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«Comment savoir? Comment dire ? »

2009
978-3-8233-7485-5
Gunter Narr Verlag 
Sabine Zufelde

Das Werk des Nobelpreisträgers Claude Simon ist geprägt durch die Referenz auf die äußere, vor allem aber auf die eigene Realität sowie durch die Repräsentation dieser Realität mit den Mitteln fiktionaler Erzählliteratur. Die vorliegende Arbeit untersucht in ausgewählten Romanen Simons die metafiktionalen, metanarrativen und metahistoriographischen Diskurse - die selbstbezüglichen Kommentare des Textes zur Erfundenheit der erzählten Geschichte und der diese hervorbringenden Erzählerrede, zum eigenen Erzählen sowie zu den mit dem Schreiben von Geschichte verbundenen epistemologischen und narratologischen Problemen.

Gunter Narr Verlag Tübingen « Comment savoir? » - « Comment dire? » Metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse über Referenz und Repräsentation in Claude Simons Romanen La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) von Sabine Zufelde études littéraires françaises · 74 études littéraires françaises collection fondée par Wolfgang Leiner directeur: Rainer Zaiser « Comment savoir? » - « Comment dire? » Metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse über Referenz und Repräsentation in Claude Simons Romanen La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) von Sabine Zufelde Gunter Narr Verlag Tübingen Titelabbildung: Jean Dubuffet, La vie de famille © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 (schwarz-weiß Reproduktion) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0344-5895 ISBN 978-3-8233-6485-6 Für Rebecca und Gabriel 6 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Die Schrift wurde erst durch die fachliche Kritik und die hilfreichen Ratschläge all derer möglich, die ihren Entstehungsprozess mit Geduld und Interesse begleitet haben. So gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater Prof. Hans-Günter Funke, der mir nicht nur in zahlreichen anregenden und kritischen Gesprächen wertvolle Hilfestellungen geleistet hat, sondern mir darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet hat, die Arbeit als seine wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Jahren zwischen 2002 und 2005 wesentlich voranzubringen. Herzlich danken möchte ich darüber hinaus Prof. Wilhelm Graeber für die Übernahme des Korreferats sowie Prof. Frank Rexroth, der die Arbeit als Drittgutachter kritisch gelesen hat. Prof. Rainer Zaiser danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Reihe Études littéraires françaises und für das große Interesse, das er meiner Studie entgegengebracht hat. Fernerhin danke ich Prof. Maria Moog-Grünewald als damaliger Sprecherin für die Bewilligung eines Promotionsstipendiums des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs „Pragmatisierung / Entpragmatisierung: Literatur im Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen“ sowie für ihre konstruktive fachliche Kritik, die der Arbeit wesentliche Impulse gegeben hat. Auch dem Land Niedersachsen danke ich für die Bewilligung eines Promotionsstipendiums nach dem niedersächsischen Graduiertenförderungsgesetz. Bedanken möchte ich mich außerdem bei allen akademischen Lehrern und Kollegen, die mir neue Sichtweisen nicht nur auf die französische Literatur eröffnet haben: Prof. Elisabeth Arend, Dr. Hilke Behrens, Dr. Martin Biermann, Dr. Tanja Hupfeld, Annika Spilker, den Kollegen aus dem Tübinger Graduiertenkolleg und aus dem Doktorandenkolloquium in Göttingen. Besonders dankbar bin ich meinen Eltern, die mich die Welt des Wissens und der Bücher haben entdecken lassen und die an die Vollendung des Projekts geglaubt haben, wenn ich dessen nicht mehr gewiss war. Mein größter Dank gilt jedoch meinem Mann: seine Unterstützung in jeder Hinsicht und sein Zuspruch haben die Arbeit erst Wirklichkeit werden lassen. 7 Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung Les lieux que nous avons connus n’appartiennent pas qu’au monde de l’espace où nous les situons pour plus de facilité. Ils n’étaient qu’une mince tranche au milieu d’impressions contiguës qui formaient notre vie d’alors ; le souvenir d’une certaine image n’est que le regret d’un certain instant ; et les maisons, les routes, les avenues, sont fugitives, hélas, comme les années. Marcel Proust: Du côté de chez Swann 9 Inhalt Verzeichnis der Siglen ............................................................................. 14 1 Einleitung: Der Nouveau Roman Claude Simons im Spiegel postmoderner Autoreferentialität ..................................... 15 1.1 Das Thema: ‚Referenz’ und ‚Repräsentation’ bei Claude Simon.............................................................................................. 15 1.2 Der Kontext: autoreferentielle Diskurse über Fiktion und Narration im französischen Nouveau Roman und in der Literatur der Spät- und Postmoderne ............................ 21 1.3 Forschungsbericht: ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ und ‚Metahistoriographie’ im Werk Claude Simons ...................... 27 1.4 Ziel und Gang der Untersuchung.............................................. 33 Teil I Theoretische Entwicklung eines neuen Beschreibungsmodells metafiktionalen Erzählens ..................... 37 2 ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ - Bisherige Definitions- und Typologisierungsansätze........................................................... 37 2.1 R. Jacobsons Kommunikationsmodell und die Konzepte literarischer Autoreflexivität und Metatextualität .................. 38 2.2 ‚Metafiktion’ - Geschichte, Definitionen und Typologisierungen ....................................................................... 47 2.2.1 Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ ........................................................................ 47 2.2.2 1970-2006: Geschichte des literaturwissenschaftlichen Begriffs ‚Metafiktion’ ............................................. 50 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf ..... 67 2.2.4 Sonderformen: historiographische, autobiographische und epistemologische Metafiktion ................... 86 2.3 ‚Metanarration’ - Definitionen und Typologisierungen ........ 94 2.4 Zusammenfassung ....................................................................... 97 10 3 Ein narratologisches Modell der Metafiktion: ‚Metafiktivität’ und ‚Metafiktionalität’.......................................... 101 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale ............................................................................................ 103 3.1.1 Etymologie .......................................................................... 103 3.1.2 Definitionsansätze: Alltagssprache, Sprachphilosophie, Narratologie ................................................. 105 3.1.3 Textuelle und paratextuelle Fiktionssignale (nach F. Zipfel)............................................................................... 118 3.2 Ein neues Modell der Metafiktion: ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ als narratologische Analysekategorien........................................................................ 125 3.2.1 Definitionen......................................................................... 127 3.2.2 Typologie ............................................................................. 130 3.3 Zusammenfassung ....................................................................... 134 Teil II Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in ausgewählten Texten Claude Simons ........ 135 4 « Comment savoir ? » - Metafiktion und Erkenntnisskepsis in La Route des Flandres (1960) ...................... 135 4.1 Einführung .................................................................................... 135 4.2 Vorbemerkung: ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ als zentrale Themen des Romans im Spiegel von Psychologie und Phänomenologie ............................................ 137 4.2.1 ‚Wahrnehmung’ und Wahrnehmungspsychologie ...... 139 4.2.2 ‚Wahrnehmung’ und Gedächtnispsychologie ............... 141 4.2.3 ‚Wahrnehmung’ und Phänomenologie .......................... 145 4.3 Rekonstruktion und Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit............................................................ 149 4.3.1 Visuelle, auditive, olfaktorische und haptischtaktile Sinneswahrnehmungen als Quellen des individuellen Gedächtnisses ............................................ 150 4.3.2 Schrift- und Bildzeichen als Quellen des kollektiven Gedächtnisses ................................................ 152 11 4.3.3 Problematisierung der Repräsentationsfunktion von Sinneswahrnehmungen, Sprache sowie Schrift- und Bildzeichen .................................................... 162 4.4 Erkenntnis als Fiktion - Metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit ................................................................ 184 4.4.1 „Comment savoir? “ - Georges zwischen Wissen und Nicht-Wissen .............................................................. 186 4.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen, Inventionen und Träume......................................................................... 188 4.4.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität ......................................... 218 4.5 Zusammenfassung ....................................................................... 240 5 Metafiktion und Metanarration als metapoetischer Diskurs über Repräsentation in Triptyque (1973) ......................... 245 5.1 Einführung .................................................................................... 245 5.2 Die metafiktive Thematisierung und Inszenierung von Nicht-Referenz .............................................................................. 248 5.2.1 Die Kontamination des Realen durch das ‚Imaginäre’: Imaginationen und Modalisationen.......... 248 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen ........... 254 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen............ 280 5.2.4 Fremddetermination der histoire durch latente Verweisungssysteme: Motive und mots-carrefour ......... 290 5.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der gescheiterten fiktional-narrativen Repräsentation ........... 296 5.3.1 Die Camera-eye-Erzählinstanz......................................... 297 5.3.2 Die Dekonstruktion linearen Erzählens durch Anachronien und Fragmentierungen ............................. 300 5.4 Metanarration als metapoetischer Kommentar zur Referenz- und Repräsentationsfunktion des Textes ............... 307 12 5.4.1 Motive als Metaphern für die Poetik des Romans: „la fente“/ „le labyrinthe“/ „le cadre“/ „se déformant sans cesse“ ....................................................... 307 5.4.2 Die ludische Inszenierung der Poetik: das geometrische Problem und das Puzzle........................... 311 5.4.3 Die intermediale Inszenierung der Poetik: Malerei, Photographie und Cineastik............................................. 318 5.5 Zusammenfassung ....................................................................... 325 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981) ...................... 327 6.1 Einführung .................................................................................... 327 6.2 Vorbemerkungen: Geschichte und Historiographie als zentrale Themen des Romans..................................................... 330 6.2.1 Zwei Auffassungen von Geschichte: zyklisches und teleologisches Geschichtsmodell ............................. 331 6.2.2 Die schriftliche Repräsentation vergangener Wirklichkeit: Historischer Roman, Historiographie, Autobiographie und Biographie ...................... 343 6.3 Spuren historiographischer und auto-/ biographischer Diskurse in Les Géorgiques ........................................................... 357 6.3.1 Historikerfiguren................................................................ 358 6.3.2 Das gescheiterte auto-/ biographische Projekt: Die Aporien der Vergangenheitsrepräsentation .................. 389 6.4 Historisches Erzählen als Fiktion: Metafiktionale Diskurse über Fiktivität und Fiktionalität ................................ 412 6.4.1 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen und Mythen .......... 413 6.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität........................................................ 442 6.5 Schluss und Ausblick: ‚Historiographische Metafiktion’ als eine alternative Poetik historischen Erzählens .................. 470 7 Zusammenfassung: eine Typologie der Metafiktion im Werk Claude Simons .......................................................................... 475 13 8 Bibliographie........................................................................................ 485 8.1 Texte von Claude Simon ............................................................. 485 8.2 Andere Texte ................................................................................. 485 8.3 Essays und Interviews von Claude Simon ............................... 485 8.4 Forschungsliteratur zu Claude Simon ...................................... 486 8.5 Forschungsliteratur zur Literaturtheorie, Erzähltheorie und Geschichtstheorie ................................................................. 495 8.6 Lexika, Hilfsmittel ........................................................................ 509 9 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 511 Sachregister ................................................................................................ 512 Anhang: Gemälde und Nachweise ........................................................ 515 14 Verzeichnis der Siglen Sofern nicht anders ausgewiesen, werden Claude Simons Werke nach folgenden Ausgaben jeweils mit Sigle und Seitenzahl zitiert: CR = La Corde raide. Paris: Sagittaire, 1947. V = Le Vent. Tentative de restitution d’un rétable baroque. Paris: Minuit, 1957. He = L’Herbe. Paris: Minuit, 1958. (= Collection « double » ; 9) RF = La Route des Flandres. Paris: Minuit, 1960. (= Collection « double » ; 8) P = Le Palace. Paris: Minuit, 1962. BPh = La Bataille de Pharsale. Paris: Minuit, 1969. T = Triptyque. Paris: Minuit, 1973. G = Les Géorgiques. Paris: Minuit, 1981. A = L’Acacia. Paris: Minuit, 1989. JP = Le Jardin des Plantes. Paris: Minuit, 1997. Tr = Le Tramway. Paris: Minuit, 2001. Œ = Œuvres. Éd. établie par Alastair B. Duncan, avec la collaboration de Jean H. Duffy. Paris: Gallimard, 2006. (= Bibliothèque de la Pléiade) 15 1 Einleitung: Der Nouveau Roman Claude Simons im Spiegel postmoderner Autoreferentialität 1.1 Das Thema: ‚Referenz’ und ‚Repräsentation’ bei Claude Simon 1 Nach der spezifischen Modernität seiner Texte gefragt, beschrieb der spätere Literaturnobelpreisträger in einem Interview mit der französischen Zeitschrift L’Humanité die Ästhetik der literarischen Moderne allgemein: Maintenant, si vous me demandez de préciser ce qui distingue plus exactement notre modernité, je hasarderai peut-être, qu’en gros, elle me paraît dominée par deux caractéristiques principales (chacune, à y bien réfléchir, découlant d’ailleurs de l’autre) qui sont, d’une part, la fragmentation, l’éclatement des formes ; d’autre part, l’abandon du « trompe-l’œil », du « faire-semblant », au profit de la mise en évidence du médium ou, si l’on préfère, du « matériau », je veux dire le tableau s’offrant comme peinture, le roman se donnant et se dénonçant comme texte et fiction en procès. 2 Die von Simon genannten Tendenzen zur „fragmentation“ und zur „mise en évidence du médium“ sind nicht nur typische Merkmale des modernen Romans, sondern prägen in bemerkenswerter Weise auch sein eigenes Werk: so problematisieren die Auflösungserscheinungen auf der Ebene des Erzählens und auf der Ebene der erzählten Geschichte die überkommenen Darstellungstechniken des realistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert, während die Offenlegung der fiktionalen und narrativen Struktur der Texte ihre Referenz auf eine außerliterarische Realität zugunsten eines auffallenden Selbstbezugs untergräbt - sei es auf die Nicht-Realität der Romanwelt oder auf das eigene Medium. Simons Werk zeichnet sich durch ein Spannungsfeld, gebildet einerseits aus textueller Hetero- und Autoreferenz - gemeint ist das Oszillieren des Textes zwischen dem Bezug auf die äußere ‚reale’ Welt und der Thematisierung der eigenen Textualität und Fiktionalität - und andererseits aus der Repräsentation dieser Realität mit fiktionalen Erzählverfahren aus, die zugleich dekonstruiert werden. Die vorliegende Arbeit untersucht in diesem 1 In der vorliegenden Arbeit soll der Terminus ‚Referenz’ die Bezugnahme von Literatur auf eine extratextuelle ‚reale’ Welt bezeichnen, während der Begriff ‚Repräsentation’ im Sinne ihrer „narrativen Darstellung“ verwendet wird (P. Wolf: „Referenz.“ (2001) und A. Nünning: „Repräsentation.“ (2001) sowie A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 188.) 2 C. Simon: „Claude Simon, romancier, [Haroche, C.].“ (1981), S. 15; Hervorhebungen S.Z. 16 Kontext metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse im Werk des Nouveau Romancier Claude Simon; diese selbstbezüglichen Äußerungen lassen die Fiktionalität des Textes im Sinne der Irrealität der erzählten Geschichte, das eigene Erzählen sowie die mit dem Schreiben von Geschichte verbundenen epistemologischen und narratologischen Probleme thematisch werden. Ein besonderer Stellenwert kommt der Frage nach der Funktion der genannten autoreferentiellen Verfahren im Hinblick auf die von Simon im modernen Roman beobachteten Tendenzen zur Nicht-Referenz und zur Problematisierung der fiktional-narrativen Repräsentation zu: Comment savoir - Inwiefern stellt die Literatur ein Mittel der Erkenntnis von Realität dar? Comment dire - Wie kann diese Wirklichkeit mit den spezifischen Verfahren fiktionaler Erzähltexte erzählt werden? Simons berühmte Romane La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) bilden das Textkorpus der vorliegenden Arbeit; sie lassen sich stilistisch differenten Schaffensphasen Simons zuordnen und stellen nach allgemeiner Einschätzung einen Höhepunkt der jeweiligen Phase im Hinblick auf ihre charakteristischen Vertextungsverfahren dar, so dass die zu erwartenden Ergebnisse der Textanalyse als paradigmatisch bewertet werden können. Die Beschränkung auf drei Texte erklärt sich dabei aus der Zielsetzung, diese möglichst detailliert zu interpretieren. Die Rezeption des Simon’schen Werks ist geprägt durch das Paradox aus einerseits seiner Wertschätzung durch Schriftstellerkollegen wie Jean Améry 3 und Serge Doubrovsky 4 und andererseits seiner Geringschätzung durch die Feuilletons und die breite Masse der Leser, die seine Texte als „illisibles“ bewerteten. Entgegen der weitverbreiteten Meinung sind jedoch die frühen Romane Simons aus seiner ersten Schaffensperiode (1946-1954) noch relativ konventionelle, einfach zu rezipierende Erzählungen; erst mit der Veröffentlichung von L’Herbe (1958) vollzieht sich nach seiner eigenen Aussage in seinem Werk die Wende vom traditionellen zum avantgardistischen Roman. 5 Höhepunkt dieser zweiten Phase, in welcher Simon mit seinen Texten in das Umfeld des Nouveau Roman eintritt, ist zweifellos La Route des Flandres (1960), dessen autobiographisches Substrat Simons eige- 3 J. Améry rechnet zu den „Zeitgenossen und Kollegen“ Claude Simons Autoren wie Proust, Joyce, Faulkner und auch Beckett und erklärt, dass Simon „[…] zu messen […] nur nach der Größenordnung solcher Autoren […]“ sei. (Zitiert nach H. Mayer: „Im Bannkreis der Bilder. Über Simon.“ (2003), S. 159.) 4 S. Doubrovsky betont, dass Simon der einzige der Nouveaux Romanciers sei, der die französische Sprache insbesondere im Bereich der Syntax, der Interpunktion, der Bezüge sowie der Lexik angegriffen habe und damit zu einem „deconstructor of the language“ geworden, dabei stets jedoch ein „lover of words“ wie schon Balzac geblieben sei. (S. Doubrovsky: „Why Simon? [Préface].“ (1981), S. 13f., 15.) 5 C. Simon: „Interview with Claude Simon. [DuVerlie, Claud A.].“ (1974), S. 13. 17 ne Erlebnisse während des sogenannten ‚Flandern-Debakels’ im Zweiten Weltkrieg bilden. 6 Die leitmotivisch wiederkehrende ‚Beschwörungsformel’ „Comment savoir? “ des Protagonisten Georges prägt den Roman von Beginn an: Das Streben nach Erkenntnis und ‚sicherem’ Wissen, das Ringen um die zuverlässige Erinnerung früherer Wahrnehmungen zählen zu den wichtigsten thematischen Aspekten des Werks. Mit dieser epistemologischen Thematik präsentiert sich der Text als typischer Vertreter der sogenannten phänomenologischen Phase des Nouveau Roman, in der die wahrnehmungstheoretischen Überlegungen E. Husserls und insbesondere M. Merleau-Pontys an Einfluss auch auf die Poetik Claude Simons gewannen. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und ihrer poetischen Qualitäten wird La Route des Flandres von der Forschung zu den wichtigsten Werken Simons sowie des Nouveau Roman überhaupt gezählt. Der Text präsentiert in Form eines autonomen inneren Monologs den Bewusstseinsstrom der fiktiven Figur Georges; dieser erinnert sich an einem unbestimmt gelassenen Punkt seines Lebens - vermutlich einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - an seine Erlebnisse während des Krieges bzw. aus der Vor- und Nachkriegszeit. Die den Roman beherrschende Erinnerungsthematik hat dazu geführt, dass der Text von der Literaturwissenschaft als „Gedächtnisroman“ 7 , als „Roman der Erinnerung“ 8 oder „Erinnerungsroman“ 9 bzw. als „stream-ofconsciousness-novel“ 10 bezeichnet wurde, in dessen Zentrum weniger die logische Ordnung oder die rationale Kontrolle der Erinnerungen stehe als die Übertragung der „pre-speech levels of consciousness“ in einen autonomen inneren Monolog. 11 In einer früheren Arbeit konnte ich jedoch bereits nachweisen, dass La Route des Flandres nur bedingt die narratologischen Konventionen eines autonomen inneren Monologs erfüllt: Vielmehr wird in weiten Teilen des Romans die Illusion eines Gedächtnisstroms 6 Vgl. Simons Bemerkung „From L’Herbe on, all my novels verge on the autobiographical.” (A.B. Duncan: „Interview with Claude Simon.“ (1985), S. 12.) Dennoch weist A. Duncan darauf hin, dass es sich bei Simons Texten keineswegs um Autobiographien handele, da stets die innovative Form den autobiographischen Stoff der Texte von der ursprünglichen Realität ‚entfremde’ (A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XIf.). 7 W. Scheller: „‚Geschichte machen, heisst: Sie ertragen’: Claude Simon und der ‚Nouveau roman’.“ (1979), S. 64. 8 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 362. 9 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 144; R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 363. 10 R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 43. 11 Ebd., S. 43f.; T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‚nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 364, betont, dass es sich bei La Route des Flandres eher um einen ‚Erinnerungsroman’ als um einen ‚Gedächtnisroman’ handele, da der Text den dynamischen Aspekt des Erinnerungsprozesses unterstreiche. 18 zugunsten einer relativ konventionellen Erzählung aufgegeben, während zugleich eine metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der eigenen Fiktionalität und Textualität erfolgt. 12 Mit der Veröffentlichung von La Bataille de Pharsale (1969) tritt Simon in eine neue Phase seines Schaffens ein, in der seine Texte scheinbar zu formalistischen Experimentierfeldern werden und sich von Jean Ricardous skripturalistischer Theorie beeinflusst zeigen. 13 Höhepunkt dieser dritten Phase ist Triptyque, der als Simons technisch vollkommenster 14 und zugleich als sein radikalster 15 Roman gilt; er wird von der Forschung zusammen mit Les Corps Conducteurs (1971) und Leçon des Choses (1975) als ein Triptychon und zugleich als Höhepunkt seiner ‚skripturalistischen’ Phase - auch Nouveau Nouveau Roman simonien genannt - interpretiert. 16 Ein Charakteristikum dieser Schaffensphase ist, dass „[l]e récit perd l’ancrage d’une conscience et la fiction s’égrène alors ‘mot à mot’ […].“ 17 Schienen die Fiktionen der vorangegangenen Texte noch einem mehr oder minder identifizierbaren Bewusstsein zu entspringen, das als „je“ die Handlung vermittelt, ist es in Triptyque nur noch eine unpersönliche Wahrnehmungsinstanz, aus deren Perspektive der Leser die fiktiven Ereignisse miterlebt. Diese unbestimmt bleibende Instanz hat große Ähnlichkeit mit dem unbelebten, mechanischen Auge einer Kameralinse, das die fiktive Welt der Geschichte nur von Außen wahrnimmt. Bei einer ersten Lektüre von Triptyque steht darüber hinaus vor allem auch der fragmentarische Eindruck des Erzählten im Vordergrund sowie die durch die vielfachen narrativen Kurzschlüsse zwischen den ontologischen Ebenen ‚innerfiktional real’ und ‚innerfiktional fiktiv’ bewirkte Gleichrangigkeit von Ereignissen, die in der Welt des Romans ‚wirklich’ stattgefunden haben, und solchen, die bloß imaginiert oder medial repräsentiert sind und die daher eine Realität zweiter Ordnung innerhalb der fiktionalen Welt bilden. Zugleich entsteht als gegenläufige Tendenz durch die Wiederkehr bestimmter Motive und von bereits aus früheren Romanen 12 Sabine Waltemate: Die erzähltechnische Gestaltung des Gedächtnisstroms in Claude Simons La Route des Flandres. Unveröffentlichte Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. (1999) 13 Im Konzept der écriture scripturale ist der Schriftsteller nicht mehr „[…] le maître d’une fiction établie préalablement qu’il agence au moyen des signes du discours appropriés mais l’artisan d’un texte auquel il confère l’existence en se soumettant aux lois spécifiques de son fonctionnement[.]“ (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 15.) 14 So z.B. M. Evans: Claude Simon and the Transgressions of Modern Art. (1988), S. 191. 15 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XXXVIII. 16 Nach Bertrand umfasst die ‚skripturalistische’ Phase im Werk Simons den Zeitraum von 1969, dem Jahr des Erscheinens von La Bataille de Pharsale, bis zur Veröffentlichung von Les Géorgiques im Jahre 1981. (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 18.) 17 M. Léonard: „Préface.“ (2001), S. X. 19 bekannten Themen wie ‚erotische Liebe’, ‚Eifersucht’ und ‚Tod’, aber auch von neuen wie ‚Natur’ und ‚Voyeurismus’ der Eindruck einer gewissen unterschwelligen Kohärenz des Textes. Mit der Veröffentlichung von Les Géorgiques (1981) tritt Simon in eine weitere Phase seiner Poetik ein, die zunächst eine Rückkehr zu den Themen und zur Ästhetik seiner Romane aus den 1960er Jahren zu sein scheint. Der Text selbst wird von der Kritik als „roman total“ 18 , als „roman polyphonique“ 19 , als „roman-somme“ 20 oder als „œuvre de synthèse“ 21 bzw. als Simons „longest and most significant novel“ 22 bewertet. Herrscht zwar Einigkeit unter den Kritikern in der Einschätzung der allgemeinen literarischen Qualitäten des Romans, werden Les Géorgiques jedoch ganz unterschiedlich in den größeren Werkzusammenhang eingeordnet; dabei lassen sich zwei Extrempositionen unterscheiden: Während die einen in diesem Text Simons „retour à la représentation“ 23 der 1950er und 1960er Jahre wahrzunehmen glauben bzw. Les Géorgiques als Vollendung der damals entwickelten Erzählstrategien betrachten, vertritt insbesondere M. Bertrand die Gegenposition: Er ordnet diesen Text wie die unmittelbar vorangehenden Werke in Simons ‚skripturale’, autoreflexive und antireferentielle, Phase ein. 24 Zwar rekurriert Simon in seinem Roman auf zentrale Themen seiner ‚vorskripturalistischen’ Schaffensperiode wie Tod, Krieg, Natur und Geschichte und greift z.T. auch auf das Figurenpersonal der Romane aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren zurück. Doch erreichen vor allem die in Les Géorgiques anzutreffenden Erzählverfahren ein neues Stadium der Vollendung: es mischen sich die noch aus Romanen wie La Route des Flandres bekannte perspektivische Vielfalt mit den allein auf dem sprachli- 18 L. Dällenbach: „Les Géorgiques ou la totalisation accomplie.“ (1981), S. 1239. 19 Ebd.; J.-C. Gateau: „Topologie du mouchoir froissé dans Les Géorgiques.“ (1993), S. 132. 20 N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 5. 21 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XL: Laut Duncan integriert Simon in Les Géorgiques und in L’Acacia die in der vorhergehenden Schaffensperiode entwickelten narrativen Strategien. 22 R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 168. An anderer Stelle wertet R. Sarkonak Les Géorgiques als „[…] un des plus importants textes de la littérature du XXe siècle.“ (R. Sarkonak: „Comment fait-on un cocktail simonien? Ou, Les Géorgiques relues et corrigées.“ (1990), S. 236.) 23 Diese Ansicht vertreten z.B. C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 1; A.B. Duncan: „Claude Simon, le projet autobiographique.“ (1990), S. 49; N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 31, und führen als Begründung Simons Rückgriff auf seine persönliche Geschichte bzw. auf die seiner Familie sowie auf altbekannte Themen wie insbesondere den Krieg an. 24 M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 18. 20 chen Material basierenden Überblendungstechniken aus Triptyque. Doch im Gegensatz zu der formalistischen Phase des Nouveau Nouveau Roman simonien werden die experimentellen Schreibverfahren nun erstmals in den Dienst einer kritischen autoreferentiellen, metahistoriographischen, Reflexion über die Möglichkeiten einer schriftlichen Repräsentation der Vergangenheit gestellt. 25 Bereits der Titel des Romans - Les Géorgiques - situiert den Roman in einen historischen Kontext, verweist er doch explizit auf die Georgica Vergils, die dieser im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Augustus’ Veteranen als Lobpreisung der Landarbeit gegenüber der ‚Kriegsarbeit’ verfasst hat. 26 Auch wenn sich keine weiteren direkten Zitate des lateinischen Prätexts in Simons Werk finden, so ist doch das Vorgängerwerk thematisch stets präsent: Es sind die Virulenz der Themen ‚Krieg’ und ‚(Land)Arbeit’ und ihre ambivalente Bewertung in Les Géorgiques, welche die beiden Texte sowohl verbinden als auch trennen. 27 Der kurze Überblick über die verschiedenen Phasen im Werk Claude Simons und den sich immer wieder neu vollziehenden Wandel in seiner Poetik, den unsere Texte paradigmatisch illustrieren, hat die Bedeutung der Autoreferenz in seinen Texten aufgezeigt. Die ausgewählten Romane verhandeln einerseits ihren - mindestens seit der Spätmoderne problematisch gewordenen - Bezug auf eine außertextuelle Realität und ziehen in Zweifel, dass jene überhaupt ‚objektiv’ erkennbar ist. Andererseits setzen sie sich mit der spezifisch sprachlichen bzw. narrativ-fiktionalen Repräsen- 25 Dies macht Simons Roman auch für die Geschichtswissenschaft bzw. die Geschichtstheorie interessant: So bildet ein Auszug aus Simons Les Géorgiques den Epilog eines von Christoph Conrad und Martina Kessel herausgegebenen Überblicks über aktuelle theoretische Diskussionen in der Geschichtswissenschaft. (C. Conrad und M. Kessel (Hgg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. (1994)) Innerhalb der Simonforschung weist bisher allein A. Duncan in seiner Bewertung des Romans auf die metanarrative, metafiktionale bzw. metahistoriographische Qualitäten des Werks hin: „In making visible its own processes of generation, [the work] raises questions about representation and reference, about genre, about the writing of fiction, history or biography.“ (A. Duncan: „Les Géorgiques and intertextuality.“ (1994), S. 68.) 26 Das lateinische Adjektiv georgicus (= „den Landbau betreffend“, „vom Landbau“) stammt aus dem Griechischen: gê = „Erde“ und ergon = „Arbeiten“ und meint das „Bearbeiten der Felder“, im übertragenen Sinne auch der Kampffelder des Krieges. In Simons Roman gewinnt Georgica auch noch eine dritte - selbstreflexiv auf den eigenen Text verweisende - Bedeutung: das ‚Bearbeiten’ der zunächst leeren Seiten durch den Autor. (Vgl. hierzu auch R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 172f.) 27 Darüber hinaus finden sich in Les Géorgiques häufig der Name ‚Georges’ bzw. Derivate von diesem: die die „Cahiers“ des Generals durchblätternde Hand des alten Mannes ähnelt der „crêpe georgette“ (G, 24), der tunesische Premierminister ist ein „georgiano grasso“ (G, 48f.) und bei dem mysteriösen „O.“ des vierten Kapitels handelt es sich um George Orwell. 21 tation dieser Realität auseinander und vergleichen das mimetische Potential von Sprache mit dem anderer Medien wie vor allem der Malerei, der Photographie und dem Film. Diese autoreferentiellen, die eigene Referentialität und Repräsentation thematisierenden Diskurse werden auf verschiedenen Ebenen der Texte verbalisiert: sowohl auf der Geschichtsebene als auch auf der Ebene der narrativen Vermittlung. 1.2 Der Kontext: autoreferentielle Diskurse über Fiktion und Narration im französischen Nouveau Roman und in der Literatur der Spät- und Postmoderne Simons hier aufgezeigte Poetik der Areferentialität und Anti-Repräsentation gliedert sich ein in die Ästhetik des spätbzw. postmodernistischen Romans 28 und seiner französischen Variante, dem (Nouveau) Nouveau Roman, 29 dessen wichtigste Merkmale sowohl die Kritik der realistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts als auch die autoreferentielle Bezugnahme auf die eigene Fiktion und die eigene Narration sind. Insbesondere der französische Nouveau Roman bezieht sich kritisch auf den ‚traditionellen’, realistischen Roman 30 des 19. Jahrhunderts mit seiner Doktrin von der wirklichkeitsgetreuen Abbildung zeitgenössischer gesellschaftlicher Realität; 31 im Visier der Nouveaux Romanciers stehen insbesondere die narrativen Kategorien des ‚Helden’ und der Figuren bzw. die 28 Mit ‘Postmoderne‘ bezeichne ich die auf die (Spät-)Moderne folgende literarische Epoche der Nachkriegszeit (der Begriff verbreitet sich gegen Ende der 1950er Jahre in der amerikanischen Literaturwissenschaft; dieser Zeitpunkt bestimmt auch den Beginn der postmodernen (angloamerikanischen) Literatur), die v.a. geprägt ist durch „Textoffenheit […], epistemologische[n] Zweifel […], metasprachliche[n] Kommentar […] und Berücksichtigung der Leserrolle […]“. (P.V. Zima: Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. (2001), S. 244.) 29 Die Bezeichnung dieses ‚Bündnisses’ von Schriftstellern als Nouveau Roman - die Nouveaux Romanciers wehrten sich vehement gegen die Betitelung ihrer Gemeinschaft als „groupe“ oder „école“ (A. Robbe-Grillet: „À quoi servent les théories. [1955 et 1963].“ (1961), S. 8f.; A. Robbe-Grillet: „Nouveau Roman, homme nouveau.“ (1961), S. 114; C. Simon: „Entretien avec Jo van Apeldoorn et Charles Grivel, 17 avril 1979.“ (1979), S. 87f.) - geht auf einen Zeitungsartikel von Émile Henriot aus dem Jahr 1957 zurück, der damit die sich unter dem Dach der Éditions de Minuit versammelnde Konstellation verschiedener Schriftsteller benannte (R.-M. Allemand: „Débuts et fins du „Nouveau Roman“.“ (2002), S. 21.). 30 W. Wehle unterstreicht den ablehnenden Bezug des Nouveau Roman auf die „[…] Schreibweise eines ‚roman à succès facile’, meist abgekürzt ‚traditioneller Roman’ genannt.“ (W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 3.) 31 Vgl. hierzu U. Dethloff: Französischer Realismus. (1997), S. 38ff. 22 histoire insgesamt. 32 Diese werden in ihren Texten auf verschiedene Weise dekonstruiert und ihr Status als ein fiktionales Konstrukt wird offenbart. Der spät- und postmodernistische Nouveau Roman zeigt im Gegensatz zu seinem realistischen Antipoden nun offen seine genuin wirklichkeitskonstituierende Funktion: 33 innerfiktionale Realität wird stets aus den Träumen, Illusionen, Phantasien und ‚wahren’ Wahrnehmungen eines Subjekts synthetisiert. Im postmodernistischen Nouveau Nouveau Roman 34 wird die eigene Fiktionalität noch deutlicher aufgedeckt und neben einem fundamentalen epistemologischen Zweifel 35 an der objektiven Erkennbarkeit der Welt auch die Referenz des Textes auf eine außersprachliche Realität - scheinbar - endgültig unmöglich. 36 Die Welt des Romans präsentiert sich nun nicht einmal mehr als Ausfluss eines wahrnehmenden Bewusstseins, sondern allein als „jeu de signifiants“ ganz im Sinne von F. de Saussures strukturalistischer Konzeption der langue als „un système de renvois“. Die aus der kreativen Kraft des sprachlichen Materials erwachsende Fiktionalität der 32 So konzipiert N. Sarraute ihren Helden als „[…] un être sans contours, indéfinissable, insaisissable et invisible, un ‚je’ anonyme qui est tout et qui n’est rien […]“, während die übrigen Romanfiguren „[…] privés d’existence propre, ne sont que des visions, rêves, cauchemars, illusions, reflets, modalités ou dépendances de ce ‘je’ toutpuissant.“ (N. Sarraute: „L’ère du soupçon. [1950].“ (1987), S. 61f.) Auch A. Robbe- Grillet begründet in seinen theoretischen Schriften die Ablehnung der Formen des traditionellen Romans - vor allem der „analyse psychologique“ - und setzt diesen seine eigene, innovative Poetik entgegen, vgl. A. Robbe-Grillet: „Sur quelques notions périmées.“ (1961), S. 27ff. D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 63f., konstatiert einen Verstoß des Nouveau Roman gegen folgende Kriterien realistischer Romane: die Privilegierung der histoire-Ebene gegenüber der discours-Ebene, die Kohärenz der erzählten Handlung, die Stimmigkeit der Charaktere und des raumzeitlichen Rahmens sowie die Möglichkeit für den Leser, das Gelesene als Wiedergabe eines Wirklichkeitsausschnitts auffassen zu können, ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln. 33 W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 8ff. 34 Damit wird allgemein die zweite, sich an das berühmte Colloque de Cerisy von 1971 anschließende und bis zum Ende der 1970er Jahre erstreckende Phase des Nouveau Roman bezeichnet. (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 271; A. Duncan: „Introduction.“ (1994), S. 6.) Dagegen interpretiert L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 52, den französischen Nouveau Nouveau Roman als ein Beipiel für „late modernist extremism“. 35 So hat auch für A. Robbe-Grillet die Welt des Romans „[…] jamais de présence en dehors des perceptions humaines, réelles ou imaginaires […]“. (A. Robbe-Grillet: „Nouveau Roman, homme nouveau.“ (1961), S. 116.) 36 So auch E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. 4, welche die fundamentale Infragestellung der „[…] very existence of a paramount reality“ im postmodernen Roman beschreibt. Ebenso R. Sukenick: „The death of the novel.“ (1969), S. 41. 23 Texte wird in dieser Zeit verstärkt auch autoreferentiell thematisiert; 37 auch die problematische Referenzfunktion der Literatur und die spezifische narrativ-fiktionale Konstruktion von Wirklichkeit wird nun zum Gegenstand der Texte. Diese ausgeprägte Tendenz zur Autoreferentialität ist nicht nur ein herausragendes Merkmal des französischen Nouveau Nouveau Roman der 1970er Jahre, sondern der literarischen und kulturellen Postmoderne allgemein. Die inhaltliche Neuorientierung postmoderner Texte auf die Problematik des eigenen Wirklichkeitsbezugs und ihrer sprachlichen Repräsentation schlägt sich auch in der Begriffsbildung nieder: So wurde für die am häufigsten untersuchte selbstthematisierende Erscheinung in den Texten - die metafiktionale Kommentierung der eigenen Fiktion(alität) - in Konkurrenz zum korrekten Begriff ‚Metafiktion’ eine Vielzahl anderer Termini geprägt wie z.B. ‚Metanarration’, ‚Selbstreferenz’, ‚Metatextualität’, ‚Metaroman’, und im englischen Sprachraum auch self-conscious novel oder self-begetting novel. Im Vergleich zu anderen Begriffen zur Bezeichnung ‚meta’- oder ‚intertextueller’ Phänomene hat jedoch allein der Terminus ‚Metafiktion’ seit seiner ersten dokumentierten Verwendung in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft Ende der 1960er Jahre bis heute eine ans Inflationäre grenzende Verbreitung erfahren. Der Anglist W. Wolf spricht deshalb in begrifflicher Anlehnung an den linguistic turn gar von einem metafictional turn und zielt damit auf das „Selbstbespiegeln der Literatur im Verein mit dem ständigen illusionsbrechenden Hervorheben ihrer Fiktionalität.