwandtschaften“ selbst zum Erklärungsprinzip wurde. 57 Die Anziehungskraft, die von Anfang an in der Nähe hermetischer Vorstellungen wie der der Sympathie und Antipathie stand, wird in populärem Begriffsgebrauch zu einer Art Magie. Im Magnetismus werden wir ein solches Konzept gleich kennen lernen. 54 Kondylis 1981, S. 271 55 Kondylis 1981, S. 214-215. More stellt sich in seiner Korrespondenz mit Descartes (Descartes 1953, S. 181) gegen die Trennung von Geist/ Unausgedehntem und Materie/ Ausdehnung, da er erstens meint, auch Geister, Engel, ja Gott haben eine Ausdehnung, und zweitens wie die Kabbala und der Neuplatonismus einen beseelten Kosmos annimmt. Für More ist der Raum gleichzusetzen mit der Allgegenwart Gottes, denn man kann sich alles wegdenken, was im Raum ist, nicht aber den Raum selbst (Enchiridion Metaphysicum , cap. VIII, 8, bei Hutin 1979 S. 164). Newton übernimmt diese Vorstellung vom göttlichen Raum quasi als Gottesbeweis, vgl. Hutin 1979 S. 166. 56 Kondylis 1981, S. 217 57 Vgl. Kondylis 1981, S. 224-225. 437 2.1.2. Der Gott der Fernwirkung Kondylis vertritt die (für unser Interesse am Zusammenwirken der Aufklärung mit ihren Gegenströmungen sehr attraktive) These, gerade die Theologie habe in dem Bestreben, ihre Positionen in ein neues Zeitalter hinein zu retten, zur Weiterentwicklung dieser Tendenzen in Richtung auf die Möglichkeit eines materialistischen Monismus beigetragen. Dass in der newtonschen Kosmologie nun auch die „Fix“-Sterne beweglich sind, zerstört nämlich zunächst einmal die aristotelische Kosmologie mit ihrer Unterscheidung zwischen der sublunaren Welt des Wechsels und der ewig konstanten oberen Welt und damit die herkömmliche harmonische Ordnung des Kosmos. 58 Die aufgeklärte Theologie stellt jedoch diese Harmonie unter Berufung auf Newton wieder her: Denn nun herrschen im Kosmos mechanisch nicht mehr erklärbare Kräfte, die wiederum göttlich sein können. Die Physik wird als optimistische Physikotheologie „ein frommes Studium der Werke Gottes.“ 59 Von da zur Vergöttlichung oder jedenfalls Verlebendigung der Natur insgesamt und besonders der Materie war es nur ein Schritt. Daher konnte die neue Idee vom Ganzen auch, wie wir bei Diderot sahen, rein materialistisch weiter entwickelt werden, wenn sie gleich in den meisten Formulierungen „eher auf der ebenso vagen wie flexiblen Vorstellung von einer pulsierenden Fülle, einer inhaltsreichen Harmonie oder einem dynamischen Gleichgewicht“ beruhte. 60 2.2. Regionaldiskurse der Energie Diese vorherrschenden Zielsetzungen begegnen sich mit anderen, ihnen teils entgegengesetzten, in zwei wichtigen ‘regionalen’, das heißt, auf bestimmte Teilnehmer beschränkten, diskursiven Spielen, die gleichwohl den allgemeinen Ablauf mittragen. Zunächst interessiert uns der Magnetismus als quasi hermetische Abwandlung der newtonschen Physik. In ihm zeigt sich der Drang zur Energie als Uminterpretation zeitgenössischer Naturwissenschaft. Sodann begeben wir uns in das Herz der ‘klassischen’ épistémè: Die alte Tradition der großen Kette der Lebewesen zeigt sich im achtzehnten Jahrhundert als regionale Fassung des taxonomischen Diskurses. Sie ist damit einerseits eine neuplatonische, rückwärts gewandte Version der herrschenden Wissensform, andererseits aber hat die Überlieferung, in der dieser regionale Diskurs steht, wesentliche (selbst weder rational noch empirisch begründbare) Vorentscheidungen der klassifikatorischen Diskursform bereitgestellt, vor allem die Annahme einer Kontinuität und Lückenlosigkeit der anzuordnenden Naturphänomene. Gerade hier 58 Kondylis 1981, S. 237 59 Kondylis 1981, S. 240 60 Kondylis 1981, S. 245 438 werden sich jedoch auch Möglichkeiten der energetischen Durchdringung der großen repräsentierbaren Ordnungen finden. 2.2.1. Rückführung der newtonschen Physik auf die Hermetik im Magnetismus 1770 stellt Charles Bonnet fest, dass die Natur der Bewegung noch nicht ergründet sei, und dies unter anderem deshalb, weil das Fluidum, in dem sich Magnetismus, Elektrizität und Wärme mitteilen müssten, unentdeckt sei. 61 Er fragt also danach, wie eine nicht lediglich mechanisch, sondern etwa elektrisch verstandene Energie in die Abläufe der Bewegung gelange. Nicht mehr der Anstoß und die daraus folgenden weiteren Aktionen bestimmen sein Bild von Bewegung, sondern der Fluss von Energie in einem Medium. Indem er jedoch gleichzeitig den Magnetismus zum Problem macht, negiert er jene Erklärungsmacht, die das siebzehnte Jahrhundert diesem namentlich zur Begründung von Fernwirkungen zugeschrieben hatte: Der Magnetismus ist kein Sonderfall der Mechanik, der dieser sonst unzugängliche Phänomene erreicht, sondern ein Fall von Energiefluss (diese Entdeckung lag sozusagen in der Luft), der erst noch zu erforschen ist. Der Magnetismus war im Jahrhundert vor demjenigen Bonnets eine Art von materieller Version des in der Renaissance beliebten Konzepts der universellen Sympathie gewesen, 62 mit der auch die Erdanziehung erklärt werden konnte. Noch Descartes fasste die Erde als Magneten auf und versuchte, die magnetischen Geschehnisse zwischen ihren Polen mechanisch zu beschreiben. 63 Newton unterschied die Gravitation dann vom Magnetismus; nun konnte das eine nicht mehr ein Sonderfall des anderen sein, weil sie sich nach Newtons Auffassung verschieden verhielten. 64 Der Skandal einer Fernwirkung ohne körperliche Verbindung war jedoch, wie wir sahen, auch ein Angebot an die Physikotheologie: Was für die Mechanik nicht erreichbar war, konnte nur vom Geist bewegt werden und zeugte so für diesen. In der oben erwähnten Äußerung Bonnets begegnen sich nun zwei gegensätzliche Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Sachlage, die auch die Lehre vom animalischen Magnetismus, der dieses Kapitel gewidmet ist, kennzeichnen: Zum einen ist Bonnet als frommer Protestant begeistert von den physikotheologischen Möglichkeiten der Lehre Newtons. Zum anderen aber ist er - wie wir noch anhand seiner Palingenesie- 61 Bonnet 1770, II, S. 9 62 Zur Geschichte dieses Konzepts von pseudo-Demokrit (Physika) bis zu Paracelsus und Van Helmont vgl. Blay 1998, Artikel „Attraction/ affinité“. Die okkulten Bande der Sympathie und Antipathie, die die Einheit des Kosmos garantieren, finden sich vor allem in der hermetischen Tradition. Vgl. ebda. S. 543. 63 Vgl. Halleux in: Blay 1998, S. 595f. 64 Principia I, iii, Prop. 6, cor. 4; vgl. Halleux in: Blay 1998, S. 596. 439 Lehre sehen werden - auch Dualist. Ein Dualist im Sinne von Descartes kann nun einerseits kein Interesse daran haben, einen zwischen den Himmelskörpern im leeren Raum agierenden Geist anzunehmen, denn in diesem Falle würde sich die Bewegung nicht von einem unausgedehnten Geist einer ausgedehnten Materie zur mechanischen Weiterleitung mitteilen, sondern der Geist müsste Ausdehnung überbrücken, sich in ihr bewegen, räumlich werden; der Dualismus von Ausgedehnt und Unausgedehnt wäre zerstört. Andererseits ist es für einen Dualisten auch inakzeptabel, anzunehmen, die Himmelskörper trügen das Prinzip ihrer Bewegung in sich, denn dann wäre die Bewegung in der Materie. Daher wurde vielfach (wie wir auch in der magnetistischen Theoriebildung sehen werden) postuliert, es müsse ein feinstoffliches Fluidum geben, in welchem die Himmelsbewegungen sich vollziehen. Die Annahme, es handle sich nicht um eigentliche Materie, sondern so etwas wie Geistmaterie, löst (neben der Frage, warum das Ganze nicht mit großem Getöse vor sich geht) gleichzeitig zwei Probleme: Die Abläufe können nun wieder ohne eine Tätigkeit Gottes im leeren Raum auskommen, und die bloße Existenz dieser feinstofflichen Essenz kann wieder für den Geist oder jedenfalls für eine höhere Realität als die der grobstofflichen Welt zeugen. Darüber hinaus erlaubt die Vorstellung eines Fluidums jedoch selbst einem Dualisten, sich wieder an die allgemeine Tendenz zum Energetischen anzuhängen und an die Stelle der toten Mechanik einen lebendigen Energiefluss innerhalb dieses feinstofflichen Mediums zu setzen. Bonnets Versuch, diese Ansätze einer hermetisch ausgerichteten Astronomie auf die irdische Bewegung, die Bewegung der Lebewesen und die Energie der Elektrizität und Wärme, zurück zu übertragen und auch hier nach einem Fluidum zu suchen, zeigt, dass er sich eine Möglichkeit wünscht, sich, ohne seinen Dualismus aufgeben zu müssen, der allgemeinen antimechanizistischen Tendenz anzuschließen. Die Energie des Lebens soll an die Stelle der Mechanik treten, ohne dass die Materie diese Energie freilich wie bei Diderot ganz ohne den Geist erzeugen müsste. Vielmehr kann dieser nun durch alle Wesen, die er beseelt, in das Fluidum hineinwirken; Elektrizität, Magnetismus und Bewegung sind jeweils Fälle einer solchen Mitteilung des Lebens an das Fluidum. Bonnet stellt damit seine früher geäußerte Begeisterung für eine rein biologische Erklärung der Bewegung lebender Wesen aus der irritabilité der Muskelfibern, für die er im Anschluss an Haller eintrat, in einen feinstofflichen Kontext. 65 Dieser Konstellation entspricht, wie 65 „Le principe vital paroît être dans l’irritabilité, cette propriété de la fibre musculaire dont nous devons encore la connoissance aux profondes recherches de M. de Haller“ (Bonnet 1762, S. 135). Damit ist zwar weder gesagt, dass bei der Weitergabe dieser Bewegung kein Fluidum mitspielen müsste, noch, dass der Grund der Irritabilität selbst materiell wäre, aber diese Erklärung begibt sich doch in die Nähe des Materialismus, ebenso wie der Begriff der „machines animales“, der in der gleichen Passage fällt. Andererseits wissen wir, dass Bonnet zu einem monadischen Dualismus von 440 wir sehen werden, in Bonnets Palingenesielehre in analoger Funktion die Annahme eines unzerstörbaren Ätherleibes, der dem Geist erlaubt, einen Wohnort in der Welt zu haben, ohne selbst stofflich und ausgedehnt zu werden. Bonnet will also alles: den immateriellen und nichträumlichen Geist und damit Gott ebenso wie eine innerhab der Welt wirkende Energie, die mehr ist als Mechanik. Der Magnetismus-Begriff wird von ihm in diese Überlegungen hineingezogen. Schon wenige Jahre später wird er in ihrem Zentrum stehen: Noch während der Magnetismus in der Physik nach und nach als Sonderfall der Elektrizität begriffen wird, wird er im Mesmerismus kurze Zeit als allen diesen Phänomenen übergeordnetes Prinzip gelten, das noch einmal die Funktion der universellen Sympathie im Sinne der Renaissance-Hermetik übernehmen kann. Bereits vor der großen Mode des animalischen Magnetismus bahnt sich die Subsumierung des physikalischen Magnetismus unter die Elektrizität an, also die physikalische Ausformulierung der bei Bonnet schon beobachtbaren Tendenz, Magnetismus als Energiephänomen zu betrachten; dadurch wird schon bald nach dem Höhepunkt des Magnetismus-Fiebers in Europa jede Tendenz, ihn als universelles Erklärungsprinzip zu gebrauchen, in das Feld des Vorwissenschaftlichen abgedrängt werden - wenn auch der Mesmerismus als okkultistische Lehre noch ins neunzehnte Jahrhundert fortlebt. Zwischen 1747 und 1752 entwickelt Benjamin Franklin eine elektrische Blitztheorie, aber noch 1775 wird Saint-Martin in offenbar völliger Unkenntnis derselben (obwohl sie immerhin seit 1751 veröffentlicht war) eine hermetische Gewittertheorie aufstellen, die Blitze als Säulen herabfallender ‘Salze’ (das heißt: als chemische Reaktion) erklärt - obwohl wenige Absätze weiter sogar der Begriff der Elektrizität fällt. 66 1771 veröffentlicht Sigaud de LaFond die These, der Magnetismus sei ein Sonderfall der Elektrizität. 1784, im Jahr, in dem das Magnetismus-Fieber seinen Höhepunkt erreicht, wird die Elektrizität bereits in einem Gedicht Barbaroux’ Seele und Ätherleib neigte. Bonnet versucht also, die Neuerungen einer Biologie mit materialistischer Tendenz in ein dualistisches, religiös unterfüttertes Wissen einzupassen. Auch dies ist ein Beleg für die These, dass die Spiele bis zu einem gewissen Grade bezüglich der eingebrachten ontologischen Annahmen offen sind und sich so seltsame Mischungen und Bündnisse ergeben können. Schließlich sei in diesem Zusammenhang auch auf Swedenborgs Erklärung der Bewegung durch Tremulation verwiesen, die einerseits mechanistische Tendenzen hat, andererseits aber darauf hinausläuft, dass die ganze Natur stets in Bewegung ist. Wie Jonsson 1979, S. 230-232, zeigt, schafft Swedenborg gerade mit dieser Mechanik die Voraussetzungen für seine Lehre von der Kommunikation mit Engeln und Jenseits. 66 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 158. Salze sind natürlich hier keine Mineralsalze, sondern sie stehen den spirituellen Essenzen der Geistschöpfung nahe; ihr Herabfallen ist demnach auch nicht mechanisch zu erklären. Insofern ist das, was Saint-Martin hier beschreibt, in seinem Sinne natürlich durchaus ein energetischer Vorgang. Die Ausrichtung dieser Beschreibung ist jedoch alchemistisch und rekurriert nicht auf den Begriff der Elektrizität. 441 im Mercure de France als „âme du monde“ bezeichnet. 67 1785 stellt Charles Augustin Coulomb eine Theorie des magnetischen Feldes auf, die den Weg zur Verrechnung des Magnetismus auf die Elektrizität fortführt. 68 Aber zwischen diesen beiden Entdeckungen, im Jahre 1778, etabliert sich Franz Anton Mesmer in Paris und leitet eine zeitweilige (doch wirkmächtige) Rückkehr zu einer ‘sympathetischen’ Vorstellung von Magnetismus ein, in deren Fortüne Robert Darnton das Ende der Aufklärung erblickt hat. Diese Bewertung durch Darnton ist nicht so zu verstehen, dass mit Mesmer ein rückwärtsgewandter Obskurantismus die Aufklärung verdrängen würde. Mesmer gibt sich durchaus als moderner Arzt und beruft sich, wie alle Aufklärer, auf Newton. Vielmehr zieht er einige durchaus nahe liegende Schlüsse aus der zeitgenössischen Begeisterung für die Energie und vor allem für eine als allgemeines Prinzip aufgefasste Anziehungskraft, die, wie oben schon angedeutet, als eine magnetischenergetische Deutung von Newtons Attraktionsbegriff entwickelt wurde. Robert Amadou trifft die nur aus späterer Sicht widersprüchliche Position Mesmers: „Mesmer, lui, se voulait des Lumières et il est illuministe.“ 69 Darntons These ist vielmehr, dass eine unzufriedene Schicht junger Publizisten, die außerhalb des Establishments stehen, die Thesen Mesmers aufgreifen, um die etablierte Aufklärung, die sie als akademisch erstarrt und in etablierten Positionen verschanzt empfinden, durch eine populäre, nicht akademische Wissenschaft zu verdrängen. Dabei wird eine Mode der Oberschicht (die sich von Mesmer behandeln ließ) zum Träger radikaler politischer Ideen (welche sich aus dessen Lehre entwickeln ließen). Diese Ideen kommen nicht etwa durch Rosseaus Schriften oder die anderer politischer Denker in Umlauf (wenn sie auch teils daher stammen), sondern eben durch jene Verbindung von magnetistischer Welterklärung und sozialer Unzufriedenheit, die der Mesmerismus ist, durch seinen Ruhm und die ihn begleitende Flut von Pamphleten. Gerade ein durchgängiger Widerspruch gegen die Einwände der etablierten Wissenschaft ist typisch für die sozialen Konstellationen, in denen der Mesmerismus seinen Nährboden hat. Der Magnetismus ist also Wissenschaft, Religion und politische Ideologie zugleich. Er verdrängt die Philosophie der letzten Generation der Aufklärer in der öffentlichen Diskussion und popularisiert zugleich viele ihrer Ideen, die dann nach der Revolution, in der die Bewegung selbst (teils physisch) zu Grunde geht, wiederum als Bauelemente für eine neue Welterklärung zur Verfügung stehen. 70 In diesem Sinne also - und nicht im 67 „O feu subtil, âme du monde,/ Bienfaisante électricité/ Tu remplis l’air, la terre, l’onde,/ Le ciel et son immensité“, Mercure de France Juli 1784, bei Darnton 1968, S. 29 68 La Fond, Traité de l’electricité, Kapitel XXII, bei Halleux in: Blay 1998, S. 599f. Zu Coulomb: ebenda, S. 600f. 69 Amadou 1989, S. 49 70 Vgl. Darnton 1968, etwa S. 161-167. 442 Sinne von Obskurantismus - bedeutet der Mesmerimus das Ende der Aufklärung. Aber nicht seine politische Rolle soll uns hier interessieren, sondern sein - phantastischer oder naturphilosophischer - Gehalt im Verhältnis zum allgemeinen Spiel der Energie. Mesmer unternimmt mit Hilfe einer Rückübertragung des Magnetismusbegriffs auf die (von Newton ja vom Magnetismus geschiedene) Gravitationslehre unter Heranziehung älterer, vor allem paracelsischer Vorstellungen von der Influenz der Sterne eine Art Restauration des Prinzips der universellen Sympathie. Schon bald kann diese universale Anziehungskraft auch von Lebewesen ausgehen. Mesmer versucht Kuren mit Hilfe des von ihm angeblich entdeckten animalischen Magnetismus, die - wie Ellenberger (1970) darlegt - eigentlich nicht mehr in die Geschichte der Medizin oder der Physik, sondern in diejenige der Tiefenpsychologie gehören: insofern nämlich, als Mesmer mit einer Art von hypnotischer Einflussnahme auf das Unbewusste der behandelten Personen wirkt. Court de Gébelin, der uns schon als Verbindungsmann entgegengesetzter Strömungen wie Sensualismus und Illuminismus begegnete, ist auch ein begeisterter Patient Mesmers, stirbt jedoch kurz nach seiner vermeintlichen Heilung. Die folgende Generation wird den Weg Mesmers unter dem Banner des Somnambulismus weiter gehen; in den Zwanzigerjahren des neuen Jahrhunderts wird dann auch der Somnambulismus nach und nach in den Untergrund des Okkultismus verschwinden. Darnton zeigt eindrucksvoll, dass das aus heutiger Sicht Phantastische des Mesmerismus in dem seinerzeit weiten und ungegliederten Feld der Naturwunder, das aus tatsächlichen Neuentdeckungen, alten Fiktionen und kühnen Hypothesen, die neue Systeme stützen sollten, bestand, keine Absonderlichkeit war. 71 Nicht Mesmers Arbeit selbst und der reich dokumentierten Praxis seiner Heilungen 72 jedoch wollen wir uns hier zuwenden, sondern den Publikationen einiger anderer Autoren, vor allem einer der interessanteren und umfassenderen Theorien des Magnetismus aus dem unmittelbaren Umkreis Mesmers, derjenigen des Philosophen Nicolas Bergasse. Die Schrift, der wir sie entnehmen wollen, 73 erschien, ebenso wie die anderen hier interessierenden Schriften, in jenem Jahr des Magnetismus 1784, in welchem Ludwig XVI eine Untersuchung über dieses Phänomen anstellen ließ und in dem mehr als je zuvor oder danach zu diesem Thema publiziert wurde. 71 Darnton 1968, S. 12-17 72 Genaue Beschreibungen und Auswertungen einer Fülle von Archivmaterial (vor allem aus den 14 Quartobänden zu je ca. 1000 Seiten, die die Sammlung der Bibliothèque nationale de France zum Magnetismus ausmachen) finden sich bei Darnton 1968. 73 Bergasse schrieb eine Unzahl von Werken, meist in Pamphletformat, über den Magnetismus. 443 a) Die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit des Magnetismus Die Mitglieder der Kommission, unter denen sich der aufgrund seines Interesses am Blitz auf Energie-Fragen spezialisierte Franklin befand, außerdem der Chemiker Lavoisier und der Arzt Guillotin, 74 demolieren das gesamte Gebäude des Magnetismus, indem sie zunächst alles nicht empirisch Überprüfbare aus ihm ausschließen 75 und ihn auf die unmittelbar sinnlich zugängliche Komponente reduzieren. Sie kürzen also die esoterisch-naturwissenschaftliche Mischung dieses Gebildes um seinen esoterischen Anteil und passen es in das Wissensspiel ein, in dem es auch selbst vorgab, mitzuspielen. Sie kommen - aufgrund einiger aus heutiger Sicht sehr überzeugender Experimente, teils mit Placebos 76 - zu dem Schluss: „Rien ne prouve l’existence du fluide magnétique animal“. 77 Dieses belebende und energisierende Fluidum, das von Mesmers Anhängern als feinstofflich und lichtähnlich beschrieben wurde, 78 galt als die Grundlage des gesamten Lehrgebäudes, das damit als Schimäre entlarvt sein sollte. Die sichtbaren Effekte bei behandelten Personen kann die Kommission erklären als „imagination, attouchement, imitation.“ 79 Genau in diesen Punkten hat Esmonin de Dampierre in einer im gleichen Jahr erschienenen Schrift die Kommission kritisiert: Man hätte Versuchsanordnungen finden müssen, die diese drei Möglichkeiten ausschließen, und man hätte die Möglichkeit einer sinnlichen Überprüfung hinterfragen müssen: Der Mensch muss sich nämlich die Sinnlichkeit, die ihm den Magnetismus zugänglich macht, erst wieder erschließen; sie wird ihm in Mesmers Entdeckung zurückgegeben, wenn er es vermag, über die Grenzen seiner bisherigen Sinne hinauszugehen: […] je crois voir ici une faculté de l’homme, un sens de plus qui vient de lui être restitué. 80 Natürlich ist damit die Hypothese, es gebe ein magnetisches Fluidum, nicht mehr falsifizierbar, denn demjenigen, der es nicht wahrnehmen kann 74 Die von diesem erfundene Maschine sollte in der terreur das Leben des genannten Chemikers auf tragische Weise beenden. 75 „Le Magnétisme animal embrasse la Nature entière; il est, dit-on, le moyen de l’influence des corps célestes sur nous; les Commissaires ont cru qu’ils devoient d’abord écarter cette grande influence, ne considérer que la partie de ce fluide répandue sur la terre, sans s'embarasser d’où il vient, & constater l’action qu’il exerce sur nous, autour de nous & sous nos yeux, avant d’examiner ses rapports avec l’Univers“ (AAVV 1784, S. 10). 76 Vgl. Darnton 1968, S. 63-64. 77 AAVV 1784, S. 77 78 Etwa Anonym 1784a (La Vision...): „Le magnétisme ou fluide universel qui émane de tous les corps, qui les entretient & les pénètre, est semblable á la lumière qui vivifie nos regards“, S. 18. 79 AAVV 1784, S. 71 80 Esmonin de Dampierre 1784, S. 43 444 und daraus auf seine Nichtexistenz schließt, wird einfach die Fähigkeit zu solcher Wahrnehmung abgesprochen. Zugleich zeigt sich aber, dass das achtzehnte Jahrhundert nicht die Sinnlichkeit schlechthin aufwerten will, sondern eine klar umgrenzte: Ein neuer, gar ‘elitärer’ Sinn, den nur manche entwickeln können, ist einfach nicht denkbar; jeder soll sich, eventuell vermittels unterstützender Geräte, von den Entdeckungen der Forscher überzeugen können. Eingeweihte und Erleuchtete wie jener „homme instruit de la Divinité même,“ und „doigt de la providence,“ 81 als der Mesmer in einer anonymen Beschreibung einer Traumvision begrüßt wurde, werden damit zu Scharlatanen. Die Möglichkeit einer Restitution („qui vient de lui être restitué“) einer prälapsaren Menschlichkeit etwa an Reintegrierte oder mit Gott Versöhnte spielt keine Rolle mehr, denn der postedenische Zustand ist (wie wir bei Condillac sahen) die Normalität, die selbst die Norm vorgibt. Damit wären wir bei dem esoterischen Hintergrund dieser Äußerungen: Der verborgene zusätzliche Sinn des Menschen ist ein illuministisches Motiv; dort gibt es etwa das Herz als inneres Sinnesorgan oder den sens moral. Und Esmonin de Dampierre verwendet auch sonst teils illuministisches Vokabular, das er in eine holistische Naturvorstellung einbringt, so in seinen Ausführungen über die Möglichkeit einer Wiederherstellung der „Médecine primitive“ der Natur, die vom Menschen (wie in der Alchemie) vollendet werden soll. Je me plais à croire que l’homme sorti du sein de la Divinité, en a reçu tous les dons nécessaires pour se préserver ou guérir des maladies […] les hommes n’ont eu recours ensuite aux médicamens composés […] qu’après avoir oublié les rapports directs de leurs facultés, avec l’action générale & universelle; & surtout après avoir, par leurs excès & leurs déréglemens, donné naissance à des maladies factices & compliquées, qui participent plus ou moins des propriétés malfaisantes des différentes classes d’Etres dont ils ont abusé. 82 Der zivilisatorische Sündenfall des Menschen hat ihn der Natur entfremdet und an die Stelle der ursprünglich von der Natur vorgesehenen künstliche Krankheiten gesetzt (dieser Gebrauch des Begriffs factices erinnert wie die Begriffe action générale & universelle, facultés, classes d’Etres und die Ablehnung des Zusammengesetzten an Saint-Martin). Der Magnetismus vermag die Möglichkeiten der Natur wieder herzustellen und zu vollenden, so dass die ursprüngliche Einheit von Krankheit und Genesungsmitteln in der Natur wieder hergestellt ist 83 - eine Vorstellung, die auch in heutiger Naturmedizin noch eine Rolle spielt. In Mesmers Logen wurde die Natur von 81 Anonym 1784a, S. 11-12 82 Esmonin de Dampierre 1784, S. 44 83 In Barbeguieres Maçonnerie mesmérienne 1784 wird der Magnetismus als Restitution einer prisca medicina aufgefasst, die die Alten schon kannten; sie wird die unsichere Chirurgie und Pharmazie ersetzen (S. 4-5). 445 Krankheit teils als Störung der großen Lebensbewegung vom mouvement zum repos aufgefasst, die wiederum Teil des „mouvement universel“ ist. 84 Eine Heilung wäre, wie wir es auch bei Bergasse sehen werden, eine Wiedereingliederung in diese allgemeine Gravitation: ‘zurück zur Natur’ als Rückkehr zum Gleichschwung der Bewegung. In der Diskussion um die Wissenschaftlichkeit des Magnetismus begegnen sich also hermetische und naturmystische Traditionen und neue Naturwissenschaft - sowohl übereinstimmend (im gemeinsamen Bezug auf Newton, in der Aufwertung der Sinnlichkeit und der Energie) als auch antagonistisch (im Kampf um die wahre Sinnlichkeit und die richtige Deutung der Gravitationslehre). Diese Situation ist kennzeichnend für die unübersichtlichen Allianzen des Mesmerismus. b) Bergasse Ganz ähnlich sind die Verhältnisse bei Bergasse, der seine Considérations sur le magnétisme animal ou La théorie du monde et des êtres organisés, d’après les principes de M. Mesmer ebenfalls 1784 publizierte. Auch er kritisiert die Tätigkeit der Kommission, in der er Irrtümer und Blindheiten am Werk sieht, welche ihm dafür stehen, dass Wissenschaftsgeschichte durch Äußerlichkeiten, Gewohnheiten, Animositäten und Moden angetrieben wird. 85 Der beleidigte Ton gegenüber der akademischen Welt ist allerdings, wie Darnton zeigt, schon seit Anfang des Jahrzehnts ein typisches Stilmittel in den Publikationen von Mesmer und seinen Anhängen und gehört in die Selbststilisierung des Magnetismus als ausgegrenzte Gegenwissenschaft. 86 Im Titel von Bergasses Schrift zeigt sich bereits der enge Anschluss an die zeitgenössische Theoriebildung der Organisation, die wir bei Diderot gefunden haben. Der Text bemüht sich aber vor allem um einen Anschluss an Newton: Die Universalität und grundlegende Bedeutung der von Newton beschriebenen Gravitation spricht ihm dafür, dass auch die Bewegung, das also, was die corps organisés kennzeichnet, ja: alle Modifikationen der Lebewesen (besonders der Selbsterhalt) von ihr bestimmt werden. 87 Durch das Argument der Wichtigkeit werden die ‘größte’ Bewegung der Natur und das wichtigste Ziel organischer Beweglichkeit analogisiert: Bewegung und Selbsterhaltung geschehen durch Gravitation, die dadurch „la première cause de tous les phénomènes“ 88 wird. Ob damit die Position des unbewegten Bewegers durch die Gravitation innerhalb der Welt ersetzt wird, bleibt an dieser Stelle offen. Um dies zu entscheiden, müssen wir uns das als nächstes vorgestellte Konzept des fluide magnétique ansehen. Die Not- 84 Barbeguiere 1784, S. 6-8 85 Bergasse 1784, S. 20-25 86 Vgl. Darnton 1968, S. 50. 87 Bergasse 1784, S. 38 88 Bergasse 1784, S. 41 446 wendigkeit, das Einwirken der Körper auf einander mehr oder weniger mechanisch zu beschreiben, führt nämlich nun zur Darstellung der zentralen These Mesmers (deren Stichhaltigkeit von der Kommission geleugnet wurde), derjenigen von jenem überall vorhandenen magnetischen Fluidum, das für die Wirkungen des Mesmerismus verantwortlich sein soll: Les êtres qui peuplent l’univers existent donc dans un milieu commun qui reçoit toutes leurs impressions & qui les transmet de l’une à l’autre. 89 Ist das mechanistisch? In Barbeguieres Maçonnerie Mesmérienne wird dieses magnetische Fluidum selbst als „force motrice“ bezeichnet. 90 Andererseits aber wird eben dort wenige Seiten weiter im Sinne einer dualistischen Mechanik vorgebracht, ein erster Anstoß des unbewegten Bewegers von außen habe das von Fluidum erfüllte Universum für seine ganze Lebensdauer in Gang gesetzt: La premiere impulsion du mouvement dans un espace absolument plein, étoit suffisante pour donner à la matiere toute la direction & toute la gradation de célérité possible. 91 Der Magnetismus bleibt also auch in anderen Zeugnissen ambivalent zwischen einer mechanistischen und einer auf die Vorstellung von Energiefluss aufgebauten Bewegungslehre. Mit seinem in obigem Zitat enthaltenen Begriff der „impression“ scheint sich auch Bergasse einer mechanischen Erklärung zu nähern. Allerdings ist das Medium, das diese Eindrücke weitergibt, nicht eigentlich materiell, sondern ätherisch, subtil und insofern einfacher Mechanik nicht unbedingt zugänglich. Obwohl das magnetische Geschehen durch die Vorstellung der impression also mechanische Züge trägt, ist es doch insofern lebendige Energie, als es in einem feinstofflichen, quasi geistigen Fluidum spielt. Dafür spricht auch die Bergasses Ausführungen als Anhang beigegebene kleine Abhandlung des Grafen von Chatellux, Mitglied der Académie Française, über Materie und Bewegung. Hier wird im Sinne Diderots eine belebte Materie vorgestellt, die allerdings nicht wirklich materialistisch konzipiert ist, sondern animistisch im Sinne einer Gaia-Theorie. Chatellux betrachtet die Energie als Sekret des inneren Lebens der als lebendes Individuum aufgefassten Erde. Die nunmehr als „électricité animale“, nicht mehr als Gravitation, aufgefasste Energie durchwaltet ein Fluidum, das selbst lebendig ist, Bewegung nicht nur nicht bremst, sondern aktiv weiter gibt. 92 Die Ambivalenz zwischen dem mechanistischen Erbe, das in der Impressi- 89 Bergasse 1784, S. 42 90 Barbeguiere 1784, S. 22 91 Barbeguiere 1784, S. 23 92 Chatellux in: Bergasse 1784, S. 146-149. Dagegen stellt Anonym 1784a ausdrücklich in Abrede, dass der Magnetismus Wärme, Luft, Licht oder Elektrizität sei; vielmehr sei er all diesen übergeordnet (S. 22-24). 447 onsvorstellung durchschlägt, und dem Versuch einer vitalistischen Auffassung vom Magnetismus äußert sich auch in einer (von einem Anonymus stammenden) Gleichsetzung des Magnetismus mit dem „méchanisme de la vie“, der zugleich Weltseele, „ame commune à tous les êtres, une émanation directe de ce grand tout, un rayon de ce principe éternel“ ist. 93 Die Notwendigkeit der Annahme einer materia sublimis erwächst in Bergasses Text im Übrigen aus der (mit dem unerlaubten Analogieschluss von der Bedeutung der Gravitation für die Sterne auf eine ebensolche bei den Lebewesen gefolgerten) Behauptung, die Gravitation wirke selbst in die Körper hinein. Nur ein ätherisches Fluidum kann durch alle Körper hindurch fließen. Diese Annahme wird nun noch durch die Möglichkeit attraktiver, durch sie alles auf ein Prinzip, auf eine ‘schöne Theorie’ zurückzuführen, denn dann wäre die Welt aus „une idée unique“ entstanden und „mû par une seule loi“. Die Vorliebe für einfache, einheitliche Theorien, die Saint-Martin angriff, wird hier zum Prinzip gemacht. Dadurch, dass Bergasse die Gravitation (gegen Newton) nun wieder mit dem Magnetismus gleichsetzt, muss er auch annehmen, dass die Lebewesen Pole haben: Diese Pole sind auch die Sinnesorgane für das Magnetische, die Esmonin de Dampierre bei den Kommissaren des Königs vermisste. 94 Das Phänomen der Imitation, das in deren Bericht als einer der wahren Gründe für das Verhalten magnetisierter Personen angeführt wird, ist nach Bergasse dadurch zu erklären, dass die Wirkung des Magnetismus auf diese Pole jeweils bei einander analogen Wesen besonders stark ist (aus dieser Anschauungstradition kommt der noch heute gebräuchliche Ausdruck animal magnetism im Englischen). Dies ist auch der tiefe Grund für Frieden, Gesellschaft, Sympathie und Mitgerissenwerden. 95 Die feinstoffliche Mechanik der gegenseitigen Attraktion erklärt also auch gesellschaftliche Phänomene der Harmonie und Energie. Daraus folgt nun, dass derjenige, der diese Kräfte durchschaut, Missstände korrigieren und möglichen Fehlentwicklungen vorbeugen kann. Mesmers Heilerfolge beruhen auf der Korrektur von Gleichgewichten. Interessant ist, dass diese Mechanik auch für das Moralische gilt. Die Naturnostalgie Rousseaus wird bei Bergasse in einen feinstoffmechanischen Zusammenhang gestellt. Die Entfremdung des Menschen von der Natur als körperliches und geistiges Phänomen ist durch richtige Magnetisierung zu beheben, „parce qu’ il n’est aucun mouvement dans notre ame, auquel ne corresponde un mouvement dans notre corps.“ 96 Man kann etwa bei der 93 Anonym 1784a, S. 21 94 Bergasse 1784, S. 49 95 Bergasse 1784, S. 50-52. Die Imitation und ihre Voraussetzungen Imagination und Gedächtnis werden auf S. 122ff neben dieser quasi mechanischen Erklärung auch noch einmal in sensualistischer Sprache beschrieben. 96 Bergasse 1784, S. 64 448 Auswahl der Naturgegend, in der ein Kind aufwachsen soll, durch analogische Magnetisierung (das heißt, man wählt gezielt einen Wald oder einen Blumengarten als einwirkende Umgebung) die Entwicklung des Kindes lenken. 97 Hier zeigt sich allerdings, dass sich der Magnetismus in dieser allgemeingültigen Form nur schwer gegen ebenso allgemeingültige, aber weniger konturierte Vorstellungen wie die eines vagen ‘Einflusses’ einer Umgebung auf eine Person absetzen kann. 98 Das gilt auch für die Lehre, die Analogie unserer Organisationen bestimme die besondere harmonische gegenseitige Magnetisierung, welcher die Gesetze und Sitten einer Gesellschaft zu verdanken seien. 99 Hier könnte man ohne Verlust den Begriff des Magnetismus streichen. In einem anonymen mesmerianischen Druck aus gravierten Blättern, der ebenfalls 1784 erschien, wird sogar die goldene Regel der Moral als Anwendungsfall der „Loix de l’Equilibre“ dargestellt. 100 Interessanter ist der Gedanke von Bergasse, die guten Sitten würden dadurch verdorben, dass wir unsere Energie auf allzu verschiedene Dinge richteten. 101 Die Depravierung der Moral und die Schwächung der Gesellschaft durch die Vielzahl der Künste im Sinne Rousseaus werden also durch eine Art Energie-Ökonomik erklärt. Die Komplexität durcheinander wirkender Einzelbewegungen stört die Harmonie des Kosmos und macht den Einzelnen krank; dieser muss daher durch physische, magnetische Einwirkung wieder auf das größere, ruhigere Gesamtgeschehen und Gleichgewicht der großen Gravitation eingestellt werden. 102 Die magnetische Behandlung ist also eine Wiederherstellung der Harmonie von Mikrokosmos und Makrokosmos, 103 wobei der Makrokosmos (im Unterschied 97 Bergasse 1784, S. 70 98 Mag der Influenzbegriff auch im achtzehnten Jahrhundert schon auf dem Weg der Verflachung sein, den er bis heute fortgesetzt hat, so hat er doch einen astrologischen Hintergrund, der verwandt, aber nicht identisch ist mit dem magnetistischen Konzept. Bei der Betrachtung von Saint-Martins Position zum Magnetismus wird sich zeigen, dass es Berührungspunkte gibt. Dennoch ist die Vorstellung des ‘Einflusses’ nicht genügend spezifisch für den Magnetismus, dass die oben referierte Kur durch Auswahl geeigneter Umgebung als Beispiel der Anwendung des magnetischen Fluidums gelten könnte. Eine verflachte, sozusagen sublunare, Version des astrologischen Influxus könnte das Phänomen genauso erklären wie die damals gängigen holistischen Vorstellungen vom Menschen als Teil des großen Naturganzen. 99 Bergasse 1784, S. 79 100 Anonym 1784b, S. 147. Der Katalog der Bibliothèque Nationale de France, die eines der seltenen Exemplare besitzt, schreibt (wohl aufgrund der Ähnlichkeit des Titels: Théorie du Monde & des Etres organisés suivant les principes de M.) auch dieses Werk Bergasse zu. 101 Bergasse 1784, S. 83 102 Bergasse 1784, S. 105 103 Darnton 1968, S. 14, macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung, Heilung sei die Wiederherstellung einer Harmonie von Mikrokosmos und Makrokosmos, besonders in der vitalistischen Hermetik eines Paracelsus, J.B. van Helmont, Robert Fludd und William Maxwell zu Hause war. 449 etwa zur illuministischen Auffassung) durch das Ungleichgewicht des Mikrokosmos nicht beeinträchtigt ist; es genügt, diesen an jenen anzugleichen. In diesen Gedanken liegt natürlich auch das von Darnton betonte revolutionäre Potential des Mesmerismus. Die Popularisierung von Rousseaus Gesellschaftskritik im Verein mit dem Gedanken einer nicht mehr von akademischen und sozialen Eliten, sondern eben von der Gruppe um Mesmer zu erwartenden Korrektur der gesellschaftlichen Missstände, die Vorstellung, die Gesellschaft sei krank und könne mit der neuen Magnetkunst geheilt werden, sowie die Idee eines Naturrechts und einer natürlichen Moral, die sich durchsetzen werden, sobald die etablierten Ärzte und Moralhüter verdrängt sind, machen die Sprengkraft dieser Mischung aus. Die feinstofflichen Anwendungen des Magnetismus in der Gesellschaftslehre gehen kontinuierlich in eine immaterielle über, die Bergasse in seiner magnetistischen Kunstästhetik vorschlägt: Es ist nicht verwunderlich, dass er sich für eine Ästhetik der Energie, des émouvoir und plaire ausspricht. Bergasse (der kränklich war) fügt auch die Künste in sein Programm der magnetischen Kuren zur Unterstützung von Selbsterhaltungsbewegungen ein: Ein bestimmter Klang oder Anblick wirkt auf das „jeu de notre organisation“ suspendierend, ein anderer energisierend - man beachte das (aufgrund unseres bisherigen Wissens erwartbare) gemeinsame Auftreten der Motive der Energie und der Organisation. 104 Das ästhetische Zeichen repräsentiert hier nichts mehr; es geht im Spiel der Energie auf und wird beinahe zum kybernetischen Steuerungssignal. Bei Saint-Martin werden wir ein anspruchsvolleres Gegenstück dieser Konzeption im Sinne einer Teilhabe am herabfließenden Logos, der die Welt führt und erlöst, kennen lernen. c) Saint-Martin Auch Saint-Martin äußert sich 1784 zum Magnetismus, und zwar skeptisch, obwohl er im Februar des Jahres der mesmerschen Société de l’Harmonie beigetreten ist. 105 Er will sich zwar nicht bezüglich der Wirkungsweise des Magnetismus festlegen, aber fest steht für ihn, dass es sich um ein weit weniger grundlegendes Phänomen handelt, als es die Parteigänger Mesmers behaupten. Wenn überhaupt, so wirkt es nur in den facultés des Menschen, allenfalls auf den „germe physique,“ 106 und berührt nicht sein inneres geistiges principe. 107 Die Wunder, die die Heiligen gewirkt haben, sind im Unterschied dazu durch die belebende Eingliederung ihres 104 Bergasse 1784, S. 94 105 Vgl. Darnton 1968, S. 69. 106 Saint-Martin 1969, S. 116 107 Saint-Martin 1784, S. 93-94 450 „principe de vie“ in den Fluss der vérité durch den Glauben zu erklären (in Kapitel IV werden wir versuchen, dieses phantastische Konzept zu verstehen). Die oberflächlichen Heilerfolge des Mesmerismus verdunkeln dem Menschen sogar seinen gefallenen Stand, denn sie wiegen ihn in der Illusion eines Heils, das ohne Glauben, durch bloße äußere Einwirkung, zu erlangen wäre. 108 Was die Einflüsse der Gravitation angeht, so sind diese (wie es alte hermetische Lehre ist) die Wirkung der „puissances sidériques,“ der Geister, die in den Gestirnen wirken. Diese müssten aus martinistischer Sicht eigentlich dem Menschen unterworfen sein, haben jedoch aufgrund des Falles über ihn Macht erlangt. Durch Reintegration kann sich der Mensch diesen Einflüssen entziehen und wieder über sie herrschen, aber es sind nur wenige, „qui planent au-dessus de ce sidérique et qui sont dirigés par l’esprit pur.“ 109 Die Sterne garantieren keineswegs im heutigen Zustand die Harmonie des Kosmos, sondern könnten dies nur, wenn der Mensch wieder an seinem Platz bei Gott wäre. Die siderischen Kräfte sind für den gefallenen Menschen eine Quelle der Täuschung, derer sich auch „l’ennemi“ bedient, indem er die Einflüsse auf ihrem Weg nach unten in allerlei „tristes mélanges“ verwickelt. 110 Der Magnetismus ist besonders irreführend, da er von dieser siderischen Ordnung ist. 111 Man erinnere sich der lumière astrale bei Dutoit-Mambrini und in Saint-Martins Crocodile. Im Übrigen werden wir bei unserer Darstellung der martinistischen Kosmologie und Astrologie sehen, dass das Wirken der Sterne hier in noch radikalerer Weise als im Mesmerismus weder als Gravitation noch als Magnetismus verstanden wird, sondern als Weitergabe einer feurigen Lebensenergie. Saint-Martin hat sich im Jahr des Magnetismus längst für die Elektrizität 112 als die interessantere Energieart entschieden, deren landläufige Form, wie er glaubt, in einem „fluide intermédiaire entre les corps et le principe des corps“, also zwischen Materie und geistigem Prinzip, wirkt. Dieses Fluidum darf man, so Saint-Martin, aufgrund der Schnelligkeit der in ihm stattfindenden Reaktionen als einfach und also als ontologisch höher wertig, dem Geist nahe stehend, auffassen. Saint-Martin kennt jedoch auch noch andere Formen der Elektrizität, die auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Wesens einander analog sind: „Chaque substance a son analogie et son électricité.“ So ist diejenige des Geistes die Prophetie, die des 108 Saint-Martin 1784, S. 98-99 109 Saint-Martin 1800, I, S. 156. Vgl. die schon im Titel genannte Sphäre des Astralen bei Dutoit-Mambrini 1793. 110 Saint-Martin 1800, I, S. 153 111 Saint-Martin 1800, I, S. 158-161 112 Zur esoterischen und naturphilosophischen Betrachtung der Elektrizität im 18. Jh., die wir hier nur oberflächlich streifen können, vgl. vor allem die (auf Deutschland zentrierte) Studie von Faivre 1981. 451 Herzens die göttliche Liebe, die der unsterblichen Seele die Heiligkeit. 113 Das mag eine bloße Ummünzung als interessant und neu empfundener naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit in religiöse Metaphorik sein, aber es zeigt doch, dass auch und gerade die höheren Vermögen des religiösen Lebens bei Saint-Martin als Energien aufgefasst sind. Die Elektrizität ist hier die geistige Energieform schlechthin und wird daher mit den Kräften von Geist, Herz und Seele gleichgesetzt. 2.2.2. Eine Brücke zwischen Taxonomie und Energie: Die Kette der Wesen Die Annahme eines von einem Fluidum durchwebten Kosmos, die den Magnetismus kennzeichnet, haben wir auch bei Delisle de Sales kennen gelernt. Wie wir sahen, verbindet sie sich dort mit einer Begründung der Fliehkraft durch das Wirken des Elementarfeuers. Das Zentralfeuer wirft energiedurchwirkte Körper aus sich heraus, die in dem Maße, in welchem sie erkalten, in Attraktionsbeziehungen eingehen. Die für aus Hermetik und Kabbala entwickelte Systeme (wie die Robert Fludds und Böhmes) typische Idee, Anziehung und Zusammenziehung seien Tod oder Nichts, Energie und Zeugung aber Leben, definiert bei Delisle de Sales den ontologischen Status eines Wesens auf einer Ordnung der Erkaltung, denn Leben (und mithin Energie) und Sein sind für ihn dasselbe. 114 Das Fluidum ist für ihn der Ort, an dem der Bereich, in dem die Fliehkraft der ausströmenden Feuerenergie vorherrscht, und der Herrschaftsbereich der Attraktion der erkaltenden Körper miteinander verbunden sind und ein Gleichgewicht der ‘Trägheit’ finden: […] il y a donc, dans la grande chaîne des êtres, un fluide intermédiaire, où le feu, ainsi que le pouvoir de graviter, sont à la fois dans un état d’inertie. 115 Nicht so sehr die Annahme eines Fluidums soll uns jedoch nun interessieren, sondern die Vorstellung einer „chaîne des êtres“, die durch die verschiedenen Energiezustände zwischen Feuer/ Fliehkraft und Erkaltung / Attraktion gegliedert ist. Die Struktur der Kette ist von der Energie zumindest mit bestimmt. Delisle de Sales ist damit ein später Exponent der ‘Energisierung’ jener Kette der Wesen, der wir uns jetzt zuwenden wollen. Sowohl die das spätere achtzehnte Jahrhundert kennzeichnende Idee von einem belebten harmonischen Ganzen, in dem Magnetismus und Energie wirken, als auch der für den taxonomischen Diskurs grundlegende Gedanke einer vollständigen kontinuierlichen Reihe minimal unterschiedener Wesen berühren sich (und decken sich teils sogar) mit der alten eso- 113 Saint-Martin 1966; Nr. 80, S. 95 114 „...il est démontré dans la saine physique que le mot de vie est synonyme à celui d’existence.“ (Delisle de Sales 1780, S. 165 115 Delisle de Sales 1780, I, S. 174-178 452 terischen Lehre von der großen Kette der Wesenheiten. Damit kann dieser Topos als Begegnungsort von Ordnung und Energie aufgefasst werden, wobei mit der Hervorkehrung der Energie nur ein Potential, das der Vorstellung von der aurea catena schon immer eignete, aktualisiert wird. Der Energiegedanke, der von der Emanationslehre her jederzeit in der Lehre von der Kette der Wesen wirksam werden konnte, tritt so gerade in einer Konzeption in Erscheinung, die im Herzen des taxonomischen Diskurses wirkt. Denn die Vorstellung, alle Wesen seien auf einer großen Kette von Gott bis hinab zu den niedrigsten Existenzformen aufgereiht, die weder Lücke noch Sprung kennt, kann als so etwas wie die mythische Gestalt jener Wissensform betrachtet werden, die alles zu Erkennende in Reihen anordnet, deren Glieder voneinander durch kleinstmögliche Unterschiede getrennt sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Idee, über die sich Voltaire im Artikel „Chaîne des êtres créés“ in seinem Dictionnaire philosophique lustig macht, gerade im ‘klassischen’ Zeitalter noch eine gewisse Fortüne hatte. Dieses Motiv nähme sich im Rahmen einer Voltaires Bemühungen für die Gesamtheit nehmenden Beschreibung des Aufklärungszeitalters als einer Zeit bloßer Säkularisierung seltsam religiös aus. In einem Modell jedoch, in welchem sich Aufklärer, Apologeten und Esoteriker innerhalb einer épistémè der Klassifikation auf Reihen der geringsten Unterschiede hin diskutierend begegnen, kann die Kette der Wesen zwanglos ihren Platz finden, gleichgültig, ob man sie nur als regionale Variante des herrschenden Diskurses oder auch (wie wir es tun wollen) als Lieferant von dessen Grundideen der Kontinuität und der Lückenlosigkeit ansehen will. a) Die Tradition Arthur O. Lovejoy hat in seiner klassischen Studie über die Tradition der Kette der Wesen diese präzise als Begegnung des (aristotelischen) Prinzips der Kontinuität mit einem platonischen Prinzip der Fülle beschrieben 116 - wobei er letzteres als die Forderung fasst, dass alles, was der Schöpfer entwerfen kann, aufgrund von dessen überfließender Güte auch die Existenz erhalten muss. Die Vorstellung der Kette der Wesen hängt also von der Überlegung ab, dass es alles Denkbare geben muss und dass dieses dann in eine kontinuierliche Reihe kleinster Unterschiede gestellt werden kann. Lovejoy und Kondylis (der die Bedeutung dieser Motivik ebenfalls erkennt) wählen als einen der Gewährsmänner für diese Tradition im achtzehnten Jahrhundert Pope, dem mit seinem Essay on Man einer der beliebtesten (und wohl auch einflussreichsten) poetischen Texte seines Zeitalters gelungen ist. Hier einige Verse, in denen sich wesentliche Elemente dieses Topos zeigen: 116 Lovejoy 1936, S. 76-77 453 Vast chain of being! which from God began, Natures ethereal, human, angel, man, Beast, bird, fish, insect, what no eye can see, No glass can reach; from infinite to thee, From thee to nothing. - On superior powers Were we to press, inferior might on ours; Or in the full creation leave a void, Where, one step broken, the great scale’s destroy’d; […] All are but parts of one stupendous whole Whose body Nature is, and God the soul. 117 In der Geschichte auf Strategien gegründeter polemischer Stellungnahmen, die Kondylis über die Epoche der Aufklärung erzählt, ist Pope nicht nur ein Erneuerer der Tradition der Kette der Wesen, sondern er hat auch an jener Entwicklung teil, die uns hier besonders interessiert: Er wirkt maßgeblich daran mit, dass diese Kette in Bewegung kommt, nicht nur als Ordnung, sondern als energetisches Geschehen auftritt. Bei Pope ist die Kette lebendig und beweglich, wie überhaupt die ganze Natur lebendig ist. Und wie die Kette der Wesen ist auch die Natur insgesamt bei aller Beweglichkeit geordnet: Unter dem Einfluss Newtons wird die Natur nicht mehr als gefallen und ungeordnet, sondern als Ausdruck der „Ordnung des göttlichen Gesetzes“ 118 betrachtet. Der Geist ist in der Welt, er ordnet und bewegt sie von innen, nicht als äußerlicher Beweger eines toten Mechanismus. „Am Ende dieser Entwicklung steht die These: ist die Bewegung bzw. die Kraft ursprüngliche Eigenschaft der Materie, so enthält die Natur den eigenen Grund in sich.“ 119 Die Vergöttlichung der Natur ist ebenso wie ein monistischer Materialismus eine mögliche Konsequenz dieser Lage. Wie sich bei Betrachtung des Motivs der Kette der Wesen noch genauer zeigen wird, liegt nicht nur die besondere Anschließbarkeit dieses Gedankens an die ‘klassische’ épistémè, sondern auch die eben erwähnte Möglichkeit der Dynamisierung der Ordnung der Wesen und damit des Naturbegriffs überhaupt (genauso wie übrigens einige Entwicklungen der neueren Astronomie 120 ), in der Tradition der Kette der Wesen und des Prinzips der Fülle beschlossen. Das Prinzip der Fülle, das nach Lovejoy neben dem der Kontinuität eine der beiden Grundlagen unseres Motivs ist, wird in der neuplatonischen Emanationslehre als Fortentwicklung von Vorgaben des Timaios zu einer 117 Pope 1994, I, S. 51-52 118 Kondylis 1981, S. 246 119 Kondylis 1981, S. 249 120 Lovejoy 1936, S. 142, bemerkt, dass die gedanklichen Voraussetzungen neuerer astronomischer Ansichten wie der von der Unendlichkeit des Raumes und der Vielzahl der Welten nicht empirisch zu gewinnen, sondern in mittelalterlichem theologischem Denken zu finden waren. 454 Notwendigkeit des Überfließens entwickelt. Bei pseudo-Dionysius Areopagita ist dann die Schöpferkraft Gottes schlechthin als überfließende Liebe dargestellt. Die Vorstellung, alles, was Gott denken könne, müsse er aufgrund seiner Güte auch mit der Existenz beschenken, wird zu einer Schöpfungslehre des notwendigen Überfließens, die das Motiv der Fülle in Gott mit dem neuplatonischen Emanationsgedanken verbindet: Gott kann gar nicht anders, als zeugen. 