“ Auch wenn dieses Schlagwort zunächst sehr eingängig zu sein scheint, wirft es doch einige Fragen auf. So impliziert der Begriff „metafiktionale Wende“ ein ‚Davor’, das sich von dem ‚Danach’ wesentlich zu unterscheiden scheint: Beginnt die Auseinandersetzung mit der eigenen Fiktion tatsächlich erst im postmodernen Erzählen, 38 während die davor entstandenen Texte ausschließlich den pro-illusionistischen, fiktionsverschleiernden Konventionen realistischen Erzählens folgen? Nicht zuletzt scheint auch die von Wolf vorgeschlagene wirkungsästhetische Definition des metafictional turn fragwürdig zu sein. Geht dieses „Selbstbespiegeln der Literatur“ tatsächlich mit dem „ständigen illusions- 37 Dieser Selbstbezug hat insbesondere dem Nouveau Roman der ersten Phase (von der Mitte der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre) auch die Bezeichnungen ‚subjektiver Realismus’ bzw. ‚reflexiver Realismus’ eingetragen. (D. Carroll: The subject in question. The languages of theory and the strategies of fiction. (1982), S. 10, v.a. S. 13; W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 10.) 38 Und nicht nur dort, vgl. ähnliche Phänomene auch in anderen Kunstformen wie z.B. das Metadrama oder Metatheater, die Metalyrik oder den Metafilm. 24 brechenden Hervorheben ihrer Fiktionalität“ einher? 39 Oder anders gefragt: Impliziert Metafiktion immer auch schon eine Zerstörung der ästhetischen Illusion auf Seiten des Lesers, bedingt durch das Aufdecken der Künstlichkeit der im Text dargestellten Welt? Das Auftreten von metafiktionalen Phänomenen ist - wie zahlreiche Einzeltextanalysen aus allen Epochen der europäischen Literaturgeschichte eindrucksvoll beweisen - eben kein Kennzeichen allein des postmodernen Romans, sondern stellt eine wesentliche Tendenz im Erzählen seit Beginn der Gattungsgeschichte dar. 40 Sie sind daher in begrenztem Maße auch in illusionistischen bzw. realistischen Texten anzutreffen, ohne dass es durch die punktuelle Kommentierung der Künstlichkeit der dargestellten Welt zu einer vollständigen Suspendierung der ästhetischen Illusion käme. Ebenso wie die Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ liefern auch die bisherigen Definitionsversuche Anlass zur Kritik: So findet sich bis heute in der Literaturwissenschaft keine Übereinkunft darüber, welche Teile des Textes eigentlich den Gegenstand des metafiktionalen Kommentars darstellen und von welchen anderen autoreferentiellen Phänomenen ‚Metafiktion’ abzugrenzen sei. Diese uneinheitliche Begriffsverwendung bleibt nicht ohne negative Wirkung auf eher anwendungsorientierte Arbeiten, die Werke aus verschiedenen Literaturen im Hinblick auf Metafiktion untersuchen. Ein Beispiel für eine unreflektierte Begriffsverwendung ist S. Setzkorns Arbeit zur Metafiktion in zeitgenössischen italienischen und französischen Texten: In ihrer einleitenden Gegenstandsbestimmung der Metafiktion vermengt sie völlig unterschiedslos fiktionale und narrative Phänomene, wodurch die Bestimmung der spezifischen Funktion metafiktionalen Erzählens an Aussagekraft verliert. Dennoch verdient Setzkorns Arbeit eine Erwähnung als eine der wenigen Untersuchungen zur Metafiktion in der französischen Literatur. 41 Dieses Defizit in der Forschung zum französischen Roman ist in ihrem Ausmaß erschreckend, da ihr doch eine vergleichsweise gut bearbeitete spanischsprachige 39 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 45. Hervorhebungen S.Z. 40 B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 38, beschreibt zwei Haupttraditionen der Literatur, von denen die eine mimetisch und die andere nichtbzw. antimimetisch ist; zu letzterer zählt er Texte von Aristophanes, Rabelais, Ariost, Shakespeare und Sternes Tristram Shandy. 41 Andere Arbeiten sind J. Bernard: „De l’autocommentaire à la métafiction: Les romanesques d’Alain Robbe-Grillet.“ (1997), G. De Ferrari: „Representing Absence: The Power of Metafiction in Jacques Roubaud’s Le Grand Incendie de Londres.“ (1996), D.P. Guenin-Lelle: „Framing the Narrative: The roman bourgeois as Metafiction.“ (1989), dies.: Self-Referential Play gone wild: a case for the ‘Roman bourgeois’ as Metafiction. (1989) und S. Zebouni: „La mimésis en question: Métafiction et auto-référentialité au XVIIème siècle.“ (1989). 25 Literatur gegenübersteht; eine Erklärung könnte die bisher vernachlässigte Rezeption wichtiger Theoriebildungen der anglistischen und amerikanistischen Literaturwissenschaft sein. Nicht zuletzt zeichnen sich auch die bisherigen Typologieentwürfe metafiktionaler Textstrategien einerseits durch eine unzureichende Ausdifferenzierung und andererseits durch eine einseitige Funktionalisierung aus. Insbesondere W. Wolf liefert in seinen Arbeiten 42 zur Metafiktion als Variante illusionsstörenden Erzählens eine umfassende Typologie ihrer expliziten Formen, ohne zu einer genauen Bestimmung der impliziten, verdeckten, Formen zu gelangen. Diese einseitige Gewichtung lässt sein Modell daher nur unzureichend in der Praxis bestehen, da ihm die Begriffe für eine Benennung indirekt wahrnehmbarer fiktionsentlarvender Tendenzen in den betreffenden Texten fehlen. Darüber hinaus analysieren Theoretiker wie L. Hutcheon, S. Lauzen und insbesondere auch W. Wolf ‚Metafiktion’ stets aus wirkungsästhetischer Perspektive unter dem Aspekt ihres Effekts auf die ästhetische Illusion. So subsumiert Wolf Metafiktion unter seine Verfahren des „Illusionsabbaus“, betont jedoch zugleich etwas widersprüchlich, dass Metafiktion nicht per se mit Illusionsstörung gleichzusetzen sei. 43 Auch ist es vor dem Hintergrund der langen Tradition metafiktionalen Erzählens und seiner nun ebenfalls schon länger andauernden Theoretisierung überraschend, dass metafiktionale Phänomene bislang kaum eine Berücksichtigung seitens der Narratologie erfahren haben. 44 Diese ‚Leerstelle’ ist dadurch begründet, dass sich die klassischen narratologischen Modellentwürfe, die sich in die Tradition des französischen Strukturalismus stellen, lange Zeit allein auf realistische Textkorpora bezogen haben: Diese „Typologien des Erzählens“, wie sie von F.K. Stanzel oder G. Genette entwickelt wurden, können vor allem die Texte erklären, auf deren Basis sie konstruiert wurden, und sind daher häufig inadäquat für viele avantgardistische, spät- und postmodernistische fiktionale Erzähltexte. 45 Seit den 42 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), ders.: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997) und ders.: „Metafiktion.“ (1998). 43 W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362. 44 Eine Ausnahme stellt B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 35, dar. 45 E.v. Alphen: „The Narrative of Perception and the Perception of Narrative.“ (1990), S. 483f.; B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 23. Dennoch ist der Einfluss dieser Arbeiten nicht nur auf die Erzählforschung, sondern auch auf die Literaturwissenschaft insgesamt enorm, wie M.-L. Ryan mit ihrer Bewertung der von G. Genette entwickelten narratologischen Terminologie als „lingua franca for narratologists“ demonstriert. (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern 26 1980er Jahren haben diese ‚weißen Flecken’ in der narratologischen Theoriebildung, die angesichts der ästhetischen Weiterentwicklung des Romans umso mehr ins Auge fallen, die Herausbildung neuer Ansätze angeregt. Diese beziehen nun auch widersprüchliche Aspekte der Erzählung - wie beispielsweise metafiktionale Kommentare - verstärkt in ihre Modelle ein und tragen damit der Tatsache Rechnung, dass in den spät- und vor allem postmodernistischen Erzähltexten oftmals keine stabile Textbedeutung mehr auszumachen ist. 46 Eine Synthese der bisherigen wirkungsästhetischen Konzeptionalisierungen der Metafiktion 47 und der genannten neueren narratologischen Beschreibungsmodelle hat bisher jedoch noch nicht stattgefunden: Ein Modell der Metafiktion, das seine praktische Anwendbarkeit insbesondere durch die Verwendung narratologischer Analysekategorien unter Beweis stellt, ist nach wie vor ein Desiderat. Im Vergleich zur Metafiktion stellt sich die Forschungslandschaft zur Metanarration als noch wenig ausdifferenziert dar. Bis auf die Arbeiten von A. Nünning und vereinzelt auch von G. Prince und M. Fludernik wurde die Selbstthematisierung des Erzählens bislang nur in Ansätzen erforscht; dies gilt insbesondere im Hinblick auf diachronische bzw. komparatistische Analysen. A. Nünning hat eine erste Typologisierung der Metanarration vorgeschlagen, die er am Beispiel des englischen Romans entwickelt hat. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass ebenso wie das metafiktionale auch das metanarrative Erzählen keine Erscheinung allein im Fiction.“ (1995), S. 279.) Zugleich zeigt Ryan, dass Genette in seinem Modell nur verschiedene diegetische Ebenen in Erzähltexten unterscheidet, ohne jedoch die damit möglicherweise einhergehende paradoxe Überschreitung der Grenze zwischen intraontologischen und extraontologischen Ebenen, welche die Funktion einer Problematisierung der „relation between the narrator and the reference world“ besitzt, in sein Konzept einzubeziehen (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 279f.). B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 24, führt aus, dass Genettes Modell zur Beschreibung der Zeitgestaltung in narrativen Texten neben realistischen und modernistischen Erzähltexten auch auf nichtfiktionale Erzählungen anwendbar ist, jedoch bei der Analyse spätmodernistischer und postmodernistischer Texte scheitert. Er ergänzt daher Genettes Modell um sechs weitere temporale Kategorien: circular temporality, contradictory temporality, antinomic temporality, differential temporality, conflated oder antiteleological temporality, dual oder multiple temporality und antimimetic narrative temporality. (Ebd., S. 24-30.) Ferner entwirft er fünf Kategorien zur Beschreibung der typischerweise instabilen Erzählerstimme mit nicht-mimetischer Funktion in postmodernen Texten: fraudulent narrators, contradictory narrators, conflated narrators, incommensurate narrators, dis-framed narrators. (Ebd, S. 32ff.) Auch unterscheidet er zwei Verfahren der Überschreitung ontologischer Grenzen in den genannten Textkategorien: metafictional commentary und ontological framebraking. (Ebd., S. 35.) 46 M. Currie: Postmodern Narrative Theory. (1998), S. 2f. 47 Zu nennen sind hier vor allem die Modelle metafiktionalen Erzählens von L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 27 modernistischen bzw. spät- und postmodernistischen Roman darstellt, sondern in allen Literaturen und literarischen Epochen anzutreffen ist. 1.3 Forschungsbericht: ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ und ‚Metahistoriographie’ im Werk Claude Simons Angesichts der eingangs skizzierten Bedeutung, welche die metafiktionale Beschäftigung mit der eigenen Fiktionalität und die metanarrative Thematisierung von Aspekten, die mit der eigenen Narrativität zusammenhängen, in Simons Texten besitzen, ist es überraschend, dass bis jetzt noch keine Studien zu dieser Thematik vorliegen. 48 Zwar gelangten insbesondere im Zuge von J. Ricardous poststrukturalistischer Theorie des scripturalisme die spezifische Autoreferentialität der Romane, später auch ihre Intertextualität, Intermedialität und Heteroreferentialität, in den Blick der Simonforschung, doch beschränken sich alle im Umkreis von J. Ricardou entstandenen Studien auf die Beschreibung sprachlicher, durch Phänomene auf der Signifikanten- und Signifikat-Ebene der Wörter produzierte Strukturen. Diese generieren eine unterschwellige Bedeutung des Textes und gleichen so die an seiner Oberfläche wahrnehmbare Fragmentierung aus. Im Folgenden werden die Arbeiten genannt, die im Rahmen unserer Thematik bereits wertvolle Vorarbeiten für eine Analyse der ausgewählten Romane auf metafiktionale, metanarrative oder metahistoriographische Strategien geleistet oder Ergebnisse auf angrenzenden Forschungsfeldern geliefert haben, an die sich im Rahmen einer erstmaligen Typologisierung und Funktionalisierung dieser Phänomene im Werk Simons anknüpfen lässt. Im Hinblick auf Aspekte, die mit dem Erzählverfahren zusammenhängen, sind die Studien für uns von Interesse, welche die problematische Referenz der Texte auf eine außerliterarische Realität untersucht und die 48 Da sich mit unserer begrenzten Fragestellung kaum ein umfassender Überblick über die umfangreiche Simonforschung vereinbaren lässt, sei an dieser Stelle auf die folgenden kritischen Forschungsüberblicke verwiesen: S. Sykes: „‘Parmi les aveugles le borgne est roi’: A Personal Survey of Simon Criticism.“ (1985), T.R. Kuhnle: „Claude Simon und der Nouveau Roman. Erträge und Desiderate der Forschung aus literatursoziologischer Perspektive.“ (1991), T.R. Kuhnle: „Anthropologie und Literaturwissenschaft - die Wiederbelebung eines Paradigmas? Überlegungen am Beispiel einiger Studien zu Simon.“ (1993), C. Britton (Hg.): Claude Simon. (1993), S. 11ff., sowie J.H. Duffy und A. Duncan: „Introduction.“ (2002), S. 2ff. K. Gould bemerkt, dass die „ernsthafte“ Forschung zu Simons Werk erst relativ spät - seit Beginn der 1970er Jahre - einsetzt; die Gründe liegen ihrer Ansicht nach nicht nur in der Unzugänglichkeit seiner Texte sondern vor allem in Simons Absenz im theoretischen Diskurs nicht nur der Feuilletons, sondern auch der universitären Literaturwissenschaft; dies unterscheidet ihn von seinen ‚Kollegen’ A. Robbe-Grillet und N. Sarraute. 28 Dominanz des autoreferentiellen Modus in Simons Erzählen beschrieben haben. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten zur mise en abyme, welche die Auswirkungen dieser paradoxen Strukturierung der Inhaltsebene auf die erzählte Geschichte analysieren 49 oder aber welche wie die Arbeit von S. Lotringer den „vertige“ beschreiben, der durch die wiederholten metaleptischen Rahmenbrüche zwischen innerfiktionaler Realität und ihren verschiedenen Repräsentationen entsteht. 50 Anknüpfen im Rahmen einer Typologisierung und Funktionalisierung der Metafiktion im Werk Simons lässt sich auch an die Studien, die sich mit der problematischen Erzählinstanz und ihrem Diskurs vor allem in La Route des Flandres auseinandergesetzt haben: So interpretiert A. Goulet „the subject-less function of sight“ vor allem gegen Ende des Romans im Hinblick auf die Erzeugung eines Effekts typischer „anti-representationality“ bzw. „appearent self-referentiality“. 51 Auch im Hinblick auf die für das Werk Simons so typische Problematisierung der Wahrnehmung sowie der möglichen sprachlichen Repräsentation der Wahrnehmungsprozesse und ihres retrospektiven Wiederaufrufs in der Erinnerung wurden bereits einige Vorarbeiten für eine Typologisierung der Metafiktion geleistet. 52 In einer „étude lexicologique“ zu La Route des Flandres untersucht J.A. Kreiter zunächst die verschiedenen Begriffe, die „l’hésitation du narrateur devant la réalité extérieure“ 53 ausdrücken, um im Anschluss die narrativen Verfahren vorzustellen, welche für eine gewisse „dé-réalisation du récit“ 54 sorgen und damit die Referenz des Textes auf eine extratextuelle Wirklichkeit in Frage stellen. In ihrer Arbeit zur möglichen Referenz der Texte kommt J. Duffy bei ihrer Analyse von La Route des Flandres aus dezidiert phänomenologischer Perspektive zu dem Ergebnis, dass es für Simon keine definitive, exakte Beschreibung der Welt geben könne, die Gültigkeit jenseits der subjektiven 49 F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1031-40; S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 334-47 ; L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 193-200; M. Zupan i : Lectures de Claude Simon. La polyphonie de la structure et du mythe. (2001). Hierbei handelt es sich in Teilen um eine Wiederveröffentlichung ihrer Dissertation aus dem Jahr 1977. Vgl. auch M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987). 50 S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 324. 51 A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 296. 52 Vgl. z.B. P. Schoentjes: „De Conrad à Simon, l’esthétique du ‘faire voir’.“ (2005). 53 J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 489. Hierzu zählen u.a. Verben wie „sembler“, „paraître“ oder „avoir l’air“ sowie Präpositionen und Konjunktionen wie „sorte de“, „espèce de“, „comme“, „quelque chose comme“, „comme si“, „peut-être“ und „sans doute“. 54 Zu nennen sind die „techniques du glissement, de la dé-temporalisation, du dédoublement, de la répétition d’images et de thèmes, de la mise en représentation, du double registre“. (Ebd., S. 491-494.) 29 Wahrnehmung des Autors besitze: „[…] the notion of representation cannot exist in a perceptual vacuum.“ 55 Doch erscheint nicht nur die unmittelbare Sinneswahrnehmung als unsicher in Simons Texten, auch der retrospektive Zugriff auf vergangene Erfahrungen und persönliche Erinnerungen wird zunehmend prekär; „[…] the décalage between perception und intellection, and the partial and intermittent nature of perception“ 56 wird sichtbar. So lösen sich die Erinnerungen in verschiedene assoziative, heterogene Sinneseindrücke auf; das Erinnerungssubjekt erscheint als unpersönliches Bewusstsein. 57 R. Burden hingegen weist in seiner Studie auf den „profound epistemological doubt“ 58 hin, der konstitutiv für viele Romane Simons sei. Darüber hinaus bleibt die in den Texten vertretene Prämisse von der prinzipiellen Nicht-Erkennbarkeit der Vergangenheit nicht ohne Folgen für das Konzept des Erzählers: dieser präsentiert sich ebenso wie die Figuren nicht länger als stabile Instanz, sondern zersplittert in mehrere Facetten. 59 Verschiedene Studien, die sich seit Mitte der 1970er Jahre mit den intermedialen Bezügen in Simons Texten beschäftigt haben, berühren ebenfalls unsere Fragestellung: Sie identifizieren entweder die verschiedenen, in den Romanen als fiktionsauslösende générateurs fungierenden, Kunstwerke v.a. aus der Malerei, 60 oder zeigen, inwiefern sich Simons Poetik durch fremdmediale Erzähl- und Textkonstitutionsstrategien beeinflusst zeigt. 61 Neuere Veröffentlichungen betonen zudem den oftmals imaginären, fikti- 55 J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 35. 56 Ebd., S. 46. 57 Ebd., S. 49f. 58 R. Burden: John Fowles, John Hawkes, Claude Simon: Problems of Self and Form in the Post- Modernist Novel: A Comparative Study. (1980), S. 112. 59 Ebd., S. 113f. 60 Vgl. z.B. M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982); C. Rannoux: „Claude Simon: La Confusion créative.“ (1995). 61 Hierzu u.a. R.L. Sims: „L’influence du cinéma et ses techniques sur quelques romans de Simon.“ (1975), F.v. Rossum-Guyon: Le Cœur critique: Butor, Simon, Kristeva, Cixous. (1997), Kap. 6; G. Prignitz: „Le modèle plastique dans La Route des Flandres: Jalons stylistiques d’un traitement de l’image.“ (1997), B. Ferrato-Combe: „Esthétique picturale et poétique romanesque chez Simon.“ (1997), I. Albers: „‘The Shock of the Photographs, the Weight of the Words’: Photographic War Memories in Claude Simon’s La Route des Flandres.“ (1998), B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), A.-M. Baron: „La Route des Flandres, de Simon, roman filmique.“ (1998), I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. Bikialo: „Les ‘Tracés sinueux’ de Claude Simon: Une poétique de la pelote de laine.“ (2004), K. Gosselin: „Simon, peindre avec les mots.“ (2004), J. Mecke: „Images-temps: Métaphores, temps et techniques cinématographiques dans La Route des Flandres.“ (2006). 30 ven Status, den die beschriebenen Kunstwerke innerhalb der fiktionalen Welt besitzen, sowie ihre dadurch bedingte a-referentielle Funktion. 62 Schließlich liefern auch die seit Beginn der 1980er Jahre vermehrt veröffentlichten Studien zum Aspekt der Heteroreferenz in Simons Texten 63 vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Systematisierung metafiktionaler Erzählverfahren. Die Simonforschung wendet sich nun von Jean Ricardous Theorie des autoreferentiellen Skripturalismus ab und entdeckt den in den Texten der Nouveaux Romanciers und insbesondere in Claude Simons Werk von Anfang an angelegten Bezug auf die individuelle, autobiographische bzw. auf die kollektive, historische Realität: Die jeweiligen Arbeiten beschäftigen sich einerseits allgemein mit Fragen der sprachlichen ‚Referentialität’ bzw. ‚Mimesis’ 64 und untersuchen andererseits die in den Texten nachweisbaren Bezüge auf Simons Biographie 65 und auf den in den jeweiligen Texten gestalteten übergeordneten historischen Kontext. 66 So setzt sich D. Schmidt in ihrer Dissertation mit dem Referentialitätsparadigma in Simons Poetik auseinander und konstatiert ein „Spannungsfeld widersprüchlicher Schreibintention und Literaturkonzeptionen“, 67 das 62 B. Ferrato-Combe: „Peinture et autobiographie dans La Route des Flandres.“ (1997). Vgl. ebenso M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982), S. 105; J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 66 und I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. 20. 63 Diese nahmen seit dem 1982 in New York veranstalteten Kolloquium zum Thema „Three Decades of the French New Novel“ zu; vgl. die von Lois Oppenheim 1986 veröffentlichten Tagungsakten (L. Oppenheim (Hg.): Three decades of the french new novel. (1986)). 64 R. Sarkonak: „Toward a Simonian Mimetics.“ (1986), R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), M.M. Brewer: „(Ré)inventions référentielles et culturelles chez Claude Simon: ‘Les Images les instants les voix les fragments du temps du monde’.“ (1994), C. Britton: „‘Ce paysage inépuisable’: Sens et référence dans la conception simonienne de la langue.“ (1994), A. Duncan: „La Route des Flandres: adventure in words.“ (1994), W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), A.B. Duncan: „Claude Simon: la crise de la représentation.“ (1997). 65 J. Fletcher: „Simon. Autobiographie et fiction.“ (1981), A.B. Duncan: „Claude Simon, le projet autobiographique.“ (1990), E. Gruber: „Éléments de biographie pour une écriture probable.“ (1993), B. Ferrato-Combe: „La Route des Flandres - une autofiction? “ (1997). 66 D. Carroll: The Subject in Question: the languages of Theory and the Strategies of Fiction. (1982b), Kap. 5, J. Duffy: „The Subversion of Historical Representation in Claude Simon.“ (1987), G. Prince: „How to Redo Things with Words: La Route des Flandres.“ (1988), F. Dugast-Portes: „Claude Simon et l’Histoire.“ (1990), F. Dugast-Portes: „La figure de l’ancêtre dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), F. Dugast- Portes: „Lecture d’une vision de l’Histoire dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), C. Trevisan: „L’Icône blessée: Histoire et filiation chez Claude Simon.“ (2002), R. Sarkonak (Hg.): Le (dé)goût de l’archive. (2005), M.M. Brewer: „Pour un devenir-archives dans l’œuvre simonienne.“ (2005). 67 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 12f. 31 sein Werk bestimme: einerseits „[…] das Bemühen um die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen […] im Medium der Literatur […]“ und andererseits „[…] das Programm einer nicht mehr referentiellen Schreibweise, die die Konstruktion eines Texts nicht vom Bezug auf außerliterarische Gegenstände her denkt, sondern nur die Beziehungen der sprachlichen Zeichen untereinander für die Textproduktion furchtbar machen will.“ 68 Hingegen fokussiert N. Piégay-Gros’ Aufsatz zu La Route des Flandres stärker auf das hier propagierte Geschichtsbild: Dieses enthülle sich „[…] loin de tout développement conceptuel, dans les méandres d’une mémoire que délient les hypothèses de l’imagination.“ 69 Die Rekonstruktion der Vergangenheit werde durch den Rückgriff auf mythologische und antike Stoffe 70 sowie durch den fabulierenden Charakter des Gesagten untergraben; 71 statt einer Referenz auf eine außerliterarische Wirklichkeit setzten sich zuletzt die ‚déréalisation’ und die ‚dépersonnalisation’ der fiktiven Realität durch. 72 In das Zentrum des Forschungsinteresses rücken die Themen ‚Geschichte’ bzw. ‚Historiographie’ und damit die Frage nach der literarischen Repräsentation vergangener Realität jedoch erst im Zusammenhang mit Simons epochalem Roman Les Géorgiques; die Perspektiven der Untersuchungen zu dieser Thematik variieren beträchtlich: So untersucht A.C. Pugh die Infragestellung des positivistischen Geschichtskonzepts und betont das Innovationspotential, das Les Géorgiques für die Gattungsgeschichte des historischen Romans liefert: 73 Ebenso wie die postmoderne Historiographie sich kritisch mit dem Positivismus und seinen Repräsentationsformen auseinandersetzt, unternimmt auch Simon in seinem Roman „a subversion of a number of crucial historiographical assumptions“; dazu zählen „the historical name“, „the synthetic concept of the event“, „the synthesis of such historic events into a causally related sequence“ und „his reformulation of the status of the témoignage and the document on which a great many historical deductions are based“. 74 Im Gegensatz zu einer positivistisch fundierten, literarischen Verarbeitung des historischen Substrats arbeitet Simon - so Pugh - in seinem Roman die komplexe Beziehung zwischen Geschichte und Fiktion heraus 75 und liefert in der Verbindung von 68 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 14. 69 N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 119. 70 Ebd., S. 119f. 71 Ebd., S. 126f. 72 Ebd., S. 127. 73 A.C. Pugh: „Facing the Matter of History: Les Géorgiques.“ (1985), S. 114. 74 J. Duffy: „The Subversion of Historical Representation in Claude Simon.“ (1987), S. 421. 75 L.S. Roudiez: „History and Fiction in Claude Simon’s Novels.“ (1985), S. 50. 32 „autoreprésentation“ und „représentation“ eine „représentation scripturale de l’Histoire“. 76 Neuere Untersuchungen zur Geschichtsthematik in Simons Text wie beispielsweise S. Kleinerts Arbeit legen das Gewicht noch stärker auf die Analyse der selbstreflexiven Textstrategien, die sich kritisch mit den Möglichkeiten des Romans auseinandersetzen, Vergangenheit sprachlich und erzählerisch zu repräsentieren bzw. zu rekonstruieren. Ohne jedoch eine überzeugende und v.a. ‚saubere’ - im Sinne einer eindeutigen Abgrenzung zur Metanarration - Definition ihrer Arbeit an den Anfang zu stellen, vertritt Kleinert die These, dass Les Géorgiques in Teilen der historiographischen Metafiktion zuzurechnen sei, und bezieht sich dabei sowohl auf die „réflexion sur le problème de la représentation verbale“ als auch auf die „réflexion sur les média, photographie ou textes, pouvant servir de support à la mémoire historique“. 77 Doch bleibt sie mit ihrer Analyse an der Oberfläche eines derart komplexen - auch im Hinblick auf die narrativen Strategien - Phänomens wie die (historiographische) Metafiktion, zumal sie nicht deutlich genug auf die Thematisierung bzw. Inszenierung von Künstlichkeit und Erfundenheit als zentrale Komponenten von Metafiktion verweist und den Begriff unreflektiert auf intermediale Erzählstrategien bezieht. Ähnlich vage beschreibt auch C. Reitsma-La Brujeere „cette dimension métahistorique et métadiscursive“ von Les Géorgiques und bezeichnet damit insbesondere die Infragestellung eines überkommenen, traditionellen historischen Erzählens, ohne jedoch genauer auf die spezifischen - Fiktion und Geschichtsschreibung thematisierenden - metafiktionalen bzw. metahistoriographischen Verfahren einzugehen. 78 In jüngerer Zeit hat sich S. Schreckenberg ausführlich mit der „Problematisierung von Formen, Möglichkeiten und Grenzen historischer Sinnstiftung“ in Les Géorgiques beschäftigt. 79 Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Vergangenheit in diesem Text ‚poetisiert’ werde, wodurch Erzählen als ein kreativer Prozess und Geschichte(n) als das Produkt dieses Prozesses sinnstiftend erfahren werden können. 80 Dabei impliziert die vom Erzähler unternommene ‚Poetisierung’, dass der Roman ausgehend von historisch realen Ereignisfragmenten Geschichte als narratives Produkt 76 C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 237f. 77 S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historiographique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 141. 78 C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 237. 79 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 20. 80 Ebd., S. 364. 33 konstituiert. 81 Das auffälligste Defizit von Schreckenbergs Studie stellt in diesem Zusammenhang seine fehlende Rezeption der in der Literaturwissenschaft mittlerweile verbreiteten Theoriebildung zum metafiktionalen und metahistoriographischen Erzählen dar; insbesondere das Konzept der in der Anglistik und Amerikanistik entwickelten historiographic metafiction hätte von ihm auf den Roman appliziert werden müssen. Es sind also bereits einige Arbeiten erschienen, welche sich einerseits mit der problematischen Referenz der Texte auf vergangene, individuelle oder kollektive, Realität beschäftigen und andererseits mit ihrer möglichen sprachlich-fiktionalen Repräsentation, und welche dabei auch metafiktionale und metanarrative Aspekte der Werke streifen. Allerdings gilt für die zitierten Arbeiten, dass sie - soweit sie überhaupt genuin metafiktionale oder metanarrative Phänomene beschreiben und in der Literaturwissenschaft geläufige Begriffe zur ihrer Benennung verwenden - in ihren Definitionen äußerst vage bleiben und darüber hinaus die in Simons Texten beobachteten Vertextungsstrategien nicht typologisch ausdifferenzieren, sondern diese insgesamt nur sehr oberflächlich behandeln. 1.4 Ziel und Gang der Untersuchung Die Thematik der vorliegenden Arbeit zeigt sich motiviert durch die eingangs aufgezeigten Lakunen in der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen sowie in der Simonforschung; letztere hat sein Werk bislang nicht systematisch auf die Ausprägungen der Metafiktion und der Metanarration und ihre spezifischen Funktionen untersucht. In dem hier entworfenen Rahmen verfolgt die Dissertation eine doppelte Zielsetzung: Zum einen soll in kritischer Auseinandersetzung mit den bisherigen Theorieentwürfen von L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf und unter Verwendung narratologischer Analysekategorien ein neues Modell der Metafiktion entwickelt werden, welches das notwendige Begriffsinstrumentarium für die im Anschluss erfolgenden Analysen der Romane Simons bereitstellen wird. Dieses Ziel macht ein vorgeschaltetes theoretisches Kapitel notwendig, in welchem die Termini ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ in den größeren Kontext literarischer Autoreferentialität eingeordnet, voneinander abgegrenzt und ihre bisherigen Konzeptionalisierungen vorgestellt werden sollen. Zum anderen werden in Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques die typologischen Varianten metafiktionaler, metanarrativer und metahistoriographischer Diskurse, ihre Funktionen sowie die historische Entwicklung ihres Auftretens im Werkkontext analysiert. Dabei liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf der Metafiktion; dies 81 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 20. 34 spiegelt sich auch in der Konzeption des Ergebniskapitels, in welchem schließlich eine Typologie der metafiktionalen Erzählverfahren in Simons Werk entworfen werden soll. Das besondere Innovationspotential der Dissertation liegt demzufolge nicht allein in der Ergänzung der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen, sondern insbesondere auch in ihrem komparatistischen Ansatz: Zum ersten Mal werden die ursprünglich innerhalb der Anglistik bzw. Amerikanistik entwickelten theoretischen Konzepte der ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ sowie der ‚historiographischen Metafiktion’ auf ein französisches Textkorpus angewandt. Die Arbeit schließt somit eine Lücke in der Erforschung von Simons literarischem Werk und schreibt darüber hinaus auch ein neues Kapitel in der Gattungsgeschichte des französischen postmodernen historischen Romans. Die Gliederung der Dissertation in zwei Hauptteile ist Ausdruck ihrer doppelten Zielsetzung: Der vorangestellte theoretische Teil diskutiert zunächst ältere Konzepte metafiktionalen und metanarrativen Erzählens. Die Begriffe der ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ werden definiert und in den größeren Zusammenhang literarischer Autoreferentialität bzw. Metatextualität eingeordnet; darüber hinaus werden einschlägige Typologisierungsansätze vorgestellt, um auf diese Weise den eigenen theoretischen und begrifflichen Vorschlägen das Feld zu bereiten. Im Anschluss wird ein neues Modell metafiktionalen Erzählens entwickelt, das sich stärker als bisherige Entwürfe an narratologischen Analysekategorien orientiert und das analog zum sprachhandlungstheoretischen Modell der narrativen Fiktion entwickelt wird. Dieses soll erstens untersuchen, auf welchen narrativen Ebenen fiktionale Erzähltexte die eigene Fiktion metafiktional kommentieren, und zweitens, auf welche Weise auch narratologische Aspekte wie die Erzählsituation, die Figurencharakterisierung, die Bewusstseinsdarstellung, die Raum- und Zeitdarstellung und der Stil implizite metafiktionale Funktionen übernehmen können. Der Analyseteil der Arbeit beschäftigt sich schließlich mit den Formen und Funktionen von Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in Claude Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques. Wie einleitend dargelegt wurde, entstammen diese Texte verschiedenen Schaffensphasen Claude Simons; ihre Wahl bestimmte sich danach, ob sie signifikante metafiktionale und metanarrative Komponenten aufweisen und ob sie zugleich auch paradigmatisch für die jeweilige Phase sind. Bei der Untersuchung der genannten Werke wird auf die im theoretischen Teil entwickelten Analysekategorien der Metafiktion zurückgegriffen; am Ende soll als Ergebnis eine Typologie metafiktionalen Erzählens im Werk Simons stehen. Den Ausgangspunkt bildet der Roman La Route des Flandres (1960), dessen zentrales, durch das Leitmotiv „Comment savoir“ stets präsentes The- 35 ma die individuelle Wahrnehmung von Realität und ihre problematische retrospektive, erinnernde Evokation ist. Diese Wahrnehmungs- und Erinnerungspoetik verweist indirekt auf die Probleme, vor die sich auch die Literatur bei der ‚Abbildung’ von extratextueller Wirklichkeit gestellt sieht. Mit Triptyque (1973) wird der wichtigste Roman aus Simons ‚skripturalistischer’ Phase untersucht, in welcher der Selbstbezug der Texte seinen Höhepunkt erreicht. Simon verarbeitet den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Textes kursierenden radikalen Erkenntnisskeptizismus in einer metaästhetischen Kritik an den verschiedenen medialen Repräsentationsformen, seien es Film, (literarischer) Text, Photographie oder Malerei. Er stellt auf diese Weise die Referenzfunktion nicht nur der Literatur in Frage und entwirft zugleich eine metapoetische Anleitung zur Rezeption seiner Texte. Simons Alterswerk Les Géorgiques (1981) schließlich stellt mit dem Thema des kollektiven Gedächtnisses die Geschichte und den narrativen Diskurs von Historiographie, Autobiographie sowie Biographie in den Mittelpunkt seiner Reflexion und schließt mit dem erneut auftretenden Leitmotiv „Comment savoir“ an La Route des Flandres (1960) an. Im Zentrum von Simons Kritik an der positivistischen These von der objektiven ‚Abbildbarkeit’ vergangener Realität steht die Aufdeckung der Rolle, welche Fiktion und Imagination als kreative Kräfte im historiographischen Rekonstitutionsprozess spielen. Zugleich werden im Text die Prämissen historiographischen, autobiographischen und biographischen Erzählens kritisch diskutiert und diesen narrativen Modi das fiktionale historische Erzählen gegenübergestellt. Übergeordnetes Ziel des Analyseteils ist, am Beispiel der genannten Texte die Varianten metafiktionaler, metanarrativer und metahistoriographischer Diskurse in Claude Simons Romanwerk zu beschreiben und ihre diachrone Entwicklung nachzuzeichnen. 37 Teil I Theoretische Entwicklung eines neuen Beschreibungsmodells metafiktionalen Erzählens 2 ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ - Bisherige Definitions- und Typologisierungsansätze Seit den 1960er Jahren erwacht - wie eingangs beschrieben - in der Auseinandersetzung mit den experimentellen Erzählverfahren der literarischen Spät- und Postmoderne das Interesse der Literaturwissenschaft an der Erforschung der verschiedenen, in den Texten nachweisbaren, autoreferentiellen Strategien. So unterschiedliche literarische Phänomene wie in der französischen Literaturwissenschaft die mise en abyme bzw. in der anglistischen und amerikanistischen die self-conscious novel werden systematisch erforscht; allerdings mit dem verwirrenden Nebeneffekt, dass die beobachteten Phänomene mit undifferenziert synonym verwendeten Termini bezeichnet werden. Häufig finden sich in einer einzigen Abhandlung Akkumulationen und Kombinationen von Begriffen wie z.B. ‚Selbstreflexivität’, ‚Selbstreferenz’, ‚Selbstreferentialität’, ‚Autoreflexivität’, ‚Autoreferenz’‚ ‚Autoreferentialität’, ‚Spiegelung’, mise en abyme, ‚Metareflexivität’, ‚Metatextualität’, ‚Metafiktion’/ ’Metafiktionalität’, ‚Metaroman’‚ self-conscious novel oder auch self-begetting novel. 1 Den Versuch einer Begriffsklärung haben in jüngerer Zeit vor allem W. Wolf und M. Scheffel unternommen; das Ziel ihrer Arbeiten zur Selbstreferenz war, diese nicht nur zu definieren und von verwandten Phänomenen 1 So vermengt Peter Freese in seinem Aufsatz zur amerikanischen Short Story die erzähltechnischen Kategorien ‚Metanarration’, ‚Metafiktion’ und ‚Meta-Story’: „Meta- Stories offerieren dem Lesern neben ihrer jeweiligen fiktiven Substanz zugleich auch immer den diese Substanz hervorbringenden schöpferischen Intellekt als in ihr erkennbar anwesend, machen also Erzähler und Erzählakt zum Erzählgegenstand (das ist ‚Meta-Narration’; S.Z.) und sind deshalb statt auf Illusion ausgerichtete Erzählungen von vorgeblicher Wirklichkeit bewußt als künstlich ausgewiesene künstlerische Konstrukte (das ist ‚Metafiktion’; S.Z.) mit vorwiegend ästhetischer Funktion. (P. Freese: „Die Story ist tot, es lebe die Story: Von der Short Story über die Anti-Story zur Meta-Story der Gegenwart.“ (1977), S. 247.) 38 abzugrenzen, sondern vor allem auch erste Ansätze einer Typologisierung zu entwickeln. 2 Im Folgenden soll zunächst Roman Jakobsons Modell verbaler Kommunikation kurz vorgestellt werden, das zum Ausgangspunkt vieler der heute angewandten Konzepte selbstreferentiellen Erzählens wurde. Im Anschluss werden die von M. Scheffel und W. Wolf vorgeschlagenen Typologien der Selbstreferentialität sowie wichtige Termini zur Bezeichnung selbstthematisierender Textphänomene ausführlicher beschrieben. Die Ausführlichkeit, mit der auf bestehende Modelle zum metafiktionalen und metanarrativen Erzählen eingegangen wird, ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines neuen Konzepts der Metafiktion und damit auch für eine adäquate Lektüre der ausgewählten Texte Claude Simons. Diese kann nur gelingen, wenn das terminologische Instrumentarium zuvor klar festgelegt und deutlich von verwandten Begriffen abgegrenzt wurde. 2.1 R. Jacobsons Kommunikationsmodell und die Konzepte literarischer Autoreflexivität und Metatextualität Die verschiedenen, heute gebräuchlichen Termini zur Benennung von autoreflexiven bzw. Metaphänomenen in der Literatur haben ihren Ursprung zum einen in R. Jakobsons Weiterentwicklung von K. Bühlers „Organonmodell“ der Sprache 3 und zum anderen in Rudolf Carnaps Konzept der „Metalanguage“. 4 So weist R. Jakobson den Faktoren, die jeden verbalen Kommunikationsakt 5 konstitutieren, verschiedene Funktionen zu: 2 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001); M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997) 3 Vgl. hierzu Scheffels Überblick über die Weiterentwicklung des Bühlerschen Organonmodells von den Prager Strukturalisten bis zu Umberto Eco. (M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 11- 22.) 4 Carnap definiert ‘Objektsprache’ und ‘Metasprache’ wie folgt: „The language spoken about in some context is called the object language; the language in which we speak about the first is called the metalanguage.” (R. Carnap: Introduction to semantics and formalization of logic. (1959), S. 3.) 5 Dieser lässt sich ganz allgemein wie folgt charakterisieren: Ein Sender schickt einem Empfänger eine Mitteilung über einen bestimmten Kontext (= Referent) mittels eines zwischen ihnen bestehenden Kontakts (z.B. ein physischer Kanal oder eine psychologische Verbindung) und unter Verwendung eines bestimmten linguistischen Codes. 39 Code (metasprachliche Funktion) Kontext (referentielle Funktion) Mitteilung (poetische Funktion) Kontakt (phatische Funktion) Sender (emotive Funktion) Empfänger (konative Funktion) Abbildung 1: R. Jakobsons Modell verbaler Kommunikation Die Orientierung auf den Sender einer sprachlichen Botschaft beschreibt die emotive Funktion, die Ausrichtung auf den Empfänger die konative Funktion, die Einstellung auf die Botschaft als solche die poetische Funktion, die Orientierung auf den Kontext die referentielle Funktion, die Einstellung auf den Kontakt die phatische Funktion und die Ausrichtung auf den Code die metasprachliche Funktion. 6 Es sind insbesondere die poetische und die metasprachliche Funktion, an die literaturwissenschaftliche Beschreibungsmodelle textueller Selbstreflexivität anknüpfen. 7 6 R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 88-93. 7 M. Scheffel hat in seiner Habilitationsschrift detailliert nachgewiesen, wie das Konzept der ‚literarischen Selbstreferenz’ auf der Grundlage von Karl Bühlers ‚Organonmodell’ in den strukturalistischen Ansätzen Jan Muka ovskýs und Roman Jakobsons sowie in Umberto Ecos semiotischem Ansatz weiterentwickelt wurde. Allerdings zeigt Scheffel auch klar die Grenzen dieser formalistisch begründeten Ansätze auf: So unterstellen die genannten Autoren dem besonderen ästhetischen Zeichen aufgrund des von Muka ovský beobachteten gelockerten Praxis- und Gegenstandsbezugs poetischer Sprache eine ‚autoreflexive’ und ‚mehrdeutige’ Struktur. (Damit ist gemeint, dass das ästhetische Zeichen vor allem seine spezifische materielle Organisation bedeutet.) Allerdings sind sie sich - wie vorsichtige Formulierungen verraten - auch der logischen Notwendigkeit bewusst, dass Zeichen definitionsgemäß auch noch etwas Anderes als sich selbst bedeuten müssen (und daher kein Zeichensystem existieren kann, das ausschließlich auf sich selbst verweist) und dass Zeichen auch nicht beliebig mehrdeutig sein können. (M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 11-23.) 40 R. Jakobson nennt als poetische Funktion der Sprache „die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“: 8 das „Augenmerk [wird] auf die Spürbarkeit der Zeichen“ 9 - auf seinen Signifikanten - gerichtet, ohne dass diese Funktion jedoch allein auf die Dichtung reduziert bliebe. Auf die literarische Sprache übertragen, verweist die poetische Funktion der Sprache auf das literarische Phänomen der ‚Autoreferentialität’, definiert als ‚Bezug eines Textes auf sich selbst’ im Gegensatz zur ‚Heteroreferentialität’ als dem Bezug eines Textes auf Außertextuelles. Allgemein gilt „die Tendenz zu relativ hochgradiger Selbstreferentialität [als] eines der Kriterien“ 10 für die Bestimmung von (Höhenkamm-)Literatur. Nachdem bereits Klaus W. Hempfer zu Beginn der 1980er Jahre den Versuch unternommen hatte, die Abhängigkeiten zwischen den zur Bezeichnung von ‚Autoreflexivität’ verwendeten Begriffen zu klären, 11 hat Michael Scheffel im Rahmen einer Kritik am „verwirrenden Neben- und z.T. Durcheinander scheinbar verwandter Bezeichnungen wie ‚autoreflexiv’, ‚autothematisch’, ‚metanarrativ’, ‚metadiskursiv’, ‚metafiktional’, metanovel, introverted novel, self-conscious-novel [etc.]“ 12 eine präzisere Bestimmung der Termini ‚Selbstreflexion’ bzw. ‚Selbstreflexivität’ vorgeschlagen. Ausgehend von den zwei Bedeutungen des vom lateinischen Verb „reflectere“ abgeleiteten deutschen Verbs „reflektieren“ - 1. zurückstrahlen, (wider)spiegeln; 2. nachsinnen, betrachten, erwägen - unterscheidet Scheffel zwischen zwei Formen literarischer Selbstreferenz: Während der Begriff ‚Selbstreflexivität’ und das dazugehörige Adjektiv ’selbstreflexiv’ „eine Eigenschaft bzw. einen Zustand im allgemein [sic] Sinne von ‚Selbstbezüglichkeit’“ 13 bezeichnen, meint „[…] ‚Selbstreflexion’ eine Tätigkeit, die sich […] wahlweise als ‚Sich-Selbst-Spiegeln’ oder als ‚Sich-Selbst-Betrachten’ 8 R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 92. 9 Ebd., S. 92f. Jakobson liefert verschiedene Beispiele aus der Alltagssprache sowie aus Prosatexten, in denen verschiedene poetische Verfahren ausschlaggebend für die Wortwahl und die Satzkonstruktion sind. 10 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 50. 11 K.W. Hempfer: „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts Orlando Furioso.“ (1982). Seine Definition beschränkt sich in ihrer Reichweite jedoch allein auf den narrativen Diskurs und begreift ‚Autoreflexivität’ als „[…] prinzipielle Möglichkeit des Erzählens […], das Erzählen selbst und nicht nur die ‚Geschichte’ zum Gegenstand des Diskurses zu machen.“ (S. 136.) Dazu zählt er insbesondere die in Ariosts Orlando furioso beobachteten Phänomene „Thematisierung von Erzählakt, Sprecher-Hörer-Relation und Vermittlungsmedium“, „Selbstthematisierung des Erzählsubjekts“, „Reflexion des Erzählers über die ‚Geschichte’“ sowie „Reflexion des Erzählsubjekts über Bedingungen der Vermittlung der ‚Geschichte’ im Diskurs“. 12 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 46. 13 Ebd., S. 47. 41 spezifizieren läßt.“ 14 Im besonderen Fall der Erzähltexte, die ja den zeitlichen Verlauf von Handlungen darstellen, muss ‚Spiegelung’ präzisiert werden als „eine Wiederholungsbeziehung […] ein[es] Teil[s] [einer] Erzählung […] zu anderen Teilen oder der Erzählung als Ganzes […].“ 15 Davon zu unterscheiden ist ‚Selbstreflexion’ als „Betrachtungen […], die unmittelbar oder mittelbar Teile der Erzählung oder die Erzählung als Ganzes betreffen.“ 16 Während ‚Selbstreflexion’ als ‚Spiegelung’ also eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Teilen eines Textes impliziert, stellen die von Scheffel genannten selbstreflexiven ‚Betrachtungen’ Kommentare bzw. Reflexionen einer innerfiktionalen Instanz dar. Anschließend nimmt Scheffel drei wichtige Einschränkungen der narrativen ‚Selbstreflexion’ vor: So führe Selbstreflexion nicht notwendig zur Selbst- oder Rückbezüglichkeit einer Erzählung als Ganzes, ferner sei Selbstreflexion in den beiden oben genannten Bedeutungen nicht notwendig an die Fiktionalität einer Erzählung gebunden, 17 und schließlich sei Selbstreflexion ein Phänomen, das zwar markierte intertextuelle Anspielungen einschließen könne, dessen eigentlicher Ort aber im intratextuellen Bereich einer einzelnen Erzählung liege. Mithin bezeichnet der Begriff unterschiedliche Formen der Selbstbezüglichkeit einer einzelnen Erzählung (oder ihrer Teile) und nicht ihr Verhältnis zu anderen Erzählungen. 18 In jüngster Zeit hat W. Wolf den Begriff ‚literarische Selbstreferenz’, aufbauend auf Scheffels Ergebnissen, neu definiert und von verwandten Phänomenen wie ‚Autoreflexivität’, ‚Spiegelung’, ‚Metatextualität’, ‚Metafiktion’ oder ‚Metareflexivität’ abgegrenzt. 19 Zunächst setzt Wolf die Termini ‚Selbst- oder Autoreferentialität’ bzw. ‚-referenz’ äquivalent mit dem Verweis auf die offensichtliche Synonymität der Präfixe ‚Selbst-‚ und ‚Auto-’ sowie auf die nur marginale semantische Differenz zwischen einerseits dem Begriffspaar ‚Selbstreferentialität’/ ’Selbstreflexivität’ zur Bezeichnung einer bestimmten Qualität und andererseits den eine Aktivität implizierenden Begriffen ‚Selbstreferenz’/ ’Selbstreflexion’. 20 Wolf definiert schließlich ‚Selbstreferentialität’ bzw. ‚-referenz’ als 14 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997) 15 Ebd., S. 48. Hervorhebung, S.Z. 16 Ebd. 17 Somit unterscheidet sich der Begriff der narrativen Selbstreflexion schon a priori von dem der ‚Metafiktion’. 18 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 48. 19 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001) 20 Ebd., S. 51f. 42 […] alle jene textuellen Erscheinungen, die […] sich in nachweislicher oder zumindest plausibler Art wieder auf Text/ Texte, Sprache und/ oder (Sprach-) Kunst und Medien (bzw. auf Teile dieser Bereiche), also direkt oder indirekt auf Merkmale, Inhalte, Entstehungs- oder Rezeptionsbedingungen usw. des eigenen Systems beziehen. 21 Diese Definition ist weiter gefasst als die von Scheffel vorgeschlagene, da sie auch intertextuelle, intermediale bzw. ganz allgemein ästhetische Phänomene einbezieht und vor allem den Bereich der (intra-)textuellen Wiederholungen oder Ähnlichkeiten nicht allein auf ‚Spiegelungen’ wie die mise en abyme beschränkt, die auf unterschiedlichen Ebenen eines Textes stattfinden. Im Anschluss an diese Begriffsbestimmungen entwickelt Wolf eine Typologie literarischer Autoreferenz, die er in einem ersten Schritt von der ‚Heteroreferenz’ fiktionaler Texte unterscheidet als die „Referenz auf außerhalb von Sprache, Text, Kunst und Medien Angesiedeltes, also auf eine Welt, die als etwas anderes als das Universum menschlicher Zeichensysteme angesehen wird.“ 22 Demgegenüber basiert der Begriff der ‚Selbstreferenz’ „auf dem Postulat eines abgeschlossenen Systems, innerhalb dessen Selbst-, d.h. Binnenbezüge, als Gegensatz zu Außenbezügen definiert werden.“ 23 In dem Maße wie dieses abgeschlossene System einerseits den Text eines bestimmten Werkes im engeren Sinne, andererseits aber auch den ganzen Komplex der Kunst und Ästhetik umfasst, unterscheidet Wolf zwei Formen literarischer Selbstreferenz mit unterschiedlicher Reichweite: zum einen die direkte / (intra)textuelle und zum anderen die indirekte / transtextuelle Autoreferenz. 24 Als Weiterentwicklung von Scheffels Typologie nennt Wolf zwei Hauptformen literarischer Autoreferenz: einerseits den nichtkognitiven Selbstbezug und andererseits die kognitive Selbstreflexion. 25 Der Typus des nichtkognitiven Selbstbezugs ist formal durch Ähnlichkeiten bestimmt; 21 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 52. 22 Ebd., S. 53. 23 Ebd., S. 54. Unter ‚System’ versteht Wolf nicht allein den ‚Text’ im engen Sinne als Text eines individuellen Werks, sondern bezieht in einem ebenfalls engen Sinne (in Abgrenzung zur ‚Pan-(Inter-)textualität’ im poststrukturalistischen bzw. konstruktivistischen Sinne) den ‚Text’ als „Gesamtmenge der verbalen Zeichen samt deren Signifikaten […], die in einem Werk enthalten sind“, ein (S. 55.). Von dieser engen Begriffsbestimmung unterscheidet Wolf einen weiten Systembegriff, der „die nichtheteroreferentiellen Kontexte eines Textes umfaßt, d.h. zum einen die Elemente des betreffenden Werkes, die nicht ‚Text’ im obigen Sinne sind, sowie darüber hinaus den gesamten Bereich der Literatur, Künste und Medien (z.B. auch des Films) einschließlich der dazugehörigen (z.B. ästhetischen) Reflexion.“ (S. 55.) 24 Ebd., S. 55. 25 Allerdings wählt Wolf im Gegensatz zu Scheffels ‚Selbstreflexion’ den Oberbegriff ‚Autoreferentialität’, um das Verweisen im Sinne einer Aktivität stärker zu betonen. 43 im Zentrum steht ein „selbstbezügliches Verweisen“ im Sinne einer einfachen Ähnlichkeitsrelation. 26 Hingegen meint die Form der kognitiven Selbstreflexion ein „kognitivfunktional definiertes ‚Sich-Selbst-Betrachten’“; hier geht es um „ein [absichtsvolles; S.Z.] Thematisieren (telling) oder ein Implizieren oder ‚Inszenieren’ (showing) von selbstreferentieller Bedeutung, bzw. [um] Verfahren, die zu einer selbstreferentiellen Reflexion im Sinne von ‚Nachdenken’ animieren.“ 27 Dieser Typus besitzt wiederum zwei Unterkategorien, die sowohl im Bereich der direkten/ (intra)textuellen als auch im Bereich der indirekten/ transtextuellen Autoreferenz auftreten können: es handelt sich zum einen um Formen der Selbstreflexion mit Metaimplikationen und zum anderen um solche ohne Metaimplikationen. 28 Das Schaubild präsentiert einige wichtige Unterkategorien literarischer Autoreflexivität mit den von W. Wolf proklamierten Bedeutungen von ‚Ähnlichkeit’ bzw. von ‚Bedeuten’; diese sollen im Anschluss kurz vorgestellt und voneinander abgegrenzt werden. 26 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 59. 27 Ebd., S. 58f. 28 Ebd., S. 69f. Die autoreferentiellen Phänomene mit Metaimplikation zeichnen sich per definitionem dadurch aus, dass die Selbstthematisierung des Textes bzw. der Textteile von einer höheren logischen Ebene aus erfolgt, einer Metaebene. (W. Wolf: „Metatext und Metatextualität.“ (1998), S. 366.) 44 Selbstreferenz Autoreferenz Heteroreferenz Kognitive Selbstreflexion (Bedeuten) Nicht-kognitiver Selbstbezug (Ähnlichkeit) • INTRATEXTUELL • mise en abyme • mise en cadre • mise en reflet/ série • TRANSTEXTUELL • Mit Metaimplikation (= Metareflexivität) • Fremdmetafiktionen • Metareflexionen zur Ästhetik eines anderen Textes/ Mediums • Ohne Metaimplikation • Intertextuelle/ Intermediale Reflexionen über Inhalte eines anderen Textes/ Mediums ohne Reflexion über Kunst-/ Medienhaftigkeit • TRANSTEXTUELL • Intertextualität • Intermedialität (Ekphrasis, ut pictura poiesis, Musikalisierung) • INTRATEXTUELL • Mit Metaimplikation (= Metareflexivität) • Metatextualität • Metadiskursivität • Metanarration • Metasprache • Metafiktion • Metamedialität • Metaästhetik • Metalyrik • Metadrama • Ohne Metaimplikation • Paratextuelle Passagen • Bezug auf inhaltliche Teile des Textes Abbildung 2: Schema literarischer Selbstreferenz (nach W. Wolf) Je nach Reichweite der Ähnlichkeitsbeziehung lassen sich verschiedene Formen literarischer Autoreflexivität, die auf der Ähnlichkeit von Textteilen, Texten oder anderen Kunstformen beruhen, unterscheiden. Typische Phänomene auf der Ebene des Einzeltexts sind z.B. bestimmte rhetorische Verfahren, die auf syntaktischen Ähnlichkeiten oder Rekurrenzen beruhen (z.B. Anapher und Epipher) oder aber die semantischen Isotopien des Strukturalismus. Das bekannteste Verfahren dürfte jedoch die mise en abyme sein, die auf inhaltlichen (z.T. auch formalen) Ähnlichkeiten beruht. Der Begriff mise en abyme wurde in Anlehnung an A. Gide 29 in den 1960er Jahren von J. Ricardou aufgegriffen und als dédoublement definiert. Jedoch legte Ricardou nicht explizit fest, auf welcher Ebene des Textes - ob auf der histoire- oder der discours-Ebene - diese Verdoppelung stattfindet oder ob sie sogar textübergreifend wirksam werden kann. 30 Etwas präziser definiert später Lucien Dällenbach die mise en abyme als „tout miroir interne réfléchissant l’ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse.“ 31 29 Der Begriff wurde von André Gide aus der Heraldik entlehnt (Vgl. hierzu L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 15f.) 30 J. Ricardou: Le Nouveau roman. (1973), S. 50. 31 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 52. Er bestimmt zunächst drei ‚espèces élémentaires’, je nach dem affizierten Objektbe- 45 Im transtextuellen Bereich beruhen nicht-metafiktionale Formen der Intertextualität 32 und der Intermedialität 33 (wie z.B. die Ekphrasis 34 oder die Musikalisierung des Erzählens) ebenfalls auf Ähnlichkeitsbeziehungen. Im Vergleich zu dem sich auf bloßen Ähnlichkeitsbeziehungen begründenden Bereich des Selbstbezugs ist der Bereich der absichtsvollen, eine bestimmte Aussage vertretenden Selbstreflexion ungleich größer. Auf der Ebene des Einzeltextes sind typische Formen der Metareflexivität - also eigenthematisierende Kommentare eines Textes von einer höheren Warte aus - ‚Metanarration’, ‚Metatextualität’, ‚Metamedialität’, ‚Metafiktion’ oder auch ‚Metasprache’. Diese selbstreflexiven Kommentare zielen häufig explizit als Reflexionen einer Erzähler- oder Romanfigur auf das eigene Erzählen, den eigenen Text, die eigene Medialität, die Künstlichkeit der eigenen Fiktion, 35 oder aber auf die eigene Sprachlichkeit. Die von Wolf reich der Spiegelung (Die ergänzten Namen hinter dem Schrägstrich stammen von Mieke Bal. (M. Bal: „Mise en abyme et iconicité.“ (1978), S. 119-121.)): mise en abyme de l’énoncé/ fictionnelle (Reflexion des Inhalts der Diegesis); mise en abyme de l’énonciation/ narrative (Spiegelung des Erzählvorgangs, der Diegesis selbst); mise en abyme du code du récit/ textuelle/ métatextuelle/ transcendentale (Reflexion des Texts, seiner Struktur und seiner Vertextungsverfahren). Eine Sonderform der mise en abyme énonciative ist die von Steven G. Kellman zuerst definierte self-begetting novel: „[it] is an account, usually first-person of the development of a character to the point at which he is able to take up his pen and compose the novel we have just finished reading.” (S.G. Kellman: The Self-Begetting Novel. (1980), S. 3.) Allerdings muss die von Kellman definierte spezifische Form einer „infinite recession of chinese boxes” (Ebd.) nicht unbedingt ein Kennzeichen jeder self-begetting novel sein, da die Enthüllung des Erzählmotivs zwar den Leser unter Umständen zu einer Neubewertung der soeben gelesenen Geschichte veranlasst, ohne ihn jedoch unbedingt zum Zurückgehen an den Anfang des Textes zu zwingen. 32 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 225. 33 J. Helbig definiert ‚Intermedialität‘ „[…] als Verweis eines präsenten (und daher dominanten), bezeichnenden Mediums auf ein absentes (nicht-dominantes), bezeichnetes Medium unter ausschließlicher Verwendung des Zeicheninventars des bezeichnenden Mediums.“ (J. Helbig: „Intermediales Erzählen. Baustein für eine Typologie intermedialer Erscheinungsformen in der Erzählliteratur am Beispiel der Sonatenform von Anthony Burgess’ A Clockwork Orange.“ (2001), S. 132.) Bei dem Phänomen der Intermedialität handelt es sich demnach um eine Überschreitung von Mediengrenzen; allerdings erfolgt diese Überschreitung evokativ und unter Beibehaltung des üblichen Zeicheninventars sprachlicher Texte. (Ebd., S. 131.) Zu einer Typologie intermedialer Verfahren vgl. F. Mosthaf: Metaphorische Intermedialität: Formen und Funktionen der Verarbeitung von Malerei im Roman. (2000) 34 T. Yacobi wertet die ‚Ekphrasis’ „the literary evocation of spatial art“ als eine „antinarrative figure“, da in dieser verräumlichten Beschreibung das Erzählen selbst aufgegeben werde. (T. Yacobi: „Pictoral Models and Narrative Ekphrasis.“ (1995), S. 600, 620.) 35 Bereits in seiner Habilitationsschrift betonte Wolf das für die Abgrenzung der Metafiktion von einer allgemeinen literarischen Autoreferentialität wichtige Kriterium der Intentionalität bzw. Funktionalität: Metafiktional sind „intendierte, selbstbezügliche 46 genannten ‘Meta-Termini’ lassen sich nun ebenfalls wie folgt systematisieren: Während ‚Metatextualität’ 36 eine übergeordnete Kategorie darstellt und alle metareflexiven Kommentare umfasst, die ganz allgemein auf den Text abzielen, handelt es sich bei Phänomenen wie der ‚Metadiskursivität’, 37 der ‚Metasprache’, der ‚Metanarration’ sowie der ‚Metafiktion’ um ihre Subkategorien. Selbstreflexionen des Textes, die keine Metaimplikation enthalten, mithin von keiner übergeordneten Ebene aus vorgenommen werden, sind z.B. die Bemerkungen einer Erzählerfigur über das Verhalten der diegetischen Figuren oder aber bestimmte paratextuelle Passagen wie ausführliche, den Inhalt resümierende Kapitelüberschriften. 38 Aussagen, die den Leser in besonderer Weise […] an Sachverhalte denken [lassen], die mit dem Kunstcharakter, v.a. dem fictio- und dem fictum-Status von Literatur zusammenhängen.“ (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226f.) 36 Der Begriff ‚Metatextualität ‘ hat seinen Ursprung einerseits in den Überlegungen R. Jakobsons zur metasprachlichen Funktion der Sprache sowie andererseits in R. Carnaps Unterscheidung zwischen einer ‚Objektsprache’, die sich auf außersprachliche Sachverhalte bezieht, und einer ‚Metasprache ‘, die eine Objektsprache zum Gegenstand hat und über diese Aussagen macht. (R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 91f.) Ziel dieser Unterscheidung war, Paradoxien in der Art des Satzes „Alle Kreter lügen“ des Kreters Epimenides zu vermeiden. (R. Carnap: Introduction to semantics and formalization of logic. (1959)) Diese logische Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache wurde später von Roland Barthes auf die Literatur der Moderne übertragen: „Et puis, probablement avec les premiers ébranlements de la bonne conscience bourgeoise, la littérature s’est mise à se sentir double : à la fois objet et regard sur cet objet, parole et parole de cette parole, littérature-objet et métalittérature.“ (R. Barthes: „Littérature et méta-langage [1959].“ (1964), S. 106.) Auf der Grundlage von Barthes’ Definition der ‚Meta-Literatur‘ entwickelte die poststrukturalistische Literaturtheorie wiederum das Konzept der ‚Metatextualität ‘ und bezeichnet damit die „Situation, in der ein Text über sich selbst reflektiert“ bzw. - genauer - „ein literarischer Text wenigstens eine Äußerung enthält, deren Gegenstand derselbe Text oder einer seiner Aspekte ist.“ (Z. Kravar: „Metatextualität.“ (1994), S. 274.) W. Wolf wiederum definiert ‚Metatextualität’ als „[…] ein[en] Text(teil), der sich selbstreferentiell […] wieder auf Text bezieht, im Unterschied zur Intertextualität von einer höheren logischen Ebene aus, einer Metaebene, auf der die Textualität bzw. der Konstruktcharakter des Objekttextes thematisch wird.“ (W. Wolf: „Metatext und Metatextualität.“ (1998), S. 366.) 37 Der Terminus ‚Metadiskursivität’ war von W. Wolf in seinem Schema noch nicht vorgesehen, sondern wurde erst 2003 von M. Fludernik in einer Auseinandersetzung mit Wolfs Ansatz ergänzt. Sie definiert als metadiscursive „[m]etanarrative statements referring to the ordering of discursive elements in the text”; in ihrer Typologie wird die Metadiskursivität damit zu einer Variante des metanarrativen Erzählens. (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 23.) 38 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 69. 47 Dagegen handelt es sich bei intertextuellen und intermedialen Reflexionen über die Inhalte anderer Texte oder Kunstwerke, die nicht die Künstlichkeit oder ‚Medienhaftigkeit’ des fremden Texts thematisieren, um typische Formen der transtextuellen Variante der kognitiven Selbstreflexion. 39 2.2 ‚Metafiktion’ - Geschichte, Definitionen und Typologisierungen 2.2.1 Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ Nachdem in den ersten Jahren der Erforschung metafiktionaler Phänomene vor allem die britische und angloamerikanische Literatur der Gegenwart im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden haben, sind im Laufe des vergangenen Jahrzehnts verstärkt auch andere Literaturen und andere literarische Epochen ins Blickfeld der Metafiktionsforschung gelangt. Auch wenn der literaturwissenschaftliche Terminus ‚Metafiktion’ noch vergleichsweise jung ist, so ist das damit bezeichnete Phänomen doch wesentlich älter und bereits zu Beginn der abendländischen Literatur anzutreffen. Wie insbesondere W. Wolf, der in seiner Habilitationsschrift unter anderem die wirkungsästhetischen Implikationen der Metafiktion untersucht hat, überzeugend dargelegt hat, ist die große abendländische Tradition des illusionistischen Erzählens um eine kleinere Tradition illusionsstörenden Erzählens zu ergänzen. 40 In der Forschung besteht heute weitestgehend Konsens darüber, dass der Beginn metafiktionalen Erzählens mit dem Beginn des Erzählens allgemein anzusetzen ist: Seitdem im und durch das Erzählen künstliche Welten erschaffen werden, wird immer auch schon über dieses fiktionale Erzählen, über die Produktion dieser fiktiven Realitäten sowie über ihre mögliche Rezeption innerhalb der eigenen textuellen Grenzen reflektiert. Die ersten metafiktionalen Texte sind bereits in der antiken Literatur zu finden, wie z.B. die Komödie Batrachoi des Aristophanes (5. Jahrhundert v. Chr.) und die spätere Parodisierung dieser Komödie, die Batrachomyomachia des Pseudo-Homer (1. Jahrhundert v. Chr.). Auch der Asinus aureus 39 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 75. 40 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993) Auch wenn ‚metafiktionales Erzählen’ keineswegs unkritisch mit ‚illusionsstörendem Erzählen’ gleichzusetzen ist - schließlich können Texte metafiktional sein, ohne die ästhetische Illusion zu beeinträchtigen -, so lassen sich dennoch in den frühen illusionsstörenden Texten metafiktionale Verfahren finden und damit zu Recht von einer bereits früh einsetzenden metafiktionalen Tradition des Erzählens sprechen. 48 des Apuleius (ca. 170-175 n. Chr.) stellt einen frühen metafiktionalen Text dar. 41 Nach diesen antiken Zeugnissen erlebte das metafiktionale Erzählen im Mittelalter und in der (frühen) Neuzeit einen ersten Höhepunkt; zentrale Texte dieser Epoche sind z.B. Ariosts Orlando furioso (1516-1532), Cervantes’ Don Quijote (1605-1615), Henry Fieldings Shamela (1741), Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-1767) oder Denis Diderots Jacques le fataliste (1771-1775). Im realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts hingegen waren metafiktionale Strategien - bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. Lewis Carrolls „Alice“-Geschichten - in den Hintergrund gerückt; 42 erst in der Moderne erreichte die Metafiktion einen zweiten Höhepunkt. In Texten wie z.B. Aldous Huxleys Point Counter Point (1928), Samuel Becketts Murphy (1938), Flann O’Briens At Swim-Two-Birds (1939), William Faulkners Absalom, Absalom (1936) oder aber James Joyces Finnegans Wake (1939) wird dem traditionellen realistischen Erzählen zunehmend Konkurrenz gemacht; die antiillusionistische Tradition des Erzählens tritt unter dem Einsatz metafiktionaler Erzähltechniken gleichberechtigt neben die große illusionistische Tradition. In der angloamerikanischen Literatur der Postmoderne wird das realistische Erzählen der sogenannten ‚Höhenkammliteratur’ von metafiktionalen Erzählverfahren nun in so hohem Maße in den Hintergrund gedrängt, dass Kritiker wie R. Sukenick den (traditionellen) Roman bereits für tot erklären. 43 Wichtige Autoren dieser Epoche sind Vladimir Nabokov, John Barth, John Fowles, Robert Coover, William H. Gass, Donald Barthelme und David Lodge. Nachdem in diesem kurzen Abriss vor allem die englische, irische bzw. angloamerikanische Literatur im Mittelpunkt standen, 44 soll sich nun ein kurzer Überblick über die Erforschung metafiktionaler Phänomene in der französischen Literatur anschließen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass bis heute umfassende Untersuchungen zur Metafiktion in französischen Erzähltexten fehlen, auch wenn in Form von Einzelanalysen wiederholt 41 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 3. 42 Allerdings wird in der Forschung noch diskutiert, ob der für das realistische Erzählen typische auktoriale Erzähler und seine Leseransprachen als genuin metafiktionale Phänomene aufzufassen sind. Ich schließe mich in dieser Hinsicht W. Wolf an, der die Auffassung vertritt, dass auktoriale Kommentare einer Erzählerfigur nur dann als metafiktional zu bewerten sind, wenn diese die Fiktion selbst zum Gegenstand haben. (Ebd., S. 412.) 43 R. Sukenick: „The death of the novel.“ (1969), S. 41-102. 44 Natürlich hat sich die Erforschung der Metafiktion nicht auf die genannten Literaturen beschränkt. Zahlreiche Untersuchungen wurden z.B. auch zur anglo- und frankokanadischen, deutschen, italienischen und spanischen Literatur vorgenommen. 49 einige exemplarische Texte auf verwandte Phänomene untersucht wurden. 45 Für das 17. Jahrhundert sind dies die sogenannten romans comiques wie Charles Sorels La vraye histoire comique de Francion (1623, 1626, 1633) bzw. Le Berger Extravagant (1627). Auch Le Page Disgracié (1643) von Tristan L’Hermite und vor allem Furetières Le Roman Bourgeois (1666) 46 wurden bisher für eine Analyse im Hinblick auf das Vorkommen von Metafiktion herangezogen. Als einer der wichtigsten metafiktionalen Texte der französischen Literatur stand auch Diderots Jacques le fataliste (1771-1775) wiederholt im Zentrum des Forschungsinteresses. 47 Dagegen finden sich im Bereich des realistischen und modernistischen Erzählens nur wenige Studien: Allein Stendhals Le Rouge et le noir (1830) und André Gides Romane Paludes (1895), L’Immoraliste (1902), Les Caves du Vatican (1914) sowie Les Faux-monnayeurs (1925) waren bislang Untersuchungsgegenstand. 48 Ferner werden im Zusammenhang mit als metafiktional klassifizierten anglophonen Texten der Postmoderne wiederholt französische Texte als Vergleichsgegenstand herangezogen. Diese sind in der Mehrzahl im Umfeld des Nouveau Roman und insbesondere des Nouveau Nouveau Roman entstanden. Zu den untersuchten Werken zählen zum einen Alain Robbe- Grillets 49 Le Voyeur (1955), La Jalousie (1957), Le Miroir qui revient (1985), Angélique ou l’enchantement (1988), Les Derniers Jours de Corinthe (1994) und zum anderen die französischsprachigen Werke Samuel Becketts (insbesondere L’Innommable (1953), Mal vu mal dit (1981)). 50 Die einzige Monographie zum metafiktionalen Erzählen in der französischen Literatur stammt von S. Setzkorn, die ihrer Analyse einen komparatistischen Ansatz zugrunde gelegt hat und ausgewählte Texte von 45 Eine Erklärung für dieses fehlende Forschungsinteresse auf französischer Seite dürfte insbesondere in der lange Zeit unterlassenen Rezeption der angloamerikanischen Forschung zur Metafiktion liegen; stattdessen wurden in Frankreich vor allem im Umkreis des (Nouveau) Nouveau Roman eigene Theorien postmodernen Erzählens entwickelt. 46 S. Zebouni: „La mimésis en question: Métafiction et auto-référentialité au XVIIème siècle.“ (1989), S. 161-79. 47 Vgl. z.B. den intermedialen Analyseansatz von A.J. Singerman: „Jacques le Fataliste on film: From metafiction to metacinema.“ (2002). 48 P.C. Percival: „The sawyer and the sawed: metafiction and textual energetics in Le rouge et le noir.“ (1994). Vgl. zur Erforschung des Werks von André Gide unter metafiktionalen Gesichtspunkten A.L. Martin: „Literary Approaches to Criticism: Gide’s Metafiction.“ (1979). 49 Metafiktionale Phänomene bei A. Robbe-Grillet haben erforscht: J. Bernard: „De l’autocommentaire à la métafiction: Les romanesques d’Alain Robbe-Grillet.“ (1997); B. Bloch: „La métatextualité dans Le miroir qui revient d’Alain Robbe-Grillet.“ (2000) 50 Zur Metafiktion im Werk Samuel Becketts: J. Garcia Landa: „‘Till Nohow On’: The Later Metafiction of Samuel Beckett.“ (1993); B.H. Creasman: Flann O’Brien, Samuel Beckett, and the Rise of Metafiction. (1991); S.D. Brienza: Samuel Beckett’s New Worlds: Style in Metafiction. (1987). 50 Jacques Roubaud, Philippe Sollers, Italo Calvino und Antonio Tabucchi auf die Thematisierung des ‚Erzählens’ hin untersucht. 51 Leider bleibt das von ihr auf die Texte applizierte Begriffsinstrumentarium ungenau, wie bereits der Titel deutlich macht: ‚Metafiktion’ bezeichnet nach W. Wolfs und A. Nünnings wegweisenden definitorischen und typologischen Vorarbeiten eben nicht mehr das ‚Erzählen vom Erzählen’, sondern die Thematisierung und Inszenierung der eigenen Fiktion bzw. Fiktionalität. Auch der Gegenstandsbereich der Metafiktion wird von Setzkorn nur sehr vage auf „[a]lle erdenklichen Aspekte vom Entstehen des Textes bis hin zu seiner Lektüre […]“ eingegrenzt. 52 Insgesamt zeigt sich Setzkorns Arbeit geprägt durch eine undifferenzierte Vermischung der inzwischen klar abgegrenzten Termini ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’; diese definitorische Ungenauigkeit bleibt nicht ohne Folgen für ihre Methodik bzw. genauer für die Auswahl der ‚metafiktional’ fungierenden Textphänomene. Auch hier mischen sich erneut metafiktionale mit metanarrativen Phänomenen, so dass der eigentliche Erkenntnisgewinn der Arbeit für eine Geschichte metafiktionalen Erzählens in der französischen Literatur gering bleiben muss. Abschließend bleibt festzuhalten, dass im Gegensatz zur breiten Erforschung metafiktionaler Phänomene in der angloamerikanischen (postmodernen) Literatur eine vergleichbare Forschung zur französischen Literatur bislang nicht stattgefunden hat. Darüber hinaus besitzen die bisher unternommenen Analysen französischer Texte - S. Setzkorns Arbeit ist immer noch die einzige Monographie zum Thema - durch die Aufsatzform eher den Charakter von Fallstudien, zumal die Werke wichtiger postbzw. spätmoderner Autoren wie die anderen Nouveaux Romanciers bislang nicht im Hinblick auf metafiktionale Erzählstrategien untersucht wurden. 2.2.2 1970-2006: Geschichte des literaturwissenschaftlichen Begriffs ‚Metafiktion’ Wie bereits einleitend dargelegt wurde, hat sich der Begriff ‚Metafiktion’ erst vor relativ kurzer Zeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung durchgesetzt. Im Folgenden soll ein Überblick über die unterschiedlichen Definitionsansätze von ‚Metafiktion’ gegeben werden, wobei die Theoriebildung in vier Phasen eingeteilt wird. 53 51 So der Titel ihrer Arbeit: S. Setzkorn: Vom Erzählen erzählen. Metafiktion im französischen und italienischen Roman der Gegenwart. (2003). 52 Ebd., S. 1. 53 In meinen Ausführungen stütze ich mich in Teilen auf die von Jutta Zimmermann im Rahmen ihrer Dissertation vorgeschlagene Einteilung. (Vgl. J. Zimmermann: Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. (1996)) Allerdings bevorzuge ich aus zwei Gründen eine Einteilung in vier Phasen (und nicht, wie Zimmermann, in drei Phasen): Zum einen liegt der Abschluss von Zimmermanns Dissertation schon länger zurück (das Ende ihrer Lektüre dürfte ungefähr mit dem Erscheinen von W. Wolfs 51 Die erste Phase der Theoriebildung, die sich von 1970 bis 1975 erstreckt, ist durch die Suche der angloamerikanischen Literaturwissenschaft nach einem adäquaten Begriff für die als ‚neu’ und anders empfundene Literatur der 1960er und 1970er Jahre gekennzeichnet. Diese unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht vom traditionellen, realistischen Roman, gleichzeitig aber auch von experimentelleren Formen des modernen Romans. Geprägt wird die Diskussion von einer Vielzahl konkurrierender Termini, die jeweils auf ein bestimmtes Merkmal der Texte zielen: fabulation, 54 literature of exhaustion, 55 architectonic novel, 56 superfiction, 57 surfiction 58 oder Bossa Nova. 59 Der Begriff metafiction ist zu diesem Zeitpunkt nur ein Begriff unter vielen: Habilitationsschrift im Jahr 1993 zusammenfallen); seitdem hat die Forschung zur Metafiktion wichtige Impulse erhalten. Zum anderen fokussieren meine Ausführungen gemäß der Zielsetzung der Dissertation vor allem auf die von den jeweiligen Theoretikern vorgeschlagenen Definitionen sowie auf ihre Überlegungen zu einer Typologisierung metafiktionaler Erzählverfahren. Im Zentrum der Betrachtung sollen jene Definitionsversuche stehen, die sich primär mit Metafiktion als erzähltechnischem Phänomen auseinandersetzen. 54 R. Scholes: The Fabulators. (1967) Scholes bezeichnet mit diesem, der mittelalterlichen Gattung der „fables“ entlehnten Begriff „a more verbal kind of fiction […]“ sowie „[…] a less realistic and more artistic kind of narrative: more shapely, more evocative; more concerned with ideas and ideals, less concerned with things.“ (S. 10ff.) Der Terminus wurde später von D. Lodge aufgegriffen, der ebenfalls die Abweichung des „neuen Romans“ von den Konventionen des Realismus unterstreicht. (D. Lodge: „The Novelist at the Crossroads.“ (1977), S. 102.) 55 J. Barth: „The Literature of Exhaustion.“ (1984), S. 62-76. Barth (S. 64.) zielt mit dem Begriff exhaustion jedoch nicht auf eine allgemeine moralische oder intellektuelle Dekadenz des Romans, sondern vielmehr auf die formale ‚Erschöpfung’, auf „the usedupness of certain forms or the felt exhaustion of certain possibilities“. 56 S. Spencer: Space, time and structure in the modern novel. (1971) Spencer untersucht in ihrer Studie die spatiale Organisation des zeitgenössischen Romans: „The goal is the evocation of the illusion of a spatial entity, either representational or abstract, constructed from prose fragments of diverse types and lengths and arranged by means of the principle of juxtaposition […].” (S. xxf.) 57 J.D. Bellamy (Hg.): Super Fiction. (1975). Bellamy beschreibt mit diesem Begriff eine neue Form des Romans, die sich von der als unmöglich erkannten Repräsentation von Realität abwendet und „[…] turned instead to the power of words to stimulate imagination.“ (S. 3.) In diesem Kontext werden vergessen geglaubte Formen wie Neo- Gothic oder die Myth-Parable wiederbelebt. 58 R. Federman (Hg.): Surfiction. Fiction Now... and Tomorrow. (1981) Federman unterscheidet zwischen realistischen Formen des Romans und einem neuen Romantyp: „This I call Surfiction. However not because it imitates reality, but because it exposes the fictionality of reality. Just as the Surrealists called that level of man’s experience that functions in the subconscious SURREALITY, I call that level of man’s activity that reveals life as a fiction SURFICTION.” (S. 7.) 59 R. Sukenick: „The New Tradition in Fiction.“ (1981), 35-45. Laut Sukenick kennzeichnet die so bezeichneten Romane, dass sie „[…] no plot, no story, no character, no chronological sequence, no verisimilitude, no imitation, no allegory, no symbolism, no subject matter, no ‘meaning’” (S. 43f.) enthalten. 52 So bezeichnet R. Scholes in seinem 1970 60 publizierten Aufsatz damit einen neuen Typus des zeitgenössischen Romans, dessen wichtigstes Kennzeichen die Einbettung von verschiedenen Ansätzen der Literaturkritik (z.B. der strukturalistischen, der philosophischen oder der behavioristischen Kritik) in die jeweilige Fiktion darstellt. 61 In dieser ersten Phase der Theoriebildung wird folglich ‚Metafiktion’ als Bezeichnung für eine in den 1960er Jahren neu entstandene literarische Gattung verwendet. 62 Dieser neue Romantypus wird als Alternative oder Ersatz zum traditionellen, den Konventionen des realistischen Erzählens verpflichteten Roman gedacht und ist im Kontext einerseits der postmodernen bzw. poststrukturalistischen Theorien Roland Barthes‘ und Jacques Derridas und andererseits der zeitgenössischen Sprachtheorie entstanden. 