121 Dieser Gedanke wird uns bei Jakob Böhme wieder begegnen. b) Widersprüche dieser Motivtradition und illuministische Stellungnahmen dazu Diese Tradition ist, wie Lovejoy ausführt, durch verschiedene Widersprüche und Probleme gekennzeichnet, deren Auflösung in verschiedenen Epochen je anders versucht wurde und von denen wir hier einige in den Blick nehmen wollen, da sie uns die Möglichkeit bieten, ähnlich wie in früheren Kapiteln illuministische Positionen als Antworten auf problematische Verhältnisse in herrschenden Diskursen vorzuführen. Es sind dies: Determinismus, widersprüchlicher Gottesbegriff und das aus der Verbindung von Determinismus und einem bestimmten Versuch der Aufhebung der Widersprüche des Gottesbegriffs resultierende Problem einer durch die Ergebnisse eines kaum menschenmöglichen kontemplativen Aufstiegs determinierten und damit letztlich nicht erschließbaren Ethik. Zunächst tendiert der Gedanke einer aufgrund von Gottes Güte notwendig realisierten Fülle zu einem optimistischen Determinismus: Wenn die Welt notwendige Realisierung einer von Gott ideal vorausgedachten Totalität ist, dann ist alles so, wie es am besten ist und wie er es gewollt hat, und kann nicht anders sein: Er ist dann im Grunde auch nicht frei. 122 Dies bedeutet freilich, dass auch das Böse zur Fülle der von Gott gewollten Möglichkeiten gehört, wie denn auch Abaelard in Fortentwicklung einer Überlegung Augustins behauptet 123 (darin berührt sich dieser Determinismus im Ergebnis, wenn auch nicht unbedingt im Vorgehen, mit bestimmten gnostischen Traditionen; ein anspruchsvoller Versuch, diesen Gedanken doch noch mit dem der Güte Gottes zu versöhnen, wurde wiederum von Jakob Böhme unternommen). Diese Gedankengänge sind die Grundlage auch des philosophischen Optimismus im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, freilich eines solchen, den etwa Voltaire von einem schwarz malenden Pessimismus nicht mehr unterscheiden konnte: Dass das Böse nämlich aufgrund von „immuables lois de la nécessité“, als lo- 121 De divinis nominibus IV, 10, col. 708 und IV, 1, 3, col. 695 in: Dionysius 1968. Diese Passagen waren dem Mittelalter auch durch einen Kommentar des Thomas von Aquin geläufig. Vgl. Lovejoy 1936, S. 88. 122 Lovejoy 1936, S. 91-93 123 Introductio ad theologiam III, in: Abaelard 1967, col. 1093-1095; bei Lovejoy 1936, S. 92. 455 gisch unumgänglicher Teil einer Totalität, viel schwerer zu ertragen ist als als kontingenter Unfall, dies (und nicht etwa der Vorwurf, die Optimisten unterschätzten die Übel der Welt) ist, wie Lovejoy zu Recht betont, der Tenor von Voltaires Poëme sur le désastre de Lisbonne. 124 Namentlich in Candide wendet sich Voltaire bekanntlich gegen den Optimismus Leibnizens. Lovejoy hat gezeigt, dass es diesem insgesamt nicht gelingt, seine Fassung des Prinzips der Fülle als notwendiges schöpferisches Überfließen, aufgrund dessen alle Abstufungen möglichen Seins Existenz erhalten, von Spinozas von vielen als problematisch empfundenem Determinismus abzugrenzen. Die Welt erscheint bei ihm damit als insgesamt notwendig; das Schlechte ist kein Zufall. 125 Wie die Encyclopédie in Bezug auf die damit zusammenhängende Konzeption Leibnizens vom zureichenden Grunde bemerkt, schließt diese aus, dass die Dinge auch anders sein könnten, als sie sind; die Welt ist demnach nicht kontingent - eine Vorstellung, die den Zeitgenossen mehr und mehr kontra-intuitiv zu sein schien. 126 Den Versuch Martines de Pasquallys, die negativen Elemente der Welt aus dem Fluss der Emanation durch eine besondere Betonung der Willensfreiheit emanierter Wesen herauszuhalten, haben wir bereits kennen gelernt. Grundlegend für die Große Kette der Wesen ist nach den Ausführungen Lovejoys sodann wie anderswo im christlich-antiken Erbe ein Widerspruch zwischen zwei gleichzeitig angenommenen Gottesbegriffen: Gott als das selbstgenügsame absolute Gute steht dem aus sich herausgehenden und sogar -müssenden Gott der überfließenden Güte gegenüber. 127 Der eine ist Ziel des kontemplativen Aufstiegs, der andere Ausgangspunkt einer absteigenden Emanation. Der eine steht für Einheit, der andere will die Mannigfaltigkeit. Der Mensch, der den selbstgenügsamen Gott verehrt, gelangt zu einer Ethik der Weltabgewandtheit; dies ist eine der Wurzeln des asketischen Weltumgangs (bzw. des Verzichtes auf einen solchen). Der Mensch jedoch, der sein Handeln an dem überfließenden Schöpfer-Gott ausrichtet, dürfte sich nicht von der Welt abwenden. Er müsste vielmehr an der Mannigfaltigkeit der Schöpfung mitwirken, sie weiter ausdifferenzie- 124 Lovejoy 1936, S. 253-254 125 Vgl. Lovejoy 1936, S. 176ff. 126 Vgl. Encyclopédie 1751-80, Art. S UFFISANTE R AISON , Bd. XV, col. 635 und Lovejoy 1936, S. 213. 127 Eine für das christliche Denken wichtige Belegstelle für diese Konzeption ist etwa Augustin, „De Doctrina Christiana I, 23 in: Augustinus 1887a, col 32: „In quantum bonus est, sumus.“ Diese Liebe ist jedoch nicht als Sehnsucht nach den zu schaffenden Wesen aufzufassen, sondern eben als inneres Überfließen, denn nichts außerhalb Gottes kann diesen bewegen - vgl. Thomas 1936 I (Bd. 2), q.19, art 5, S. 154: „Vult ergo hos esse propter hoc, sed non propter hoc vult.“ (Gott will aus sich heraus das zu schaffende Sein um seiner selbst willen; er wird nicht von dem Begehren nach dem zu Schaffenden determiniert); vgl. ebenda I (Bd. 4), q.44, art 4, ad um, S. 16. 456 ren 128 - nicht unbedingt durch Supplementierung der ja vollendete Fülle produzierenden göttlichen Schöpfungstätigkeit, aber doch zumindest in Form einer Nachahmung derselben in einem ihm zugewiesenen Bereich. Lovejoy bemerkt zu Recht, dass diese Möglichkeit in der Tradition wenig ausgestaltet wurde. Dies mag mit dem platonischen Misstrauen gegen das Mannigfaltige zusammenhängen. Lovejoy ist allerdings der Meinung, Augustin 129 denke in einer Betrachtung über die Schönheit von Menschen gemachter Abbilder kurz darüber nach, ob nicht der Künstler die Mannigfaltigkeit der Schöpfung forsetzen solle und ob also aus dem Prinzip der Fülle so etwas wie eine Ästhetik abzuleiten sei; der gleiche Abschnitt wende sich aber sofort wieder von dieser Überlegung ab. Es lässt sich jedoch leicht zeigen, dass Augustin in dem fraglichen Kapitel das Wort numerositas nicht, wie Lovejoy meint, im Sinne von ‘Vielfalt’ verwendet, sondern im Sinne einer harmonischen, durch Zahlen festgelegten Ordnung oder Proportion, also von Schönheit durch richtige Verhältnisse. 130 Entscheidet man sich für diese Lektüre, so ist die Argumentation Augustins weniger widersprüchlich, und Lovejoys These, die Mitwirkung des Menschen an der Fülle des Mannigfaltigen sei eine wenig bedachte Konsequenz aus der Konzeption des in schaffender Liebe überfließenden Schöpfergottes, wird so wiederum gestärkt. In der Tat ist es allenfalls in künstlerischen Texten, sowie in dem in vieler Hinsicht die Traditionen radikalisierenden Denken Giordano Brunos, dass diese ansonsten kaum bedachte Möglichkeit zum Tragen kommt. 131 Gerade diese weitgehend leer gebliebene Stelle besetzt jedoch Saint-Martin. Der Mensch, so Saint-Martin, ist auch in seinem gefallenen Zustand überall damit beschäftigt, die Welt zu verschönern, zu ordnen und zu schmücken, wenn er auch die Vielfalt der Schöpfung in diesem Rahmen nicht wirklich zu bereichern vermag. Diese Neigung ist ein Rest seines ursprünglichen Auftrages, an der Schöpfung teilzunehmen und mit Gott zusammen Neues geistig zu zeugen. 128 Vgl. Lovejoy 1936, S. 105. 129 Augustinus 1887b, col. 89-90 („De diversis quaestionibus octoginta tribus liber unus“, Nr. LXXVIII: „De pulchritudine simulacrum“); vgl. Lovejoy 1936, S. 108. 130 Augustin erwähnt an der angegebenen Stelle mehrmals die die Schönheit der Schöpfung ebenso wie der Kunstwerke begründenden „numeros, et lineamentorum convenientiam“, so dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass auch die „numerositas humani corporis“ eine harmonische Proportion meint. Für eine solche Verwendung des Adjektivs numerosus gibt das Oxford Latin Dictionary (V, 1203) unter anderem Cicero, De Oratore 166 („non modo numerosa oratio sed etiam uersus efficitur“), Ovid, Amores 2.4.29 („placet gestu numerosaque bracchia ducit“) und Quintilian, De institutione oratoria 8.6.24 („sermonem facere numerosum“). 131 Lovejoy führt Dante, Inferno XI, 104, und Bruno, Lo spaccio de la bestia trionfante, 2. Dialog, an. 457 Oui, le propre de l’homme dans sa vraie mesure était de produire l’harmonie, de répandre autour de lui toutes sortes de merveilles, d’élever […] des autels à son principe, de cultiver tous les trésors de la nature, de les recueillir […] et d’ajouter encore à leur perfection en les faisant passer par lui, pour l’extension du règne de la vérité. 132 Freilich ist dem nicht reintegrierten Menschen keine Neuschöpfung möglich, denn diese ist nur im Verein mit Gott zu erreichen. Alles, was wir vermögen, ist zunächst nur ein Abglanz des zeugenden Zusammenwirkens mit Gott. Dies ist jedoch deshalb kreativ zu nennen, weil auch eine oberflächliche Neuanordnung der bloß erscheinenden Materie bisweilen einer Idee, die vordem nur in ihrem Prinzip existierte, eine materielle Umsetzung geben kann (wir werden diesen Gedanken in Kapitel IV nochmals aufnehmen): Car, quoique ces œuvres ne soient formés que par des transpositions ou modifications, on ne peut se dispenser de les regarder comme des espèces de créations, puisque par ces divers arrangemens et combinaisons de substances matérielles, nous réalisons des objets qui n’existoient auparavant que dans leurs principes. 133 Wer den Weg der Reintegration geht, kann bis zu einem gewissen Grade diese Schöpfungsfunktion wieder erlangen - oder doch zumindest daran arbeiten, dass die Unordnung in der Schöpfung, die aufgrund des Sündenfalles zustande kam, repariert wird. 134 Entscheidend aber ist, dass diese Kreativität des Menschen auch in ihrer höchsten Form niemals autonom sein kann. Der Wunsch, allein und aus sich heraus zu schaffen, hat den Menschen ja in die Materie gestürzt und zum Materiewesen gemacht. Die materiellen Artefakte bleiben Illusion. Nur in der Eingliederung des eigenen Willens in das liebende Ausströmen des Logos kann der Mensch an der Schöpfung, die stets geistig ist, teilhaben. Aber die Ausgestaltung der Schöpfung im Verein mit Gott bleibt eine zentrale Aufgabe des Menschen. Auch der Gedanke, die Stufenleiter der Wesen sei zugleich die Leiter des kontemplativen Aufstiegs zu Gott, mit dem die absteigende und die aufsteigende Version des Motivs verbunden werden sollten, wurde, so Lovejoy, 135 kaum konsequent zu Ende gedacht, denn eine solche Erkenntnistätigkeit hätte keinen Raum mehr für eine echte Ethik gelassen: Mühsam und langwierig wäre der Versuch gewesen, aus der stufenweisen Erkenntnis der Hierarchie der Wesen und schließlich aus der Erfassung von deren (letztlich unerkennbarem) Endpunkt Aufgaben und Bestimmung des Menschen herzuleiten. Solche Erkenntnis müsste dann eine Ethik determinieren, würde sich aber vielleicht erst einstellen, nachdem das durch diese zu 132 Saint-Martin 1800, I, S. 43 133 Saint-Martin 1782, I, S. 5 134 Saint-Martin 1782, I, S. 55 135 Lovejoy 1936, S. 113 458 gestaltende Leben vorübergezogen wäre. Dieser Weg empfahl sich nur wenigen. Saint-Martins pansophische Betrachtung der Natur in aufsteigender Richtung will aber in gewisser Weise genau dies. Immer wieder betont er, dass der Weg der Erkenntnis von der vorfindlichen Natur nach oben zu Gott führen müsse, und dass aus den Prinzipien die wahre loi, die gesetzhafte Wesens- und Handlungsbestimmung aller Seienden, zu gewinnen sei. Aber er kürzt den Weg in charakteristischer Weise ab; der Mensch des Illuminismus muss das ethisch begründete Handeln nicht an das Ende eines langwierigen und beinahe nicht menschenmöglichen Erkenntnisaufstieges verschieben: Die voie intérieure Saint-Martins erlaubt es dem Menschen ja, das äußere Wissen ebenso wie die durch dieses zu bestätigende (und nicht erst zu gewinnende) Ethik an dem Universalinterpretanten zu überprüfen, vielleicht sogar zu gewinnen, der der Mensch selbst ist: Der Mikrokosmos trägt im Grunde die ganze den Makrokosmos erfüllende und eigentlich ausmachende Kette und sogar den göttlichen Logos selbst in sich - er muss nur auf den inneren Christus hören. Dass für Saint-Martin dennoch die Erfassung der Ordnung der Schöpfung eine so große Rolle spielt, hat vielfältige Gründe. So steht zum einen die Selbstlektüre des verschütteten menschlichen Zeichens in einem dialektischen Verhältnis zur Entzifferung des großen Textes, dessen Interpretant es ist. Zum anderen ermöglicht die Bestätigung der aus Innenschau gewonnenen Erkenntnisse durch die Betrachtung der Natur es Saint-Martin, seine Anliegen in dem mehr und mehr von der Naturwissenschaft bestimmten Wissensspiel seiner Zeit unterzubringen. Zum dritten aber ist die Interpretation der Natur für den Menschen im Sinne Saint-Martins mehr als nur eine auf ihn selbst gerichtete Erkenntnistätigkeit: Sie ist Bestandteil seines Heilsauftrages für die ganze Schöpfung. c) Die Kette der Wesen bis zum achtzehnten Jahrhundert: Allgemeines Einige wenige Stationen führen die Geschichte der uns hier interessierenden Motivik ins achtzehnte Jahrhundert weiter. Der Widerspruch zwischen dem selbstgenügsamen und dem überfließend schaffenden Gott, der, wie wir sahen, in der Kette der Wesen immer wieder aufbricht, tritt im hermetisch und kabbalistisch beeinflussten Denken der Renaissance und des siebzehnten Jahrhunderts besonders hervor. Bei Robert Fludd ist das dunkle Nichts untätig und in sich ruhend; es ist zugleich Grund der Konkretion, der Zusammenziehung, die aller Materie zugrunde liegt. Das Gute ist hingegen immer aktiv und schaffend, genügt sich nicht selbst. Fludd setzt damit die Unbewegtheit und Selbstgenügsamkeit des einen der beiden Gottesbegriffe sozusagen mit dem Bösen ineins, die überströmende Fülle 459 des anderen mit dem Guten; beide sind in Gott begründet. 136 Damit ist der Gegensatz der beiden Gottesauffassungen zunächst einmal überhaupt zur Kenntnis genommen und zur Grundlage eines beide integrierenden Entwurfs gemacht. Dieser Gegensatz wird hier einerseits radikalisiert, andererseits vor einem Abgleiten in einen Dualismus bewahrt. Einen ganz ähnlichen Versuch unternahm Jakob Böhme. Leibnizens Anschluss an die Tradition der Kette der Wesen wurde schon erwähnt. Aber auch der sonst theologischen und spekulativen Traditionen gegenüber wenig aufgeschlossene Locke formulierte am Übergang zum achtzehnten Jahrhundert eine Version des Gedankens der Kette der Wesen - allerdings eine physiologische. 137 Sowohl aus der Antike und dem Mittelalter als auch aus der neueren Philosophie kannte damit das achtzehnte Jahrhundert die Tradition der Kette der Wesen. Die Konsequenzen, die es aus ihr zog, sind vielfältig und reichen vom Zweifel an der Hinordnung der Schöpfung auf den Menschen (der doch nur ein Glied einer Kette ist) bis zu einer „Ethik des Mittelgliedes“, die Pope und Rousseau verfochten und nach der sich der Mensch seiner Position in der Stufenfolge der Natur entsprechend zu verhalten und mit seinem Platz zu bescheiden habe. 138 Hier verschwindet die Motivik der Kette der Wesen beinahe in den größer angelegten Versuchen, den Menschen als Natur zu denken und ihm eine natürliche Moral anzuempfehlen. Was uns jedoch am Umgang des achtzehnten Jahrhunderts mit der Kette der Wesen hauptsächlich interessiert, das ist die Energisierung dieser Kette in der Biologie. Die traditionelle Fassung des Prinzips der Fülle besagt, wie wir oben gesehen haben, dass alle denkbaren Wesen von Gott mit der Existenz ausgestattet worden sein müssen, das heißt: immer schon vorhanden sind. Die Vollständigkeit der Schöpfung ist so von jeder Zeitlichkeit ausgenommen. Lovejoy stellt nun die These auf, „eines der wichigsten Ereignisse im Denken des 18. Jahrhunderts“ sei „das Eindringen der Zeit in die Kette der Wesen“. 139 Das Prinzip der Fülle begründet nun nicht mehr einen unveränderlichen Zustand, sondern es wird als Grundlage eines Entwicklungsprogramms der Natur verstanden: Die Totalität der Formen ist ein Ergebnis von Geschichte. Lovejoy sieht die Ursachen dieser Veränderung hauptsächlich in den Problemen der Motivik von der Kette der Wesen selbst begründet. Zum einen wollte man (wie wir oben an Voltaire sahen) den optimistischen Determinismus, der auch das Schlechte als notwendigen Bestandteil der Fülle sah, nicht mehr hinnehmen. Vielmehr musste Raum für eine Verbesserung oder doch die Hoffnung auf eine solche geschaffen 136 Lovejoy 1936, S. 119 137 Locke 1690, III,6,12 138 Vgl. Lovejoy 1936, S. 242. 139 Lovejoy 1936, S. 294 460 werden. 140 Dies galt sowohl für das Fortkommen der irdischen Welt als auch für die neue Eschatologie, die nun das Prinzip der Kontinuität auch im Jenseits betonte: Der Mensch musste in dieser neuen Sicht seines jenseitigen Schicksals, wie Lovejoy vor allem an verschiedenen englischen Denkern sowie an Leibniz zeigt, alle unendlichen Stationen zwischen sich und dem Höchsten irgendwann durchlaufen. Bei Dupont de Nemours werden wir Ähnliches finden. Stete Vervollkommnung im Wechsel, nie stehen bleibende Entwicklung (und nicht mehr platonische Autarkie) wird nun, bei Leibniz und anderen, zur Grundlage von Freude und Glück. 141 Darüber hinaus vermochte die Annahme, die Vollständigkeit der Kette werde erst in der Zeit erreicht, zu erklären, warum die vorfindliche Natur bei näherem Hinsehen nicht so kontinuierlich war, wie der Gedanke der Kette der Wesen es erforderte. 142 Auch wies, wie man immer mehr sah (und wie Leibniz es etwa in seiner Protogaea formulierte 143 ) vieles darauf hin, dass es zu früheren Zeiten andere Lebewesen gegeben hatte. Lovejoy zeigt die (hier nicht weiter interssierenden) Probleme auf, die diese Annahmen für Leibnizens eigene Lehren von der Präformationsthese über die Monadenlehre bis zum Gesetz des zureichenden Grundes und sogar zum Optimismus mit sich brachten. 144 Das Kontinuum der Wesen wurde nun also von der Totalität des Raumes in diejenige der Zeit überführt. Aber dafür sind nicht nur die von Lovejoy aufgezeigten inneren Widersprüche und die empirisch fundierten Einwände verantwortlich, die mit der Kette der Wesen verbunden wurden. Vielmehr ist diese Verzeitlichung auch die Realisation eines ursprünglich durch die Verbindung mit der Emanationslehre dem Motiv der Kette der Wesen bereits eingeschriebenen Dynamismus. Die Energie, die Geschehnishaftigkeit des Emanationsgeschehens müssen ja nicht, wie über viele Jahrhunderte angenommen, in einer bestimmten Form der Kette zum Stillstand kommen, sondern sie können genauso ewig weiter gehen. Ein Gott, der zeugen muss, muss dies auch zu jedem Zeitpunkt. Den gegen den Dualismus von Geist/ Bewegung und Materie/ Ausdehnung gerichteten Strategien der Energisierung und Dynamisierung der materiellen Welt bietet sich so mitten in jener Lehre von der Kette der Wesen, die zuvor die bloße Anordnung dieser materiellen Welt nach Identitäten und Unterschieden getragen hatte, ein Ansatzpunkt. Wird die Kette der Wesen von der Emanation her gedacht, so ist überdies bereits die Position des einzelnen Gliedes auf ihr ein Effekt dieses 140 Vgl. Lovejoy 1936, S. 296. 141 Vgl. Lovejoy 1936, S. 300-301. 142 Lovejoy 1936, S. 303 143 Leibniz 1693. Diese Abhandlung Von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in den Denkmaalen der Natur wurde im achtzehnten Jahrhundert mehrmals nachgedruckt. 144 Vgl. Lovejoy 1936, S. 312ff. 461 Ausströmens, also von Energie. Die Energie wird so zur Begründung der Anordnung. In illuministischen Fassungen der Hierarchie des Lebens ist die Position jedes Wesen durch seine Zeugung, seinen Hervorgang, bestimmt. Zugleich werden durch die Logos-Spekulation (die wir in Kapitel IV näher betrachten wollen) Energie und Anordnung am Ausgangspunkt der Emanation miteinander identifiziert: Der Christus-Logos ist das Leben und der Bauplan der Schöpfung zugleich. d) Robinets Evolutionslehre und die Kette der Wesen Die Evolutionslehre Robinets haben wir schon unter einem anderen Aspekt betrachtet: dem der Hinordnung aller biologischen Entwicklung auf den Menschen als Ziel und zugleich Plan, als Telos und Mikrokosmos. In dem Kontext, in welchem wir uns nun befinden, gilt es zunächst einmal, darauf hinzuweisen, dass Robinet diese Thesen im Rahmen eines mehrbändigen Werkes entwickelt hat, dessen dritter namentlich die Vollständigkeit der Kette der Wesen betont. 145 Das bereits erwähnte Vertrauen Robinets auf die Existenz von Meeresmenschen ist, wie Lovejoy etwas spöttelnd bemerkt, nicht nur auf den Glauben Robinets an unzählige Berichte von Seefahrern (also auf eine, wenn auch aus heutiger Sicht unzureichende, Empirie) zurückzuführen, sondern vor allem auf die Annahme der Lückenlosigkeit der Kette der Wesen. 146 Robinet spricht sich dafür aus, das Prinzip der Kontinuität auf Einzelwesen anzuwenden: Es gibt daher auch für ihn keine Klassen, sondern nur Individuen in der Natur. 147 Die Annahme einer solchen durchgängigen Kontinuität durch alle früher als die Reiche der Natur betrachteten Seinsbereiche erfordert es, dass auch Steine und Lebewesen etwas Gemeinsames haben müssen. 148 Seele, Leben und Vernunft müssen sich also auch bei einfachsten Wesen in Spuren finden. Wir sahen bereits, dass Robinet versucht, diese Kontinuität durch eine Gleichsetzung von so etwas wie einem gemeinsamen Urbild aller Wesen und einem wiederkehrenden gemeinsamen Bauelement zu fundieren. Dabei schwankt er hinsichtlich des Zieles, das er dem evolutiven Geschehen unterstellt, zwischen der von uns bereits betrachteten These, die Natur arbeite auf den Menschen hin, und dem, was Lovejoy „die zeitliche Interpretation des Prinzips der Fülle“ nennt, also einer Ausfaltung erschöpfender Mannigfaltigkeit in der Zeit. 149 Auch dies wurde in Kapitel II bereits dargelegt. Für unseren gegenwärtigen Zusammenhang besonders wichtig ist, dass Robinet durchweg die Natur als pro- 145 Robinet 1768 ist der separat erschienene fünfte Band des Werkes De la nature, Robinet 1761-68. 146 Lovejoy 1936, S. 327 147 Robinet 1761-68), IV, S. 1-2 148 Robinet 1761-68), IV, S. 2-4 149 Lovejoy 1936, S. 336-337 462 duktive Kraft auffasst, die eine Fülle von belebten Wesen hervorbringt. Lovejoy meint, dass Robinet mit seiner Betonung der Aktivität als der eigentlichen Realität der Natur (im Gegensatz zur Materie) vitalistische Auffassungen der Naturphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts ‘vorbereitet’. 150 Interessant ist dabei, dass er sich in dieser Auffassung, die Aktivität und nicht die Materie sei das eigentlich Wirkliche, mit den Illuministen trifft. Wie bei seiner Deutung der Position des Menschen kann er - trotz seiner weltanschaulich ‘materialistischen’ Ausrichtung 151 - als ein Bindeglied zwischen einer empirisch (aber in ihrem Hintergrundbild der Kette der Wesen auch spekulativ) ausgerichteten Naturbetrachtung und einer esoterischen Tradition gelten, das einen glatten Schnitt zwischen Aufklärung und Illuminismus erschwert. e) Bonnets Stufenfolge und die Restauration des Dualismus Charles Bonnets Palingénésie philosophique, ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivans führt den „Gedanken eines im unendlichen Prozeß der Selbstentfaltung und des Fortschrittes begriffenen Universums“ 152 fort, geht aber auch in charakteristischer Weise hinter die Evolutionstheorie Robinets zurück. Wie Leibniz will auch Bonnet die Veränderung der natürlichen Arten mit der synchronen Fassung des Prinzips der Fülle, nach der auch die aktuelle Natur schon von je her eine vollständige Gradation von Wesen 153 sein soll, zusammendenken, und wie jener nimmt er seit Anbeginn des Universums existierende, ursprünglich in einander und in den ersten Erzeuger eingeschachtelte unzerstörbare Einzelwesen an, die diese Natur ausmachen. 154 Bemerkenswert ist, dass Bonnet in dieser Hinsicht konsequenter Dualist bleibt, denn er nimmt an, die monadenhaften Einzelseelen verfügten je über einen winzig kleinen ebenfalls unzerstörbaren Keimleib, ein organisches animalcule, deren mehrere einen Organismus bilden können und bei dessen Zerfall wiederum selbständig werden. 155 150 Lovejoy 1936, S. 338-339 151 Ein Materialist, der anstelle der Materie die Aktivität für die eigentliche Realität hält, ist natürlich fast schon keiner mehr. Robinet will ähnlich wie Diderot auf eine energetische Materie hinaus, an der eben das Aktive für ihn das Eigentliche ist. Damit will er aber anscheinend nichts Spirituelles und auch keinen Dualismus von Immateriellem und Materiellem oder Ausgedehntem und Unausgedehntem verbinden. Sein Vitalismus ist - vor allem aufgrund seiner bereits dargelegten These vom Menschen als Blaupause der Wesen - noch mehr als der Diderots ein materialistisches Gegenstück zu theosophischen Positionen. 152 Lovejoy 1936, S. 341 153 Vgl. auch Bonnet 1762, S. 177-179. 154 Vgl. Lovejoy 1936, S. 341. 155 Bonnet 1770, I, S. 147-148. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch der titelgebende Begriff der Palingenesie: Das Wieder-Entstehen von Leben nach dem Tod, das mit Bonnets Theorie erklärt wird, ist Thema dieses Buches. 463 Insofern haben auch die Tiere Seelen. 156 Bonnet restauriert sozusagen den Dualismus, den andere zu seiner Zeit schon verabschiedet haben, und er muss dies tun, um bestimmte Probleme der Monadologie zu lösen, vor allem, wie wir sehen werden, dasjenige der Identität der Monade. Die Form dieser Organismen ist nun durch die Umwelt bedingt, jedoch nicht im Sinne einer kontinuierlichen Anpassung an eine entweder statische oder aber ebenfalls kontinuierlich sich entwickelnde Umwelt, sondern im Sinne einer jeweils punktgenauen Anpassung an durch révolutions hervorgerufene, als Ganze auftretende und dann für eine gewisse Zeit stabile neue Weltzustände. Bei einer großen Katastrophe (deren die biblische Genesis eine erzählt 157 ), die den gesamten Planeten umwälzt, werden alle Körper zerstört, und die Keimleiber mit ihren monadenhaften Seelen entwickeln eine völlig neue und von Anfang an ausdifferenzierte Formenwelt, die auf die nun vollkommen anderen Lebensumstände eingestellt ist. Dabei ist jedoch das Repertoire dieser Möglichkeiten im Hinblick auf alle bereits vorgesehenen Weltumwälzungen den Keimen, die Bonnet anderswo als Skizzen des organisierten Körpers begreift, 158 von Beginn der Schöpfung an bereits eingeschrieben. 159 Die Abfolge dieser Umwälzungen stellt jedoch nicht einfach eine Reihe von Variationen dar, sondern einen kontinuierlichen Fortschritt, allerdings nur von Weltzustand zu Weltzustand, nicht innerhalb solcher Epochen. Aufgrund dieser mehr mit Sprüngen als mit generationsweisen Verschiebungen arbeitenden Konzeption bezweifelt Lovejoy, dass Bonnet wirklich als früher Theoretiker der Evolution gelten dürfe. 160 Von einer dieser Existenzformen zur nächsten wird sich nun, so Bonnet, das Wesen (die Monade mit ihrem animalcule) seine Erinnerungen an frühere Lebensformen bewahren, denn sonst wäre es nicht dasselbe Wesen. Die antike Metempsychoselehre konnte dies nach Bonnets Ansicht nicht zufriedenstellend erklären, da sie davon ausging, dass die Seele jeweils mit einem neuen Körper verbunden werde; aber der Sitz des Gedächtnisses ist nach Bonnet der Leib. Nimmt man nun wie Bonnet einen mikroskopisch kleinen Ätherleib als unzerstörbaren Sitz der Seele an, so ist das körperliche Gedächtnis und mithin die Identität des Wesens bewahrt. 161 Dies ist einer der Hauptgründe für Bonnets Festhalten am Dualismus. Im nächsten Weltstadium wird sich die ganze Kette der Wesen nach oben hin verschieben. Der Mensch wird eine höhere Form erhalten, Affen und Elefanten (oder was aus ihnen geworden ist) werden die Position des 156 Bonnet 1770, I, S. 143 157 Bonnet 1770, I, S. 149-150 158 Bonnet 1762, S. 33 159 Bonnet 1770, I, S. 156-158 und S. 170 160 Lovejoy 1936, S. 344 161 Bonnet 1770, I, S. 171-172 464 heutigen Menschen einnehmen. 162 Manche Keime werden sich erst in der nächsten Welt entwickeln: „Rien ne se perd dans les immenses Magazins de la Nature.“ 163 Auch nach dem Tod wird so für Bonnet die dualistische Natur des Menschen nicht aufgehoben. Der Einzelne wird zwar von Gott belohnt oder bestraft, bleibt aber ein Wesen aus Geist und Körper. 164 Der Aufstieg des Menschen insgesamt spielt auf einer Kette, die - wie in traditionelleren Versionen - auch über ihm Glieder aufweist. Diese sind dem Menschen überlegen, und insofern ist das ganze Geschehen keineswegs für den Menschen in Gang gesetzt worden (mit dieser Auffassung entfernt sich Bonnet von der religiösen Orthodoxie ebenso wie vom Martinsimus, zieht aber eine Konsequenz aus dem Gedanken der Kette der Wesen, die oben schon als logische Möglichkeit angedeutet wurde). Wie im Martinismus ist die Welt jedoch ein Text, der anderen zu lesen gegeben wird, nun allerdings nicht den gefallenen Wesen, sondern eben den erwähnten überlegenen Wesen: Il me paroît plus philosophique de présumer, que notre Terre est un Livre que le G RAND E TRE a donné à lire à des I NTELLIGENCES qui nous sont fort supérieures, & où elles étudient à fond les Traits infiniment multipliés & variés de son A DO- RABLE S AGESSE . Je conçois, qu’il est d’autres I NTELLIGENCES beaucoup plus élevées, qui possèdent à fond des Livres incomparablement plus étendus & plus difficiles, & dont celui-ci n’est qu’une page ou plutôt un paragraphe. 165 Erkenntnis im Sinne von Lektüre ist ein wesentlicher Zweck der Schöpfung. Wie die Illuministen steht also auch Bonnet in der Tradition des liber naturae. Der letzte Sinn dieses Buches ist hier wie dort Gott, und so ist in beiden Fällen dessen Verehrung auch das Lektüreziel. Die Gesamtheit der Schöpfung ist ein Tempel, in dem der Schöpfer verehrt werden soll; dies aber können in vollkommener Wesie nur die höheren Wesen, nicht (oder noch nicht) der Mensch. 166 Der Mensch, dessen eigentliche Essenz unwandelbar ist, 167 kann gleichwohl in dreifacher Hinsicht unendlich perfektioniert werden, und zwar hinsichtlich seiner Vermögen von connoître, aimer und agir. 168 In dieser Betonung der Aktivität (und nicht der Seinsweise) liegt (neben der Geschichtlichkeit der Erdumwälzungen) eine Tendenz zur Dynamisierung der Moti- 162 Bonnet 1770, I, S. 174 163 Bonnet 1770, I, S. 176 164 Bonnet 1770, I, S. 267-269 165 Bonnet 1770, II, S. 7 166 Bonnet 1770, S. 23-25. Hier findet sich auch eine wenig schmeichelhafte Einschätzung der menschlichen Intelligenz: „Tandis qu’un L EIBNITZ tente de déviner l’Harmonie universelle ou qu’un H ALLER essaye de pénétrer les Mystères de l’Organisation, ces I NTELLIGENCES sourient, & ne voyent dans ces grands Philosophes que des Hottentots à talens, qui tentent de découvrir le secret d’une Montre.“ (S. 25) 167 Bonnet 1770, II, S. 112 168 Bonnet 1770, II, S. 385 465 vik der Kette der Wesenheiten. Da es (wie bei Saint-Martin) Aufgabe des Menschen ist, Gott in der Erkenntnis der Natur zu preisen, wird dieser ihm neue Ebenen der Welterkenntnis nicht vorenthalten. Im durch Christus erschlossenen himmlischen Jerusalem wird der hinsichtlich seiner Erkenntnis- und Liebesfähgkeit vervollkommnete (aber immer noch mit einem Glorienleib angetane und also dualistisch aufzufassende) Mensch sich grenzenloser Lektüre im Buch der Providenz hingeben dürfen. 169 Selbst in diesem höheren Zustand wird der Mensch noch Sprache haben, wenn auch die universelle der höheren Intelligenzen: Notre Mémoire s’enrichira donc à l’indéfini: elle s'incorporera des Mondes entiers, & retracera à notre Esprit sans altération & sans confusion l’immense Nomenclature de ces Mondes: que dis-je! ce ne sera point simplement une Nomenclature: ce sera l’Histoire Naturelle générale & particulière de ces Mondes […] Les Signes de nos Idées se multiplieront, se diversifieront, se combineront dans un Rapport déterminé aux Objets, dont ils seront les Représentations symboliques, & la Langue ou les Langues que nous posséderons alors auront une expression, une fécondité, une richesse, dont les Langues que nous connoissons ne sçauroient nous donner que de très foibles images. 170 Selbst in der höchsten Seinsform wird noch Naturgeschichte betrieben. Das Weltgeschehen geht unendlich so weiter, die Energie der Geschichte geht nie zu Ende, denn der Aufstieg zum unendlich Höchsten muss notwendigerweise selbst unendlich sein. Die Geschichte ist auf etwas gerichtet und offen zugleich: Il y aura donc un Flux perpétuel de tous les Individus de l’Humanité vers une plus grande Perfection ou un plus grand Bonheur […] ils tendront continuellement vers la S UPREME P ERFECTION sans jamais y atteindre. 171 Mag auch Bonnets Fassung der Evolution als Stufenfolge hinter dem Entwurf Robinets zurückbleiben, so ist doch die Zusammenschau wesentlicher Motive der Tradition der Kette der Wesen mit solchen des Buches der Natur, sowie die energetische Durchdringung beider im Sinne einer in stetiger, aber nie abschließbarer Realisierung begriffenen Perfektibilität für unser Interesse besonders wertvoll: Zeigt sie doch die Unentwirrbarkeit neuplatonischer, naturwissenschaftlicher, naturreligiöser und im engeren Sinne christlicher Motive in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist demnach möglich, mit den absonderlichsten ontologischen Annahmen in das aufkommende Spiel der Energisierung des ‘klassischen’ Wissensmodells einzutreten. 169 Bonnet 1770, II, S. 365-379 170 Bonnet 1770, II, S. 380-381 171 Bonnet 1770, II, S. 386 466 f) Dupont de Nemours’ karmische Monadologie Der Physiokrat Pierre-Samuel Dupont de Nemours hielt sich während der terreur ähnlich wie Condorcet in einem Versteck auf, und ähnlich wie dieser entwarf er im Angesicht des möglichen Todes eine Skizze einer Philosophe des Fortschritts. Dupont de Nemours’ Philosophie de l’univers, die nach Beruhigung der Lage mit einer Widmung an den eben guillotinierten Lavoisier veröffentlicht wurde, fragt jedoch nach dem Fortschritt im Angesicht der Ewigkeit und im Jenseits, und zwar auf der Grundlage einer monadologischen Fassung der Kette der Wesen. Leibnizens Monadologie war in Frankreich bekannt, und Condillac hatte sogar eine (später mit dem Mantel des Schweigens umhüllte) frühe Schrift für ein Preisausschreiben der Berliner Akademie dem Versuch gewidmet, aus der Kritik daran einen Entwurf einer ‘vernünftigen’ Monadologie zu entwickeln. 172 In vieler Hinsicht ist denn auch Dupont de Nemours’ Monadologie an Leibniz angelehnt; in einem wesentlichen Punkt jedoch setzt sie sich auch von ihr ab. Dieser differierende Aspekt ist aus pythagoreischen und hinduistischen Quellen entwickelt, wenn sich Dupont de Nemours auch, wie Becq zu Recht bemerkt, hier auf keine Autoritäten stützt, sondern vielfältige Einflüsse aufnimmt und aus sich selbst heraus fortzuentwickeln vorgibt. 173 Der Blick nach Osten wird jedenfalls bereits durch das die Schrift einleitende „poëme dialogué“ suggeriert, dessen Helden Oromasis und Arimane (ähnlich wie in Helvetius’ Le bonheur) Entwicklungen zoroastrischer mythischer Gestalten sind; die Erforschung des Zoroastrismus durch Anquetil Duperron haben wir ja bereits als wichtiges Ereignis für das religiöse Denken des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich gewürdigt. In diesem Gedicht verbindet Dupont de Nemours den zoroastrischen Theodizee-Mythos um die beiden gleich ewigen Prinzipien des Guten und des Bösen (oder besser: Negativen, Nichtigen) mit einer mythologischen Version der energetischen Kosmogonievorstellungen seiner Zeit, in der wir Spuren der Lehren Newtons ebenso wie Delisle de Sales’ und Bonnets entdecken können. Die Schöpfung aus dem Chaos beginnt in einer Art Urknall mit der „Flâme éthèrée“, die sich zu Globen verdichtet, zu Milliarden von Sonnen, deren Positionen zueinander durch das Gleichgewicht der Attraktionen bestimmt sind. Sie sind die „moteurs de l’Univers.“ Demgegenüber bildet die weniger perfekte Materie, die verschieden stark von Wärme durchglüht ist, andere Kugeln, welche sich um die Sonnen gruppieren und von diesen Bewegung und Licht erhalten. 174 Die Pflanzen entstehen auf Oromasis’ Geheiß bereits in verschiedenen Arten, mit ihnen beginnt die durch den 172 Condillac 1748 173 Vgl. Becq 1994. 174 Dupont de Nemours 1793, S. 17-18 467 Funken der Liebe ausgelöste animation. Arimane fügt jeweils der Schöpfung etwas Negatives hinzu. So geht es weiter auf der Kette der Wesen bis hinauf zum Menschen, dessen Überlegenheit über die anderen Tiere und seine Fähigkeit, als einziger den Schöpfer zu erkennen, zwar von diesem vorgegeben, jedoch ganz materiell durch größere Hirnmasse und den aufrechten Gang, der die Hände für Waffen und Künste freilässt, begründet wird. 175 Arimane fügt den Eigenschaften des Menschen die Sterblichkeit hinzu. Hier kommt eine (später in Goethes Faust aufgenommene) im Zoroastrismus und anderswo auftauchende Idee zum Tragen, die wir schon als Kennzeichen des Prinzips der Fülle kennen gelernt haben: Das Schlechte vervollkommnet erst die Welt und ist insofern nicht die Negation der Schöpfung, sondern ihr Bestandteil: Mephisto muss mitspielen. In diesem Fall ist der Tod die notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Fortpflanzung und Liebe, die in der Fülle der entstehenden Welt anscheinend nicht fehlen dürfen. In einer wohl an Buffons Erzählung über das Erwachen der Sinnlichkeit Adams in der Histoire naturelle 176 anknüpfenden, betont sinnlich angelegten Textpassage beschreibt Dupont de Nemours in diesem Zusammenhang die Erschaffung der Frau als „fleur du genre humain“, die im Gegensatz zum Manne nicht nach Oromasis’ eigenem Bild (denn dieser ist männlich), sondern nach dem beau idéal geschaffen wird. 177 Angesichts der Untrennbarkeit von Liebe und Tod wird auch offenbar, dass das Negative, wenn es auch im Mythos gleich ewig mit dem Guten ist, sich zu diesem doch ontologisch parasitär verhält: […] tu n’as pu mettre de mal que là où j’avais placé du bien. Si tu pouvais faire prédominer le mal […] la vie serait détruite, et nous recommencerions à nous disputer le cahos. L’existence et la durée de l’univers sont, et seront, le témoignage éternel de ton infériorité. 178 Es wird immer mehr Glück als Unglück geben, und die Lebewesen, die mit höherer Organisation auch höhere Leidensfähigkeit erhalten, streben deshalb nicht weniger nach dieser höheren Organisation, denn sie vermehrt auch ihre Glücksfähigkeit. 179 Damit sind wir bei dem Aufstieg auf der Kette der Wesen, der das eigentliche Thema des Werkes und vor allem der auf diesen Dialog folgenden „Principes et Recherches sur la philosophie de l’univers“ sind. Im Gegenschwung zu der mythischen Einleitung wird diese Lehre nun dezidiert den empirischen Wissenschaften angenähert, vor allem Chemie und Physik. Die Gewissheit dieser Wissenschaften wird auch für die Metaphysik angestrebt und ist ihr auch erreichbar, denn: 175 Dupont de Nemours 1793, S. 20-23 176 Kapitel 8 von Teil III („De l’homme“), vgl. hierzu die Analyse von Gillet 1975, S. 440f. 177 Dupont de Nemours 1793, S. 24-26 178 Dupont de Nemours 1793, S. 31-33 179 Dupont de Nemours 1793, S. 34-36 468 dans le vrai tout est physique; la métaphysique et la morale le sont aussi: les affections morales sont elles-mêmes des effets physiques. Les loix de la morale qui doivent guider la conduite des hommes sont démontrables et indubitables comme les vérités géomètriques et chimiques. 180 Die Mittel der observation und der „Pensée-profonde“ 181 sollen sie erschließen, also Beobachtung und Reflexion, welch letztere durch das Adjektiv profonde etwas von der Innenschau im Sinne Saint-Martins zu erhalten scheint; in jedem Falle rückt eine solche Restauration einer ähnlich etwa bei Locke auftretenden Dualität von Sinnlichkeit und innerer Reflexion von Condillacs Verrechnung des einen auf das andere ab. In dieser doppelten Perspektive zeigt sich die Welt nun auch trotz der Ankündigung, alles sei physisch, im Sinne eines Dualismus von intelligenten Wesen (die wiederum aus Seele, feinstofflichem Zwischenleib und Materieleib bestehen 182 ) und unintelligenten Sachen; jene können nicht von diesen abstammen und zeichnen sich vor ihnen durch den Willen aus, der als ihnen eigentümliche Kraft zur Bewegung verstanden wird. 183 Lesen wir ein paar Absätze weiter, um diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen physischem Monismus und Dualismus von Materie und Intelligenz/ Bewegung auflösen zu können: Es gibt also den Geist, der bewegt, insbesondere Gott als ersten Beweger oder „natura naturans“, und die unbelebte Materie oder „natura naturata“, die bewegt wird. 184 Beiden noch vorgeordnet ist das Destin oder die Nature als Natura/ Fatum, als Gesetzlichkeit, die die „propriétés essentielles des deux élémens immenses de l’univers“ fixiert; sie ist jedoch kein Wesen, sondern ein Faktum, die Gesamtheit der gesetzhaften Eigenschaften von Gott und Materie. Die Ananke, wie sie als Ergänzung und Gegenspielerin des Demiurgen etwa aus Platons Timaios bekannt ist, 185 schreibt (anders als dort) also auch noch Gott seine Tätigkeit vor, ist aber in gewisser Weise auch in ihm enthalten. Gott (oder Geist), Materie und Gesetzlichkeit sind als drei Formen der Natur aufgefasst. Trotz des Anschlusses an die von Johannes Scotus Eriugena ausgehende christlich-neuplatonische Begriffstradition der natura naturans (wir wurden in der E INLEITUNG auf sie 180 Dupont de Nemours 1793, S. 40 181 Dupont de Nemours 1793, S. 41 182 Dupont de Nemours 1793, S. 168 183 „il existe dans l’Intelligence divine d’abord, dans les Intelligences créées et organisées ensuite, un pouvoir impulsif ou formateur de mouvement, dont nous ne savons pas les loix.“ Dupont de Nemours 1793, S. 135 184 Dupont de Nemours 1793, S. 41-45. Dass das Belebte und Intelligente nicht aus der toten Materie irgendwie entstanden ist, wird auf das Prinzip „Il n'y a point de Hasard“ (S. 41) gestützt. Das ist als erster Schritt eines kosmologischen Gottesbeweises (der hier versucht wird) nicht weiter sensationell. Bemerkenswert aber ist, dass die Ablehnung des Zufallsbegriffs konsequent auch auf das Würfelspiel ausgedehnt wird: Dort wirken nur Kausalitäten, die uns nicht zugänglich sind (ebenda). 185 Vgl. Timaios 48a ff. 469 aufmerksam) verschwindet Gott in einem heterodox, weil pantheistisch gefärbten Naturbegriff. Wenn man von hier auf die referierte Ambivalenz Duponts zwischen traditionellem Dualismus und materialistischem Monismus zurückblickt, so bietet sich folgende Interpretation an: Gott als Schaffenskraft ist ein Aspekt des Naturganzen, zu dem auch Materie und Naturgesetze gehören. Das Geistige, Aktive, Bewegende und Schaffende, das in der göttlichen Schaffenskraft ebenso wie in den beseelten Wesen auftritt, ist ein Effekt oder Aspekt des Physischen, das neben toter Materie auch geistfähige Feinstofflichkeit enthält. Duponts Dualismus ist also letztlich einer zwischen Grobstofflichkeit/ Tod und Feinstofflichkeit/ Leben. Der Geist wird durch diese Bindung an die Äthermaterie der Materie analog gedacht. Diese Interpretation wird sich an Dupont de Nemours’ Vorstellung vom Seelentod bestätigen. Der Gegensatz zwischen dem guten und dem negativen Gott aus dem Einleitungsmythos wird in diesem Zusammenhang so interpretiert, dass das Böse Bestandteil jener gesetzhaften Notwendigkeiten des destin ist und die Grenze der Macht Gottes festschreibt; nicht im Sinne einer Notwendigkeit des Schlechten, wie sie von dem gnostischen Gegenbegriff zur Ananke, der Heimarmene, 186 bezeichnet wird, sondern im Sinne der Grenzen, die zugleich Gott selbst als das vollkommenste Wesen definieren: Er kann kein materielles Wesen genauso vollkommen und glücklich machen, wie er selbst ist. 187 Die Imperfektion ist notwendige Grenze der Perfektion und Bauteil einer vollständigen Welt. Zwischen Gott und der toten Materie stehen nun die Lebewesen, und zwar alle, nicht nur der Mensch. Sie tragen das Siegel der Intelligenz, aber auch die Nachteile des Materiellen. 188 Die Lebewesen sind perfektibel, besonders der Mensch, weil er in Gesellschaft lebt und - anders als es „l’insensé Hobbes, et cet eloquent menteur Jean-Jacques, qui, cependant, aimait la vérité“ wollten - immer gelebt hat. 189 Schmerz, Freude und Ungleichheit spornen ihn zur Entwicklung an, die jedoch immer im Rahmen der goldenen Regel und somit des großen Ganzen, der natürlichen (und 186 Die Heimarmene der Gnosis ist zwar ebenfalls ein Weltgesetz, aber sie gilt nicht für die Totalität des Seins, sondern nur für die vom Menschen bewohnte und von dem schlechten Demiurgen gemachte Welt unter den Sternen oder Archonten, die Träger dieser Gesetzhaftigkeit sind. Der fremde, gute Gott ist außerhalb ihres Wirkungsbereichs. 187 „Les limites de sa (sc. de la matière) perfectibilité, sont le véritable et le seul A RI- MANE , impossible à bannir de l’univers organisé, puisqu’il entre nécessairement dans la composition de tout ce qui n’est pas D IEU .“ (Dupont de Nemours 1793, S. 50) 188 Dupont de Nemours 1793, S. 55 189 Dupont de Nemours 1793, S. 61 470 daher nicht asketischen) Moral, 190 stattfinden muss. Der physiokratische Hintergrund des Autors schlägt in Duponts Darstellung der Moral als Fiskalgeschehen durch: Chaque bonne action est une espèce de prêt fait au genre humain; c’est une avance mise dans un commerce où toutes les expéditions ne profitent pas, mais où la plupart cependant amènent des retours plus ou moins avantageux. 191 Aber die Gesamtheit der Wesen, die große Kette, endet nicht beim Menschen. Der Abstand zwischen Mensch und Gott kann nicht leer sein, denn: „L’Univers est sans lacune“ 192 - wie es der Lehre von der Kette der Wesen entspricht. Die höheren Wesen sind höher organisiert, haben aber ebenfalls materielle Körper. Sie kümmern sich keineswegs um uns, wie die „puérile impertinence des Chrétiens modernes, des Cabalistes, des Illuminés, des Musulmans et des Mages“ annimmt; Sylphen und Erzenegel leben ihr eigenes Leben. 193 Vielleicht sind sie unsere Richter, 194 aber unser Handeln muss von unserem inneren Sinn geführt werden; der „culte du beau idéal,“ wie er etwa an den Werken Raphaels möglich ist, führt uns zu der dazu dienlichen höheren Moral. 195 Wie Bonnet fragt sich nun auch Dupont de Nemours, 196 was in der Verbindung von intelligentem Prinzip und körperlicher Maschine, die wir sind, unsere Identität ausmacht. Er entscheidet sich für die Seele, der er damit auch die identitätsstifende Fähigkeit des Gedächtnisses zuzuweisen scheint. Da er von der Forderung ausgeht, die Seele müsse die materielle Existenz überleben (denn sie ist Geist), um dann für ihre Taten belohnt oder bestraft zu werden, so muss auch das Gedächtnis in die neue Existenz hinüber gelangen. Die Monade erinnert sich also an ihre früheren Zustände. Da sie aber keinen Leib (zumindest keinen grobstofflichen) mitnimmt, kann sie an sich selber nicht bestraft oder belohnt werden. Lohn oder Strafe können also nur in Gestalt der Zuteilung eines neuen, besseren oder 190 Vgl. Dupont de Nemours 1793, S. 206-207, wo die asketische Moral als unnatürlich gebrandmarkt wird - ganz im Sinne der generellen Stoßrichtung der Aufklärung. 191 Dupont de Nemours 1793, S. 93 192 Dupont de Nemours 1793, S. 127 193 Insbesondere gibt es keine Schutzengel, und der Mensch kann auch nicht, wie die Martinisten hoffen, auf die höheren Wesen einwirken. Dupont de Nemours 1793, S. 130 194 Wir müssen unsere Handlungen an ihren zu imaginierenden Reaktionen ausrichten, so wie ein Forscher sich immer fragen muss: Was würde Lavoisier dazu sagen? (Dupont de Nemours 1793, S. 146). 195 Dupont de Nemours 1793, S. 147-148. Der ontologische Status des „beau idéal“, das ja schon bei der Erschaffung der Frau bemüht wurde, ist ungeklärt, aber man könnte es als Bestandteil der Natur auf der Ebene des destin werten. 196 Im Unterschied zu Bonnet kennt er jedoch nicht das Problem, das daraus erwächst, dass der Sitz der Erinnerung der Körper ist. 471 schlechteren Leibes ins Spiel kommen. Mit dieser karmischen 197 Metempsychose-Lehre, die nicht nur eine Wiedergeburt als Aufstieg, sondern auch als Abstieg vorsieht, entfernt sich Dupont de Nemours von Leibniz (dieser nahm nämlich die Möglichkeit eines Zurückfallens nur für die unter dem Menschen stehenden Wesen an 198 ) und von Bonnet (bei dem sich diese Vorstellung nicht findet). Er nähert sich, wie er selbst sagt, den „Gymnosophistes, les Brachmanes et leur élève Pythagore“, 199 indem er davon ausgeht, dass die Monade beim Verlust des Körpers einen neuen erhält, der ihr aufgrund ihrer eigenen fegefeuerartigen Selbstprüfung und dem Spruch eines höheren Gerichts zugeführt wird. Sie kann nun also bis zum Einzeller absteigen oder sich bis zum Engel emporarbeiten; der Aufstieg nach oben ist unbegrenzt. 200 An dieser Stelle wird allerdings nicht klar, ob die Monade von Körper zu Körper ihren Ätherleib (der nach Dupont de Nemours zwischen Seele und Körper vermittelt) mitnimmt, wie es bei Bonnet der Fall ist; dies wird sich nun anlässlich des Motivs des Seelentodes erhellen. Mit der Möglichkeit des Abstieges kommt eine Vorstellung von offener Geschichte in die Stufenleiter der Wesen: Perfektibilität und Deperibilität entsprechen einander, und die Geschichte der Wesen ist nicht wie bei Bonnet immer ein Aufstieg. Bei diesem war ja die Verbesserung des einzelnen Wesens ein Aspekt des Aufstiegs der ganzen jeweiligen Art in evolutionären Stufen gewesen. Dupont de Nemours’ Stufenleiter der Wesen kennt einen solchen Aufstieg der Arten nicht. Die einzelne Seele steigt in der selbst unveränderlichen Hierarchie der Körper nach oben oder unten. Die Kette ist demnach auch in erster Linie eine solche von Individuen; Arten spielen eine untergeordnete Rolle. Wenn dadurch bei Dupont de Nemours auch (notwendigerweise 201 ) ein wichtiger Aspekt der Dynamisierung der großen Kette (nämlich die Evolution) wegfällt, so ist dennoch Bewegung die Grundlage der catena. Und deshalb tritt der absolute Tod einer Monade 197 Dieses Adjektiv soll die hinduistische Notion des Karmas, also einer Ansammlung in künftigen Einkörperungen abzutragender Schuld, kürzelhaft einführen. 