63 Die zweite Phase in der Theoriebildung der Metafiktion beginnt 1975 mit dem Erscheinen von Robert Alters in zweifacher Hinsicht wegbereitendem Werk Partial Magic: The Novel As a Self-Conscious Genre: Zum einen weist Alter erstmals auf die lange Tradition - „the other great tradition“ - metafiktionalen Erzählens in der Literaturgeschichte hin; in dieser Tradition stellt der postmoderne Roman mit seinen experimentellen Erzählstrategien nur einen vorläufigen Höhepunkt dar. 64 ‚Metafiktion’ wird also jetzt als ahistorische Schreibweise begriffen, die nicht an eine bestimmte - z.B. die postmoderne - Epoche der Literaturgeschichte gebunden ist. Darüber hinaus liefert Alter eine Definition, die über den zeitgenössischen Roman hinausweist und erstmalig den Begriff der self-consciousness als Kennzeichen metafiktionaler Texte einführt: 60 In der Forschung wird allgemein angenommen, dass Robert Gass den Begriff zuerst in dem Aufsatz „Philosophy and the form of Fiction“ (1971) verwendet hat („Indeed, many of the so-called antinovels are really metafictions“, S. 25). Jedoch ist Scholes’ Aufsatz in der Iowa Review bereits im Jahr 1970 erschienen, so dass ich nun ihn an den Anfang der Theoriebildung zur Metafiktion gesetzt habe. 61 R. Scholes: „Metafiction.“ (1970), S. 106: „Metafiction assimilates all the perspectives of criticism into the fictional process itself. It may emphasize structural, formal, behavioral, or philosophical qualities […].” Später greift auch William H. Gass in seinem Aufsatz Philosophy and the Form of Fiction (1971) diesen Gedanken einer ‚Autokritik’ - d.h. einer Kritik des jeweiligen Kunstwerks oder allgemein der Gattung ‚Roman’ innerhalb der eigenen Grenzen - auf (W.H. Gass: Fiction and the Figures of Life. (1980), S. 24.). 62 M. Fludernik weist auf die unterschiedliche Begriffsverwendung von ‚Metafiktion’ bzw. metafiction im Deutschen und Englischen hin: Während der Terminus im Deutschen ein literarisches „device“ bezeichne, verweist das englische Adjektiv ‚metafictional’ auf „a ‚textual’ meaning, as in metafictional prose.“ (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 12.) 63 S. Fogel: „‘And all the little Typtopies’: Notes on Language Theory in the Contemporary Novel.“ (1974), S. 328. 64 R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. ix. 53 A self-conscious novel, briefly, is a novel that systematically flaunts its own condition of artifice and that by so doing probes into the problematic relationship between real-seeming artifice and reality. I would lay equal stress on the ostentatious nature of the artifice and on the systematic operation of the flaunting. 65 Alter betont in seiner Definition die systematische Offenlegung des eigenen Kunstcharakters als charakteristisches Merkmal der jeweiligen Romane; dieses foregrounding des Artefakt-Status zielt darauf ab, das als problematisch aufgefasste, dialektische Verhältnis von äußerer Realität und dem scheinbar realen Kunstwerk zu untersuchen. Auch verweist er wie später Wolf auf die ostentative - intentionale - und systematische Weise dieser Aufdeckung, wobei er jedoch nicht explizit die zu diesem Zweck in den Romanen angewendeten erzähltechnischen Verfahren nennt. 66 In dieser absichtsvollen Offenlegung der eigenen Fiktionalität und damit der eigenen Ontologie liegt der grundsätzliche Unterschied der metafiktionalen zur realistischen Literatur begründet. Nachdem Alter eine erste differenzierte Definition dessen geliefert hat, was ‚Metafiktion’ als Schreibweise ausmacht, sowie einige auffällige metafiktionale Phänomene aufgelistet hat, versuchen in der Folgezeit verschiedene Autoren, die in den Texten beobachteten metafiktionalen Verfahren zu katalogisieren. Im Mittelpunkt zeitgenössischer metafiktionaler Romane steht insbesondere das Thema des ‚Schreibens’: sie präsentieren sich als (fiktionale) Biographien erfundener Autoren, als fingierende 67 autobiographische Reflexionen der Autoren selbst oder aber ein rollenbewusster Erzähler ‚verwickelt’ den Leser in ein ‚Gespräch’ über das Buch, das jener im Begriff zu lesen ist. 68 65 R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. xf. Ähnlich definiert auch Robert Scholes im selben Jahr metafiction als ‘self-reflective fiction’, als „[…] fiction [which] is about other fiction, is criticism in fact.” Vgl. R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 237, 233. 66 An anderer Stelle verweist Alter jedoch auf bestimmte formale Merkmale des Romans, die von den jeweiligen Autoren in Form eines impliziten metafiktionalen Kommentars häufig manipuliert würden wie z.B. die Typographie, das Erzähltempo oder die Ausgestaltung der Erzählperspektive. Vgl. R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. xii. Im selben Jahr ergänzt Alter an anderer Stelle die genannten Verfahren um weitere formale Experimente wie „narrative manipulation of time, the arbitrariness of narrative beginnings, the writer’s awareness of literary conventions, the maneuvering of language to produce multiple meanings, the expressive possibilities of punctuation, paragraphing, typography”. (R. Alter: „The Self- Conscious Moment: Reflections on the Aftermath of Modernism.“ (1975), S. 211.) 67 ‘Fingieren’ bzw. ‘fingiert’ soll hier mit K. Hamburger definiert werden als „[…] ein Vorgegebenes, Uneigentliches, Imitiertes, Unechtes […]“ im Unterschied zu ‚fiktiv’ als „[…] die Seinsweise dessen, was nicht wirklich ist: der Illusion, des Scheins, des Traums, des Spiels […]“. (K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 273.) 68 Vgl. hierzu L. McCaffery: „The art of metafiction: William Gass’s Willie Masters’ Lonesome Wife.“ (1976), S. 21-35. D.H. Lowenkron bezeichnet diesen besonderen Typus des Romans-im-Roman in Anlehnung an die Termini metalanguage und meta- 54 Mit dem Erscheinen von Linda Hutcheons Aufsatz Modes et formes du narcissisme littéraire 69 im Jahre 1977 setzt die dritte Phase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem literarischen Phänomen ‚Metafiktion’ ein, in welcher insbesondere die Katalogisierung typischer metafiktionaler Erzählverfahren bzw. die Erarbeitung einer Poetik der Metafiktion sowie die der Metafiktion zugrundeliegenden theoretischen Prämissen im Mittelpunkt der jeweiligen Studien stehen. Einen Vorläufer zu Hutcheons ein Jahr später erscheinender, ausführlicher Studie stellt Margaret A. Roses Untersuchung von Parodie und Metafiktion aus dem Jahr 1979 dar. Sie bietet darin nicht nur einen kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffs ‚Parodie’, sondern verfolgt vor allem das Ziel, Parodie als eine metafiktionale Spiegelung von Fiktion bzw. als eine ‚Archäologie’ des Textes zu definieren; angestrebt ist also eine Analyse der Fiktion aus dem Blickwinkel der Fiktion selbst. 70 In ihrer Definition nimmt sie bereits zentrale Elemente späterer Ansätze vorweg: Seeing a work as meta-fiction, as the discussion not just of language but of the whole process of the composition and the reception of literary texts, lead us, however, to join in the game of interpretation mirrored in the text, and to see this game mapped out in the meta-fiction itself. 71 Rose zufolge thematisiert ein metafiktionales Werk nicht allein die eigene sprachliche Verfasstheit, sondern nimmt vielmehr die ihm zugrunde liegenden, umfassenderen Kompositions- und Rezeptionsprozesse in den Blick. Hierdurch wird die eigentlich vom Rezipienten zu leistende Interpretationsarbeit im Text selbst gespiegelt; der Text nimmt seine eigene Kritik vor. Mit ihrem Ansatz steht Rose daher in der Theorietradition von W.H. Gass, der ebenfalls das Vorhandensein von Autokritik als ein typisches Merkmal metafiktionaler Texte betrachtet. theatre als metanovel: „A metanovel is a work in which an inner fiction, narrated by an inner persona, is intercalated in an outer one.” (D.H. Lowenkron: „The Metanovel.“ (1976), S. 343. Allerdings muss betont werden, dass der Begriff ‘Schreiben’ zur Beschreibung der Thematik metafiktionaler Romane nach dem heutigen Stand der Theoriebildung problematisch ist, steht doch per definitionem die Fiktionalität des Textes im Mittelpunkt der metafiktionalen Reflexion. In dieser Begriffsbestimmung klingt die englische Gattungsbezeichnung fiction als Name für fiktionale Erzähltexte an (Vgl. unten Kap. 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale). 69 L. Hutcheon: „Modes et formes du narcissisme littéraire.“ (1977), S. 90-106. Der von Jean-Pierre Richard aus dem Englischen übersetzte Aufsatz stellt eine vorläufige Version des späteren ersten Kapitels in ihrem wegweisenden Werk zur Metafiktion dar (dieses ist wiederum eine Ausarbeitung ihrer Dissertation): L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984) 70 M.A. Rose: Parody/ Metafiction. An Analysis of Parody as a Critical Mirror to the Writing and Reception of Fiction. (1979), S. 13. 71 Ebd., S. 65. 55 Das Erscheinen von Hutcheons detaillierter Studie zum metafiktionalen, von ihr ‚narzissistisch’ genannten, Erzählen 72 stellt einen qualitativen Sprung in der Forschung zur Metafiktion dar. Ihr Ziel ist nicht allein eine Einführung in die metafiktionale Literatur, sondern insbesondere auch eine „examination of the formal types of self-reflexivity“, mithin eine Typologie der Metafiktion. 73 Eine differenzierte Definition legt Hutcheon in der 1984 veröffentlichten Neuauflage ihrer Studie vor: The fiction that is discussed in Narcissistic Narrative is, in some dominant and constitutive way, self-referring or autorepresentational: it provides, within itself, a commentary on its own status as fiction and as language, and also on its own processes of production and reception. 74 In dieser Definition wird der Gegenstandsbereich des metafiktionalen Selbstkommentars präzisiert: Thematisiert wird nicht allein die sprachliche Natur des Textes oder seine Eigenschaft, ein (fiktionaler) Erzähltext zu sein, 75 sondern es wird auch auf die ihm innewohnenden Produktions- und Rezeptionsprozesse angespielt. In logischer Hinsicht wird - analog zur Metasprache - der sekundäre Charakter der Metafiktion deutlich: wie die Metasprache eine Objektsprache zum Gegenstand ihrer logischen Aussagen hat, kommentiert die Metafiktion als Sekundärdiskurs einen Primärdiskurs, in diesem Fall eine ‚Primärfiktion’. Die für die Metafiktion typische Autoreferentialität liegt in der fiktionalen Sprache begründet, derer sich sowohl die Primärals auch die Sekundärfiktion bedienen. Wie bereits W. Wolf bemängelt hat, präzisiert Hutcheon nicht die Reichweite ihres Begriffs der ‚Metafiktion’: Stellt die durch Metafiktion thematisierte „fiction“ allein einen bestimmten Einzeltext, eine aus mehreren Texten zu bildende Gattung oder aber ein literarisches Phänomen dar, 72 Hutcheon lehnt den gängigen Begriff postmodernism zur Bezeichnung der zeitlich auf die Moderne folgenden Epoche ab. Stattdessen schlägt sie den Terminus metafiction als Namen für das allgemeine kulturelle Phänomen der Selbst-Reflexivität vor; dieses beschränkt sich nicht allein auf die Literatur. Zur Bezeichnung ‚metafiktionaler Literatur’ wählt sie den Begriff ‚narcissistic’ und spielt damit auf den Mythos von Narziss an, der bei der Betrachtung seiner sich im Wasser spiegelnden körperlichen Schönheit ertrinkt. (L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 2.) 73 Ebd., S. xvii. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 74 Ebd., S. xii. 75 Auch an Hutcheons Definition zeigt sich die Ungenauigkeit der Bestimmung des Begriffsinhalts von englisch fiction: Der Terminus mag zwar die Fiktionalität eines bestimmten Textes beschreiben, wird im Englischen in einem engen Sinne jedoch vor allem zur Bezeichnung von fiktionalen Erzähltexten (z.B. novels) verwendet. 56 das sowohl Einzeltexte als auch Gattungen, und möglicherweise sogar Epochen überschreitet? 76 Im Jahre 1981 vollendet Rüdiger Imhof seine Habilitationsschrift zur Metafiktion im englischsprachigen Roman seit 1939, in der er ebenfalls eine ungenaue Definition liefert: „A metafiction is a kind of self-reflexive narrative that narrates about narrating.“ 77 Unscharf bleibt erneut der Objektbereich der Metafiktion: Auch Imhof begrenzt den Objektbereich - ebenfalls angelehnt an den englischen Gattungsnamen fiction - auf die Thematisierung der Erzählprozesse und schließt damit metafiktionale Phänomene in anderen Gattungen als nicht zur Metafiktion gehörend aus (z.B. die Metalyrik, das Metadrama oder, in der Kunst, die Metamalerei). Vor allem aber unterschlägt er die für die Metafiktion spezifische Thematisierung der eigenen Fiktionalität und vermischt den Gegenstandsbereich des Begriffs mit dem der Metanarration. 78 Im gleichen Jahr wie die zweite Auflage von Hutcheons Studie Narcissistic Narrative erscheint Patricia Waughs Untersuchung Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious, die eine der detailliertesten Definitionen des Phänomens ‚Metafiktion’ vor dem theoretischen Hintergrund des radikalen Konstruktivismus liefert: 79 Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality. In providing a critique of their own methods of construction, such writings not only examine the funda- 76 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223. 77 R. Imhof: Contemporary Metafiction. A Poetological Study of Metafiction in English since 1939. (1986), S. 9. 78 An anderer Stelle wird Imhofs Ungenauigkeit noch deutlicher, wie bereits Wolf in seiner Rezension der Dissertation zu Recht kritisiert hat: So lässt Imhof die Frage unbeantwortet, ob metafiction nun ein „narrative genre“ - folglich eine historische Gattung - oder aber „an artistic process that aims at overtly thematising conventions of fiction-writing“ und damit eine ahistorische Schreibweise darstellt. (R. Imhof: Contemporary Metafiction. A Poetological Study of Metafiction in English since 1939. (1986), S. 11, 24. Vgl. auch die Rezension von W. Wolf: „Rüdiger Imhof, „Contemporary Metafiction“. [Rezension].“ (1986), S. 373.) 79 P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. (1984) Es fällt auf, dass zwei so ähnlich angelegte Arbeiten nahezu gleichzeitig erscheinen, noch dazu im selben Verlag, ohne jedoch aufeinander zu verweisen. Wie Robert R. Wilson in seiner Rezension der beiden Studien anmerkt, erfolgte die Erstveröffentlichung von Hutcheons Arbeit nahezu unbemerkt vom Fachpublikum. Auch Waugh zitiert Hutcheon nicht; eine Erklärung dafür könnte die damalige Missachtung kanadischer Arbeiten durch die englische Forschung sein. (Vgl. R.R. Wilson: „This is not a metareview of three books on metafiction. (But what account should be given of a selfreferential title? )“ (1985), S. 305.) 57 mental structures of narrative fiction, they also explore the possible fictionality of the world outside the literary fictional text. 80 Waugh zufolge ist der Gegenstandsbereich der Metafiktion der eigene Text, dessen Artefakt-Status enthüllt wird. Im Einzelnen analysiert der metafiktionale Text seine eigenen Konstruktionsbedingungen, wodurch er eine Kritik seiner selbst liefert (‚Autokritik’). Die Reichweite der Metafiktion weist jedoch über den eigenen Text hinaus, indem grundlegende Strukturen narrativer Fiktion bzw. bestimmte Konventionen der Gattung ‚Roman’ thematisch werden. 81 An anderer Stelle betont Waugh gar, dass „[…] metafiction [is] a tendency of function inherent in all novels.” 82 Unklar bleibt an Waughs Begriffsbestimmung jedoch, inwiefern der literarische Text durch die Selbstthematisierung der eigenen Erfundenheit Rückschlüsse auf die Fiktionalität der außerliterarischen, realen Welt zulässt. In diesem Kontext vertritt Waugh die These, dass in den zeitgenössischen metafiktionalen Texten die (radikal)konstruktivistische Prämisse von der Nicht- Erkennbarkeit der Welt bzw. - noch fragwürdiger - von ihrer Nicht-Existenz jenseits individueller Wahrnehmung aufgegriffen werde. 83 In einer rezeptionsästhetischen Ergänzung ihrer Definition verweist auch Waugh ähnlich wie Hutcheon auf die für das metafiktionale Erzählen typische Opposition zwischen Illusionierung und Desillusionierung und wird damit für zukünftige Ansätze richtungsweisend: […] the construction of a fictional illusion (as in traditional realism) and the laying bare of that illusion. In other words, the lowest common denominator of metafiction is simultaneously to create a fiction and to make a statement about the creation of that fiction. The two processes are held together in a formal tension which breaks down the distinctions between ‘creation’ and ‘criticism’ and merges into the concepts of ‘interpretation’ and ‘deconstruction’. 84 An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass Metafiktion eben nicht von vorneherein die Beeinträchtigung oder gar die Zerstörung der literarischen bzw. ästhetischen Illusion impliziert, sondern dass viele Texte den Leser trotz markanter Metafiktionalität die fiktionale Welt durchaus unbeschadet erleben lassen. 80 P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. (1984), S. 2. 81 Ebd., S. 4. 82 Ebd., S. 5. 83 „Contemporary metafictional writing is both a response and a contribution to an even more thoroughgoing sense that reality or history are provisional: no longer a world of eternal verities but a series of constructions, artifices, impermanent structures. The materialist, positivist and empiricist world-view on which realistic fiction is premised no longer exists.” (P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self- Conscious Fiction. (1984), S. 7. Die paradoxe Opposition von ‚history’ und ‚reality’ wird von Waugh nicht aufgelöst.) 84 Ebd., S. 6. 58 Schließlich erscheint im Jahre 1986 ein Aufsatz von S.E. Lauzen mit dem etwas nichtssagenden Titel Notes on Metafiction: Every Essay has a Title, dessen großes Verdienst es ist, zum ersten Mal eine Systematik metafiktionaler Verfahren unter teilweiser Berücksichtigung einschlägiger Kategorien des Erzählens vorzustellen. 85 Gleich zu Beginn ihrer Studie schlägt Lauzen eine Definition der Metafiktion vor, die bereits ihre Konzentration auf die formale Seite anklingen lässt: Metafiction is characterized by the prominence of metafictional devices. A metafictional device or element is one that foregrounds some aspect of the writing, reading, or structure of a work that the applicable canons of standard (realistic) practice would expect to be back-grounded; or is such a foregrounded element itself. Metafiction uses techniques to systematically heighten its own status as fiction. 86 Lauzen verwendet demnach den Terminus metafiction zur formalen Bestimmung von Texten, die durch das Vorhandensein besonderer narrativer Verfahren mit metafiktionaler Funktion gekennzeichnet sind. Damit hat der Begriff bei ihr eine doppelte Reichweite: zum einen bezieht er sich allgemein auf bestimmte Werke, zum anderen auf narratologisch isolierbare Passagen innerhalb dieser Werke. Ungenau bleibt jedoch der Objektbereich der Definition: Nach Lauzen wird „some aspect of the writing, reading, or structure of a work that the applicable canons of standard (realistic) practice would expect to be backgrounded” metafiktional thematisiert. 87 Interessant ist der Hinweis auf die Modellfunktion der konventionellen, realistischen Literatur, auf die sich das metafiktionale Erzählen bezieht und deren Konventionen es offenlegt. Eine Einschätzung, ob ein Verfahren als metafiktional gelten kann, muss laut Lauzen also immer vor dem Hintergrund des realistischen Erzählens vorgenommen werden; dieses fungiert stets als Antipode zu den experimentellen und unkonventionellen Erzähltechniken des spät- und postmodernistischen Romans. 88 Den Höhepunkt und gleichzeitig auch den Abschluss der dritten Phase der Theoriebildung zur Metafiktion bildet Werner Wolfs 1993 publizierte Habilitationsschrift zum Thema Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf engli- 85 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 93-116. Zu Lauzens Typologisierung metafiktionaler Erzählstrategien vgl. unten Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 86 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 94. 87 Ebd. 88 Allerdings vernachlässigt Lauzen an dieser Stelle die Historizität des Realismusbegriffs: indem sich die Vorstellungen dessen, was als ‚realistisch’ zu gelten hat, im Laufe der Zeit verändern, zielen auch die metafiktionalen Verfahren in einem Roman - je nach seinem Erscheinungsdatum - auf unterschiedliche Konventionen des realistischen Romans. 59 schem illusionsstörenden Erzählen. 89 Wolfs Arbeit verfolgt das Ziel, „auf der Basis einer partiell neu zu erstellenden Theorie ästhetischer Illusion eine allgemeine Erschließung der Prinzipien, Erscheinungsformen und Wirkweisen des bisher besonders vernachlässigten Phänomens der Illusionsdurchbrechung […]“ 90 zu unternehmen. Er nennt vier Hauptformen, die zu einer Illusionsstörung in narrativen Texten führen können: Metafiktion, die Entwertung der erzählten Geschichte, die Auffälligkeit einer verfremdeten Vermittlung sowie Komik. 91 Zwar nehmen seine Überlegungen zur Metafiktion nicht den größten Raum unter den genannten potentiell illusionsstörenden Verfahren ein, doch liegt - wie bereits M. Fludernik in ihrer Rezension von Wolfs Studie lobend deutlich gemacht hat - Wolfs Verdienst darin, „[…] eine wesentliche Verfeinerung des theoretischen Instrumentariums in der Beschreibung metafiktionaler und illusionsstörender Erzählstrategien anzubieten […].“ 92 In der Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zur Metafiktion gelangt Wolf zu dem Urteil, dass diese Defizite insbesondere im Bereich der Theoretisierung sowie der Historisierung metafiktionalen Erzählens aufweise. So begnügen sich die bislang vorliegenden Untersuchungen überwiegend damit, metafiktionale Einzeltechniken aufzulisten, ohne diese jedoch in Form einer Typologie zu systematisieren. Auch wird Metafiktion häufig als Merkmal spät- oder postmodernistischen Erzählens aufgefasst und damit die lange - seit der Antike - bestehende abendländische Tradition dieses Erzähltyps ausgeblendet. 93 89 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993). 90 Ebd., S. xi. 91 Ebd., S. 16. Vgl. zu Wolfs Vorschlägen für eine Typologie der Metafiktion unten Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 92 M. Fludernik: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung [Rezension].“ (1995), S. 218. 93 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 5ff. Vgl. auch S. 221: „Der implizite Konsens, der innerhalb dieser literaturwissenschaftlichen Praxis [der Metafiktionstheorie; S.Z.] darüber zu bestehen scheint, was Metafiktion sei, entbehrt jedoch immer noch einer klaren und expliziten theoretischen Grundlage in Form einer umfassenden Definition, die alle unter ‚Metafiktion’ subsumierten Phänomene erfassen würde und gleichzeitig ein Ausufern des Begriffs und seine indifferente Applizierbarkeit auf alles und jedes verhindern könnte.“ Und S. 470: „Im Gegensatz zur dort [in der Forschung zur Metafiktion; S.Z.] vorherrschenden Tendenz, das Metafiktionale - oftmals ohne genaue Definition - auf alle möglichen, mitunter kaum mehr als solche zu erkennenden Textphänomene auszudehnen, wurde Metafiktion nach dem Versuch einer Definition als erstes Charakteristikum illusionsstörender Texte auf ihre explizite Variante eingegrenzt, d.h. auf Passagen, die als Metakommentare einer innerfiktionalen Instanz zitierbar sind.“ Zwar mag die Schärfe dieses Urteils auch der Forderung nach Innovation geschuldet sein, die an die wis- 60 Seinen eigenen Vorschlag einer weiten Definition der Metafiktion - die also sowohl explizite als auch implizite Formen umfasst - entwickelt Wolf in der Auseinandersetzung mit L. Hutcheons Definitionsansatz: 94 Metafiktional sind binnenfiktionale metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung als Sekundärdiskurs über nicht ausschließlich als histoire bzw. (scheinbare) Wirklichkeit begriffene Teile des eigenen Textes, von fremden Texten und von Literatur allgemein den Rezipienten in besonderer Weise Phänomene zu Bewusstsein bringen, die mit der Narrativik als Kunst und namentlich ihrer Fiktionalität (der fictiowie der fictum- Natur) zusammenhängen. 95 Diese Definition bestimmt umfassend verschiedene Eigenschaften von ‚Metafiktion’: den logischen Status des Phänomens, die Textsorte, die Reichweite des Begriffs, den Objektbereich metafiktionaler Aussagen sowie die möglichen Vermittlungsformen. Metafiktionale Aussagen stellen ähnlich wie die Metasprache, die einen Diskurs zweiter Ordnung über einen Primärdiskurs präsentiert, einen „Meta- oder Sekundärdiskurs“ dar: sie haben eine ‚Primärfiktion’ zum logischen Gegenstand. Indem der Metafiktion jedoch dieselbe fiktionale Sprache und Form wie der Fiktion selbst zu eigen ist, ist ihr Diskurs autoreferentiell. 96 Allerdings muss das Phänomen der Autoreferentialität im Zusammenhang mit der Metafiktion weiter eingeschränkt werden, da es per definitionem alle Metaphänomene auszeichnet. Daher begrenzt Wolf im Hinblick auf die Textsorte ‚Metafiktion’ allein auf narrative Teile eines fiktionalen Textes und grenzt sie damit von nicht-textuellen Metaphänomenen z.B. in der bildenden Kunst, von nicht-narrativen Metatexten wie literaturkritischen Essays sowie von autoreflexiven, paratextuellen, Nebentexten eines Erzählwerks ab, die (noch) nicht Teil der eigentlichen Fiktion sind. 97 Die Reichweite des Begriffs ‚Metafiktion’ erstreckt sich laut Wolf zunächst einmal auf das jeweilige Werk selbst; er unterscheidet in diesem Zusammenhang unterschiedliche ‚Grade’ der Metafiktion und geht „[…] zunächst einmal von einer grundlegenden Einheit, dem ‚Metafiktionalen’ als Qualität einer einzelnen Passage oder eines Elements in einem Erzähltext [aus].“ Erst wenn dieses „markant und systematisch“ auftritt, ist das senschaftliche Textsorte „Habilitationsschrift“ allgemein gestellt wird. Dennoch gehen Wolfs Ergebnisse im Bereich der expliziten Metafiktion weit über die bisherige Forschung hinaus, wie auch sein detaillierter Typologieentwurf deutlich macht. 94 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 221f. 95 Ebd., S. 228. 96 Ebd., S. 222. 97 Ebd., S. 222. 61 betreffende Werk als ‚metafiktional’ klassifizierbar. 98 Im konkreten Einzelfall thematisiert die Metafiktion Teile des eigenen Textes, der histoire wie des discours, genauso aber auch andere Texte oder aber die Gattung allgemein. Das eigentliche, von der Metafiktion kommentierte Textelement ist die Fiktionalität des betreffenden Werkes bzw. von Literatur allgemein, wobei Wolf sowohl den fictioals auch den fictum-Status von Literatur meint. Während die fictio-thematisierende Metafiktion Aussagen über die Vermitteltheit der Fiktion trifft, um auf diese Weise die Transparenz des sprachlichen Mediums aufzuheben, diskutiert die fictum-thematisierende Metafiktion die Referentialisierbarkeit der textuellen Sachverhalte auf eine externe Realität; sie stellt also den Wahrheitsstatus der Fiktion in Frage und spielt damit auf die Ontologie des Textes an. 99 Wichtig ist eine Einschränkung, die Wolf hinsichtlich der metafiktionalen Thematisierung von Fiktionalität vornimmt: So sind autoreferentielle Kommentare zur eigenen histoire erst dann metafiktional, wenn diese als Element der Fiktion begriffen und offen gelegt wird. Ferner muss die Thematisierung der Fiktionalität mittels metafiktionale Kommentare, welche sich auf die ästhetische Illusion beziehen, stets als neutral verstanden werden: Metafiktion besitzt nicht von vorneherein eine illusionsgefährdende oder -zerstörende Tendenz und ist daher auch nicht ohne weiteres mit Illusionsdurchbrechung gleichzusetzen. 100 Im Hinblick auf mögliche Vermittlungsformen von Metafiktion unterscheidet Wolf offene bzw. explizite Formen von verdeckten, impliziten Formen. Die explizite Variante der Metafiktion wird über eine „innerfiktionale Gestalt im Modus des ‚telling’“ vermittelt und erscheint dabei als „isolierbare Rede einer fiktionalen Redeinstanz […] über Fiktionales“; diese autoreferentiellen Kommentare sind direkt zitierbar. 101 Hingegen handelt es sich um implizite Metafiktion, wenn diese isolierbare und zitierfähige selbstbezügliche Rede fehlt und nur indirekt, „aus dem ‚showing’ bestimmter Vertextungsverfahren der histoire- oder discours-Ebene […]“, auf das Vorliegen von Metafiktion geschlossen werden kann. In diesem Fall 98 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223. Mit dieser Einschränkung wendet sich Wolf gegen die Definitionsansätze von Hutcheon und Waugh, die Metafiktion als ein allgemeines Kennzeichen aller Romane und damit aller Romangattungen auffassen. 99 Ebd., S. 38f. 100 Ebd., S. 224. So liegt laut Wolf Metafiktion bereits schon dann vor, „[…] wenn z.B. der fictum-Status eines Werkes im Sinne einer Affirmation von dessen Authentizität thematisch wird.“ (Ebd.) 101 Ebd., S. 225f. 62 wird Metafiktion folglich nicht als verbale Thematisierung, sondern vielmehr als Inszenierung greifbar. 102 Diese weite, auch verdeckte Formen einschließende Definition der Metafiktion, die Wolf in die Tradition von Hutcheon und Waugh stellt, führt jedoch zu einigen Problemen im Hinblick auf die Abgrenzbarkeit vor allem der impliziten Formen von Metafiktion. Zu nennen ist hier zunächst die allgemeine literarische Autoreferentialität, wie sie von Roman Jakobson als wichtiges Charakteristikum poetischer bzw. literarischer Sprache bestimmt wurde. 103 Wolf grenzt die spezifische metafiktionale von der allgemeinen literarischen Autoreferentialität ab, indem er ein „funktionales oder intentionales Kriterium“ in die Definition einführt. Im Gegensatz zur allgemeinen literarischen Autoreferentialität handelt es sich bei Metafiktion um eine „intendierte selbstbezügliche Aussage, die den Leser in besonderer Weise, und selbst wenn dies nur ganz punktuell geschieht, an Sachverhalte denken lässt, die mit dem Kunstcharakter, vor allem dem fictio- und dem fictum-Status von Literatur zusammenhängen.“ 104 Zentral ist hier das absichtsvolle Lenken der Leseraufmerksamkeit durch den Erzähler auf Erscheinungen und Elemente des Textes, die von jenem als Bestandteile der jeweiligen Fiktion erkannt werden sollen. Diese Intention, 105 die der allgemeinen literarischen Autoreferentialität eine spezifische metafiktionale Funktion attribuiert, wird am ehesten durch den Faktor ‚Frequenz’ deut- 102 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. 103 Vgl. R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 92: „Die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die poetische Funktion der Sprache dar. […] Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.“ [Hervorhebung S.Z.] 104 Ebd., S. 226f. 105 Das intentionale bzw. funktionale Kriterium der Metafiktion ermöglicht es ferner, formale Verfremdungen, also Auffälligkeiten der Vermittlungsebene eines Textes, in metafiktionale und nicht-metafiktionale Formen zu scheiden (Es geht hier um den Nachweis impliziter Metafiktion, der im Gegensatz zur expliziten Variante schwieriger zu führen ist.). Diese Verfremdungen sind dann nicht-metafiktional, wenn sie hauptsächlich figurenpsychologisch motiviert und damit auf ein Element der histoire konzentriert sind, ohne absichtsvoll die Fiktionalität zu thematisieren. Hingegen kann die Frage nach dem Vorliegen von impliziter Metafiktion nur dann beantwortet werden, wenn auch der thematische und der Sinnkontext eines Werkes in die Analyse einbezogen wird. Dabei muss geprüft werden, ob das jeweilige Verfahren vorrangig die Artifizialität des Textes und ihre Konsequenzen bewusst machen will, oder ob eine eventuell durchscheinende Künstlichkeit eher ein Nebenprodukt ist und gar nicht in erster Linie der Selbstreflexion dient (Ebd., S. 228). 63 lich: Je häufiger in einem Text explizite Metafiktion anzutreffen ist, desto eher lassen sich auch implizite Verfahren als metafiktional klassifizieren. 106 Da der Nachweis über das Vorliegen impliziter Metafiktion in seinen Augen aber nur schwierig zu erbringen ist, 107 schränkt Wolf für den Fortgang seiner Studie ‚Metafiktion’ allein auf die expliziten Formen ein: „Das methodische Ausgehen von Charakteristika, die als solche bereits auf der Textoberfläche identifizierbar sind, nötigt jedoch zu einer Beschränkung des in der Forschung immer weiter ausufernden Phänomens der Metafiktion auf explizite Formen und zu einem Aussondern verdeckter, impliziter Varianten.“ 108 Diese Eingrenzung muss im Zusammenhang mit Wolfs wirkungsästhetischem Ansatz gesehen werden: Indem die implizite Metafiktion als verdeckte Variante nie selbstständig und primär an der Textoberfläche zu erkennen ist, sondern sich vielmehr immer anderer Oberflächenphänomene wie z.B. der Auffälligkeit des discours oder der Entwertung der histoire bedienen muss, ist sie in Wolfs Augen als gleichrangige wirkungsästhetische Kategorie disqualifiziert. Sie hat allenfalls „[…] als Element einer funktionalen Beurteilung bestimmter Verfahren ihre Berechti- 106 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 227. Weitere Faktoren, die implizit Metafiktion spürbar werden lassen, sind Plausibilität und kompensatorische Mechanismen, Position im Text bzw. Einbindung in den Kontext, Markiertheit, Geltungsbereich sowie die inhaltliche Tendenz. (Ebd., S. 474.) 107 In seinen späteren Arbeiten zur Metafiktion modifiziert Wolf den in seiner Habilitationsschrift vorgestellten Definitionsansatz: So betont er in einem 1997 publizierten Aufsatz noch stärker das intentionale Kriterium und bestimmt ‚Metafiktion’ als „[…] metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die - unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung - folgender Bedingung genügen: Sie müssen den Rezipienten in spürbarer Weise Phänomene zu Bewußtsein bringen, die sich nicht auf den Inhalt von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit beziehen, sondern auf das eigene, fremde oder allgemeine Erzählen als (Sprach-)Kunst und namentlich auf dessen Fiktionalität (im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt.“ (W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life- Story.“ (1997), S. 37.) Dagegen allgemeiner seine Definition in Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998): „Metafiktional sind selbstreferentielle auf (Erzähl-) Lit[eratur] bezogene Aussagen und Elemente einer Erzählung, die nicht auf Inhaltliches als scheinbare Wirklichkeit abheben, sondern den Rezipienten die Textualität und ‚Fiktionalität’ im Sinne von ‚Künstlichkeit, Gemachtheit’ oder ‚Erfundenheit’ des eigenen Textes, fremder Texte oder von (literar[ischen]) Texten allg[emein] zu Bewußtsein bringen.“ (W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362.) 108 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 212. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass dieser engere Begriff der Metafiktion „sich teilweise, aber nicht gänzlich mit dem alten Terminus erzählerischer ‚selfconsciousness’ [deckt]“. (Ebd., S. 228.) 64 gung“. 109 Damit wird deutlich, dass eine Theorie der Illusionsstörung, wie sie von Wolf in seiner Studie entworfen wird, nicht zugleich auch eine Theorie der Metafiktion insgesamt sein kann. Ihm geht es vor dem Hintergrund seiner Fragestellung vielmehr „[…] um den illusionsstörenden Effekt bestimmter Vertextungsverfahren, unter denen die Metafiktion zwar einen bevorzugten, aber nicht den alleinigen Platz einnimmt.“ 110 Die vierte Phase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem literarischen Phänomen der Metafiktion steht unter dem Zeichen einer Einordnung der bislang entwickelten Konzepte zum metafiktionalen Erzählen in die postmoderne Literaturtheorie. Am Anfang dieser Phase steht der von Mark Currie 1995 herausgegebene Sammelband zur Metafiction, der in Auszügen einen Überblick über die bisher geleistete Forschung bietet. 111 Richtungsweisend für nachfolgende Untersuchungen wird die von Currie in seiner Einleitung nachgewiesene wechselseitige Beeinflussung von Literatur und Literaturtheorie: So setzt er wichtige Strömungen in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts wie die (angelsächsische) literarische Moderne und Postmoderne mit wegbereitenden Konzepten der Literaturtheorie parallel (hier v.a. der Strukturalismus R. Jakobsons und R. Barthes’, der Post- oder Neostrukturalismus J. Derridas und de Mans, die Diskursanalyse M. Foucaults sowie der amerikanische New Historicism). Er definiert an dieser Stelle ‚Metafiktion’ „[…] as a borderline discourse, as a kind of writing which places itself on the border between fiction and criticism, and which takes that border as its subject.“ 112 Indem Currie mit dieser Definition versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner für die in seinem Sammelband zitierten Definitionen zu finden, geht er doch weit hinter W. Wolfs detaillierte Begriffsbestimmung zurück und knüpft statt dessen an R. Scholes‘ Definitionsansatz aus den 1960er Jahren an. Die auf Currie folgenden Studien zur ‚Metafiktion’ stellen zwei wichtige Entwicklungen in den Mittelpunkt: Zum einen wird in der Forschung vermehrt die Frage nach den theoretischen Hintergründen von Metafiktion gestellt; diese wird nun nicht mehr länger als gleichsam kontextloses literarisches Phänomen betrachtet, sondern in den größeren Zusammenhang v.a. der Postmoderne eingeordnet. Zum anderen erfährt der mittlerweile in der Literaturwissenschaft verbreitete Terminus ‚Metafiktion’ eine immer brei- 109 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 228. 110 Ebd., S. 229. Hervorhebung S.Z. 111 M. Currie (Hg.): Metafiction. (1995) Autoren sind u.a. Robert Scholes, Patricia Waugh, Gerald Prince, Linda Hutcheon, Susana Onega und Hayden White. Das Erscheinen dieses Sammelbandes kann als Zeichen für die Institutionalisierung der Metafiktionsforschung innerhalb des literaturtheoretischen Diskurses gewertet werden: ‚Metafiktion’ ist zu einer gängigen ‚Vokabel’ geworden. Zugleich erfahren die in den Band aufgenommenen theoretischen Texte bzw. Autoren eine Kanonisierung. 112 Ebd., S. 2. 65 tere Anwendung: das Forschungsinteresse zielt nun neben der angloamerikanischen und britischen v.a. auf die lateinamerikanischen Literaturen in spanischer Sprache. 113 J. Sanjinés wiederum integriert in seinem Aufsatz Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art Metafiktion in das von E. Goffmann entwickelte soziologische Konzept der frame analysis. 114 Im Wechselspiel zwischen der Destruktion des Rahmens einerseits - d.h. dem Verschwinden der Grenze zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit -, und andererseits der Hervorhebung dieses Rahmens im Bewusstsein des Lesers wirken metafiktionale Verfahren in einem Text dahingehend, dass sie den Leser über den Prozess der Textkonstituierung sowie über die künstlerischen Verfahren, die schließlich eine Illusion der Realität generieren, nachdenken lassen: „[…] the critical operation [‚Metafiktion’; S.Z.] forces the reader to reflect on the fictionality of any fiction.“ 115 Eine Verbindung zwischen dem literaturwissenschaftlichen Konzept der Metafiktion und der dekonstruktivistischen Theorie J. Derridas stellt E.P. Helleland in seiner knappen Schrift zum Thema Metafiction: Questioning the notion of Literary Self-reflexivity her und definiert ‚Metafiktion’ als „[…] an inherent linguistic effect, an effect in and of language […]“. 116 Dies erklärt - so lautet sein These -, warum sich das Vorkommen von Metafiktion nicht auf einzelne Epochen in der Literaturgeschichte wie z.B. die Postmoderne beschränkt, sondern ihr vielmehr den Status eines allen fiktionalen Texten inhärenten Merkmals zuweist. 117 113 Diesen Befund und eine Zahl von 673 Treffern nach Eingabe des Suchbegriffs Metafiction ergab eine Recherche in der MLA am 27.04.2007. 114 J. Sanjines: „Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art; Proceedings of the 18th Annual Meeting of the Semiotic Society of America, 21-24 Oct. 1993.“ (1995), S. 327-36. Die Rahmenanalyse wurde in der Soziologie von E. Goffman begründet und untersucht im alltäglichen Verhalten jene ‚Rahmen’ für das Verstehen, die dem Handelnden verfügbar sind, um seinem Tun einen Sinn zu geben. Für die Literaturwissenschaft sind diejenigen Passagen in Goffmans Werk relevant, in denen er z.B. für das absurde Theater das Spiel mit den Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit untersucht. (E. Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übersetzt v. Hermann Vetter. (1977)) 115 J. Sanjines: „Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art; Proceedings of the 18th Annual Meeting of the Semiotic Society of America, 21-24 Oct. 1993.“ (1995), S. 328. 116 E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 12f. 117 In diesem Zusammenhang prägt Helleland den englischen Neologismus metafictionality und meint damit die allgemeine metafiktionale Qualität bzw. das gewisse selbstreferentielle Potential einer jeden Fiktion im Gegensatz zur auf bestimmte Epochen oder Genres beschränkten Metafiction. Diese Unterscheidung ist meines Erachtens jedoch nach nicht überzeugend: Helleland hätte zur Bezeichnung einer allgemeinen Selbstreferenz literarischer Sprache auf das in der Theorie längst erprobte Konzept 66 Im Vergleich zur ausdifferenzierten angloamerikanischen Theoriebildung wurden in der französischen Literaturwissenschaft bislang noch keine nennenswerten Arbeiten zur Metafiktion veröffentlicht; der Terminus ‚Metafiktion’ - französisch métafiction - findet nur ganz vereinzelt Anwendung und dann vorrangig in der französischen Anglistik. 118 Stattdessen hat sich seit den 1960er Jahren in Frankreich eine eigene Tradition der Erforschung autoreferentieller bzw. metatextueller Phänomene entwickelt; dies vor allem unter der Federführung von Roland Barthes (méta-langage), Jean Ricardou (auto-représentation) und Lucien Dällenbach (mise en abyme). 119 Der erste Versuch einer eigenständigen Konzeptionalisierung metafiktionalen Erzählens wurde im Jahr 1999 von Jean Bessière unternommen, der métafiction als „[…] la reprise de la fiction par elle-même […]“ 120 bestimmte. Von dieser Definition ausgehend begreift Bessière Metafiktion im Wesentlichen als exemplarische Realisierung der jeweiligen Fiktion, als ihr eigenes Exemplum, so dass auf der übergeordneten Ebene der Metafiktion die Fiktion ihre eigenen Konstruktionsprinzipien 121 und damit die spezifische Artifizialität des Textes offenlegt. Durch ihre Selbstbezüglichkeit wird die Fiktion somit zugleich dekontextualisiert und entpragmatisiert. 122 Im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Ansätzen beschränkt sich Bessières Definition der Metafiktion auf innertextuelle Spiegelungen, 123 die in enger Verwandtschaft zur mise en abyme stehen und deren metafiktionale Funktion - die Aufdeckung der eigenen Künstlichkeit - er im Gegensatz zu L. Dällenbach unterstreicht. der literarischen Autoreferentialität zurückgreifen können (vgl. oben Jakobson). (E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 14.) 118 Vgl. z.B. den von Max Duperray herausgegebenen Sammelband Historicité et métafiction dans le roman contemporain des Îles Britanniques. (1994) Ebenso den Aufsatz von C. Bernard: „Pour une métafiction réaliste: La portée du roman anglais contemporain.“ (1997) 119 R. Barthes: „Littérature et méta-langage [1959].“ (1964); J. Ricardou: „La Population des miroirs.“ (1975), S. 212; L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977). 120 J. Bessière: „Le concept de métafiction. Typologie, stratégies fictionnelles, croyances fictionnelles et partages culturels.“ (1999), S. 21. ‘Eigenständig’ scheint Bessières Ansatz deswegen zu sein, weil er keinen expliziten Bezug auf bereits erschienene Definitionsansätze nimmt. 121 Ebd., S. 21f. 122 Ebd., S. 23. 123 Ebd., S. 24f. 67 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf In den ersten beiden Phasen der Erforschung metafiktionaler Phänomene beschränkten sich die Autoren vor allem auf ein bloßes Katalogisieren von Elementen, die als metafiktional klassifiziert wurden. Erst mit dem Erscheinen von Linda Hutcheons und Patricia Waughs wegbereitenden Studien werden verstärkt Ansätze einer systematischen Begriffs- und Modellbildung entwickelt, die die Metafiktion differenziert auf ihre Formen und Funktionen hin untersuchen; vorläufiger Abschluss dieser Phase in der Theoriebildung ist W. Wolfs wirkungsästhetisches Konzept metafiktionalen Erzählens. Den ersten Versuch einer systematischen Klassifizierung und Typologisierung der Metafiktion unternahm Linda Hutcheon, 124 die als Grundlage für ihre Überlegungen das von Ricardou vorgeschlagene Modell der autoreprésentation 125 wählt, dessen Gliederung in zwei Oberkategorien mit jeweils zwei Unterkategorien sie übernimmt: je nach der Vermittlungsform der Metafiktion unterscheidet Hutcheon etwas vage zum einen Texte mit einer gewissen „diegetic self-consciousness“ - das sind „[…] texts which are […] conscious of their own narrative processes“ -, von „linguistically self-reflective texts, demonstrating their awareness of both the limits and the powers of their own language.” 126 Zum anderen kann die Vermittlung der Metafiktion auf offene oder verdeckte Weise geschehen: „Overt forms of narcissism are present in texts in which the self-consciousness and self-reflection are clearly evident, usually explicitly thematized or even allegorized within the ‚fiction’.“ 127 In der “covert form” hingegen „[…] this process would be structuralized, internalized, actualized.” 128 Typische Verfahren der offenen / expliziten Form der „diegetic selfconsciousness“ sind explizite Thematisierungen von Fiktionalität durch eine Erzählerfigur, Allegorisierung oder aber auf überkommene narrative Konventionen und Codes anspielende Parodien. 129 In der offenen/ expliziten Variante der „linguistically self-reflective texts“ hingegen präsentiert sich der Text als Erzählung und legt seine eigene Sprachlichkeit offen: So soll durch eine besonders auffällige Gestaltung 124 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984) 125 Jean Ricardou, „La Population des Miroirs.“ (1975), S. 196-226. 126 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 22f. [Hervorhebungen S.Z.] 127 Ebd., S. 23. [Hervorhebungen S.Z.] 128 Ebd. 129 Ebd., S. 28. 68 der Romanfiguren oder der Handlung (plot) die Inadäquatheit von Sprache zur Vermittlung von Gefühlen oder Gedanken augenscheinlich werden. 130 Der verdeckte / implizite Typus der „diegetic self-consciousness“ ist laut Hutcheon durch die Übernahme verschiedener Erzählmodelle im Text - sogenannte ’Paradigmen’ - gekennzeichnet: zu nennen sind die Detektiv- Geschichte, der Fantasy-Roman, die Spielstruktur der Handlung sowie die erotische Literatur. Ihnen allen ist gemein, dass dem Leser die jeweiligen Produktionsbedingungen des Textes vor Augen geführt werden; in diesen Produktionsprozess ist er zugleich aktiv involviert. 131 Die verdeckten / impliziten „linguistically self-reflective texts“ wiederum schließen den metafiktionalen Selbstbezug in die Struktur des Textes ein; dies geschieht z.B. in der Form des Witzes, Rätsels, Wortspiels oder Anagramms. Die Funktion dieser besonderen Strukturen besteht darin, die Leseraufmerksamkeit auf die sprachliche Verfasstheit des Textes sowie auf die spezifische Polyvalenz literarischer Sprache zu richten. 132 Insgesamt lässt sich Hutcheons Vorschlag für eine Typologie der Metafiktion wie folgt graphisch repräsentieren: Metafiction Covert forms Overt forms Overt forms Covert forms Diegetically self-conscious Linguistically self-reflective • Narrative paradigms: • The detective story •Fantasy •Game structure •The Erotic • Narratorial commentary • Narrative metaphor • Parody • Plot allegory • Characters and plot show the inadequacy of language in conveying feeling, in communicating thought, or even fact. • Self-reflection ist structuralized, internalized within the text: • Riddle • Joke • Pun • Anagram Abbildung 3: L. Hutcheons Modell der Metafiktion 130 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 29. 131 Ebd., S. 31ff. 132 Ebd., S. 34. 69 Auch wenn Hutcheons Modell zum Ausgangspunkt für spätere Typologisierungsversuche wurde, bleiben doch einige ihrer Überlegungen unklar: So ist z.B. die Subsumierung der Parodie unter die expliziten diegetischen Formen der Metafiktion fragwürdig, da überholte Konventionen oder Gattungen weniger dadurch parodiert werden, dass sie auf explizite Weise durch eine fiktionale Instanz ins Lächerliche gezogen werden, als dass bestimmte narrative oder strukturelle Verfahren auf verdeckte, implizite, Weise in der neuen Fiktion aufgegriffen und als obsolet dargestellt werden. Auch bleibt zur Diskussion gestellt, inwiefern die Unterscheidung verschiedener narrativer Paradigmen eine Hilfe für die Analyse metafiktionaler Texte darstellt: sind bekannte Strukturen wie die der Detektivgeschichte oder des Fantasy-Romans tatsächlich von so großer Bedeutung für die Mehrheit der Romane? Nicht zuletzt bleibt auch Hutcheons Dichtomie ‚diegetische Selbst- Bewusstheit’ vs. ‚linguistische Selbst-Reflexion’ ungenau. Es wird nicht deutlich, welche Teile eines narrativen Textes sie in die Kategorie ‚Linguistik’ einbezieht; sind Konzepte wie die Figuren- oder Handlungsgestaltung nicht eher Elemente der Diegesis? An L. Hutcheon 133 orientiert sich Sarah E. Lauzen bei ihrem Versuch, „local metafictionalities that (with sufficient degree and genuine intent) contribute to a work’s global metafictionality“ zu klassifizieren. 134 Lauzen unterteilt die von Hutcheon vorgeschlagenen vier Kategorien der Vermittlung von Metafiktion noch weiter: Ähnlich wie Hutcheon („overt forms“) nennt Lauzen die explizite Form der Metafiktion „overt self-consciousness“; die impliziten „covert forms“ gliedern sich bei ihr jedoch noch differenzierter in „Overabundance or exaggeration”, „Absence or reduction” und „Eccentric execution” auf. Auf der zweiten Achse der Vermittlung unterteilt sich die diegetische Form der Metafiktion in „Narration and Point of View“, „Content“ (mit den Unterkategorien „Plot / Action“, „Characterization“, „Setting“, „Theme“) und „Structure“. Die linguistischen Formen spalten sich dagegen in „Language“ und „Medi- 133 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 95f. 134 Ebd., Lauzen unterscheidet hier unterschiedliche Grade der Metafiktion: „local metafictionalities“ vs. „global metafictionality“. Darüber hinaus existieren auch zwischen verschiedenen Romanen unterschiedliche Grade der Metafiktion: ein ‚metafiktionaler Roman’ setzt metafiktionale Verfahren („devices“) ein, um dem Leser die „unnaturalness“ traditioneller realistischer Konventionen vor Augen zu führen. Dienen die (sparsam) eingesetzten metafiktionalen Verfahren jedoch dazu, einen unheimlichen [eerie] Effekt zu erzielen oder auch nur die realistische/ symbolische Handlungskausalität in Frage zu stellen, fungiert dies als abgeschwächte Variante des metafiktionalen Romans. 70 um“ auf. 135 Insgesamt ist eine Kombination der diegetischen und linguistischen Varianten mit jeder offenen bzw. verdeckten Variante möglich; in Lauzens Typologieentwurf sind demnach 32 Varianten der Metafiktion möglich, ohne dass sie jedoch tatsächlich für jede von ihrem Modell vorgegebene Kategorie auch empirisch ein Beispiel in der Literatur gefunden hätte. 136 Diese insgesamt acht Kategorien erfassen laut Lauzen „[…] the familiar facets of the classic well-made realist story.“ 137 Die Bestimmung eines Verfahrens als metafiktional geschieht in der Typologie Lauzens demnach vor dem Hintergrund der realistischen Erzählkategorien; dieses wird dann als metafiktional gewertet, wenn es durch ein hohes Maß an ‚Zuviel’ oder Übertreibung, an ‚Zuwenig’ oder Abwesenheit, an exzentrischer Darbietung oder aber als offene Thematisierung von den Maßstäben, die allgemein an realistisches Erzählen gestellt werden, abweicht. Abbildung 4: S.E. Lauzens Modell der Metafiktion 135 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 96. Die Übersetzung der englischen Fachtermini ins Deutsche wird von mir im Zusammenhang mit meiner Kommentierung von Lauzens Modell vorgenommen. 136 Dies gilt insbesondere für die Unterkategorien (Plot/ Action, Characterization, Setting, Theme) der Kategorie Content. ‚Leerstellen’ in ihrem System sind die Kombinationen aus den Kategorien Plot/ Action und Overt self-consciousness sowie aus Structure und Overt self-consciousness. 137 Ebd., S. 96. Eccentric execution Suspect narration Overt Self- Consciousness Absence or reduction Overabundance or exaggeration Language Medium Structure •Theme •Setting •Characterization Content •Plot/ Action Narration & Point of View DIEGETIC FORMS LINGUISTIC FORMS COVERT FORMS OVERT FORMS 71 Beispielhaft lassen sich nun einzelne Kategorien der Metafiktion illustrieren: In der Subkategorie ‚Erzählen und Perspektive’ handelt es sich um ein ‚Überangebot’, d.h. ein ‚Zuviel’, an Erzählen, wenn mehrere Erzähler den Bericht der Ereignisse übernehmen. Eine Reduzierung des Erzählens findet statt, wenn die Stimme eines vorhandenen Erzählers seltsam körperlos bleibt oder - wie häufig in den Romanen Robbe-Grillets - die Handlung scheinbar von einem unpersönlichen Kameraauge aufgezeichnet wird. Eine Hybridform, die sich zwischen der scheinbaren Abwesenheit bzw. der Reduktion des Erzählens und einer exzentrischen Erzählweise ansiedelt, ist das ‚suspekte Erzählen’: Der Erzähler scheint sich seiner eigenen Erzählung nicht sicher zu sein und modalisiert die erzählte Geschichte durch die Verwendung von Abtönungspartikeln wie ‚wahrscheinlich’, ‚vielleicht’ oder ‚zweifellos’. 138 Wenn hingegen das Erzählen selbst zum Thema der Erzählung wird, der Erzähler sein eigenes Erzählen kommentiert oder aber der Leser explizit dramatisiert wird - somit einen ‚Leib’ in der fiktionalen Welt erhält -, ist von ‚overt self-consciousness’ oder ‚offener Thematisierung’ zu sprechen. 139 Auf der Inhaltsebene der Erzählung sind in den Unterkategorien Plot / Action, Characterization, Setting und Theme ebenfalls ein Zuviel, ein Zuwenig, genauso aber auch eine exzentrische oder ‚selbst-bewusste’ Darbietung festzustellen. Ein Beispiel für eine Reduktion bzw. Abwesenheit an Handlung ist laut Lauzen die Strukturierung der Erzählung nach bestimmten Strukturmodellen wie z.B. Listen, Wortspielen oder Gedichten. In metafiktionalen Romanen erfahren zudem vor allem auch die Charaktere eine Reduzierung: häufig werden ihnen keine Namen mehr zugeordnet oder aber nur die Initiale genannt (vgl. z.B. ‚O’ in Claude Simons La Bataille de Pharsale). Wenn sich die Romanfiguren hingegen ihres besonderen ontologischen Status, mithin ihrer Erfundenheit und Künstlichkeit, bewusst sind oder aber ihren ‚Autor’ mit Fragen, Vorschlägen und Beschwerden ‚behelligen’, ist von ‚offener Thematisierung’ zu sprechen. Im Bereich der szenischen Hintergrundgestaltung ist ein klassisches Beispiel für eine übertriebene Form der Gestaltung eine (zu) detailgenaue Beschreibung, die die Handlung zunehmend überwuchert (vgl. z.B. Claude Simons Triptyque). Hingegen erfahren thematische Aspekte in metafiktionalen Romanen ganz im Gegensatz zum realistischen Roman eine spürbare Reduktion: das inhaltliche ‚Was’ tritt zugunsten des erzählerischen ‚Wie’ in den Hintergrund. 140 138 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 98. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 98-102. 72 Im Bereich der Kategorie Struktur lassen sich vielleicht die vielfältigsten Abweichungen von den Konventionen realistischen Erzählens 141 beobachten: Beispiele für eine übertriebene oder ausufernde Strukturierung der Handlung sind künstliche Organisationsprinzipien wie die Alphabettechnik, 142 Zahlen, 143 graphische Muster, 144 serielle 145 oder generative Strukturen 146 und die gegenseitige Kontamination ontologisch verschiedener Ebenen 147 im Roman. Hingegen lässt sich eine Reduzierung bzw. die Abwesenheit der Handlungsstruktur konstatieren, wenn die Fragmentierung des Erzählten überhand nimmt und einzelne kurze Szenen ohne verbindenden Erzählbericht disparat nebeneinander stehen. Eine ‚exzentrische’ Strukturierung der Handlung liegt dagegen vor, wenn z.B. ein Autor Rezensionen seiner eigenen Romane in die jeweilige Handlung integriert. 148 Eine offene Thematisierung der Handlungsstrukturierung findet sich schließlich dann, wenn ein Autor es vorzieht, eine gute Idee nur zu beschreiben anstatt sie auszuführen. 149 In der Kategorie Sprache und Stil ist laut Lauzen eine Metafiktionalisierung immer dann anzutreffen, wenn das Gebot der transparenten Sprachverwendung missachtet wird. So können z.B. extensive Ambiguität oder gar Sinnarmut die Sprache opak werden lassen. Hingegen liegt eine exzentrische Sprachverwendung vor, wenn die Sprache zwar gewisse Be- 141 Lauzen zufolge soll im Realismus die Struktur „‘organic,’ given by the content, and not arbitrarily imposed“ sein (S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 102). 142 Lauzen nennt das Beispiel des Romans Alphabetical Africa (1974) von Walter Abish, in dem jedes Wort des ersten Kapitels mit dem Buchstaben ‚A’ beginnt, im zweiten Kapitel mit dem Buchstaben ‚B’ usw. 143 Z.B. kann die materielle Darbietung des Textes in Form von Absätzen durch Zahlen genau vorgegeben sein: In Ronald Sukenicks Roman Out (1973) umfassen alle Absätze im ersten Kapitel zehn Zeilen, im zweiten nur noch neun usw. 144 So ähnelt in Simons La Route des Flandres der von den Soldaten zurückgelegte Weg den drei Blättern eines Kleeblatts, die doch alle einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Gleiches gilt für den Roman selbst: die Handlung endet im Grunde dort, wo sie begonnen hat. 145 Bei diesem Organisationsprinzip liefert eine Folge ähnlicher Szenen die Basis für verschiedene Variationen, bei denen die Ursprungsszene jedoch immer erkennbar bleibt. 146 Für diese Form der Strukturierung hat der Nouveau Roman wiederholt Beispiele geliefert: eine Reihe von anfangs ausgewählten Elementen - die sogenannten générateurs - werden in der Folge neu kombiniert und leicht verändert und generieren auf diese Weise einen neuen Text (vgl. auch Claude Simons La Bataille de Pharsale). 147 Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich ein bisher als ‚real’ bewerteter Teil innerhalb der fiktiven Welt des Romans als Inhalt eines Films herausstellt, den eine Romanfigur im Begriff ist zu sehen (vgl. Claude Simons Triptyque). Von W. Wolf wird dieser metafiktionale Typus zu den paradoxen Formen der Metalepse gezählt. 148 So z.B. Claude Simon in Le Jardin des Plantes. 149 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 102-106. 73 deutungsinhalte besitzt, sie aber insgesamt die Regeln traditioneller Prosa verletzt wie es z.B. in Wortspielen, Anagrammen, Palindromen oder Reimen der Fall ist. 150 Die letzte von Lauzen untersuchte Kategorie Medium - „the physical presentation of the text in a book“ 151 - ist strenggenommen nicht Bestandteil der eigentlichen Fiktion. Im traditionellen Erzählen wird die Transparenz des Mediums uneingeschränkt gefordert. 152 In metafiktionalen Romanen hingegen wird dieses Gebot häufig verletzt oder spielerisch modifiziert: als Überangebot oder offene Thematisierung z.B. wenn die lineare Textpräsentation aufgegeben wird zugunsten von Spalten oder Fußnoten. Ein ähnlicher Effekt wird durch die Variation des typographischen Erscheinungsbildes der Textseite und die Beifügung nicht-illustrativer Graphiken erzielt. 153 Im Gegensatz dazu zählen zur Abwesenheit oder Reduktion des Mediums alle Verfahren, die die Lektüre des Textes erschweren oder sogar vereiteln. Zu nennen sind z.B. weiße Seiten oder extensive sogenannte blanks, weiße Stellen, im Text. 154 Das von S.E. Lauzen entwickelte Schema scheint sich vor allem deshalb für eine Analyse metafiktionaler Werke zu eignen, weil sie ‚Metafiktion’ als Verstoß gegen die Konventionen des Realismus begreift. Ausgehend von den Kategorien des realistischen Erzählens unterscheidet sie fünf narrative Ebenen (narration und point of view, content, structure, language und medium), auf denen metafiktionale Verfahren wirksam werden können, und stellt damit ein Begriffsinstrumentarium bereit, das ‚Metafiktion’ über die explizite Variante hinaus auch implizit im Text nachweisbar werden lässt. Allerdings bleibt in ihrem Konzept ungeklärt, wann ein verdeckt metafiktionales Verfahren vom Leser als metafiktional gedeutet wird. Zwar mögen narrative Strategien wie Handlungsarmut oder eine auffällig symmetrische Struktur eine gewisse Distanzierung des Lesers von seinem Text bewirken. Doch bleibt zweifelhaft, ob er in jedem Fall schon dazu angeregt wird, über Fragen, die mit der Künstlichkeit bzw. der Erfundenheit der Fiktion zusammenhängen, nachzudenken. 155 150 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 106-108. 151 Ebd., S. 108. 152 Lauzen listet die materiellen Bestandteile des Buches im Einzelnen auf; dazu gehören schwarzfarbige Druckerschwärze, mehr oder weniger weißes Papier, Bindung nach bestimmten Regeln, das Vorhandensein von wenigen, klar festgelegten Elementen auf der Buchseite (z.B. Seitenzahlen, Kopfzeilen oder ‚wahre’ Illustrationen von Charakteren oder Szenen aus der Erzählung) sowie die lineare Präsentation des Textes in Form einer geraden, endlosen Linie (Ebd. S. 108). 153 Auch zu diesem Aspekt bieten die Romane Claude Simons reichhaltiges Material, vgl. z.B. das Seitenlayout in Le Jardin des Plantes. 154 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 108-110. 155 Die adäquate Rezeption verdeckter Metafiktion hängt auch von der Kompetenz des jeweiligen Lesers ab. 74 Werner Wolf kommt schließlich das Verdienst zu, in seiner Habilitationsschrift die bislang differenzierteste Typologie metafiktionalen Erzählens entwickelt zu haben. 156 Ausgehend von den Überlegungen L. Hutcheons, die er auch ausführlich in seiner Arbeit diskutiert, sowie implizit wohl auch von den Vorschlägen S.E. Lauzens, 157 verfeinert er in entscheidendem Maße das terminologische Instrumentarium zur Klassifizierung und Differenzierung metafiktionaler Phänomene in Erzähltexten. Die entscheidende Veränderung gegenüber Lauzens Ansatz besteht darin, dass Wolf die von der bisherigen Forschung als verdeckt bzw. implizit bestimmte Variante der Metafiktion mit dem Verweis auf ihre geringe wirkungsästhetische Qualität in seiner engen Definition ausschließt und nur die ‚offene’ - explizite - Variante als originär metafiktional begreift. 158 Die implizit metafiktionale Variante subsumiert er hingegen unter die illusionsstörenden Ver- 156 Eingehend gewürdigt wurde dies in den Rezensionen der Habilitationsschrift (W. Füger: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. [Rezension].“ (1995); G. Gillespie: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. [Rezension].“ (1995); M. Fludernik: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung [Rezension].“ (1995)) 157 Es ist erstaunlich, dass Wolf Lauzens Aufsatz nicht explizit zitiert - weder im laufenden Text noch in seiner umfangreichen Bibliographie, wo er ihm doch so manche terminologische Inspiration zu verdanken scheint, wie ein kurzer Vergleich deutlich machen soll: So nennt Lauzen ihre verdeckten - impliziten - Varianten der Metafiktion overabundance or exaggeration sowie absence or reduction von Erzählen / Perspektive, Inhalt (= histoire); Struktur (= discours), Sprache und Medium. Bei Wolf liest sich an gleicher Stelle: ‚Entwertung der Geschichte durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse und die Fremddetermination der histoire’, ‚Entwertung der Geschichte durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite’ sowie ‚Auffälligkeit der Vermittlung’. Auch inhaltlich ähneln sich Wolfs und Lauzens Ansätze, vgl. z.B. den Verweis auf die Metafiktionalität einer auffälligen (opaken) Sprachverwendung (vgl. bei Wolf Kap. 3.6.1.), externer künstlicher Organisationsprinzipien (vgl. Kap. 3.3.2.), einer auffälligen Namensgebung der Romanfiguren (vgl. Kap. 3.3) der verschiedenen möglichen Beeinträchtigungen der histoire (z.B. durch wuchernde Deskriptionen; vgl. Kap. 3.4.), einer gegenseitigen Kontamination innerfiktionaler Ebenen (vgl. Kap 3.5.4.), einer auffälligen Vermittlung (vgl. Kap. 3.6.1.) sowie einer illusionsstörenden Perspektivik (vgl. Kap. 3.6.4.). 158 Wolf, der in seiner Habilitationsschrift „[…] auf der Basis einer partiell neu zu erstellenden Theorie ästhetischer Illusion eine allgemeine Erschließung der Prinzipien, Erscheinungsformen und Wirkweisen des bisher besonders vernachlässigten Phänomens der Illusionsdurchbrechung […]“ (S. XI.) unternimmt, betont, dass es in seiner Arbeit „[…] nicht in erster Linie um eine Theorie und Typologie der Metafiktion gehen kann […]“ (S. 230); sein Ziel ist vor allem die Erfassung der wirkungsästhetischen Potentiale metafiktionaler Verfahren. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993)) 75 fahren der ‚Entwertung der Geschichte’ und der ‚Auffälligkeit des Diskurses’; diese erscheinen auf derselben typologischen Ebene wie die (explizite) Metafiktion. 159 Als Autor des Artikels „Metafiktion“ für das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie vertritt Wolf jedoch eine etwas modifizierte Auffassung und bezieht auch die impliziten Varianten vollständig in eine Typologie der Metafiktion ein, 160 unter der Voraussetzung, dass „diese Verfahren dem foregrounding des Fiktionscharakters dienen“ 161 bzw. „[…] Phänomene [in den Blick rücken], die mit der ästhetischen und vor allem der fictio- und fictum-Natur des Textes zusammenhängen“ 162 , mithin die bereits erwähnte ‚metafiktionale Intention’ implizieren. Wolf unterscheidet in seinem Entwurf zu einer Typologie der Metafiktion drei Gruppen von Parametern, aus denen „[…] sich unterschiedliche [oppositive] Erscheinungsformen expliziter Metafiktion ergeben, die sowohl getrennt als auch untereinander kombinierbar sind“: 163 nach ihrer Vermittlungsform bzw. -ebene lässt sich Metafiktion einteilen in explizite vs. implizite Formen sowie in discoursvs. histoire-vermittelte Formen. In dem Maße, wie Metafiktion quantitativ und qualitativ unterschiedliche Bezüge zu ihrem nichtmetafiktionalen Kontext besitzt, lassen sich zentrale vs. marginale, verbundene vs. unverbundene, punktuelle vs. extensive, offene vs. verdeckte Formen der Metafiktion unterscheiden. Und nach ihrem Inhalt lässt sich Metafiktion klassifizieren in, fictiovs. fictum-thematisierende, totale vs. partielle, kritische vs. nichtkritische (neutrale und affirmative) Metafiktion, Eigenvs. Allgemein- und Fremdmetafiktion sowie in eigentextvs. kontextvs. autorvs. leserzentrierte Metafiktion. 164 159 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 470. Diese drei Verfahren ergänzt Wolf noch um die Komik. 160 Vgl. W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362: „Systematisch lassen sich u.a. unterscheiden […]: (a) Vermittlungsformen: wie bei der Metatextualität explizite M[etafiktion], d.h. durch den metatextuellen Wortsinn isolierbare und zitierbare M[etafiktion], vs. implizite M[etafiktion], z.B. auf der discours-Ebene typographische Experimente oder auf der histoire-Ebene Unwahrscheinlichkeiten/ Widersprüchlichkeiten, […].“ 161 Ebd. 162 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 470. 163 Ebd., S. 230. 164 Ebd., S. 231. Die letztgenannte inhaltliche typologische Unterscheidung hat Wolf nachträglich ergänzt. (Vgl. W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 43ff.) Wolf argumentiert an dieser Stelle seiner Typologie deutlich aus wirkungsästhetischer Sicht: Ziel ist, das unterschiedliche illusionsstörende Wirkungspotential metafiktionaler Einschübe festzustellen und ein Modell illusionsstörenden Erzählens zu entwickeln. Für die im Rahmen meiner Dissertation angestrebte Konzeptualisierung der Metafiktion ohne Berücksichtigung des wirkungsästhetischen Erkenntnishorizontes handelt es sich bei den kontextuellen Formen daher um eine nachgeordnete Kategorie. Im Folgenden werden deshalb nur die- 76 Die wichtigste Gruppe der nach der Art und dem Ort ihrer Vermittlung unterschiedenen Formen stellen die explizite und implizite Metafiktion dar. Explizite Formen der Metafiktion werden durch eine innerfiktionale Gestalt im Modus des telling vermittelt, sie „[erscheinen] als isolierbare Rede einer fiktionalen Redeinstanz (also nicht unmittelbar des impliziten Autors) über Fiktionales“; dies kann z.B. durch die Kommentare eines extradiegetischen self-conscious narrator oder einer intradiegetischen Figur geschehen. 165 Hingegen wird implizite Metafiktion über eine Inszenierung fassbar, d.h. es kann nur „[…] aus dem showing bestimmter Vertextungsverfahren der histoire- oder discours-Ebene […] geschlossen werden, dass Metafiktion vorliegt“ (z.B. ‚unmögliche’ Elemente der Geschichte oder typographische Spielereien bei ihrer Vermittlung). 166 Hybridformen aus beiden Typen der Metafiktion - autoreferentielles ‚telling’ und ‚showing’ sind miteinander verbunden - liegen dann vor, wenn Figuren der histoire-Ebene die Fiktionalität der Geschichte thematisieren und damit auch ihre eigene. 167 Im Folgenden sollen zunächst Subkategorien der expliziten Metafiktion vorgestellt werden; dieser Typus lässt sich ferner danach unterscheiden, ob die Metafiktion auf der histoire- oder der discours-Ebene vermittelt wird. Ein typisches metafiktionales Verfahren auf der histoire-Ebene stellen z.B. fiktionsironische Bemerkungen einer binnenfiktionalen Figur dar, die auf ein bestimmtes Genre oder auch auf den Roman bezogen werden können, dem sie jeweils entstammen. Wolf betont, dass die histoire-vermittelte Metafiktion immer doppelt codiert ist: Sie lässt neben der metafiktionalen jenigen von W. Wolf vorgeschlagenen Varianten der Metafiktion näher vorgestellt, die als Grundlage für die Weiterentwicklung des von ihm vorgeschlagenen Modells bzw. für ein neues Konzept metafiktionalen Erzählens in Frage kommen. 165 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. B. McHale interpretiert diese Kommentare als Diskurs des Autors - „the author’s performance“ -, der sich auf einer ontologisch höheren Ebene als die fiktionale Welt, welche er erzählt, befindet und der nun den Rahmen um diese fiktionale Welt durchbricht. Mit anderen Worten stellt Metafiktion für B. McHale eine Form des superrealism dar. (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 197.). Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei jedoch - gemäß dem kommunikationstheoretischen Modell des literarischen Diskurses - allenfalls um Kommentare des impliziten Autors bzw. eigentlich des Erzählers. 166 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. Wolf fasst die implizit vermittelte Form der Metafiktion unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten als die radikalere auf, da durch sie ein ganzer Text als Ganzes als unglaubwürdig und fiktional bloßgestellt werden kann (man denke z.B. an das Ende von Claude Simons La Route des Flandres, das die soeben gelesene Geschichte ‚nur’ als Halluzination oder Traum des Erzählers bzw. eines Reflektors erscheinen lässt.) 167 Ebd., S. 234. Es handelt sich hierbei um eine erzähllogische Unmöglichkeit, da der eigene Status der Romanfigur ‚normalerweise’ nicht bewusst werden kann. 77 Reflexion immer auch eine plausible Leseweise innerhalb der fiktionalen Welt zu. 168 Discours-vermittelte explizite Varianten der Metafiktion sind Kommentare des extradiegetischen Erzählers zur eigenen Geschichte, z.B. wenn er die Wahrheit der von ihm erzählten Geschichte offen dementiert. 169 Darüber hinaus kann die explizite Variante der Metafiktion auch nach ihrem Inhalt typologisiert werden, je nachdem ob sie auf die Thematisierung des fictio- oder des fictum-Status zielt. Während die fictio-thematisierende Variante das sprachliche Medium, die Vermitteltheit der Fiktion, diskutiert (z.B. als Anspielung auf die Form, Gestaltung, Rezeption und Produktion von Literatur oder durch unaufgelöste Rätselhaftigkeiten in der Handlung, zu deren Lösung der Leser im Buch blättern muss), bezieht sich die fictum-thematisierende Variante auf den Wahrheitsstatus der Fiktion, mithin auf die Referentialität der textuellen Sachverhalte (z.B. wenn ein extradiegetischer Erzähler den Wahrheitsstatus der eigenen Geschichte in Frage stellt) und legt auf diese Weise die Erfundenheit der erzählten Geschichte bloß. 170 Abbildung 5: Formen der expliziten Metafiktion (nach W. Wolf) 168 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 237. 169 Ebd., S. 239. 170 Ebd., S. 247. Metafiktion Explizite Metafiktion discours-Ebene vs. histoire-Ebene Implizite Metafiktion Kontext 1 Inhalt 1 • Fictiovs. fictum-thematisierend • Total vs. partiell • Kritisch vs. nicht-kritisch (affirmativ vs. neutral) • Allgemeinvs. Fremdvs. Eigenmetafiktion (eigentextvs. kontextvs. autorvs. leserzentriert • Zentral vs. marginal • Verbunden vs. unverbunden • Punktuell vs. extensiv • Offen vs. verdeckt 1 Die nach ‚Inhalt‘ und ‚Kontext‘ unterschiedenen Varianten der Metafiktion können untereinander kombiniert werden. 78 Im Anschluss an diese Typologisierung der expliziten Metafiktion und ihrer Varianten soll nun ein kurzer Überblick über die Typen der impliziten Metafiktion erfolgen. 171 Im Gegensatz zu den zitierfähigen, expliziten Formen geht implizite Metafiktion „[…] aus einer mehr oder weniger unterschwelligen Tendenz eines Textes [hervor], die Fiktionalität (im Sinne von Gemachtheit oder Erfundenheit) in den Vordergrund zu rücken.“ 172 Metafiktion erscheint hier nicht als ‚Thematisierung’ einer binnenfiktionalen Instanz, sondern vielmehr als ‚Inszenierung’, als showing bestimmter Vertextungsverfahren auf der histoire- oder discours-Ebene. 173 Im Gegensatz zur differenzierten Typologie der expliziten Metafiktion, 174 untergliedert sich bei Wolf die implizite Variante der Metafiktion nur nach dem Ort ihrer Vermittlung: der histoiresowie der discours-Ebene des Textes. Metafiktion erscheint auf der histoire-Ebene in Form von verschiedenen Verfahren, die auf eine Entwertung der histoire abzielen, um so die Artifizi- 171 Wolf selber hat, wie ich bereits dargelegt habe (Fußnote 164), die impliziten Formen aus seiner wirkungsästhetischen Typologie der Metafiktion ausgeschlossen mit dem Hinweis auf ihre „vollständige Aufbewahrtheit […] in anderen Charakteristika illusionsstörender Texte“ sowie darauf, dass sie sich immer anderer Oberflächenphänomene bedienen muss und sich erst durch diese sekundär manifestieren kann. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 228.) Diese anderen Charakteristika und Oberflächenphänomene sind jedoch nichts anderes als die von Wolf (und zuvor bereits von Lauzen! ) eingeführten Kategorien ‚Entwertung der Geschichte’ und ‚Auffälligkeit der Vermittlung’. Ich werde also im folgenden die unter diese beiden Begriffe subsumierten, metafiktional fungierenden Phänomene als Typen der ‚impliziten Metafiktion’ behandeln, ohne jedoch - wie Wolf es in seiner Studie getan hat - die wirkungsästhetische Implikation der jeweiligen Verfahren in besonderem Maße zu berücksichtigen. Ich schließe mich jedoch Wolfs wichtiger Einschränkung an, dass die Metafiktionalität dieser Verfahren in jedem Einzelfall neu bestimmt werden muss: „Selbst wenn man, ausgehend von einem weiten Metafiktionsbegriff, in vielen Fällen Auffälligkeiten der Vermittlung oder die Entwertung der Geschichte zugleich als Formen impliziter Metafiktion ansehen können wird, so gilt das keineswegs generell. Daher kann gerade bei der Diagnose impliziter Metafiktion nicht schematisch vorgegangen werden, sondern es muss, wie in verschiedenen Einzelfällen zu zeigen sein wird, der thematische und der Sinnkontext eines Werks daraufhin geprüft werden, ob das Bewusstmachen der Artifizialität oder ihrer Konsequenzen vorrangige Funktion [vgl. das Kriterium intendierter ästhetischer Metareflexion] des jeweiligen Verfahrens ist oder ob etwa eine möglicherweise aufscheinende Künstlichkeit eher Nebenprodukt ist und primär anderen Zwecken dient als ihrer Selbstreflexion.“ (Ebd. S. 227f.) Daher werden auch nicht alle potentiell illusionsstörenden impliziten Verfahren vorgestellt, sondern nur diejenigen, denen Wolf zugleich eine bestimmte metafiktionale Qualität zuschreibt. 172 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36. 173 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. 174 Ebd., S. 208-259. 79 alität des Textes bloßzulegen. 175 Die von Wolf untersuchten Verfahren lassen sich folgenden drei Gruppen zuordnen: 1. die Fremddetermination der histoire durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse; 2. die wahrscheinlichkeitsneutrale Abkehr von einer ‚interessanten’ und kohärent lesbaren Fabel als Textzentrum; 3. unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite. 176 Die Fremddetermination der histoire durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse kann im Hinblick auf den Inhalt und die Thematik des Textes durch unwahrscheinlich sinnfällige Namen von Lokalitäten und Figuren 177 oder aber durch seine Durchformung gemäß einer bestimmten, deutlich erkennbaren (didaktischen, allegorischen oder satirischen) Botschaft geschehen. 178 Darüber hinaus kann die histoire auch durch nichtsprachliche und sprachliche Sinn- und Ordnungssysteme fremddeterminiert erscheinen. Ein bekanntes nichtsprachliches Verfahren ist z.B. die Strukturierung der Geschichte auf der Grundlage von Spielregeln (z.B. Tarot). 179 Häufiger als nichtsprachliche Ordnungsmuster finden sich sprachliche Sinnsysteme, welche die Geschichte entwerten, wie z.B. metafiktional fungierende Formen der Intertextualität 180 bzw. die Parodie als ihr Sonderfall. 181 Auch Hinweise auf das narrative Medium des Textes können metafiktional fungieren, wenn bestimmte fiktionale Erzählkonventionen ironisch übererfüllt werden (z.B. die auffällige Häufung ‚romanesker’ Zufälle). 182 Ferner kann die Wiederholung eigentextueller Strukturen eine metafiktionale Entwertung der Geschichte durch die Stiftung unwahrscheinlicher Ordnungsüberschüsse bewirken. Hierzu zählen die aus dem Nouveau Roman bekannten générateurs, die den Romantext nach dem Prinzip der Variation entstehen lassen. 183 Ein ähnliches Verfahren ist die Anordnung der Geschichtselemente nach dem Prinzip der Symmetrie (z.B. die Rekurrenz derselben Strukturen innerhalb der einzelnen Erzählabschnitte). 184 Das bekannteste und vielleicht wichtigste Verfahren ist die auf dem Spiegelungsprinzip beruhende mise en abyme. 185 175 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 266ff. 176 Ebd., S. VII. 177 Ebd., S. 270. 178 Ebd., S. 272ff. 179 Ebd., S. 277ff. 180 Ebd., S. 279ff. In der engeren Definition von Referenzen auf fiktionale literarische Texte. 181 Ebd., S. 285f. 182 Ebd., S. 286f. 183 Ebd., S. 293. 184 Ebd., S. 293f. 185 Ebd., S. 295-305. 80 Ebenso ist die Entwertung der histoire durch die Abkehr von einer ‚interessanten’ und kohärent lesbaren Fabel als Textzentrum möglich, und zwar durch quantitativ auffällige (z.B. ein Zuviel oder Zuwenig an Narration) oder durch qualitativ auffällige Verfahren (so beeinträchtigt z.B. die Pluralisierung verschiedener Einzelfabeln oder Fabelebenen ihre Kohärenz oder aber die Reduktion von äußeren Handlungen und Ereignissen entwertet eine Einzelfabel). 186 Bei der quantitativen Entwertung der Fabel werden eine vorhandene Fabel und vor allem ihre narrativen Passagen entweder durch nichtdiegetische und nichtnarrative Elemente verdrängt oder aber sie wird dadurch überdimensional aufgebläht, dass verschiedene Binnenerzählungen als narrative Digressionen die eigentliche Erzählung durchsetzen. 187 Ebenso kann die intradiegetische Ebene von ‚innen’ entwertet werden: durch ein Übermaß der nichtnarrativen Diskurstypen Deskription und Argumentation; durch das Einstreuen vieler intertextueller Zitate in die Fabel sowie durch eine exzessive Vermehrung von Fabeln oder Fabelelementen, wodurch die Handlungsstruktur ihre Hierarchie verliert. 188 Die Techniken einer qualitativen Geschichtsentwertung lassen sich ebenfalls in zwei Gruppen zusammenfassen: auf der einen Seite finden sich Verfahren, die eine Fabel an äußeren Handlungen und Ereignissen verarmen und dadurch uninteressant werden lassen. Auf der anderen Seite stehen Techniken, die eine kohärente Geschichte durch disparat wirkende Fabelelemente zerschlagen, so dass der kausale Zusammenhang der dabei entstehenden Teile im Dunkeln bleibt. 