198 Vgl. Lovejoy 1936, S. 311-312 199 Dupont de Nemours 1793, S. 156-163 200 „Il n'y a point de T ERME à la perfectibilité“ (Dupont de Nemours 1793, S. 184). 201 Wenn die Seelen von Einkörperung zu Einkörperung in einem ständigen Auf und Ab begriffen sind, ist es nutzlos, anzunehmen, dass die Körperarten in analoger Weise instabil sind, denn dann wird die Mess-Skala des Aufstieges selbst problematisch: Wäre es besser, ein Mensch zu sein oder ein Frosch, wenn die Mögtlichkeit bestünde, dass die Frösche die Menschen ‘überholen’? Die Annahme einer Evolution wäre in einem ‘karmischen’ System vor allem auch deshalb unnötig kompliziert, weil das Prinzip der Schuld dann auf ganze Arten ausgedehnt werden müsste; darüber hinaus müssten individuelle Schuld und individueller Auf- und Abstieg von kollektiver Schuld und kollektiver Evolution unterschieden und auf sie wiederum bezogen werden. Dupont de Nemours’ Rückfall hinter die Evolutiostheorie seiner Zeit ist also systemimmanent begründet. 472 auch dann ein, wenn sie stillsteht. Nicht nur ist ein möglicher Grund für den Abstieg so etwas wie Faulheit oder selbstgenügsamer Stolz auf das Erreichte, es ist auch möglich, dass eine Monade überhaupt nicht mehr weiter aufsteigen will, inaktiv wird. Sie sieht dann selbst ein, dass sie das Gesetz der beweglichen Kette nicht mehr erfüllt und daher in ihrer Existenz aufgehoben werden muss. Sie wird in ihre Teile zerlegt und geht in die „matière universelle“ ein, um (nun ohne Gedächtis) die Bausteine für neue Beseelung zu liefern. 202 Hier zeigt sich, dass die Seelenkonzeption von Dupont de Nemours, wie oben angenommen, in der Tat feinstofflich sein muss, denn die Seele kann zerlegt werden und geht in etws auf, das als besondere Form von Materie verstanden wird. Bei allem argumentativen Dualismus tendiert dieser Autor letztlich zu einem Monismus, denn die Seele, obwohl Ursache von Bewegung und der toten Materie gegenübergestellt, ist selbst doch wieder aus einer Urmaterie hervorgegangen. „Telle est, mes Amis, la doctrine que je voulais vous exposer avant de mourir […] “ 203 Dupont de Nemours hat mit seiner Auffassung teil an der Grundstruktur des Illuminismus: Alles situiert sich in einem Schema von Aufstieg und Fall, und hinter der materiellen Welt steht eine geistige; der Geist selbst aber ist ewig (wenn auch nicht notwendigerweise das geistige Individuum). Dabei weist Dupont de Nemours eine untypische Tendenz zu einem (feinstofflichen) Materialismus auf, und auch in anderen Aspekten ist er den Martinisten unähnlich (die er wohl mit dem Begriff „illuminés“ in obigem Zitat kritisiert). Die lückenlose Kette der Wesen vom Einzeller zu Gott ist bei ihm als Stufenleiter eines individuellen karmischen Auf- und Abstiegsgeschehens verstanden. Die Geschichte ist nun auch über den Tod hinaus offen, und die Hierarchie der Wesenheiten ist in ständiger Bewegung. Dass die Energie nunmehr zum Gesetz der Kette der Wesen geworden ist, zeigt sich vollends in der Tatsache, dass das Stehenbleiben auf der Kette zum Seelentod führt. Stillstand führt ins Nichts, weil die Aktivität dasjenige ist, was die Ordnung des Seins begründet. g) Die martinistische Pneumatologie und die Kette der Wesen Mit Dupont de Nemours sind wir bereits bei einer Art esoterischem Denken angelangt, wenn dieser auch dafür untypische materialistische Untertöne in seine Adaption traditioneller westlicher und vor allem östlicher Theosophie hinein nimmt. Es soll sich nun ein kurzer Blick auf die Martinisten anschließen, der zugleich zu einer ausführlicheren Darstellung der martinistischen Emanations- und Schöpfungslehre überzuleiten vermag. 202 Dupont de Nemours 1793 S. 191 und S. 197 203 Dupont de Nemours 1793, S. 236 473 In Kapitel I, 1.3. haben wir bereits gesehen, dass die Kette der Geistwesen in der martinistischen Tradition zwar als hierarchisches Kontinuum und als Fülle auftritt und auch eine möglichst genaue Nomenklatur kennt, aber die klassifikatorische Wissensform auf verschiedene Weise differenziert. Uns interessiert in diesem Zusammenhang zunächst einmal der Gedanke, aus der ewigen Schaffenskraft des Schöpfers folge die Unerschöpflichkeit der Fülle dieser Lebewesen und damit letztlich ihre Unerreichbarkeit für jede Klassifikation. Damit gehört die martinistische Konzeption zusammen mit den evolutionären Fassungen des Gedankens der Kette der Wesen in die Reihe derjenigen, für die die Vollständigkeit der Kette erst am Ende der Zeiten oder gar in der Zusammenschau aller Zeiten (wenn nämlich Lebewesen in der Zeit auch wieder verschwinden) erreicht ist. Dabei schließen sich die Martinisten jedoch nicht dem Evolutionsgedanken an, der ihnen als „faux système“ gilt. 204 Saint-Martin ist sich zwar dessen bewusst, dass es früher andere Tiere gab als heute, aber er wertet dies als Effekt der Alteration der Natur durch den menschlichen Fall. Die eigentliche Schöpfung ist nicht der Zeit unterworfen. Da jedoch ihre grobstoffliche Verzerrung, die wir als Natur erleben, immer schwächer wird, sterben auch Tiere aus. Dieses Schwächerwerden der Natur ist eine Energieabnahme: Das immaterielle Feuer war in der ursprünglichen Schöpfung stärker als heute, da es in die Materie eingesperrt ist. Auch die Veränderung der Kette der Wesen in der Zeit ist also ein Energiephänomen. 205 Emphatischer als die meisten Versionen aber betont die martinistische das Hervorgehen der Seinsordnung aus einem andauernden Emanationsgeschehen, aus einem unerschöpflichen Verströmen geistiger Energie. Dieses und nicht seine von Sünde verfälschten Zwischen-Konkretionen, die die Dinge sind, ist die eigentliche Realität. Welt ist reine Aktion, und der Versuch, sie in fest stehenden Begriffen fixieren zu wollen, ist Verirrung. Die Klassifikation der Geister folgt daher auch deren Aktionsweise: Die Zahlen, nach denen die Geister eingeteilt sind (wir hörten etwa schon von den esprits septénaires u.ä.), stehen für das jeweils die Aktion der betreffenden Wesen bestimmende Gesetz. In der martinistischen Pneumatologie findet sich also ein besonders deutliches Beispiel dafür, dass die Dynamisierung der Taxonomie im Regionaldiskurs der Kette der Wesen aus deren Verbindung mit dem Emanationsgedanken kommen kann, denn die Emanation ist Aktion, die aktive Wesen zeugt, und diese werden wiederum nach ihrer Aktivität eingeteilt und sogar mit Zahlen klassifiziert. Wesen, 204 Saint-Martin 1782, I, S. 43-44: Die Geistschöpfung ist im Gegensatz zu ihrer materiellen Verfälschung nicht veränderlich; Alterationen können daher nur Verfall auf der materiellen Ebene sein. Die Prinzipien des Lebens müssen auch schon deshalb unveränderlich sein, da sonst die Stabilität der Zeichen des Buches der Natur gefährdet wäre. 205 Vgl. Saint-Martin 1782 II, S. 14f. und 20-21. 474 deren Aktion gleich funktioniert, gehören einer Klasse an. Auch im illuministischen Denken zeichnet sich so der von Foucault beobachtete Wechsel der Einteilung der Natur vom Kriterium äußerer Merkmale hin zu demjenigen der Organisation ab. Aktion, Energie und Geist bestimmen die Welt der Martinisten; Materie ist Illusion. Dem feinstofflich-animistischen Dualismus eines Bonnet und dem materialistischen vitalistischen Monismus eines Diderot steht im Illuminismus eine Art von immaterialistischem Monismus gegenüber, dessen argumentationsbedingte Zugeständnisse an den Dualismus stets ‘illusionistisch’ gefasst sind. Sie betonen den Energiebegriff, weil sie in der Alternative von Anordnung und Energie, die sich in der Emanations- und Logoslehre findet, die Energie für das zentrale Phänomen halten; dies hat damit zu tun, dass auch der Bauplan der Welt, der der Christus-Logos ist, keine Planzeichnung, sondern lebendiges Prinzip ist - der Geist ist als solcher Leben. Um dies genauer zu sehen, wenden wir uns nun der illuministischen Emanations- und Schöpfungslehre zu. 3. Der herabfließende Logos bei Saint-Martin und Martines de Pasqually 3.1. Die martinistische Schöpfungslehre Die mythische Genesis der Welt bei Martines de Pasqually zeigte uns das Universum im Ablauf seiner Entstehung. Dieser war jedoch nicht so sehr, wie im Genese-Modell, als Analyse von Komplexität angelegt, als Durchschreitung eines Tableau, sondern er erklärte die Welt als Resultat von Kräften, als dynamischen (und, im Gegensatz zu einer vom Bild der Anordnung geleiteten Vorstellung: nicht zur Ruhe gelangten) Hervorgang. Wo dieser Hervorgang stillsteht, ist das Ergebnis eher eine Ruine als ein Tableau; dass jene nicht nur ein Gegenstück in malum zu diesem ist, sondern ihm einen (wenn auch nur negativ präsenten) energetisch-organischen Aspekt voraus hat, haben wir schon am Ende von Teil II gesehen. Die (wohl an Philo von Alexandria und neuplatonische und kabbalistische Traditionen angelehnte 206 ) dreistufige Kosmogonie Martines de Pasquallys von der Unendlichkeit in Gott über die Geistschöpfung zur vorfindlichen Welt ist daher nicht nur als Genesis einer Ruine interessant, sondern auch als energetischer Ablauf. Dieser soll nun nachgezeichnet werden. 206 Vgl. Le Forestier 1928, S. 163. 475 3.1.1. Emanation und Geistschöpfung Die eigentliche Tätigkeit Gottes ist für Martines de Pasqually und seine Schüler die Emanation, das heißt: das Aushauchen von Geistwesen, deren Hervorgang aus seinem Inneren die Vollkommenheit und Fülle Gottes nicht vermindert, aber doch ein Herausstellen von etwas drinnen schon Vorhandenem bedeutet. 207 Saint-Martin erklärt diesen Vorgang als Analogie zur Sprache (und das heißt umgekehrt, Sprache ist analog zur Emanation): Auch der Sprecher gibt nichts aus sich her, bringt jedoch etwas hervor, das zuvor in ihm war. 208 Emanierte Wesen sind demjenigen, der sie aushaucht, in gewisser Weise analog; sie sind lebendig und nicht aus Nichts geschaffen. Die Schöpfung hingegen ist die Schaffung von etwas Anderem, was nicht schon immer im Schöpfer vorhanden war. Die Emanation bringt dementsprechend aktive, geistige Wesenheiten hervor, die unvergänglich sind. Die Schöpfung hingegen führt zu nicht aktiven und nicht wahrhaft seienden Ergebnissen, denn wäre es anders, so wären sie dem Schöpfer ja analog und also Emanationen. 209 Sie ist, wie wir schon erfahren haben, ein Gedanke Gottes, von Sekundärursachen realisiert, der verschwindet, wenn er zu Ende gedacht ist und die (selbst emanierten) Sekundärursachen zu Gott zurück dürfen. Sie ist also wörtlich eine Schöpfung ex nihilo und wird nur von Gott für eine Zeit durch sein Denken im Sein gehalten. Aber diese Verwendung des Begriffes nihil ist auch irreführend: Gerade die in den Augen eines materialistischen Lesers nicht substantielle Natur dieser Geistschöpfung ist das, was sie vom Nichts trennt und ihr eine gewissen Substanz verleiht. Um dies zu verstehen, müssen wir noch einmal auf das Böse zurückkommen. Wir haben anlässlich des martinistischen Mythos bereits gesehen, dass der Schöpfungsgedanke eine Maßnahme der Schadensbegrenzung ist. Die durch Missbrauch ihres freien Willens von Gott abgefallenen Geistwesen 207 Das Motiv, dass bei Gott das Hervorgehende den Zeugenden nicht vermindert, findet sich nebst dem Vergleich mit dem Sprechen bei Thomas von Aquin, bezieht sich dort aber nicht auf Emanation, schon gar nicht eine solche aller Geistwesen, sondern nur auf die innertrinitarischen Hervorgänge; daher ist auch der Vergleich mit der Sprache durch das Motiv des Logos gesichert; vgl. Thomas 1936, ST I, q27, a4, resp: Es gibt nur zwei Hervorgänge, die im Hervorbringenden verbleiben, also keinen Verlust mit sich bringen - die generatio oder nativitas des Verbum beim Sprechen und in der Gottheit (gegen die Arianer) und die „processio secundum actionem voluntatis“ oder „processio amoris“, also der spiritus, sowohl als Heiliger Gesit als auch als Handlungsmöglichkeit. (Zum trinitarischen Aspekt vgl. ebenda, a5, resp.). Thomas entwickelt hier einen Gedanken Augustins weiter, der die Stelle im Johannes- Prolog (1,1), nach der das Wort bei Gott war, im Sinne eines inneren Wortes interpretiert, das als Gedanke beim Sprecher verbleibt, auch wenn das äußere schon verhaucht ist, vgl. Augustin 1887c, „In Joannis Evangelium“ I, i, PL 35, col. 1383, § 8. 208 Saint-Martin 1782, I, S. 65-66 209 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 444 und 1782 I, S. 19, sowie ebenda, I, S. 68. 476 sollen in diese Schöpfung eingesperrt werden, um - wie es Fournié auffasst - vor der endgültigen Vernichtung wenigstens für eine Zeit möglicher Bewährung gerettet zu werden. Was ist aber dieses Nichts, auf das die gefallenen Geister zustreben? Nimmt man die hermetisch-kabbalistische Radikalisierung des Platonismus als Verständnishilfe, nach welcher in den Worten von Knorr von Rosenroths Kabbala Denudata: „Quicquid vero est, Spiritum esse,“ 210 so ist das Nichts als nicht wahrhaft Seiendes zunächst einmal das nicht Geistige. Das nicht Geistige wäre aber das Stoffliche. Dass das Stoffliche Illusion ist, haben wir schon erfahren. In der hermetisch-kabbalistischen Tradition von Fludd und Böhme ist nun das Nichts ebenso wie das (mit diesem tendenziell gleich zu setzende) Böse die Zusammenziehung, die äußerste Konkretion des Stofflichen. Konsequent beschreibt Saint-Martin auch im Tableau universel den Engelsfall als Konkretion und Partikularisierung von etwas, was allgemein hätte sein müssen. 211 Wenn man nun die in den religionsgeschichtlichen Untersuchungen zum Martinismus allgemein akzeptierte Annahme ernst nimmt, dieser stehe in dieser hermetisch-kabbalistischen Tradition, 212 dann ist es zumindest naheliegend, diese beiden Interpretamente zusammen zu nehmen und folgende Hypothese über das Böse und das Nichts aufzustellen, die - wie wir sehen werden - manche scheinbaren Widersprüche des Martinismus zumindest auf phantastische Weise aufzulösen vermag: Das Nichts ist nicht unendliche Dilatation, sondern Konkretion, ähnlich wie wir in der heutigen Astronomie etwa ein schwarzes Loch denken. Je feiner und durchlässiger, je geistiger etwas ist, desto mehr Sein hat es, je dichter und finsterer, desto weniger. So ist die typische Aktion des Bösen die contraction, die sowohl als Gegenaktion wie als Zusammenziehung Gegenspieler der guten Aktion ist und an der Aufrechterhaltung unserer gefallenen, zusammengezogenen Welt notwendig mitwirkt. 213 Dies erklärt etwa die Tatsache, dass Saint-Martin einerseits voller Bewunderung die Schöpfung betrachtet und preist, andererseits in einem Text wie Le Crocodile das Böse kaum vom Materiellen unterscheidet: Die geistige Schöpfung ist seiend und gut, ihre materielle Konkretion ist ein Schritt (oder, nimmt man den Fall der Natur hinzu: zwei Schritte) in Richtung auf das Nichtige und Böse von jener entfernt und daher weniger seiend und 210 „Fundamenta Philosophiae sive Cabbalae Aëto-paedo melissae“, 5. Axiom; darauf berief sich auch More. Vgl. Hutin 1979, S. 165. 211 Saint-Martin 1782, I, S. 25 212 Etwa Amadou in: Martines 1771, Vorwort, oder Le Forestier 1928, S. 145ff. 213 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 429 und passim. Dies mag zwar für die materielle Welt darauf hinauslaufen, dass die negativen Kräfte wie in der östlich inspirierten Philosophie Dupont de Nemours’ notwendig für das Sein des Universums sind, aber man muss sich immer klar machen, dass die Schöpfung selbst ja schon ein Zugeständnis an das Nichts ist. Von hier her lässt sich das Böse oder Nichtige nicht auf die gleiche Stufe mit dem Guten stellen. 477 gut. Gnostische Abwertung der Materie und Preis der Schöpfung können damit im Martinismus zusammen bestehen - eine Synthese, die das Christentum bekanntlich immer wieder mit unterschiedlichem Erfolg versucht hat. Aber noch sind wir nicht bei der materiellen Welt. Eine vom Schöpfer bei sich (und also in der geistigen Realität) gedachte (und daher wirkliche) Welt soll in dem Stadium, in dem wir uns befinden, die auf die Zusammenziehung des dunklen Nichts zustrebenden Geister halten und einfangen. Saint-Martin will sogar im Anschluss an kabbalistische Traditionen die Aussage, die erste Schöpfung sei rein geistig, aus einer besonderen Interpretation des Genesis-Eingangs folgern. 214 Diese Geistschöpfung Gottes wollen wir kurz betrachten: Sie ist (im Gegensatz zur Passivität des finsteren Nichts) Aktivität, und die Gesetze dieser Aktivität offenbaren sich für die Martinisten in Zahlen. Wesentliche Aspekte der Zahlenhaftigkeit der Welt haben wir in dem Kapitel über die qualitative Mathematik des Martinismus bereits analysiert. Es sei für unseren aktuellen Zusammenhang vor allem an die mathematischen Zeugungsmythen und die Vorstellung erinnert, die Zahlen seien gerade aufgrund ihrer Geistigkeit Formen von Aktivität. Einige weitere Aspekte seien nun ausgeführt: Die Schöpfung geschieht durch einen dreifachen Schöpfungslogos, das heißt eine in sich gestufte geistige Aktivität von väterlichem Willen, Intention im Sohne und der Aktion des Geistes. Aus der Intention kommt der Wille, und daraus das schöpferische Wort, die Aktion. Diese Dreiheit ist in allem Geschaffenen. Arithmosophisch ist die Intention die Eins, der Wille die Zwei 215 und das Wort die Drei; ihre Summe ist 6. 216 Das entspricht den sechs Gedanken der universellen, der allgemeinen und der besonderen Schöpfung. Man beachte die ontologische Dreistufigkeit: Das Universelle ist sozusagen der umgreifende unendliche Raum der oberen Welt als Möglichkeit von ‘Existenz’ überhaupt. Die Erde 214 Im Tableau naturel führt er aus, dass das hebräische Rosch nicht nur ‘Anfang’, sondern auch ‘Kopf’ oder ‘Gedanke’ bedeuten kann. Daher kann der erste Satz außer ‘Im Anfange schuf Gott’ auch „Dans la pensée Dieu créa“ bedeuten. Die Elohim stehen mit ihrem in der Deutungsgeschichte immer wieder zum Problem gemachten Plural dann für die Sekundärursachen, in diesem Fall die Agenten, die diese Geistschöpfung konkretisieren. Saint-Martin 1782, II, S. 6. Zur mystischen Interpretation des Genesis-Eingangs in der jüdischen Tradition vgl. Le Forestier 1928, S. 155. 215 Es sei daran erinnert, dass die Zwei innerhalb der göttlichen Dekade zunächst unbedenklich ist. Da jedoch die Entzweiung, die zum Bösen führt, aufgrund der Zwei möglich wird und sie aufgrund des Missbrauchs gerade des Willens stattfindet, so gelingt es Martines de Pasqually auch hier nicht, die Möglichkeit des Bösen aus dem göttlichen Anfang aller Dinge heraus zu halten. Die Konzeption Böhmes, sie tatsächlich als Möglichkeit, aber nicht als Aktualität, in einem selbst noch unausgeformten göttlichen Ungrund anzusiedeln, wird es Saint-Martin erlauben, dieses Problem bis zu einem gewissen Grade zu lösen. 216 Vgl. Martines 1771, S. 116f. 478 findet darin ihren Platz als das Allgemeine. Alles, was auf ihr ist, ist das Besondere. Wichtig ist jedoch, dass diese Verwendung insbesondere des Begriffs der Erde eine prälapsarische ist. Wir sprechen noch von der Geistschöpfung. Die Welt wird nach dem Fall anders sein, und die Erde, auf der wir leben, ist nur ein dunkler Planet irgendwo im All, ohne privilegierte Position. 217 Die Trinität, die sich der Schöpfung mitteilt, ist im Übrigen keine wesenhafte Trinität Gottes, sondern nur die erwähnte Dreiheit der Aktionsformen eines einfachen Wesens (dessen Essenz aber wiederum in sich vierfach ist), die lediglich von der Kirche als drei Personen beschrieben werden. In diesem Falle wirkt im Schöpfungslogos selbst (verbe) eine Filiation von intention, volonté und parole. 218 Die Lehre von den sechs Schöpfungstagen als Schöpfungsgedanken ist eine spirituelle Auslegung des Schöpfungsberichts unter Einbeziehung der spekulativen Konzeption der Entfaltungszahlen analog der pythagoreischen Spekulation über die Ausfaltung des Kosmos nach der Tetraktys- Formel (1+2+3+4=10). 219 Die Sechs der Schöpfung lässt sich ihrerseits in 3+3 zerlegen: Darin zeigt sich nach Martines die Trennung von Gut und Böse, sowie die Tatsache, dass die drei spirituellen Essenzen der späteren Materie sowohl in der guten wie der bösen Hälfte der Schöpfung wirken. Die Möglichkeit einer solchen Zerlegung in zwei Teile als Vorbedingung des Bösen kommt aus der Zwei, der Zahl der Verwirrung. 220 An dieser Argumentation sieht man, dass die Gesetzlichkeiten, deren Außenseite die Zahlen sind, der Schöpfung, ja sogar ihrem Anlass (dem Fall der Geistwesen) voraus liegen, denn die Zwei begründet ja allererst die Möglichkeit einer Trennung. Diese Gesetze sind also bereits im Busen des Schöpfers vor aller Schöpfung vorhanden. Sie wirken sowohl im vorweltlichen Emanationsgeschehen als auch bei der Erschaffung der geistigen Welt, die wir hier betrachten. Aber auch in der gefallenen Welt sind die Gesetzlichkeiten, für die diese Zahlen stehen, zu erkennen. Die martinistische Zahlenspekulati- 217 Es ist für die Martinisten (ebensowenig wie für andere christliche Denker) demnach kein Problem, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Alls liegt. Die Vorstellung verschiedener moderner Schriftsteller, etwa Freuds, von der kopernikanischen Revolution als einer Kränkung wird auch von Lovejoy 1936, S. 126f. kritisiert. Saint-Martin 1802, S. 112-113, betont sogar, dass es nicht verwunderlich sei, wenn die Erde „comme étant pour nous une prison ou un cachot...peu remarquable parmi les autres astres“ sei. 218 Martines 1771, S. 116f. 219 Die sechs Schöpfungstage können keine Zeit meinen, da der Schöpfer selbst über aller Zeit ist, daher ihre Deutung als Schöpfungsgedanken. Allerdings kommt ein zeitliches Element insofern wieder zum Tragen, als doch die Dauer des göttlichen Gedankens, der diese Welt ist, damit vorauszuberechnen ist: Nach 6000 Jahren wird die Welt untergehen. Vgl. Martines 1771, S. 332ff und Saint-Martin 1782, II, S. 12-13. Zur Tetraktys vgl. Mayr 2006. 220 Martines 1771, S. 137 479 on, die wir in Kapitel I als Antwort auf die Mathematisierung des ‘klassischen’ Denkens werteten, kennt also ebenso wie die Normalmathematik auch eine ‘physikalische’ Anwendung. Die Zahlen, deren Wirken auch noch in der gefallenen Schöpfung zu beobachten sind, sind Prägespuren göttlichen Denkens in der Materie, die diese zwar nicht mit Substantialität ausstatten können, sie jedoch auf den Schöpfer hin lesbar machen. Insofern zeugen sie auch noch in der Illusion der materiell zusammengezogenen Welt von der Realität der Geistschöpfung. Die Begriffe der Materie und der darin wirkenden mathematischen Verhältnisse sind so gegenüber denen der modernen Naturwissenschaft genau vertauscht. In dieser gilt die Materie als Substanz, die aus ihrer Struktur zu gewinnenden Zahlenverhältnisse gelten als Konstrukt. Im Martinismus hingegen gilt die Zahl als wesenhaft, als Träger und Gestalter eines selbst nicht Substantiellen, das nur von den gefallenen Menschen als existent erlebt wird. Freilich nötigt der Sprachgebrauch Pasqually immer wieder zu Formulierungen, die gesättigt sind vom gemeinen Verständnis der Materie als Substanz; das Substantialistische kehrt durch die Hintertür der sprachlichen Prägungen in diese erstaunliche Rede von der Welt als geistgeformtem Nichts zurück. 3.1.2. Verdichtung der Geistschöpfung: Die Sekundärursachen und die ungefallene Welt Um aber nun die auf das Nichts zueilenden Geister überhaupt noch zu erreichen und auch, um sie beherrschen zu können (denn die ursprüngliche Geistwelt kannte ja keinerlei Zwang - sonst wäre nichts passiert), muss diese Schöpfung auf die sich auf Nichts gründen wollenden Geister zu ein wenig konkretisiert, das heißt: in Richtung auf das, was später Materie werden wird, zusammengezogen werden; Saint-Martin spricht von einer dichteren, koagulierteren ‘Substantialität’: Le créateur, n’ayant formé les choses visibles et matérielles que pour servir de barrière aux efforts de la puissance égarée et criminelle […] a fait en cela un acte de violence qui donne à ces productions matérielles une substantialité plus dense et plus coagulée qu’elles ne l’auraient eue si elles fussent restées dans leur simple loi spirituelle. 221 In gewisser Weise muss die Geistschöpfung sich also ontologisch erniedrigen, denn je geistiger Gottes Schöpfung ist, desto weiter ist sie vom Nichts entfernt; je materieller sie wird, desto nichtiger. Deshalb ist die Natur auch „une larme de Dieu“, der ja eigentlich nichts derartiges hätte schaffen wol- 221 Saint-Martin 1800, I, S. 110. Zum Traditionshintergrund der Interpretation von Genesis 1 als einer doppelten Schöpfung, sowie der Vorstellung der Koagulation der Materie im Anschluss an den Fall der Natur (Römer 8, 19-22) vgl. vor allem die Studie von Faivre 1973b. Faivre 1986, S. 57 weist außerdem auf die Verbindungen einer solchen Lehre zur alexandrinischen Hermetik hin. 480 len. 222 Dies hat jedoch auch den Zweck, die vor dem Nichts bewahrten Geister in eine Welt einzusperren, die bereits Spuren des Nichts trägt, also eine Straf- und Besserungsanstalt ist: Weil sie sich gegen die Fülle des Seins, die nur in Gott zu finden ist, entschieden haben, sich also an das Nichts klammern, sind sie in ein Nichts eingesperrt. Der ‘unbekannte Gott’ der Gnosis, der mit der Materie nichts gemein hat, ist hier zugleich der Demiurg, der eine täuschende Welt schafft - freilich von Anfang an mit dem Ziel der Überwindung des bloß Negativen, dem seine Emanationen verfallen sind - die Gegensätze der Gnosis fallen zusammen. Für diese Bewährung wird auch die Zeit geschaffen, die sich zur Ewigkeit genauso verhält wie die Materie zum Geist: Auch sie ist in Saint-Martins Interpretation wiederum „une larme de l’éternité“, so wie die Natur eine Träne Gottes war. Zugleich ist sie eine Episode, ein Ausschnitt aus der wahren Zeit, die die Ewigkeit ist: „Le temps n’est que l’hiver de l’éternité“; und als solcher ist sie auch eine Wunde, „une plaie profonde“ 223 - dieses Bild werden wir noch im Zusammenhang mit Saint-Martins Vorstellung von der gefallenen grobstofflichen Welt beleuchten. Edmond Mazet meint nun, die Tatsache, dass die gefallenen Geister ohne Leib in die Welt eingesperrt werden könnten, deute doch darauf hin, dass Martines den Geist als subtile Materie denke. 224 Trägt also auch Martines de Pasquallys esoterisches Denken wie dasjenige Dupont de Nemours’ materialistische Züge - obwohl er (anders als dieser) die Materie immer wieder abwertet? Mit unserer oben aufgestellten Hypothese lässt sich dieser Widerspruch leicht auflösen (und diese Erklärungsmöglichkeit kann unsere Annahme gleichzeitig stützen): Die Tatsache, dass sie sich auf das Nichts der Zusammenziehung zu bewegen, zeugt dafür, dass die gefallenen Geister in der Tat feinstofflich verdichtet, konkretisiert sind. Deshalb können sie auch in einem feinstofflichen Universum eingesperrt werden. 225 Aber dies ist nicht ihr ursprüngliches Wesen, sondern Ergebnis ihrer Versündigung. Die Konkretion ist bereits ein Effekt des Bösen, denn der eigentliche, der gute Geist ist immateriell. Der zunächst rein geistige Schöpfungsgedanke Gottes muss also seinerseits verdichtet werden, um seine Rolle des Gefängnisses, der Besserungsanstalt und des Halts dieser Geister spielen zu können, wenn auch der Gedanke Saint-Martins, das Universum sei „comme un grand feu allumé depuis le commencement des choses pour la purification de tous les Etres 222 Saint-Martin 1800, II, S. 59 223 Saint-Martin 1800, II, S. 11-12 224 Mazet 1979, S. 281 225 Und deshalb können sie auch von den weiteren Beschränkungen eines gefallenen, grobstofflichen Universums nicht zusätzlich behindert werden: Sie können sich innerhalb desselben frei bewegen, fliegen, durch feste Wände hindurchgehen etc; die ganze martinistische Beschwörungspraxis rechnet ja damit, dass es sich nicht um grobstoffliche, sondern feinstoffliche Gefangene dieser Welt handelt. 481 corrompus“ selbst noch dem Gefängnismotiv etwas Energetisches hinzufügt. 226 Da jedoch Gott selbst mit einer solchen nichtigen Konkretion seiner Geistschöpfung nichts zu tun haben kann, kommen hier im Martinismus Sekundärursachen ins Spiel, die die Geistschöpfung zu einer feinstofflichen konkretisieren. Gott konkretisiert seine Gedanken nicht unvermittelt, sondern durch emanierte Zwischenwesen, die ihn von der Schöpfung trennen und Raum und Zeit bilden und aufrechterhalten müssen. So emaniert Gott die Geister der „axe feu central.“ Diese Geister schaffen sich nun selbst nach Gottes Maßgabe feinstoffliche Leiber, mit deren Hilfe sie die Zentralfeuerachse als Barriere zwischen der unendlichen oberen und der unteren Welt bilden. Diese Barriere hält die gefallenen Geister in ihrem Gefängnis und hindert sie außerdem daran, in der oberen Welt Schaden anzurichten. Die Geister der Zentralfeuerachse halten außerdem die Welt darunter in ihrer Funktion. Der Begriff der Zentralfeuerachse ist von den Pythagoreern übernommen. Dort denotiert er, wie sich aus ihm unschwer erschließen lässt, eine Mittelachse, um die sich die Planeten, einschließlich der Erde, bewegen, und die in Bezug auf Stellung und Funktion der Energieabgabe die Position der Sonne in heliozentrischen Systemen einnimmt, gleichzeitig aber auch eine Art Schöpfungsagent ist, der alles hervorgebracht hat und mit Energie versorgt. 227 Die Pythagoreer nahmen an, man könne dieses Zentralfeuer nicht sehen, es werde lediglich von der Sonne reflektiert, die wie die anderen Planeten um es kreise; sie hielten also nicht das sichtbare Feurige, das die Sonne ist, selbst für das Zentralfeuer des Planetensystems. Bei Martines ist dieser Begriff umgeprägt. Es handelt sich eigentlich um gar keine Achse, sondern eine Himmelssphäre, die von Geistern gehalten wird. Die Achse ist das Organ der Achsengeister, ebenso wie der menschliche Leib Organ des mineur, der Seele, ist. 228 Das heißt hier wie dort, dass die Seele das eigentlich Substantielle ist, die sich zur körperlichen Wirkung und Erscheinung eines quasi erdachten Leibes bedient. Die Zentralfeuerachse, die immer wieder wie eine feurige Sphäre beschrieben wird (und so auch in Saint-Martins Zeichnung des „Tableau universel“ erscheint), ist wohl etwa analog dem aristotelischen Empyreum, und zentral ist sie zwar nicht für eine Rotation, aber doch sowohl in ihrer Bedeutung als auch in ihrer Lage, denn sie trennt die obere Welt des Schöpfers, die oberen vier Kreise mit ihren körperlosen Bewohnern (die wiederum auf die Achse und alles Darunterliegende einwirken), von der unteren Welt des Geschaffenen, den unteren sieben Himmelskreisen. Zu beachten ist, dass die obere Welt, über der Achse, wesentlich größer ist als alles, was darunter liegt und durch immer neue Emanationen sogar noch wächst (wie unser moderner Kos- 226 Saint-Martin 1782, II, S. 160 227 Vgl. auch Le Forestier 1928, S. 207. 228 Vgl. Martines 1771, S. 177f. 482 mos), während die geschaffene Welt begrenzt ist, und daher durch die vielen in ihr wohnenden Wesen in ihr Verwirrung herrscht. Pasqually geht (im Gegensatz zu Saint-Martin) sogar davon aus, es könne - wie es seit Fontenelle in Frankreich häufig dargestellt wurde - nach den gleichen Prinzipien gebaute andere Welten geben, die wir nicht kennen, die aber gleichwohl Bestandteile des Dramas zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen sind. 229 Die angesprochene energetische Einwirkung der Zentralfeuerachse auf die Körper unter ihr geschieht durch eine Analogie: Alle Körper haben in sich ein Elementarfeuer, das das Vehikel der Einwirkung der axe feu central ist. 230 Die Mikrokosmen haben in sich eine mikrokosmische Entsprechung des makrokosmischen Feuers. Der Zusammenhalt zwischen oberer und unterer Welt ist daher recht eigentlich ein energetischer. 3.1.3. Der Kosmos oberhalb und unterhalb der Zentralfeuerachse Es ergibt sich aus dem bisher Dargelegten also folgende Grobstruktur vierer Welten, die oberhalb und unterhalb der Zentralfeuerachse liegen: Göttliche Unendlichkeit (wo die esprits supérieurs wohnen) - überhimmlische Welt (Wohnort der esprits majeurs) - Zentralfeuerachse - Himmel (Wirkungskreis der esprits inférieurs) - Erde (Wirkungsort des mineur, dem gleichwohl die anderen Geister unterstellt sind und dessen eigentlicher Aufenthalt zunächst ebenfalls die himmlische Welt ist). 231 In der Rede Mosis an sein Volk am Berge Sinai rollt Martines de Pasquallys Traité diese Kosmologie noch einmal als großes Tableau auf, und hier erfahren wir 229 Martines 1771, S. 98. Ob diese anderen Welten jedoch in unserem Sinne Planeten sind, bleibt unklar. Martines’ Schüler Saint-Martin meint jedenfalls nicht, dass es andere bewohnte Planeten gibt, vgl. Saint-Martin 1800, I, S. 170. 230 Dass ein Vehikel der Zentralfeuerachse auch dem Menschen eingeboren ist, will Martines de Pasqually im Übrigen durch ein im Anhang des Traité mitgeteiltes Experiment beweisen, das - wie es in der modernen Naturwissenschaft üblich ist - jeder wiederholen kann: Man blicke nachts in ein Kerzenlicht und anschließend auf eine Wand. Dort wird man einen Feuerkörper sehen, der sich in einen Kreis verwandelt, in welchem man Luft Erde und Wasser - und das heißt aufgrund alchemistischer Zuordnungen: die drei Essenzen, also Sulphur, Mercurius und Sal - sieht. Die Feuer- Achse und ihre Essenzen sind also in uns, das heißt, wir bestehen aus den drei Essenzen und werden von der Feuerachse unterhalten. Man kann natürlich anführen, dass schon formal ein solches Experiment (mit dem man übrigens ebensogut beweisen könnte, dass das Auge sonnenhaft ist) die Annahme aufgrund des sehr verschiedenen Komplexitätsgrades von Experiment und These nicht beweist; es fällt zu schwer, einzelne Elemente von Experiment und These einander zuzuordnen, und viele Details der These sind im Versuch gar nicht repräsentiert. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass eine solch esoterische Lehre sich hier dem Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts an der Empirie annähert, noch dazu auf einem so problematischen Feld wie der Lehre von der Zentralfeuerachse. 231 Vgl. auch die Darstellung von Le Forestier 1928, S. 23. 483 Näheres über die Feingliederung dieser Struktur: Gottes Hof über aller Welt besteht aus vier Kreisen. In ihnen wirken Intention und Wille Gottes unmittelbar auf die Geistwesen dieser oberen Sphären. Diese vier Kreise machen (in dieser Hinsicht ist der Traité widersprüchlich) wohl die göttliche und die überhimmlische Welt aus. Sie steuern die sieben Planetenkreise der himmlischen Welt, 232 die ihrerseits wieder auf den ‘allgemeinen’ Erdenkörper (also die geistige Gestalt der Erde) einwirken und ihnen die Energie und Lenkung von oben mitteilen. Diese Vorstellung einer Weitergabe ‘passiven Lebens’ an die in den unteren Wesen eingeborenen Vehikel der Zentralfeuerachse macht die martinistische Adaption der chaldäischen und gnostischen Astrologie aus, jene Lehre vom Unterworfensein unter den esprit astral ou sidérique, welche - wie wir sahen - den wichtigsten Einwand Saint-Martins gegen den Magnetismus bereitstellte. Der Mensch ist in seiner Eigenschaft als Materiewesen diesen Einflüssen ausgesetzt, müsste aber eigentlich als Geistwesen über sie herrschen; mit ihnen operieren zu wollen bedeutet damit eine bewusste Inkaufnahme der Verfälschung des eigentlichen Wesens des Menschen, zumal das Wirken der Planeten bisweilen auch von bösen Geistern beeinflusst wird. Die sieben Planetenkreise bestehen jeweils aus sechs Haupthimmelskörpern und unzähligen Nebensternen, die jeweils um einen siebten Himmelskörper herum angeordnet sind, der den jeweiligen Kreis beherrscht und ihm seinen Namen gibt. 233 Jeder dieser sieben Planeten hat eine besondere Funktion für die Weitergabe der Energie der Zentralfeuerachse an die untere Welt. In dieser Lehre der sieben himmlischen Agenten des Universums liegt auch die später von Saint-Martin genutzte Möglichkeit beschlossen, die Vorstellung Jakob Böhmes von den sieben Planeten als Erscheinungsformen der Quellgeister oder Qualitäten an die martinistische Astrologie anzubinden (wir sahen dies in Kapitel I, 2.3.2.2.): Beide stehen in der gleichen Tradition. Die Planetenkreise sind selbst wiederum nach der traditionellen Hierarchie der menschlichen Erkenntnisvermögen in drei Kreis- 232 Dass die höheren Sekundärursachen in Saint-Martins Des erreurs et de la vérité eine septenarische Emanation Gottes sind, hat schon Kleuker 1784, S. 298 in eine Reihe gestellt, die „Ezechiels und Johannes sieben Throngeister Gottes...die sieben heiligen Laute der Weltharmonie bei den Egyptern, Orphikern und Pythagoreern...vor allen Dingen die sieben Sephiren der Kabbala (welche als geheiligte Namen des ewigen Buches das Leben fließen lassen in alle Wesen), und Pordage's, Jakob Böhmes und anderer Theosophen sieben Urgestalten der ewigen Natur, als so viel Organen und Einfassungen der göttlichen Allwirksamkeit“ enthält. Eine Adaption der antiken orientalischen Astrologie der sieben Planetenkreise in einem jüdischen Kontext, am Beginn der für Martines so wichtigen kabbalistischen Tradition, findet sich in der apokryphen Abrahams-Apokalypse; vgl. Le Forestier 1928, S. 153. 233 Vgl. zu diesen bei Martines teils verworren präsentierten Aspekten die klärende Darstellung von Le Forestier 1928, S. 134f. Ebenda, S. 204, wird dargelegt, dass diese chaldäische Gruppierung der Himmelskörper über den Talmud zu Martines gelangt sein könnte. 484 gruppen einteilbar: Die oberste besteht nur aus einem Kreis, dem des Saturn, er heißt der rationale Zirkel; darunter kommt der visuelle Zirkel oder Sonnenkreis; darunter dann der sensible Zirkel, der die Kreise der übrigen Planeten umfasst: Merkur, Mars, Jupiter, Venus und Mond. Nimmt man die Zuordnungen zu den Erkenntnisvermögen wörtlich, so würde dies bedeuten, dass in der ursprünglichen Schöpfung die Sonne nur sichtbar, der Saturn gar nur denkbar ist. Die intelligible Welt der Scholastik würde dann entweder mit dem rationalen Kreis zusammenfallen; dann wäre die obere Welt nicht einmal intelligibel - oder die sensible Welt enthielte den rationalen Kreis in sich; dann wäre die diesseitige Ratio zu einer Spielart des Sinnlichen abgewertet und von der wahren Intelligenz geschieden. Beide Lesarten bestätigen die martinistische Tendenz, die Erfassung des Göttlichen über das bloß rationale Denken zu stellen. Die Vorstellung, dass der oberste Planetenkreis eigentlich übersinnlich ist, macht jedenfalls die Frage überflüssig, warum wir die darüber liegende Zentralfeuerachse nicht sehen können. Unter den Planetenkreisen ragt außerdem noch eine Vierergruppe hervor, die die Vierheit der Kreise der oberen Welt abbildet, und außerdem ist die Gesamtheit der Planetenkreise ebenso wie jeder einzelne von ihnen eine Siebenerstruktur, die von einem ihrer Bestandteile regiert wird. Im Falle der großen Struktur ist dies die Sonne, die als mikrokosmisches Pendant der Zentralfeuerachse alles andere beherrscht, und zwar eben wegen ihrer besonderen Rolle bei der Weitergabe von Energie. Martines versucht also in antiker Tradition eine Einteilung des Sternenhimmels nach Funktionsbereichen mit unterschiedlich vielen Unterkreisen. Er zeigt sich bei seiner spezifischen Gestaltung dieser Aufgabe jedoch nicht nur unabhängig von den einzelnen antiken Schulen, sondern auch unbesorgt bezüglich der durch Beobachtungen gestützten Astronomie seiner Zeitgenossen. Dies scheint insbesondere deshalb ohne größere Probleme möglich gewesen zu sein, da eventuelle Einwände sich ja immer nur auf den Status der vorfindlichen und also der gefallenen Schöpfung beziehen könnten, in der alle Verhältnisse verzerrt sind. Denn Martines beschreibt ja nicht die aktuell erfahrbare Welt, sondern eine Art von geistiger Topographie (teils wohl angelehnt an Formen des kabbalistischen Sephirotbaums 234 ), die als die eigentliche Gestalt des Alls hinter der verzerrten Erscheinungsform der gefallenen Welt für den geistig Sehenden aufscheint. Mit einer solchen Annahme kann er jeden empirisch fundierten Einwand und überhaupt die Empirie selbst entkräften. Deren Ergebnisse könnten allenfalls mit Hilfe einer Allegorese des Falls jeweils auf den eigentlichen Zustand bezogen werden. 234 Dort gibt es teils ähnliche Strukturen wie in Martines’ geistiger Welt überhalb des Zentralfeuers, die auch keine sichtbare Welt darstellen sollen; vgl. zu diesen Parallelen Le Forestier 1928, S. 200. 485 Deshalb ist die Topographie des geistigen Himmels auch ausgesprochen symbolisch. Aus Zahlen und den ihnen jeweils entsprechenden geometrischen Figuren ist hier ein symbolisches Tableau der geistigen Grundstruktur des Universums gebildet, in dem sich wiederum Heilsgeschichte spiegelt. So sind die vier Kreise der oberen Welt noch näher zu differenzieren; sie sind keineswegs konzentrisch angelegt: Der erste trägt die Zehnzahl und ist der spirituell-göttliche Kreis, dessen Zentrum eine Art Erscheinungsweise des ansonsten unfasslichen Schöpfergottes ist, ähnlich wie er in einem Sefirotbaum sich zeigt. Aus diesem Kreis kommt ein Dreieck hervor (solche Strukturen gibt es im Sefirotbaum ebenfalls), an dessen unteren Ecken jeweils der zweite und dritte Kreis liegen. Dem Zehnerkreis gegenüber liegt der vierte Kreis, aus dem ebenfalls ein Dreieck hervorragt. Diese vier Kreise typifizieren die vierfache Essenz der Gottheit. Der erste Kreis steht für die absolute Einheit Gottes, der zweite, der Kreis der Siebenzahl, ist der Kreis der majeurs, in denen die göttliche „loi“ ruht. 235 Im dritten Kreise befinden sich die inférieurs, die zweite Emanation; hier liegt das „précepte“ des Herrn, während im vierten Kreis der eigentliche Wohnort der an dritter Stelle emanierten mineurs (Menschenseelen) ist, die bei sich das „commandement“ Gottes haben. Sie sind jedoch aus diesem Kreis herausgefallen und müssen sich im Zuge der Reintegration erst wieder dorthin emporarbeiten. Im zweiten und dritten Kreis sind Lücken durch den Engelsfall entstanden. Die Bewohner des vierten Kreises, die mineurs, wurden erst nach diesem Fall emaniert, und ihnen wurde, weil sie vom Engelsfall nicht berührt waren, ja diesen wieder gut machen sollten, die höchste Macht von allen verliehen - dieses Motiv des Erstgeburtsrechts des Zweitgeborenen spielt Martines, wie wir sahen, verschiedentlich durch. Die geistige Welt ist wie ein schadhafter Sefirotbaum gestaltet (auch das gibt es in der Kabbala 236 ) und sie ist für den, der sie sich hinter ihrer materiellen Verzerrung erschließen kann, eminent lesbar: Das Gefängnis ist mit Zeichen bedeckt. Der Weg der Reintegration der Gefallenen nimmt sich in diesem Tableau universel aus wie ein Parcours auf einem Spielbrett. Dieses kosmische Brett aber ist weder die aktuelle materielle Welt, noch die Ordnung aller Wesen vor der Geschichte, sondern geistiger Spielort, der der Aktualität vorausliegt, aber selbst schon Folge und Teil von Geschichte ist, denn das Spielbrett ist speziell für dieses Spiel hergestellt worden. Es ist Schauplatz und Ergebnis von Aktivität. Was nun die Wirkungsweise der Planetensphären der himmlischen Welt betrifft, so sorgt Venus für Zeugung, Jupiter für Verwesung, und der Mond für die Milderung der eigentlich lebensspendenden Aktion der bei- 235 Martines 1771, S. 334ff. 236 Vgl. etwa Scholem 1962, S. 36 (Struktur des Baums) und S. 171 (Störung der Geistschöpfung durch den Menschen). 486 den Prinzipien des Lebens, der Sonne und der Zentralfeuerachse. Die Sonne ermöglicht die Vegetation, die Zentralfeuerachse energisiert die sich bewegenden Lebewesen. Weil die Sonne mit der Feuerachse korrespondiert, ist sie der bedeutendste der Sterne, was dadurch gekennzeichnet ist, dass sie genau in der Mitte der Distanz zwischen dem Zehnerkreis und dem Mond, dem untersten Planeten, liegt. Diese Spekulationen über die Abstände und Abfolgen der Planeten erinnert an die chaldäische Astrologie. Von oben und unten gezählt, ist die Sonne bei Martines stets an sechster Stelle und bezeichnet damit die sechs Schöpfungsgedanken. Zählt man sie jedoch zu den sechs Planeten hinzu, so erhält man die Sieben, die Zahl der Perfektion der Schöpfung. Sonne, Zentralfeuerachse und Saturn lenken außerdem den Lauf der anderen Sterne. 237 Die Geister der Zentralfeuerachse sind durch eine vierfache Filiation mit Gottes Lenkung verbunden; auch für diese Filiation ist eine tetraktysche Addition möglich, die zur göttlichen Zehn führt. Die Geister der Zentralfeuerachse bilden und unterhalten mit Hilfe ihres Feuers Materieleiber, wobei sie diesbezüglich durch ihre feste Einbindung in die Lenkungskette sehr festgelegt sind. Die spirituellen Wesen der drei unteren Welten können sich dagegen frei die für ihre jeweils anstehenden Aufgaben nötigen Materieleiber bilden, während die Wesen, die oben in der göttlichen Unendlichkeit wohnen, keine Materieleiber nötig haben. In diesem Zusammenhang erhellt sich die Natur des im martinistischen Mythos auftretenden anfänglichen Glorienleibs Adams: Wie die erwähnten Geister konnte er sich diesen nach Bedarf selbst aus den drei Essenzen formen. 238 Geist und Energie bestimmen so den Kosmos. Die Äthermaterie ist nur ein Hilfsmittel, dessen Notwendigkeit direkt proportional zur Nähe des durch sie beförderten Vorgangs zur finsteren Mitte des Weltgefängnisses ist. Von den Ideen des Schöpfers aus über die geisthaften Sekundärursachen konkretisiert, verfestigt und entgeistigt sich die Welt bis hinab zu den Sternen, die wiederum von den Geistern bewegt werden. Jene teilen ihre Einflüsse auf die untere Welt mit. 239 Am Ende stehen die irdischen Elemente, die wir gleich noch näher betrachten werden. Für den Augenblick gilt es festzuhalten, dass dieses Schema ein letzter Versuch ist, hermetische Vorstellungen, wie sie in der Renaissance gängige Münze waren, in das Wissen des achtzehnten Jahrhunderts zu retten, wobei die Anschließbarkeit zweifellos in der Energisierung der Kette der Wesen liegt. Das Herabströmen der geistigen Aktivität konstituiert eine hie- 237 Martines 1771, S. 332f. 238 Vgl. Mazet 1979, S. 301f. Zur Feinstofflichkeit dieses Glorienleibes vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 29-30. 239 Für diese Filiation und die darin weiter gegebene Aktivität vgl. auch Saint-Martin 1782, I, S. 148. 487 rarchische Ordnung der Natur. Mag zwar die Lehre Martines de Pasquallys selbst als Geheimlehre in einem diskursiven Schutzraum außerhalb des herrschenden Diskurses gewirkt haben, so leuchtet doch ein, dass es nicht viel bedurfte, um diese hermetische Schwester der von der Energie ergriffenen Taxinomie auch für die Öffentlichkeit präsentabel zu machen; Saint- Martins Schriften zeugen davon. Was unsere Behauptung betrifft, die Ordnung des Kosmos und die Lehre von den Sekundärursachen nach Martines sei (im Gegensatz zur martinistischen Zeichentheorie) von der der Renaissance-Hermetik kaum zu unterscheiden, so genügt zu ihrer Bestätigung ein Blick etwa auf Bruckers dem französischen achtzehnten Jahrhundert (wir sahen es am Fall Diderots) gut zugängliche Zusammenfassung der naturphilosophischen Lehre Cornelius Agrippas von Nettesheim: Deus omnium virtutum finis et origo sigillum idearum ministris suis praestat intelligentiis: qui tanquam fideles executores, res quasque sibi creditas ideali virtute consignant, coelis atque stellis, tanquam instrumenta, materiam interim disponentibus ad suscipiendum formas istas, quae in maiestate diuina per astra deducenda resident, easque dator formarum distribuit per ministerium intelligentiarum, quas super opera sua constituit rectrices et custodes, quibus ea facultas in rebus sibi commissis credita est. (XX.) Prouenit itaque forma et virtus primo ab ideis, deinde ab intelligentiis praesidentibus et regentibus: postea a coelorum aspectibus disponentibus, porro ab elementorum dispositis complexionibus correspondentibus coelorum influxibus, a quibus ipsa elementa disponuntur. 240 Martines unterscheidet sich von Cornelius Agrippa eigentlich nur (und gerade) darin, dass er die Formung der Welt durch die Sekundärursachen nicht in erster Linie als Prägung einer diesen gegebenen Materie auffasst. Die Materie wird der Geistschöpfung stärker entrückt, indem sie als Produktion der Sekundärursachen betrachtet wird. Sie wird zunächst von diesen als Chaos gebildet und dann (im Sinne der Alchemie) geschieden. Der Rest von mechanischer Begrifflichkeit, der in dem „ad suspiciendum formas istas“ liegt, weicht der Vorstellung chemischer Abläufe, die jedoch wiederum keine Reaktionen im heutigen Sinne sind, sondern der Zeugung analog gedacht werden. Die Geister bringen mit der von Gott verliehenen Kraft und Gesetzhaftigkeit eine Geistmaterie hervor, die sie dann ausdifferenzieren. Das feinstoffliche, der Energie nahe stehende Chaos wird also in die drei wiederum feinstofflichen Essenzen der Schöpfung geschieden, die allem zu Grunde liegen und deren Dreiheit alles mit dem Siegel der Trinität versieht - auch die Trinität ist, daran sei erinnert, eine Dreiheit der Aktionsweisen, nicht des Seins. Unter dem Einfluss Böhmes interpretiert der späte Saint-Martin den Schritt vom Chaos zu den geschiedenen Essenzen dann in interessanter Weise um: Die Produktion eines Chaos ungeschiedener Essenzen durch die Vermittlung von Sekundärursachen ist nun nicht mehr schöpferische Reak- 240 Brucker 1743, IV, 1, S. 412 488 tion auf den Engelsfall, sondern das Chaos als Zerstörung einer ursprünglichen Ordnung ist Effekt des Engelsfalls. Bei Böhme ist nämlich der Fall der Natur im Gegensatz zur Lehre Martines’ nicht durch die Sünde des Menschen ausgelöst, sondern bereits Bestandteil des Engelsfalles. Dies ist nötig, weil Böhme die erste der beiden Schöpfungen der kabbalistischen Lesart des Genesis-Eingangs, die geistige, als Selbstdifferenzierung Gottes begreift, in der sich auch Luzifer herausbildet. Diese Selbstdifferenzierung führt zu einem ersten Wesen oder Kosmos, analog dem Adam Kadmon. Die Tatsache, dass Luzifer (oder was zu ihm werden wird) sodann seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet und versucht, die in ihm ohnehin angelegte Herrlichkeit auf Kosten des Ganzen noch zu steigern, führt zu einer Zerstörung der oberen Welt und zum Chaos. Die Neudifferenzierung und Neubelebung dieses Chaos ist nach Böhme die zweite Schöfung. Saint- Martin referiert zwar Böhmes Mythos zustimmend in Le minsitère de l’homme-esprit, schließt sich ihm aber nicht in allen Einzelheiten an. Er überträgt in L’esprit des choses unter Beibehaltung der martinistischen Erzählung wichtige Einzelheiten von Böhmes Ereignisfolge in seine Schöpfungslehre. Mag auch der Engelsfall weiterhin Anlass der Schöpfung sein und der Fall des Menschen für die Alteration der Natur seine Bedeutung behalten, so ist nun zumindest das Chaos der ungeschiedenen Essenzen (wenn auch keinesfalls die Essenzen selbst) durch den Sturz der Engel zu erklären. (Im Tableau naturel erhält man den Eindruck, es habe nach dem Fall des Menschen ein analoges Chaos gegeben, das dann durch das Einspringen Christi wieder geordnet wurde 241 ). Dieses Chaos wird durch den esprit majeur, der bei Martines zwischen einer Erscheinungsweise des Christus-Logos und so etwas wie dem höchsten Engel der Kabbala (bekannt als Metatron 242 ) oszilliert, dann in die drei Essenzen geschieden. 243 Nachdem so das Chaos geformt ist, zieht sich der esprit majeur aus demselben wieder zurück, um die nunmehr distinkten Formen dem Schöpfer vor Augen treten zu lassen. 244 Von da an werden die Geister der Achse durch ihr Wirken an den drei Essenzen die Gestalt der Schöpfung aufrechterhalten. 241 Saint-Martin 1782, I, S. 41 242 Dieser Möglichkeit gibt Le Forestier 1928, S. 199, den Vorzug. 243 Saint-Martin 1800, I, S. 68-70 244 Dies wird von Martines 1771, S. 211 anlässlich der figurativ auf die erste Schöpfung zurückweisenden „zweiten Schöpfung“ nach der Sintflut dargelegt: Der Engel, der neben der Arche steht, als deren Insassen nach der Flut hervorkommen, ist eine Figura des esprit majeur, der nach der Konkretisation der Schöpfung dem Schöpfer die nunmehr klaren Formen vor Augen treten lässt. 489 3.1.4. Essenzen Diese drei spirituellen (also noch nicht stofflichen) Essenzen, Merkur, Sulphur und Sal, erhalten als nächstes (wie bei Cornelius Agrippa) Formen, welche wiederum durch zahlenhafte Gesetzlichkeiten aus dem göttlichen Denken mit seinen drei Aktionsweisen (pensée, volonté, action) hervorkommen. Mazet, der die Naturphilosophie Pasquallys durch Geheimdokumente von dessen Orden (und teils im Anschluss an Forschungen Amadous) rekonstruiert hat, weist darauf hin, dass diese Lehre von den drei Essenzen (deren Dreizahl bereits bei Paracelsus begegnet) zwar an alchemistische Konzeptionen anschließt, aber eine besondere, untraditionelle Rollenverteilung aufweist: 245 Merkur ist der Stabilisator für die Antagonisten Sulphur und Sal (das Prinzip der Ausbalancierung eines Antagonismus durch eine dritte Instanz liegt nach Saint-Martin ja der gesamten Schöpfung zu Grunde). Diese drei spirituellen Essenzen werden als geistige Hervorbringungen der Achsengeister am Ende der Zeiten reintegriert und sind der Einwirkung der gefallenen Geister entzogen. Die Macht der Dämonen bezieht sich nämlich nur auf die erscheinenden geprägten Formen davon, die „matière apparente.“ 246 Aber zwischen den Essenzen und der erscheinenden (oder scheinbaren, also nicht substanzhaften) Materie liegen als Zwischenstation noch die drei Elemente; ihre untraditionelle Dreizahl 247 ergibt sich aus der der drei Essenzen. Die Elemente - Erde, Feuer und Wasser - korrespondieren den drei Essenzen - Merkur, Sulphur, Sal -, weil sie aus ihnen herkommen, und zwar jeweils bereits als Mischungen der Essenzen in unterschiedlichen Dominanzverhältnissen. Sie sind die selbst noch nicht sinnlich erfassbaren Bauteile der Materie, sozusagen ihre Aspekte: So entspricht der Aspekt der Solidität in einem materiellen oder feinstofflichen Körper dem Element der Erde. 248 Erst mit den jeweils von einem dieser Aspekte dominierten Teilen der Körper kommen wir, wie Mazet zeigt, in den sensiblen Bereich des Wässrigen, Soliden und Feurigen. Das Element Erde ist nach Saint-Martin (analog zum Planeten Erde, der das Gefängnis des Menschen ist) das nichtigste Element, weil es für das Einschließen und Komprimieren steht. 249 245 Vgl. Mazet 1979, S. 286. 246 Vgl. zu diesem Begriff auch Saint-Martin 1782 I, S. 83-84 und II, S. 163 247 Das traditionelle vierte Element, die Luft, ist denn auch etwa für Saint-Martin kein solches, sondern ein Lebensprinzip, ein Reaktionsagent und mobile, das es für alle Wesen je analog gibt, auch für jedes der drei Elemente. Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 147. 248 Vgl. Cornelius Agrippa von Nettesheim, nach Brucker 1743, IV, 1, S. 411: „Omnium elementorum basis et fundamentum terra est“, bei Mazet 1979, S. 287f.. 249 Die Wörter, die das Lateinische, Französische, Deutsche und Englische für ‘Erde’ haben, leitet Saint-Martin aus dem hebräischen Aretz bzw. Ratzatz, „il a brisé, il a resserré, comprimé“ ab: „et voilà pourquoi la terre est appelée le théatre d’expiation“, Saint-Martin 1782, II, S. 9-10. 490 Bezeichnend ist, dass damit die Bauteile der Welt von oben bis unten mit substantivierten Adjektiven beschrieben werden können. Wir werden anhand der Gottesnamenspekulation in Kapitel IV sehen, dass alle Emanation und Schöpfung im Martinismus (und den Traditionen, auf denen er basiert) aus den Prädikaten Gottes kommt, die als Wirkkräfte gedacht sind: Die Essenzen der Welt sind eigentlich Aktivitäten. Die Trennung der drei Essenzen ist nun ihrerseits ebenfalls energetisch gedacht. Denn die Abgrenzung des Seins der einen gegen das der anderen wird als passives Leben verstanden, für das jenes innere Feuer verantwortlich ist, das wir als das Vehikel der Zentralfeuerachse in allen Wesen der unteren Welt schon kennengelernt haben. 250 Mazet stellt die überzeugende These auf, die topographisch keineswegs zentrale axe feu central erhalte eben aufgrund dieser Korrespondenz mit dem zentralen Energie- und Identitätsprinzip der Körper ihren Namen. 251 Für unsere Perspektive besonders interessant ist die Tatsache, dass dieses innere geistige Feuer für Kohäsion, Aktivität, Identität und Beseelung sorgt: Die Elemente können sich nun verbinden. Das erinnert an Diderots Vorstellung von den organischen Molekülen, unterscheidet sich aber von ihr durch einen dualistischen Restbestand, der in dem Definiens passiv aufscheint: Was wir hier betrachten, ist, wie gesagt, das passive Lebensprinzip (welches allem Seienden, auch den Steinen, zukommt) - im Gegensatz zum aktiven, göttlichen (dem Geist), das hienieden nur der Mensch hat. Dennoch ist es bemerkenswert, dass die Identität des (Fein-) Stofflichen, die Eingrenzung der Essenzen und ihrer Konfigurationen, von einem energetisch-organischen Prinzip, dem inneren Feuer (oder Phlogiston) mit seiner Korrespondenz zur Zentralfeuerachse, geleistet wird und nicht von einer äußerlichen Eigenschaft. In der Organisation des Wirkens der Geister in der unteren Welt kommt nun noch einmal das für Martines zentrale Problem der Willensfreiheit zum Tragen: Die ternären Geister, die in und unter der Achse wirken, sind für die Dauer der stofflichen Welt ihres freien Willens beraubt: Sie sind nur Aktion; ihnen fehlen Intention und Wille. So können sie nur das ausführen, was die Septenargeister ihnen auftragen. Innerhalb des Gefängnisses ist zumindest unter den niederen Wärtern (wenn auch nicht für den Gefängnisdirektor, den Menschen) ein zweiter Fall ausgeschlossen. 252 Diese Regulierungstätigkeit wird (wie in der Gnosis und wie in dem oben zitierten System Agrippas) von den sieben Planetengeistern ermöglicht, die als Regenten oder Steuerungsorgane auftreten. Die Tätigkeit des ungefallenen Adams steht über allen diesen Vorgängen (er wird später unter sie fallen), und sie ist ein Reinigungskultus, in dem die Gefängniswelt wiederum 250 Vgl. zu diesen Vorgängen auch die Ausführungen Saint-Martins im Tableau naturel, Saint-Martin 1782, I, S. 143-144. 251 Mazet 1979, S. 295 252 Vgl. Mazet 1979, S. 296f. 491 energetische Züge erhält. So lesen wir in Saint-Martins Gedicht „Le cimetière d’Amboise“: Il a droit de les voir; même de les toucher, De les électriser, par sa vive influence, Et d’en faire jaillir des traits de sa puissance. […] Ce culte fut fondé sur l’homme et la nature. C’est un appareil vif, calqué sur la blessure; Et de la guérison étant le vrai canal, il dut prendre l’empreinte et les formes du mal. 253 Influenz und Elektrisierung sind die Bilder für die Tätigkeit des Gefängnisleiters. Dieser ganze lebende Apparat verdankt sich der Wunde des Bösen und hat zum Ziel, dieses aufzuarbeiten. Bei Saint-Martin wird die Gefängniswelt so zum Prozess. So arbeiten die Sekundärursachen mit Adam als Herrscher der Schöpfung zusammen, um die Welt quasi als Organismus in Betrieb zu halten. Zur Energisierung der aus den Essenzen gebildeten Wesen ist noch zu bemerken, dass diejenigen von ihnen, die auf der Erde sind, ihre Energie teils auf komplizierten Wegen von einander erhalten. Dies ermöglicht es Martines de Pasqually, das Zusammenwirken von innerem Elementarfeuer, Feuerachse und Sonne mit beobachtbaren Energiephänomenen auf der Nahrungskette zu vereinbaren. 3.1.5. Formen Die Essenzen werden wie angedeutet mit formgebenden Ideen konkretisiert, zunächst zu Qualitäten, dann zu Bestandteilen, dann zu Körpern. Schon die Zusammengesetztheit der Körper aus Essenzen und Formideen bedeutet für Martines, dass sie weniger wirklich sind als die Geister und dass sie vergehen müssen, denn was zusammengesetzt ist, ist auch zerlegbar und also vergänglich. 254 Die Körperformen sind nun wieder (wie bei den in der geistigen Schöpfung anzutreffenden Formideen selbst) zahlenhaft und aktiv aufgefasst. So wirkt bei der Erschaffung der Erde die Vierzahl. Die Vier der Formidee und die Drei der Essenzen wirken hier zusammen wie Form und Substanz. Die Vier ist das göttliche Prinzip, die symbolische Mitte der Erde, die aus den vier Buchstaben des Gottesnamens besteht; nach Saint-Martin ist die Vier auch die Zahl der Aktivität und Bewegung, mithin des Geistes. 255 Die drei Ecken der spirituellen Dreiecksgestalt der Erde 256 entsprechen nach 253 Saint-Martin 1807, I, S. 200 254 Vgl. Mazet 1979, S. 285. 255 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 380. 256 Die ursprüngliche geistige Dreiecksgestalt der Erde zeigt sich auch heute noch in der Dreiteilung der Erde unter drei Nationen, die von drei der Nachkommen Adams ab- 492 Martines hingegen den drei Essenzen. Dieses untrennbare Zusammentreten von Form und Substanz ist nach Martines moralisch und heilsgeschichtlich deutbar: Es ist gefährlich für den Menschen, mit der Dreiheit der Essenzen ohne Einbeziehung der göttlichen Vier zu operieren, das heißt: Es ist gefährlich, rein materiell zu handeln, ohne die eigene Geistigkeit und damit Herkunft von Gott mitzubedenken. 257 Die Sünde Adams besteht eben darin und ist so als eine Sünde wider das Konstitutionsprinzip der Schöpfung insgesamt zu verstehen. Weil Adam, so Saint-Martin, die Verbindung zwischen dem geistigen Prinzip des Universums und dem Universum selbst vernachlässigte, verlor er im Sinne eines vitium poenale das Wissen darum und damit auch den Zugang zur inneren Form des Universums, der ihm seine Herrschaft über dieses ermöglichte: Die Strafe ist keine Aktion Gottes, sondern nur die Konsequenz aus dem Handeln Adams. 258 Aber vom Fall des Menschen ist die ganze Natur betroffen, und auch die Geistwesen, die über dem Menschen stehen: Quel crime peut donc égaler celui de l’homme, s’il n’est rien dans la Nature matérielle et immatérielle qui ne s'en ressente, et si toute la chaîne des Etres en est ébranlée? 259 Einmal mehr ist die Gesamtheit der von Adams Fall mitgerissenen Wesen hier als Kette bezeichnet. Der martinistische Mythos spielt an den mythischen Ursprüngen des Motivs der Kette der Wesen und entfaltet, wie wir sahen, vor allem deren energetisches Potenzial. 3.1.6. Martinistische Naturphilosophie und Alchemie Im Tableau naturel kritisiert Saint-Martin vor dem Hintergrund des Falls von Mensch und Natur die Alchemie, die zu seiner Zeit durchaus noch eine ernst zu nehmende Kraft war. Ähnlich wie beim Magnetismus ist auch bei der Alchemie laut Saint-Martin das Problem vor allem darin zu sehen, dass die Bindung der Vorgänge an die Materie dem Unternehmen Grenzen setzt, über die hinweg zu sehen eine gefährliche Illusion ist. Dies gilt zunächst einmal für die Alchemie als Goldmacherei, wie sie etwa von Alliette (auch als Etteila bekannt) als „Denier du pauvre“ angepriesen wurde; dort ist zwar auch von einer „première matière“ die Rede, aber der Verfasser stammen. Alle anderen Einteilungen der Völker der Erde sind bloße Konvention, nur diese ist ursprünglich. Dass etwa eine vierfache Einteilung der Völker der Welt nicht ursprünglich sein kann, sieht man schon daran, dass es die Quadratur des Kreises nicht gibt, der Erdkreis also nicht in vier Teile teilbar ist. (Diese Argumentation Martines’ macht deutlich, dass er die - heutige - Erde keineswegs physisch als dreieckig betrachtet, wenn er auch immer wieder so formuliert. Hier bezeichnet er sie als Kreis.) Vgl. Martines 1771, S. 179f. 257 Martines 1771, S. 179ff. 258 Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 94. 259 Saint-Martin 1782, I, S. 133 493 will sie in „cette légere mousse qui croît avec le tems sur les vieux toits de chaume & sur les ruines des Edifices“ erblicken, versteht sie also zwar organisch, aber ganz materiell. 260 Etwa gleichzeitig zu dieser Schrift hatte Sabine Stuart de Chevalier noch einmal eine spiritualisierte Form der Alchemie als Universalmedizin versucht, die sich als Weiterentwicklung dessen versteht, was in der Natur schon vorhanden ist, als Vollendung der Kraft der Natur, wie wir es bei Pernéty sahen. 261 Noch an der Wende zum neuen Jahrhundert beschreibt die dem Grafen von Saint-Germain zugeschriebene Très sainte trinosophie eine Traumvision von der Weisheit der „tres partes philosophiae totius mundi“ (im Sinne der Smaragdtafel), in der das träumende Subjekt zugleich als Beobachter und Objekt alchemistischer Transformationen erscheint, die an die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz erinnern und gnostische Elemente mit Andeutungen der Möglichkeit von Herrschaft über die materielle Natur verbinden. 262 Aber selbst diese spiritualisierte Form der Hermetik ist nach Saint-Martins Ansicht aufgrund der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Schein der Materie und der Wirklichkeit des Geistigen illusorisch, denn man kann aus Materiellem nichts Immaterielles machen. Im Sinne der martinistischen Ontologie bedeutet also die Tatsache, dass man aus nichts nicht etwas machen kann, dass man aus erscheinender Materie (vulgo Substanz) gerade nichts Geistiges (vulgo Illusorisches) machen kann: Man kann nicht auf die Prinzipien oder die materia prima, sondern nur auf die sekundären Gestalten einwirken. Diese aber sind zusammengesetzt und daher unberechenbar. Dass die Hermetiker, wie Saint-Martin kritisch bemerkt, außerdem um den Erfolg ihrer Arbeit beten, verdankt sich dem umgekehrten Irrtum: Die sekundären Substanzen, auf die sie wirken wollen, stehen ja unter dem Menschen und können daher nicht Inhalt oder gar Ziel von Gebeten sein. Alchemie und Hermetik sind insofern für Saint-Martin gefährlich und auch in ihren Zielen nicht legitim. 263 Demgegenüber wäre eine richtig verstandene Magie jedoch durchaus in Reichweite des Menschen: Wir werden in Teil IV sehen, dass der ungefallene oder reintegrierte Mensch durch sein Wort auf die Primärsubstanzen oder geistigen Prinzipien einwirken kann. Vor dem Fall der Natur bedeutete dies dann auch, dass die feinstofflichen Leiber dadurch indirekt manipulierbar waren, nach dem Fall kann der Mensch (im günstigsten Falle) nur die Ideenwelt bewegen - aber sie ist das Entscheidende. 260 L.D.D.P. heißt der eigentlich goldmacherische Teil der Schrift Les sept nuances von Alliette 1977; Zitat: S.3 261 Stuart de Chevalier 1781, vgl. vor allem S. ix, 1f. 262 Saint-Germain 1971, S. 160f. 263 Saint-Martin 1782, I, S. 210-219 494 3.1.7. Reintegration der Schöpfung Jede Gestalt steht nach der Lehre der Martinisten unter dem Zahlengesetz ihres Hervorkommens und wird unter dem gleichen auch wieder reintegriert werden, das heißt: der Zerfall der stofflichen Illusionen, die Rücknahme ihrer Verfeinstofflichung und die Rückführung der am Ende dieses Prozesses gewonnenen Urgedanken in den Geist des Schöpfers spielt sich in umgekehrter Reihenfolge wie ihre Entstehung ab, unter Beteiligung der gleichen Sekundärursachen und der gleichen Zahlen. 264 Das Weltende, welches zu erwarten ist, „lorsque l’Univers sera dans la septieme Puissance de sa racine septénaire“, 265 also am Ende eines weiter anhaltenden Prozesses, der hier wieder mit den Mitteln mythischer Mathematik gefasst ist (und zwar - wir kennen diese Interpretation der Potenzierung schon - als Entfernung vom Ursprung), ist wiederum ein energetischer Prozess: Die in der Welt verteilten puissances streben zum Zentralfeuer zurück. Die Materie wird dadurch trocken und tot, am Ende bleibt der Inbegriff des Toten, das Salz. Die energetischen Bestandteile aber entfachen einen Weltenbrand, der die Reintegration der Essenzen befeuert. 266 Dies ist die Reintegration der Schöpfung; sie ist eine Rücknahme, die als Weltuntergang oder individueller Zerfall auftreten kann. Die Reintegration der emanierten Geister ist demgegenüber, wie wir erfahren haben, eine viel schwierigere Angelegenheit, die gesteigerte Aktivität aller Beteiligten erfordert. Hier geht es um den seelischen Weg zurück zu Gott. Beide Rückführungsbewegungen führen zwar an einen Ort bei und vielleicht sogar in Gott, aber nicht in die Ungeschiedenheit von ihm, denn die Weltwerdung wird auch am Ende der Zeit nie wieder spurlos zurückgenommen werden können. Nun hat der Mensch jedoch die Geistschöpfung in eine „universelle contraction“ und „désorganisation“ 267 gerissen und sich selbst in einen grobstofflichen Leib eingekerkert. Aber auch in der gefallenen Welt gelten die Konstellationen der hinter ihr liegenden Geistschöpfung. Das heißt zweierlei: Zum einen muss auf die neuen Verhältnisse das Funktionsprinzip der ursprünglichen Schöpfung übertragen werden, zum anderen muss sowohl die menschliche Seele als auch der grobstoffliche Leib wie alles andere reintegriert werden. Martines de Pasqually interpretiert die aufgrund der Verfehlung des Menschen auftretende Zweiheit von gobstofflichem Körper und Geist analog zu jenem grundlegenden Antagonismus zwischen Sulphur und Sal, den der Merkur als Stabilisator ausgleicht. 268 In diese Funktion rückt beim Menschen die passive, animalische Seele ein, die 264 Vgl. Saint-Martin 1775, S. 389 und Saint-Martin 1782, I, S. 144. 265 Saint-Martin 1782, II, S. 208 266 Saint-Martin 1782, II, S. 21-22 und 208 267 Saint-Martin 1800, I, S. 117 268 Vgl. Mazet 1979, S. 309. 495 zwischen Körper und Geist steht und von den Geistern der Zentralfeuerachse emaniert wird; er schließt damit an die in der jüdischen Mystik wichtige Tradition der zwei Menschenseelen an, die geschaffene, animalische, in der der Schöpfer dem Menschen Existenz und Bewegung gibt, und die aus Gott emanierte, geistige. 269 Der ursprünglich über allen Geistern stehende Geistmensch stürzt als Körpermensch unter die Achse und muss daher wie alles Subaxiale das passive Lebensprinzip erhalten, das die Korrespondenz zwischen der Energetik der unteren Wesen und der Zentralfeuerachse herstellt und sie als Zusammengesetzte im Sein hält. Zieht sich nun dieses Vehikel der Zentralfeuerachse zurück, so trennen sich Körper und Geist. Das energetische Lebensprinzip garantiert also diese Verbindung; der Wegfall des Energievehikels bedeutet den Tod. Der Körper zerfällt, sobald die feurige Anima in die Zentralfeuerachse zurück gekehrt ist, in seine Bestandteile; diese kehren in die drei Essenzen zurück, die wiederum ihrerseits zur Zentralfeuerachse zurück kehren. Das Feuer muss wie in der aristotelischen Lehre vom rechten Ort zum Empyreum zurück. Die Reintegration der drei Essenzen bei der Verwesung des Körpers ist bei Martines mit allerlei phantastischen Details beschrieben: So entsteht in den drei Essenzen, aus denen der Leib gebildet ist, sozusagen der Wunsch, selbst reintegriert zu werden. Sie regen den Leib an, in seinen Seminalovarien reptilienartige Wesen zu bilden, deren Aufgabe in der Zerlegung des Leibes in die drei Essenzen besteht. Das Elementarfeuer (also die innere Energie der Elemente) führt ihnen die Wärme zu, die dazu nötig ist. 270 Der Geist des mineur gelangt dann in die nichtleibliche Existenzform des visuellen Kreises (analog zum christlichen Purgatorium 271 ), wo er an seiner eigenen Reintegration arbeiten muss. 3.1.8. Verdichtung der Materie: Fall Nehmen wir den in Kapitel I referierten martinistischen Sündenfallsmythos mit der gerade ausgeführten martinistischen Naturphilosophie zusammen, so ist klar, dass der Fall des Menschen in dem Versuch besteht, seines gleichen und eventuell auch andere Wesenheiten ohne die Mitwirkung Gottes und damit des Geistigen, Energetischen zu schaffen. Im Lichte von Saint-Martins Alchemie-Kritik kann man auch sagen: Der Mensch versuchte, statt am geistigen Prinzip mit Gott zusammen zu wirken und zu zeugen, sekundäre Substanzen zu manipulieren; er betrieb Alchemie statt Magie. Die Selbstbehauptung des Menschen gründet sich also zwar nicht 269 Vgl. Le Forestier 1928, S. 161. 270 Martines 1771, S. 143 271 Dies bleibt recht vage. Saint-Martin ist überhaupt unentschlossen, ob er annehmen soll, der Mensch könne nach dem Tode noch etwas für seine Seele tun oder nicht. 496 auf das Nichts, wie die der Dämonen, aber doch auf eine Feinstofflichkeit, die, wie wir sahen, schon ein Schritt in Richtung auf das Nichts, die Verdichtung und Verfinsterung, darstellt. Wird die Bearbeitung dieses Feinstofflichen nun noch vom göttlichen, geistigen, aktiven Prinzip getrennt, so ist das Ergebnis tote Materie, grober Stoff. Die Einhauchung der Feuer- Anima in den toten Leib Evas ist, wie wir sahen, bereits eine Versöhnungstat Gottes, der damit die Lebensfähigkeit des neuen Wesens doch noch rettet. Aber die irdische Natur ist insgesamt von dieser Veränderung durch den Menschen betroffen, denn Adam hat mit dem Versuch, nicht durchgeistigte Stoffwesen zu erschaffen, die Natur des Stofflichen insgesamt verändert. Die Welt ist nun eine grobstoffliche Verdichtung der eigentlichen Schöpfung. In Martines de Pasquallys Sprachgebrauch zeichnet sich diese Veränderung besonders charakteristisch in den die drei Essenzen kennzeichnenden Adjektiven ab: Vor dem Fall waren sie als „essences spirituelles“ zu betrachten, danach nur noch als „spiritueuses.“ 272 Selbst im Innersten der Schöpfung, im nicht Sichtbaren der Essenzen, wirkt sich also die Alteration aus. Der Fall des Menschen hat jedoch auch noch eine bemerkenswerte Konsequenz für die obere Welt, die man als eine Art naturmystischer Lesart der Inkarnationsmotivik betrachten kann: Der Mensch hat ursprünglich nämlich zu jenen Geistern gehört, die die Welt in ihrer Funktion halten, ja, er war der wichtigste, der Herrscher über die anderen. Sein geistig-aktives Einwirken auf die Schöpfung sorgte dafür, dass sie funktionieren konnte. Der Fall des Menschen hat diese Position vakant werden lassen, und wir haben am Beispiel der mythischen Mathematik von Saint-Martins Buch von zehn Blättern (in Kapitel I, 2.2.3.2.b) auch schon erfahren, dass das Wesen der doppelten Kraft, für das die Acht steht, der Christus-Logos als cause active et intelligente, hinabsteigen musste, 273 um die Rolle des Menschen zu übernehmen, die genauer gesagt in der Regulierung des Spiels von Aktion und Reaktion bestand, welches die ganze Schöpfung ausmacht. 274 In dem Augenblick, in welchem der Mensch fiel, war die Schöpfung - so Saint-Martins Tableau naturel - außerdem verworren und wurde durch Christus analog zur Scheidung des Chaos der Essenzen wieder geordnet. Die Ordnung und das Leben aber sind nur zwei Aspekte des glei- 272 Vgl. Martines 1771, S. 340f. und passim. 273 Kein anderes Wesen konnte hier einspringen, denn der Retter musste stärker sein als der Mensch; zwischen Mensch und Gott aber gibt es keine Zwischenwesen dem Range nach, da der Mensch ja, wenngleich später und unter einer niedrigeren Bezeichnung (mineur) emaniert, das Erstgeburtsrecht unter den Geistwesen erlangt hat. So musste Gott selbst die Funktion des Menschen übernehmen: Saint-Martin 1782, II, S. 142 274 Vgl. Waite 1970, S. 221. Zum Traditionshintergrund der Lehre von Aktion und Reaktion und ihrer Aktualität in der Naturforschung des 18. Jhs. vgl. Faivre 1973a, S. 54 497 chen Sachverhalts: Christus ersetzt den Menschen als Koordinator der Natur, indem er sie durch sein Wort des Lebens wieder auf Gott hin ordnet. 275 Das Leben besteht eben darin, durch das Wort wieder auf ein Zurückstreben in die Einheit ausgerichtet zu sein und dadurch Anteil am Sein und am Geist zu haben; Erkenntnis durch die Rede Gottes und Leben sind eins. Geist, Sprache und Energie fließen bei Saint-Martin ineinander. Gott selbst wird aber damit in seine Schöpfung, ja sogar in deren materielle Verfälschung hinabgezogen. Nicht erst der Wunsch, den Menschen wieder aus ihr zu lösen, lässt Christus aus der Einheit mit dem Vater in die leidende Welt kommen, sondern die Notwendigkeit, diese Welt überhaupt zu bewahren. Dennoch ist Christus hier nur ein Statthalter seines eigenen Untergebenen und verhindert lediglich in Abwesenheit Adams das Schlimmste. Die Gottheit greift nicht so weit in das Drama der Welt ein, dass sie die frei darin Handelnden einfach ersetzen, den Menschen überflüssig machen und Satan zu sich zurück zwingen würde. Deshalb ist die Natur auch nicht wirklich erlöst; sie ist lediglich vor der Auflösung bewahrt. Das Leiden der Natur durch den Fall des Menschen bleibt bestehen; es ist von Saint-Martin in besonders eindringlichen Formulierungen beschrieben worden, die wir zum Abschluss unserer Analyse der illuministischen Naturphilosophie betrachten wollen. 3.2. Saint-Martin: Die materielle Welt als Wunde Im Tableau naturel ist sich Saint-Martin im Sinne des Selbstverständnisses der Aufklärung dessen bewusst, dass er in einem besonderen Moment der Geschichte des menschlichen Wissens lebt. Die erste Barbarei ist überwunden, ebenso die „études vagues et oiseuses“ (der Scholastik) und die absurden Systeme, die darauf folgten. Nun gibt es sorgfältige „observateurs“, die ihre Beobachtungen genau an der Natur messen. 276 Allerdings gehen diejenigen fehl, die diese Naturbeobachtung gänzlich auf die Materie beschränken. Zwanzig Jahre später, im Vorwort zu Le ministère de l’hommeesprit, sieht Saint-Martin das Ende der rein materialistischen Naturwissenschaft gekommen, und zwar aufgrund zweier Indizien: Zum einen haben die Forschungen Anquetils und anderer großes Interesse an östlicher Weisheit im Westen geweckt; zum anderen sind die Wissenschaftler Europas dabei „à reconnaître dans les corps organisés ce qu’ils appellent une attraction élective.“ 277 Als Leser von Dupont de Nemours können wir erkennen, was diese beiden auf den ersten Blick disparaten Entwicklungen des westlichen Denkens gemeinsam haben können: die Vorstellung von 275 Saint-Martin 1782, I, S. 41 276 Saint-Martin 1782, II, S. 101-2 277 Saint-Martin 1802, S. 9 498 einer Beseelung der Natur. Die östliche Esoterik lehrt (zumindest in der Interpretation Saint-Martins) eine Durchgeistigung der Natur, eine Erfüllung der physischen Welt mit einem als nicht materiell aufgefassten Leben, und die Entdeckung der Wahlverwandtschaften scheint Saint-Martin ebenfalls für so etwas zu sprechen. Aufgrund dieser bevorstehenden geistigen révolutions sieht Saint-Martin im Sinne des mittelalterlichen Millenaristen Joachim von Fiore „l’âge de l’esprit“ gekommen. 278 Schon in Des erreurs et de la vérité denkt Saint-Martin die Natur als essentiell bewegte und bewegliche Ausdehnung, denn die Zahl der Natur, 13, ergibt sich aus der Addition der Zahl der Bewegung und Aktivität, 4, und der der Ausdehnung, 9. 279 Die Kette von Gott zu den niedersten Wesen, die als systemhaftes Ganzes begriffen wird, 280 ist demnach für Saint- Martin weniger eine Kette der Wesen als eine solche des Lebens, „où tout est action, tout est force, tout est jouissance.“ 281 Die Kette des Lebens reicht sogar bis hinab zum bösen Prinzip, welches von dem von Gott herabfließenden Leben vor letzter Verstockung bewahrt wird, wie ein Salzmeer von einem einfließendem Süßwasserstrom daran gehindert wird, zu einem Salzklumpen zu verkrusten; nur weil das böse Prinzip auf dieser Kette nichts zurück nach oben fließen lässt, bleibt es im Tode. 282 Das Leben durchfließt also die Welt. Wie Nicole Jacques-Chaquin gezeigt hat, ist für Saint-Martin die hinter der Materie stehende geistige Schöpfung oder Natura naturans das Leben der Materie. 283 Im Gegensatz aber zu einer vitalistischen Auffassung, die im Inneren der Physis ein geheimes Lebensprinzip sucht, ist in Saint-Martins Beschreibung die materielle Welt ihrerseits tief im Inneren der geistigen, lebendigen Welt: L’homme, quoiqu’étant dans ce monde terrestre, est bien toujours dans cet autre monde qui est tout; mais tantôt il en ressent la douce influence, tantôt il ne la sent pas; souvent même il ne ressent et ne suit que l’impulsion du monde mixte et ténébreux qui est comme coagulé au milieu de cet autre monde, et qui est, par rapport à cet autre monde, comme une plaie, une loupe ou une apostume. 284 Saint-Martin bezieht sich hier ganz offensichtlich auf die kabbalistische Interpretation des Nichts und die Sündenfallslehre seines Meisters Martines de Pasqually. Seine Bildlichkeit will Beschädigung und Verdichtung zusammenbringen und muss sich zu diesem Zweck gegen die gängige Anschauung stellen, nach welcher Beschädigung zu einem Mangel an ma- 278 „Enfin, le temps marche vers sa vieillesse: l’âge de l’esprit doit s'avancer...“ (Saint- Martin 1802, S. 43). 279 Saint-Martin 1775, S. 396 280 „Ainsi tout est lié pour Dieu, tout se tient, tout existe ensemble“ (Saint-Martin 1782, II, S. 165). 281 Saint-Martin 1782, I, S. 138 282 Saint-Martin 1782, I, S. 139 283 Jacques-Chaquin 1979, S. 318 284 Saint-Martin 1802, S. 20-21 499 terieller Substanz führt. Die Wunde ist im Vergleich zur unverletzten Haut normalerweise als Öffnung, Verflüssigung, Erweichung gedacht. Ontologisch sind diese Konnotationen auch zweifellos erwünscht, denn die Wunde, die die materiellen Neigungen des Menschen der geistigen Welt geschlagen haben, ist ein Bereich des Mangels und gewissermaßen der Seinsverdünnung. Aber gleichzeitig soll ja das Materielle als dichter, fester, dunkler und schwerer als das Geistige verstanden werden; der Weltbereich, den wir kennen, ist „coagulé“ inmitten der eigentlichen geistigen Welt. Durch die Nähe des Begriffs coagulé wird die Wunde zu einer Verkrustung; diese Konnotation wird sodann durch die Bilder des Geschwürs und des Abszesses als Alternativen zur Wunde verstärkt: Gerade in der Verdichtung und Verknotung liegt die Nichtigkeit der materiellen Welt. Allen drei Krankheitssymptomen aber ist gemeinsam, dass sie das Leben bedrohen - und dasjenige, welches das Geistige und mithin Seinshafte der eigentlichen Welt ausmacht, ist eben das Leben. Was das Leben des Universums vergiftet, kann auch als Infektion aufgefasst werden: L’univers est sur son lit de douleurs, parce que, depuis la chute, une substance étrangère est entrée dans ses veines, et ne cesse de gêner et de tourmenter le principe de sa vie […] 285 Es ist die Aufgabe des Menschen, diese Krankheit auch wieder zu heilen, „puisque c’est le chef de notre famille qui est la première cause de la tristesse de l’univers.“ 286 Aber die Sache ist dringend, denn man kann sogar so weit gehen, zu sagen „l’univers est sur son lit de mort“ oder gar „l’univers est dans le sépulcre“, und der Mensch ist selbst dieses Grab. 287 So kann Saint-Martin ohne jeden Bezug zu einer etwa aufkommenden industriellen Revolution einen Absatz formulieren, den man mit nur geringfügigen stilistischen Änderungen in ein ökologisches Manifest späterer Zeiten einfügen könnte (in jedem Falle aber in Senancours Kulturkritik): Oui, nos industries elles-mêmes sont une preuve des maux que nous avons faits au monde, puisque ces maux et nos industries se trouvent sortir de la même source, et voilà comment la nature est universellement notre victime. Oh! Comme elle se plaindrait cette nature, si elle pouvait s’exprimer, du peu de bien que lui procurent les vaines sciences des hommes, et tout l’échafaudage des pénibles travaux qu’ils font pour la mesurer, la décrire et l’analyser pendant qu’ils auraient en eux les moyens de la guérir et de la consoler! (ebd.) Das, was ein späterer Leser hier assoziieren würde, ist natürlich nur eine untergeordnete Spielart der Sünde wider die Natur, die die Martinisten beklagen. Die Natur selbst durch eine Bearbeitung ihres feinstofflichen Aspekts unter Umgehung ihres geistigen Lebens zu einer grobstofflichen 285 Saint-Martin 1802, S. 57 286 Saint-Martin 1802, S. 58 287 Saint-Martin 1802, S. 58-59 500 gemacht zu haben, das Leben in ihr eingesperrt zu haben, das sind allgemeinere und schwerwiegendere Vorwürfe als der einer technischen Indienstnahme und Ausbeutung, wenn eine solche natürlich auch, wollte man dieser Argumentation folgen, auf jene allgemeine Verfehlung zurückgeführt werden könnte. Die Beseelung der Natur kann so aufgefasst werden, dass „excepté l’homme, l’universalité des êtres se montre à nous comme autant de cœurs dont Dieu est l’esprit.“ 288 Dieser Geist umfasst die materielle Welt. Aber gleichzeitigt wird das Leben, das er spendet, auch noch, wie in der vitalistischen Anschauung, als in der Materie eingeschlossen aufgefasst: Es umgreift sie und ist (zumindest zu einem Teil) doch in sie eingesperrt. Das geistige Lebensprinzip will sich in den Dingen manifestieren: Car l’éternité, ou ce qui est, doit se regarder comme étant le fond de toutes choses. Les êtres ne sont que comme les cadres, les vases, ou les enveloppes actives où cette essence vive et vraie vient se renfermer pour se manifester par leur moyen. 289 Im Inneren der verkrusteten Welt ist die „substance de vie“, die auch die sie umgebende Geistwelt ausmacht, gefangen; 290 sie ist überall begraben und ruft nach Befreiung. 291 Eine wichtige Revolution der Naturwissenschaft wird es nach Saint-Martin sein, die „sensibilité de la Terre“ zu erkennen. Nicht nur als geistiges Prinzip, aus dem auch der menschliche Leib seine Solidität erhält, ist die Erde lebendig, sondern auch als Planet oder zumindest dessen inneres Wesen. 292 Alles ist in der Natur eingesperrt, die geistigen Prinzipien sind in der Materie eingekerkert, 293 selbst die Sterne scheinen einen anderen Gang gehen zu wollen, als sie müssen, und die Elektrizität ist „une lumière emprisonnée.“ 294 Der Weg der inneren Buße und Regeneration soll den Menschen lehren, das Universum als „chemin bordé de sépulcres“ zu erfahren, „où tu ne peux faire un pas sans entendre des morts qui te demandent la vie.“ 295 Wie Jacques-Chaquin darlegt, ist daher die Natur bei Saint-Martin auch nie idyllisch, sondern stets leidend, unruhig, dunkel, verlassen und zum Schweigen gebracht. 296 Aber der oben zitierte, scheinbar so ‘ökologische’ Absatz enthält auch einen Fingerzeig darauf, was der Mensch tun müsste, um die Natur zu retten: „si elle pouvait s’exprimer“ heißt es da; die Natur 288 Saint-Martin 1802, S. 25 289 Saint-Martin 1802, S. 81 290 Saint-Martin 1802, S. 67 291 Saint-Martin 1802, S. 68 292 Saint-Martin 1782, II, S. 103f. 293 Vgl. Jacques-Chaquin 1979, S. 319 294 Saint-Martin 1800, I, S. 113; vgl. auch ebenda II, S. 270 295 Saint-Martin 1802, S. 65 296 Jacques-Chaquin 1979, S. 321 501 hat also keine Stimme. Und um ihr eine solche zu geben, genügt es nicht, sie zu vermessen, sondern der Mensch soll sie trösten und sie wieder mit dem ‘lebendigen Wort’ verbinden. Die Tätigkeit des Menschen gegenüber der Natur hat also mit Sprache zu tun, und sie ist mehr als nur Darlegung analytisch gewonnener Verhältnisse. Der sprachlichen und geistigen Tätigkeit des homme-esprit soll sich demnach auch das letzte Kapitel dieser Arbeit widmen, in dem wir auch versuchen werden, darzulegen, was dieses ‘lebendige Wort’ sein könnte. 502 4. Zusammenfassung III Jacques-Chaquin sieht in Saint-Martins Auffassung, dass es eigentlich keine Objekte gibt, sondern nur Spuren einer ständigen Aktivität, eine Parallele zu Schelling: Chaque détail de l’univers est un nœud de forces antagonistes et, malgré l’importance des „principes“, la vie et le dynamisme sont, dans la philosophie saint-martinienne, au moins aussi importants que l’être et que l’essence. 297 Zweifellos hat eine solche Auffassung im Kontext eines Epochenübergangs zur Romantik (falls man solch einen Übergang und eine so benennbare neue Epoche annehmen will) großes Zukunftspotential. Für unsere Zwecke besonders interessant aber ist, dass Saint-Martins energetische Sicht auf die Kette der Wesen als Emanationsgeschehen, wie sie im Martinismus besonders deutlich ist, von Anfang an eine Möglichkeit dieser Motivik war. Der Mythos, der damit das taxonomische Projekt einer Klassifikation der als lückenlose Kette aufgefassten Natur nach kleinsten Distinktionen trug, ist auch der Ort des Übergangs zu einer neuen Wissensform. Die Energie und das Leben bestimmen nun die Form der Kette ebenso wie den Ort der einzelnen Glieder auf ihr, nicht zuletzt weil schon ihr Ausgangspunkt, der Logos (den wir in Kapitel IV näher kennen lernen werden) ein geistiges Hervorbringungs- und Formprinzip zugleich ist, bei dem das Prozesshafte mit dem Strukturellen sozusagen identisch ist. Nun wird sogar die Kette selbst zu einer Organisation, und die Wesen auf ihr verhalten sich zu diesem belebten Naturganzen wie Mikrokosmen, ja sogar Moleküle können sich, wie bei Diderot, wiederum wie Mikrokosmen zu den organischen Wesen verhalten. Netze energetischer und sensibler Kleinsteinheiten ergeben Organismen, und alle Organismen bilden das belebte große Ganze. Außer den in neuplatonischen und hermetischen Überlieferungen stehenden Illuministen und Magnetisten haben auch Materialisten und aufgeklärte Theologen an diesem (Übergangs-) Spiel der Energie teilgenommen. Gleichgültig, ob die eingebrachten Ziele die Auflösung des cartesianischen Dualismus, die Bewahrung theologischer Positionen oder die Restauration eines hermetischen Weltbildes waren, auch ganz gegensätzliche Strategien verfolgende Spieler sind in das Spiel der energetischen Durchdringung der taxonomischen Wissensform eingetreten - oder genauer, der Privilegierung der in ihr immer schon vorhandenen energetischen Seite einer intrinsischen Opposition zwischen Energie und Anordnung. Selbst innerhalb eines Regionaldiskurses wie des Magnetismus konnten 297 Jacques-Chaquin 1979, S. 322-323 503 theosophische Argumentationen mit medizinischen und radikal politischen Zielsetzungen zusammen bestehen. Nicht die allgemeinen ontologischen Grundannahmen oder die verfolgten Ziele entschieden über die Teilnahme an diesem diskursiven Spiel der Energie, sondern nur die Übernahme der für es konstitutiven ontologischen Grundannahmen: derjenigen der Lückenlosigkeit der Natur (wie im taxonomischen Diskurs), sowie nun zusätzlich derjenigen der Rückführbarkeit von Anordnung und Struktur auf energetische Geschehen der Hervorbringung, der Emanation, der Entstehung oder der Evolution. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Vorstellung von der Energie, die man aufgrund der Lage der Naturwissenschaften haben konnte, viel zu vage war, als dass etwa die Empirie zu einer solchen Konzeption hätte zwingen müssen. Vielmehr war sie eine mögliche Entfaltung vorhandener Traditionen, die von den verschiedensten Interessen vorangetrieben wurde und dazu führte, dass die Gesamtheit des von den Spielzügen der Energie durchzogenen und ja auch (weil jedes Spiel nur aus seinen Zügen besteht) konstituierten Spiels langsam ihre Identität veränderte. Die Daten der empirischen Wissenschaften trugen dazu bei, aber sie konnten überhaupt erst in diesem Spiel erscheinen, das doch immerhin eine Suchrichtung vorgab. Bis hierhin betrachteten wir diese Phänomene im Feld der Natur, die vor allem im Martinismus als Hervorbringung Gottes gilt - als Hervorbringung allerdings (wie die Vorstellung von der unerschöpflich hervorquellenden Fülle ebenso wie die der Ordnung der geistigen Schöpfung oder Natura naturans nahelegt), die ein Vorgang oder eine Aktionsform ist, kein statisches Ergebnis. Daher wurde die Natur hier nicht mehr wie im ersten Teil unserer Untersuchung als Rede, sondern als Sprache Gottes im Sinne einer Energie bezeichnet. Der nun folgende letzte Teil soll dieses Energiephänomen in die Sprache (und auch hier: nicht mehr die Rede) des Menschen bei Saint-Martin weiter verfolgen und die Einsicht Hugo Friedrichs (1935) beleuchten, die Illuministen hätten zu den ersten gehört, die die Natur der Sprache als Energeia aufgefasst hätten. 505 Kapitel IV: Logos. Die Sprache des Menschen als Energie 1. Der Widerspruch zwischen Pansemiotik und Panenergetik bei Saint-Martin Nach Einholung der bis hierhin dargelegten Informationen über den Martinismus im Zusammenhang mit der Wissensform seiner Zeit können wir nun die Analyse der Zeichentheorie Saint-Martins, die wir am Ende von Kapitel I, 1.2. abbrachen, mit größerem Hintergrundwissen fortführen. Die Frage, die sich uns in diesem Zusammenhang vor allem stellen wird, ist diejenige nach dem Verhältnis der (in Kapitel II, 1. aufgewiesenen) Pansemiotik der illuministischen Weltsicht mit ihrer Vorstellung der frei gewählten Zeugenschaft des Menschen für den außerhalb des Weltgefängnisses verborgenen Gott und der in Kapitel III aufgezeigten Tendenz, die Welt als Energiefluss von Gott herab zur Schöpfung zu sehen, in dem auch der Mensch und seine Zeichen als Bestandteile eines energetischen Geschehens stehen. Dieses Verhältnis ist als Relation zwischen einer fließenden Verbindung von Gott zu seinen Geschöpfen und einer durch Zeichen zu überbrückenden Trennung beider analog zu derjenigen zwischen dem selbstgenügsamen und dem überfließenden Gott, welche - dies sahen wir in Kapitel III 2.2.2.b - einen grundlegenden Widerspruch hinter dem Motiv der Kette der Wesen konstituiert. Es liegt daher nahe, auch das Verhältnis von Pansemiotik und Panenergetik als solchen Widerspruch aufzufassen. Aber nicht seine bloße Gegebenheit interessiert uns, sondern seine genaue Beschaffenheit, seine Position in der Argumentation der einzelnen Texte. 1.1. Wiederaufnahme der Analyse der Zeichentheorie Saint- Martins Wir sahen bei unserer ersten Betrachtung von Saint-Martins Zeichentheorie, dass dieser die Trennung von Bezeichnung und Konzept und also die Vorstellung der Selbstständigkeit der Ideen mit vielen seiner Zeitgenossen gemeinsam hat. Was den Bezug zwischen diesen beiden als selbstständig gedachten Entitäten angeht, so optiert er für eine besondere Konstellation, die in der Zeichentheorie des ‘klassischen’ Zeitalters nur eine von mehreren Möglichkeiten ist: Für Saint-Martin ist das ‘eigentliche’ Zeichen immer ein natürliches, und es steht zu seinem Bezeichneten immer in einem Kausalverhältnis - ist also nicht nur ‘natürlich’, sondern auch ‘sicher’ und darüberhinaus auch häufig noch mit seinem Bezeichneten ‘verbunden’, wie der Atem als natürliches Zeichen für das Leben dessen Folge, sicheres In- 506 diz und Bestandteil ist. Das innere Prinzip des Lebens manifestiert sich im äußeren Zeichen das Atmens, so wie sich das innere Prinzip einer Pflanze in deren Erscheinungsbild offenbart. 1 Daher konnte sich Saint-Martin Jakob Böhmes Diktum: die Natur hat iedem Dinge seine Sprache nach seiner Essenz und Gestaltniß gegeben […] Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. mit besonderer Betonung der Option der ‘Verbundenheit’ von Ding und Ausdruck anverwandeln: […] chaque chose doit faire sa propre révélation […] les langues des êtres sont auprès d’eux. 2 Die natürlichen Zeichen sind also Manifestation oder Offenbarung der hinter den Dingen stehenden Geistschöpfung. 3 Es handelt sich hier immer um einen „rapport exact“, der es gestattet, zu „lire visiblement dans la nature actuelle, le tableau de la nature antérieure.“ Die Welt ist Zeichen ihres geistigen Prinzips, aber auch Produktion dieses geistigen Prinzips im Sinne jener Dynamik des Hervorgehens, die wir in Kapitel III darstellten; insofern ist das Buch der Natur „une écriture active et vivante.“ 4 Alles Sprachliche ist so für Saint-Martin Leben und Energie und umgekehrt. Deshalb ist das Zeichenhafte überhaupt nur den organisierten Wesen gegeben: Nur wo Leben (genauer gesagt: désir) ist, kann überhaupt eine Zeichenbeziehung sein. 5 Die geistigen Prinzipien, die sich in den (zunächst feinstofflichen) zeichenhaften Realisierungen enthüllen, sind demgemäß keine Konstrukte des Betrachters, sondern ihnen kommt die eigentliche Realität zu. Die feinstofflichen Realisierungen sind bereits ein Zugeständnis an das Nichts, und die gefallene grobstoffliche Welt ist schließlich pure Illusion. Die dahinter stehenden zwei Gleichungen von Substanz, Geist, Wort und Leben einerseits und Nichts, Materie, Schweigen und Tod andererseits haben wir, wo sie bislang auftraten, auf einen radikalen Platonismus und seine kabbalistische Variante zurückgeführt. Um dies für Saint-Martins Sprachtheorie noch etwas genauer zu fassen, soll nun der Traditionszu- 1 Zur Vegetation als Botschaft (auch von Schönheit) vgl. Saint-Martin 1800, I, S. 124 2 Böhme 1622, S. 7; Saint-Martin 1800, II, S. 95. Vgl. zu diesem Motiv auch Jacques- Chaquin 1987, S. 149 3 Vgl. etwa Saint-Martin 1800, II, S. 93 4 Saint-Martin 1800, I, S. 202-203 5 „C’est pourquoi l’étude de la classe sensible demande plus d’attention que celle des classes précédentes; c’est pourquoi aussi nous sommes si peu avancés dans la connoissance des sensations et des impressions sensibles, que nous voulons trop assimiler au simple commerce mutuel des objets non organisés, puisque ceux-ci sont sans desir et ne se servent point de signes les uns aux autres.“ (Saint-Martin 1990, S. 178) 507 sammenhang dieser Motivik, teils der umfassenden Darstellung der Philosophia perennis von Schmidt-Biggemann folgend, kurz skizziert werden. 1.1.1. Logos und Gottesnamen Wie für Charles Bonnet steht auch für Saint-Martin am Ende der Zeiten eine universale Lektüre, in der alle Sprachen im Kultus der Gottheit zusammenfallen: Ainsi donc tous les Sages ensemble, au même instant, près du même Autel, et sans jamais cesser, pourront lire sans trouble et sans défiance dans le Livre éternel toujours ouvert devant leurs yeux L ES NOMS SACRES QUI FONT COULER LA VIE DANS TOUS LES ETRES […] 6 Im ewigen Buche wird nach der Zeit etwas lesbar, was den Menschen in der Zeit immer verborgen bleiben muss: die heiligen Namen Gottes, die hier zugleich als die Kräfte Gottes gedeutet werden, welche das Leben in die geschaffenen Wesen herabfließen lassen. Die Spekulation über die Gottesnamen ist eine Tradition, die sowohl einen originär jüdischen als auch einen griechisch-neuplatonischen Strang hat, welche sich dann bei Philo, bei Dionysius und in der Kabbala vereinigen. Die neuplatonische Lehre von den göttlichen Namen, von Proklos in seiner Theologia platonica aus verschiedenen Schriften Platons interpretierend entwickelt, ist in das Christentum vor allem durch (Pseudo-) Dionysius Areopagita (De divinis nominibus 7 ) eingebracht worden, den man (aufgrund seiner Selbststilisierung als Paulus-Schüler) auch nach der Wiederentdeckung des Proklos fälschlich für älter hielt als diesen. 8 Proklos lässt aus dem unfasslichen Einen, das nicht prädizierbar ist, Hypostasen hervorgehen, deren sich konkretisierende Identität sich jeweils in einem Prädikat oder Namen kristallisiert; diese fasst Proklos als Götter. Dionysius integriert diese Theogonie der vielen Götter in den christlichen Monotheismus, indem er „aus den Prädikaten-Göttern Gottesprädikate“ 9 macht, die er auf die göttliche Trinität bezieht und mit der jüdischen Namensspekulation verbindet. Als Zugeständnis an seine neuplatonisch ausgerichteten Leser übernimmt er jedoch für den dieser Ausfaltung in Prädikate voraufliegenden Gottesbegriff die negative Theologie des unprädizierbaren Einen. Das Eine, über das nichts gesagt werden kann, der verborgene Grund allen Seins, in dem auch die Dynamik der Trinität verborgen ist, wendet sich in seinen prädizierbaren Namen nach außen und macht das 6 Saint-Martin 1782, II, S. 262 7 Ursprünglich griechisch (Vgl. Dionysius 1968), im Westen durch die lateinische Übersetzung von Johannes Scotus Eriugena bekannt. 8 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 99f. 9 Schmidt-Biggemann 1998, S. 109-110 508 Leben und die Dynamik, die sich zuvor unerkennbar in seinem Inneren abgespielt haben, zumindest denkbar (wenn auch noch nicht sichtbar). So zieht die Offenbarung des unvordenklichen Hen in den ersten Namen oder Begriffen zugleich den Schritt von der negativen zur positiven Theologie nach sich. Die Prädikate sind nun Träger dieser Dynamik und zugleich Prägeformen künftigen Seins. 10 So ist etwa das sechste Prädikat die Liebe als Dynamik der Entäußerung Gottes, die jedoch gleichzeitig auch die Form des göttlichen Selbstumgangs und das Movens der Rückstrebung der geschaffenen Wesen zu ihrem Schöpfer ist. 11 Das siebte Prädikat ist das Leben, und so ist dieser siebte Name die Quelle des Lebens. 