189 Handlungsreduktion und Ereignislosigkeit lassen sich in unterschiedlichen graduellen Ausprägungen in Erzähltexten nachweisen. Relevant für eine mögliche metafiktionale Intention sind v.a. die Texte, die zwar noch Handlung enthalten, ansonsten aber ereignisarm sind (eine zunächst konventionelle verwandelt sich zuletzt in eine sinnlose Erzählung), sowie diejenigen, die sowohl handlungsals auch ereignislos sind (dazu zählen Texte, die nur noch ein eher zufälliges äußeres Geschehen enthalten, wie z.B. einige Romane Samuel Becketts). 190 Die Kohärenzstörung der Fabel kann ebenfalls auf zwei Weisen erfolgen: Einerseits durch ‚horizontale’ Kohärenzstörungen allein auf der diegetischen Ebene (wenn mehrere Fabeln scheinbar ohne inneren Zusammenhang neben- oder durcheinander erzählt werden), andererseits durch ‚vertikale’ Kohärenzbeeinträchtigungen zwischen der diegetischen und der 186 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 306f. 187 Ebd., S. 307ff. 188 Ebd., S. 311ff. 189 Ebd., S. 320. 190 Ebd., S. 325ff. 81 hypodiegetischen Ebene (wenn z.B. eine hochkomplexe Schachtelung verschiedener Erzählebenen nicht durch die Handlung motiviert ist). 191 Abschließend sind diejenigen, auf eine Abwertung der Geschichte zielenden, Verfahren zu nennen, welche die Wahrscheinlichkeit des Erzählens durch ein spürbares Defizit an Ordnung und Sinn unterminieren. In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich hierbei um unwahrscheinliche Sinntrübungen, die zumeist einzelne Elemente innerhalb einer histoire- Ebene und eines Handlungsstranges betreffen. 192 Eine erste Variante stellt das Auftreten von Objekten in der Geschichte dar, die vom Leser aufgrund seines lebensweltlichen Wissens eindeutig als irreal identifiziert und die trotzdem innerhalb der Fiktion als ‚Wirklichkeit’ dargeboten werden, ohne dass literarische Konventionen wie z.B. die des Märchens oder allgemein von Fantasy-Literatur dieses lebensweltlich Unmögliche innerfiktional glaubwürdig werden lassen. 193 Ferner kann auch die Nichteinlösung formaler Konzepte - v.a. der Bauformen des Erzählens - zu einer Sinnentleerung führen; dies geschieht z.B. durch Verstöße gegen die Eindeutigkeit der ontologischen Ebenen oder aber gegen die Kontinuität von Raum und Zeit, gegen die Identität der Figuren sowie gegen die relevanzbildende Selektion der histoire-Elemente nach den Kriterien von Kausalität, Teleologie und Einheit der Handlung. 194 Diese Verstöße gegen die Sinnzentriertheit sind einerseits das Resultat von Widersprüchen (z.B. logische Kontradiktionen einzelner histoire-Elemente untereinander) und andererseits von Ambiguitäten. 195 Zu den Verstößen gegen die Sinnzentriertheit sind ferner zwei Sonderfälle zu zählen: zum einen die Kontamination von außerliterarischer Realität und textueller Fiktion, wenn z.B. der ‚reale Autor’ in seinem Roman auftritt. Zum anderen die Kontamination innerfiktionaler Ebenen; 196 beide Formen haben laut Wolf immer - implizit - metafiktionalen Charakter. 197 191 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 321ff. 192 Ebd., S. 334f. 193 Ebd., S. 336f. 194 Ebd., S. 337f. 195 Ebd., S. 338f. Typische Verfahren sind u.a. mehrere Anfänge und Enden einer Geschichte, die Ellipse eines am Ende des Romans erwarteten Ereignisses, die Präsentation mehrerer Versionen einer Erzählung, Instabilitäten der Figurenidentitäten bzw. des Raumes oder aber Verstöße gegen die Linearität der Zeit. 196 Diese werden auch ‚narrative Kurzschlüsse‘ genannt und von Wolf definiert als „[…] ein[e] Kontamination getrennter Ebenen innerhalb eines Erzählwerkes […], die in der Tat zu einem paradoxen Umsturz der logischen Hierarchie oder wenigstens zu einem lebensweltlich unmöglichen logischen Sprung zwischen Realität und Fiktion führt.“ (Ebd. S. 357.) Weitere erzähltechnische Termini sind französisch métalepse (vgl. G. Genette: Figures III. (1972), S. 243ff.) oder court-circuit (J. Ricardou: Nouveaux problèmes du roman. (1978), S. 124ff.) und englisch short-circuit (vgl. D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 239- 82 Nachdem bislang Verfahren auf der histoire-Ebene, die eine Abwertung der Geschichte zur Folge haben, im Zentrum standen, werden nun verschiedene Strategien vorgestellt, die für eine Auffälligkeit des discours bzw. der narrativen Vermittlung verantwortlich sind. 198 Diese manifestieren sich als Überschuss oder Defizit in der Präsentation der Vermittlungsebene - also des sprachlichen und narrativen Mediums - und ihrer Funktionen. 199 Das Bloßlegen des sprachlichen Mediums erfolgt entweder über eine besondere grammatische oder stilistische Sprachverwendung (dabei handelt es sich um ein foregrounding der Sprachlichkeit allgemein) oder aber über eine Beeinflussung der besonderen, gerade für die (fiktionale) Narrativik typischen Bedingungen und Möglichkeiten der schriftlichen Materialität von Erzähltexten (dies stellt das foregrounding der Textualität dar). 200 Verfahren einer ungewöhnlichen Sprachverwendung sind z.B. die ungrammatische und sinndefiziente Verwendung des sprachlichen Mediums (z.B. fehlende Interpunktion oder sogenannte blanks), die durch die Sprache bewirkte Produktion eines Überschusses an Ordnung (z.B. die Anordnung der Worte nach rein formalen Kriterien wie dem ABC, Sprachspielen bzw. die intermediale Musikalisierung des narrativen Diskurses) oder die Ein- 245.), Russian babushka dolls, strategies of self-erasure/ self-contradiction bzw. strategies involving recursive structures (vgl. B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 112.). G. Genette hat in einer kürzlich erschienenen Monographie zur Metalepse eine Typologie vorgeschlagen, die je nach dem betroffenen Bereich eine métalepse de l’auteur, eine métalepse figurale sowie eine métalepse fictionnelle voneinander unterscheidet (G. Genette: Métalepse. De la figure à la fiction. (2004), S. 10, 16f.). 197 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 349ff. Wolf unterscheidet innerhalb der Gruppe der narrativen Kurzschlüsse drei Erscheinungsformen: 1. punktuelle Kurzschlüsse zwischen extra- und intradiegetischer Ebene durch grenzüberschreitende Figuren (z.B. eine Anrede des Erzählers oder des Lesers durch eine fiktive Figur, das Eindringen des Erzählers in seine Geschichte unter der Verletzung von eigentlich unüberwindbaren Zeitgrenzen oder aber die Verselbstständigung der Romanfiguren gegenüber ihrem Erzähler); 2. punktuelle Kurzschlüsse zwischen intra- und hypodiegetischer Ebene bzw. zwischen innerdiegetischer ‚Realität’ und ‚Fiktion’ (z.B. die ‚Metamorphosen’ eines zweidimensionalen Mediums (Bild, Kinofilm etc.) in eine dreidimensionale diegetische ‚Wirklichkeit’); 3. Komplexionsformen: die Verbindung aus exta[sic]-/ intradiegetischen und intra-/ hypodiegetischen Kontaminationen [im Sinne einer erzähllogisch unmöglichen Ebenenvermischung] und die unendliche ‚Möbius-Band-ähnliche’ Rekurrentsetzung der Ebenenkontamination. (Ebd., S. 358f.) Diese metafiktionalen Erzählstrategien „[…] have the effect of interrupting and complicating the ontological ‚horizon’ of the fiction, multiplying its worlds, and laying bare the process of world-construction.“ (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 112.) 198 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 372f. 199 Ebd., S. 377f. Das sind die Bedingungen und Konventionen speziell erzählerischer Textkonstitution. 200 Ebd., S. 379. 83 fügung nichtsprachlicher Zeichensysteme in den Text (z.B. die Kontrastierung oder Parallelisierung des sprachlichen Mediums mit anderen Medien bzw. (ikonischen) Zeichensystemen oder spielerische Experimente in der Typographie). 201 Die Auffälligkeiten des narrativen Mediums lassen sich zunächst in zwei Teilbereiche untergliedern: zum einen in ein Defizit an sinnstiftendem narrativen Diskurs und zum anderen in einen Überschuss bzw. eine Übererfüllung seiner sinn- und ordnungsstiftenden Funktionen. 202 Defizite an Sinnzentriertheit des narrativen Diskurses beeinflussen häufig das Verständnis der Geschichte und besitzen zwei Erscheinungsformen: entweder in Verbindung mit einer ebenfalls sinndefizitären histoire-Ebene (wenn z.B. problematische Elemente der Geschichtsebene nicht durch den erzählerischen Diskurs ausgeglichen werden) oder aber in Zusammenhang mit einer noch plausiblen und intakten Geschichte. 203 Dagegen sind Überschüsse an Sinnzentriertheit auf der inhaltlichen Ebene z.B. symbolhafte Überdeterminierungen alltäglicher Gegenstände und Handlungen. Auf der Ebene der formalen Ordnung des narrativen Diskurses entsteht hingegen ein Zuviel durch eine nicht durch die Erzähllogik motivierte Einteilung in Kapitel oder durch die Strukturierung der Geschichte nach einem künstlich wirkenden Zahlensystem. 204 Schließlich können auch Auffälligkeiten des narrativen Mediums, welche die Erzählsituationen, die Erzählperspektivik oder die Zeitgestaltung betreffen, implizit metafiktional fungieren. 205 Im Bereich der Erzählsituationen erweitert Wolf Stanzels triadisches Modell aus ‚auktorialer Erzählsituation’, ‚Ich-Erzählsituation’ und ‚personaler Erzählsituation’ um die Kategorien der ‚neutralen Erzählsituation’ (von ihm auch Camera-eye-Technik genannt) sowie der ‚Du-Erzählsituation’. So kann der auktoriale Erzähler vor allem als unreliable narrator 206 - als unzuverlässiger oder unglaubwür- 201 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 380ff. 202 Ebd., S. 390. 203 Ebd., S. 395ff. Hier kann sich der Diskurs als defizient erweisen im Verhältnis zur Identität der Figuren, zur Eindeutigkeit und Kontinuität der räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Handlung, zur Klarheit der ontologischen Ebenen und damit häufig auch zur Eindeutigkeit der Sprecherinstanzen. 204 Ebd., S. 390ff. 205 Ebd., S. 407. 206 A. Nünning hat das Konzept der von W.C. Booth erstmals definierten unreliability überarbeitet und in Anlehnung an die dramatische Ironie neu definiert, s. A. Nünning: „‘But why will you say that I am mad? ’ On the Theory, History, and Signals of Unreliable Narration in British Fiction.“ (1997), A. Nünning: „Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration: Prolegomena and Hypotheses.“ (1999). M. Fludernik benennt darüber hinaus drei Kategorien der unreliability: 1. ‘factual contradiction’; 2. ‘lack of objectivity’; 3. ‘incompatibility of world- 84 diger, offensichtlich fabulierender Erzähler - auf die Künstlichkeit des Textes bzw. auf seine fictum-Natur verweisen. 207 Auch die neutrale Erzählsituation ist aufgrund der radikalen Zurücknahme einer sinn- und kohärenzstiftenden Instanz (insbesondere bei der Camera-eye-Technik) eher gefährdet, die eigene Künstlichkeit durch eine Unterpräsenz des narrativen Mediums offenzulegen. Zuletzt erscheint die Du-Erzählsituation infolge ihrer mangelnden Plausibilität besonders offen für metafiktionale Implikationen zu sein. 208 Im Hinblick auf die Zeitgestaltung durch Tempus und Modus in Erzähltexten legt laut Wolf vor allem die fortgesetzte Verwendung des Potentialis oder des Irrealis deutlich den fictum-Charakter einer Erzählung bloß. 209 Nicht zuletzt wird eine implizit metafiktionale Auffälligkeit des narrativen Mediums auch durch die Verwendung nichtnarrativer Diskursformen erreicht. Im Gegensatz zum bereits untersuchten Effekt einer quantitativen Überwucherung der Narration steht hier das qualitative Moment eines Auftretens anderer Diskursformen im Vordergrund. 210 So können auch Argumentationen metafiktional fungieren, wenn sie Reflexionen über die Fiktion bzw. die eigene Fiktionalität der intradiegetischen Figuren oder des extradiegetischen auktorialen Erzählers präsentieren. 211 Schließlich kann auch das übermäßige Auftreten von Deskription als Kriterium einer impliziten Metafiktionalisierung der Erzählung gewertet werden. Dies geschieht häufig durch eine Herstellung von Sinndefiziten auf der discours-Ebene, wenn eine auf den ersten Blick wirklichkeitsgetreue Deskription durch ein Zuviel oder durch eine metafiktionale Überdetermiview’ bzw. ‘ideological unreliability’ (M. Fludernik: „Defining (In)Sanity: The Narrator of The Yellow Wallpaper and the Question of Unreliability.“ (1999), S. 75.). 207 Im Vergleich zum auktorialen Erzähler scheint der Ich-Erzähler durch seine autobiographische Schreib- oder Erzählsituation eher plausibel zu sein, während die personale Erzählsituation noch weniger anfällig für eine implizit metafiktionale Offenlegung der eigenen Vermitteltheit und Künstlichkeit ist. 208 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 409ff. Während meines Erachtens die verschiedenen Erzählsituationen im Zusammenhang mit Metafiktion nicht sehr relevant zu sein scheinen, wäre eine genauere Analyse z.B. der Dissoziation des Erzählers oder allgemein der unreliability des Erzählens von größerer Bedeutung für eine Typologie des metafiktionalen Erzählens. 209 Ebd., S. 423ff. Wie bereits M. Fludernik in ihrer Rezension kritisiert hat, spart Wolf in seiner Arbeit die wichtige, von der Narratologie gut erforschte Zeitproblematik aus (vgl. G. Genette: Figures III. (1972)) 210 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 425f. 211 Ebd., S. 426ff. Es sind v.a die Argumentationen mit metafiktionalem Inhalt, welche identisch sind mit histoire- und discours-vermittelter expliziter Metafiktion. 85 nierung der beschriebenen Gegenstände zunehmend opak wird, bis sich der Blick des Lesers zuletzt von der histoire auf den discours richtet. 212 Metafiktion Implizite Metafiktion Entwertung der histoire Explizite Metafiktion • Unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse und Fremddetermination der histoire • Inhalt/ Themen • Nicht-sprachliche Sinn-/ Ordnungssysteme • Sprachliche Sinn-/ Ordnungssysteme • Fremddetermination durch das narrative oder sprachliche Medium • Wiederholung eigentextueller Strukturen • Abkehr von einer ‚interessanten‘ u. kohärent lesbaren Fabel • Quantitative Entwertung (Verdrängung durch nichtdiegetische/ nichtnarrative Elemente) • Qualitative Entwertung (Handlungsreduktion, Ereignislosigkeit, Kohärenzstörungen) • Unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite • Unwahrscheinliche Sinntrübungen • Nichteinlösung formaler Konzepte • Verstöße gegen die Sinnzentriertheit • Auffälligkeit des sprachlichen Mediums • Ungewöhnliche Sprachverwendung • Auffälligkeit des narrativen Mediums • Defizite an Sinnzentriertheit • Überschüsse an Sinnzentriertheit • Erzählsituationen (v.a. auktoriale ES, neutrale ES und Du-ES) • Zeitgestaltung (Verwendung von Potentialis, Irrealis und Futur) • Verwendung nicht-narrativer Diskursformen (Deskription u. Argumentation) Auffälligkeit des discours Abbildung 6: Formen der impliziten Metafiktion (nach W. Wolf) Das von W. Wolf vorgeschlagene Konzept der Metafiktion ist ambivalent zu bewerten: Einerseits bietet es - als Resultat des gewählten wirkungsästhetischen Ansatzes - einen großen Erkenntnisgewinn insbesondere im Hinblick auf das illusionsstörende Potential metafiktionalen Erzählens. 213 212 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 428ff. Vgl. hier die description créatrice im Nouveau Roman. 213 M. Fludernik schlägt auf der Grundlage von Wolfs Typologisierung metafiktionalen Erzählens ein ergänztes Modell vor, das die textuellen Phänomene Metafiktion, Metanarration und Metalepse verbindet und noch deutlicher die metafiktionale Funktion der Autoreferentialität begrenzt „[…] to self-reflexive statements about the inventedness of the story.“ (Dies entspricht Wolfs expliziter Metafiktion.) Hingegen definiert sie die von Wolf typologisierte implizite Metafiktion als ‚non-narrational self-reflexivity’ und nennt als gängige Verfahren das Auftreten von mise en abyme, visuelle paratextuelle Elemente wie Illustrationen oder typographische Experimente oder eine metaleptische Konstruktion des plot. In diesem Zusammenhang sollte betont werden, dass der mise en abyme stets erst im Falle auffälligen, unwahrscheinlichen Auftretens eine metafiktionale Funktion zukommt. (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 28f.) 86 So unterstreicht Wolf, dass ‚Metafiktion’ nicht per se mit Illusionsstörung bzw. -zerstörung gleichzusetzen ist, sondern zeigt, dass sich die von Metafiktion hervorgerufene Illusionssuspension in graduellen Abstufungen bis hin zu ihrer vollständigen Destruktion vollzieht. Nicht überzeugend ist meines Erachtens jedoch die von Wolf vorgeschlagene Typologisierung der impliziten Varianten der Metafiktion. Mag der Ausschluss der impliziten Metafiktion aus der Typologie illusionsstörenden metafiktionalen Erzählens in seiner Habilitationsschrift noch dem zugrundegelegten wirkungsästhetischen Ansatz geschuldet sein, so ist die kaum erfolgte Differenzierung dieser Variante der Metafiktion in späteren Texten kaum nachvollziehbar. 214 So bleibt die klare Feststellung, welche illusionsstörenden Verfahren eine implizite metafiktionale Funktion besitzen, auch in seinen späteren Arbeiten ein Desiderat. Ein weiterer Kritikpunkt von Wolfs Konzept ist die bereits von M. Fludernik monierte Vernachlässigung etablierter narrativer Kategorien wie v.a. der Zeitgestaltung oder der reliability des Erzählens. Hier beschreiben insbesondere im Bereich der postmodernen Erzähltheorie neu entwickelte narratologische Modelle ein Arsenal an Techniken, die unter bestimmten Voraussetzungen durchaus implizit metafiktional fungieren können. 2.2.4 Sonderformen: historiographische, autobiographische und epistemologische Metafiktion Seit ihrem Aufkommen insbesondere in der postmodernen fiktionalen Erzählliteratur sind verschiedene Sonderformen metafiktionalen Erzählens entstanden, die sich durch eine besondere Funktionalisierung der Metafiktion in den betreffenden Texten auszeichnen. Neben allgemeinen, nahezu in jedem metafiktionalen Text nachweisbaren Funktionen wie z.B. einer metafiktionalen Autokritik nicht nur des eigenen Textes sondern auch von fiktionaler Literatur allgemein, 215 einem gewissen Spielcharakter 216 sowie der autoreferentiellen Thematisierung 214 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36. 215 Es handelt sich dabei um die autobzw. literaturkritische, die ludische und die poetologische Funktion. Vgl. zur autobzw. literaturkritischen Funktion der Metafiktion R. Scholes: „Metafiction.“ (1970), S. 106f. An anderer Stelle prägt Scholes für diese spezielle Variante der Metafiktion den Terminus fictional criticism, um den funktionalen Aspekt der Autokritik stärker zu betonen. (R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 233.) In diese Richtung zielt auch der Terminus criticgraphic metafiction von L. Cazzato, der damit „the assimilation of criticism in the fictional process“ bezeichnet. (L. Cazzato: Metafiction of anxiety: modes and meanings of the postmodern selfconscious novel. (2000) S. 84.) 216 Vgl. hierzu die Definition der playful fiction von R. Detweiler: „ But when I speak of playful fiction, I have a more particular quality in mind. I mean an artistic selfconsciousness whereby the writer, already intensely aware of the illusory nature and 87 und Inszenierung der eigenen Poetik 217 ordnen sich die Sonderformen einem einzigen Thema unter; die Funktion der verschiedenen metafiktionalen Strategien wird gewissermaßen homogenisiert. Zu diesen Formen, die inzwischen den Status von Subgattungen der fiktionalen Erzählliteratur erlangt haben, zählen die historiographische, die autobiographische und die epistemologische Metafiktion. Mit dem Erscheinen von L. Hutcheons wegweisender Studie A Poetics of Postmodernism im Jahr 1988 rückt erstmals eine Variante metafiktionalen Erzählens ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit: die historiographische Metafiktion. 218 Hutcheon versteht darunter „[…] those well-known and popular novels which are both intensely selfreflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages […]”. 219 Wie der Titel der Studie bereits andeutet, begreift Hutchepotential of the novel and story, manipulates the components of narrative to show the reader their artificiality. He constantly reminds himself and his readers of the pretense-nature of the story, and thereby creates a secondary game in the already given context of playfulness characteristic of all fiction.” (R. Detweiler: „Games and Play in Modern American Fiction.“ (1976), S. 51. Siehe auch S. 56.) 217 Vgl. A. Nünnings Überlegungen zur ‚poetologischen Selbstreflexion’. (A. Nünning: „‘Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit’: Struktur, Intertextualitat und Metafiktion als Mittel poetologischer Selbstreflexion in Peter Ackroyds Chatterton.“ (1994), S. 46f.) 218 Der Begriff wurde von Hutcheon jedoch bereits 1984 geprägt, als sie im Vorwort zur zweiten Auflage von Narcissistic Narrative vor dem Hintergrund von H. Whites Postulat von der Historiographie als einem poetischen Konstrukt schreibt: „Historiographic metafiction, therefore, works to situate itself in history and in discourse, as well as to insist on its autonomous fictional and linguistic nature.“ (L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. xiv.) M. Fludernik präzisiert, dass diese neue Gattung aus dem Zusammenfluss von fabulation, dem lateinamerikanischen ‚magischen Realismus’, der Gattung metafiktionalen Erzählens, der nicht-fiktionalen narrativen Gattung sowie dem autobiographischen new journalism entstanden sei (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 85.). 219 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 5. Sie betont, dass historiographic metafiction im Gegensatz zur radical metafiction des spätmodernistischen Erzählens „[…] attempts to demarginalize the literary through confrontation with the historical, and it does so both thematically and formally.” (Ebd., S. 108.) Eine spätere terminologische Präzisierung stellt der von P. Deistler geprägte Begriff ‚metahistoriographische Fiktion’ dar, der den definitorischen Schwerpunkt auf die historiographische Dimension dieses Typus von Fiktion legt und Texte beschreibt, die „[…] die Verschriftlichung historischer Realitäten fiktional gestalten und diesen Prozeß gleichzeitig auf einer Metaebene überdenken“. (P. Deistler: Tradition und Transformation. Der fiktionale Dialog mit dem viktorianischen Zeitalter im (post)modernen historischen Roman in Großbritannien. (1999), S. 32.) V. J. Budig wiederum spricht ganz allgemein von der self-reflexive historical novel und bezeichnet mit diesem Begriff „ […] a historical novel, one of a kind whose primary objects of discourse is the writing of a historical novel or the writing of/ about history within a 88 on als zentrale Kennzeichen des postmodernen Romans sowohl seine Selbstreflexivität als auch seine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen und Persönlichkeiten. 220 Sie schlägt daher den Begriff historiographic metafiction als synonyme Gattungsbezeichnung für den postmodernen Roman vor, um dessen zentrale Zielsetzung begrifflich besser zu fassen: What I want to call postmodernism in fiction paradoxically uses and abuses the conventions of both realism and modernism, and does so in order to challenge their transparency, in order to prevent glossing over the contradictions that make the postmodern what it is: historical and metafictional, contextual and self-reflexive, ever aware of its status as discourse, as a human construct. 221 In Anlehnung an neuere - (radikal)konstruktivistische, diskurstheoretische sowie erzähltheoretisch orientierte - Ansätze der Geschichtstheorie 222 diskutiert und problematisiert ‚historiographische Metafiktion’ das Verhältnis von Historiographie und Literatur: Traditionelle Auffassungen von der klaren Abgrenzung zwischen literarischen und historiographischen Werken aufgrund ihres unterschiedlichen Wirklichkeitsbezugs und Wahrheitsanspruches werden von der Einsicht abgelöst, dass jegliche Form von Wirklichkeitserfahrung und Erkenntnis und damit letztlich auch der Histostructure of fiction.“ (V.J. Budig: The Self-Reflexive Historical Novel: Alejo Carpentier and Claude Simon. (1989), S. 496.) Ebenso E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. vii: „[…] strategies that turn epistemological questions concerning the nature and intelligibility of history into a literary theme.” Dagegen schlägt M. Fludernik als alternativen Begriff historical metafiction vor, um die Verwendung historiographischer Erzählstrategien in selbstreflexiven fiktionalen Texten definitorisch klarer zu fassen. (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 82f.) 220 Ebenso E. Wesseling, die im radikalen ontologischen Zweifel das Bindeglied zwischen dem postmodernen (selbstreflexiven) historischen Roman und der Metafiktion sieht. (E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. 5.) 221 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 53. Ihre Gleichsetzung von ‚Postmoderne’/ ’postmodernistischem Roman’ mit historiographic metafiction wurde von der Forschung wiederholt kritisiert. So schlägt A. Nünning den Begriff ‚historiographische Metafiktion’ zur Bezeichnung einer besonderen, inhaltlich definierten Unterform der Metafiktion vor bzw. zur metonymischen Bezeichnung postmoderner Spielarten des historischen Romans, in denen dieser Typus der Metafiktion dominant vorherrscht. (A. Nünning: „Historiographische Metafiktion.“ (2001), S. 252. So auch schon in A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 30f.) 222 Ausgelöst wurde diese Diskussion in den Geschichtswissenschaften von H. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. (1973) Vgl. ebenso die erzähltheoretisch orientierten Studien von W.B. Gallie, D. LaCapra, L. Gossman, L. Mink, A.C. Danto und P. Ricœur. Eine gute Zusammenfassung der Thematik bietet B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13-33. 89 riographie sprachlich bedingt und zeichenvermittelt ist sowie Konstruktcharakter besitzt. 223 Zentrales Merkmal der historiographischen Metafiktion im Vergleich zum traditionellen historischen Roman ist die Akzentverlagerung von der Darstellung des historischen Geschehens auf den Prozess der imaginativen Rekonstruktion von Geschichte sowie auf die Reflexion über Probleme der Historiographie. 224 Diese neue Schwerpunktsetzung erklärt die typischen Verfahren der historiographischen Metafiktion wie explizite Thematisierungen (durch fiktionale Sprecherinstanzen der extra- oder intradiegetischen Ebene) und implizite Inszenierungen (z.B. durch die Auswahl und Gestaltung der Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen oder aber durch die monobzw. multiperspektivische Darstellung des Geschehens) von Problemen der Historiographie und Geschichtstheorie. 225 Sie fungiert daher nicht nur als ein literarisches Medium kultureller und individueller Erinnerung und kollektiver Identitätsbildung, sondern 223 A. Nünning: „Historiographie.“ (2001), S. 251. An anderer Stelle spricht Nünning bezeichnenderweise von der „bi-referential tension” zwischen Fakt und Fiktion (A. Nünning: „Mapping the field of hybrid new genres in the contemporary novel. A critique of Lars Ole Sauerberg, Fact into Fiction and a survey of other recent approaches to the relationship between ‘fact’ and ‘fiction’.“ (1993), S. 298. Vgl. ebenso seine späteren Ergänzungen in A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 117.). Vgl. ebenso L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 24, 40. Auch Th. Irmer betont in seiner Definition des (postmodernen) historischen Romans den Konstruktcharakter der Geschichte (Th. Irmer: Metafiction, moving pictures, moving histories: der historische Roman in der Literatur der amerikanischen Postmoderne. (1995), S. 42.). Vgl. ebenso L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 93; F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 117. 224 A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 24. 225 So beschreibt z.B. L. Cazzato als zentrales Merkmal der historiographischen Metafiktion die Präsenz eines ‚Historikers im Text’, „[who] may use the discourse level to construct [his] historiographic discourse.“ (L. Cazzato: Metafiction of anxiety: modes and meanings of the postmodern self-conscious novel. (2000), S. 80.) Einen guten Überblick über die Typologie und Poetik historiographischer Metafiktion bietet A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), Bd. 1, S. 297-343; „Grenzüberschreitungen: Neue Tendenzen im historischen Roman.“ (1993) V.J. Budig situiert die reflexive historical novel im Hinblick auf ihre Poetik an die Schnittstelle zwischen dem Roman der westlichen Moderne und der modernen Historiographie (V.J. Budig: The Self-Reflexive Historical Novel: Alejo Carpentier and Claude Simon. (1989), S. 496.). M. Fludernik weist dagegen auf die besonderen fiktionalisierenden Techniken des ‚metafiktionalen historiographischen Romans’ hin wie z.B. die Introspektion in die Psyche Dritter, die Erfindung beigeordneter Charaktere, Ereignisse, Szenen, Dialoge etc., die fantastische Überformung historischer Episoden, die Darstellung der historischen Ereignisse aus der Sicht individueller Erfahrung (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 95.). 90 hat mit ihren metahistoriographischen Reflexionen auch zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Literatur beigetragen, indem sie die Frage nach dem epistemologischen Status der narrativen Repräsentation in den Mittelpunkt ihrer kritischen Selbstbefragung stellt. 226 Eine Variante der historiographischen Metafiktion stellt die autobzw. meta-biographische Metafiktion dar: dieser neue Typus der Autobiographie 227 problematisiert die Möglichkeit, ein ‚ganzes’ Leben - das eigene oder ein fremdes - durch die Kombination unzähliger Details in eine einzige Erzählung zu ‚gießen’, und präsentiert zugleich das erinnernde Ich nicht nur als Summe seiner (vergangenen) Handlungen, sondern auch als die seiner Wünsche und Imaginationen. 228 Wie schon im Falle des metafiktionalen Erzählens allgemein steht die Entstehung dieser Variante in einem engen Zusammenhang mit dem unter dem Namen linguistic turn bekannt gewordenen Paradigmenwechsel in der Philosophie und Literaturtheorie: die betreffenden Texte konstruieren Erinnerung und Gedächtnis in ihrer spezifischen sprachlichen Medialität, d.h. in der Art und Weise, wie sie in ihrer sprachlichen Verfasstheit Bedeutungen produzieren: als kulturelle bzw. kulturanthropologische Funktionen. 229 Typischerweise findet auf der Ebene des Textes - sowohl auf der histoireals auch auf der discours-Ebene 226 Vgl. A. Nünning: „Historiographische Metafiktion.“ (2001), S. 252; B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13. Vgl. auch L. Hutcheon: „Historiographic metafiction shows fiction to be historically conditioned and history to be discursively structured.“ (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 120.) 227 Ein Vergleich der Gattungsmerkmale der klassischen und der ‚neuen’ Autobiographie liefert D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 13. Sie beschreibt den jeweiligen ontologischen Status des Sprechers als fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Ausprägungsformen: in der traditionellen Autobiographie findet sich die von P. Lejeune beschriebene Identität von Autor, Erzähler und Figur. Dementsprechend zeichnen sich nach A. Jefferson: „Autobiography as Intertext - Barthes, Sarraute, Robbe-Grillet.“ (1990), S. 108f., die (fingierten) Autobiographien des Nouveau Roman durch die „[…] erosion of distinctions between real and imaginary […]“ sowie durch die „[…] subordination of representation to a self-reflexive process of writing […]“ aus. Vgl. ebenso D. Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. (1994), S. 26f.; C. Gronemann: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction - Nouvelle Autobiographie - Double Autobiographie - Aventure du texte. (2002), S. 24. 228 Eine Definition der auto-/ metabiographischen Metafiktion stammt von H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994); F. Davey: „Autobiographical Metafiction in Some Texts by Daphne Marlatt and Gail Scott.“ (1997), S. 127-34, und A. Nünning: „Grenzüberschreitungen: Neue Tendenzen im historischen Roman.“ (1993), S. 54-73. 229 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 12. 91 - eine Selbstreflexion der Autobiographie statt. Dies können z.B. explizite meta-autobiographische Reflexionen einer innerfiktionalen Instanz über die Unmöglichkeit der ‚unverfälschten’ Wiedergabe von in der Vergangenheit Erlebtem sein. 230 Auch das auto-/ biographische Schreibprojekt sowie die dadurch implizierten philosophischen Fragen (wie die nach dem ontologischen Verhältnis von erinnertem Leben und literarisch-ästhetischem Artefakt bzw. von Autobiographie und Fiktion) können im Mittelpunkt der autobiographischen Selbstbespiegelung stehen. 231 Ferner kann auch erzählerische unreliability ein Hinweis auf die fiktionale Form der Autobiographie sein. 232 Hingegen zählen zu den typischen implizit metafiktionalen Verfahren dieses „new type of autobiographical writing“ 233 , welche auf der strukturellen, narrativen und sprachlichen Ebene des Textes angesiedelt sind, insbesondere die Aufgabe der traditionellen strengen chronologischen Kontinuität zugunsten thematischer Erzähleinheiten, die mit dem zeitlichen Verlauf des berichteten Lebens verknüpft sind und den fiktivassoziativen Charakter der Lebenserinnerungen abbilden sollen. 234 Vor allem die offenkundige Fiktionalisierung und das „selbstreferentielle Spiel mit Sprache“ situieren (post)moderne Varianten der Autobiographie in der Nähe des fiktionalen Pols. 235 Weitere verdeckte metafiktionale Verfahren in fiktionalen Autobiographien sind die Dissoziation der Erzähldistanz/ des autobiographischen ‚Ich’ oder aber eine besondere Opazität der Sprache, welche eine Repräsentation vergangener Wirklichkeit verhindert. Die verschiedenen expliziten und impliziten Erzählstrategien fungieren in dieser Hinsicht als „epistemological disclaimers“; 236 sie bringen nicht nur die Skepsis des Autors gegenüber einer ‚wahren’ Repräsentation der in der 230 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 47f. Ebenso A. Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie.“ (1995), S. 287, die darauf hinweist, dass der für die fiktionale Autobiographie typische ‚fiktive Entwurf eines Lebens’ dieser Subgattung autobiographischen Erzählens einen „hybriden Charakter […] zwischen Fakt und Fiktion verleiht“. 231 H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 177. 232 M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 183. 233 H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 177. 234 Verschiedene Autoren haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch eine undifferenzierte Kategorisierung der genannten Verfahren als ‚metafiktional’ ist; diese können in einem anderen Zusammenhang auch als gattungskonstitutive Merkmale bzw. als Authentizitätsanspruch gelesen werden im Sinne einer Repräsentation der Gedächtnistätigkeit (So z.B. M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 39 bzw. S. 14.). 235 D. Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. (1994), S. 28. 236 Am ehesten zu übersetzen mit dem Begriff ‚epistemologische Dementi’. Siehe H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 171. 92 Vergangenheit erlebten Ereignisse zum Ausdruck, sondern auch seine Einsicht in die diskursive Konstruiertheit seines autobiographischen Selbst, das sowohl durch den Schreibakt als auch durch die ihn überhaupt erst ermöglichenden (auto-/ biographischen) Codes und Konventionen geschaffen wird. 237 Eine weitere Variante der Metafiktion stellt den jeweils verschiedenen ontologischen Status von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit und ihre objektive Erkennbarkeit in den Mittelpunkt ihrer Reflexion; diese Sonderform zeigt sich geprägt durch einen radikalen epistemologischen Zweifel. 238 Auch die epistemologische Metafiktion ist aus der Abgrenzung zu realistischen fiktionalen Erzählformen entstanden: Während die Autoren des realistischen Romans noch von der Erkennbarkeit und möglichen sprachlichen Repräsentation einer außertextuellen Wirklichkeit überzeugt waren, 239 237 Eng verwandt mit der autobiographischen Metafiktion ist die ‚biographische Metafiktion’ (auch ‚metabiographische Fiktion’ oder ‚fiktionale Biographie’ genannt), die von I. Schabert als „fiktionale Repräsentation eines Lebens“ (I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 4.) definiert wird im Sinne eines „conditional statement“ (I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 61.) und welche ausschließlich die Imaginationen eines Erzählers präsentiert (Ebd. Vgl. auch I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 8.). Dieser besondere, fiktionale, Typus der Biographie greift explizit auf fiktionale Erzählmodi zurück wie „multileveled first-person narrative“ oder kontrastierende Erzählerperspektiven (I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 61f.). A. Nünning hat diesen innovativen Typus der traditionellen Biographie ausführlich definiert, von der traditionellen Biographie abgegrenzt, typologisiert sowie funktionalisiert. Er betont, dass über eine imaginative Aneignung des biographischen Materials hinaus in fiktionalen Biographien auch eine „[…] kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden Formen historiographischer Sinnbildung, dem kulturellen Erbe und literarischen Konventionen […]“ stattfindet (A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 26.). 238 B. McHale dagegen unterscheidet die epistemologischen Fragestellungen des modernen Romans von den ontologischen des postmodernen Romans: Während in modernen Texten die Thematik durch die Frage nach der Erkenn- und Interpretierbarkeit der äußeren Welt durch das erkennende Bewusstsein bestimmt wird, stehen im Mittelpunkt postmoderner Texte die Welt(en) bzw. die Identität(en) des Subjekts selbst (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987). S. 9f.). 239 Vgl. D. Lodges Definition des ‚Realismus‘, D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 40: „It is a tradition which depends upon certain assumptions, especially the assumption that there is a common phenomenal world that may be reliably described by the methods of empirical history, located where the private worlds that each individual creates and inhabits partially overlap. Hence the typical narrative method for this kind of novel is the third-person, past-tense narrative in which, whether the narrator chooses to intervene rhetorically or not, the grammar is a constant sign of his presence, and hence 93 stellen die metafiktional geprägten Romane der Postmoderne die sprachlichen und allgemein epistemologischen Grundlagen des Realismus sowie seine narrativen Konventionen in Frage. 240 So wird die poststrukturalistische Prämisse von der fundamentalen ontologischen Grenze, welche die äußere Realität und ihre sprachliche Repräsentation voneinander trennt, von den postmodernen Autoren auf den Roman übertragen: die verschiedenen metanarrativen, metasprachlichen und metafiktionalen Verfahren unterstreichen die Autonomie der (literarischen) Sprache und lassen den Text letztendlich immer nur auf sich selbst verweisen. 241 Im Zentrum dieser epistemologischen Romane steht stets die metafiktionale Offenlegung der „[…] disparity between fiction and the external world […]“. 242 A. Nünning hat in diesem Kontext die insbesondere in historischen Romanen verhandelten epistemologischen Zweifel an der objektiven Natur historiographischer Konstruktionen sowie an der Fähigkeit eines Historikers, die Vergangenheit anders als durch Texte zu erkennen, untersucht. 