12 Die parallel zur neuplatonischen laufende jüdische Tradition der Gottesnamenspekulation gelangt nicht nur durch die Übernahme von Elementen jüdischer Theologie bei Dionysius und Johannes Scotus Eriugena indirekt, sondern auch direkt in den Westen, vor allem in der christlichen Kabbala der Renaissance - wobei zu beachten ist, dass die (ursprünglich jüdische) Kabbala selbst wiederum (vor allem durch die Vermittlung Philos von Alexandria) neuplatonisches Gedankengut verarbeitet. Schmidt- Biggemann weist darauf hin, dass die Interpretation der göttlichen Namen als Prozess (die wir in der Vorstellung finden, sie seien einerseits dynamische Manifestation der Gottheit, andererseits Agenten der Belebung der Schöpfung) bei dem christlichen Kabbalisten Pico della Mirandola, sodann bei Reuchlin und Ricius auftritt. 13 Bei letzterem sind die göttlichen Namen „die Prägeformen und die Kraftquellen des geistigen englischen und des ausgedehnten Kosmos.“ 14 Bei Reuchlin ist die Bewegung der Selbstzeugung der Gottheit als Ausgang vom Einen zur Zweiheit und zur Trinität als energetisches Geschehen dargestellt, bei dem Wärme und Licht aus dem Akt der Selbstzeugung entsteht. Dies ist aber auch wiederum ein neuplatonisches Motiv, welches über den Liber XXIV philosophorum, eine ursprünglich arabische, dann ins Lateinische übersetzte Zusammenstellung aus Werken des Jamblichos, in den Westen gelangte. 15 Das so poetisch anmutende Bild Saint-Martins, nach dem die heiligen Namen das Leben fließen lassen, zeichnet sich vor diesem Hintergrund geradezu als technische Formulierung ab. Die Lektüre im großen Buch ist hier als Kommunikation mit diesen Leben gebenden Kräften interpretiert. Man sieht darin besonders deutlich, inwiefern Lektüre für Saint-Martin keine Entzifferung toter Zeichen ist, sondern Kommunion mit einem Leben gebenden Geist. 16 10 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 115-117. 11 Dionysius 1968, col. 712 12 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 120. 13 Schmidt-Biggemann 1998, S. 149 14 Schmidt-Biggemann 1998, S. 176 15 Anonym 1989, S. 89; vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 183 und S. 205-206. 16 Vgl. hierzu auch Jacques-Chaquin 1981, S. 37. 509 Auch der Name des Menschen ist für Saint-Martin ein Lebensprinzip. Eines Tages wird der Mensch als Prinz in der Fremde seinen wahren Namen erfahren und damit seine künftige Macht. Dieser Name wird stets erneuert, wenn Gott auf uns schaut und in uns zeugt. 17 Hier wie da ist der Name eine Kraft. Aber nicht nur die Namensspekulation steht hinter der Energetik der Sprache bei Saint-Martin, sondern darüber hinaus die (sich mit jener berührende) Logos-Tradition. Die Vorstellung, die Schöpfung entstehe durch einen innertrinitarischen Prozess, findet sich in gewisser Weise auch im Prolog des Johannes-Evangeliums. Dort geht ja alles von der Selbstobjektivierung des Vaters im Wort oder Logos aus. Der Logos ist einerseits als Sohn Person der Trinität, die dann als Christus sogar in die Heilsgeschichte eingreift. Daraus ergibt sich die besondere Nähe des Sohnes zum Menschen. 18 Andererseits ist er Plan und Energie (oder Leben) für die Schöpfung (wir sahen bereits, dass es charakteristisch für die martinistische Version davon ist, den Plan selbst als Aktivität aufzufassen und so tendenziell unter den Aspekt des Logos als Entwurf zu subsumieren - etwa in den in ihm enthaltenen Zahlen, die weniger für Formeln als für Wirkkräfte stehen). Saint-Martin nimmt einmal ganz selbstverständlich die Synonymie von „la vie ou la parole“ an. 19 Als Wort steht der Logos außerdem wieder der Namensspekulation nahe. Die Vorstellung, der Vater objektiviere sich selbst im Sohn und zeuge mit der daraus fließenden Liebe des Heiligen Geistes die Schöpfung nach dem Bild oder Entwurf, den er im Logos erblickt, lässt sich so wieder zwanglos mit der Spekulation über die göttlichen Namen und ihre lebensspendende und formende Wirkung bei der Schöpfung verbinden: Auch der Logos ist bei Johannes, wie Schmidt- Biggemann bemerkt, „zugleich typologisch und dynamisch.“ 20 Eine solche Verbindung von Anschauung und Zeugung als Modus einer trinitarischen 17 Saint-Martin 1800, II, S. 70. In „Des trois époques du traitement de l’âme humaine“ nennt Saint-Martin das verbe und die Liebe (trinitarisch könnte man lesen: Sohn und Geist) zwei Namen des göttlichen Herzens; Saint-Martin 1807, I, S. 104. Was den Namen des Menschen angeht, so nennt er „le premier nom actuel de l’homme, c’est douleur, affliction: il faut que ce nom résonne dans tout notre être, avant que nous puissions arriver aux portes de la vie et de la parole.“ (Saint-Martin 1802, S. 364). Auch dies ist also ein Kraft-Name, aber einer, der hauptsächlich für den Zustand des Falls gilt. Ihn in sich erklingen zu lassen, sich also der traurigen Lage des Menschen allererst zu öffnen, ist die Vorbedingung für die Wiedereingliederung in den Logos. In den folgenden Absätzen beschreibt Saint-Martin den Weg des Menschen analog zur Ausfaltung der Gottheit in Prädikatsnamen nun als zeugendes Auseinander- Hervorgehen von Menschennamen. 18 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 206-207. Eine andere häufig kommentierte Bibelstelle zur Interaktion von Vater und Sohn ist Matth. 3,17: „Hic est filius meus dilectus, in quo complacui mihi.“ 19 Saint-Martin 1802, S. 282 20 Schmidt-Biggemann 1998, S. 208 510 Schöpfung findet sich im Übrigen auch bei Augustin und anderen Kirchenvätern 21 und in der Scholastik, 22 sowie poetisch kristallisiert bei Dante: Guardando nel suo Figlio con l’Amore Che l’uno e l’altro etternamente spira, Lo primo ed ineffabile Valore, Quanto per mente e per loco si gira, Con tant'ordine fe’, ch'esser non puote Sanza gustar di lui chi ciò rimira. 23 1.1.2. Adam, Sophia und die Spiegel Durch die Nähe des Sohnes zum Menschen kommt nun jedoch noch eine weitere Möglichkeit ins Spiel: Der bei Demokrit auftretende und vor allem von der neuplatonischen in die pseudo-hermetische Philosophie gelangte Gedanke, der Mensch sei ein kleines Abbild des Kosmos, führt nun dazu, dass der Plan der Schöpfung die Gestalt eines Menschen hat. Davon gibt es zwei Spielarten: Entweder ist die Gestalt, nach der die Schöpfung dann realisiert wird, nur indirekt menschlich, insofern nämlich, als der Mensch selbst nach Gottes Bild erschaffen wird. Das heißt, die menschenähnliche Blaupause des Universums ist eigentlich der Logos oder der Sohn, und die mikrokosmische Natur des Menschen ist nur eine Folge seiner Gottebenbildlichkeit. Oder aber wir nähern uns der philonischen und kabbalistischen Tradition der Interpretation der Genesis als doppelter Schöpfungsgeschichte mit ihren zwei Welten, einer geistigen und einer feinstofflichen, 24 sowie mit zwei Menschen, einem geistigen und einem leiblichen. Der geistige Mensch ist in einer Richtung dieser Tradition als Adam Kadmon der Entwurf der ganzen Schöpfung. 25 Er hat also diesbezüglich 21 Augustinus 1865 „Epistula“. 187, 14: Die Trinität ist „substantia creatrix mundi“ (col. 837). Augustinus 1886, col. 208 („De Trinitate“, Buch 9, cap. 10): „Verbum est notitia cum amore.“ 22 Vgl. Thomas 1936 I q36, a2 (In Bezug auf die Glaubensformel des Athanasius, der Geist sei nicht creatus, sondern procedens, wird hier gesagt, der Geist brauche für seinen Hervorgang aus dem Vater das Wort, denn die Liebe, die er ist, ist ohne Erkenntnis im Wort nicht möglich). Und I q34, a3, sed contra (Das Anschauen des Wortes ist für Gott zugleich die Erkenntnis des durch das Wort Geschaffenen: „Deus enim cognoscens se, cognoscit omnem creaturam“, das Wort ist hier Erkennen und Schaffen); I q45, a6, resp („creare non est proprium alicui Personae, sed commune toti Trinitati...Deus Pater operatus est creaturam per suum Verbum, quod est Filius, et per suum Amorem, quod est Spiritus sanctus“); Abaelard 1967, col 1705 (Der Plural Elohim im Schöpfungsbericht bezieht sich auf die Trinität, der Logos ist im Fiat, der Hl. Geist im Geist, der über den Wassern schwebt, greifbar); Richard de Saint Victor 1959, Buch VI (Der Sohn enthüllt die Glorie des Vaters, der Vater ist potentia, der Sohn sapientia und der Geist bonitas, vgl. auch Thomas 1936, I, q45, a6, ad2). 23 Alighieri 1911, „Paradiso“ X, 1-6, S. 429-430 24 Vgl. etwa De opificio mundi, Philo 1896, I, S. 4; bei Schmidt-Biggemann 1998, S. 218. 25 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 220. 511 die Position des Logos der christlichen Spekulation inne. Zugleich spielt in diese „kosmische Anthropologie“ auch noch die neuplatonische Vorstellung von der „Weltseele als kosmisches Lebewesen“ hinein. 26 Dieser Ur- Adam kann als geschaffenes oder aus Gott heraus gestelltes, mit Gott nicht identisches Wesen aufgefasst werden. Typischer für die kabbalistische Tradition ist jedoch die Auffassung, er sei mit der entfalteten Gestalt der Gottheit im Sephirotbaum identisch. 27 So referiert etwa Knorr von Rosenroth in seiner lateinischen Sohar-Kompilation, der Kabbala Denudata: Quare autem vocatur Adam primus? Quia notorium est, quod mysterium bilancis sit dispositio personae Adamis sive Hominis: Kether enim est caput, Chochmah & Binah sunt humeri […] 28 Bei Abraham Cohen Herrera, der kurz vor Böhme, an der Wende zum siebzehnten Jahrhundert, schrieb, verschwimmen die beiden Lesarten ineinander. Auch diese Vorstellung, die die Unterscheidung zwischen Gott und seinen Geschöpfen zwar macht, jedoch als Episode einer großen Geschichte von Ausgang und Rückkehr auffasst, sie also auch wieder zeitlich aufhebt, 29 ist typisch für die kabbalistische Tradition. Bei Martines de Pasqually spielt sie noch mit, gelangt aber nicht zu letzter Konsequenz: Am Ende der Zeiten bleiben für ihn, wie wir sahen, die in der Heilsgeschichte entstandenen Unterscheidungen noch innerhalb der Gottheit bestehen. Die christliche Kabbala konnte freilich nur die erste der beiden Auffassungen übernehmen, denn sonst wäre ja nicht Christus jener dem ersten immer schon voraufgehende zweite Adam, der dessen Verfehlung ausgleicht, sondern der erste Adam hätte bereits selbst die Position Christi eingenommen. Der geschaffene geistige Adam musste von Gott unterschieden und dann wiederum ein Ebenbild des Sohnes sein. Im Übrigen bringt die Vorstellung, der Bauplan der Welt, der sich (zumindest teilweise) dann irgendwie zur Welt verdichtet, sei selbst eine Entfaltung Gottes, für die christliche Theologie wieder unerwünschte pantheistische Implikationen mit sich (die in der Kabbala und im Neuplatonismus häufig anzutreffen sind). 26 Schmidt-Biggemann 1998, S. 224-225 27 Saint-Martin scheint in Le ministère de l’homme-esprit mit diesem Gedanken zu spielen, wenn er den Ur-Adam als „arbre majestueux de l’homme“ bezeichnet, der nun durch den Verlauf der menschlichen Geschichte selbst (wie die Natur) „étendu sur son lit de douleur“ ist (Saint-Martin 1802, S. 267-268). Dies hat jedoch sonst keine großen Reperkussionen in seinem Denken. 28 Knorr von Rosenroth 1677-1684), II, S. 251; bei Schmidt-Biggemann 1998, S. 305. Das Mysterium des Sefirotbaums ist aufgrund seiner Anordnung als Geheimnis der Waage (bilanx) bezeichnet. Kether, Chochma und Bina (oder Schechina) sind einzelne Sefirot. Allerdings ist fraglich, ob Letztere traditionell als die Schultern gelten können, denn sie gehören noch zur ‘Haupt’-Trias (s.u.) 29 Vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 304ff. 512 Eine nahe verwandte Alternative zum Adam Kadmon bot sich außerdem in der Tradition, die geistige Gestalt der Schöpfung im Bilde der Weisheit zu denken; wir werden dies bei Böhme sehen. Bei Johannes Scotus Eriugena wird diese Weisheitslehre mit der „Logos-Theologie und Christologie“ und der „Typologie des doppelten Adam“ vereinigt, 30 denn (dies zeigte sich bis hierhin) alle diese Motivkreise greifen ineinander. Die Sophia-Spekulation schließt an das Alte Testament an, wo die Weisheit Gottes als Geliebte des Weisen erscheint; wir zogen im Zusammenhang mit Gleizes’ erotischer Perspektivierung der Gestalt der Natur die Rede des die Weisheit liebenden Salomo als Hintergrund heran. Die Sapientia oder Sophia ist eine weibliche Alternative zum Adam Kadmon (wenn sie auch gelegentlich mit diesem zusammen auftreten kann); in der Kabbala wird die Weisheit (die zunächst als Chochma noch Schöpfung Gottes, Bauplan der Schöpfung, und also kein Teil Gottes war 31 ) dann zum Bestandteil oder Aspekt der Schechina 32 , der zehnten und letzten der Sefirot. Als solche wird sie nun die Form von Gottes Anwesenheit in der Welt und ist daher in der Kabbala eine Erscheinungsweise, keine Schöpfung, Gottes. Die Schechina als „das passiv-weibliche Moment der Gottheit“ 33 spaltet sich in der späteren Kabbala dann in eine entfaltete und logoshafte Form der verborgenen Gottheit, die als dritte der oberen Sefirot Endpunkt der Theogonie am Übergang vom verborgenen zum manifesten Gott ist (obere Schechina oder Bina genannt) und eine untere Schechina (auch als Malchuth oder ‘Reich’ bekannt), die nun als zehnte Sefira die „Einwohnung“ Gottes in der Welt und ungefallene Geistschöpfung ist. 34 Insofern, als durch Letztere Gott selbst in der geistigen Gestalt der Schöpfung greifbar wird, hat sie eine „Stellung am Übergang von der Transparenz zur Immanenz“ inne 35 und ist also ein Verbindungsstück zwischen Mensch und Gott. In ihrer Eigenschaft als Weisheit ist sie als Tochter Gottes, die mit Salomo vermählt wird, oder auch als die verborgene Königin, nach der alle suchen, gestaltet 36 - sie ist also Anknüpfungspunkt der Erfahrbarkeit Gottes in der Welt, die in diesem Zusammenhang (wir sahen dies bei Gleizes) erotisch perspektiviert werden kann. Wichtig sind noch drei Aspekte: In einer auf Philo von Alexandria fußenden Tradition kann die Weisheit auch die Braut Gottes sein, mit der er die Welt zeugt (wobei sie, wie bei einer Theologie, die alles aus Einem ableitet, unvermeidlich, zugleich seine Tochter ist). 37 Sie 30 Schmidt-Biggemann 1998, S. 238 31 Vgl. Scholem 1962, S. 137. 32 Vgl. Scholem 1962, S. 140. 33 Scholem 1962, S. 135 und ff. 34 Vgl. Scholem 1962, S. 136 und 169. 35 Scholem 1962, S. 159 36 Vgl. Scholem 1962, S. 158 und 162. 37 Vgl. Scholem 1962, S. 139. Ein Anknüpfungspunkt dafür findet sich im Liber sapientiae 8, 3. 513 ist als letzte Sefira außerdem das Sammelbecken, durch das die darüber liegenden Sefirot als Kräfte Gottes erst eigentlich weltwirksam werden können. 38 Und als untere Schechina kann sie auch vom Fall des Menschen affiziert werden; dies führt zu einer Motivik des ‘Exils der Schechina.' 39 Dieses Exil entspricht funktional der Zerstreuung des Adam Kadmon durch die Zerstörung der oberen Welt und ruft wie dort die Heilstätigkeit des Menschen auf den Plan. Namentlich die letztgenannten Elemente werden wir bei unserer kurzen Betrachtung der Theogonie und Kosmogonie Jakob Böhmes wiederfinden. In der Gnosis gibt es übrigens ein dem Exil der Schechina analoges Motiv: Simon Magus behauptete, die Prostituierte mit der er durch die Welt zog, sei die am tiefsten Punkt ihres Falls angelangte Sophia, die er zur Erlösung führe. 40 Dieser etwas kühne, aber durchaus poetische Gedanke und seine existenzielle Umsetzung gehören zu den frühesten Formen der gnostischen Sophia-Motivik. Durch ihre Funktion als Bauplan der Schöpfung gerät die Weisheit (als Bina) in die Nähe des Logos; in christlichen Ausformulierungen wird sie ihm meist analog, aber bereits außerhalb der trinitarischen Gottheit (also analog zu Malchuth), gedacht. Aber noch etwas anderes spricht für ihre Nähe zum Logos: Auch die Weisheit ist eine Möglichkeit der Selbstobjektivierung Gottes, wie sich gleichfalls im alttestamentarischen Buch der Weisheit zeigt: omnibus enim mobilibus mobilior est sapientia adtingit autem ubique et capit propter suam munditiam vapor est enim virtutis Dei et emanatio quaedam est claritatis omnipotentis Dei sincera et ideo nihil inquinatum in illa incurrit candor est enim lucis aeternae et speculum sine macula Dei maiestatis et imago bonitatis illius 41 Die Motive, auf die es hier ankommt, sind die folgenden: Die Weisheit ist Aktivität, Bewegung. Sie ist rein und unstofflich. Sie ist eine Abstrahlung der göttlichen Kraft, eine Emanation. Sie ist zugleich ein Licht, das von von Gott ausgeht, und ein Spiegel, in dem er sich erkennen kann und in dem seine Güte in die Schöpfung hinein gespiegelt wird. Im Motiv des Spiegels verdichtet sich noch einmal der Widerspruch, der oben schon in der Doppelnatur des Logos als Form und Kraft, als Typus und Energie, zum Ausdruck kam: Der Spiegel strahlt einerseits weiter, gehört in eine energetische Kette; andererseits wirft er ein festes Bild zurück, arretiert sozusagen die 38 Vgl. Scholem 1962, S. 166. 39 Vgl. etwa Scholem 1962, S. 180 und passim. 40 Vgl. Jonas 1958, S. 135ff. 41 Liber sapientiae 7, 24-26 514 von Gott ausgehende Kraft in einem objektiven Bild (und die Widersprüchlichkeit dieser Vorstellung kommt darin zum Ausdruck, dass wir nicht wissen, in welche Richtung gewendet wir uns diesen Spiegel vorzustellen haben). Diese Konstellation wird uns noch interessieren. Die Weisheit als Spiegel verbindet sich nun in neuplatonisch beeinflusster christlicher Mystik bisweilen mit einer neuplatonischen Version der Kette der Wesenheiten als Kette der Spiegel. Sie erscheint an zwei der wichtigsten Sammelpunkte neuplatonischer Tradition für das christliche Mittelalter, in den bereits erwähnten Schriften des Dionysius Areopagita und bei Macrobius. Bei Dionysius ist die Kette der Wesen eine Lichtemanation, die sich vom absoluten Licht auf das Dunkel zu verdünnt. Das Gute, das Schöne, die Erkenntnis und das Leben werden so von Urbild zu Abbild und niedrigerem Abbild immer weiter gegeben. Jedes Wesen auf der hierarchischen Lichtskala ist eine Art Spiegel von Gottes Licht, wobei die Stärke und Direktheit der Reflexion immer weiter abnimmt, je nach der Eignung des lichtbrechenden Körpers. Alles Geschaffene ist so in gestufter Weise Theophanie. 42 In Macrobius’ Kommentar zum „Somnium Scipionis“ aus Ciceros De re publica ist die Kette der Wesen eine Spiegelkette für die göttliche Licht- und Lebensemanation: Secundum haec ergo, cum ex summo deo mens, ex mente anima fit, anima vero et condat et vita compleat omnia quae sequuntur cunctaque hic unus fulgor illuminet et in universis appareat, ut in multis speculis per ordinem positis vultus unus, cumque omnia continuis successionibus se sequantur degenerantia per ordinem ad imum meandi, invenietur pressius intuenti, a summo deo usque ad ultimam rerum faecem, una mutuis se vinculis religans et nusquam interrrupta conexio. Et haec est Homeri catena aurea […] 43 Hier finden wir: die catena, den Lebensbegriff, die Hypostasen des Einen (als mens und anima) und schließlich jene Wendung, die die Kette der Spiegel von einem bloßen Bild für die Licht- und Lebensemanation zum Instrument der Selbsterkenntnis Gottes zu machen vermag: Gemeint ist die (hier zunächst nur als Vergleich eingeführte) Vorstellung, dass sich in all diesen Spiegeln nicht nur das Licht, sondern auch Gottes „vultus unus“, sein Antlitz, darbietet. Die Namen als Kräfte, der Logos als Energie und Prägeform, der Adam Kadmon als Planzeichnung und Lebewesen, die Weisheit als Blaupause, die Kette der Spiegel als Lichtweitergabe und objektive Rückmeldung: In allen diesen miteinander auf vielfältige Weise verwobenen Motiven zeigt 42 Donysius 1968, De divinis nominibus IV, ivff, col. 697ff. Eine literaturwissenschaftlich ausgerichtete Darstellung dieser Traditionszusammenhänge gibt Mazzeo 1960, vor allem S. 13 und 87. 43 Macrobius 1981, S. 176 515 sich einerseits der grundlegende Widerspruch zwischen Energie und Repräsentation, den wir hier verfolgen wollen. Andererseits findet die Konzeption Saint-Martins von der Sprache als Leben und Energie in ihnen ihren traditionellen Rückhalt. Vor diesem Hintergrund erscheint seine Auffassung, die parole sei etwas, durch das „notre pensée est perpétuellement dirigée, électrisée, éclairée“ 44 als außenseiterische Wiederbelebung einer alten Tradition. Aber schon der Begriff électrisée zeigt, dass Saint-Martins Schreiben zugleich Teil hat an einem Spiel der Umwertung der Sprache zur Energie, das teils in einem für das späte achtzehnte Jahrhundert spezifischen naturwissenschaftlichen Kontext gespielt wird und dabei auch von anderen mit teils ganz anderen Zielsetzungen und Hintergründen betrieben wird. Diese Energetik und Lebensfülle des Logos gilt nach Saint-Martin für die ursprüngliche, ‘eigentliche’ parole. Sie scheint noch schemenhaft in den natürlichen Zeichen unserer Welt hindurch, und deshalb sind diese der Modellfall für alle diesseitigen Zeichen. Das sprachliche Zeichen in der gefallenen Welt denkt Saint-Martin dem natürlichen Zeichen analog; 45 alle vorfindlichen Abweichungen der Sprache von den natürlichen Zeichen müssen daher auf den Sündenfall zurückzuführen sein. Der mythischen Natur dieses Denkens gemäß müssen wir unsere Rekonstruktion der Sprachtheorie Saint-Martins daher auch noch einmal in die kausalen Abläufe des Sündenfalls- und Reintegrationsmythos der Martinisten einsetzen und uns damit auch noch einmal auf die Grundoperation des martinistischen Diskurses, alles auf diese Struktur zu beziehen, einlassen. 1.1.3. Edenische Sprache Im Busen Gottes konnten die Geistwesen die Ideen unmittelbar schauen und benötigten keine Zeichen; dies entspricht dem neuplatonischen Motiv der „reinen sprachlosen Erkenntnis der Intelligenzen“, das sich auch bei Dionysius findet. 46 Sprache im weitesten Sinne beginnt also mit dem Engelsfall, denn auch noch die ‘präsenteste’ Sprache ist für die Martinisten Distanzüberbrückung. Die auf den Fall folgende feinstoffliche Schöpfung offenbart sich dem über sie herrschenden und sie im Verein mit Gott fort entwickelnden Menschen dann unmittelbar in vollkommen transparenten Naturzeichen: Jedes Geschaffene manifestiert dem immer noch mit Gott verbundenen Adam unmittelbar sein geistiges Prinzip, wenn es auch selbst nicht mehr in der Einheit aufgehoben ist, sondern eine Partikularität und Vielheit außerhalb Gottes konstituiert. 44 Saint-Martin 1800, II, S. 185 45 Saint-Martin 1990, S 170 46 Schmidt-Biggemann 1998, S. 121; vgl. Dionysius 1968, col. 868. 516 An diesem abgewandten Ort - der feinstofflichen Schöpfung - erfüllt sich die Abwendung der gefallenen Engel als Nicht-Kommunikation: Sie, die ihre Verbindung zu Gott verloren haben, sind, wie wir sahen, in dieses feinstoffliche Universum eingesperrt und (zu ihrem eigenen Nutzen) von der Gottesschau abgetrennt, so dass die absolute Qual der Differenzerfahrung zwischen ihrer Gründung auf das Nichts und Gottes unendlich begehrenswerter Seinsfülle bis zu einer möglichen Bewährung der Dämonen aufgeschoben ist. Bedingung für die Wirksamkeit ihrer Haft aber ist, dass eine mittelbare Gotteserfahrung, die zwar nicht die Pein der erwähnten absoluten Differenz, aber doch die Erkenntnis einer solchen einschließt, den Insassen des Gefängnisses als Besserungsmittel gegeben sei. 47 Die bösen Geister, die durch eigene Schuld nicht mehr teilhaben am göttlichen Denken, können von dem aus ihrer Sicht nun abwesenden Gott nur noch durch Zeichen, durch die Sprache der Natur und des Menschen, erfahren. Der Mensch hat also vor seinem Fall die Aufgabe, die Schöpfung so zu führen und zu leiten, dass sie Zeichen des abwesenden Gottes sei, und vor allem ist er gehalten, in seinem eigenen Verhalten sich zum Zeugen und Zeichen für den Gott, nach dessen Bilde er geschaffen ist, zu machen. Daher ist die Sendung des Menschen eine doppelt zeichenhafte, er ist (auch noch nach dem Fall) „né pour verber toujours“: 48 Er ist Zeichensetzer und selbst Zeichen. Aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit ist er Zeichen: Buchstabe Gottes, der auf Gott verweist und in sich den fernen Gott repräsentiert (Re-Präsentation steht hier immer schon im Zeichen von Bruch und Verlust) - außerdem ist er als Mikrokosmos Beweis dafür, dass der Makrokosmos Gottes Schöpfung ist, nicht ewige Materie (Materialismus ist damit implizit eine teuflische Position). Adams Sendung ist also eine solche der Repräsentation. Als Zeichensetzer muss der Mensch den Bruch, die Abwesenheit Gottes für die Dämonen, aktiv, nicht nur durch sein Sein, ausgleichen. Hierzu ist die natürliche Sprache seines geistigen Tuns geeignet; sie soll eine Verkündigung der Prinzipien und ihres Ursprungs in Gott sein. In dieser doppelten Zeichenhaftigkeit Adams gibt es also so etwas wie Repräsentation, wenn er sich auch in seiner Tätigkeit keiner festen Zeichen (außer ihm selbst) bedient. Hier tritt die parole oder das verbe in Erscheinung, ohne dass es schon mots gäbe. 49 Insofern, als das Sein und Handeln des Menschen jedoch zeichenhaft für Abwesendes oder Interpretationsbe- 47 Wie wir in I, 2 erfuhren, ist Saint-Martin zwar skeptisch, ob am Ende alle wieder zu Gott gelangen, aber nichtsdesto weniger schafft Gott die Zeit, „parce qu’il aime tout“ und weil „il veut donner à tout, les moyens et les temps nécessaires pour se remplir de lui, et pour que rien ne revienne à lui vide de lui.“ (Saint-Martin 1802, S. 367). Man beachte, wie Gottesferne hier wieder mit Begriffen der Leere und des Nichts ausgedrückt wird. 48 Saint-Martin 1961, S. 159 49 Im gefallenen Zustand ist das verbe nur noch als der Äußerung vorausgehender Gedanke zu fassen. Vgl. Saint-Martin 1961, S. 164. 517 dürftiges einsteht, kann man nicht sagen, dass mit dem Fehlen der mots auch das signifiant unnötig wäre. Man hat sich dieses phantastische Konzept wohl als eine Art liebendes Ausströmen geistiger Energie vorzustellen, als Aktion. Die Zeichenhaftigkeit dieses Vorgangs hängt an zwei Dingen: Zum einen ist die Trennung zwischen Gott und feinstofflicher Schöpfung Bedingung dafür, dass der Mensch von etwas Abwesendem künden kann. Die Doppelstellung des ungefallenen Menschen ist die andere Bedingung seines Zeichengebens: Er ist als einziger Gott und der Welt gleicher Maßen zugewandt; er muss, wie Saint-Martin sagt, loben und künden. 50 In der (zu Gott zurück gewandten) Aufgabe des Lobens werden wir den Ansatzpunkt für Saint-Martins Hinwendung zu Böhme finden; sie ist als ursprünglicher Auftrag an alle emanierten Geister ja schon bei Martines de Pasqually präsent. Das (den anderen Geistern zugewandte) Künden ist die semiotische Seite des Tikkun, jener Reparaturaufgabe für die geistige Welt, die dem Menschen übertragen ist. Die Aufgabe des Kündens bewegt sich zwischen zwei Polen, an welchen sich der eben erwähnte repräsentationale Charakter des menschlichen Zeichengebens wiederum zu verflüchtigen droht: Gelingt das Künden in vollendeter Weise, das heißt (wir haben dies im Zusammenhang mit der Willenslehre Saint-Martins gesehen): unterstellt der Mensch seinen Willen vollkommen Gott, so wird er zum Ausläufer, zum verlängerten Arm Gottes, zum Gefäß des herabfließenden geistigen Lebens. Wenn solcher Art die Christusnachfolge aber zur Teilhabe oder Teilidentität tendiert, so steht die Rede des Menschen gar nicht mehr zeichenhaft für etwas anderes ein. Gott selber spricht dann zu den Dämonen, und die Rolle des Menschen im Drama der Reintegration wird eigentlich überflüssig. Es ist charakteristisch für Saint-Martins Abwertung der empirischen Sprachen (die er im Repräsentationsmodell fasst), dass diese Verflüchtigung auch noch des letzten Restes von Repräsentation für ihn der Idealzustand ‘sprachlichen’ Kündens ist. Die Überwindung der Trennung von Gott ist letztlich auch die Überwindung von Sprache. Ist der Mensch jedoch andererseits eigenwillig, so läuft er Gefahr, die Verbindung zur oberen Welt und damit die Möglichkeit des Kündens überhaupt zu verlieren. Dies wird beim Fall des Menschen ja auch geschehen. Das edenische Zeichensetzen des Menschen ist im Übrigen zugleich eine Interpretation, ein Explizit-Machen anderer Aussagen. Der Mensch ist nämlich nicht der einzige Künder. Jeder Anblick ist ja die Offenbarung des Prinzips der sich darbietenden Sache, und jedes Prinzip kündet von höheren, wesenhaften Ideen. Wer bei Gott ist, kann die geistige Schöpfung in der feinstofflichen lesen. Da aber die gefallenen Wesen nicht bei Gott, sondern in der Welt der Feinkörper sind, bedürfen sie der Interpretations- 50 Saint-Martin 1807, II, S. 44 518 tätigkeit des Menschen, um die Sprache der Dinge zu verstehen. Das edenische Wort ist also auch Interpretant des Buches der Natur. Auch hier verflüchtigt sich der Zeichenbegriff, diesmal aus Mangel an Distinktivität: In der pansemiotischen Schöpfung ist alles Zeichen und nichts ist Nicht-Zeichen, „puisque tout est langue.“ 51 Der Zeichenbegriff definiert also nichts. Aber gerade diese Pansemiotik trifft das Wesen der geschaffenen Welt als Buch: Ainsi il n’y a rien de ce qui est sensible qui ne soit par rapport à nous dans l’ordre des signes, puisqu’il n’y a rien de ce qui est sensible qui ne puisse nous occasionner une sensation ou une idée […] 52 1.1.4. Die irdische Sprache Dieses Zeichengeschehen ist in unserer heutigen Welt gestört. Der Fall des Menschen reißt, wie wir sahen, die Natur mit in die Tiefe. Durch Adams Versuch, materielle, nicht geistige Dinge ohne Bezug zu Gott hervorzubringen, verdüstert und verfinstert sich die stoffliche Schöpfung. Dadurch werden die natürlichen Zeichen opak. Auch die Engel können nun Gott nicht mehr in der Natur erkennen, denn die Natur ist nur noch ein Zerrbild der feinstofflichen Schöpfung, durch das die Geistschöpfung nicht mehr hindurchscheint. Deshalb sagt Saint-Martin, „l’univers n’a point de parole“. 53 Der Mensch schuldet es den Engeln und der Natur, diese Zeichen wieder transparent zu machen. Aber insbesondere für die Teufel muss er dies weiterhin tun, und vor alledem für sich selbst, denn sonst kann er seinen Auftrag nicht einmal erkennen, geschweige denn erfüllen. In dem Augenblick, in welchem sich der Mensch von den gefallenen Engeln in die materielle Welt hineinziehen lässt, verliert auch er die Teilhabe an der oberen Welt, die seine Dolmetscherrolle ermöglichte. Bis auf einen pneumatischen Restfunken (an dem die Erneuerung durch Christus ansetzen wird) gerät er in die Nichtkommunikation, die den gefallenen Zustand ausmacht. Der Mensch kann seine Aufgabe der Führung der Natur nicht mehr übernehmen; sie wird nun vom Logos selbst wahrgenommen: […] il y a une éternelle parole, qui comme dépositaire de l’éternelle mesure, de l’éternelle lumière et de l’éternelle vie, balance continuellement et particulièrement pour l’homme ici-bas, le désordre, l’angoisse et l’infection où il est plongé. 54 51 Saint-Martin 1800, II, S. 272 52 Saint-Martin 1990, S. 170 53 Saint-Martin 1802, S. 72 54 Saint-Martin 1802, S. 275 519 Christus ist zwar eingesprungen, aber die Sendung des Menschen ist dennoch dreifach erschwert: Die Zeichen, die er erklären sollte, sind verdüstert; die Interpretamente, die er dazu heranziehen sollte, sind außer Reichweite; seine Gottebenbildlichkeit, die der wichtigste Interpretant der Natur und die wichtigste Aussage über den abwesenden Gott war, ist gestört - wir müssen erst, um unsere Aufgabe erfüllen zu können, „nous rendre par nos efforts les images mêmes de cet être, dont nous avons à prouver l’existence.“ 55 Da sich nun in der materiellen Natur der Mensch und die Dinge vervielfältigen, benötigen die Menschen außerdem neue Zeichen, die die dadurch entstehenden Abwesenheiten überbrücken. Dies führt, wie wir in Saint-Martins Lehre von der Ursprache erfuhren, in drei Stufen zu den konventionellen Zeichen, die wir aktuell benützen: Nach dem Verlust der Ursprache (die keine Zeichen, sondern nur lebendige Ideen kannte) wird dem Menschen von Gott eine neue Sprache geoffenbart, 56 die spontane Energie (im Sinne von Enargeia) ist, ikonisch, analog und lautmalerisch: Hier entsteht die Musik als kosmologische Harmonie und Mathematik, die Hieroglyphik 57 als graphische Wesensoffenbarung und die Grammatik der Logik als inneres Wort oder innerer Logos. 58 In der gegenwärtig erfahrbaren Verfallsstufe der zweiten Sprachoffenbarung sind die spontanen energetischen Wesenserfassungen jener Sprache fest geworden und dann durch Abnutzung abgeflacht. Wo auch die Reste verloren sind, werden konventionelle Zeichen eingesetzt, die immer nur Supplemente natürlicher Zeichen sein können: 59 Die „langues factices“ sind nicht mehr eigentlich „fécondes.“ 60 Spracharchäologie und Etymologie vermögen jedoch Reste der zweiten Sprachoffenbarung freizulegen, denn ‘eigentlich’ sind alle Zeichen ‘lebendig’ oder Reste ‘lebendiger’ Zeichen. 61 Wer die Sprache angesichts dieses Zustandes affirmativ als bloß konventionell beschreibt, verkennt ihre wahre Natur, nimmt den Verfall für das Eigentliche. Schon die Zuordnung von Bedeutung zu Zeichen ist ein besonderes Privileg des Menschen, das aus der verlorenen Ursprache herrührt und gänzlich anders ist als die Zeichenstiftung bei den Tieren. Selbst Sprachkonventionen sind 55 Saint-Martin 1807, II, S. 47 56 Vgl. etwa Saint-Martin 1800, II, S. 169f. 57 Sie ist Nachahmung von Ideen, die sich in der Natur offenbaren, nicht von grobstofflichen Erscheinungen, vgl. Saint-Martin 1782, II, S. 251ff. 58 Die Ideen, die jeder Äußerung vorangehen, sind damit die wahrhafte Ursprache, und so kann Saint-Martin in Des erreurs et de la vérité Ideen und Zeichen als zwei aufeinander bezogene Sprachen beschreiben; das innere verbe ist hierbei die ‘Mutter’ der äußeren Sprache. (Saint-Martin 1775, S. 455) 59 Saint-Martin 1990, S. 172 60 Saint-Martin 1802, S. 282 61 Vgl. Saint-Martin 1800, II ,S. 174. 520 noch ein verblasstes Abbild der adamitischen Namensgewalt. 62 Dass die konventionell den Naturdingen zugewiesenen Zeichen ungenügend sind, sieht Saint-Martin im Übrigen schon daran, dass die Natur ständig fließt und hervorquillt (oder doch sollte), feste Zeichen also immer hinter der Dynamik der Hervorgänge zurückbleiben. Diese Dynamik zeigt gleichzeitig auf den hinter der Natur stehenden Schöpfer. 63 Saint-Martins Beschreibung der empirischen Sprachen deckt sich insgesamt durchaus mit der der Sensualisten und Materialisten. Er bewertet sein Material nur genau umgekehrt und verdammt eine Beschreibung, die den Oberflächenzustand als die Natur der Sprache nimmt, als sündhafte Einwilligung in den Fall der Sprache. 64 Die mythische Weltinterpretation verlangt nach einer verborgenen Geschichtstiefe hinter den Phänomenen. Darin entwickelt sie jedoch nur das Analyse-Genese-Modell weiter: Die komplexe Beschaffenheit der Sprache, etwa die Tatsache, dass manche Zeichen ihr Bezeichnetes malen, andere nicht, wird als Ergebnis von Geschichte interpretiert. Damit ist das Verhältnis etwa zwischen lautmalerischen Wörtern und ihren Gegenständen nicht mehr das ungeschiedene Nebeneinander des immer schon (und außerhalb einer Kommunikations-- Geschichte) Ähnlichen, wie es (nach Foucaults Auffassung) für die Renaissance-Hermetik typisch war. Auch die bloße Zuordnung der Repräsentation gilt nur eingeschränkt - nämlich als Verfallsstufe. Das wahre Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist Bestandteil einer mythischen Erzählung, insofern es entweder Überrest einer energetischen, den Gegenstand treffenden Sprache ist, oder Supplement für sie. In den Ruinen der Sprache offenbart sich das erloschene Leben der Ursprache, und die gegenwärtige Sprache ist auch nur im Bilde der Ruine adäquat zu deuten. Die geschichtliche Sprachbetrachtung, wie wir sie bei Court de Gébelin kennenlernten, ist bei Saint-Martin mit einer Auffassung der Sprache als Energie verbunden. In dieser neuen Situation bleiben die Aufgaben des Lobens und des Kündens für den Menschen bestehen, werden aber durch die Verdunklung der Welt, des menschlichen Geistes und der Sprache erschwert, denn der Mensch muss seine Natur, seinen Auftrag und den Inhalt, den er zu vermitteln hat, erst selbst rekonstruieren. Verkompliziert wird diese Sache durch die Tatsache, dass die gefallene Sprache, die ihm dazu dienen kann, nicht einfach insgesamt ein falsches, abzulegendes Supplement ist, sondern eine entstellte Form der eigentlichen Sprache. Nach wie vor ist im Menschen die ursprüngliche lebendige parole noch keimhaft vorhanden, und Kommunikation (selbst noch mit den „signes subsidiaires“) ist ein Vorgang 62 Saint-Martin 1990, S. 171 63 Vgl. Jacques-Chaquin 1979, S. 217f. 64 Saint-Martin 1990, S. 180 521 der „fécondation“ von in den Menschen angelegten „germes.“ 65 Mit dieser insofern immer noch vorhandenen Ursprache könnte der Mensch, wenn er mit Gott versöhnt und in Christus wiedergeboren ist, nach wie vor die lebendigen Ideen der Geistschöpfung führen und entwickeln und mit Gott zusammen zeugen. Der Mensch könnte also zu einer lebendigen Geist- Tätigkeit ohne jede Repräsentation durchdringen. Die Vorarbeiten dazu sind jedoch ein aufwändiges heilsgeschichtliches Projekt, das aus mehreren Schritten besteht: Zunächst einmal muss der Mensch die in ihm angelegte Gottebenbildlichkeit annehmen, die innere Christusform wieder herstellen und sich für die guten Intelligenzen entscheiden. Die zu ihm herabkommenden guten Intelligenzen sind durch Christus an die Einheit des Vaters rückgebunden. 66 Insofern nimmt Christus den Menschen gegenüber die Position ein, die Adam vor seinem Fall den Dämonen gegenüber innehatte. Unterstellt der Mensch seinen Willen dem aktiven Logos der Schöpfung, der alles in der Funktion hält, so kann er zur wahrhaft aktiven Sprache zurück kommen 67 und das Zeichen, das er selbst ist, deuten: seine Natur als Interpretant des großen Textes offenlegen und seine Aufgabe wieder finden. In der dann wieder erschlossenen geistigen Sprache kann er die Verdunklung und Fragmentierung der Natur überwinden, den Bezug zwischen materieller Erscheinung und lebendiger Idee durch eine Art neuer Übersetzung 68 wieder herstellen und dadurch das in der Natur gefangene Leben befreien, der Natur ihr Wort, also ihr bedeutungsvolles Mitwirken am Fluss des Logos, zurückgeben. Wohl in Anlehnung an die kabbalistische Lehre, Adam hätte mit seinem ersten Sabbatgebet die Wiederherstellung der oberen Welt erreichen können, wäre er nicht vorher gefallen, nennt Saint-Martin diese Wiedereingliederung der Natur in den Logos- Fluss und mithin die Wiederherstellung des Wirkens des Wortes selbst „sabbatiser la parole“. 69 65 Diese sind jedoch nicht als eingeborene Ideen zu verstehen: Der Mensch ist zwar nicht „table rase“, aber doch immerhin „table rasée“, die Ideen selbst sind im Fall verloren gegangen, ihre Wurzeln oder Keime sind noch vorhanden und können entwickelt werden. (Saint-Martin 1990, S. 173) 66 Saint-Martin 1782, II, S. 241 67 Saint-Martin 1775, S. 536 68 Dass das Verhältnis zwischen der materiellen und der dahinter liegenden geistigen Schöpfung zeichenhaft begriffen wird, zeigt die Vorstellung Saint-Martins, jene sei eine Übersetzung von dieser. Vgl. Saint-Martin 1800, I, S. 50 und Waite 1970, S. 206 69 Saint-Martin 1802, S. 369 522 1.2. Das Gefängnis aus Zeichen und der Fluss des Logos In einer Lehrrede an die Élus Coens, die unter dem Titel „Les voies de la sagesse“ in die posthumen Schriften Saint-Martins eingegangen ist, wird die Sendung des Menschen als Repräsentation besonders deutlich: L’homme […] n’a été placé au milieu des ténèbres de la création que pour démontrer par sa propre lumière, l’existence de cet agent suprême, et pour convaincre tous ceux qui avaient voulu et qui voudraient le méconnaître […] d’en représenter ici-bas tous les actes et toutes les vertus […] 70 Aber in dieser Formulierung scheint bereits ein Widerspruch auf: Die aus freiem Willen geleistete (und eben deshalb auch schon bald verweigerte) Repräsentation für den fernen Gott ist eine Repräsentation von Akten und Kräften, die natürlich (dies ergibt sich aus dem Kontext) nicht nur abgebildet, sondern fortgesetzt werden sollen. Die Energetik dieses Gottes und seines Weltbezuges tendiert stets dazu, in die Gefängniswelt hineinzureichen. Der Mensch, der seinen Willen der Dynamik dieses Hineinreichens ganz eingliedert und sich zu Gottes Werkzeug macht, ist eben gerade kein Zeuge mehr, kein repräsentierendes Zeichen für einen abwesenden Gott (wir sahen dies als eine Möglichkeit der Verflüchtigung des Zeichenhaften bei unserer eben abgeschlossenen Darstellung der verschiedenen heilsgeschichtlichen Zustände der Zeichen). Seine Kundgabe an die gefallenen Engel ist keine Darlegung von etwas außerhalb der Schöpfung Befindlichen, sondern Effekt eines durchgängigen Energieflusses in diese Schöpfung hinein. Diese Tendenz wird verstärkt durch die Fassung der Sprache als Energie und Leben, die uns schon mehrmals bei Saint-Martin begegnete. Ist der Mensch ein energetisches Zeichen, so wird ja auch von dieser Zeichenvorstellung her seine freie Zeugenschaft für das zu glaubende Verborgene problematisch. Worin unterscheidet sich ein solches Zeichen noch von einem bloßen Energiefluss? Die Vorstellung Saint-Martins vom idealen Zeichen unterminiert das zeichenhafte quid pro quo überhaupt und lässt Sprache als Fall von Leben und geistiger Dynamik erscheinen, in dem repräsentative Zeichen (wie wir sahen) eigentlich gar keinen Platz haben (und diesen nur durch den Fall erhielten). Die ideale Sprache ist wortlos, - und der ideale Zeuge ist von dem, für den er zeugt, nicht mehr zu unterscheiden. In De l’esprit des choses ist daher, wie wir bereits gesehen haben, das Buch des Menschen bereits eine Gestaltwerdung seines Schreibers (also Gottes), und es repräsentiert nicht, sondern lebt: C’est pourquoi Dieu ne cherche qu’à prendre forme dans l’homme, afin que l’homme, sentant vivement, virtuellement et naturellement en soi la vie de Dieu, la génération de Dieu, il puisse ensuite, comme un livre vivant, raconter toutes 70 Saint-Martin 1807, II, S. 41-43 523 les merveilles, entraîner l’âme de ses lecteurs et leur faire naître l’ardent désir de connaître eux-mêmes ces ineffables magnificences. 71 Der „Text unserer Natur“ 72 ist ein Lebewesen geworden. Es ist demgemäß nur konsequent, dass Saint-Martin den repräsentationalen Rest, den das Tikkun der Rückführung der Teufel durch zeichenhaftes Einstehen des Menschen für den verborgenen Gott enthält, in seinen Spätwerken immer mehr marginalisiert. Die Aufgabe des Kündens tritt so immer mehr zurück gegenüber derjenigen des Lobens und Preisens. Dieses hat als Adressaten nun nicht mehr Satan, sondern Gott selbst. Und auch dieses Gotteslob ist nun getreu der Hintergrundvorstellung vom Energiefluss nicht mehr gänzlich von dem zu Lobenden getrennt zu denken (wenn es auch freiwilliger und sogar aktiver Mitwirkung des Menschen bedarf). Das Gotteslob des Menschen ist Reflexion Gottes auf sich selbst, der Mensch ist die Leier Gottes, auf der sich dieser selbst Harmonien spielt: L’homme est la lyre de Dieu même: Il peut, sous cette main suprême, Exprimer les divins accords. 73 Es ist dies der systematische Ort von Saint-Martins Begegnung mit Böhme: Der Philosophus teutonicus vermochte Saint-Martin einen Weg zu zeigen, seine energetische Vorstellung von Sprache und Schöpfung mit dem kabbalistischen Mythos zu verbinden, indem er den Aspekt des Preisens (unter Heranziehung der oben referierten Modelle von Gottesnamen, Logos, Adam und Sophia) in besonderer Weise ausformte. 71 Saint-Martin 1800, I, S. 94 72 Kleuker 1784, S. 317 73 „Stances“ in: Saint-Martin 1807, II, S. 183; vgl. auch Saint-Martin 1800, I, S. 144: „l’homme est comme la lyre de Dieu, puisqu’il tend sans cesse, par sa parole, à en exprimer les diverses puissances.“ 524 2. Der Wechsel des Hintergrundmythos von Martines zu Böhme Böhmes Mythos von Schöpfung und Heilsgeschichte (den wir hier vor allem unter der Anleitung der Arbeiten von Bonheim und Deghaye stark vereinfachend zusammenfassen wollen 74 ) bietet insofern einen Ausweg aus der widersprüchlichen Situation, die wir soeben skizzierten, als er im Grunde das Element der Repräsentation ausklammert und sich radikal auf die energetischen Geschehnisse der Zeugung und Manifestation konzentriert. Im Unterschied zu Martines stellt er daher die Schöpfung weniger 75 als sekundäre Gegen-Maßnahme in einem Drama der verweigerten Huldigung dar denn als Episode einer anhaltenden Geschichte des Hervorquellens, in der es zwar Rückschläge und bis zu einem gewissen Grade Richtungsänderungen gibt, aber alles auf das Hervorbringen bezogen bleibt. 2.1. Böhmes Genesis-Mythos Böhme entwickelt alles aus jener Vorstellung von Gott als dem überfließenden Guten wie sie etwa in Platons Timaios (29 d, e und 30 a ff.) begegnet, und die wir schon als Wurzel des Prinzips der Fülle und damit der Kette der Wesen kennengelernt haben. Wo jedoch Platon die Güte dieses Wesens gerade darin erblickt, dass es das Chaos der materiellen Welt den unveränderlichen Ideen möglichst angleicht, 76 ein vollendetes, homogenes, beseeltes Weltwesen schafft, dessen Gestalt sphärisch abgerundet und ohne Ungleichheiten ist, betont Böhme in kabbalistischer Tradition 77 radikal des Element des Hervorquellens, das Prozesshafte. 78 Wie Plotins ‘Eines’ ist 74 Böhmes Denken ist äußerst komplex und würde eine eigene Studie erfordern. Es sei vor allem auf die Arbeiten von Bonheim 1992, Schmidt-Biggemann 1998, Deghaye 1979, Deghaye 1985 und Gauger 2000 verwiesen. 75 Dieses Motiv findet sich gleichwohl: Nach dem Fall der Engel konzentriert Gott bei Böhme den Schutt der ersten Schöpfung in einem Materieklumpen (der Erde) und baut eine Art Gefängnis daraus, das jedoch in der neuen Schöpfung neu belebt wird, so dass diese nun eine gemischte ist (aus Leben und Tod, Geist und Materie statt nur aus Geist und Leben): Dies ist zweifellos eine Schadensbegrenzung, die jedoch Teil einer schon vorher beginnenden Schöpfungs- und Manifestationsgeschichte ist. 76 Diese Vorstellung gerät jedoch schon bald in Bewegung: Plotin gibt bereits eine Version, in der die Notwendigkeit des Überfließens dynamische Akzente hat. (Enneaden V, 4, 1, vgl. Lovejoy 1936, S. 81) 77 Vgl. etwa Scholem 1962, S. 153, wo die Dynamik der Gottesauffassung als wesentliches Element kabbalistischen Denkens dargestellt wird. 78 Dennoch ist Gott Vater selbst für Böhme einer Kugel vergleichbar und also homogen zu denken, vgl. Böhme 1612, S. 96. Im selben Absatz betont Böhme auch gleich wieder, dass diese Kugel voller wirkender Kräfte ist, ihre Homogenität ist in Anlehnung 525 auch Böhmes Vatergott absoluter Wille, Liebe und Energie, 79 aber er genügt sich nicht (wie Plotin im Widerspruch dazu noch annahm) selbst. Der Gott Böhmes ist zutiefst von der Notwendigkeit gekennzeichnet, in Güte überzufließen, zu zeugen und zu schaffen, er ist „Brunnquell aller Kräfte.“ 80 Dies zeigt sich unter anderem in Böhmes Begriff Quall, 81 der das ‘Quellen’ mit der drängenden ‘Qual’ des Gebärens verbindet. Die damit pseudo-etymologisch verbundenen „Qualitäten“ oder „Quellgeister“, die wir gleich noch kennenlernen werden, sind Hypostasen der Kräfte Gottes, ihre zeugende Tätigkeit heißt „qualifizieren: “ 82 Sie schließen an die uns inzwischen wohlbekannten Traditionen der Gottesnamenspekulation und des Sefirotbaumes an. Auch sie verbinden die Vorstellung von Kraft mit einer solchen von Form, betonen aber das Energetische - nicht zuletzt, weil auch das Typologische in der Konzeption der sich ereignenden Qualitäten dynamisiert erscheint. Nicht mehr feste Prägeformen, sondern Formungskräfte sind diese Qualitäten. Auch das Wie der Schöpfung ist so für Böhme dynamisch, denn „du mußt aber allhie wissen, daß die Gottheit nicht stille steht, sondern ohn Unterlaß wirket und aufsteiget als ein liebliches Ringen, Bewegen oder Kämpfen […] In diesem Kämpfen oder Ringen formieret sich die Gottheit in unendlicher und unerforschlicher vielerlei Art, Weise und Bildung.“ 83 Wie der Gott des Timaios, der aufgrund seiner wesensbestimmenden Güte schaffen muss, 84 ist daher auch der Gott Böhmes nicht frei, zu schaffen oder auch nicht. Er ist eigentlich mit seiner Schaffenskraft identisch und kann sich nur im Schaffen manifestieren. Da diese Manifestation jedoch wiederum Voraussetzung dafür ist, dass Gott sich selbst überhaupt erkennen kann, ist die Zeugung der Modus des göttlichen Selbstumganges überhaupt. an das Radbild von Ezechiel 1,15 eine Homogenität der Dynamik. Der Vater ist andererseits aber auch ewig und unveränderlich (vgl. S. 97). 79 Vgl. etwa Enneaden VI, 8. Zu dem Widerspruch zwischen dem überfließenden und dem selbstgenügsamen Gott bei Plotin vgl. Armstrong 1940, S. 3 und allgemein Lovejoy 1936, S. 105. 80 Böhme 1612, S. 98 81 „Nun ist im ängstlichen Gemüthe der Finsterniß die unaussprechliche Quall, davon der name Qualität, als von viel Qualen in einer Quell urkundet.“ (Böhme 1619, S. 114). Das Quallen ist zugleich die zweite oder bittere Qualität und der Modus des Hervorquellens und schaffenden Qualifizierens, etwa in Böhme 1623a, S. 26; vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 196f. 82 Böhme 1612, S. 110 und passim 83 Böhme 1612, S. 213 84 Lovejoy 1936, S. 70-72 weist darauf hin, dass durch diese Anbindung der Schöpfung an die göttliche Güte die Ontologie des Höhlengleichnisses problematisch wird: Nun ist ja die ideale Welt ohne die sinnliche unvollständig, und die Abbilder sind so keine bloßen Zusätze, sondern notwendige Realisierungen der Urbilder. 