243 Die Thematisierung von Problemen, die mit der nachträglichen Erkennbarkeit von vergangener Wirklichkeit zusammenhängen, weisen den Leser darauf hin, „[…] that our models of reality and history are as much an intellectual construction as the fictional worlds projected in [the] novel.“ 244 Die anti-mimetische Metafiktion als eine der epistemologischen Metafiktion untergeordnete Variante trägt ebenfalls der Ablehnung des (naiven) Mimesis-Begriffs des Realismus in der Postmoderne Rechnung. Während of some context, some reality larger than that defined by the limits of any character’s consciousness.” 240 So weist I. Hassan bereits 1971 auf die epistemologischen Fragestellungen im französischen Nouveau Roman hin (I. Hassan: The Dismemberment of Orpheus: Toward a Post- Modern Literature. (1979)). 241 Vgl. z.B. A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 105ff. Man denke an die selbst-referentiellen Erzählverfahren des Nouveau Roman wie die générateurs, d.h. die ‚Produktion’ einer Erzählung nach dem Prinzip der Variation, sowie die mots-carrefour in der Poetik Claude Simons. 242 I. Christensen: The Meaning of Metafiction: A Critical Study of Selected Novels by Sterne, Nabokov, Barth and Beckett. (1981), S. 22. 243 A. Nünning: „‘Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit’: Struktur, Intertextualität und Metafiktion als Mittel poetologischer Selbstreflexion in Peter Ackroyds Chatterton.“ (1994), S. 46; A. Nünning: „‘The Past Is the Fiction of the Present’: Constructivist Reflections on Susan Daitch’s L.C. as a Novel about the Recording of History.“ (1994), S. 297. Ebenso B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13. 244 A. Nünning: „‘The Past Is the Fiction of the Present’: Constructivist Reflections on Susan Daitch’s L.C. as a Novel about the Recording of History.“ (1994), S. 298. Mit D. Frank muss in diesem Kontext betont werden, dass der ontologische Zweifel metafiktionaler Romane sich auf die zur Verfügung stehenden Formen der Welterfassung bezieht, jedoch nicht auf die Existenz einer a priori feststehenden Realität (D. Frank: Das Paradox der Metafiktion: Selbstreflexivität in neueren deutschen Erzähltexten. (1995), S. 33.). 94 in der Theorie des Realismus die Referenz von Kunst und Literatur auf Außertextuelles bzw. ihre „Fähigkeit zur Nachahmung einer vorkünstlerischen, außerliterarischen Wirklichkeit“ 245 als ihre primäre Funktion festgelegt war, wird diese Funktion in der Postmoderne zunehmend in Frage gestellt. Metafiktion verweist durch explizite Thematisierung oder implizite Inszenierung auf ihre eigene Textualität, auf ihren Status eines aus Diskursen bzw. aus Sprache konstruierten Artefakts und zieht auf diese Weise die traditionellen Annahmen über die mimetische Funktion des Romans in ihren eigenen Grenzen in Zweifel und betont den eigenen autonomen Status. 246 Statt die außerliterarische Lebenswelt mit den traditionellen realistischen Erzählverfahren auf vertraute Weise narrativ reproduziert zu sehen, soll dem Leser die Erkennbarkeit der Realität und ihre sprachliche Repräsentierbarkeit fragwürdig werden. 2.3 ‚Metanarration’ - Definitionen und Typologisierungen Angesichts der differenzierten Theoretisierung der Metafiktion und ihrer Subgattungen überrascht die relativ geringe Zahl an Veröffentlichungen zur Metanarration, 247 sind doch beide Phänomene als Unterkategorien autoreferentieller Diskurse eng verwandt. Die erste Definition von signes métanarratifs stammt von G. Prince und fügt sich in einen größeren narratologischen Kontext ein: „Chaque fois que le discours narratif (au sens large) renvoie au code qui le sous-tend ou, plus spécifiquement, chaque fois qu’il accomplit (paraît accomplir) une action 245 H. Zapf: „Mimesis.“ (2001), S. 441. 246 L. Hutcheon: „Metafictional Implications for Novelistic Reference.“ (1987), S. 2. Ebenso: C. Burgass: „Reading against Theory: Mimesis and Metafiction in the Postmodern Novel.“ (1996), S. 243. Vgl. auch A. J. Elias, die zwischen der epistemologischen Dominante des modernen Romans (‚Wie ist diese Welt? ’) und der ontologischen Dominante des postmodernen Romans (‚Welche Welt ist das? Was ist Welt? ’) unterscheidet. (A.J. Elias: „Meta-Mimesis? The Problem of British Postmodern Realism.“ (1993), S. 12.) 247 So konstatiert auch M. Fludernik die kaum vorhandene Präsenz des Begriffs nicht nur in der deutschen literaturwissenschaftlichen bzw. narratologischen Terminologie und würdigt in diesem Zusammenhang A. Nünnings Verdienst, die erste Begriffsbestimmung und Typologisierung im deutschen Sprachraum vorgenommen zu haben (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 1, 30.). Mittlerweile zeichnet sich jedoch im Anschluss an A. Nünnings Theorieentwurf eine breitere Verwendung des Begriffs ab und seine Übernahme auch von benachbarten Literaturwissenschaften, vgl. z.B. R. Zaiser: „La Mise en abyme au dix-septième siècle: Récit spéculaire et métanarration dans les romans de Sorel, de Scarron et de Furetière.“ (2006). 95 de glose par rapport à l’un de ses propres éléments, nous avons affaire à des signes métanarratifs.“ 248 Während hier die Eingrenzung des discours narratif noch ausbleibt und der Terminus selbst nicht geklärt wird, stammt der nächste Definitionsvorschlag von W. Wolf, der als ‚Metanarration’ die Thematisierung der Bauformen des Erzählens durch implizit metafiktionale Kommentare definiert. 249 Doch erst A. Nünning liefert eine präzisere Begriffsbestimmung, die zugleich auch eine Abgrenzung zur Metafiktion vornimmt: Während ‚Metanarration’ wertneutral das eigene Erzählen bzw. den eigenen Erzählvorgang thematisiert, verweist der Begriff ‚Metafiktion’ autoreferentiell auf die Fiktionalität des Erzählten oder auch des Erzählens. 250 Per definitionem sind metanarrative Äußerungen von binnentextuellen Instanzen nicht allein auf fiktionale Genres beschränkt, sondern sie können auch in faktualen Gattungen wie der Autobiographie bzw. in nichttextuellen Medien erscheinen; metafiktionale Kommentare sind jedoch auf den Kontext der Fiktion begrenzt. 251 A. Nünning unterscheidet in seinem Modell 252 zunächst unterschiedliche Grade narrativer Selbstreflexivität, die er auf einer Skala mit den Polen ‚ausgeprägtes Maß an Selbstreflexivität’ sowie ‚nicht bewusst erzählende Erzähler’ verortet. 253 Anschließend ergänzt Nünning diese Skalierung um formal, strukturell und inhaltlich bestimmte Unterformen von Metanarra- 248 G. Prince: „Remarques sur les signes métanarratifs.“ (1977), S. e-1f. Später definiert er genauer als ‘metanarrative’ „[…] the passages or units in a narrative that refer explicitly to the codes or subcodes in terms of which the narrative signifies.“ (G. Prince: A Dictionary of Narratology. (2003), S. 51.) 249 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 286. 250 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 129. In seiner kurzen Skizze der Forschungsgeschichte zur Metanarration weist A. Nünning darauf hin, dass metanarrative Phänomene im englischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch unter metafiction subsumiert werden. Es sei nur das Adjektiv metanarrative geläufig, dieses werde aber wiederum zum Substantiv metafiction gebildet (A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001)). 251 Ebd., S. 130. Darüber hinaus nennt Nünning weitere nicht-metanarrative textuelle Phänomene wie die mise en abyme, Spiegelungsverfahren sowie metasprachliche Kommentare oder Inszenierungen (Ebd., S. 132). 252 Nünnings Typologie orientiert sich an W. Wolfs Systematik metafiktionalen Erzählens (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993)) 253 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 133: narrative self-consciousness und narrative unconsciousness. 96 tion, die er darüber hinaus durch wirkungsästhetisch und funktional bestimmte Kriterien ergänzt und differenziert. 254 Die formal bestimmten Formen der Metanarration lassen sich nach der Kommunikationsebene 255 unterscheiden, auf der die textuellen Erzähler ihr Erzählen thematisieren: Figuren der erzählten Welt, übergeordnete Erzählinstanzen, Figuren/ Erzähler auf eingebetteten Ebenen oder z.B. fiktive Herausgeber auf paratextuellen Ebenen. Ebenso lassen sich gleichgeordnete (Subjekt der Äußerung und thematisiertes Objekt befinden sich auf der gleichen Kommunikationsebene) und metaleptische Formen unterscheiden (Transgression der Grenze zwischen extradiegetischer und intradiegetischer Welt). In diesem Zusammenhang differenziert Nünning ähnlich wie Wolf auch zwischen impliziten (hierzu zählen z.B. die strukturbewussten Regiebemerkungen eines Erzählers, die ‚Pose des Nichtwissens’, wie die Geschichte weitergeht, sowie Leseranreden) und expliziten Formen (direkte Thematisierungen des Erzählakts). Zuletzt nennt Nünning mit Blick auf die Kommunikationsebene metaphorische (z.B. Umschreibungen für das Erzählen wie Reise- oder Filmmetaphern) und nichtmetaphorische Formen (die direkte Bezeichnung von Aspekten des Erzählens). 256 Strukturell bestimmte Formen der Metanarration zeichnen sich ihrerseits durch ihre Position im Text aus (im Hinblick auf ihre Lage im Romanganzen, ihre Frequenz, ihren Umfang, ihren Kontext, ihren Grad an kontextueller Plausibilität sowie auf den Grad der Abschweifung vom jeweiligen Geschehen); bei diesen Formen handelt es sich laut Nünning immer um explizite Metanarration. 257 Die inhaltlichen Formen schließlich werden durch das jeweilige Objekt charakterisiert, auf das sich die selbstreflexiven metanarrativen Äußerungen beziehen. Nach dem Gegenstandsbereich der metanarrativen Referenz lassen sich selektive Formen von umfassenden unterscheiden, je nach dem Referenzbezug beziehen sich die Kommentare auf das eigene Erzählen, auf die Erzählweise fremder Texte/ Autoren, auf das Erzählen allgemein, auf Elemente desselben Textes sowie auf jene anderer Texte. Weiterhin lassen sich storybzw. histoire-orientierte Metanarration von discours-zentrierter Metanarration unterscheiden; letztere können sich wiederum auf den Erzähler, auf den Kanal oder auf den Leser beziehen. Darüber hinaus kann sich der Kommentar auf die Gattung bzw. Textsortenzugehörigkeit der 254 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 135. 255 In seiner Systematik folgt Nünning dem narratologischen Modell G. Genettes (G. Genette: Figures III. (1972)) 256 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 135-138. 257 Ebd., S. 138-141. 97 Erzählung beziehen oder diese unerwähnt lassen. Auch kann der Erzähler bzw. die Erzählinstanz die eigene narrative Kompetenz einschätzen; dabei handelt es sich entweder um eine affirmative oder um eine unterminierende Metanarration. Und schließlich lässt sich Metanarration auch danach unterscheiden, wie die Haltung des jeweiligen Aussagesubjekts zu den thematisierten Erzählformen ist. 258 Die vierte und letzte Kategorie unterscheidet wirkungsästhetisch bzw. funktional bestimmte Formen; dabei steht das Wirkungs- und Funktionspotential der jeweiligen metanarrativen Äußerung im Mittelpunkt. Im Einzelnen sind mündlichbzw. schriftlichkeitsfingierende Metanarrationen zu unterscheiden, distanzverringernde und -vergrößernde metanarrative Kommentare sowie illusionskompatible und -störende Metanarration. 259 Zu den typischen Verfahren metanarrativer Texte gehören z.B. auch extradiegetische Erzähler, deren metanarrative Kommentare durchaus auch über einen metafiktionalen Impetus verfügen können. 260 Nicht zuletzt fungieren metanarrative Reflexionen als Metafiktion, wenn sie hinsichtlich ihrer Erzähllogik inkonsistent sind. 261 2.4 Zusammenfassung Der Überblick über die bislang erfolgten Konzeptualisierungen der Metafiktion hat gezeigt, dass die drei Modelle von Hutcheon, Lauzen und Wolf zwar erstmals die in den Texten beobachteten selbstreflexiven und als metafiktional klassifizierten Phänomene auf einschlägige narratologische Kategorien wie die histoire- und die discours-Ebene des Erzähltextes bezogen haben. Dennoch bleiben die drei Ansätze vor allem im Hinblick auf die Systematisierung der impliziten Metafiktion unvollständig: So schlägt Wolf in seinen Arbeiten zur Metafiktion nur eine ungenaue Definition dieser 258 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 142-146. 259 Ebd., S. 146-148. Im Hinblick auf eine Funktionalisierung metanarrativen Erzählens unterscheidet Nünning - ausgehend von den Ergebnissen seiner metanarrativen Analyse des englischen Romans - sieben Funktionen: Zu nennen sind die authentizitätsbezogene Funktion, die kohärenzstiftende F., die mnemotechnische F., die phatische F., die kommunikative F., die spannungserzeugende F., die didaktische F., die komische F., die parodistische F., die poetologische F., die metafiktionale F., sowie die illusionsstörende Funktion. Nünning betont, dass die Funktionen metanarrativen Erzählens historischem Wandel unterliegen und in der Regel gebündelt in fiktionalen Erzähltexten auftreten. (Ebd., S. 150-159.) 260 Ebd., S. 136. 261 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 237. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein zunächst scheinbar faktualer Text plötzlich als fiktionaler entlarvt wird. 98 verdeckten Variante metafiktionalen Erzählens vor. Zwar setzt er die von ihm als illusionsstörend bestimmten Verfahren der ‚Entwertung der Geschichte’ sowie der ‚Auffälligkeit der Vermittlung’ mit der impliziten Metafiktion gleich, ohne jedoch genauer zu bestimmen, inwieweit die genannten Verfahren tatsächlich metafiktional fungieren. Darüber hinaus besitzt Wolfs Unterscheidung von fictio- und fictumthematisierenden expliziten Formen der Metafiktion in der textanalytischen Praxis nur einen geringen Erkenntniswert, da die Unterschiede zwischen der Offenlegung der ‚Künstlichkeit im Sinne von erfunden’ sowie der Offenlegung der ‚Künstlichkeit im Sinne von gemacht’ letztendlich nicht deutlich werden. Es fehlt in diesem Zusammenhang der konkrete Bezug auf das Vergleichsobjekt: Es sind ja die fingiert faktualen Texte wie z.B. der realistische Roman des 19. Jahrhunderts, welche die Erfundenheit des eigenen Gegenstands zu verbergen suchen, und deren wirklichkeitsillusionierenden, auf das Vertuschen der eigenen Künstlichkeit abzielenden, Konventionen von metafiktionalen Texten augenzwinkernd und in Form metaästhetischer Kommentare aufgedeckt werden. Eine Schwäche der Theoriebildung ist auch Wolfs völliges Ausblenden etablierter narrativer Kategorien wie z.B. G. Genettes Systematik der Zeitgestaltung in Erzähltexten, F.K. Stanzels Unterscheidung zwischen Erzähler- und Reflektorfiguren oder das in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft entwickelte Konzept des unreliable narrator. Diese Missachtung wichtiger narratologischer Modelle hat zur Folge, dass Wolfs Konzept der Metafiktion eine abstrakte Kategorie der Wirkungsästhetik bleibt, aber nicht an elementare narrative Elemente der betreffenden fiktional-narrativen Texte rückgebunden ist. Es ist vor allem diese Lakune in der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen, die eine Neukonzeptionierung der Metafiktion notwendig macht, sollen praktikable, d.h. im Rahmen einer Textanalyse anwendbare narratologische Kategorien der Metafiktion zur Verfügung stehen. Dabei sollen die metafiktionalen Textstrategien, die sich insbesondere im spät- und postmodernistischen Roman nachweisen lassen, auf narratologische Analysekategorien wie das Erzählerkonzept, die Zeitgestaltung sowie die Struktur von Erzähltexten bezogen werden. Zugleich ist es notwendig, den Terminus ‚Metafiktion’ und seine Derivate ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ deutlicher voneinander abzugrenzen. Auch hier scheint Wolfs Unterscheidung zwischen fictio- und fictum-thematisierender Metafiktion - also einerseits der selbstreferentielle Bezug auf die eigene ‚Gemachtheit’, die Qualität des Textes als ein Artefakt, und andererseits der Bezug auf die eigene ‚Erfundenheit’, die Nicht-Referentialisierbarkeit auf eine extratextuelle Welt - das Wesen der ‚Metafiktion’ in fiktionalen Erzähltexten nur unzureichend zu beschreiben. 99 Im Folgenden soll daher der literaturwissenschaftliche Terminus ‚Metafiktion’ auf der Grundlage einer narratologischen Definition des Wortstammes ‚Fiktion’ neu bestimmt werden. Denn per definitionem bezeichnet ja ‚Metafiktion’ den auto- oder heteroreferentiellen Diskurs über die Fiktion entweder des eigenen Textes oder von anderen Texten und Medien; es ist daher naheliegend, zunächst nach dem Gegenstandsbereich von ‚Fiktion’ im Zusammenhang mit fiktional-narrativen Texten zu fragen: Wie manifestiert sich ‚Fiktion’ bzw. ‚Fiktionalität’ in einem Erzähltext, an welchen Orten in der Struktur des Textes wird die ‚A-Referentialität’ beschreibbar? In dem hier skizzierten Rahmen wird ‚Metafiktion’ somit zunächst als Diskurs - als Thematisierung und auch Inszenierung - über die in der narrativen Struktur angelegte Fiktion des Textes definiert. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage nach dem Vergleichsobjekt der Fiktionalität bzw. der Fiktivität: Zu welchen ‚realen’ Kategorien stehen fiktionale Texte durch ihre eingeschriebene Nicht-Wirklichkeit bzw. Künstlichkeit in Opposition? 101 3 Ein narratologisches Modell der Metafiktion: ‚Metafiktivität’ und ‚Metafiktionalität’ Wie der Überblick über die wichtigsten Konzeptionalisierungen metafiktionalen Erzählens gezeigt hat, rekurrieren die bisherigen Modelle der Metafiktion nicht deutlich genug auf narratologische Analysekategorien. Zwar entwickelten sowohl L. Hutcheon als auch W. Wolf differenzierte Typologien der expliziten Varianten, doch bleibt die Verknüpfung der impliziten, verdeckten Formen der Metafiktion mit den narrativen Ebenen des discours und der histoire sowie mit einschlägigen narrativen Kategorien wie z.B. Erzähler und Zeitgestaltung ein Desiderat. Vor allem Wolfs Vorschlag, die impliziten Varianten mit den von ihm als ‚illusionsstörend’ klassifizierten Kategorien der ‚Entwertung der Geschichte’ und der ‚Auffälligkeit der Vermittlung’ gleichzusetzen, ist nicht überzeugend, da sich in seinen Überlegungen deutlich die fehlende Rezeption einschlägiger narratologischer Modelle wie Genettes Überlegungen zur Zeitstruktur narrativer Texte oder das auf Booth zurückgehende Konzept der unreliable narration zeigt. Die vorliegende Arbeit will Metafiktion stärker mit narratologischen Analysekategorien verknüpfen und metafiktionale Phänomene auf die histoire- und discours-Ebenen narrativer Texte beziehen. Dabei soll F. Zipfels sprachhandlungstheoretisches Modell der Fiktion Orientierung bieten: er verortet ‚Fiktion’ einerseits auf der Ebene der Geschichte und zum anderen auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung. ‚Metafiktion’ soll daher definiert sein als autoreferentielle bzw. metatextuelle Rede über Fiktion auf der Ebene der histoire und auf der des discours. Um den übergeordneten metafiktionalen Diskurs über Fiktion jedoch genauer beschreiben zu können, muss zunächst der Begriffsinhalt von ‚Fiktion’ eingegrenzt werden. Die Forschungslage zur ‚Fiktion’ stellt sich ähnlich heterogen dar wie diejenige zur Metafiktion: Eine Vielzahl konkurrierender Begriffsbestimmungen und Konzepte stehen nebeneinander und zielen häufig auf ganz unterschiedliche Phänomene. 1 Dies ist umso er- 1 Z.B. J.H. Petersen: „Es kommt eine kaum verständliche, jedenfalls heillose Begriffsverwirrung, ja Begriffslosigkeit hinsichtlich des Problemfeldes ‚Fiktionalität’, ‚Fiktion’, ‚Fiktivität’ usf. hinzu.“ (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 9. Ebenso: W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 284; J.F. Ihwe: „Sprachphilosophie, Literaturwissenschaft und Ethik: Anregungen zur Diskussion des Fiktionsbegriffs.“ (1979), S. 208; W. Iser: „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? “ (1983), S. 121; K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117; F. Zipfel: Fiktion, 102 staunlicher, als die ‚Fiktion’ bzw. ‚Fiktionalität’ von Kunstwerken im Allgemeinen und von literarischen Texten im Besonderen - wohl als ‚Nebenprodukt’ des alle kulturellen Bereiche affizierenden postmodernen Zweifels an der Erkennbarkeit der Welt - in den vergangenen dreißig Jahren 2 zu einem der wichtigsten Forschungsfelder der Literaturwissenschaft geworden ist. 3 Einerseits lässt sich auch hier eine an den alltagssprachlichen Gebrauch angelehnte Begriffsverwendung von ‚Fiktion’ im Sinne von ‚erfunden’ bzw. ‚nicht-wirklich’, folglich im Sinne von „Nichtreferentialisierbarkeit“ 4 , konstatieren. Andererseits werden die Derivate von ‚Fiktion’ - ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’ - nicht deutlich genug voneinander unterschieden, sondern häufig synonym gebraucht. Um dennoch den Begriffsinhalt von ‚Fiktion’ so einzugrenzen, dass er im Folgenden als Ausgangspunkt für eine Definition von ‚Metafiktion’ fungieren kann, wird nach einem kurzen Überblick über die Etymologie des Begriffs ‚Fiktion’ narratologisch definiert und von konkurrierenden Begriffsbestimmungen abgegrenzt. Dabei wird der Schwerpunkt der Ausführungen vor allem auf F. Zipfels sprachhandlungstheoretischer Definition fiktionalen Erzählens liegen. Im Anschluss wird auf der Grundlage seines Konzepts von ‚Fiktion’ ein neues Modell metafiktionalen Erzählens entwickelt werden, das Metafiktion einerseits als ‚metafiktiven’ Diskurs über Fiktion auf der Ebene der Geschichte und andererseits als ‚metafiktionalen’ Diskurs auf der Ebene des Erzählens beschreibt. Neu ist in diesem Zusammenhang der Rekurs auf narratologische Analysekategorien, der zu einer wertneutralen Bestimmung führt: ‚Metafiktion’ wird in der vorliegenden Arbeit nicht mehr wie noch bei Wolf wirkungsästhetisch als illusions(zer)störende Abweichung von den Kategorien „illusionistischer Narrativik“ 5 verstanden, son- Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 13.) 2 Seit ca. 1969 ist ein Einsetzen der literaturtheoretischen Diskussion über Fiktionalität in Deutschland zu beobachten, die in den 1970er und 1980er Jahren einen Höhepunkt erreicht und in den 1990er Jahren bereits wieder abflaut. Im französischen Sprachraum erstarkt in dieser Dekade erst das Interesse, während in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft dieses seit den Anfängen der sprachanalytischen Philosophie ungebrochen ist. (W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 281; F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 63.) 3 In diesen theoretischen Kontext ist auch die poststrukturalistische „doctrine of panfictionality“ einzuordnen, die auf der These fußt, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion destabilisiert und keine genaue Unterscheidung zwischen beiden Bereichen mehr möglich sei. (Vgl. hierzu M.-L. Ryan: „Postmodernism and the Doctrine of Panfictionality.“ (1997), S. 165.) 4 K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117. 5 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 199ff. 103 dern vielmehr wertneutral als Thematisierung und Inszenierung von ‚Erfundenheit’ bezogen auf die erzählte Welt sowie auf die Darstellungsform. Dem neuen Theorieentwurf sei die These vorangestellt, dass sich metafiktionale Texte stets vom Modell des realistischen fiktionalen Erzähltexts abgrenzen, dessen narratives Ziel im Sinne einer Verschleierung der eigenen Fiktionalität besonders im Herstellen fingierter Faktizität besteht. Metafiktion dagegen spielt mit den Konventionen des realistischen Romans und deckt die in den Strukturen verborgene Fiktionalität auf. 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale Die Diskussion über narrative Fiktion bzw. narrative Fiktionalität zeigt sich geprägt von der oftmals unreflektiert synonymen Verwendung der Begriffe ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’. Auch kann je nach literaturwissenschaftlicher Provenienz des jeweiligen Benutzers bereits der Terminus ‚Fiktion’ ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnen, sei es ‚Erfundenes’ wie im deutschen und französischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch oder ‚Erzähltext’ wie in der anglistischen und amerikanistischen Literaturwissenschaft. 3.1.1 Etymologie Der deutsche Begriff ‚Fiktion’ 6 (englisch fiction, französisch fiction) 7 geht auf das griechische Wort î mit der Bedeutung ‚Lehm’ bzw. ‚die aus Lehm Wolf nennt hier folgende textinterne Prinzipien der Illusionsbildung (diese zielen auf die Erzeugung von Wahrscheinlichkeit und Attraktivität sowie auf die Verhüllung von Künstlichkeit ab): das Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit, das Prinzip der Sinnzentriertheit, das Prinzip der Perspektivität, das Prinzip der Mediumsadäquatheit, das Prinzip der Interessantheit der Geschichte sowie das Celare-artem-Prinzip (Ebd., S. 115-199.). 6 Vgl. hierzu U. Japp: „Die literarische Fiktion.“ (1995), S. 47ff. 7 Wie Zipfel deutlich macht, existieren sowohl im Englischen als auch im Französischen von fiction abgeleitete Adjektive: So werden im Englischen neben dem Substantiv fiction auch die Adjektive fictive, fictional und fictitious verwendet, wobei mit Bezug auf literarische Texte fast ausschließlich fictional verwendet wird, fictive dagegen eher selten, fictitious fast nie, wohl auch wegen der Konnotation ‚gefälscht’. Es findet keine semantische Differenzierung zwischen fictive und fictional statt; beide Wörter werden synonym gebraucht. - Im Französischen unterscheidet der Petit Robert hingegen zwischen fictif/ fictive als ‚allégorique’, ‚fabuleux’, ‚imaginaire’, ‚faux’, ‚feint’ und fictionnel/ fictionnelle als ‚qui relève de la fiction’. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 19; J. Rey-Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 917.) 104 geknetete Mauer’ zurück. 8 Diese ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes - ‚eine Mauer bauen’ bzw. ‚aus Lehm bilden, formen’ - ist auch in das lateinische fingere eingegangen; erst später treten die Mauer und der Lehm in den Hintergrund zugunsten der allgemeineren Bedeutungen des Bildens, Formens und Darstellens. Damit wird der Ausdifferenzierung von fingere in eine pejorative und eine meliorative Bedeutung bereits der Boden bereitet: So war das fictum im Sinne von Erdichtung und Lüge zu verstehen, während die fictio eher wertneutral auf Bildung und Gestaltung verwies. 9 Im Laufe der Wortgeschichte gerät diese Unterscheidung zunehmend in Vergessenheit, bis sich in einem allgemeinen Verständnis, aber auch im lexikalischen Grundwissen unserer Zeit, die Gleichung ‚Fiktion’ = ‚Erdichtung’ durchgesetzt hat. Darüber hinaus büßt der Terminus ‚Fiktion’ in der Gegenwart seinen in der Antike angelegten weiten Gegenstandsbereich ein und bezeichnet heute nicht mehr die bildende Kunst, sondern vorwiegend literarische Texte und in einer weiteren Verengung vornehmlich im englischen und amerikanischen Sprachgebrauch allein Erzähltexte. 10 8 Dabei weist der Bedeutungswandel des griechischen Urwortes auf das Entstehungsdatum des Phänomens selbst hin: die Genese der Fiktion wird als Konsequenz der Entstehung der Schrift und des damit einhergehenden Rezeptionswandels gesehen: „Texte“ wurden nun nicht mehr mündlich vorgetragen bzw. -gesungen, sondern der Leser hat den Text allein und im Stillen rezipiert; dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Gestaltung der Texte selbst. (Hierzu W. Rösler: „Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike.“ (1980), S. 285.) In einer anderen Interpretation wird die „Scheidung von Fiktion und Realität“ erst in das 12. Jahrhundert verlegt; sie wird an der auf Platon zurückgehenden, kirchlichen Kritik am Fiktiven (fable) wie z.B. an der Artussage der Matière de Bretagne sichtbar. (H.R. Jauß: „Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität.“ (1983), S. 427f.) Interessanterweise macht der „Grundtext der Moderne“, Miguel de Cervantes’ Don Quijote, die nun vollzogene Scheidung von Fiktion und Realität zum Thema und kann deswegen als erster „Antiroman“ der Literaturgeschichte aufgefasst werden. (Ebd., S. 430.). 9 Die fiktionskritische Konnotation von fictum verweist natürlich zurück auf den Ursprung des Fiktionalitätsproblems in der Antike mit den Polen von Platons globalem Lügenvorwurf einerseits und Aristoteles’ ebenso emphatischer Wertschätzung der Dichter als Vermittler der ‚wahren Natur’ (W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 281; Platon: Der Staat. (Politeia) Übers. und Hg. v. Karl Vretska. (1982), X, 4; Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. (2001), 1451a-1451b.) 10 Diese zweifache Verengung der ursprünglichen Bedeutung auf ‚Erfundenes’ und ‚Erzählliteratur in Prosa’ kommt auch in der Verwendung des englischen Begriffs fiction („(branch of literature concerned with) stories, novels and romances“ (A.S. Hornby: Oxford Advanced Learner’s dictionary of current english. (1974), S. 322.)) und des französischen Terminus fiction („création de l’imagination, en littérature“ (J. Rey- Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 917.)) zur Bezeichnung von Textsorten zum Tragen. Im Deutschen hingegen blieb ‚Fiktion’ auf die Dichtungsbzw. Fiktionstheorie beschränkt und wurde als Gattungsbegriff zuerst in die Volkskunde eingeführt (‚Fikti- 105 3.1.2 Definitionsansätze: Alltagssprache, Sprachphilosophie, Narratologie Wie einleitend bereits dargelegt wurde, existieren in der Literaturwissenschaft bislang keine konsensfähigen und allgemeingültigen Definitionen von ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’. Vielmehr lassen sich zwei Begriffsverwendungen in der deutschsprachigen und in der anglophonen Literaturwissenschaft unterscheiden: zum einen eine auf dem alltagssprachlichen Gebrauch von ‚Fiktion’ basierende Bestimmung des Fiktionalen als etwas ‚Erfundenes’ ohne (verifizierbare) Referenz auf eine reale, außertextuelle Wirklichkeit. Zum anderen der Versuch der sprachphilosophischen und narratologischen Theorie, eine Ineinssetzung von ‚fiktional’ und ‚erfunden’ als falsch nachzuweisen und alternative Begriffsbestimmungen vorzuschlagen. 11 Im heutigen alltagssprachlichen Gebrauch hat sich im Deutschen die pejorative Bedeutung von fictum durchgesetzt: Laut dem neuen Duden bezeichnet ‚Fiktion’ etwas „Erdachtes“ bzw. eine „falsche Annahme“. 12 Diese alltagssprachliche Verwendung hat Eingang gefunden in den fachwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs 13 und führte zu der Gleichsetzung von on’, ‚Fiktionsmärchen’). (Vgl. hierzu N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1106; K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 111f.) 11 Einen Überblick über die Forschungsgeschichte zur ‚Fiktion’ liefert G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 597f. Er unterscheidet eine philosophische (hierzu zählen vor allem die analytische Sprachphilosophie und die Sprechakttheorie) von einer literaturtheoretischen Tradition, die im deutschen Sprachraum ihren Anfang mit Käte Hamburgers Logik der Dichtung nimmt. Während erstere das Nachahmungsproblem in das Zentrum ihres Forschungsinteresses gestellt hat - die Frage, wie Dichtung trotz oder gerade wegen ihrer Aufhebung eines direkten Wirklichkeitsbezugs einen Wert und insbesondere einen Erkenntniswert haben kann - zeigt sich letztere durch die Erwartung geprägt, den Begriff der ‚Fiktion’, im Unterschied zu den Begriffen der ‚Dichtung’ oder der ‚Literatur’, leichter zu bestimmen, beispielsweise dadurch, dass Listen mit eindeutigen Fiktionssignalen erstellt werden. Daneben gibt es weitere Definitionsansätze wie z.B. die semantisch-pragmatische Theorie der ‚möglichen Welten’ (Hierzu u.a. M. Orosz: „Fiktionalität in literarischen narrativen Texten.“ (1984)). 12 Dudenredaktion (Hg.): Duden. Die deutsche Rechtschreibung. (2006), S. 405. 13 So auch K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 111f. Vgl. z.B. Zipfel, der die für seine Studie grundlegenden Adjektive ‚fiktiv’ und ‚fiktional’ „[…] gemäß den entsprechenden Duden-Definitionen gebraucht.“ (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 19.) Darüber hinaus beruht auch seine Definition von ‚Fiktion’ - „[die] sprachliche Darstellung von erfundenen, nicht-wirklichen Sachverhalten“ - auf der Duden-Definition. (Ebd., S. 19 und S. 57.) Ebenso definieren Fiktionales als ‚erfunden’ z.B. N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1105; G. Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. (1975), S. 28; D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106. Im Gegensatz dazu kritisieren I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragma- 106 Literatur mit Fiktionalität bzw. zur Bestimmung von Fiktionalität als notwendiger und hinreichender Bedingung von Literatur. 14 In der neueren Literaturwissenschaft wurde die vormals enge Beziehung zwischen Literatur und Fiktionalität gelockert; der Literaturbegriff wurde auch auf solche literarischen Texte hin erweitert, die über gewisse ästhetische Qualitäten verfügen, ohne jedoch fiktional zu sein, wie z.B. manche Autobiographien, Reiseberichte oder Reportagen. 15 Inzwischen hat sich mancherorts die Ansicht durchgesetzt, Literatur und Fiktion seien zwei völlig unterschiedliche Formen sozialer Praxis: Fiktion ist eine soziale Praxis, in der Texte fiktiven Inhalts unter den Konventionen und Regeln von make-believe-Spielen produziert und rezipiert werden; Literatur ist eine soziale Praxis, in der Texte faktualer und fiktionaler Art unter den Konventionen und Regeln ästhetischer Wertschätzung produziert und rezipiert werden. 16 Auch wenn nun die ‚Fiktivität’ des Inhalts nicht mehr als notwendiges Kriterium literarischer (Erzähl-)Texte gefordert wird, stellt die fehlende überprüfbare und eindeutige Referenz auf eine extratextuelle Wirklichkeit doch das wichtigste Bestimmungskriterium von Fiktionalität insbesondere innerhalb der semantischen Fiktionstheorie dar. 17 Gemeint ist jedoch nicht eine absolute Verschiedenheit von fiktionaler und realer Welt, vielmehr ist trotz der „mangelnden Referenz auf konkrete raumzeitlich und personell bestimmbare Komponenten“ der äußeren Realität eine „mittelbare Beziehbarkeit auf ein Wirklichkeitsmodell über den Modus der Verallgemeinerung, der Allegorisierung oder Symbolisierung, begleitet von anteilnehmender Identifikation möglich“ - „[d]ie sprachlich evozierte ‚fiktionale Welt’ ist niemals eine völlig andere.“ 18 tisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 269, die unkritische Übernahme alltagssprachlicher Definitionen in die Literaturwissenschaft. 14 K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 113. Vgl. z.B. die von Culler vorgeschlagene Definition: „The most common notion of fiction, as opposed to non-fiction, is that non-fiction treats real characters and events while fiction treats imaginary ones, makes assertions about characters who don’t exist, events that never occurred, or in short, about fictional worlds.“ (J. Culler: „Problems in the theory of fiction.“ (1984), S. 6.) Vgl. ebenso R. Wellek und A. Warren: Theory of Literature. (1942), S. 25, 214; J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 26. 15 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 314f. 16 Ebd., S. 321f. 17 Vgl. zu den Postulaten der semantischen Fiktionstheorie I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 275ff. 18 N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1106f. Warning macht darüber hinaus deutlich, dass die Lebenswelt des (ursprünglich intendierten) Publikums eine zentrale 107 Wie J.W. Petersen betont, birgt eine Begrenzung des Begriffs ‚Fiktion’ auf die Repräsentation erfundener Gegenstände das Problem, dass reale Sachverhalte, die ebenfalls häufig zum Inhalt fiktionaler Texte werden, auf diese Weise nicht definitorisch erfasst werden. Petersen vertritt daher die Ansicht, dass in fiktionalen Texten „[…] empirisch Faktisches […] eben nicht auf sein Wirklichsein hin ausgesagt [wird], sondern sozusagen auf reines, unempirisches Sein hin.“ 19 Der auch in der Literaturwissenschaft - insbesondere in der Texttheorie - verbreitete logisch-sprachphilosophische Definitionsansatz hat seinen Ursprung in einem berühmt gewordenen Aufsatz des Sprachphilosophen J.R. Searle zum Logical Status of Fictional Discourse; Searle hat in diesem Essay seine nur wenige Jahre 20 zuvor entwickelte Sprechakttheorie auch auf fiktionale Texte ausgeweitet und versucht nun, „[…] to explore the difference between fictional and serious utterances […]“. 21 Dieses Erkenntnisziel erklärt sich aus einem Paradox, das Searle im Zusammenhang mit dem fiktionalen Diskurs beobachtet hat: „[…] [H]ow can it be both the case that words and other elements in a fictional story have their ordinary meanings and yet the rules that attach to those words and other elements and determine their meanings are not complied with […]? “ 22 Hinter diesem Paradox verbirgt sich die altbekannte Frage nach der Referenz von Wörtern in fiktionalen Zusammenhängen, mithin die Frage nach dem Wahrheitsstatus fiktionaler Sätze. 23 Searle begreift Fiktionalität im Sinne einer als ob-Sprechhandlung eines Autors, die sich in ihrer Wirklichkeitsabgelöstheit von ‚wirklichen’ Sprechakten unterscheidet. Dies macht deutlich, inwieweit auch der sprachphilosophische Ansatz von der seit Beginn im Fiktionalitätsproblem angelegten Referenzthematik berührt ist. Allerdings schränken Sprechakttheoretiker ihre Definition zugleich mit dem Hinweis auf die Bedeutung der besonde- und doppelte Rolle spielt: Zum einen beziehen sich fiktionale Texte auf diese Lebenswelt, zum anderen kehrt diese im Text selbst wieder in Form modellhafter Konstruktion. Dementsprechend wird der Text betrachtet als „[…] ein ‚sekundäres modellbildendes System’, das heißt als ein semiotisches System, das auf dem primären Zeichensystem der Sprache operiert und eine gegebene soziokulturelle Wirklichkeit modellhaft abbildet.“ (R. Warning: „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion.“ (1983), S. 201.) 19 J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 19. 20 J. Searle: Speech Acts. (1969). 21 J. Searle: „The Logical Status of Fictional Discourse.“ (1975), S. 321. 22 Ebd., S. 319. 23 In seinem Aufsatz vergleicht Searle eine nicht-fiktionale Zeitungsmeldung aus der New York Times mit einem Auszug aus Iris Murdochs The Red and the Green und definiert im Anschluss an diesen Vergleich ‚a work of fiction’ allgemein als „a nondeceptive pseudoperformance which constitutes pretending to recount […] a series of events“. (Ebd., S. 325.) 108 ren Absicht des Autors ein, als ob-Sprechakte überhaupt vollziehen zu wollen. Von Seiten der klassischen Literaturwissenschaft ist Searle und den in seiner Tradition argumentierenden Theoretikern vorgeworfen worden, ihnen gehe es weniger um die texttypologische Bestimmung eines für die Literatur wichtigen Begriffs 24 als um die metafiktionale Analyse des fiktionalen Diskurses und seiner Ontologie. 25 Dies impliziert, dass Searle einige essentielle Eigenschaften von Fiktionen zu verkennen scheint wie z.B. die „presentation of an imaginary object“ in den fiktionalen Sprechakten oder die nicht allein ästhetische Wertschätzung, die dieser Sprechakttypus beim Leser hervorruft. 26 Darüber hinaus ist an Searles Ansatz zu kritisieren, dass er nicht zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler unterscheidet; dies führt dazu, dass er die ‚ernste’ Sprechhandlungsabsicht des fiktiven Erzählers übersieht und allein das spielerische, ‚unernste’ Als-ob-Handeln des Autors die Fiktionalität eines literarischen Textes zu bestimmen scheint. 27 Gegen die problematische Anwendung sprechakttheoretischer Konzepte auf literarische, fiktionale, Texte wendet sich dezidiert D. Cohn mit ihrem in der Tradition von R. Barthes’ und G. Genettes formalistischstrukturalistischer Erzähltheorie stehenden Ansatz: „[…] my aim is to develop criteria of fictionality from within the confines of narratology itself […]“. 