526 Schon die Selbsthervorbringung Gottes liegt auf dem Weg zu einer künftigen Selbsterkenntnis des Schöpfers in der primordialen Natur, in der er sich vor sich selbst als entwickelter Gott zeigt. Der platonische Gott der überfließenden Güte ist hier gegenüber dem aristotelischen selbstgenügsamen Gott absolut gesetzt: Gleichzeitig verschiebt sich der Begriff von Gott und Schöpfung vom Sein zum Erkennen einerseits (Böhme gehört also trotz seiner traditionellen hermetischen Vorstellungen zu dem erkenntnisorientierten ‘klassischen’ Zeitalter, an dessen Anfang er steht), zum Werden andererseits (und dadurch wird der erwähnte Widerspruch in der platonischen Lehre einseitig gelöst; gleichzeitig ergibt sich so die Anschließbarkeit seiner Konzeption an die Tendenz zur Dynamik am Ende des ‘klassischen’ Zeitalters). Das Weltgeschehen ist nun also eine Dynamik des Hervorgangs und des Erkennens. Jenseits aller eigentlich theosophischen Motive war Böhme durch diese besondere Verbindung von Dynamik und Erkenntnislehre für das späte achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert interessant, von Saint-Martin und Oetinger bis hin zu Baader, 85 Schelling und Hegel. Ähnlich wie in neuplatonischen, kabbalistischen und gnostischen Vorstellungen geschieht nun diese Hervorbringung in verschiedenen Konkretisationsstufen, die jedoch nur im Mythos für den zeitlichen Verstand des Menschen zeitlich aufeinanderfolgen. 86 Der erste wichtige Abschnitt ist die Selbstdifferenzierung Gottes vom Ungrund 87 des unfasslichen Willens oder 85 Zu Baader und Oetinger, die hier (obwohl sie echte Esoteriker sind), genauso wenig wie Hegel (der es nicht ist) behandelt werden können, vgl. vor allem die grundlegenden Arbeiten von Faivre 1996. 86 „Wenn der Blitz im Centro aufgehet, so stehet die göttliche Geburt in voller Wirkung. In Gott ist es immer und ewig also, aber in uns armen Fleischeskindern nicht. In diesem Leben währet die triumphierende göttliche Geburt in uns Menschen nur solange, als der Blitz wäret. Darum ist unsere Erkenntnis stückweise, in Gott aber stehet der Blitz unveränderlich immer und ewig also. 6. Siehe, es werden alle sieben Geister Gottes zugleich geboren. Keiner ist der erste und keiner ist der letzte...Darum hats im Menschen einen Anfang, und in Gott keinen. Darum muß ichs auch nur auf kreatürliche Weise schreiben, sonst verstehest du nichts.“ (Böhme 1612, S. 203) 87 Böhme entwickelt seine Gottesvorstellung an der negativen Theologie in der Tradition eines Dionysius Areopagita. Dies ist seine Beschreibung des ‘Ungrundes’ vor aller Selbstdifferenzierung (wobei dieses ‘vor’ nicht zeitlich zu denken ist): „Denn man kann nicht von GOtt sagen, daß Er dis oder das sey, böse oder gut, daß Er in sich selber Unterscheide habe: Denn Er ist in sich selber Natur-los, sowol Affect- und Creatur-los. Er hat keine Neiglichkeit zu etwas, denn es ist nichts vor Ihme, darzu Er sich könnte neigen, weder Böses noch Gutes: Er ist sich selber der Ungrund, ohne einigen Willen gegen der Natur und Creatur, als ein ewig Nichts...“ (Böhme 1623a, S. 4). Die Vorstellung, Gott als absoluter oder das ‘Eine’ sei außerhalb aller Festlegungen und daher unprädizierbar ist jedoch bereits neuplatonisches Gedankengut und findet sich etwa bei Plotin, vgl. Armstrong 1940, S. 5 und S. 14. In der christlichen Kabbala Johannes Reuchlins ist die verborgene Essenz Gottes „in remotissimo suae divinitatis 527 Vater zum Sohn als sich selbst vorgestelltem Willen und zum Geist als Interaktion beider, mithin zur Trinität (die bei Böhme auch Züge der ersten drei Sefirot als Entfaltungen der unerkennbaren Gottheit trägt); 88 von dieser zur vollen Gestalt des Pleromas (oder Sefirotbaumes), das zugleich die Gesamtheit der Kräfte ist, welche die Außenseite des verborgenen trinitarischen Lebens konstituieren. Diese Erweiterung erfolgt in sieben Geistern oder Qualitäten (analog den sieben unteren Sefirot), deren „immer einer den andern gebäret“ 89 und die man als „Prädikate Gottes, Attribute der Primordialwelt ( […] ) und Momente des wirklichen Lebens“ auffassen kann, wobei wichtig ist, dass sie sich in Gott „ereignen“. 90 Die siebte dieser Qualitäten symbolisiert die übrigen und manifestiert sie als obere Natur oder „Corpus“ Gottes (analog der unteren Schechina). 91 Gott ist die Seele dieses Leibes, der als primordiale Natur wiederum der Geist der vorfindlichen Natur ist und so der Geistschöpfung bei Martines de Pasqually entspricht. Er ist die Sophia, von Böhme auch „Szientz“ genannt. 92 Ohne diesen Leib könnte nichts manifest werden, „kein Engel noch Mensch, und wäre Gott ein unerforschliches Wesen, welches nur in unerforschlicher Kraft bestünde.“ 93 Für unser Interesse wichtig ist neben dieser siebten vor allem die erste der sieben Qualitäten, die Astringenz, das Zusammenziehende, Herbe. Wir erfuhren schon anlässlich der martinistischen Schöpfungsspekulation, dass Konkretion eine Grundlage der Schöpfung und zugleich des Bösen ist. Dort war allerdings das Nichts als äußerste Konkretion mit dem Bösen gleichgesetzt. Bei Böhme gilt nun einerseits die Astringenz als Grundlage aller Manifestation; ohne sie gäbe es keine Konkretisation Gottes und auch keine Engel und Menschen. 94 Der ungerichtete Wille Gottes als bloße Kraft wird durch diese Zusammenziehung zur Begierde, denn es „möchten die recessu...in abysso suarum tenebrarum“ (Reuchlin 1996, S. 208) zu denken; vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 154 88 Die äußerst komplexe Trinitätslehre Böhmes müssen wir hier auslassen. Sie ist als ewige Selbstdifferenzierung und Selbstanschauung verstanden und ist in ähnlicher Weise dynamisch wie die Qualitätenlehre. Vgl. die Darstellung von Schmidt- Biggemann 1998, S. 192-193 89 Böhme 1612, S. 203. Auf S. 204-5 wird besonders plastisch der Hervorgang der Quellgeister zusammengefasst: „Die herbe Qualität ist der erste Geist, die zeucht zusammen und macht alles trocken. Die süße Qualität ist der andere Geist, die sänftiget es. Nun ist der dritte Geist der bittere Geist, der entsteht aus dem vierten und ersten...“ 90 Schmidt-Biggemann 1998, S. 194 91 Böhme 1612, S. 202ff; vgl. Deghaye 1979, S. 141 92 Böhme 1623a, S. 34-35. das neuplatonische Gegenstück dazu wäre der Nous als Emanation des ‘Einen’ und intellektueller Kosmos etwa bei Plotin, vgl. Armstrong 1940, S. 50 93 Böhme 1612, S. 202 94 Vgl. Deghaye 1979, S. 148. 528 Kräften nicht offenbar werden ohne diese Begierde des Ziehens.“ 95 Gott wäre ohne diese erste Zusammenziehung ein auch sich selbst verborgener Gott geblieben, denn er kann sich nur in seinen Geschöpfen erkennen. Andererseits ist sie nicht das Nichts. Die kabbalistische Gleichung von Nichts und Bösem gilt also auf dieser ersten Ebene zunächst noch nicht. Vielmehr steht der göttliche Ungrund dem Gedanken des Nichts näher. 96 Die Möglichkeit des Bösen ist hier eine Art von Horizont der Selbstdifferenzierung Gottes, dem Nichts zunächst entgegen gesetzt. Das Nichts der negativen Theologie ist die unendliche Fülle unausgestalteter Möglichkeiten in Gott; das Zusammenziehen auf den fernen Horizont des Festen, Konkreten, potentiell Schlechten hin ist Vorbedingung der Selbsterkenntnis Gottes. Wie bei Martines ist damit am Ende auch das Böse Preis der Herrlichkeit, wenn auch diesmal die Erkenntnis der Herrlichkeit (zunächst) nicht hauptsächlich in der Huldigung freier Geschöpfe besteht, sondern in der Reflexion Gottes selbst; der Spiegel des göttlichen Glanzes ist allemal der Ort, an dem auch das Andere Gottes ins Sein kommt. Das Theodizeeproblem, das Martines damit hatte, löst sich freilich bei Böhme auf: Im göttlichen Ungrund ist für ihn auch die Möglichkeit des Bösen enthalten, aber da der Ungrund unbestimmt und unbestimmbar bleibt, ist das Böse selbst darin ebenso wenig wie das Gute. Es entsteht erst in einer komplexen, teils in dialektischen Schritten fortschreitenden Differenzierung bei einem Unfall, der das an sich zunächst wertfreie göttliche Zornesfeuer freisetzt. Dies ist der kabbalistisch-alchemistische Aspekt der Enstehung des Bösen bei Böhme. Er ermöglicht es dem philosophus teutonicus (im Gegensatz zu Martines), den Rest dieses bösen Feuers am Ende der Zeiten als eine Art Aschenhaufen abzutun; er muss sich um die Reintegration des bösen Prinzips keine Gedanken machen. Aber auch bei Böhme gibt es einen personalen, mythischen Aspekt von Luzifers Fall, der sich jedoch ebenfalls von Martines’ Version unterscheidet. Bei Martines ist die Verfehlung Satans, ‘selbst sein’ zu wollen (und diejenige Adams, selbst Schöpfer oder Zeuger sein zu wollen); bei Böhme ist die Verfehlung Satans, sich selbst neu und glanzvoller zeugen zu wollen, um sich - wie es Gott selbst ja will - zu manifestieren. „Seine Empörung besteht darin, daß er das eigene Wesen zu offenbaren versucht, und diese Offenbarung geht mit einer Materialisierung einher.“ 97 Böhme unterscheidet in poetischer, wenn auch vielleicht irritierender Weise zwischen einem männlichen Zeugungsakt und einem weiblichen Geburtsakt und gibt ihnen verschiedene Wertigkeit: Gott zeugt sich selbst in der primordialen Natur, das heißt: Er differenziert sich in dem von ihm 95 Böhme 1623a, S. 16; vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 194f. 96 Vgl. das bereits angeführte Zitat aus Böhme 1623a, S. 4. 97 Bonheim 1992, S. 120 529 gezeugten Leib selbst aus. 98 Die Aufgabe des Leibes ist es lediglich, Werkzeug der Selbstentfaltung Gottes zu sein. Weil dieses Werkzeug aber nötig ist, Gott sich also ohne die primordiale Natur gar nicht entfalten könnte, sieht sich die Natur aufgewertet und fasst den Wunsch, ebenso zu glänzen wie die göttliche Seele, die in ihr als sich selbst zeugender Sohn geboren wurde. Dies wird befördert durch ein personales Element, das der Schöpfer als Differenzierung in die Natur einbringt: die Engel. Ihre Mitte, ihren Glanzpunkt, bildet Luzifer. 99 Die sieben Quellgeister oder Qualitäten, die schon auf der ersten Schöpfungsebene wirkten, wollen nun Luzifer noch schöner machen und ihm dazu noch größere Konkretisation oder Dichte geben - wie die Resonanz eines Gefäßes prächtiger wird, wenn sein Material fester ist, allerdings mit dem abwegigen Ziel, dadurch selbst zum Schöpfer von Geist (als Ursache von Glanz) zu werden. Luzifer, der ja eine Manifestation der sieben Geister ist, steigt in diesem Wunsche zurück in die dunkle Phase der göttlichen Generation, vor dem Auftreten des Lichtes, und stürzt durch diese Regression in die Finsternis. Nun ist die Verdichtung nicht mehr ausbalanciert und geht zu weit, ihr Gegenteil wird frei, Eis (äußerste energielose Dichte) und Feuer (äußerste energetische Feinheit) entstehen als freie Gegensätze, die für sich genommen nun verderbliche Wirkung entfalten. Dadurch gerät der Leib der sieben Geister in Ungleichgewicht, die paradiesische obere Welt wird zum Schreckensort. Luzifer wird pure Negativität. Erst hier ist die Gleichung von Konkretion, Finsternis, Bösem und Nichts wie in der erwähnten kabbalistischen Tradition gegeben. So versucht also die erste Natur, die vom Geist Gottes erglänzte, welcher sich in ihr zeugte, sich selbst zur Schöpferin von Geist zu machen, sich aus der demütigen Mutter in einen Vater zu verwandeln. Dadurch gerät die Primordialschöpfung in Brand und alle Qualitäten in der Natur verwandeln sich in negative Gegenbilder ihrer himmlischen Ursprünge. 100 Die Natur ist nun „rauh, wild, kalt, bitter, sauer, an etlichen Enden stinkicht, rühricht und brüchicht.“ 101 Ähnliches lasen wir über die durch den Fall des Menschen verfinsterte Natur bei den Martinisten; bei Böhme ist dies die Folge von Luzifers Fall. Aber diese erste Manifestation Luzifers führt auch zur weiteren Selbstdifferenzierung Gottes. Noch die Unfälle der Ausfaltung aus dem Ungestalten spielen in der dialektischen Bewegung der Weltwerdung eine positive Rolle. Der Versuch einer Herleitung des Bösen, die das Gute nicht schmälern soll, welchen schon Valentinus unternahm und den wir auch bei Martines fanden, ist hier also besonders komplex (und synkretistisch) gestaltet. 98 Böhme 1612, S. 212-213 99 Böhme 1612, S. 115-116 und S. 252ff. 100 Böhme 1612, S. 253-255 und S. 275f; vgl. Deghaye 1979, S. 141-143 101 Böhme 1612, S. 340 530 Auch die anti-materialistische Ontologie der Verdichtung als Vergröberung ist hier noch interessanter gefasst. Die Ähnlichkeiten mit Martines de Pasqually gehen zweifellos auf gemeinsame Rezeption kabbalistischer Strömungen zurück, 102 die Differenzen auf Böhmes stärkere Beeinflussung durch paracelsisch-hermetische und christlich-mystische Traditionen. So war es für Saint-Martin leicht und naheliegend, zu Böhmes Version zu wechseln, ohne diejenige von Martines ganz ablegen zu müssen. Dass dies dennoch nicht ganz reibungslos ging, sahen wir oben schon am Motiv der Scheidung des Chaos. Bei Martines ist diese ja Bestandteil der feinstofflichen Schöpfung zur Einhegung des Bösen. Bei Böhme gehört sie zur zweiten Schöpfung, die dem Ruin der ersten folgen muss. Wir müssen uns ja vor Augen halten, dass durch diesen (dem Bruch der Gefäße bei Luria analogen) Fall Luzifers der Leib Gottes, kabbalistisch gesprochen: der Adam Kadmon, zerstört ist. Die besondere Brisanz dieser Situation bei Böhme ergibt sich nun aus der referierten Tatsache, dass für ihn die Seele dieses Leibes sich nicht erkennen kann ohne den Leib. Gott selbst ist also mit ins Dunkel gestürzt; er sitzt sozusagen in den Ruinen seiner Behausung ohne Licht. Er schafft daher (wie wir schon aus Saint-Martins Referat in Kapitel I, 2.3.2.2. wissen) die Sterne als neues Licht der Welt und haucht der Schöpfung, die er aus diesem Chaos neu bildet, wieder Leben ein. Der Teufel ist im Dunkel gefangen. Am Ende der Zeiten, wenn die Mischung von Licht und Dunkel, die diese Welt ausmacht, geschieden wird, wird er im Dunkel bleiben. 103 Im Gegensatz zu Martines denkt Böhme (und mit ihm der späte Saint-Martin) den Teufel weniger als Person, der man vergeben muss, als als negatives Geschehen, das zur Konsequenz der Selbstauflösung strebt. Das Feuer, das durch Satan in der Welt frei wurde, lodert weiter als reinigendes Feuer, bis alles eneuert ist: Fegefeuertradition und Alchemie verbinden sich in dieser Vorstellung. 2.2. Der Mensch als sensorium Dei und Gottes Saitenspiel bei Böhme Günther Bonheim hat herausgearbeitet, dass „zur ersehnten Offenbarung“ Gottes bei Böhme neben der Differenzierung des Wahrgenommenen auch ein in gleichen Schritten sich bildender „differenzierter Wahrnehmungsorganismus“ vonnöten ist, der den Spiegel zum Dargebotenen bereitstellt. 104 Jede Station der Selbstoffenbarung Gottes hat ihren Spiegel, und der Spiegel ermöglicht durch das Begehren, das er auslöst, wiederum weitere 102 „Böhme ist der, der die kabbalistischen Muster der Philosophia perennis am gründlichsten verarbeitet hat“ (Schmidt-Biggemann 1998, S. 188). Vgl. auch Schulitz 1993. 103 Böhme 1612, S. 425ff; vgl. Deghaye 1979, S. 152 104 Bonheim 1992, S. 84 531 Schöpfung. Gleichzeitig aber ist jede Stufe der Schöpfung Spiegel, und jeder Spiegel ist Schöpfung. Die Ambivalenz von Hinausstrahlen und Zurückwerfen, die sich bei unserer Einführung in die Spiegel-Tradition als Unsicherheit, in welche Richtung der Spiegel denn gewendet sei, ankündigte, wird hier also sozusagen zum System. Aus dem Ungrund schält sich eine Dialektik von Sehen und Begehren heraus, die in die Imagination als „Einheit von Sehen und Begehren“ mündet, ein Sehen, das „gestaltet, indem es begehrt“. 105 Der Spiegel, in dem dies zunächst geschieht, ist die Sophia oder primordiale Natur. Damit schließt Böhme an das alttestamentarische Motiv der Weisheit als Spiegel Gottes an, welches wir oben kennen lernten. Die Geschichte der Differenzierung von Sinnlichkeit (oder ihrem noch nicht materiellen Gegenstück), die Böhme hier erzählt, ist ein theosophisches Gegenstück von Condillacs späterer Statuen-Genesis und verhält sich zu dieser wie der Mythos Martines’ zum Analyse-Genese-Modell: Das ‘klassische’ Denken ist von Anfang an von seinem mythischen Anderen begleitet. Nachdem in diesem ersten Spiegel die Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis geschaffen wurden, folgt als nächster Schritt die Aktualisierung derselben in der tausendfach gebrochenen Wahrnehmung der „ausgeflossenen unendlich vielen Gemüter“, 106 insbesondere in den Engeln, die (ähnlich wie bei Martines) durch ihr Gotteslob Gott sich selbst zeigen. 107 Auch diese Entfaltungsreihe endet zunächst im Engelssturz. Bei der zweiten Schöpfung wird wie bei Fulgentius und Martines de Pasqually der Mensch als Reaktion auf Luzifers Fall geschaffen. 108 Bei Böhme ist jedoch auch dieses Motiv besonders entwickelt, als eine Art hermetisch-mikrokosmische Interpretation der lurianischen Kabbala, die das Motiv der Selbsterkenntnis fortspinnt. Der Mensch ist Ebenbild Gottes und zugleich Mikrokosmos der großen Manifestation Gottes in der primordialen Natur, steht also dem Adam Kadmon nahe. Er ist wie bei Saint-Martin ein Auszug der ganzen Schöpfung, da er „eine irdische, elementische, und denn auch eine himmlische Bildniß träget; und nicht alleine dieses, sondern träget auch eine höllische an sich, welche geneiget ist zu aller Sünde und Bosheit.“ 109 Weil so alles an ihm Anteil hat, kann er auch einen besonderen Beitrag zur Manifestation und Selbsterkenntnis Gottes leisten, ja: den entscheidenden. In den Sinnen des Menschen kommen nämlich die Qualitäten Gottes Gott zur Wahrnehmung. Gott erkennt sich in der Schöpfung und im Menschen, der sein E- 105 Bonheim 1992, S. 88 106 Bonheim 1992, S. 107 107 Vgl. Bonheim 1992, S. 110 108 Vgl. Böhme 1619, S. 198 109 Böhme 1619, S. 183 532 benbild ist, durch die Sinne des Menschen (denn Gott hat keine eigenen). 110 Damit ist der Mensch das Sensorium Gottes 111 und zugleich, als Auszug aller Wesen, der Schlüssel zu aller Erkenntnis - letzteres ganz wie bei den Martinisten. Die christliche Lehre von der Gottebenbildlichkeit fällt hier mit der hermetischen Mikrokosmos-Lehre und dem oben schon dargestellten Motiv der Kette der Spiegel zusammen. Diese Vorgaben ließen sich leicht mit einem anderen Motiv verbinden: dem des Universums als Gesamtheit der Sinne Gottes - denn das Antlitz wird in den Spiegeln ja gefangen, damit es sichtbar werde. Der Gedanke, die ganze Welt sei das Sensorium Gottes, wird, wie Zafiropulo und Monod herausgearbeitet haben, von Boethius aus Aristoteles entwickelt und setzt sich bis auf Newton und teils sogar die neuere Naturwissenschaft fort. 112 Zusammen genommen mit der Kette der Spiegel bedeutet dies: Die Emanationen des Einen spiegeln, indem sie dessen Geistigkeit, Leben und Güte abgestuft nach unten tragen, Gott sein Antlitz zurück. Gott erkennt sich in der Schöpfung als in seinen Sinnen. Das Haupt der Schöpfung aber, der Mensch, ist der vornehmste dieser Sinne, einerseits, weil er als Mikrokosmos selbst Auszug des Makrokosmos ist: er ist also ein besonders umfassender Spiegel; - andererseits, weil er Bewusstsein hat: er ist ein besonders hoch entwickeltes Sinnesorgan. Nicht zuletzt die Erkenntnis seiner selbst ist ihm daher als Schlüssel zur Welterkenntis aufgetragen. Böhme erfindet also hier nichts Neues, aber er entwickelt das Vorhandene besonders reich weiter und trägt es in eine neue Zeit. Gott erkennt sich bei Böhme, indem er im Menschen geboren wird, und von hier erkennt er sich auch in der Natur. 113 Wie Luzifer mikrokosmisch an sich die ganze Welt verderben konnte, kann der Mensch mikrokosmisch an sich die Wiedergeburt der Welt vollziehen. 114 Aber Adam fällt in die Materie, indem er ihr verfällt und sie begehrt. 115 Er steht nun dem irdischen 110 Dies hat besonders plastisch Bonheim 1992, S. 126, herausgearbeitet. 111 Vgl. Deghaye 1979, S. 136 112 Vgl. Zafiropulo 1976, S. 13: Boethius verstand die Welt als „matérialisation de la pensée de Dieu...Surtout ce sensorium était ce par quoi Dieu prenait conscience...“. Die Vorbedingungen dazu liefert Aristoteles, De Anima II (Zafiropulo 1976, S. 39), die Ausläufer dieser Tradition reichen bis zu Newton und weiter (ebenda, S. 134). In neueren die Naturwissenschaft spekulativ überschreitenden Publikationen etwa eines Paul Davies 1992 findet sich das analoge Bild von der Welt als Computer Gottes. Vor allem die Entdeckung, dass die Erkenntnisfähigkeit des Menschen auch außerhalb seiner evolutionären Nische funktioniert, scheint diesem Autor (ähnlich wie Zafiropulo 1976, S. 139) dafür zu sprechen, dass das Universum nach homogenen Gesetzen gebaut ist, die dem Menschen erkennbar sein sollen. 113 Vgl. Deghaye 1979, S. 140. 114 Vgl. Deghaye 1979, S. 153. 115 Vgl. Böhme 1619, S. 109: Der Apfelbiss ist Materieverfallenheit, und der Verlust des Paradieses ist selbst gewähltes vitium poenale. Hierzu vgl. auch Bonheim 1992, S. 132. 533 Prinzip näher als dem göttlichen, ohne freilich seinen Charakter als Bündelungspunkt der drei Prinzipien ganz zu verlieren. Deshalb wohnt in ihm auch weiterhin Gott als der Sohn. Diesem Sohn in ihm muss jedoch nun der Mensch die Geburt ermöglichen (analog zur Geburt Gottes in der oberen Natur), das heißt, der Mensch muss die Opazität der Materie durchbrechen und um das Leben in ihm kämpfen. Nur dann kann Gott sich und die Natur erkennen. 116 Das heißt auch: Der Mensch muss seine niedere, materielle Sinnlichkeit überwinden, um überhaupt der höheren Sinnlichkeit für die Selbsterkenntnis Gottes Raum zu schaffen. 117 Dies ist exemplarisch in Christus realisiert, der zugleich die Vielheit der menschlichen Spiegel in sich zu einer höheren Einheit zusammenführt und nun als Gestalt gewordener Gott sich selbst offenbar wird. Der einzelne Mensch muss sich ihm anverwandeln und in ihm bleiben, so dass die Einheit, die in der Zersplitterung der Menschheit verloren wurde, in Christus wieder gewonnen wird. 118 Dies geschieht durch einen äußerst asketisch interpretierten christlichen Lebenswandel und eine Nachfolge Christi. 119 Der Mensch ist so das Saitenspiel Gottes (und Christus ist auf die Erde gekommen, um das verstimmte Instrument wieder wohlklingend zu machen 120 ): In mir selber wird das Paradeis seyn; alles was GOtt der Vater hat und ist, das soll in mir erscheinen, als eine Form oder Bild der Göttlichen Welt Wesen; alle Farben, Kraft und Tugenden seiner ewigen Weisheit, sollen in und an mir, als an seinem Ebenbilde offenbar seyn, ich soll die Offenbarung der geistlichen Göttlichen Welt seyn, und ein Werckzeug des Geistes GOttes, darinnen Er mit Ihme selber, mit diesem Halle, der ich selber bin, als mit seiner Signatur spielet: Ich soll sein Instrument und Saitenspiel seines ausgesprochenen Wortes und Halles seyn; und nicht alleine ich, sondern alle meine Mit-Glieder in dem herrlichen zugerichteten Instrument GOttes; wir sind alle Saiten in seinem Freudenspiel; der Geist seines Mundes ists, der unsere Saiten seiner Stimme schläget. 121 Hier findet sich ein mögliches Vorbild für Saint-Martins oben zitierte Verse, nach denen der Mensch die Lyra Gottes sei. Die Stimme und der Klang sind für Böhme bereits in der ersten Entfaltung der Gottheit angelegt, in der sechsten Qualität, dem Schall, der sich sodann als Wort offenbart. Zugleich ist dieses Wort auch der Logos des Johannes-Prologs und damit selbst eine Kraft, welche die Sophia oder primordiale Natur gestaltet und formt. 122 Es kommt zunächst als unfasslicher Gottesname unergründlich aus dem Ungrund, gestaltet sich selber und tritt dann als fiat konkretisiert 116 Vgl. Deghaye 1979, S. 154-156. 117 Vgl. Bonheim 1992, S. 154-155. 118 Vgl. Böhme 1620, S. 261; vgl. auch Bonheim 1992, S. 157. 119 Vgl. Böhme 1620, S. 235ff. 120 Böhme 1622, S. 169-170 121 Böhme 1622, S. 169 122 Vgl. Böhme 1622, S. 38 und Bonheim 1992, S. 231. 534 ans Licht; es erfasst und formt sich selbst und alles außerhalb seiner. 123 Auch auf der Ebene des Wortes oder Schalles ereignet sich also eine Selbstzeugung der Gottheit, und auch diese hat das Sich-Offenbarwerden Gottes zum Ziel. Als Schöpfungslogos ist allerdings das Wort mit der Schöpfung verwoben und nicht von ihr zu trennen; die Signaturen Gottes sprechen unmittelbar aus den Dingen: „Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung.“ 124 Als Christus-Logos offenbart sich das Wort in Jesus Christus. Ebenso spricht es in den „Figuren“ der Schriftoffenbarung zu uns. 125 Die ganze Welt ist so gesehen Wort Gottes, und insofern ist auch Böhme ein Pansemiotiker. Aber noch radikaler und konsequenter als die Martinisten fasst er dieses Wort als Wirkkraft und nicht als fest gewordenes Zeichen. Es ist Aktivität, nicht Repräsentation eines Anderen. Es ist Bestandteil der Selbstzeugung und Selbstoffenbarung eines Schöpfers, der reine Energie ist und gar nicht als etwas Bedeutetes von einem abgetrennten Bedeutenden repräsentiert werden kann. Vielmehr zeugt er sich ja in ihm, kann also gar nicht außer ihm sein, es sei denn als unfasslicher Ungrund, der das Wort als Möglichkeit in sich enthält (aber natürlich auch nicht repräsentierbar ist). Die Panenergetik Böhmes macht aus dem Widerspruch der martinistischen Lehre eine Inklusion: Pansemiotik ist nicht anders denn als Teilaspekt der dynamischen Selbsthervorbringung Gottes zu denken. Die Aufgabe des Menschen bei der Offenbarung im Wort ist nun die, die Sprache der Signatur der Dinge in die hallende Sprache des menschlichen Wortes zu übersetzen, „dass er das verborgene Wort der Göttlichen Scientz wieder in Formungen und Schiedlichkeit ausspricht […] durch welches die verborgene Weisheit in ihrer Kraft erkant und verstanden wird.“ 126 Er muss also das implizite Wort der Schöpfung explizit machen und damit das Offenbarungsgeschehen weiter befördern, die Rede der Dinge auf die Ebene des Bewusstseins heben. Das Zukunftspotential dieser Konzeption namentlich für das neunzehnte Jahrhundert bedarf wohl keiner Erläuterung. Dies zu tun ist zunächst für Adam kein Problem, der die Dinge im Einklang mit ihren inneren Prinzipien benennt. Nach dem Fall aber geht dem Menschen erwartungsgemäß die Fähigkeit, das Wesen der Dinge im Wort unmittelbar zu treffen, verloren. Gegen den nun einsetzenden Sprachverfall setzt Gott die Verheißung und schließlich die Inkarnation. 127 Christus ist nun der wieder ausgesprochene Logos und zugleich „das (vorgelebte) 123 Vgl. Bonheim 1992, S. 232-233. 124 Böhme 1622, S. 7 125 Vgl. Bonheim 1992, S. 248. 126 Böhme 1623b, S. 2 127 Vgl. Böhme 1623b, S. 380 und S. 173; vgl. Bonheim 1992, S. 256-257 535 Wiederaussprechen.“ 128 Folgt der Mensch Christus nach, fügt er seinen Willen in den Willen Gottes ein, so kann er die Sprache Adams wieder erlangen und sich mit seinem Wort in den Fluss der Selbstoffenbarung der göttlichen Schaffenskraft wieder einfügen, wenn auch der paradiesische Urzustand nicht mehr erreicht werden wird. Dann wird der Mensch zum geistigen Gebärer, und das Wort fließt aus ihm mit der gleichen Quall, wie sie die göttliche Zeugung kennzeichnet. Die geistige Tätigkeit des Menschen, die Erkenntnis der Natur, die Beförderung der Werke des Geistes und das Lob Gottes im Wort sind die Werke, die es dem Geist Gottes ermöglichen, im Menschen zu sich selbst zu kommen. Der Weg von dieser frommen und phantastischen Konzeption zu Hegels ungleich strengerer Ausarbeitung solcher Motive ist nicht weit. Aber uns interessiert vor allem der Weg zu Saint-Martin: In der Konzeption der Schöpfung als Zeugung und hervorströmende Fülle, in der anspruchsvollen Gestaltung der Theodizee-Problematik und in der Auffassung des Menschen als Sensorium Gottes fand Saint-Martin wertvolle Anregungen. Besonders aber die Auffassung von der geistigen, vor allem sprachlichen Tätigkeit des Menschen als dynamische Zeugung, als Bestandteil der Selbsthervorbringung Gottes, konnte Saint-Martin einen Ausweg aus dem martinistischen Widerspruch zwischen der Statik der Repräsentation Gottes durch den Menschen als von jenem getrenntes Zeichen und der Eingliederung des menschlichen Tuns in den Fluss der Emanation suggerieren: Menschliche Sprache wird nun zu einem dynamischen Hervorbringen, das Gottes Werk weiterführen und die Natur wieder in den Fluss des geistigen Lebens eingliedern soll. 128 Bonheim 1992, S. 158 536 3. Die Sprache und die Sendung des Geistmenschen beim späten Saint-Martin Der Mythos Böhmes wurde vergleichsweise ausführlich (wenn auch immer noch simplifizierend) referiert, weil Saint-Martin seine Version desselben nie systematisch dargestellt hat. Böhmes Erzählung steht vor allem hinter den vielen einzelnen Artikeln von De l’esprit des choses; etwas ausführlicher zeichnet Le ministère de l’homme-esprit diese Lehre nach, verunklart sie aber auch wieder durch Restbestände des ursprünglichen martinistischen Mythos. Ohne den Hintergrund Böhmes sind jedenfalls die Spätwerke Saint- Martins genauso wenig verständlich wie seine früheren Werke es ohne denjenigen Martines de Pasquallys sind. Jacques-Chaquin (1979) geht davon aus, dass Saint-Martin insgesamt weitgehend auf den Hintergrundmythos Böhmes bezogen werden kann, wenn sie auch darin eher eine immer schon vorhandene Übereinstimmung denn eine Einflussnahme zu sehen scheint. 129 Insgesamt marginalisiert sie vielleicht etwas zu sehr die Tatsache, dass der frühe Saint-Martin aufgrund seiner stärkeren Anlehnung an Martines teils andere Positionen vertritt und sogar die Spätschriften diesbezüglich ambivalent sind - zumal noch in De l’esprit des choses (und, wie gesagt, in Ansätzen auch noch in Saint-Martins letztem Buch) die Vorstellung, die Welt sei als Gefängnis der gefallenen Engel geschaffen worden, mit derjenigen, sie sei Mittel der Selbsterkenntnis Gottes, auf widersprüchliche Weise verbunden wird. 130 Wir wollen allerdings diese (sehr vereinzelt auftretenden) Widersprüche auf der Ebene des Mythos hier nicht weiter verfolgen und uns lieber den interessanteren Problemen von Saint-Martins Weiterentwicklung der Theosophie Böhmes widmen. Immerhin kann man an dieser Ambivalenz seiner späten Texte sehen, dass das, was wir hier als „Wechsel des Hintergrundmythos“ bezeichnet haben, im Grunde nur eine Akzentverschiebung innerhalb einer Tradition ist - in diesem Falle, wie gesagt, vom Künden zum Preisen. Diese Akzentverschiebung freilich ermöglicht ein konsequenteres, weniger aporetisches Herausstellen des energetischen Aspekts der martinistischen Tradition. Ähnlich wie in anderen Berei- 129 Zu der Auffassung, das Werk Saint-Martins sei homogen und entwickle sich nur geringfügig, vgl. auch Jacques-Chaquin/ Becque 1972, S. 183 130 Selbst noch Le ministère de l’homme-esprit ist hier stellenweise ambivalent; vgl. etwa den zeichensetzenden Auftrag des Menschem gegenüber Satan, Saint-Martin 1802, S. 145, und die Natur als Gefängnis, ebenda S. 302. Böhme selbst hat ebenfalls beide Motive, löst den Widerspruch jedoch, indem er ihn wieder in eine (von der Saint- Martins verschiedene) mythische Filiation überführt: Bei ihm ist die Schöpfung zunächst Manifestation, dann, durch Luzifers Fall, Gefängnis, wobei die negativen Aspekte des Gefängnisses Effekte von Luzifers Manipulation sind. Zu dieser Klarheit kann sich Saint-Martin auch in seinen Spätschriften nicht durchringen. 537 chen des ‘klassischen’ Wissens wird auch hier der Energiebegriff, der eine Brücke zu einer neuen épistémè sein könnte, durch Verschiebungen innerhalb des bereits vorhandenen Systems freigesetzt. 3.1. Der Mensch als Spiegel An Saint-Martins Böhme-Adaption soll uns vor allem das Motiv der Spiegel interessieren. Die Ambivalenz von Ausstrahlung und Reflexion, die ihm eignet, wird darin in Anlehnung an Böhmes Konzeption produktiv gemacht, und zwar so, dass die beiden Gegensätze letztlich zusammenfallen (ohne dass dies allerdings als coincidentia oppositorum zum Thema gemacht würde). 3.1.1. Der Spiegel der Sophia und der ‘Spiegel der Natur’ Saint-Martin bleibt zwar bei dem Widerspruch zwischen dem in sich ruhenden und dem zeugenden Gott, betont aber die Produktivität Gottes nun polemisch gegenüber einer Theologie des ruhenden Seins und des Wesens Gottes. 131 Er bezieht die beiden Konzepte so aufeinander, dass aus der liebreizenden Harmonie des In-sich-Ruhens die Zeugung notwendig folgt, also auch noch die Ruhe des selbstgenügsamen Gottes zum Bestandteil der Dynamik des Zeugens wird: Le principe des choses est essentiellement bon, fixe et dans la plus attrayante harmonie: voilà pourquoi il ne peut pas se contempler sans s’aimer. On est également sûr que le principe des choses est nécessairement puissant et fécond, voilà pourquoi il ne peut pas s’aimer sans s’engendrer lui-même. 132 Die Verbindung der beiden Konzepte glückt durch die Vorstellung der Selbstanziehung des unwiderstehlich Perfekten. Aber nicht narzisstische Sterilität ist (zumindest in diesem Stadium) das Resultat, sondern Zeugung: Die Selbstliebe gebiert auch das Begehren, nach draußen zu wirken und sich zu entfalten. Weil Gott zu sich selbst strebt, strebt seine Schaffenskraft nach außen, und weil seine Schaffenskraft nach außen die Wunder der Schöpfung wirkt, strebt nun in einem weiteren Schritt auch alle Schöpfung liebend zu ihm hin. So setzt sich die liebende Selbstanschauung Gottes nach außen als nunmehr entfaltete Dialektik von Zu-Gott-Streben und Zeugen fort. Was vorher ein einziger Vorgang war, wird außerhalb der Gottheit zu den zwei 131 „[...] si les observateurs avaient ainsi considéré cette unité productrice dans son caractère d’émission actuelle et nécessaire, ils auraient retiré de plus grands avantages de leurs recherches sur l’Être divin et universel qui en résulte, qu’en voulant scruter de prime abord la nature de cet Être, comme ils le font, et cela en détournant avec soin leurs regards de son action, pendant que son action est peut-être toute sa nature.“ (Saint-Martin 1802, S. 133) 132 Saint-Martin 1800, I, S. 31 538 Bewegungsrichtungen auf der Kette der Wesen, auf die Lovejoy uns in Kapitel III hinwies. Aber diese beiden Bewegungsrichtungen sind, wie ihre gemeinsame Herkunft schon vermuten lässt, in gewisser Weise auch identisch. Der Mensch kommt aus dem Inneren der Selbstanschauung Gottes, wo dieser „dans l’enivrement de ses propres merveilles et de ses propres délices“ war, und deshalb nährt sich auch der Mensch von dieser „admiration,“ 133 die Gott ebenso wie alle seine Geschöpfe für diese Schaffenskraft haben. Der Mensch muss Gott bewundern, strebt also zu ihm zurück. Umgekehrt hat er aus dem gleichen Grunde seines Hervorgangs aus Gottes Innerem auch Teil an dem nach außen gehenden désir Gottes, das bei ihm in seiner höchsten Form als volonté in Erscheinung tritt. Paart er diese mit dem Willen Gottes, dann (und nur dann) ist auch dem Menschen die Möglichkeit gegeben, nicht nur zu Gott zu streben, sondern auch nach draußen in die Schöpfung hinein zu schaffen, „partager avec lui son œuvre.“ 134 Der Mensch ist also sowohl weiterstrahlender als auch reflektierender Spiegel. Auf eine ähnliche Art ist „toute la chaîne des êtres“ mit ihrem Prinzip verbunden. 135 Das Ergebnis ist eine „universelle affection“; diese „engendre continuellement son expression vive.“ 136 Die Zeugungskraft drückt sich in den gezeugten Dingen aus, ist Zeichenstiftung für sich selbst. Schaffen und Spiegel der Schaffenskraft konvergieren, weil Gegenstand des Schaffens nur immer neue Spiegel sind. Der gesamte Kreislauf ist Reflexion Gottes, und deshalb sind Abstrahlen und Zurückstrahlen eins. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, welche Folgen dies für die geistige Tätigkeit des Menschen im Einzelnen hat. Der Mensch ist deshalb besonders gehalten, dieses Ausdrucksgeschehen „dans l’ordre des manifestations et émanations“ 137 weiter zu tragen, weil die Natur allein Gott niemals ganz hätte manifestieren können. 138 Wir wollen seine Aufgabe als doppelseitiger Spiegel, der sowohl die Manifestation Gottes weiter nach außen trägt, als auch den Rückfluss aus den Spiegeln der Schöpfung bündelt, zunächst getrennt nach den beiden Spiegelseiten betrachten. Die erste Aufgabe macht ihn zum Gefäß des Hervorquellens, der Quall und Angst der Gottheit, die bei Saint-Martin als angoisse erscheint: Mais veux-tu apercevoir quel est le sublime objet de cette angoisse de la parole? Lorsque l’homme s’écoute bien attentivement, la vérité semble lui dire: Homme, je ne puis verser mes pleurs que dans ton sein. 133 Saint-Martin 1802, S. 137-138 134 Saint-Martin 1802, S. 138 135 Saint-Martin 1802, S. 139 136 Saint-Martin 1800, II, S. 183 137 Saint-Martin 1802, S. 148 138 Vgl. etwa Saint-Martin 1802, S. 14. 539 Ainsi donc le cœur de l’homme est choisi pour être le dépositaire de l’angoisse de Dieu, pour être son ami de prédilection […] il peut dire à son tour: des torrents de douleurs s'accumulent dans mes veines, et tout mon être se sent gonfler d’amertume; remercie alors, car c’est là le moment où la vie commence. 139 Der Mensch sammelt die quellende Angst als dépositaire, aber er ist nicht die Endlagerstätte, sondern dies ist eher so zu verstehen, dass die angestaute Angst sich nach einiger Zeit entladen muss: Dann beginnt das Leben; die Hervorhebung dieses Begriffs in Saint-Martins Text zeigt, dass es sich hier um einen emphatischen Lebensbegriff handelt: Es geht um die Weitergabe der angestauten Quell- und Qualkraft in einer geistigen Aktivität, die wir vorerst nur als parole fassen können; die Kapitel über das Urteil und über die Poesie werden sich Saint-Martins diesbezüglichen Vorstellungen konkreter zu nähern suchen. Diese parole muss nun aus dem Menschen hervorquellen, und zwar nicht in fest gewordenen konventionellen Sprachen, sondern in frei fließender Neuheit, denn „les paroles de l’angoisse sont toujours nouvelles.“ 140 Das ist das Handeln des Menschen auf der absteigenden Spiegelungskette. Aber nicht nur das Tun, auch das Sein des Menschen ist spiegelnd, und zwar in beiden Richtungen: Der Mensch strahlt als Spiegelwesen sowohl weiter hinaus als auch zurück. Die Zeichenhaftigkeit der menschlichen Geistgestalt ist expressiver Ausfluss und Realisation des göttlichen Prinzips, „les hommes étant l’expression des facultés du grand Principe“. 141 Auf der anderen Seite des Spiegels gibt es entgegengesetzt zu der Tätigkeit des Hinaustragens göttlichen Lichtes noch einmal eine zurückspiegelnde Aktion des Menschen. Hier ist das Tun des Menschen Rückmeldung im inneren Wort: Der Mensch erkennt sich selbst in den Bildern seines Denkens und hilft damit Gott, sich wiederum zu erkennen; ebenso verhält es sich mit unseren Kunstwerken, unserer Naturerkenntnis und dem Spiegel des Blickes, den andere Menschen auf uns werfen. Durch alles dies ist der Mensch ein Spiegel Gottes, „une image de sa propre génération“, ohne die dieser von sich als Zeugungskraft nichts erfahren würde: Il ne se connaît que dans Son produit et son résultat et Il tient Son propre centre éternellement enveloppé dans Son ineffable magisme […] 142 - Und dies nicht nur, weil er ohne die Spiegel in sein Geheimnis eingeschlossen bliebe, 143 sondern auch, weil er als pure Dynamik stets vor und 139 Saint-Martin 1802, S. 284 140 Saint-Martin 1802, S. 284 141 Saint-Martin 1782, II, S. 228; vgl. auch ebenda I, S. 58 142 Saint-Martin 1800, I, S. 45 143 „toutes ces merveilles de l’éternelle et indissoluble existence s’opèrent dans un secret si profond et si caché, qu’elles ne seraient connues du principe lui-même s’il n’avait près de lui des miroirs qui les lui réflechissent“ (Saint-Martin 1800 I, S. 32) 540 außer sich selbst bliebe, an nichts Festem sich bräche und sich selbst entglitte; […] que l’unité prédominante est entraînée dans son éternel courant, par l’ardeur de sa propre propagation; qu’ainsi, procédant toujours devant elle, n’agissant et n’existant que dans l’infini, elle ne rencontrerait rien là, qui reportât sa vie sur elle-même et qui, par là, lui fît apercevoir tous les traits de sa magnifique existence. 144 Die Notwendigkeit der Spiegel ist also nicht mehr nur durch das sich anders selbst undurchsichtige Geheimnis des Ungrundes gegeben, sondern durch die Dynamik der Schaffenskraft Gottes: Weil Gott reine Energie (und nicht statisches Sein) ist, kann er sich nur in einer Brechung dieser Energie erkennen. Der Lichtstrahl muss von etwas Festem zurückgeworfen werden, da er sich sonst stets selbst entflieht. Der Auftrag des Menschen, Spiegel zu sein, zu erkennen und Erkenntnis zu ermöglichen, ist so untrennbar mit der Energetik dieser Weltsicht verbunden. Erkenntnis ist nicht Bestandsaufnahme unveränderlichen Seins, sondern Rückfluss von Energie. Wir werden allerdings noch sehen, dass diese Konzeption selbst wiederum von einem Gegensatz zwischen Energie und Repräsentation durchzogen ist. Dies ist eine völlig andere Fassung des ‘Spiegels der Natur’ als bei den von Rorty untersuchten Schrifststellern. Dort war ja der Spiegel dem Menschen eingebaut und stand für eine Auffassung von Erkenntnis als möglichst genauer Darstellung. Zwei der entscheidenden Probleme dieser Konzeption waren die Schachtelung der Darstellungen (wenn in meinem Kopf ein kleines Männchen in den Spiegel der Natur sieht, so muss auch in dessen Kopf ein kleines Männchen in den Spiegel des Spiegels sehen und so fort) und die Überprüfung der Angemessenheit der Spiegelbilder (sie impliziert, dass der Mensch selbst, will er sich Rechenschaft über die Treue der Spiegelungen in sich geben, einen Gottesstandpunkt außerhalb des Spiegelverhältnisses einnehmen muss, um Original und Abbildung zu vergleichen). In der energetischen Fassung des Spiegelgeschehens treten diese Probleme nicht auf (wenn auch andere, wie wir sehen werden, an ihre Stelle treten): Nun muss der Mensch nicht in sich selbst Spiegelbilder überprüfen - er selbst ist der Spiegel, und da der Betrachter Gott ist, ist die Sache mit dem Gottesstandpunkt unproblematisch. Darüber hinaus ist jedoch der Gottesstandpunkt im gläubigen Menschen präsent: Der innere Christus gibt dem Menschen als Universalinterpretant tatsächlich eine Möglichkeit, an sich selbst (und nicht außerhalb seiner) die Erscheinungen der Natur zu überprüfen und den Gottesstandpunkt einzunehmen. Aber die Sünde des Menschen hat diesen Vorgang gestört. Der bei Saint-Martin ständig wiederkehrende Gedanke des menschlichen Sünden- 144 Saint-Martin 1800, I, S. 32 541 falls tritt auch in der Spiegelmotivik auf, und zwar als Blindwerden der Spiegel. Der Mensch hat sich gegen die Aktivität und das Leben des lebendigen Spiegelns entschieden und nimmt nun die Zweige für die Wurzeln, die Zeichen für die Dinge. 145 Das heißt: Sein Fall, der sich im martinistischen Mythos als Manipulation der Sekundärsubstanzen anstelle einer Zeugung von Ideen mit Gott darstellte, hat nun unter dem Einfluss Böhmes auch eine erkenntnistheoretische Seite: Die Attraktion des sekundären Spiegels, nämlich der physischen Natur, über die der Mensch hätte geistig herrschen sollen, hat die Aufmerksamkeit des Menschen, der der primäre Spiegel ist, absorbiert. Jacques-Chaquin fasst die fragliche Passage im Esprit des choses besonders klar: „l’homme se détourne de son modèle et s'absorbe dans la contemplation du miroir secondaire, la Nature. Il se laisse hypnotiser par ce qui ne devait être que son instrument […] “ 146 (Dass der Mensch sich in diesen ‘Spiegel der Natur’ verliert, ist wiederum eines der zentralen Motive des Poimandres und insofern hermetische Tradition. 147 ) Wir haben es hier also mit einer Richtungsänderung des Spiegelvorgangs zu tun: Konnte vorher Gott die Spiegelung seiner Schaffenskraft in der Mannigfaltigkeit der Schöpfung durch den ihm zugewandten Spiegel des Menschen gebündelt betrachten, so wendet sich der Mensch nun seinerseits von Gott ab und wird zum ‘Spiegel der Natur’ im Sinne Rortys: Er versucht, die materielle Natur als solche zu erfassen und wird selbst zum Adressaten der Darstellung. Dadurch wird er für Gott zum blinden Spiegel und (da er den Gottesstandpunkt verliert) sich selbst undurchsichtig. Was für die materialistische Naturwissenschaft nur ein erkenntnistheoretisches Problem ist, wird bei Saint-Martin zur Sünde. (Wir haben schon gesehen, dass für ihn Irrtum nicht moralisch neutral ist.) Umgekehrt könnte man jedoch auch sagen: Die Spiegel-Auffassung der nachcartesianischen Naturbetrachtung ist für Saint-Martin ein Sündenfall, und sein Mythos der Spiegelkette vor dem Fall des Menschen ist eine Utopie, die auf die Aporien dieser erkenntnistheoretischen Verirrung zu antworten sucht. Der Wegfall des Spiegels des Menschen affiziert nun die ganze Spiegelkette: 145 Saint-Martin 1990, S. 182 146 Jacques-Chaquin 1979, S. 317; vgl. Saint-Martin 1800, I, S. 49 147 Vgl. „Poimandres“ in: Sloterdijk 1993, S. 161-162. Dort sieht der Mensch von außerhalb der materiellen Welt in die Natur hinab. Diese schaut ihn liebend an (weil er seine Gestalt vom guten Gott hat und daher schön ist) und spiegelt ihn dadurch, und der Mensch verliebt sich nun narzisstisch in sein eigenes Bild, von dem er so angezogen wird, dass er in die materielle Natur hinein fällt. Auch hier ist also die Anziehung, die von der materiellen Natur ausgeht, illusorisch, denn es ist ja in Wirklichkeit sein eigenes Bild, das den Menschen bezaubert. 542 Ce miroir de l’homme, en se ternissant, devait rompre la chaîne de tous les miroirs qui se trouvaient après lui et les rendre ternes à leur tour. 148 Aber nicht nur „après lui“ hat dies Konsequenzen, sondern auch für die oberen Wesen. Seit dem Fall der Natur können auch die Engel Gott nur noch im Sohn, aber nicht mehr in der Natur erkennen. Diese ist nämlich opak geworden und hat sich (dies ist ein bemerkenswerter Gedanke) aufgrund ihrer Zusammenziehung der Unerkennbarkeit des Vaters angenähert, „est bien plus rapprochée du père que du fils, par la concentration qu’elle a éprouvée.“ 149 Die Unfasslichkeit, die den nur negativ (bzw. überhaupt nicht) prädizierbaren Ungrund auszeichnete, kommt also hier in malum als Spur der Sünde, als Konzentration, zurück. Dadurch, dass Saint- Martin jedoch hier das Nichts der Kontraktion durch den Vergleich mit dem Vater dem Nichts des Ungrundes nähert, verändern sich die Verhältnisse, die wir bei Martines de Pasqually fanden. Dort lagen ja die einzelnen Konkretisationsstufen von der vollkommenen Virtualität des stofflosen Geistes, der noch alle Möglichkeiten hat, über die feinstoffliche Schöpfung und die grobstoffliche Natur bis zum Bösen auf einer Skala der Zusammenziehung. Das eigentlich Substanzhafte war der pure Geist in unendlicher Dilatation, das Nichtige war das materiell Zusammengezogene und am Ende das Böse. Bei Böhme war eine erste Kontraktion die Bedingung dafür, dass der Ungrund, der hier selbst (aufgrund der von Böhme verarbeiteten Tradition der negativen Theologie) Konnotationen des Nichts hat, überhaupt zu einem positiv prädizierbaren Wesen wird; der Fall Luzifers zog dessen Materialisierung und Negativierung nach sich und verschob sozusagen den Begriff des Nichts auf die Vorstellung der Versteinerung, die auch bei Martines, bei Fournié und beim frühen Saint-Martin den Hintergrund für den Begriff des Nichts bereitstellt. Der späte Saint-Martin entwickelt nun Böhme dahin gehend, dass das Nichts der Vergröberung und das Nichts des Ungrundes analog werden. Die Negativität des Ungrundes liegt damit nicht mehr in seiner mangelnden Kontraktion, sondern umgekehrt in so etwas wie einer (natürlich immer bildhaft zu verstehenden) konzentrierten Punkthaftigkeit oder einem äußersten Rückzug (die Punkthaftigkeit des unendlich Unausgedehnten kann natürlich einem Wesen, über das nichts gesagt werden kann, ebenso berechtigt oder unberechtigt zugeschrieben werden wie unendliche Ausdehnung). 150 Das göttliche Nichts vor aller Konkretisation ist nun dem 148 Saint-Martin 1800, I, S. 46 149 Saint-Martin 1802, S. 54 - der Sohn schließlich kann sich wiederum nicht in der Natur, sondern nur im Herzen des Menschen erkennen (ebenda). 150 Diese Vorstellungen sind natürlich ebenfalls traditionell und spielen sogar bei Böhme eine gewisse Rolle. So klar sind die Schnitte in der hier behandelten Vorstellungswelt nicht. Es geht uns nur darum, die Parallele zwischen der Trübung und ontologischen Erniedrigung der Natur und der Unerkennbarkeit und Negativität des Ungrundes, 543 versteinerten Nichtigen der grobstofflichen Welt vergleichbar, und beide Kontraktionen treten in die Assoziationsreihe der Gefährdung und des Verderbens ein, die bei Saint-Martin an dieser Konzeption hängt. Gerät damit am Ende Gott selbst durch den Fall des Menschen in Gefahr? Wir werden sehen, dass sich dies in der Tat als äußerste Konsequenz aus der Trübung der Spiegel ergibt. Die Verdunklung der Natur hindert nämlich auch die Gottheit daran, sich in ihr zu erkennen; Gott versinkt in Selbstbetrachtung. Der Mensch muss Gott nun aus seinem Rückzug auf sich selbst herausreißen, „le soustraire à cette sorte de narcissisme absolu auquel le voue la chute de l’homme et lui permettre de se mieux connaître en retrouvant l’autre,“ 151 wie Jacques-Chaquin es treffend zusammenfasst. Nun also kommt der Narzissmus, der in dem Bild der sich selbst liebend begattenden Gottheit am Anfang der Weltwerdung keinen Platz hatte, zum Tragen. Der Mensch muss um der Natur, um seiner selbst und um seines Gottes willen, l’arracher en quelque sorte à l’impérieux et attachant attrait qui l’entraîne éternellement vers lui-même […] C’est enfin d’attirer ses regards divins sur cette nature extralignée et ténébreuse, afin que par leur pouvoir vivifiant, ils lui rendent son ancien éclat. 152 Dies geschieht durch Gebet und erkennendes Rückbinden der Natur an ihr göttliches Prinzip im Wort (eine Annäherung daran, was dies heißen könnte, folgt in den nächsten Kapiteln). Die Vergeistigung der Natur durch die Freilegung der Sophia hinter der Materie ist einerseits Bedingung für die Wirksamkeit des Gebets des Menschen, andererseits aber auch der in dem Gebet noch zu äußernde Wunsch, denn dieser Zustand würde ja wieder hergestellt, wenn Gott seinen Leben gebenden Blick wieder auf sie richten würde - was aber erst geschieht, wenn er sich und damit die Sophia wieder in der aktuellen Natur erkennt. Dies erscheint als fast undurchführbarer dialektischer Prozess ineinander greifender Beiträge Gottes und des Menschen. 153 Die Überwindung dieser Aporie gelingt durch den inneren Christus, der den in der Gestalt des Menschen liegenden Schlüssel zur Natur restauriert hat: Notre tâche serait donc, depuis l’époque où Adam a été retiré du précipice où il était tombé, de découvrir par tous nos moyens possibles, les merveilles éternelles du père, manifestées dans la nature visible; et cela nous e[s]t d’autant plus wie sie in dem Gedanken Saint-Martins erscheint, herauszuarbeiten. Es handelt sich ohnehin um Vergleiche. Beide Autoren würden vermutlich mit Descartes annehmen, dass der Geist (und mithin Gott) nicht im irdischen Sinne ausgedehnt ist. Zu diesen Problemen vgl. insbesondere Mahnke 1937. 151 Jacques-Chaquin 1979, S. 331 152 Saint-Martin 1802, S. 49. Das heißt auch, dass Christi Mission nur dem Menschen einen Weg gezeigt hat; die Natur blieb unerlöst. 153 Vgl. auch Saint-Martin 1802, S. 391 und 393 544 possible, que le fils qui les contient toutes, et qui les ouvre toutes, nous les a rendues en incorporant nos premiers parents dans la forme naturelle que nous portons aujourd’hui, et qu’il en a apporté la clef avec lui quand il s’est fait semblable à nous. 154 Hier zeigt sich das Christus-Ereignis wieder als Explizit-Machen eines Zeichenbezugs. Auch das Gebet, das der Natur ihre parole zurückgeben soll, aber dazu auch schon selbst Anteil an der parole haben muss, steht im Zeichen des Christus-Logos. Saint-Martin interpretiert demgemäß Christi Wort: Et quodcumque petieritis in nomine meo hoc faciam 155 in dem Sinne, dass nicht Christus als Person, sondern als parole, als Logos, derjenige ist, der alles beim Vater erbitten wird, um was auch immer in seinem Namen gebeten wird: je le [sc.: l’homme] vois prendre confiance dans la parole qui lui a tout promis, pourvu qu’il demandât tout en son nom […] 156 Der Logos als Wort muss das Gebet beleben und durchdringen, damit das Gebet zum Vater dringt. Das im Text darauf tatsächlich folgende Gebet darum, dass der Vater sich wieder der Schöpfung zuwenden wolle, zeigt uns auch, inwiefern in der Tat Gott selbst durch die Trübung der Spiegel gefährdet ist. Der Mensch, der in sich das geistige Wort nicht leben lässt und die Atmosphäre mit seiner toten Rede vergiftet, 157 tötet seinen inneren Christus, der im Herzen des Menschen lebt. Damit ist Gott auch als Vater gefährdet, der nur im Menschen zu sich kommt; er lebt ja nur in seiner Zeugung und kann diese nur in der Erkenntnis seiner Zeugungskraft im Spiegel des Menschen ausleben. Der Vater muss also nun sich selbst und dem Sohne zu Hilfe eilen, und sein Erbarmen, um das der Mensch betet, soll letztlich Gott selbst zu Gute kommen: Hélas! Viens toi-même au secours de ton propre cœur et de ta propre parole, et par pitié pour toi, viens épargner aux hommes un déïcide; car celui qu’ils veulent commettre est mille fois plus criminel que celui que le peuple juif a commis sur le corps matériel de ton Christ. 158 Mensch und Gott werden so zur Einheit. Sie sitzen gewissermaßen im gleichen Boot, und aus dem personalen Dialogverhältnis wird wieder ein Selbstumgang. Dies ist aber durchaus plausibel vor dem Hintergrund der 154 Saint-Martin 1802, S. 54. Naturerkenntnis ist so nicht autonom, sondern im guten Falle göttlich inspiriert. Dies ist auch bei anderen Naturmystikern der Fall, etwa bei Paracelsus und Johannes Baptista Van Helmont, vgl. Pagel 1979b, S. 210. 155 Johannes 14, 13-16 156 Saint-Martin 1802, S. 394 157 „Nous remplissons de nos paroles mortes ou mortifères l’atmosphère...“ (Saint- Martin 1802, S. 120) 158 Saint-Martin 1802, S. 399 545 Kabbala. Die Katastrophe der oberen Welt betraf dort ja den Leib Gottes selbst, und die Erlösung besteht in der Wiederherstellung von dessen Integrität. Die Erlösung des Einzelnen ist dort nur ein Aspekt der Rettung des Ganzen. 159 Dass das Leben Gottes jedoch nun an seiner Selbstreflexion hängt, und dass die Not des Zeugungs- und Erkenntnisprozesses letztlich (und natürlich entgegen den sonstigen diesbezüglichen Aussagen Saint-Martins 160 ) das unhinterfragbare Sein des Ewigen gefährdet, ist eine bemerkenswerte Zuspitzung der Vorstellung vom überfließenden Gott, der nicht anders kann als zeugen. Nicht nur der energetische, prozesshafte Aspekt der Tradition der Spiegel ist damit im Einklang mit den im Einzelnen anders ausgerichteten Energie-Spielzügen der Zeitgenossen Saint-Martins besonders hervorgehoben. In der Betonung der Erkenntnis (zumindest seiner selbst), die Gott hier zur Existenzfrage wird, ist auch die besondere Ausrichtung des ‘klassischen’ Zeitalters auf Erkenntnisfragen präsent. Schließlich ist Saint-Martins Utopie der ungefallenen Spiegel (und seine Verdammung der bloß für sich selbst darstellenden), wie wir sahen, als Antwort auf die erkenntnistheoretischen Aporien des ‘Spiegels der Natur’ lesbar - ob eine im Sinne unserer heutigen Perspektive theoretisch reflektierte Antwort oder eine sozusagen ‘poetische’ Entgegnung, können wir nicht entscheiden, und davon hängt wohl auch der literarische Wert dieser Antwort nicht ab. 3.1.2. Das Urteil als Begehren Nicole Jacques-Chaquin hat herausgearbeitet, dass das Blindwerden der Spiegel bei Saint-Martin zu einer bemerkenswert poetischen Konzeption einer von „voiles et prestiges“ durchwobenen Welt führt, deren Inkonstanz und Unerkennbarkeit den von ihr hypnotisiserten Menschen daran hindert, zu dem Erkenntnisauftrag zurückzufinden, von dem er sich durch solch faszinierte Hingabe an die täuschende Oberfläche der Natur abgewendet hat. Diese „poésie du trouble, du vague […] , double expression d’un sujet incertain de lui-même et du monde, livré aux prestiges de „l’ex- 159 Vgl. Brumlik 1992, S. 234 160 Dass Gott absolutes Sein vor allem Sein und Ewigkeit zukommt, betont Saint-Martin immer wieder, etwa am Anfang von Des erreurs et de la vérité oder in dem eingangs dieses Kapitels zitierten Absatz Saint-Martin 1800, I, S. 31. Die Zuspitzung der Aussagen am Ende des Ministère de l’homme-esprit ist also wohl nicht als antiorthodoxe theologische Behauptung zu verstehen, sondern eher als dringlicher Appell. Aber eben die Hintergründe dieser Dringlichkeit und die Konsequenzen der referierten Formulierungen stellen der ‘offiziellen’ Gotteslehre Saint-Martins diesen zweiten subkutanen Zug gegenüber - ob aufgrund der Natur der Sprache als eines widersprüchlichen Systems oder aus anderen Gründen, muss uns hier nicht interessieren, da dies nicht unser Thema ist. 546 terne“ et aux fantasmes intérieurs“ 161 und die damit einhergehende Abwertung der nur diese täuschende Oberfläche betrachtenden zeitgenössischen Naturwissenschaft begegnete uns bereits in Kapitel I, 3.2. Man könnte sie als eine bemerkenswerte Episode auf einem möglichen Weg von Platons Misstrauen gegenüber einer Wissenschaft von den Erscheinungen der Welt des Werdens und der etwa von Wehr (1997) beschriebenen Verunsicherung gegenüber Außen- und Innenwelt in der frühromantischen Phantastik lesen, die man als Antwort auf die Aporien der nachkantianischen Erkenntnistheorie verstehen kann. Aber Saint-Martin bleibt nicht bei diesem Entgleiten der Welt stehen, sondern er macht es dem Menschen ja gerade zur Aufgabe, die Natur wieder zu durchschauen und auch in seinem Wirken durch das Wort wieder durchschaubar zu machen. Es gilt nun, so weit dies überhaupt möglich ist, die phantastischen Beschreibungen des ‘magischen’ lebendigen Wortes, durch das und in dem Saint-Martins Geistmensch seine Sendung gegenüber der Natur und letztlich Gott erfüllen soll, in nicht theosophischer Sprache zu interpretieren und zu füllen. 162 Saint-Martin zitiert in seiner Darstellung der Zeichentheorie im Crocodile Newtons Aussage, die Natur sei das Sensorium Gottes. Aber mit Böhme weiß er, dass die Natur alleine dazu nicht genügt, dass der Mensch bei der Selbsterkenntnis Gottes in der Schöpfung eine entscheidende Rolle spielt. Die Verbindung zwischen Gott und der Natur wird nach Saint-Martin durch die menschliche Urteilskraft hergestellt. Foucaults Aussage über das ‘klassische’ Zeitalter, „la raison occidentale entre dans l’âge du jugement,“ 163 erhält bei Saint-Martin mit dem von Newton und Böhme übernommenen traditionellen Motiv des sensorium Dei eine besondere theosophische Erfüllung - und die Position des Menschen als officina omnium im Sinne von Maximus Confessor (vgl. unsere E INLEITUNG ) erfährt insofern eine erkenntnistheoretische Präzisierung. […] c’est par le privilège éminent de son jugement, que l’homme rapproche, confronte et associe le monde visible avec le monde invisible […] c’est là son occupation journalière […] 164 Die Natur wäre für sich genommen stumm; sie könnte nicht für Gott zeugen und niemand vermöchte in ihr zu lesen ohne die spezifisch menschliche Aktivität des Urteils. Ja der Mensch könnte, so Saint-Martin, nicht einmal, wie Malebranche meint, die Ideen in Gott schauen, wenn diese Ideen 161 Jacques-Chaquin 1988, S. 251-252 162 Vgl. hierzu auch die erhellenden Ausführungen von Jacques-Chaquin 1981, die allerdings ein wenig zu Höhenflügen neigen, denen wir nur teilweise zu folgen vermögen. 163 Foucault 1966, S. 75 164 Saint-Martin 1990, S. 191 547 nicht durch „le travail de l’homme“ Gestalt, Körper, annähmen. 165 Es geht also nicht um Erkenntnis als Schau, sondern als Arbeit. Diese Arbeit findet zwischen zwei einander analogen Wesen statt, denn sie wird ermöglicht durch die Analogie zwischen den Modifikationen der menschlichen Sinne und den Modifikationen des „sujet commun“ der Natur: 166 So wie unser Sensorium durch die Einheit unserer Person gebunden ist, so sind die vielen Einzeldinge, die wir in der Natur damit erkennen, nur Modifikationen eines einheitlichen Natursubjektes. Die Geistnatur (und ihre grobstoffliche Entstellung) ist also analoges Gegenüber des Menschen. Der Mikrokosmos-Gedanke erfährt hier eine erkenntnistheoretische Präzision durch eine Verbindung mit dem Motiv der Liebe zur Sophia. Die in der gefallenen Natur zerstreuten Spuren der Sophia in der Synthese seines Urteils zu sammeln, ist die Aufgabe des Menschen. Er muss die verschiedenartigen Modifikationen der einen Natur nach ihren fünf Klassen in seinen fünf Sinnen erfassen und in seinem Urteil für Gottes Erkenntnis bündeln und zurichten. 167 Im Sinne des Buches der Weisheit könnte man auch sagen: Er muss seine Geliebte erkennen, und dies geschieht, wie wir sehen werden, durch Begehren. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist demnach bei Saint-Martin genau umgekehrt wie bei Condillac: Für Saint-Martin ist die Natur nicht das große Ganze, in dessen Abläufe er sich zu schicken hat; diese Funktion hat bei ihm der Christus-Logos. Sie ist auch nicht die Dienerin, die der Mensch ausnutzen darf. Vielmehr ist die Natur entweder so etwas wie die gefallene kleine (aber doch erstgeborene) Schwester (wir erinnern uns der Gegenläufigkeit von Erstgeburt und Erstgeburtsrecht bei Martines de Pasqually), für die der Mensch zu sorgen und die er zu heilen hat - oder eben in obigem Sinne eine erkrankte Geliebte. Der Mensch fügt sich nicht passiv in die Abläufe einer alles umgreifenden Natur, sondern muss in der Aktivität des désir die leidende Natur zu sich selbst und damit zum Schöpfer zurückbringen. Mit dem désir sind wir bei der besonderen Natur des hier eine zentrale Rolle spielenden Urteilsaktes angelangt und nähern uns damit einer Explikation der Aufgaben des homme de désir, die wir am Ende von Kapitel I, 3.3.4. aufschieben mussten. Das begehrende Urteil des Menschen ist für Saint-Martin ein Abglanz von Gottes erkennendem und entwerfendem Begehren im Sinne Böhmes. Sowohl die Wiederherstellung der verfallenen Zeichenhaftigkeit wie die (prälapsarische oder künfige) Weiterführung der Rede der Natur geschieht nämlich als aktive Entwicklung eines keimhaf- 165 Saint-Martin 1990, S. 194 166 Saint-Martin 1990, S. 188f. 167 Saint-Martin 1990, S. 188 548 ten 168 désir im Menschen, als begehrende Synthese oder Produktion, die zugleich auch die wahre Funktionsweise jeder Sprache ist. Die Sprache wird, so Saint-Martin, vor allem deshalb verkannt, weil die Methode der modernen Philosophie die Synthese missachtet und statt dessen, etwa bei Condillac, von der Analyse ausgeht. Ein Sinneseindruck wird dort mit Zeichen in eine Linearität überführt; die Zerlegung der Kette in einzelne Zeichen analysiert die Idee, und dies führt zu der sensualistischen Fehleinschätzung, die Ideen seien von den Zeichen abhängig. Ginge man aber von der Produktion, von der Synthese und vom Leben aus, so müsste man nach Saint-Martin zugeben, dass die lebendigen geistigen Ideen die Zeichen nach sich ziehen und nicht umgekehrt. Die Natur macht uns dies in ihren Produktionen, im Wachstum der Keime, vor. 169 Condillac a donc abusé du droit de conclure, quand dans son zèle pour la vérité, il a voulu étendre sur la synthèse une proscription générale, et punir ainsi la nature de la maladresse des mortels. 170 Selbst noch die Algebra, die angeblich den anderen Disziplinen die analytische Vorgehensweise vorgibt, müsste man eigentlich als Folge von Synthesen und nicht von Analysen begreifen 171 - wir sahen einen solchen Versuch in der mythischen Mathematik der Martinisten. Die Idee ist für Saint- Martin nicht Bestandteil einer gegebenen Wahrnehmung, der durch analytische Operationen isoliert werden kann, sondern ein Keim; sein Ziel ist „de se manifester, c’est de remplir de son sens et de son esprit tout ce qui est capable d’en recevoir la communication.“ 172 Das Zeichen ist dabei durchaus in einem ähnlichen Sinne wichtig wie für die Ideologen; Saint- Martin stimmt ihnen darin zu, dass wir in unserem gefallenen Stand die Ideen nicht ohne die Zeichen zu entwickeln vermögen. Aber er fasst dies so auf, dass wir mit ihnen bereits vorhandene Keime zur Entfaltung bringen: Quel est au contraire l’objet du signe? c’est de pénétrer par sa réaction jusqu’au germe de l’idée, et de la développer, comme les sucs de la terre réactionnent et développent la plante […] 173 Das ist ganz nah an einer Formulierung Condillacs: 168 Der Vergleich des menschlichen Denkens mit einem Keimungsprozess ist, wie Faivre 1986, S. 63, betont, ein altes esoterisches Motiv, das sich bereits in Macrobius’ In Somnium Scipionis findet, wo die menschliche Intelligenz wie die der (als regierende Intelligenzen betrachteten) Sterne von Gott abgeleitet wird, und wie die Sterne das Keimen der Pflanzen und die Fermentation des Brotes steuern, steuern sie auch das Keimen der menschlichen Gedanken. 169 Saint-Martin 1990, S. 181 170 Saint-Martin 1990, S. 182 171 Saint-Martin 1990, S. 182 172 Saint-Martin 1990, S. 184 173 Saint-Martin 1990, S. 184 549 […] je suis convaincu que l’usage des signes est le principe qui développe le germe de toutes nos idées. 174 Wie ist nun Saint-Martins Aussage, das Zeichen entfalte den Keim der Idee, von der Vorstellung der Condillacs und der Ideologen zu unterscheiden, die Ideen würden durch die Zeichen erst ausdifferenziert? Saint-Martin gibt uns ein Gleichnis, auf das wir bei unserer ersten Begegnung mit dem homme de désir bereits einen Blick warfen und an Hand dessen wir dies nun ein Stück weit klären können. Allem vorausgesetzt ist ein im Menschen angelegtes Begehren. Dieses désir treibt ihn dazu, die Zeichenhaftigkeit der Dinge überhaupt erst zu realisieren: Un homme desire d’avoir un vêtement pour se garantir de l’incommodité du froid; à ce desir, quand il est converti en résolution, succède l’idée ou le plan du vêtement; ensuite le vêtement arrive, et procure à celui qui l’a desiré toute la jouissance qu’il se proposoit. 175 Der Mensch trägt in sich ein désir (nach Wärme), mit dessen Hilfe er (dies erhellt aus dem Kontext) den Mantel zum Zeichen einer Idee machen kann. 176 Er kann durch sein Begehren die Idee der Kleidung, die ihm nicht eingeboren ist, aus der ihm keimhaft dargebotenen ‘Intelligenz’ anhand des diese transportierenden Zeichens ‘Mantel’ entwickeln und damit zugleich auch das Zeichen überhaupt erst richtig zu einem solchen machen: „Nous y voyons que la source primitive de toutes les espèces de signes est le desir.“ 177 Das désir stiftet das Zeichen und entfaltet die Idee, die sich so aneinander entwickeln. Der Mantel wird dadurch erst sprechend und geistig - vorher ist er ein totes Stück Stoff oder ein Bild von einem sochen. Das Begehren und der geistige Keim, der zu der Bekleidungsidee wird und damit den Mantel überhaupt erst mit Sinn erfüllt, sind die realen Elemente in diesem Vorgang, der stoffliche Mantel ist bloßer Schein. Die Bedeutung des Naturzeichens, die durch das Sehnen des Menschen erst eigentlich gebildet wird, ist ihm also nicht immer schon aufgeschrieben wie in einer épistémè der Ähnlichkeit. Zugleich wird aber auch die Idee mit Hilfe des Zeichens entwickelt. Das désir gestaltet so die geistige Welt, schafft sie mit, anstatt sie lediglich zu erfassen. 178 Andererseits schafft der Mensch jedoch keine Ideen neu; Saint-Martin verwahrt sich gegen „la prétention de ceux qui veulent nous enseigner, soi-disant, à faire des idées.“ 179 Er zieht sie aus Keimen, die ihm gegeben werden. Und das heißt auch: die 174 Condillac 1746, S. 10 175 Saint-Martin 1990, S. 177 176 Vgl. zu diesem Beispiel auch die an Lacan geschulte Lektüre von Bellemin-Noël 1979, S. 40f., bei der sich allerdings die Besonderheiten der Konzeption Saint-Martins im allgemein Menschlichen (der Psychoanalyse) zu verflüchtigen drohen. 177 Saint-Martin 1990, S. 177 178 Saint-Martin 1990, S. 180 179 Saint-Martin 1990, S. 193 550 Idee ist nicht lediglich zu entdecken, und sie ist nicht der Endpunkt der Arbeit. Vielmehr muss sie durch das Begehren so weiter entwickelt werden, dass aus ihr wie ein Blitz eine „jouissance“ ein „sentiment ou une affection qui remplit toute notre existence“ heraus schießt (im Falle des Beispiels: die Freude am Mantel) und uns mit der Liebe zu Gott durchwärmt und durchleuchtet - oder erleuchtet. 180 Illuminiert im Sinne Saint- Martins ist man also nicht, wenn man etwas erkannt hat, sondern wenn man von der Gottesliebe in der Arbeit an den Zeichen und Ideen ergriffen wird. Diese Rückmeldung ist die Grundlage der Selbsterkenntnis Gottes im Spiegel des Menschen. Als Entwicklung von Ideen ist Zeichenlesen so nicht bloße Zuordnung, sondern Dynamik: Die Zeichen „viennent à agir sur nous et à nous réactionner,“ 181 die Ideen werden zur Affektion entwickelt, Zeichen und Ideen sind ständig in Bewegungen des Aufstiegs und des Abstiegs auf der „grande échelle qui sert de moyen de correspondance universelle parmi tous les êtres“ 182 - wobei in der Region der höchsten Geister Zeichen und Ideen zusammenfallen, also keine Form von Sprache mehr nötig ist. Zeichenlesen und Entwickeln von Ideen sind aber vor allem emotionale Reaktion auf die Zeichen der Natur. Dies werden wir im Kapitel zur Poesie weiter führen. Vorher aber gilt es noch, wie angekündigt Saint-Martins Vorstellung vom Zeichengebrauch mit dem der Ideologen zu vergleichen. Die Vorstellung, dass Zeichen und Ideen sich aneinander ausdifferenzieren, haben Saint-Martin und Condillac gemeinsam. Saint-Martin setzt sich jedoch vor allem in zwei Aspekten von der sensualistischen Beschreibung des Vorgangs ab. Der eine Unterschied ist, wie wir wissen, in der ontologischen Gewichtung der einzelnen Elemente (Ding, Idee und Zeichen) zu sehen. Der zweite Unterschied liegt darin, dass in einer sensualistischen Version der Wunsch sich quasi mechanisch aus der Abwesenheitserfahrung einer vorher anwesenden Wärme entwickeln würde. Die Beraubung um diese, die Differenzerfahrung, sowie das innere oder äußere Bild eines wiederum in der Erinnerung mit der Wahrnehmung ‘Wärme’ assoziierten Mantels würde dann allerdings ebenfalls zu einer Entwicklung der Bekleidungsidee im Zeichen des Mantels führen. Bei Saint-Martin hingegen ist das désir die Grundenergie des Menschen, die sich zwar ebenfalls auf eine Differenz, aber eine solche vor aller Zeit zurückführen lässt. Wir sahen schon bei unserer Untersuchung des désir in Kapitel I, 3.3.4., dass der Mensch durch seine Trennung von Gott diese Grundenergie hat, die ihn nach dem ihm analogen anderen Teil einer verlorenen Totalität suchen lässt und sein désir demjenigen Gottes analog macht. 183 Das Begehren ist der Motor der Welt- 180 Saint-Martin 1990, S. 232 181 Saint-Martin 1990, S. 177 182 Saint-Martin 1990, S. 205 183 Vgl. Saint-Martin 1802, S. 351 551 deutung, aber auch der Weltwerdung, denn auch Gott schafft die Welt in einer Dialektik von Imagination und Begehren, Entwurf und Erkenntnis. Schließlich ist der Mensch selbst ein désir des Schöpfers und zugleich durch sein eigenes désir Instrument der Durchdringung der Schöpfung durch den sie liebend anschauenden Schöpfer: Radicalement, l’homme n’est qu’un désir de Dieu […] c’est une vérité fondamentale que chaque désir porte avec lui son industrie ou sa sagesse […] Dieu aime et pénètre éternellement dans l’éternelle sagesse, qui est le véritable esprit des choses. 184 Gott schafft in liebender Imagination und Penetration (Liebe und Erkenntnis begegnen sich in diesem Begriff) jene Sophia oder Weisheit, die als „esprit des choses“ oder Geistschöpfung hinter den Dingen dem Buch Saint- Martins, aus dem wir zitierten, seinen Titel gibt. Er drückt sein désir in ihr und im Menschen aus: Homme […] , observe […] que ton âme est une expression continuelle du désir de Dieu; observe que Dieu ne peut être un instant sans désirer quelque chose, et que Dieu ne doit pas avoir un désir que tu ne puisses connaître, puisque tu devrais les manifester tous. Tâche donc d’étudier continuellement les désirs de Dieu […] 185 Und genau deshalb muss der Mensch (wie Salomo im Buch der Weisheit) ebenfalls die Geistnatur liebend durchdringen, „pour que nous arrivions à connaître son (sc.: de Dieu) vrai désir et à le propager“: Der Mensch ist selbst eine liebende Imagination von Gottes Begehren und muss dieses Begehren, indem er es in der Natur liest, weiter führen, bis in seinem eigenen Bewusstsein (als Ort des Urteils), vor allem aber in seinem affizierten Herzen die Einheit von Schöpfer und Schöpfung wieder hergestellt ist, der Schöpfer sich also selbst erkennt. Dabei ist der Mensch gehalten, durch seine „parole magique“ die Schöpfung noch zu vervollkommnen, „de produire l’harmonie, de répandre autour de lui toutes sortes de merveilles, […] de cultiver tous les trésors de la nature […] d’ajouter encore à leur perfection.“ 186 Durch den Zusammenhang, in den wir dieses Zitat nun stellen können, wird klar, dass das magische Wort eben gerade keine Manipulation der Materie bewirkt: Es bedeutet das begehrende imaginative Entwickeln von Ideen und situiert sich ganz auf der Ebene des Geistigen. 187 184 Saint-Martin 1800, II, S. 74 185 Saint-Martin 1802, S. 352-353 186 Saint-Martin 1800, I, S. 43 187 Allerdings hatte das Wort des Menschen ursprünglich, in der ungefallenen Schöpfung, auch Konsequenzen für die feinstoffliche Natur: Wo er mit Gott zusammen lebendige Ideen entwickelte, entwickelten sich deren feinstoffliche Realisierungen entsprechend, da ja die Dinge Ausdruck der parole sind. Vgl. Saint-Martin 1800, II, S. 65. 552 Par là, notre désir ne fait qu’un avec le désir divin, ou avec ce que je pourrais appeler la faim divine pour la manifestation et le règne de la vérité dans l’univers. 188 Im Übrigen muss in diesem Zusammenhang bemerkt werden, dass Saint- Martins Lehre vom Urteil als Begehren die Rückführung der Natur zu Gott und die Weiterentwicklung derselben im Verein mit Gott nur unvollkommen unterscheidet. Beide Tätigkeiten scheinen nach demselben Muster abzulaufen und sind ja auch, insofern sie beide in der affektiven Rückmeldung des die geistige Natur des Geschaffenen realisierenden Menschen kulminieren, analog. Wir werden sehen, dass Saint-Martins Gedanken zur Dichtung diese Unterscheidung noch stärker in den Hintergrund drängen. Das Urteil des Menschen ist also gewissermaßen das Gehirn, das die Eindrücke des Sensoriums der Sophia für Gott, die Seele, aufbereitet. Diese Tätigkeit ist jedoch keine Analyse, sondern eine Synthese, denn das Begehren des Menschen entwickelt (im günstigen Falle), was in der Geistnatur angelegt ist, im Einklang mit Gott (garantiert durch den inneren Christus- Logos) bzw. bringt die undurchsichtig gewordenen Sinnesdaten produktiv wieder auf ihre göttliche Bedeutung zurück. Die Sophia ist damit Sensorium und erfahrbare Welt zugleich, aber als beides ist sie, ebenso wie der Mensch, keine selbstständige Information oder Informationsquelle, sondern nur Reflex der Schaffenskraft dessen, aus dem alles hervorkam. Vor allem aber ist der Mensch das Herz dieses Prozesses: Seine Erkenntnis und Entschlüsselung der Natur gebiert einen frommen Affekt, eine „jouissance“, die die Befriedigung des Begehrens 189 und der energiegesättigte Rückfluss zum Schöpfer ist. „Le sublime de l’affection est le vrai terme de l’idée.“ 190 Der Spiegel wirft kein Bild zurück, sondern (um Saint-Martins Bildlichkeit aufzunehmen 191 ) einen Strahl oder Funken. 3.1.3. Spiegel und Archiv Mit dem bei Böhme und vor allem bei Saint-Martin durch eine Koinzidenz der Gegensätze in Gott zunächst gelösten Widerspruch zwischen den beiden Ausrichtungen des Spiegels, zwischen Reflexion und Abstrahlung, dem Auf-Gott-Zustreben und dem Ausgang in die Welt (und damit letztlich zwischen dem selbstgenügsamen und dem überfließenden Gott) hängt ein weiterer Widerspruch zusammen: Energie als unfassliches, stets bewegtes Fließen steht dem Bild als fester Repräsentation gegenüber. Wir sahen bereits, dass die Vorstellung, die pure Energie Gottes müsse sich, um zu 188 Saint-Martin 1802, S. 69 189 Saint-Martin findet dafür eine erotische Sprache, die sich zugleich an Böhmes Angst und Quall anlehnt: „comme l’accomplissement et la possession de tout ce qui étoit concentré et comprimé dans la violence du desir“ (Saint-Martin 1990, S. 235). 190 Saint-Martin 1990, S. 234 191 Vgl. etwa Saint-Martin 1990, S. 232-233) 553 sich selbst zurück zu gelangen, an etwas Festem brechen, der Bildlichkeit der Spiegel eingeschrieben ist. Wenn auch die Auffassung Böhmes und Saint-Martins, Gott selbst sei ein dynamischer Prozess, dazu führt, dass auch sein Spiegelbild bewegt erscheint, und damit auf dieser Ebene den Widerspruch auch überwindet, so reicht doch in die Sprach- und Vorstellungswelt der Spiegelmetaphorik ein Rest von Repräsentation und Statik hinein, der sich bei Saint-Martin im Bild der Archive äußert. Das spiegelnde Zurückwerfen der Schöpferliebe durch den Menschen kann gar nicht anders als so beschrieben werden, als füge die Erkenntnis der materiellen, verdichteten Welt der energetischen, geistigen, etwas hinzu - ähnlich wie in Platons Timaios die als notwendig begriffenen Realisationen der eigentlich höherwertigen Ideen deren Supplemente werden; 192 ähnlich, aber umgekehrt analog: Im Timaios fügt ja die unvollkommene Welt des Werdens der vollkommenen Welt des unveränderlichen Seins etwas hinzu; bei Saint-Martin fügt (aufgrund seiner Ontologie des Lebens) die unvollkommene Welt irdischer Statik der vollkommenen Welt geistiger Energie etwas hinzu. Das Vollkommene wird jedenfalls hier wie dort durch das Unvollkommene ergänzt. Bei Böhme und Saint-Martin bedeutet dies: Der Gott, der pure Aktion ist, entgleitet sich selbst und bedarf eines Archivs seiner Taten, um sich erkennen zu können: […] notre jugement est le sensorium de la divinité et le dépositaire de ses archives 193 Der Fluss des Logos wird im Partikulären, Definierten, Faktischen des Weltgeschehens arretiert. Das Bild von den Archiven der Gottheit, die die Menschen sind, steht aber der Vorstellung von der Sprache als reinem Logos-Fließen entgegen, denn Archive beziehen ihre Verlässlichkeit und ihren Nutzen daraus, dass sie unbewegte Aufbewahrungsorte fest gewordener Information sind. Mag auch die Festigkeit der vorfindlichen Natur ein lebensbedrohlicher Unfall im Rahmen eines eigentlich ganz energetisch gedachten Logosgeschehens sein, so ist doch auch eine noch so aktive Geistnatur konkreter, fester und unbewegter zu denken als der reine Schaffensprozess Gottes. Dies zeigt sich auch darin, dass im ewigen Spiegel dieser Geistnatur (und vor allem im geistigen Menschen) alles Gesagte, jede geistige Handlung für 192 Der Gedanke Saint-Martins, eine Realisierung einer bislang nur in ihrem principe vorhandenen Idee durch den Menschen könne schöpferisch genannt werden, scheint etwas Ähnliches zu implizieren: Das Prinzip ist ja höherwertig als eine bloß materielle Realisation, aber die positiven Konnotationen des Schaffens spielen der Umsetzung der Idee einen zusätzlichen Wert zu, den die bloße Idee nicht hat. Das materielle Schaffen des Menschen wird so zum Bestandteil der notwendigen Manifestation der Gottheit, auch und gerade auf der Ebene des Grobstofflichen. Dies aber gefährdet die zugrundeliegende Ontologie insgesamt. Vgl. Saint-Martin 1782, I, S. 5. 193 Saint-Martin 1990, S. 237 554 immer bestehen bleibt - was aufgrund des höheren Realitätsgrades des Geistigen auch nicht überrascht: l’homme ne peut produire une pensée, une parole, un acte, que cela ne s’imprime sur l’éternel miroir où tout se grave et où rien ne s’efface“ 194 Dies haben wir schon in phantastischer Form im untergegangenen Atlantis des Romans Le Crocodile gesehen. Da insofern alle falschen und schlechten Worte ebenfalls bleiben, muss der Logos im Laufe der Weltzeit diese aufarbeiten, die Archive also bereinigen: Il faudra que la parole éternelle repompe et reprenne dans son sein toutes les paroles fausses, nulles et infectes de l’homme, et qu’en les faisant passer au feu puissant de son ineffable jugement, elle refonde celles qui en seront encore susceptibles, qu’elle mette de côté celles qui auront été viciées, et qu’elle jette dans l’étang corrosif celles qui d’avance se seront remplies d’infections. 195 Das Partikuläre wird also aufbewahrt in einem Gedächtnis, das der Gottheit gerade die Kristallisation des Faktischen, Einzelnen und Festen und nicht des Flusses und des Werdens zurückwirft und hinzufügt. Dadurch erhält Saint-Martins Vorstellung von der idealen Sprache als Nicht- Repräsentation hier doch wieder ein Element von Repräsentation. Für Saint-Martin ist ja (wir erinnern uns) der edenische oder reintegrierte Sprecher ganz bei Gott, hat sich und seinen Willen unter Verzicht auf Eigensinn auf und in Gott gestellt. Keine Differenz, keine Abwesenheit und keine Repräsentation finden sich in dieser ‘Sprache’. Dies hat beim Kündungsauftrag des Menschen gegen die Teufel dazu geführt, dass der Charakter des zeichenhaften Für-Etwas-Stehens ebenso wie der der Zeugenschaft in der Ergebung in ein Einwirkungsverhältnis verloren zu gehen schien. Diesem Widerspruch schien eine Verschiebung der Hintergrundvorstellung vom Künden auf das energetische Preisen abzuhelfen. Umgekehrt kristallisiert sich aber nun in dem Bild des fest gewordenen Archivs, das dem Ideal der Sprache als Energeia seinerseits zuwider läuft, ein notwendiges Zugeständnis an die Konzeption des Zeichenhaften als quid pro quo, die auch eng mit den Grundgegebenheiten des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Spiegelwelt verknüpft ist. Hatte Saint-Martin sich in den Widersprüchen zwischen einer repräsentierenden Zeichenwelt und einer Sprachauffassung des Energieflusses insgesamt von der Repräsentation abgewandt, so gerät ihm durch die an Böhme angelehnte Logos- und Sophialehre mit ihrem traditionellen Bild des Spiegels doch wieder ein Element statischer Repräsentation in sein System des Flusses. Energie und Repräsentation bleiben einander in einer Figur der Entgegensetzung zugeordnet, und Saint-Martin handelt sich den Widerspruch zwischen Pansemiotik und Panenergetik auf anderer Ebene wieder ein. 194 Saint-Martin 1802, S. 297 195 Saint-Martin 1802, S. 384 555 Daraus könnte man nun Allgemeinheiten über die Natur menschlicher Gedankengebäude oder die der Sprache schließen, zu deren besonderer Illustration Saint-Martins Schreiben dann würde. Dies ist jedoch nicht unser Ziel. Vielmehr ist zu hoffen, dass umgekehrt der Aufweis der Gegenstrebungen der einzelnen Gedanken in den Texten einen Einblick in diese als besondere ermöglicht hat. 3.2. „Phanor, poème sur la poésie“: Der Dichter als Erlöser Abschließend soll nun ein Blick in Saint-Martins poetische Theorie und Praxis das Bild vom sprachlichen Tun des Geistmenschen vervollständigen. Es ist klar, dass die besondere Fassung des Urteils als begehrendes Entwickeln von Ideen, die wir oben kennen lernten, - vor allem in ihrer Ausrichtung auf den Affekt - letztlich dazu tendiert, die Erkenntnistheorie der Poetik zu subsumieren. Es verwundert nicht, dass so die Poesie „la plus sublime des productions de l’homme“ ist, denn sie verbindet ihn mit seinem Prinzip. 196 Der Dichter ist allerdings ein Erwählter. Ist die (gleichfalls hoch geschätzte) Musik als „fil d’Ariane“ im Labyrinth der Welt allen Menschen gegeben, so bleiben die Poesie und die Prophetie wenigen „élus particuliers ou généraux“ vorbehalten. 197 Der Dichter ist ein Prophet, und so ist auch nur prophetische oder inspirierte Dichtung als wahre Dichtung zu bezeichnen. In Saint-Martins ‘Gedicht über die Poesie’ „Phanor“ werden die Dichter daher als erwählte Propheten gesehen: Je vois tous tes élus comme autant de prophètes 198 Die Erwählung des Dichters äußert sich nach diesem Text darin, dass ihn die „sagesse“ selbst inspiriert und in „ces sublimes élans“ mitreißt. 199 Diese sagesse ist folglich nicht die gefallene Sophia Böhmes, sondern eine ungefallene Weisheit, die bei Gott ist. Sie ist im kabbalistischen Sinne eher die obere als die untere Schechina, eher Bina als Malchuth - also eine weibliche Erscheinungsform des Logos, die in diesem Gedicht nicht mit der durch die Materie getrübten Geistnatur identisch ist, sondern hinter dieser hervor zum Dichter spricht. Aber dass der Dichter solchermaßen das verborgene 196 Saint-Martin 1775, S. 492 197 Mit Musik meint Saint-Martin allerdings wiederum eine pythagoreische Harmoniespekulation, die sich in der sinnlichen Musik nur unvollkommen offenbart. Saint- Martin 1800, I, S. 138. Vgl. auch Saint-Martin 1775, S. 507f., wo etwa die Sept für das Auftreten des Bösen steht. Wie auch die Schöpfung nicht existierte ohne das Böse, wäre auch die Abwechslung und der Effekt der Musik ohne die Sept nicht gegeben. Die Vorstellung, dass das ganze Universum ohne den Teufel nicht entstanden wäre, spiegelt sich auch in dieser Musiktheorie, vgl. auch die Rolle der Zweizahl in der mythischen Mathematik (Teil I). 198 Saint-Martin 1807, II, S. 160 199 Saint-Martin 1807, II, S. 160 556 geistige Wort hinter der Schöpfung vernimmt und dann explizit machen kann, ist nicht nur Voraussetzung seines Dichtens (als Inspiration), sondern vor dem Hintergrund der referierten Bestimmung des Menschen auch Inhalt seines dichterischen Tuns, denn er soll ja die parole in der Natur wieder vernehmbar machen und so als Erlöser auftreten. Anne-Marie Amiot hat gezeigt, dass der sich hier zeigende messianische Anspruch des Dichters teils von Saint-Martin aus ins 19. Jahrhundert gelangte. 200 Die solchermaßen inspirierte Poesie war den Menschen bei der Restitution der Sprache nach dem Fall (wir erinnern uns dieser zweiten geoffenbarten, noch sehr energetischen Sprache) als Sprache des Kultus gegeben worden (der eigentliche Text des Menschen ist nach einer anderen Äußerung Saint-Martins daher auch das dreifache Sanctus als Proklamation nach außen und lobende Rückmeldung in Einem 201 ): Ce rayon pur extrait de la plus pure essence, Aux premiers jours du monde éclaira les humains. La lumière que Dieu remit entre leurs mains Devait guider leurs pas dans la nuit de la vie. Tranquilles, fortunés pendant qu’ils l’ont suivie, Rien ne peut exprimer les douceurs de leur sort. Telle est l’activité de ce divin ressort, Qu’ils semblaient dans leurs vers traduire la nature, De l’univers entier dessiner la structure; Servir partout d’organe à la vertu des cieux, Tout leur être était plein de l’image des Dieux. […] Ces saint accens servaient de mobile à l’encens Dont se doit parfumer l’autel où Dieu réside […] 202 Aber schon in dieser zweiten Sprache öffnet sich die Kluft zwischen einer Repräsentation der „structure“ des Universums oder einer Übersetzung („traduire“) der Natur einerseits und einem energetischen Geschehen, der „activité de ce divin ressort,“ andererseits. Jede Sprache und jedes Tun steht nämlich in dem lebendigen Mannifestationszusammenhang, der von der zeugenden Gottheit ausgeht: Rien n’est mort, Dieu voit tout, et tout dans son empire, Vit par lui, de son souffle il engendre, il inspire L’homme et tous les agents que leur titre divin Rend libres et chargés de leur propre destin. Des traits de cet auteur il sont tous l’assemblage: Car Dieu ne pense point sans créer son image, Sans former d’autres Dieux. 203 200 Vgl. Amiot 1975, S. 390ff. 201 Saint-Martin 1802, II, S. 266 202 Saint-Martin 1807, II, S. 164 203 Saint-Martin 1807, II, S. 165 557 Deshalb ‘sieht Gott alles’ und wird von allen Geschehnissen unter ihm affiziert: Pour cet agent suprême il n’est rien d’inconnu, Rien qui puisse éviter l’œil du souverain maître. Dès que les traits divins remplissent tout, nul être Ne conçoit un désir, n’opère un mouvement, Sans produire sur eux un vif ébranlement Qui, par des prompts signaux dont la chaîne est suivie, Fait que tout monte et frappe au siège de la vie. 204 Gerade Dichtung ist deshalb keine Privatsache, sondern heilsgeschichtlicher Auftrag. ‘Prophetisch’ ist sie allerdings weniger, weil sie etwa die Zukunft sähe (wir erinnern uns Pasquallys Ablehnung der Weissagung), sondern weil sie in ihrer Inspiration das Leben fließen lässt: Oui, Poètes sacrés, oui du sein du tombeau, Vous pouvez élever votre voix prophétique; […] Parlez et dans l’instant la divine influence Sur nous, sur l’univers coule avec abondance. 205 Der Enthusiasmus des inspirierten Dichters bei Saint-Martin ist dem Enthusiasmus des Genies bei Diderot, den wir in Kapitel III kurz streiften, analog: Beide sind von einer Idee der Lebensenergie getragen. Insofern sind der Materialist und der Theosoph hier in demselben Spiel begriffen. Aber der Hintergrund der Konzeption Saint-Martins ist ein ganz anderer (sie ist wegen dieses Hintergrunds mit älteren Konzepten des Enthusiasmus verwandt 206 ) - wie sich bis hierhin schon ergab, und wie die weitere Darlegung seiner Poetik präzisieren wird. 3.2.1. Saint-Martin, Chateaubriand und die christliche Poesie Die in den bislang zitierten Versen implizite Forderung nach einer spezifisch christlichen Poesie müsste Saint-Martin eigentlich mit Chateaubriand verbinden, der in der „Poétique du christianisme“ im zweiten Teil seines Génie du christianisme die Wunder der christlichen Poesie preist und in ihnen die befruchtende Wirkung dieser Religion in der europäischen Geschichte erkennen will. 204 Saint-Martin 1807, II, S. 162 205 Saint-Martin 1807, II, S. 178 206 Der Begriff des Enthusiasmus verschiebt sich bei Perrault, Batteux und Du Bos immer mehr von der göttlichen Inspiration zu einem geradezu physischen Zustnad. Bei Voltaire und Diderot verbindet sich der Begriff mit dem Konzept der Imagination. (Vgl. Knabe 1972, S. 180-182 und 186). Saint-Martins Enthusiasmus-Konzept gehört dagegen eher in die ältere Tradition des furor poeticus, entwickelt diese aber theosophisch weiter. 558 Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Saint-Martin hat Chateaubriand in seinem kurz nach dessen Génie du christianisme erschienenen Ministère de l’homme-esprit nicht als neuen Mitstreiter begrüßt, sondern im Gegenteil heftig kritisiert. Wie wir schon anlässlich von Saint-Martins Ausführungen über die Religionen erfuhren, ist der Hauptfehler Chateaubriands, Christentum mit Katholizismus zu verwechseln. 207 Der Herabsetzung des Christentums in der Gleichsetzung mit dem Katholizismus entspricht analog eine Herabsetzung des lebendigen Logos (der manche Dichter erwählt) durch Gleichsetzung mit leichtfertigen Vers-Spielereien. Daraus folgt eine doppelte Unangemessenheit von Chateaubriands Darstellung. Einerseits ist das Wort des wahren Christentums nicht in die Welt gekommen, um oberflächlich reizvolle Gedichte zu ermöglichen: Ce n’est point pour apprendre aux hommes à faire des poèmes, et à se distinguer par de charmantes productions littéraires, que la parole est venue dans le monde. 208 Andererseits hat die Literatur, die im Einklang mit dem inneren Christus geschaffen wurde, nichts mit dem Katholizismus zu tun. Überhaupt haben sich die Dichter nicht, wie Chateaubriand meint, am Katholizismus gebildet, sondern an den Modellen der Antike, sowie an der Bibel. 209 Umgekehrt gilt: „ce sont ces arts eux-mêmes et cette littérature qui ont suggéré au catholicisme l’idée de les employer à sa propre illustration.“ 210 Der Katholizismus war keine zivilisierende Kraft in der Geschichte, sondern von der Zivilisation abhängig: Après avoir été érudit et élégant avec les Platon, les Aristoste, les Cicéron, il fut ignorant et grossier avec les peuples grossiers qui inondèrent l’Europe […] on voit par tous ces faits que le catholicisme n’a jamais eu que des rapports de dépendance avec les arts et la littérature. 211 In der Moderne haben die Künste und die Zivilisation dann den Katholizismus hinter sich gelassen: Plus ils ont fait de progrès, plus le catholicisme a reculé, et l’on a vu en effet combien ils ont étendu leur règne dans le dix-huitième siècle, et combien dans ce même siècle le catholicisme a décliné. 212 Saint-Martin bläst hier sozusagen genau in das Horn der Aufklärung - und doch ist der Hintergrund seiner Argumentation ein anderer: Er hält, wie wir im Kapitel über Saint-Martin und die Religionen und Mythen sahen, 207 Saint-Martin 1802, S. 315 208 Saint-Martin 1802, S. 321 209 Saint-Martin 1802, S. 321 210 Saint-Martin 1802, S. 322 211 Saint-Martin 1802, S. 324 212 Saint-Martin 1802, S. 323 559 den Katholizismus nur für eine begrenzte Vorform von Christentum; und er hat, wie wir im vorliegenden Kapitel herauszuarbeiten versuchen, eine strengere Auffassung von der Sendung des Dichters, als dass die Vorstellung kultivierter literarischer Tätigkeit, die er Chateaubriand zuschreibt, darin Platz hätte. Dichtung ist für ihn, wenn sie echt ist, keine schöne Kulturleistung, sondern Prophetie und inspiriertes Rasen. Wieder sieht man, dass Saint-Martin in einem spezifisch aufklärerischen Spiel mitspielt (in diesem Falle natürlich: écrasez l’infâme), aber vor einem exzentrischen Hintergrund spielexterner Vorentscheidungen; freilich ändert dies nichts an der Oberfläche des Spielgeschehens: Gleichgültig, was Saint-Martin ‘eigentlich gedacht’ haben mag, so hat er doch an der von vielen betriebenen Abwertung des Katholizismus mitgewirkt. 3.2.2. Poetik der Kühnheit und das Sublime Wie soll die wahrhaft christliche Dichtung aber nach Saint-Martin im Einzelnen aussehen? Die Ratschläge Saint-Martins an die Dichter richten sich naheliegenderweise an die Dichter der gefallenen Welt, aber sie beziehen ihre Normen stets aus dem Ideal der prälapsarischen Fortzeugung der Natur im Einklang mit dem Logos. Bei der Dichtung scheint diese Unterscheidung ohnehin eine geringe Rolle zu spielen. Wir sahen schon, dass die Tätigkeit der begehrenden Respiritualisierung des Naturzeichens im menschlichen Urteil von der ursprünglichen Tätigkeit der Weiterzeugung der Geistnatur mit Gott nur unvollkommen geschieden war. Dies gilt noch mehr bei der Dichtung. Die Verwischung dieser Unterscheidung im „Phanor“ läuft geradezu darauf hinaus, dass der prophetisch inspirierte Dichter den Sündenfall in seinem Furor überwinden kann. Dies geschieht, indem die dichterische Sprache das Geistige hinter den Dingen als Göttliches erscheinen lässt. Das eigentliche Geschehen spielt sich dabei nicht an der Oberfläche der Formulierung ab, sondern ganz in der Welt der Ideen, und dieses Geschehen, ist, wie sich aus Saint-Martins Lehre vom Urteil zwingend ergibt, affektisch; es muss in einer Rührung des Lesers oder Hörers durch die plötzliche jouissance bestehen, die angesichts der Vergöttlichung des besprochenen Gegenstandes den Rezipienten durchfährt und mit Gott verbindet. Für diese Freilegung der Wahrheit hinter den Erscheinungen kann sich der Dichter daher an der Oberfläche seines Schreibens aller möglichen Themen bedienen: Cultes, fables, science ou sacrée ou profane, Tout de la vérité peut devenir l’organe 213 213 Saint-Martin 1807, II, S. 161 560 Dabei bedarf es jedoch eines gewissen Ernstes. Saint-Martin hält die hommes de lettres seiner Zeit für frivol: […] l’immense majorité des penseurs de ce monde qui ont l’air en effet d’être comme des écoliers en vacances. 214 Literatur ist kein Spiel. Vor allem soll der Leser nicht durch spielerische Vortäuschung von Tugenden in fiktionalen Handlungen in einer Art Ersatzleben befriedigt werden, sondern zur Veränderung seines Lebens angehalten oder von der Wahrheit erfüllt werden, auf dass er selber tugendhaft sei. Dies gilt nach Saint-Martin besonders für die Gattung des Romans. 215 Soweit zu den Gegenständen und Gattungen. Aber auch zum Stil gibt Saint-Martin Empfehlungen. Besonders das Verbum eines jeden Satzes ist wichtig. Das Verbum ist die Position der Aktion und ist durch seine Homonymie mit dem theologischen und theosophischen Begriff des verbe eine Spur des lebendigen Logos. Es ist „l’image de l’action parmi nos facultés intellectuelles, et l’image du Mercure parmi les principes corporels.“ 216 Die Stärke und Lebendigkeit des Ausdrucks hängt daher vom Verbum ab. Diese Lebendigkeit des Ausdrucks führt, wie zu vermuten war, wieder auf die Energie des Stils, die sowohl als Energeia als auch als Enargeia bei Saint-Martin wichtig ist. Künste und Literatur sollen ihre Objekte möglichst lebendig und wahr vor Augen zu stellen. Aber aus dem oben Dargelegten ergibt sich zugleich, dass dieses Vor-Augen-Stellen nicht mimetisch ist. 217 Nicht die Oberfläche der Erscheinung soll abgebildet oder vorgetäuscht werden, sondern das Leben des Gegenstandes soll erscheinen. Das heißt zunächst einmal, dass die Ideen hinter den Dingen wichtiger sind als die Erscheinungen: Vous vous dites sans cesse inspirés par les cieux, Et vous ne frappez plus notre oreille et nos yeux Que par le seul tableau des choses de la terre, Quelques traits copiés de l’ordre élémentaire, Les erreurs des mortels, leurs fausses passions, Les récits du passé, quelques prédictions Que vous ne recevez que de votre mémoire, Et qu’il vous faut suspendre où s’arrête l’histoire […] Ou bien, osez fixer ces sublimes images, Et ces types sacrés dignes de nos hommages. Allez, allez puiser dans ces célestes lieux, 214 Saint-Martin 1802, S. 313 215 „Le charme que nous causent surtout la plupart de nos romanciers, ne nous vient que de là. Ils nous épargnent la fatigue de travailler à nous rendre vertueux, tout en nous réchauffant par quelques images de la vertu“ (Saint-Martin 1802, S. 312 216 Saint-Martin 1775, S. 478 217 Vgl. auch Amiot 1975, S. 392. 561 Ces tableaux et ces traits qui sont loin de nos yeux […] 218 Deskriptive Poesie, die an der Oberfläche der Naturdinge bleibt, fällt noch hinter die heidnischen Mythen zurück, die die Dinge immerhin mit Göttern belebte. 219 So muss auch die wahre Idee der Schönheit in der Geistnatur gesucht werden, und insofern suchen die Künstler zu Recht nach dem „beau idéal.“ 220 Eine bloße Deskription der Oberfläche ist im Übrigen auch unwahr (und diese Art der Mimesis ist insofern gar keine), weil diese Oberfläche ja eine Verfälschung der wahren Geistschöpfung ist, und so liefern diese Dichter nur „les fantastiques tableaux d’une imagination égarée“ 221 (diese Abwertung der Imagination in einer gleichwohl nicht mimetischen Poetik wird uns noch beschäftigen). Dagegen müsste der Dichter, der sich einer geistigen Sprache bediente, auf die Ideen selbst wirken. Der radikale Platonismus führt also hier im Verein mit einer (theosophisch begründeten) nicht mimetischen Poetik zu einer Aushebelung des platonischen Vorurteils, der Dichter liefere nur Abbildungen von Abbildungen: Dies tut der verirrte Dichter, wie er aktuell auftritt. Der wahre Dichter aber bezieht sich auf die Ideen, die er nicht nur darstellt, sondern auf die er einwirkt, die er belebt. Und weil er die Ideen weiter bearbeitet, ist auch nicht die Sprache der Ideen sein letztes Ziel, sondern die der Affektion, in der ja die Entwicklung der Idee erst ihren Endpunkt findet. Quant à la langue des idées, elle n’est que secondaire à ces langues d’affection; et elle y est tellement subordonnée, que si les langues de nos sublimes affections étaient ce qu’elles devaient être, les langues des idées qui y correspondent seraient d’une expression pure, puissante et s'engendrant naturellement […] 222 Nicht das konzeptuelle Element regiert also in der idealen Sprache über dessen affektische Vermittlung etwa in der Rhetorik, sondern die Affekthaftigkeit würde im Idealfall die Reinheit der Sprache, die die Ideen ausdrückt, wiederum garantieren. Der Text, der vom Affekt getragen wird, ist also nicht nur wirkungsvoller als der die Ideen möglichst klar darlegende, sondern auch klarer; seine Affektivität begründet die Klarheit des Ausdrucks der Ideen überhaupt erst. So greift die Enargeia im Sinne Saint-Martins nicht nach der Erscheinung und am Ende auch nicht nach den Ideen, sondern nach dem Leben der Ideen. Für das Vor-Augen-Stellen bedeutet dies: nach dem Manifestationsverhältnis zwischen Wesen und Erscheinung - indem die Dichter näm- 218 Saint-Martin 1807, II, S. 173-174 219 Saint-Martin 1802, S. 336-337 220 Saint-Martin 1800, I, S. 48 221 Saint-Martin 1802, S. 338 222 Saint-Martin 1800, II, S. 188 562 lich ihren Ausdruck so zum Ausdruck des inneren Lebensprinzips der dargestellten Sache machen, „qu’ils soient assurés de faire effet sur leurs semblables, comme si l’objet même était en leur présence.“ 223 Diese Enargeia ist nicht Mimesis, sondern Produktion von Leben (in jenem speziellen theosophischen Sinn der Verbindung mit dem geistigen Lebensprinzip) und deshalb ist auch die Regelpoetik 224 mit ihrem mimetischen Horizont hinderlich. Dass die Regelpoetik abgelegt werden muss, ergibt sich vor allem aus einer interessanten poetologischen Version des Gedankens der Entwicklung keimhafter Ideen. Die erwähnte Aufgabe des Dichters soll nämlich vor allem durch kühne Metaphorik erfüllt werden. Die Entwicklung dessen, was in einer Idee angelegt ist, kann durch Hinzufügung semantischer Eigenschaften eines anderen Begriffs geschehen, 225 und je kühner und ungewöhnlicher das Ergebnis ist, desto energetischer die Wirkung. Dem Zeugungsimpuls der universellen Affektion entspricht der „style figuré“ der Schriftsteller deshalb, weil auch er Ausdruck eines Prinzips ist, also in diesem Fall einer lebendigen Idee, die sich in der jeweiligen Figur manifestieren will. 226 Der Gebrauch gewagter Bilder soll den Gegenstand entwickeln und erheben, nicht einschränken; in diesem Zuammenhang wird auch das Wunderbare empfohlen, da ja der Mensch Gott in der Schöpfung bewundern soll. 227 Die Kühnheit der Sprache enthüllt so die verborgene Natur und Göttlichkeit hinter den Dingen; zugleich ist sie ein Mittel der Beförderung jenes großen Affekts, der ja das Ziel der ganzen dichterischen Arbeit sein soll. Musterbeispiel für des Dichters „actes vifs dont il compose tous ses tableaux“ ist die Bibel. 228 C’est pour cela que les expressions hardies, les figures imposantes et extraordinaires qui remplissent les livres saints et les livres des amis de la vérité, n’ont paru susceptibles d’être excusées aux yeux vulgaires, qu’en les attribuant au style oriental. Mais ces expressions, pourquoi sont-elles si étrangères aux hommes du torrent? C’est qu’ils ont perdu l’usage des grandes affections qui les auraient enfantées chez eux; c’est qu’ils se sont ensevelis dans des régions inférieu- 223 Saint-Martin 1775, S. 490 224 Vgl. auch Saint-Martin 1802, S. 306: „Aussi quand je vois les littérateurs et surtout les poètes se renfermer dans les bornes de toutes les lois conventionnelles de la versification et de l’art d’écrire...“ 225 Dies - und nicht die Vorstellung, die Idee selbst werde dadurch produktiv entwickelt - ist die gängigste Ansicht von den Tropen, wie sie sich etwa in dem an Dumarsais angelehnten Artikel T ROPE der Encyclopédie findet (Encyclopédie 1751-1780, XVI, S. 698ff.). 226 Saint-Martin 1800, II, S. 183. Vgl. auch die Untersuchung von Jacques-Chaquin 1984, bes. S. 57f., sowie Jacques-Chaquin 1981, S. 38f. 227 Saint-Martin 1800, II, S. 193 228 Saint-Martin 1802, S. 308 563 res où les contrastes sont médiocres; les nuances presqu’uniformes; et comme nulles, les impressions qui en résultent. 229 Die dichterische Rede kann in diesem Sinne den Rezipienten mit jener affektiven Gottverbundenheit und jouissance erfüllen, die sich aus der Erfahrung der Lebendigkeit und Geistigkeit der Natur ergeben: Frappez plutôt, frappez notre oreille épurée Par les sons imposants de leur langue sacrée; […] Vos accents émanés de vos divins rapports, Rendront de vos pouvoirs les faveurs si présentes, Que rien n'obscurcira ces clartés bienfaisantes; Ces rayons que transmet aux mortels vertueux, Le sentiment du Dieu qui vient s’emparer d’eux, Qui les brûle et nourrit leur âme épanouie Des charmes continus d’une joie inouie. 230 Das Affektische ist allerdings mit Vorsicht zu gebrauchen, denn auch der Böse kann sich, um den Menschen zu verwirren, der Affekte bedienen. 231 Saint-Martin rügt außerdem die oberflächliche Emotionalität mancher Texte, vor allem auf dem Theater. 232 Die Wahrheit ist wichtiger als „émouvoir, n’importe dans quel sens.“ 233 Trotz dieser Kautelen ist Saint-Martins Poetik eine solche des émouvoir. Die jouissance, die am Ende dieses dichterischen Zu-Sich-Selbst-Bringens der Dinge steht, dasjenige, zu dem hin die Idee beim Leser entwickelt wird, ist - wir sahen es in unserem Kapitel über das Urteil - „le sublime de l’affection.“ 234 Insofern ist Saint-Martins Poetik eine solche des Sublimen (im Sinne des Longinus, wie wir gleich sehen werden) - allerdings zunächst nicht des pathetischen Sublimen der Naturerfahrung, wie wir sie bei Senancour fanden. Dennoch gibt es auch für dieses bei Saint-Martin eine interessante Theorie. Das majestätisch Schaurige und Melancholische sublimer Naturerfahrung wird von Saint-Martin auf den Fall der Sophia zurück geführt: L’homme trouve communément quelque chose de solennel et de majestueux dans des lieux solitaires, couverts de forêts ou arrosés de quelque vaste fleuve; ces tableaux sérieux et imposants semblent accroître leur empire sur lui quand il les contemple dans l’ombre et le silence de la nuit […] le silence de tous ces objets porte sur l’âme une empreinte lamentable, et qui nous montre clairement la 229 Saint-Martin 1802, S. 307. Der Ausdruck „hommes du torrent“ meint bei Saint-Martin das Gegenteil des „homme de désir“ und des „Homme-Esprit“: die von den Nichtigkeiten der Materie mitgerissenen, stets geschäftigen Bewohner dieser Welt. 230 Saint-Martin 1807, II, S. 177 231 Saint-Martin 1802, S. 309 232 Saint-Martin 1802, S. 330-331 233 Saint-Martin 1807, II, S. 172 234 Saint-Martin 1990, S. 234 564 véritable cause de ce que nous avons désigné ci-dessus par le nom de la vanité. En effet, toute la nature ressemble à un être muet […] Aussi sent-on réellement au milieu de ces grands objets, que la nature s’ennuie de ne pouvoir parler, et une langueur qui l’emporte sur la mélancolie, vient succéder en nous à l’admiration, quand nous ouvrons notre âme à cette pénible pensée […] toute cette nature n’est qu’une douleur concentrée […] 235 Der sprachlose Schmerz der gefallenen Natur ist der Grund für das pathetische Sublime bei ihrer Betrachtung. Mit beiden Fassungen des Sublimen meldet sich Saint-Martin in einer Diskussion zu Wort, die bekanntlich gerade in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts intensiv geführt wurde. 236 Am Ende des Jahrhunderts zuvor war Longinus’ Peri Hypsous in Frankreich durch Boileaus Übersetzung neu entdeckt worden. Longinus fasste das Sublime als eine Erfahrung des Hohen, die vor allem durch Literatur zustande kommt, und die es erlaubt, das rationale Denken auf eine höhere Ebene hin zu transzendieren. In Boileaus Worten: „il élève l’âme.“ 237 Dabei wird die Begrenztheit des Irdischen überschritten, und letztlich auch die Begrenzung der irdischen (menschlichen) Natur; in Batteux’ Vorstellung vom Sublimen ist das Ziel dieser Erhebung dann Gott. 238 Es ist klar, dass die sublime Affektion, die für Saint-Martin am Ende des entwickelnden Urteils in der jouissance an der Verbindung zu Gott zu erfahren ist, sich damit weitgehend deckt, wenn sie auch auf anderen Wegen (nämlich nicht in erster Linie durch einen hohen Stil) zu erreichen ist. Demgegenüber entwickelte Addison (1712) in seinen Artikeln im Spectator eine Vorstellung von Sublimitätserfahrung, die nun - im Einklang mit der aufklärerischen Tendenz zur Aufwertung der Natur - gerade nicht mehr die irdische Natur überschreiten will, sondern das Sublime in der Betrachtung der endlichen Natur selbst sucht (die nun als Naturlandschaft erscheint) 239 - wenn es auch immer noch die Überschreitung des unmittelbaren Lebenszusammenhangs des Betrachters ist, die durch diese Naturerfahrung ermöglicht wird. Die große Ganzheit der Natur ist nun selbst Transzendenz geworden, die Natur ist nicht das zu überschreitende Irdische - und Literatur ist dazu auch nicht mehr vonnöten. In Silvains Traité du Sublime ist das Sublime als Erhebung der Seele „avec admiration“ beschrieben, wobei das Ziel der Erhebung bereits „dans la nature“ ist. 240 235 Saint-Martin 1802, S. 74-75 236 Vgl. etwa den Artikel S UBLIME in der Encyclopédie 1751-1780, XV, S. 565ff und generell Knabe 1972, S. 450ff. 237 Boileau 1966, S. 58 238 Vgl. Knabe 1972, S. 454. 239 Vgl. Addison 1712, Essays 409 und 411-421 und die Darstellung von Crowther 1998, S. 202, der jedoch in seiner Bewertung Addisons Sublimes eher als Fortsetzung der Tendenz des Longinus sieht und auf den von uns betonten Gegensatz weniger Wert legt. 240 Bei Knabe 1972, S. 453. 565 Burke antwortet sodann darauf mit einer Konzeption, die in einer Ökonomie des Selbstumgangs und der Überlebensübung angesiedelt ist: Das Sublime ist eine Erfahrung von Schmerz, der gerade noch an uns vorübergeht und von dem wir verschont bleiben, oder von schwer Begreiflichem, das uns gerade noch nicht vollkommen verwirrt; in beiden Fällen wird unser System gefordert und geübt, ohne überlastet zu sein, und findet in dieser Forderung Vergnügen. Kant verbindet in seiner Kritik der Urteilskraft Addisons und Burkes Fassungen, entwickelt jedoch sein Konzept weit darüber hinaus. Simplifizierend resümiert, macht für ihn die Erfahrung des absolut Überwältigenden uns in unserem Umgang damit trotz dessen Umfasslichkeit auf unsere Vernunftfähigkeiten aufmerksam, und die Befriedigung, die daraus erwächst, ist die Erfahrung des Sublimen. 241 Es ist klar, dass weder Burke noch Kant für Saint-Martin von Relevanz sind, nicht nur, weil er sie wohl nicht kannte, sondern vor allem, weil ihre Konzeptionen in eine andere Richtung gehen. Und obwohl Boileaus Übersetzung von Peri hypsous leicht greifbar war und Addisons Zeitschrift auch auf dem Kontinent rezipiert (und in Frankreich sogar nachgeahmt) wurde, können wir auch in diesen Fällen keinen direkten Dialog mit den betreffenden Texten nachweisen. Dennoch können uns die Positionen von Longinus und Addison Eckpunkte einer Typologie des Sublimen vorgeben, die Saint-Martins Stellungnahme einzuordnen erlauben. Saint-Martins sublimer Affekt bei der Rückbindung des Naturzeichens an sein lebensspendendes höchstes Prinzip ist so eine theosophische, an der Logos-Lehre entwickelte Version der Erfahrung des Hohen als Überschreitung des Irdischen, wie sie Longinus kennt. Und Addisons Vorstellung, schon die Anschauung der Natur, so wie sie ist, könne uns über uns selbst erheben, wird vor diesem Hintergrund ihrerseits ins Negative gewendet und wird dadurch Grundlage einer besonderen Auffassung des pathetischen Sublimen: Nicht die positive Transzendenzerfahrung der „admiration“ macht uns beim Anblick der Natur erschauern, sondern das Verstummen der gefallenen Natur, die Kerkerhaft der Sophia, also gerade die Nicht-Transzendenz, die sich als „langueur“ bemerkbar macht. Und darin kehrt die Transzendenzerfahrung als negative wieder, denn nur vor dem Hintergrund des Sündenfalls, vor dem Hintergrund einer Beraubung um Transzendenz also, ist diese sublim-pathetische Naturwirkung möglich. 3.2.3. Kreative Imagination? Die Konzeption einer nicht mimetischen Enargeia des Wieder-Hervorbringens der Geistnatur der Dinge durch kühne Tropen und andere Figuren legt es nahe, Saint-Martin unter jene einzureihen, die Annie Becq in ihrer großen Studie als die Verfechter einer Imagination créatrice aufführt 241 Vgl. Crowther 1998, S. 202-204. 566 - und in der Tat hat Saint-Martin dort (unter vielen anderen) eine solche Rolle. Dies ist in hinreichend abstrakter Perspektive auch möglich, vor allem im Vergleich zu denjenigen unter seinen Zeitgenossen, die im Horizont der Mimesis verbleiben. Dennoch ist überraschenderweise (das deutete sich oben schon an) bei Saint-Martin die imagination ein negativ konnotierter Begriff (wie auch Becq erkennt 242 ), und dies nicht nur aufgrund asketischer oder vom Klassizismus ererbter Vorbehalte gegen die inneren vorbegrifflichen Bilder als Bestandteile der Sinnlichkeit. 243 Der Hauptgrund für Saint-Martins Distanz zum Imaginationsbegriff liegt wieder in seiner Radikalisierung der augustinischen Erkenntnislehre. Die Vorstellung autonomer imaginativer Erfassung der Realität ist darin ebenso abwegig wie die einer wahren Kreativität, denn - wir erinnern uns - der Mensch empfängt nur Intelligenzen, er erkennt weder autonom, noch schafft er etwas neu. 244 Autonome Fiktion ist daher gar nicht möglich, und wo der Mensch sie versucht, wird er vielleicht, ohne es zu bemerken, von bösen Einflüsterungen geleitet. 245 Das heißt natürlich nicht, man dürfe keine Handlungen erfinden (Saint-Martins eigener Roman stünde dem entgegen): Le droit d’un poète s'étend bien jusqu’à broder, à son gré, sur le canevas de l’histoire des hommes; mais il lui est interdit d’en faire autant de l’histoire de l’homme. Il n'y a que la vérité qui doive se charger d’en parler. 246 Fiktionen müssen Allegorien der einen Wahrheit sein. Als solche können erfundene Einzelschicksale zwar frei gestaltet werden; die allgemeingültige heilsgeschichtlich bedingte conditio humana kann jedoch nur der prophetische Dichter im Verein mit der vérité erläutern: Der Geschichtenerzähler, dem das Einzelne zugestanden ist, muss hier schweigen. Wahrheit ist im Sinne der Philosophia perennis nur als Teilhabe möglich, und auch der Dichter kann sich nur in freiem Willen für eine dargebotene Intelligenz entscheiden. Da insofern die Imagination eben doch nicht autonom schöpferisch ist, ist Saint-Martin als Poetologe nur bedingt ein Theoretiker der imagination créatrice. So weit zur Kreativität als Erfindung. Aber wir müssen noch zwei weitere Fragen stellen: Wie steht es um die Kreativität bei der Herstellung stofflicher Artefakte? - Und wie steht es um die Kreativität bei derjenigen Tätigkeit, von der unsere Überlegungen ihren Ausgang nahmen und die wir als zentral für die Tätigkeit des Geistmenschen und besonders des 242 Vgl. Becq 1975, S. 415. 243 Vgl. hierzu Knabe 1972, S. 305. Hier wird auch vorgeführt, wie die imagination sich etwa bei Batteux mit dem enthousiasme verbindet und, dadurch aufgewertet, fast mit diesem identisch wird (S. 311). 244 Saint-Martin 1807, II, S. 173 245 Saint-Martin 1802, S. 311 246 Saint-Martin 1802, S. 329 567 prophetischen Dichters herausgestellt haben: der Rückbindung der Dinge an ihr göttliches Prinzip? Was die Herstellung materieller Dinge angeht, so meldet sich bei Saint- Martin das Motiv einer menschlichen Kreativität, die zwar nicht autonom ist, aber das System, in dessen Rahmen sie relativiert wird, zu kippen droht. Wir lasen anlässlich des in Kapitel III, 2.2.2.b referierten Gedankens des philosophe inconnu, der Mensch arbeite auch in seiner Manipulation der grobstofflichen Erscheinungen an der Schöpfung mit, folgende Zeilen im Tableau naturel: Car, quoique ces œuvres ne soient formés que par des transpositions ou modifications, on ne peut se dispenser de les regarder comme des espèces de créations, puisque par ces divers arrangemens et combinaisons de substances matérielles, nous réalisons des objets qui n'existoient auparavant que dans leurs principes. 247 Die Objekte, die auf der Ebene der Prinzipien oder Ideen existieren, kann der Mensch nicht erfinden, sie kommen von Gott (wenn sie nicht nichtige Einflüsterungen Satans sind). Aber er kann das, was Gott ihm anbietet, in eine materielle Realität transponieren, indem er deren Bestandteile verschiebt und neu kombiniert (denn auch diese kann er nicht schaffen). Die positiven Konnotationen des Schöpfungsbegriffs lassen diese bloße Realisation einer eigentlich ontologisch höherwertigen Idee jedoch als eine wünschenswerte Ergänzung zu dieser erscheinen - so, wie überhaupt in einer an den Timaios anschließenden platonischen ‘Schöpfungs’-Lehre die Abbilder ihre eigentlich vollkommenen Urbilder supplementieren. Zieht man von hier eine Verbindung zu der an Böhme angelehnten Auffassung des späten Saint-Martin, so kann man sagen: Mit dem stofflichen Schaffen des Menschen setzt sich der Widerspruch zwischen einer letztlich auf der selbstgenügsamen Vollkommenheit Gottes und seiner Ideen aufbauenden Ontologie und der Dynamik des notwendig überfließenden Gottes, der Gestalt werden und schaffen muss, um sich zu erkennen, in die gefallene materielle Welt hinein fort. Selbst noch die Manipulation der verfinsterten Stofflichkeit durch den sündigen Menschen dient der Manifestation und der Selbsterkenntnis Gottes, weil sie den nunmehr als Entwürfe (und nicht mehr als sich selbst genügende Geistschöpfungen) aufgefassten Ideen materielle Gestalt gibt. Und insofern (aber ohne die gleichzeitig von Saint- Martin vorgebrachte radikale Einschränkung menschlicher Kreativität leichtfertig wegzuwischen oder zu übersehen) kann man doch von einer menschlichen imagination créatrice sprechen - wenn man nämlich bereit ist, die zu realisierende imago als ‘Intelligenz’ im Sinne der Intelligenzenlehre Martines de Pasquallys zu deuten. Was nun die schöpferische Tätigkeit des prophetischen Dichters betrifft, so ist sie, wie wir wissen, Weiterführung der Aktivität Gottes, dessen ver- 247 Saint-Martin 1782, I, S. 5 568 kleinertes Abbild der kreative Mensch ist. Vor allem in der an Böhme angelehnten Fassung von Saint-Martins Lehre ist Gottes Schaffen ein Musterbeispiel einer tätigen Bildkraft, die den Entwurf aus sich heraus stellt und in der liebenden Hinwendung zu diesem wiederum zeugend das Neue hervorbringt (wenn auch dieses nur der Spiegel der unendlichen bereits im Schöpfer vorhandenen Möglichkeiten ist). So kann man Becq ebenso wie der Darstellung von Jacques-Chaquin (1979) bezüglich der Teilhabe des Menschen an der göttlichen Manifestation durchaus zustimmen, wenn auch Saint-Martin Gottes autonome Entwurfskraft aufgrund seines Augustinismus nicht auf den Menschen übertragen kann. Vor allem auf der Ebene der Tätigkeit des begehrenden Urteils könnte man, unter Beachtung der oben erwähnten Einschränkungen, von einer imagination créatrice sprechen. Die schaffende Aktivität des Menschen als Rückbindung der Dinge an die Einheit Gottes, das Transparentmachen der Spiegel, bedeutet ja, wie Becq an anderer Stelle ausführt, eine tatsächliche Teilhabe des Menschen an der imaginativen Tätigkeit des göttlichen Selbstentwurfes. 248 Und insofern bietet sich für den Homme-Esprit tatsächlich die Möglichkeit, sogar die Notwendigkeit einer entwerfenden Imagination, aber eben auch hier keiner autonom menschlichen: Der Mensch hilft Gott durch sein geistiges Wort dabei, sich entwerfend zu manifestieren, aber der Entwurf selbst ist keine Leistung des Menschen. 3.2.4. Die Dichtung als Auflösung der Sprache Wir sahen oben, dass die Arbeit des Dichters auf der Ebene der Ideen stattfindet. Gleichwohl muss der irdische Dichter sich der gefallenen langues factices für dieses Geschäft bedienen. Auch der Dichter gerät damit in die Spannung von Energie und Repräsentation hinein, denn er muss die Wahrheit des Geistes „avec le même feu qui lui sert de substance“ malen, „feu vivant par soi et dès-lors ennemi d’une froide uniformité […] toujours neuf,“ 249 kann sich dafür aber nur einer fest gewordenen, nicht feurigen und keineswegs stets neuen Sprache bedienen. Diese Energie des Feuers spielt nun in der Vorstellung, die Saint-Martin von diesem Verhältnis der inneren lebendigen zur äußeren konventionellen Sprache hat, eine besondere Rolle. Das Feuer des lebendigen Logos erlaubt es dem Dichter nämlich (hier in alchemistischer Bildlichkeit beschrieben), zur Essenz der Dinge vorzudringen. Das Wirken dieses prophetisch-poetischen Feuers auf die Erscheinungen der grobstofflichen Welt ist denn auch in Bildern der Auflösung, ja Zerstörung dargestellt: […] puisque quand elle atteint vraiment son objet, il n’est rien qui ne doive plier devant elle; puisqu’elle a, comme son Principe, un feu dévorant qui l’ac- 248 Vgl. Becq 1975, S. 421-423 249 Saint-Martin 1775, S. 493 569 compagne à tous ses pas, qui doit tout amolir, tout dissoudre, tout embraser, et que même c’est la première loi des Poêtes de ne pas chanter quand ils ne sentent pas la chaleur. 250 Der furor poeticus dringt zum Wesen der Dinge vor und betreibt dabei die Auflösung der opaken Oberfläche der toten Stoffnatur. Die innere parole ist nicht nur als Gegensatz zur koagulierten Natur gedacht, sondern auch als Agent ihrer Auflösung und Verfeinstofflichung, als Fluidum etwa, 251 das eine Rarefaktion des Stofflichen ermöglicht. Bereits im Tableau naturel lesen wir, der Weg des Menschen gehe weg vom Soliden; er müsse die Welt rarer, vergeistigter machen. 252 Dies gilt am Ende auch für die langues factices, mit denen der Dichter arbeitet: Die dichterische Sprache muss sich selbst auflösen, denn alle irdische Sprache verhüllt den lebendigen Logos. Die Arbeit der Sprache an ihrer eigenen Aufhebung ist bei Saint-Martin als Auflösung der Differenz gefasst. Der Weg zur Einheit in Gott verläuft „en détruisant les différences“, obwohl uns doch hienieden alles nur in Differenzen kenntlich ist. 253 Die Unterscheidungen, die irdisches Denken und irdische Sprache ermöglichen, müssen mit deren Hilfe zerstört werden, damit dahinter die unité Gottes wieder hervorkommen kann: car c’est une vérité à la fois profonde et humiliante pour nous, qu’ici-bas les différences sont les seules sources de nos connoissances; puisque si c’est de-là que dérivent les rapports et les distinctions des Etres, ce sont les mêmes différences qui nous dérobent la connoissance de l’Unité, et nous empêchent de l’approcher. 254 Die Destruktion von Differenz zielt auf die Konstruktion einer in menschlicher Sprache nicht fassbaren Einheit. Wie Nicole Jacques-Chaquin jedoch pointiert darlegt, strahlt auch diese Formulierung der Insuffizienz irdischen Zeichengebens noch einmal (wie schon das von uns oben untersuchte Bild von den Archiven) auf die - hier wie stets durch die Möglichkeiten menschlicher Sprache getrübte - Erfassung des göttlichen Manifestationsgeschehens zurück: Schon Gott musste sich, um sich in den Spiegeln erkennen zu können, von der Einheit in die Differenz entäußern; Gott selbst erkennt also (gemäß der begrenzten menschlichen Vorstellung zumindest) ebenso durch Differenz wie der Mensch, der berufen ist, die Differenz einzuebnen, um zu Gott zurück zu gelangen. 255 Die Trennung und die Aufhe- 250 Saint-Martin 1775, S. 493-494 251 Saint-Martin 1800, II, S. 67 252 Saint-Martin 1782, I, S. 156-157 253 Die Kommunikation der Wesen untereinander ist überhaupt, wie das Verhalten der Lebewesen auf der Nahrungskette zeigt, ein Begehren nach Einverleibung zur Auflösung der Differenz, „afin que les subdivisions venant à disparoître, ce qui est séparé se réunisse“ (Saint-Martin 1782, I, S. 39). 254 Saint-Martin 1782, II, S. 143 255 Jacques-Chaquin 1983, S. 20 570 bung der Einheit in der Differenz ist von Anfang an auch der Preis der Selbsterkenntnis Gottes, und dadurch erhält selbst das Böse (als extremer Horizont dieser Trennung) seine Funktion für das Gute. 256 Böhme hat diesen Gedanken mythisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er in seiner Geschichte der Manifestationen Luzifer den Anfang machen ließ; Gott musste folgen. Das Böse als Preis der Herrlichkeit, wie wir es bei Martines fanden, kehrt also hier in erkenntnistheoretischem Gewande zurück. Kann Saint-Martin sein nunmehr in wesentlichen Zügen referiertes poetologisches Programm auch selbst umsetzen? Es dürfte klar geworden sein, dass die Forderungen des philosophe inconnu an die Dichter utopische und phantastische Züge tragen, die es verwunderlich erscheinen ließen, wenn ihr Autor vollendete Beispiele für ihre Erfüllung hätte geben können. Gleichwohl sollen am Ende dieser Überlegungen die Eröffnungsverse des Homme de désir stehen, an denen man zunächst einmal den an die Bibel angelehnten prophetischen Ton gut studieren kann, aber auch die anderen dargestellten Punkte unterschiedlich stark realisiert findet. Die Forderung nach Auflösung der Differenz realisiert sich in der Betonung der scheinbaren Unordnung der Schöpfung: Es kommt nicht darauf an, die Wunder des Schöpfers im Einzelnen zu unterscheiden, denn es genügt, dass sie alle aus seiner Einheit hervorkommen. Dies - und nicht eine in sprachlicher Repräsentation zu leistende Taxonomie - garantiert die Erkennbarkeit der Sophia hinter den Dingen. Die Zeugungsbeziehung der „merveilles“ zu dem hinter ihnen erkennbaren „Seigneur“ ist der energetische Kausalzusammenhang, der an Stelle der Anordnung eines „plan plus régulier“ die Transparenz der Natur begründet und die Anordnung nach Differenzen unnötig macht. Das Vor-Augen-Stellen im Sinne Saint-Martins kann man im Bild des sich brechenden Sturzbaches der parole erkennen: Nach einem Satz, der das fragliche Bild noch mit „comme“ als Vergleich präsentiert, wird im folgenden Vers nicht das Objekt des Hauptsatzes, die durch den Sturzbach symbolisierte parole, mit „le“ wieder aufgenommen (denn sonst hieße es ‘la’), sondern der „torrent“ auf der Vergleichsebene, so als stünde der Logos plötzlich als jene die lebensspendende Sonne reflektierende Wasserflut konkretisiert und verwandelt vor unseren Augen. Der folgende Vers vervollständigt die Analogie zwischen dem in seinen von ihm energisierten Geschöpfen kenntlichen Schöpfer, der im Wort reflektiert wird, und der die ‘untere’ Natur energisierenden Sonne, die sich im Wasser spiegelt. Diese Analogie ist selbst Spiegel: Hier spiegelt das Bild das Gemeinte, ein Analogon das ihm gegenüberstehende andere. Das Fluidum der dichterischen Sprache wird das dritte Gewässer, das die Spiegeleffekte der beiden anderen wiederum spiegelt und eigentlich erst herstellt. Schließlich bezieht das Naturgeschehen zwischen Sonnenlicht und Wasserflut sein Pathos aus 256 Vgl. Jacques-Chaquin 1978, S. 188. 571 seiner durch die dichterische Rede hergestellten Verbindung zum lebensspendenden Fluss des Logos, an dem auch diese dichterische Rede Anteil hat. Der Effekt der Rührung, den dies hervor ruft, soll den Leser konvertieren, und so wird dieses erste Gedicht mit den Worten schließen: „Et nous célébrerons ensemble les joies de l’homme de désir, qui aura eu le bonheur de pleurer pour la vérité.“ 257 Les merveilles du Seigneur semblent jetées sans ordre et sans dessein dans le champ de l’immensité. Elles brillent éparses comme ces fleurs innombrables dont le printemps émaille nos prairies. Ne cherchons pas un plan plus régulier pour les décrire. Principe des êtres, tous tiennent à toi. C’est leur liaison secrète avec toi, qui fait leur valeur, quelle que soit la place et le rang qu’ils occupent. J’oserai élever mes regards jusqu’au trône de ta gloire. Mes pensées se vivifieront en considérant ton amour pour les hommes, et la sagesse qui règne dans tes ouvrages. Ta parole s’est subdivisé lors de l’origine, comme un torrent qui du haut des montagnes se précipite sur des roches aiguës. Je le vois rejaillir en nuages de vapeurs; et chaque goutte d’eau qu’il envoie dans les airs, réfléchit à mes yeux la lumière de l’astre du jour. Ainsi tous les rayons de ta parole font briller aux yeux du sage ta lumière vivante et sacrée; il voit ton action produire et animer tout l’univers […] 258 257 Saint-Martin 1790a, S. 26 258 Saint-Martin 1790a, S. 25 572 4. Zusammenfassung IV Saint-Martin zieht die Konsequenz aus der Gegenstellung von Pansemiotik und Panenergetik seiner Sprach- und Weltsicht und marginalisiert in ihr das Element der Repräsentation, welches zuvor von der Vorstellung der Sprache als Energiefluss durchkreuzt wurde. In Anlehnung an Böhme begreift er insgesamt die Welt- und Sprachwerdung als Fluss von Energie und Zeugung, von Aktivität, Leben und Begehren. Da er jedoch auch Böhmes Vorstellung von der Schöpfung und besonders vom Menschen als Spiegel und Archiv der Gottheit übernimmt, erneuert sich der Widerspruch von Pansemiotik und Panenergetik nunmehr auf einer anderen Ebene. Der reine Fluss muss wiederum in fester zeichenhafter Aufbewahrung arretiert werden, damit der energetische Gott von sich Kenntnis haben kann. In Saint-Martins und Böhmes Version des ‘Spiegels der Natur’ wird dabei jedoch die (eine Möglichkeit des ‘klassischen’ Modells konstituierende) Vorstellung von der Erkenntnis als getreuer Darstellung auf phantastische Weise kritisiert und überwunden. Nun ist Gott der Rezipient der Spiegelung. Damit aber wird der Auftrag des Menschen, Gott zur Erkenntnis seiner selbst zu verhelfen, zur Überlebensfrage für den eigentlich unsterblichen Schöpfergott: Wenn er nicht anders kann, als sich schaffend zu manifestieren, muss ein Zusammenbrechen der Manifestationskette ihn im Innersten seines Seins treffen. Die Betonung von Erkenntnis und Energie (die Saint-Martin mit teils ganz andere Ziele verfolgenden Zeitgenossen eint) gefährdet schließlich Gott selbst. In der Fassung der Selbsterkenntnis Gottes als Spiegelung im Anderen wirkt schließlich die Differenz, die das irdische Erkennen ermöglicht, in die göttliche Sphäre zurück: Sie wird Preis der Selbsterkenntnis, und so erneuert sich hier in erkenntnistheoretischer Fassung auch Martines de Pasquallys Vorstellung vom Bösen (der letzten Konsequenz solcher Trennung und Differenz) als Preis der Herrlichkeit Gottes. Saint-Martins Beschreibung der geistigen Sendung des Menschen bleibt jedoch nicht in dieser frommen Phantastik stecken, sondern konkretisiert sich in einer Theorie vom Urteil als begehrendem Entwickeln von Ideen und Zeichen, durch die die Erkenntnistheorie in eine Poetik überführt wird. Die opak gewordenen Zeichen der Natur wieder sprechend zu machen und auf die sie erzeugenden Ideen zurückzuführen, ist hier nur der erste Schritt. Der wichtigere zweite Schritt besteht darin, die Idee selbst in einem emotionalen Akt mit ihrem göttlichen Ursprung zu verbinden und so das Begehren, das - als aus der Trennung von Gott resultierende Grundenergie des Menschen - Motor aller Aktivität ist, zu seiner Befriedigung in der Überwindung dieser Trennung zu führen. Dabei wird die Dif- 573 ferenz zwischen Mensch und Gott ebenso wie die zwischen den einzelnen Naturgegenständen aufgehoben, da diese alle in der Hinordnung auf Gott aufgehen sollen (der sich jedoch selbst nur in der Differenz erkennen kann). Überhaupt ist die letzte Konsequenz der sprachlichen Tätigkeit des Menschen, die sich ja immer auf die Geist- und Ideensprache bezieht, die Differenzen, die uns die gefallene Sprache und Erkenntnis erst ermöglichen, einzuebnen. Und so ist auch die Aufgabe des messianischen Dichters, der durch seine prophetisch inspirierte Sprache mit ihren kühnen Tropen besonders berufen ist, die Ideen nach oben zu entwickeln und auf sie zu wirken, am Ende die irdische Sprache, deren er sich bedient, im Feuer seiner Dichtung zu verbrennen. Hier sind zweifellos einige ‘zukunftsträchtige’ Konzeptionen zu finden - so die Idee der Freilegung des Wesens der Dinge durch dichterisch ahnende Rede (die selbst eine enthusiastisch-energetische Neuauflage des antiken furor poeticus ist); das Pathos der Naturerkenntnis, das auch die zeitgenössische Naturwissenschaft kennzeichnet; eine nicht mimetische, produktive Auffassung von Dichtung; die Betonung ihrer emotionalen Natur; der Gedanke, dass die eigentliche dichterische Rede jenseits der Wörter sei; vielleicht, wenn man so will, so etwas wie Transzendentalpoesie. Einige (teils auf Viatte (1928) aufbauende) neuere Forschungen haben den Weg solcher und anderer illuministischer Konzeptionen ins neunzehnte Jahrhundert verfolgt; stellvertretend seien Porter (1972) zu Nodier und Croisille (1975) zu Lamartine genannt. Eine interessante mögliche Verbindung zu Baudelaire (bezüglich der ‘blinden Spiegel’) verfolgt Becq (1975). 259 Zwei Qualifikationen müssen an dieser Liste freilich noch angebracht werden, eine negative und eine positive: Die nicht mimetische, sondern produktive Enargeia ist bei Saint-Martin nicht im Sinne einer autonomen Erkenntnis oder gar Kreation aufzufassen, sondern verbleibt im Horizont der Intelligenzen-Lehre. Andererseits ist das Pathos der Naturerfassung bei Saint-Martin noch von anderer Qualität als bei seinen Zeitgenossen. Der Naturwissenschaftler ist für ihn letztlich Dichter, und der Dichter Naturwissenschaftler, zugleich wäre aber ein bloßer Landschaftsdichter, der nicht wie die Naturwissenschaftler einen Blick für die inneren Zusammenhänge und Details der Natur entwickelt hätte, kein Dichter. Die Konsequenz solcher Anschauungen müsste wohl sein, Naturwissenschaft als ästhetische und mythopoetische Leistung zu würdigen und umgekehrt auch das ästhetische Bemühen auf die Natur zu richten. Das Jahrhundert nach Saint-Martin hat hier (in Frankreich schon früh, in Deutschland erst nach dem Verblassen der romantischen Naturphilosophie) eine immer strengere Trennung aufgebaut. 259 Vgl. Becq 1975, S. 423n 574 S CHLUSS Im Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme, et l’univers bemerkt Saint-Martin, der Atheismus sei eine nicht konsistent begründbare Position, da eine Leugnung Gottes in der Sprache sich des Logos und des Wahrheitsbegriffes bedienen müsste; 260 beide sind aber, wie wir sahen, in Saint-Martins augustinisch beeinflusster Theosophie selbst Aspekte des Wesens, dessen Existenz der Atheist leugnen will. Ein strukturverwandtes Argument gegen die pyrrhonische Skepsis hatte Hume in seiner Enquiry Concerning Human Understanding konzedierend referiert: „It may seem a very extravagant attempt of the sceptics to destroy reason by argument and ratiocination“ (die konzessive Form dieses Satzes deutet allerdings darauf hin, dass Hume auf den folgenden Seiten, nachdem er die Aporien eines radikalen Skeptizismus hinter sich gelassen hat, einen eigenen mitigated scepticism vorstellen wird). 261 Der Theosoph und der Skeptiker kommen darin überein, dass auch die Leugnung von Wahrheit sich in einem Wahrheitsspiel situieren muss, das den je geleugneten Begriff trägt und erschließt. Andererseits sieht man an der obigen Gegenüberstellung, dass gleiche Begriffe auch in miteinander unvereinbaren Spielen auftreten können und dann wohl auch nur noch bedingt gleich genannt werden können. Die Ratio Augustins ist nicht diejenige Humes. Dennoch richtet sich Saint- Martins Argumentation ja an einen Gesprächspartner, dem unterstellt wird, er könne diese Argumentation verstehen - zweifellos, weil die meisten Begriffe gemeinsam erschlossen sind, und auch diejenigen, die sich nicht decken, sich doch überschneiden. Darüber hinaus kommen verschiedene Diskurse unter Umständen auch in ihren formalen Verfahren, in ihren Praxen, überein; sie können einer gemeinsamen größeren Formation angehören, die die Wahrheitsspiele einer Epoche (wenigstens zum Teil) regelt. Teilnehmer am illuministischen Diskurs können also Schnittpunkte und strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem aufklärerischen Diskurs dazu nutzen, ihre Positionen vorzubringen und diejenigen des Gegners zu kritisieren. Die beiden referierten Aussagen, die den gemeinsamen Wahrheitsbezug unvereinbarer Standpunkte zu ihrem Inhalt haben, illustrieren auch in ihrem Verhältnis zueinander dieses komplexe Verhältnis von Diskursheterogenität und Begegnung. Verschiedartige Diskurse laufen also nicht als Monologe nebeneinander her. Vielmehr können sie, wie wir in der E INLEITUNG vermuteten, auf mehrere Arten in Kontakt treten: durch gemeinsame Zugehörigkeit zu einer 260 Saint-Martin 1782, I, S. 59f. 261 “An Enquiry Concerning Human Understanding“, XII,ii, in: Hume 1748/ 1751, S. 155 575 Formation, die sich dann in Strukturverwandtschaften zeigt; durch Schnittpunkte in gemeinsam oder teilweise gemeinsam erschlossenen Themen und Begriffen; durch Inklusionsverhältnisse zwischen ihnen. So stellten wir fest, dass der illuministische Diskurs einerseits ein Sonderdiskurs ist, dessen Außenseitertum sich in einer Dialektik von Ausgrenzugsversuchen und Teilnahmebemühungen zeigte, andererseits aber in verschiedenen strukturellen Zügen und Praxen mit den von der Allgemeinen Grammatik vorgegebenen Leitstrukturen des ‘klassischen’ Zeitalters übereinkam, sowie an wichtigen Schnittpunkten in die übrigen Diskurse hineinwirkte (oder hineinzuwirken versuchte). Die Teilnahme und die Begegnung, die sich so abzeichneten, waren ihrerseits wiederum teils lediglich solche (und die besonderen ontologischen Annahmen der Illuministen standen in diesen Fällen keinen für das je andere diskursive Spiel konstitutiven Annahmen entgegen), teils spezifisch als subversive Teilnahme oder kritische Opposition zu verstehen. In manchen Fällen illustrierten sie auch Defizite der je anderen Formation. So bezog sich Saint-Martin zwar auf das Repräsentationsmodell von Sprache (innerhalb dessen seine Beschreibung der tatsächlichen Sprachen als Sonderfall erklärt werden kann), radikalisierte und differenzierte es jedoch und wertete zugleich andere Versionen desselben vor dem Hintergrund einer utopischen bzw. mythischen Vorstellung vom edenischen Sprachzeichen ab. Die Sendung des martinistischen Adam war zwar in besonderer Weise eine solche der Repräsentation, aber sein Zeichengeben war ein aktives Bei-den-Dingen-Sein, das einen Abstand zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht vorsah. Zum Analyse-Genese-Modell der ‘klassischen’ Wissensform entwickelte der Martinismus einerseits mythische Gegenentwürfe, die auf die narrativen und fiktionalen Reste dieses Modells verwiesen, andererseits polemische Bezugnahmen, die ganz präzise auf zentrale Punkte zielten (so den Universaldiskurs, wie er in der idéologie versucht wurde) und dort Gegenpositionen am Schnittpunkt der Diskurse aufstellten. Insbesondere die Entwicklung einer qualitativen Mathematik (aus pythagoreischem Erbe) stand quer zu dem Projekt einer Hinordnung der Taxinomia auf die Mathesis. Mit Court de Gébelin hatte Saint-Martin gemeinsam, dass er das in der Analyse-Genese zu durchlaufende Tableau zu einer Ruine umdeutete. Bei verschiedenen Autoren, illuministischen wie nicht illuministischen, zeigte sich sodann die offene Geschichte als Grenze dieses Modells. Den Ideologen, die sich ganz in der gefallenen Welt bescheiden wollen und daher immer mehr von der Metaphysik zu einer Analyse der Semantik philosophischer (und anderer) Begriffe übergehen, setzt Saint-Martin eine Metaphysik der Manifestation entgegen, die jedoch selbst wieder eine Semiotik ist. Denn die Produktionen und Wurzeln, die Lebensflüsse und substanzhaften geistigen Wesenheiten, um die es in dieser Metaphysik 576 geht, sind Bestandteile eines Zeichengeschehens. Jede Ontologie muss für Saint-Martin daher Semiotik sein, und jede ernsthafte Semiotik Ontologie - aber wo alles Zeichen ist, ist auch nichts Nicht-Zeichen, und nichts ist vor anderem und in distinkter Weise Zeichen. Während ihre Tendenz zu einer Semiotik anstelle einer Ontologie außerdem die idéologues mit der Zeit dazu führt, (trotz ihrer Versicherung, was sie betrieben, sei die Analyse von Ideen) die Konzepte als Bestandteile der Sprache zu analysieren, also signifiant und signifié letztlich dann beide sprachlich und als Bestandteile des Zeichens zu denken, bekräftigt Saint- Martin noch einmal den Gedanken, man könne auch bloße Ideen fassen und bewegen. Diese Vorstellung steht einer (später häufigen) Auffassung nahe, nicht die Wörter machten die Poesie aus, sondern das Unaussprechliche hinter ihnen. In einem von solchen und ähnlichen Auffassungen geprägten Kontext geraten die Entwicklungen der Ideologen zunächst ein wenig in Vergessenheit, um dann am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit Saussure und seiner Konzeption eines zweiwertigen Zeichens wieder zu kehren. Was die Welthaltigkeit und Erkenntnistauglichkeit menschlicher Rede anging, so hatte Condillac versucht, einen holistischen Entwurf durch Einbettung eines passiven Erkenntnissubjekts in natürliche Abläufe abzustützen. Schon die idéologues, mehr aber noch die Illuministen, empfanden diesen Passivismus jedoch als defizitär. Wo dies bei Gérando aufgrund einer nun als Subjektivität auftretenden Aktivität des Erkennenden zu neuer Dunkelheit führte, setzten die Martinisten auf eine radikal augustinische voluntaristische Erkenntnistheorie, die einerseits die Autonomie der Sinnlichkeit leugnete (und diesbezüglich das Dunkel zum Normalzustand erklärte), andererseits gerade die Aktivität des Menschen zur Grundlage einer ganz anderen Art von Gewissheit zu machen suchte. Neben der hier auftretenden Konzeption der Energie war das Bild der Ruine als besondere Form einer Anordnung ein (in verschiedenen Diskursen anzutreffender) Überhang, der sich im ‘klassischen’ Modell nicht mehr ganz fassen ließ. Er trat als zentrales Moment einer - analogisches Erbe aus der Renaissance-Hermetik seinerseits in die ‘klassische’ Wissensform einpassenden - illuministischen Pansemiotik auf. Diese Einpassung zeigte, dass bei den Martinisten (trotz ihrer Reste älterer diskursiver Praktiken) keine „Diskurs-Renovatio“ im Sinne von Küpper (1989) vorlag, sondern eine zeitgemäße Umprägung, die ihrerseits auch die Spiele, an die das ältere Wissen angepasst wurde, subvertierte. Im Magnetismus hingegen war zwar durchaus eine solche Renovatio greifbar (bezüglich des Konzepts der universellen Sympathie), aber gerade hier handelte es sich um eine politisch vorwärts gewandte Denkrichtung, die sich der älteren Modelle im Sinne einer teils an Rousseau geschulten revolutionären Tendenz bediente. Die in der illuministischen Pansemiotik auftretende besondere Motivik des 577 Mikrokosmos als Blaupause der Schöpfung ließ sich auch in der Evolutionstheorie eines Robinet nachweisen, die außerdem - wie andere naturwissenschaftliche Konzeptionen des achtzehnten Jahrhunderts - in der Tradition der ‘Kette der Wesen’ stand. Die beiden möglichen Erklärungsrichtungen vom Mikrokosmos auf den Makrokosmos und umgekehrt, sowie ein Ineinander beider, begegneten bei verschiedensten Autoren, wobei die Deutung der Ruinen der großen Welt durch die unveränderliche Natur der kleinen, also des Menschen, als mythische Vor- und Nebenform einer neuen Begründung von Wissen durch eine immer schon gewusste Natur des Menschen aufgefasst werden konnte; diese Figur ist allerdings auch ein traditioneller Zug von Theosophie und Theologie. In dieser Mikrokosmos-Makrokosmos-Beziehung studierten wir wieder das Motiv der Ruinen, die als verfallene, auf die Abwesenheit von Leben, Funktion und Dynamik weisende Form des Tableaus, wie schon die Unruhe und Energetik der Martinisten, auf den Begriff der Energie verwies. Dieser wurde sodann einem nunmehr diachronischen Blick als ein in Bewegung befindliches Element innerhalb der klassischen épistémè erkennbar, das im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Verschiebung führte, welche - aus teils vollkommen unterschiedlichen Gründen - von verschiedenen Diskursteilnehmern (Materialisten, Illuministen, Magnetisten, katholischen Apologeten), mit getragen wurde. Gegensätzliche strategische Vorhaben spielten in dem von uns untersuchten Zeitraum zusammen; die einen Diskursteilnehmer nahmen Spielzüge der anderen auf, deuteten sie um, missverstanden sie, distanzierten sich von ihnen, parodierten sie. Aus dieser unübersichtlichen Gemengelage konnte sich Neues durch Differenzierung (und vielleicht auch so etwas wie Selektion), durch Bezüge von Frage und Antwort und eventuell durch Synergien entwickeln, ohne dass das Neue notwendig aus dem Alten hervorgehen musste. Was die Energie betraf, so wurde dabei ein intrinsischer Widerspruch innerhalb des die taxonomische Wissensform speisenden Grundmythos der ‘Kette der Wesen’ ausgestaltet, welcher Anordnung und Energie von Anfang an als eine (bei den Martinisten wiederum mit einem inneren Gefälle ausgestattete) Alternative kannte. Das Spiel der Bevorzugung der Energie einte die verschiedensten Gruppen und Zielrichtungen und ergriff verschiedene Diskurse, wobei es nicht die Empirie war, die dazu zwang, sondern die Möglichkeiten der Diskurse selbst. Die Pansemiotik des Martinismus zeigte sich unter diesem Blickwinkel als Panenergetik. Innerhalb der mythischen Sprachtheorie der Martinisten wurde diese Alternative von Pansemiotik und Panenergetik sodann wieder als kritischer Widerspruch greifbar, den Saint-Martin durch einen Wechsel des Hintergrundmythos von Martines auf Böhme zu korrigieren suchte. Die nunmehr absolut gesetzte Energetik allen Zeichengeschehens verfing sich jedoch selbst wieder in ähnlichen Widersprüchen. Dabei war jedoch nicht 578 so sehr diese Tatsache selbst von Interesse, als die Fülle interessanter Gedanken, die, teils getrieben von diesen Aporien, insbesondere von Saint- Martin entwickelt wurden (und deren bemerkenswertes Profil - neben der Erschließung abseitiger Texte als solcher - eine mögliche Rechtfertigung unserer Gewichtung des Einzeltextes sein könnte). Besonders die Konzeptionen vom Urteil als einem entwickelnden Begehren und vom messianischen Dichter, der in kühner Metaphorik Geistnatur und Sprache erneuerte, waren hier hervor zu heben. Der gnostische Grundzug, dass „die wirkliche Welt endlich zum Irrtum wurde,“ (Sloterdijk 262 ) war dabei in Saint-Martins Werk (im Gegenzug zum Entgleiten der Welt bei manchen der idéologues) dahingehend weiter entwickelt, dass die Gnosis, die Einsicht in die eigene Fremdheit in einer Welt der Wirrnis, nur der erste von zwei Schritten ist. Das, was wirklich von den erreurs zur vérité führt, ist für Saint-Martin eine geistige Umgestaltung und Erlösung der den Menschen umgebenden Natur zu neuer Transparenz auf ihre eigentliche (göttliche) Regelmäßigkeit - durch eine Verbindung von Naturwissenschaft und Poesie. Diese müsste freilich in einer Spaltung spielen zwischen der Notwendigkeit von Differenz (die schon Grundbedingung von Gottes eigener Manifestation und Selbsterkenntnis war) und der Einebnung aller Differenzen (und also Rückkehr in eine göttliche Einheit, die vom Nichts nur schwer zu unterscheiden ist). Dass damit die mythischen Grundstrukturen theosophischer Weltkonstruktion auf die Aporien sprachlicher Logik zeigen, ist banal (wenn es auch vielleicht erklärt, warum sich Hegel besonders für Böhme interessierte), aber die Einzelheiten dieses Verhältnisses beleuchteten wiederholt mögliche Zusammenhänge von Aufklärung und Illuminismus und halfen dabei, diese (und die fraglichen Texte selbst) in einer auf Orientierung zielenden Erzählung zur Diskussion zu stellen. 262 „Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit“ in: Sloterdijk 1993, S. 27ff. 579 B IBLIOGRAPHIE Die in Klammern nach den Autorennamen aufgeführten Jahreszahlen sind in erster Linie Ordnungsmerkmale, welche die Unterscheidung mehrerer Publikationen desselben Autors ermöglichen. Da sie aber neben dem Namen des Verfassers das Einzige sind, was auch im Text genannt wird, werden sie zugleich zur historischen Orientierung des Lesers genutzt. Deshalb sind hier wo immer sinnvoll und möglich bevorzugt die Erstpublikationsdaten gewählt. Die tatsächlich zitierte Ausgabe ergibt sich dann aus der Jahresangabe am Ende des jeweiligen Eintrags. Lediglich kursorisch erwähnte Titel werden nicht aufgeführt. Texte 1700-1804 (Entstehungsdaten) AAVV (1783), Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangères, nouvelle édition, Mémoires des Indes et de la Chine, Paris 1783 AAVV (1784) (Borie, Sallin, d’Arcet, Guillotin, Franklin, Le Roi, Bailly, Lavoisier, Majault: ), Rapport des commissaires chargés par le Roi, de l’examen du magnétisme animal, Paris 1784 Addison, Joseph (1712), Critical Essays from The Spectator, Hrsg. D. F. Bond, Oxford 1970 Alliette (=Etteilla) (1977), Les sept nuances de l’œuvre philosophique-hermétique, suivies d’un traité sur la perfection des Métaux, mis sous l’avant-titre L.D.D.P. (Le Denier du Pauvre), Paris 1977 Amadou, Robert (Hrsg.) (1969), Trésor martiniste, Paris 1969 Amadou, Robert (Hrsg.) 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Franc-Maçonnerie, Paris 1990 Anonym (1781) (Henri-Onésime de Loos? : ), Le Diadème des sages, ou Démonstration de la nature inférieure; dans lequel on trouvera une analyse raisonnée du Livre des Erreurs et de la vérité […] par Philanthropos, Citoyen du Monde, Paris 1781 Anonym (1784a), La vision, contenant l’explication de l’écrit intitulé: Traces du magnétisme, et la théorie des vrais sages. „A Memphis, et se trouve à Paris“ 1784 Anonym (1784b), Théorie du Monde & des Etres organisés, suivant les principes de M., Paris 1784 Anonym (1784c), (Charles de Suze? ), Suite des erreurs et de la vérité, ou Développement du Livre des Hommes rappelés au Principe universel de la Science. Par un Ph […] Inc […] A Salomonopolis MMMMMDCLXXXIV, Paris 1784 Anonym (1786), Tableau analytique et raisonné de la doctrine céleste de l’église de la Nouvelle Jerusalem, prédite par le Seigneur […] Précis des œuvres théologiques d’Emanuel de Swedenborg, fidèle serviteur du Seigneur Jesus Christ, London 1786 580 Anonym (1789a), (Charles de Suze? ), Clef des erreurs et de la vérité, ou les hommes rappelés au principe universel de la raison, par un serrurier connu, à Hersalaïm 1789 Anonym (1789b), Apodiktische Erklärung über das Buch: Irrthum und Wahrheit vom Verfasser selbst. Nebst Original-Briefen über Katholizismus, Freimaurerei, Schwärmerei, Magie, Starken, Lavatern, Schwedenborg, Cagliostro, Schröpfern, Mesmern und Magnetismus. Zur Beruhigung der allarmirten Protestanten, „Wittenberg, Zürich und Rom“ 1789 Anquetil Duperron, Abraham H. (1771), Zend-Avesta, ouvrage de Zoroastre, contenant les idées théologiques, physiques & morales de ce législateur […] traduit en François sur l’original Zend, avec des remarques; & accompagné de plusieurs traités propres à éclaircir les matieres qui en sont l’objet, 3 Bde, Paris 1771 Aucler, Gabriel-André Quin(c)tus (1799), La Thréïcie, ou la seule voie des sciences divines et humaines, du culte vrai et de la morale, Paris, An VII Barbeguiere (1784), La Maçonnerie Mesmérienne, ou Les leçons prononcées par Fr. Mocet, Riala, Themola, Seca & Célaphon, de l’ordre des F. de l’Harmonie, en Loge Mesmérienne de Bordeaux, l’an des influences 5784, & du Mesmérisme le 1er, Amsterdam 1784 Bardin de Lutece (1790), L’oracle divin, ou l’explication & accomplissement des Prophéties, No. 1er, Paris 1790 Bergasse, Nicolas (1774), Considérations sur le magnétisme animal ou La théorie du monde et des êtres organisés, d’après les principes de M. 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