28 Zugleich wirft sie der Narratologie die kaum zu entschuldigende Vernachlässigung der „[…] question of demarcation between fiction and nonfiction“ vor - diese habe ihren Gegenstand oftmals nicht beschränkt, 24 Die Literatur wird von Searle sogar eher gering geschätzt, spricht er ihr doch jegliche Spezifität ab: „[…] Secondly, I believe […] that ‚literature’ is the name of a set of attitudes we take toward a stretch of discourse, not a name of an internal property of the stretch of discourse, […]. Roughly speaking, whether or not a work is literature is for the readers to decide, whether or not it is fiction is for the author to decide.” Auch eine scharfe Grenze zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten ist für ihn nicht erkennbar. (J. Searle: „The Logical Status of Fictional Discourse.“ (1975), S. 320.) 25 Im Mittelpunkt steht die theoretische Frage, ob beim Sprechen über Fiktionales wahre oder unwahre Sätze gebildet werden und ob diese metafiktionalen Sätze nun selbst fiktional sind (Ebd., S. 329ff.) - es geht demnach um den „Wahrheitswert von Sätzen mit Ausdrücken, die keine Referenz haben“ (K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117.). 26 J.J.A. Mooij: „Fictionality and the Speech Act theory.“ (1989), S. 20. 27 F. Martínez-Bonati: „On Fictional Discourse.“ (1996), S. 68; F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 190. 28 D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 776. Sie betrachtet ihren Versuch, Fiktionalität mittels poetologisch-diskursiver Kriterien zu beschreiben, als Ergänzung der sprachphilosophischen Diskussion dieses Problems. (D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106.) 109 sondern scheinbar unterschiedslos sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Texte in das Korpus ihrer Studien aufgenommen. 29 Während es noch das Ziel der Sprachtheorie war, den Begriff der ‚Fiktion’ sprechakttheoretisch - also gewissermaßen induktiv - zu bestimmen, geht es Cohn pragmatisch um die deduktive „search for narratological criteria of fictionality“. 30 Dabei vergleicht sie fiktionale mit faktualen Erzähltexten und gelangt auf diese Weise ex negativo zu einer Definition von Fiktionalität als ‚Fehlen von Referenz’. Ferner postuliert sie für ihren Untersuchungsgegenstand der historiographischen Erzählungen „a referential level of analysis“ zusätzlich zu den bekannten histoire- und discours- Ebenen, da „[…] history is committed to verifiable documentation and […] this commitment is suspended in fiction […]“. 31 Mit ihrer Suche nach spezifischen Fiktionalitätssignalen bezieht Cohn Position in dem durch H. White auf einen erneuten Höhepunkt gebrachten Streit um die Fiktionalität historischen Erzählens und vertritt die These einer grundlegenden Verschiedenheit von fiktionalen und faktualen, historiographischen, Texten, welche in ihrer unterschiedlichen Referenz begründet liegt. 32 Eine Synthese aus Searles sprachtheoretischem Ansatz und Cohns narratologischem Ansatz entwirft F. Zipfel in seiner Dissertation zum Thema Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001): Er legt seinen Analysen zur Rede über 29 D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 775. 30 Ebd., S. 776. 31 Ebd., S. 779. An anderer Stelle bestimmt Cohn als ‚Fiktion’ „[…] eine literarische Textsorte ohne Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Richtigkeit.“ Die nur in historiographischen Erzählungen vorhandene referentielle Ebene zeigt sich insbesondere in dem umfangreichen perigraphischen Apparat, der historischen Studien zu eigen ist (z.B. Fußnoten mit Quellenangaben, Zitate aus Quellen, etc.). (D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 108.) 32 Prominente literaturwissenschaftliche Kritiker des Historikers H. White sind L. Doležel und M. Fludernik, die beide die empirische Ausgangsbasis historiographischer Texte als ihr wichtigstes Merkmal und zugleich als den fundamentalen Unterschied zwischen ihnen und fiktionalen Texten bestimmen (L. Doležel: „Fictional and Historical Narrative: Meeting the Postmodernist Challenge.“ (1999), S. 252f.; M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001), S. 89ff.). Auch F. Zipfel weist in seiner kritischen Diskussion von Whites Thesen darauf hin, dass allein schon durch den Bezug auf reales Geschehen der Historiographie andere Textstrukturen zu eigen seien als fiktionalen Texten (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 178.). Als Whites zentrales Problem beschreibt er „[…] die Ineinssetzung von Narrativität, Literarität und Fiktionalität“ (Ebd., S. 176.) und unterstreicht, dass „[e]rzählen nicht automatisch fingieren bedeutet, Narration nicht ohne weiteres mit Fiktion gleichzusetzen ist.“ (Ebd., S. 178.) 110 Fiktion ein sprachhandlungstheoretisches Konzept zugrunde. 33 Im Zentrum steht ein Verständnis von Sprache, welches ‚Sprache’ in der literarischen Fiktion als „[…] Instrument zur Bezugnahme auf Nicht-Sprachliches […]“ 34 definiert. In diesem Kontext definiert er ‚fiktionale Texte’ als „Sachverhaltsdarstellungen, [deren] dargestellt[e] Sachverhalte keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben.“ 35 Als die beiden wichtigsten Formen der Sachverhaltsdarstellung nennt er ‚Erzählen’ und ‚Beschreiben’; dabei bewertet er das von ihm in seiner Studie untersuchte Erzählen im Hinblick auf die Vielfalt seiner Gegenstände sowie im Hinblick auf die Diversität der damit verbundenen Darstellungsformen als das komplexere Sprachhandlungsphänomen. 36 ‚Erzählen’ ist laut Zipfel eine „komplexe Sprachhandlung […], die sich aus Behauptungshandlungen zusammensetzt […]“: der Text behauptet, dass sich etwas so, wie erzählt, zugetragen hat. 37 Zur Konstitution seiner Fiktionstheorie isoliert Zipfel nun verschiedene „Theorieorte“, an denen sich Fiktion manifestiert und an denen sie beschreibbar wird; es handelt sich dabei um die Bereiche der „Text-Produktion“, der „Text-Struktur“, der „Text-Rezeption“ sowie der „Sprachhandlungssituation“. 38 Insbesondere Zipfels Überlegungen zur ‚Text- Struktur’ verdienen im Zusammenhang mit der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit einen genaueren Blick. Er unterteilt dieses Beschreibungsfeld in Anlehnung an die Terminologie G. Genettes in die „E- 33 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 30. Diesem sprachhandlungstheoretischen Ansatz liegt eine Auffassung von Sprache als Mittel kommunikativen Handelns zugrunde; er steht damit in der Tradition einerseits von sogenannten Kommunikationsmodellen und andererseits in der Nachfolge der Sprechakttheorie philosophisch-sprachanalytischer Provenienz. Grundlage kommunikationstheoretischer Modelle ist die Unterscheidung der verschiedenen, den Kommunikationsprozess beeinflussenden Komponenten Sender, Nachricht und die darin enthaltenen Zeichen sowie Empfänger (bzw. Autor, Text, Leser bezogen auf die Literatur). Indem der Text im Mittelpunkt der Kommunikation zwischen Autor und Leser steht, wird Textualität zum grundlegenden Merkmal der „Sprachlichkeit von Literatur“ und der literarische Text zur grundlegenden Kategorie literaturtheoretischer Untersuchungen. Hingegen postuliert die Sprechakttheorie - wie bereits angedeutet wurde - den Handlungsvollzug durch Sprache; Zipfel spricht in diesem Zusammenhang von ‚Sprachhandlungen’ und will damit zum Ausdruck bringen, „[…] daß damit generell eine Handlung mittels Sprache gemeint ist, die nicht unbedingt ein Sprechen darstellt, sondern auch ein Schreiben sein kann (Ebd., S. 30f.). 34 Ebd., S. 56. 35 Ebd., S. 57. Zipfels Definition ist an G. Gabriels Definition angelehnt: „Fiktion [ist ein] erfundener („fingierter“) einzelner Sachverhalt oder eine Zusammenfügung solcher Sachverhalte zu einer erfundenen Geschichte.“ (G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 594.) 36 Zipfel greift mit dieser Beschränkung auf narrative Texte den Begriffsinhalt von englisch fiction auf; dieser Terminus stellt einen Sammelbegriff für Romane, Kurzgeschichten und Novellen dar. (Ebd., S. 57f.) 37 Ebd., S. 60. 38 Ebd., S. 61f. 111 bene der Inhaltsstruktur“ (histoire bei Genette bzw. die ‚Geschichte’) sowie in die „Ebene der Erzählstruktur“ (diese umfasst sowohl Genettes discours als auch la narration; die ‚narrative Vermittlung’) 39 und versucht im Folgenden, die möglichen Manifestationen von ‚Fiktion’ auf diesen Ebenen zu beschreiben: Er bezeichnet als ‚Fiktivität’ das Auftreten von Fiktion auf der Ebene der Geschichte; damit ist gemeint, „[…] daß die dargestellte Geschichte nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht, daß ihr kein Geschehen in der Realität entspricht, daß sie nicht wirklich stattgefunden hat.“ 40 Bei ‚Fiktionalität’ handelt es sich hingegen um „[…] Fiktion auf der Ebene des Erzählens […]“ 41 ; im Mittelpunkt steht die Zugehörigkeit des Textes zur nicht-faktualen Textsorte. Bezogen auf die Alltagswirklichkeit - das ist der Bereich der alltäglichen Erfahrungen des Lesers -, enthalten fiktive Geschichten nicht-wirkliche Ereignisträger bzw. Figuren, nicht-wirkliche Orte bzw. nicht-wirkliche Zeitangaben. 42 Weiter differenziert Zipfel die ‚Nicht-Wirklichkeit’ der Figuren, Orte und Zeitangaben nach der Art und Weise ihrer Abweichung von der (Alltags-)Wirklichkeit in ‚möglich’ und ‚nicht-möglich. 43 So sind mögliche fiktive Ereignisträger menschliche (bisher) nicht-existente Figuren, deren Eigenschaften mit denen realer Personen übereinstimmen; ‚nicht-möglich’ sind dagegen sprechende Tiere, Roboter, Außerirdische oder sonstige personifizierte Entitäten, aber auch - in einer weiten Definition - Gegenstände mit (naturwissenschaftlich) nicht erklärbaren Eigenschaften. 44 Bei den möglichen fiktiven Orten handelt es sich hingegen um Plätze, die es zwar geben könnte, die man aber realiter nicht aufsuchen kann wie z.B. die typischerweise in Fiktionen nicht näher bezeichneten oder nicht genauer situierten Orte. Als nicht-mögliche Orte können Stätten gelten, die entweder mit den 39 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 64f. 40 Ebd., S. 68. 41 Ebd., S. 179. Auch hier besteht eine enge definitorische Nähe zu G. Gabriel, der mit ‚fiktional’ einen spezifischen „Modus des Textes“ beschreibt, mit ‚fiktiv’ hingegen die „Seinsweise“ von Gegenständen (G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 596.). Ähnlich auch I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 270, die ‚Fiktion’ als „Oberbegriff“ verwenden, ‚Fiktionalität’ als „Werkkategorie“ (synonym mit englisch fiction), ‚fiktiv’ oder ‚fingiert’ dagegen für „einzelne Inhalte“: somit definieren sie ‚Fiktionalität’ bzw. fiction als „pragmatische“ und ‚Fiktivität’ als „semantische Kategorie“. 42 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 76. Es muss mit Zipfel betont werden, dass das Konzept dieser Alltagswirklichkeit historisch variabel ist und damit auch das, was konkret als ‚Fiktion’ gilt. 43 Ebd., S. 80. 44 Ebd., S. 80f. 112 heutigen technischen Mitteln für den Menschen unerreichbar sind oder die grundsätzlich als ‚unvorstellbar‘ erscheinen. 45 Im Bereich fiktiver Zeit existiert laut Zipfel nur die Kategorie des Nicht-Möglichen, da „[…] in unserer Zeitvorstellung keine möglichen, aber nicht-wirklichen Zeiträume vorkommen können.“ 46 Hier kann man wiederum zwischen nicht-möglichen Zeitpunkten (Zeitpunkte in der Zukunft: diese sind erkenntnismäßig nicht möglich), nicht-möglichen Zeiträumen (Zeiträume, die mit der gängigen Zeiteinteilung nicht kompatibel sind, wie z.B. zusätzliche Kalendertage oder Tage mit mehr als 24 Stunden) sowie nicht-möglichen Zeitverhältnissen (Zeitverhältnisse, die nicht der gängigen Zeitkonzeption als eindimensionales Kontinuum entsprechen, wie z.B. nicht-linear ablaufende Zeit, Zeitsprünge etc.) unterscheiden. 47 Darüber hinaus betont Zipfel, dass der Gegenstand fiktionaler Texte eben nicht nur ‚Nicht-Wirkliches’ sei, sondern auch die extratextuelle Wirklichkeit auf vielfältige Weise präsent sein könne, entweder in Form einer allgemeinen Präsenz als Hintergrund des Erzählten oder als spezifische Präsenz konkreter realer Entitäten. 48 Schließlich werden fiktive Welten nach dem Realitätsprinzip konstruiert; sie sollen möglichst stark der realen Welt ähneln. 49 Neben der beschriebenen Fiktivität als ‚Fiktion bzw. Erfundenheit der Geschichte’ existiert Fiktion auch auf der Ebene der Textstrukturen bzw. der narrativen Vermittlung der jeweiligen Geschichte; in der Terminologie F. Zipfels handelt es sich dabei um ‚Fiktionalität’. Zum Ziel hat er sich die „[…] allgemein[e] sprachhandlungstheoretisch[e] Beschreibung fiktionalen Erzählens […]“ gesetzt und kombiniert zu diesem Zweck D. Cohns narratologischen Ansatz einer Unterscheidung zwischen Faktualität und Fiktionalität mit dem eingangs skizzierten sprachhandlungstheoretischen Textbegriff. 50 Die Besonderheit fiktionaler Texte besteht im Vergleich mit faktualen Texten in der Verdoppelung sowohl der narrativen Instanzen 45 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 81. 46 Ebd., S. 81. 47 Ebd. 48 Die reale Welt muss notwendigerweise den Hintergrund der fiktiven Geschichte bilden, da man sie sonst weder erzählen noch verstehen, ja sich nicht einmal vorstellen könnte. (Ebd., S. 82.) Auch J. Landwehr übt fundamentale Kritik am häufig unkritisch gebrauchten Begriff der ‚Selbstreferentialität’: dieser impliziere, dass „[…] Literatur ein in sich kreisender Bereich ohne allen Bezug auf Welt und Wissen, besonders ohne Bezug auf menschliches Handeln und Können [sei]“; dadurch werde „‘Selbstbezüglichkeit’ […] gleichbedeutend mit ‚Entpragmatisierung’.“ (J. Landwehr: „Von der Repräsentation zur Selbstbezüglichkeit und die Rückkehr des/ zum Imaginären. Konzepte von Literatur und literarischem (Struktur-)Wandel und ein ‘verkehrtes’ Mimesis-Modell.“ (1991), S. 288.) 49 Ebd., S. 85. 50 Ebd., S. 117. 113 (Autor - Erzähler, Adressat/ impliziter Leser - empirischer Leser) als auch der produzierten Erzähltexte (Erzähltext 1 des Autors, Erzähltext 2 des Erzählers). 51 Abbildung 7: Sprachhandlungsstruktur faktualer und fiktionaler Schrift-Erzähl-Texte 52 51 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 118-122. Erzähltext 1 und Erzähltext 2 sind im Hinblick auf den Wortlaut der Erzählung identisch; sie stehen jedoch in unterschiedlichen Sprachhandlungssituationen und können insofern gemäß dem sprachhandlungstheoretischen Textmodell als zwei unterscheidbare Texte angesehen werden. Das Paradox der Behauptungsstruktur von fiktionalen Erzählungen - „[…] der Autor produziert einen Erzähl-Text, in dem (scheinbar) Behauptungen über nicht existierende Gegenstände aufgestellt werden“ (Ebd., S. 116.) - kann daher auch auf erzähltheoretische Weise gelöst werden: So werden „[…] die Behauptungen der Erzählung […] im Modell dem Erzähler der internen Sprachhandlungssituation zugeschrieben. So verstanden sind die Behauptungssätze des Erzähl-Textes unproblematisch, da sie als assertive illokutionäre Akte eines Textproduzenten über seine textinterne Wirklichkeit angesehen werden. Der Erzähler wird in dieser Konstruktion als Teil der fiktiven Welt der Erzählung angesehen, und er äußert Sätze, die in Bezug auf diese fiktive Welt wahr sind bzw. wahr sein sollen, d.h. er erzählt Geschichten, die sich in dieser Welt ‚tatsächlich’ zugetragen haben bzw. sich zugetragen haben sollen.“ (Ebd., S. 121.) 52 Ebd., S. 119. Ein ähnliches Modell präsentiert auch M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 51ff. Er verweist Zerdehnte Sprachhandlungssituation Produktionssituation Autor Erzähltext Geschichte Leser Rezeptionssituation Zerdehnte Sprachhandlungssituation Produktionssituation Autor Erzähltext 1 Geschichte Leser Rezeptionssituation Erzähltext 2 Adressat Erzähler Faktualer Schrift-Erzähl-Text Fiktionaler Schrift-Erzähl-Text Geschichte 114 Andererseits zeigt sich die interne Sprechsituation des fiktionalen Erzähltextes (Erzähler 2 - Adressat/ impliziter Leser) nach dem Modell der Sprachhandlungsstruktur des faktualen Textes konstruiert: als Erzählung eines Erzählers von tatsächlichen Geschehnissen in der (fiktiven) Text-Welt für einen Adressaten, mithin als „Nachahmung [des faktualen Erzählens] in einem fiktionalen Rahmen“. 53 Dabei kann die interne Sprachhandlungssituation in fiktionalen Erzähltexten ganz unterschiedlich realisiert werden - so kann der Erzähler eine von ihm selbst erlebte Geschichte berichten oder nur unbeteiligter Chronist sein -; die jeweiligen Realisierungen definieren wiederum unterschiedliche Formen fiktionalen Erzählens. 54 Die interne Sprachhandlungssituation, welche den Erzähler, seine Geschichte und den Adressaten umfasst, beschreibt Zipfel nun nach der Art und dem Grad ihrer Übereinstimmung bzw. Abweichung von den Regeln und Bedingungen faktualen Erzählens; 55 das faktuale Erzählen stellt demnach das Vergleichsobjekt zur Bestimmung der Spezifität fiktionalen Erzählens dar. 56 darüber hinaus auf den „imaginären Kontext“, der das fiktionale Erzählen vom faktualen Erzählen trennt. 53 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 122. 54 Ebd. 55 A. Nünning betont, dass die Differenzierung von faktualen und fiktionalen Erzählungen nicht als binäre Opposition, sondern als Skalierung zwischen den Polen ‚faktisch’/ ‚referentiell’/ ‚realistisch’ und ‚fiktiv’/ ‚unrealistisch’ aufgefasst werden müsse; die Unterschiede betreffen wiederum die Beschreibung von Orten und Figuren, den Bericht über Handlungen sowie die Gedanken- und Redewiedergabe der Figuren (A. Nünning: „Mapping the field of hybrid new genres in the contemporary novel. A critique of Lars Ole Sauerberg, Fact into Fiction and a survey of other recent approaches to the relationship between ‘fact’ and ‘fiction’.“ (1993), S. 299.). Hingegen hat Roland Barthes in seinem umstrittenen, den Poststrukturalismus begründenden Essay „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002) auf die seiner Meinung nach große Ähnlichkeit, wenn nicht gar Identität, zwischen dem „récit fictif“ und dem „récit historique“ hingewiesen. 56 Folgende Merkmale kennzeichnen laut Zipfel faktuales Erzählen: 1. Faktuales Erzählen stellt eine aus Behauptungsgrundlagen zusammengesetzte komplexe Sprachhandlung dar, so dass für das Erzählen die Sprachregeln des Behauptens gelten - insbesondere die Regel, dass das Behauptete wahr sein muss. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 123.) 2. Erzählen zeichnet sich durch Nachzeitigkeit gegenüber dem Erzähltem aus; dies führt in Kombination mit der Behauptungsregel der Wahrhaftigkeit dazu, dass der Erzähler nur das erzählen kann, woran er sich erinnert bzw. nach den Maßgaben menschlichen Erinnerungsvermögens erinnern kann. (Ebd., S. 129.) 3. Erzählen wird in der Regel eingeleitet vollzogen, z.B. durch die Selbstcharakterisierung des Erzählers sowie die explizite Ankündigung der Tatsache, dass erzählt wird. (Ebd., S. 129f.) 4. Es besteht trotz der Differenz an der Textoberfläche kein erzähllogischer Unterschied zwischen faktual homodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen, sondern vielmehr „[…] ein gradueller, fließender Übergang 115 Nach der Art und dem Grad ihrer Abweichung von den skizzierten Regeln faktualen Erzählens unterscheidet Zipfel - je nachdem, ob es sich um fiktionale homodiegetische 57 oder um fiktionale heterodiegetische 58 Erzähltexte handelt - sieben Varianten fiktionalen Erzählens: in der Homodiegese fingiertes autobiographisches Erzählen sowie die beiden Sonderfälle des anonymen homodiegetischen Erzählers und der Autofiktion; in der Heterodiegese fingiertes faktuales heterodiegetisches Erzählen. Als allgemeine Sonderformen fiktionalen Erzählens nennt er ferner den autonomen inneren Monolog, das Erzählen im Präsens sowie das Erzählen in der zweiten Person. 59 Das fingierte autobiographische Erzählen stellt - wie der Terminus bereits andeutet - die Nachahmung eines faktualen homodiegetischen Erzähl-Textes dar. Der textinterne Erzähler hält die für faktuale Erzähl-Texte geltenden Sprachregeln ein und folgt den Konventionen der nachgeahmten Textsorte wie z.B. Reisebericht, Tagebuch, Memoiren etc.; dadurch präsentiert sich das fingierte autobiographische Erzählen als ausgesprochen realistisches bzw. illusionistisches Erzählen, und es kann sogar der Eindruck entstehen, es handele sich bei dem fiktionalen Erzähl-Text um einen faktualen. Doch wenn die Fiktionalität des Textes auch auf der Ebene der Geschichte nicht erkennbar sein sollte, so weist doch bereits die im Paratext erkennbar werdende Differenz zwischen dem realen Autornamen und dem Namen des textinternen fiktiven homodiegetischen Erzählers explizit auf die Fiktion der Autobiographie hin. 60 Abweichungen vom fingierten autobiographischen Erzählen stellen insbesondere Unwahrscheinlichkeiten im Bereich der Distanz dar wie eine das menschliche Erinnerungsvermögen übersteigende und nicht durch die Thematisierung von Erinnerungshilfen gerechtfertigte Detailfülle, insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen. 61 Auf diese Weise wird die Fokalisierung des Erzählens auf das der mehr oder weniger starken Präsenz des Erzählers in der Erzählung.“ (Ebd., S. 131f.) 57 Fiktionale homodiegetische Erzähl-Texte zeichnen sich per definitionem dadurch aus, dass der fiktive Erzähler der internen Sprachhandlungssituation ‚mit Leib’ in der Erzählung präsent ist. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 133.) 58 Dagegen sind fiktionale heterodiegetische Erzähl-Texte per definitionem dadurch gekennzeichnet, dass der fiktive Erzähler der internen Sprachhandlungssituation nicht als Figur in der Erzählung vorkommt. (Ebd., S. 144.) 59 Im Folgenden sollen nur diejenigen Kategorien vorgestellt werden, die auch auf die ausgewählten Texte Simons appliziert werden können; dies sind das „fingierte autobiographische (= homodiegetische) Erzählen“, das „fingierte faktuale heterodiegetische Erzählen“, das „fiktionale heterodiegetische Erzählen“ sowie der „autonome innere Monolog“. 60 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 133f. 61 Ebd., S. 137. 116 in der Vergangenheit erlebende Ich im Gegensatz zum in der Gegenwart schreibenden Ich zu einem möglichen Fiktionssignal. Eine weitere Abweichung ist der Bericht des homodiegetischen Erzählers von Vorgängen, von denen er keine Kenntnis haben kann (z.B. nicht geäußerte Gedanken fremder Personen). 62 Im Bereich der fiktionalen heterodiegetischen Erzählung ist der Gegenpart des fingierten autobiographischen Erzählens das fingierte faktuale heterodiegetische Erzählen, das sich durch die Einhaltung der Regeln für faktuale narrative Schrifttexte auf der Ebene der internen Sprachhandlungssituation auszeichnet. Allerdings sind fingierte faktuale heterodiegetische Erzähltexte viel seltener als homodiegetische Erzähltexte; ein typisches Beispiel stellt die fiktionale Biographie dar. In diesem seltenen Fall ist die sprachhandlungstheoretische Trennung von Autor und Erzähler am Text nicht nachvollziehbar, allein der Vergleich des erzählten Inhalts mit der Wirklichkeit in Form von Dokumenten oder durch paratextuelle Informationen kann über die Fiktionalität Aufschluss geben. 63 Der Normalfall fiktional heterodiegetischen Erzählens ist durch die Verletzung von sprachhandlungslogischen Regeln, die für faktuale Erzähl- Schrifttexte gelten, charakterisiert. Diese Abweichungen betreffen - wie in homodiegetischen Erzählungen auch - insbesondere Fragen der Distanz und der Perspektive. So stellt eine unwahrscheinliche Detailfülle jenseits der menschenmöglichen Erinnerungsfähigkeit eine Verletzung faktualen Erzählens dar und fungiert dementsprechend als Fiktionssignal für die Fiktionalität des Erzählens. 64 Eine Abweichung vom faktualen Erzählen im Bereich der Perspektive zeigt sich in der internen Fokalisierung, d.h. in der Fähigkeit des Erzählers 65 zur Introspektion in die Psyche Anderer. Dabei ist weder die Art der internen Fokalisierung (eine oder mehrere Figuren, Wechsel zwischen Erzählerperspektive und Figurenperspektive) noch die Form der Gedankenwiedergabe 66 (indirekte Rede, erlebte Rede oder innerer Monolog) fiktionstheoretisch relevant. 67 62 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 138. 63 Ebd., S. 144f. Als Beispiel eines fingierten faktualen heterodiegetischen Erzähltexts nennt Zipfel Wolfgang Hildesheimers Marbot. 64 Ebd., S. 145. 65 Zipfel beschreibt mit derartigen Fähigkeiten ausgestattete Erzähler auch als ‚phantastische Erzähler’ (Ebd., S. 155.). 66 Allerdings könnte die Markierung der Gedankenwiedergabe und damit die Erkennbarkeit der fiktionalen Abweichung vom faktualen Erzählmodell mit der Verstärkung der Unmittelbarkeit der Gedankenwiedergabe (von der indirekten Rede zum inneren Monolog) steigen und damit ihre Funktion als Fiktionssignal deutlicher werden. Ebd., S. 146. 67 Ebd. 117 Einen erzähltheoretischen Sonderfall fiktional heterodiegetischen Erzählens stellt der autonome innere Monolog dar: es handelt sich dabei um Texte, die ausschließlich und ohne Rahmenerzählung in der Erzählform des inneren Monologs verfasst sind. Der Text präsentiert demnach unmittelbar und ohne die Vermittlung eines Erzählers die Gedanken einer fiktiven Person. 68 Das erzähltheoretische Problem besteht darin, dass […] die Illusion der unmittelbaren Gedankenwiedergabe und die Illusion eines durch einen Sprachhandlungsbzw. Schreibprozeß erzeugten Erzähl-Textes sich gegenseitig ausschließen. Die Konzeption des autonomen inneren Monologs ist also nicht mit einer realistisch begründbaren, d.h. mit einer in der Realität möglichen Erzähl-Situation vereinbar. Die Erzähl-Situation ist auf jeden Fall phantastisch. 69 Autonome innere Monologe sind aufgrund ihrer massiven Abweichung vom faktualen Erzählen per se fiktional; das Auftreten dieses Erzählverfahrens wird zum Fiktionssignal im Text. Das folgende Schaubild zeigt zusammenfassend F. Zipfels Definitionen und Typologisierungen von Fiktivität und Fiktionalität: Abbildung 8: Definitionen und Typologisierungen von ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ (nach F. Zipfel) 68 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 155f. 69 Ebd., S. 156. Fiktion Fiktivität Fiktionalität Nicht-reale / fiktive Objekte: • Fiktive Ereignisträger • Möglich: reale Eigenschaften • Nicht-möglich: nicht-reale Eigenschaften • Fiktive Orte • Möglich: könnten existieren, können aber realiter nicht aufgesucht werden • Nicht-möglich: unerreichbare oder grundsätzlich undenkbare Orte • Fiktive Zeit • Nicht-möglich: Zeitpunkte, Zeiträume und Zeitverhältnisse Pseudo-reale Objekte: • Pseudo-reale Orte • Veränderte oder erweiterte Orte • Pseudo-reale Personen • Abweichungen in realen Biographien • Definition: Fiktion auf der Ebene der Geschichte • Zwei grundlegende Formen der Fiktivität: • Realistik = Erzählung einer grundsätzlich möglichen Geschichte (mögliche Ereignisträger, Orte, Zeiten) • Phantastik = Erzählung einer nicht-möglichen Geschichte (nicht-mögliche Ereignisträger und/ oder Orte und/ oder Zeiten) • Definition: Fiktion auf der Ebene der Textstrukturen • Acht Formen fiktionalen Erzählens: • Homodiegese • Fingiertes autobiographisches Erzählen • Anonymer homodiegetischer Erzähler (Sonderfall) • Auto-Fiktion (Sonderfall) • Heterodiegese • Fingiertes faktuales heterodiegetisches Erzählen (Sonderfall, z.B. fiktionale Biographie über fiktive Person(en)) • Fiktionales heterodiegetisches Erzählen (Normalfall) • Sonderformen fiktionalen Erzählens • Autonomer innerer Monolog • Erzählen im Präsens • Erzählen in der zweiten Person 118 Sowohl D. Cohn mit ihrem narratologischen Ansatz als auch F. Zipfel mit seinem sprachhandlungstheoretischen Ansatz versuchen, für die Differenz zwischen faktualen und fiktionalen Texten, „[…] textimmanente Zeichen zu finden, die vom Leser erkannt werden können und normalerweise auch erkannt werden - diskursive characteristica specifica, die ein Autor obligatorisch einsetzen muß, wenn sein Roman als Fiktion und nicht als historischer oder journalistischer Erzähltext rezipiert werden soll.“ 70 Diese spezifischen Eigenschaften fiktional-narrativer Texte - auch ‚Fiktionssignale’ genannt - sollen im Folgenden kurz am Beispiel der von F. Zipfel vorgeschlagenen Systematik 71 vorgestellt werden, um sie dann im Anschluss auf das Vorliegen eines gewissen metafiktionalen Potentials zu überprüfen. 3.1.3 Textuelle und paratextuelle Fiktionssignale (nach F. Zipfel) Eine Definition der ‚Fiktionssignale’ liefert Iser, der mit diesem Begriff ein „[…] Zeichenrepertoire [beschreibt], durch das sich in der Literatur der fiktionale Text als ein solcher entblößt“, woraufhin ein „Kontrakt“ zwischen Autor und Leser abgeschlossen wird, „[…] dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als ‚inszenierten Diskurs’ ausweisen.“ 72 70 D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106. Vgl. zu dieser wichtigen Funktion der Fiktionalitätsindikatoren auch D. Henrich und W. Iser: „Entfaltung der Problemlage.“ (1983), S. 10. Es war allerdings K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 60-85, die eine Merkmalsbestimmung literarischer (narrativer) Fiktion vorgenommen hat und insbesondere die Präsenz von Verben der inneren Vorgänge und der erlebten Rede als eindeutige Hinweise auf das Vorliegen von Fiktion definiert hat (K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 60-85.) 71 Zipfels Systematik basiert im Grunde auf seinen Überlegungen zur ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ von fiktionalen Erzähl-Texten, doch präsentieren seine ‚Fiktionssignale’ gewissermaßen nur eine Quintessenz der von ihm zuvor genannten fiktionsindizierenden Faktoren auf der Ebene der Geschichte bzw. des Erzählens/ der Textstrukturen. 72 W. Iser: „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? “ (1983), S. 135. J.H. Petersen sieht die Funktion der Fiktionalitätssignale darin, dass sie das „Fiktionalbewusstsein“ des Rezipienten in Gang setzen (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 37.). Den Fiktionssignalen stehen als gegenläufige Tendenz ‚Authentisierungsstrategien’ (K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 114.) 72 bzw. ‚Realitätssignale’ (I. Nickel- Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 292.) gegenüber, die den Text und seinen Gegenstand als die authentische Rede eines realen Autors über Faktisches erkennbar werden lassen. Die Funktion der jeweiligen Signale besteht darin, entweder die Fiktionalität oder die Faktizität bzw. Authentizität des textuellen Diskurses und seines Gegenstands für den Leser offenzulegen und damit seine Rezeptionshaltung zu steuern. Vgl. auch M. Fluderniks Überblick über Authentizitätsmarker wie (Unter-)Titel, Name des Autors, Diskussion der Methodik 119 Diese Fiktionssignale, auch ‚Fiktionsindikatoren’ genannt, erschweren oder verhindern die Referenz der dargestellten Welt; eine extensive Übersicht ohne Systematisierung und Kategorisierung bietet M. Riffaterre: […] authors’ intrusions; narrators’ intrusions; multiple narrators; humorous narrative that acts as a representation of the author or of a narrator or that suggests an outsider’s viewpoint without fully intruding; meta-language glossing narrative language; generic markers in the titles and subtitles, in prefaces, and in postfaces; emblematic names for characters and places; incompatibilities between narrative voice and viewpoint and characters’ voices and viewpoints; incompatibilities between viewpoint and verisimilitude, especially omniscient narrative; signs modifying the narrative’s pace and altering the sequence of events (backtracking and anticipation, significant gaps, prolepsis, and analepsis); mimetic excesses, such as unlikely recordings of unimportant speech or thought (unimportant but suggestive of actual happenings, of a live presence, creating atmosphere or characterizing persons); and finally, diegetic overkill, such as the representation of ostensibly insignificant details, the very insignificance of which is significant in a story as a feature of realism. 73 Diese Liste ist nicht allein aufgrund der fehlenden Systematisierung problematisch, sondern vor allem auch deshalb, weil einige der genannten Phänomene nicht zu den Fiktionsindikatoren zu rechnen sind, da sie auch in nicht-fiktionalen Texten auftreten können. Hierzu zählen insbesondere die von Riffaterre genannten narrativen Verfahren, welche die Chronologie der erzählten Ereignisse verändern (Prolepsen und Analepsen) bzw. Auswirkungen auf die ‚Geschwindigkeit’ des Erzählens haben (z.B. die genannten „gaps“ 74 bzw. Ellipsen). F. Zipfel hat in seiner Studie zum Fiktionsbegriff Riffaterres unsystematische Liste als Ausgangspunkt für eine differenzierte Typologisierung von Fiktionssignalen gewählt, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll. 75 Er unterscheidet zwischen textuellen und paratextuellen 76 Signalen; die textuellen Signale differenziert er wiederum nach ihrem Auftreten entwe- (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 83.). 73 M. Riffaterre: Fictional Truth. (1990), S. 29f. Ebenfalls einen Überblick über typische Fiktionssignale liefern M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001) und N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984). 74 Doležel definiert ‚gap’ als „zero texture“, die dann entsteht, wenn ein Autor von bestimmten Dingen nichts schreibt, mithin kein fiktionaler Fakt entsteht (L. Doležel: „Fictional Worlds: Density, Gaps, and Inference.“ (1995), S. 202.). 75 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001) 76 Vgl. hierzu G. Genette: Seuils. (1987), S. 7f. Genauer: G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 89. 120 der auf der Ebene der Geschichte bzw. der histoire oder auf der Ebene der narrativen Vermittlung bzw. des discours. 77 Zu den textuellen Fiktionssignalen zählt Zipfel ganz allgemein „[…] jene Merkmale eines Erzähl-Textes […], die sich aus der Phantastik der Geschichte oder der Phantastik des Erzählens […] ergeben.“ Diese Signale führen dem Leser die „[…] Nicht-Möglichkeit der Geschichte und/ oder der textinternen Erzähl-Situation […]“ vor Augen. 78 Zu den Fiktionssignalen auf der Ebene der Geschichte - es handelt sich dabei folglich um Fiktivitätssignale - zählen die bereits beschriebenen „[…] Formen der Phantastik des Ortes, des Raumes und der Ereignisträger […]“. 79 Hier geht es um die Diskrepanzen zwischen der „herrschenden Wirklichkeitskonzeption“, mithin der extratextuellen Realität, und der fiktionalen Welt: F. Zipfel vertritt die These, dass der Leser einen Text als fiktional rezipiert und die darin erzählte Geschichte als fiktiv, wenn diese nicht mit seiner eigenen bzw. der allgemein gültigen Weltsicht übereinstimmt. Ein Beispiel für ein Fiktionssignal auf der Ebene der histoire sind die sogenannten ‚sprechenden’ oder emblematischen Namen in literarischfiktionalen Erzähltexten: So tragen Romanfiguren häufig Namen, die sie in ihrer Persönlichkeit charakterisieren, was in der Wirklichkeit nur selten der Fall sein dürfte. 80 Fiktionssignale auf der Ebene der Erzählung - in der Terminologie Zipfels handelt es sich dabei um Fiktionalitätssignale - sind „[…] spezifische Abweichungen des fiktionalen Erzähl-Textes gegenüber faktualem Erzäh- 77 Eine ähnliche Einteilung schlagen auch I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 291f., vor: Sie unterscheiden eine „pragmatische Perspektive“ von einer „inhaltlich-semantischen Perspektive“ und einer „darstellungsbezogen-formalen Perspektive“. In der ersten Perspektive steht die „Werk- oder Textkategorie“ „Non-Fiction“ bzw. „Fiction“ im Mittelpunkt, in der zweiten der „Produktinhalt des Textes“ und hier die „Wirklichkeitsnähe“ oder „Wirklichkeitsferne“ der erzählten Welt und in der dritten der „Vermittlungsmodus“, welcher „realistisch“ oder „nicht-realistisch“ sein kann. Hingegen unterscheidet A. Nünning drei Kategorien von Fiktionssignalen: kontextuelle, textuelle und paratextuelle Signale (A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 153ff.). 78 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 234. 79 Ebd. 80 Hingegen sind sprechende Namen von Orten nicht ungewöhnlich, da viele Ortsnamen auf die Bezeichnung bestimmter Eigenschaften zurückzuführen sind. Ein auffälliges Beispiel ist in Zolas L’Assommoir der Name des Viertels - „le quartier de la Goutte-d’Or“ -, der auf die wichtige Rolle des Alkohols im Leben seiner Bewohner und insbesondere von Coupeau und seiner Familie verweist. (É. Zola: L’Assommoir. Chronologie, présentation, notes, dossier, bibliographie, lexique par Chantal Pierre- Gnassounou. (2000)) 121 len […]“. 81 Hier unterscheidet er zwischen zwei Arten von Fiktionalitätssignalen: Während bei direkten Fiktionalitätssignalen die Abweichung vom faktualen Erzählen tatsächlich durch die spezifische Fiktionalität des Erzählens begründet ist und sie sich daher nur in dieser Textsorte finden, resultiert bei den indirekten Fiktionalitätssignalen bzw. Fiktionsindizien die Abweichung von den Regeln faktualen Erzählens nicht aus der Fiktionalität des Textes; allerdings tritt diese Abweichung hauptsächlich in fiktionalen Texten auf, obwohl sie seltener auch in faktualen Texten anzutreffen sind. 82 Direkte Fiktionalitätssignale kennzeichnen den „[…] Erzähler bzw. die Erzähl-Situation der textinternen Sprachhandlungssituation als phantastisch […].“ Dazu zählen in heterodiegetischen Erzählungen insbesondere die Introspektion sowie die Rede- und Gedankendarstellung in erlebter Rede. Der Hinweis auf die Fiktionalität des Erzählens ergibt sich aus der in der realen Welt unmöglichen Tatsache, dass der Erzähler Zugang zur Psyche seiner Figuren hat. 83 Auch der „mimetische Exzess“ einer Detailfreudigkeit, die jedes menschenmögliche Erinnerungsvermögen übersteigt, ist vor allem in homodiegetischen Erzählungen ein Signal für Fiktionalität. 84 Darüber hinaus ist in diesen Erzählungen die Nicht-Identität der Eigennamen von Autor und Erzähler ebenfalls als Fiktionssignal zu bewerten; sie stellt den zentralen Unterschied zwischen fiktionalen und authentischen Autobiographien dar. 85 Ähnlich deutlich verweist auch die Darstellung der erzählten Welt in 81 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 235. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 235f. G. Genette vertritt in diesem Kontext sogar die These, dass „[…] le mode est bien en principe (je dis : en principe) un révélateur du caractère factuel ou fictionnel d’un récit, et donc un lieu de divergence entre les deux types.“ (G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 78.) Dagegen betont D. Cohn in „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 786, dass der historiographische Diskurs aufgrund der ihm nicht gewährten Möglichkeit zur Introspektion in seinen narrativen Möglichkeiten begrenzt sei: „[…] it cannot present past events through the eyes of a historical figure present on the scene, but only through the eyes of the forever backward-looking historian-narrator.“ Demgegenüber weist M. Fludernik darauf hin, dass das Auftreten von innerem Monolog bzw. erlebter Rede in Erzähltexten kein „waterproof evidence of fictionality“ ist, da beide Erzählstrategien auch in „conversational narratives“ oder in „tabloid press articles“ bei geminderter journalistischer Seriosität auftreten können (M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001), S. 94f.). Ebenso auch G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 92f. 84 Ferner ist hier ebenfalls das Wissen des Ich-Erzählers von Vorgängen in der Innenwelt seiner Figuren ein deutliches Fiktionalitätssignal, da sich Homodiegese und Allwissenheit grundsätzlich widersprechen. 85 So auch D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 792f. Sie weist darüber hinaus noch auf ein vergleichbares Fiktionalitätskriterium in heterodiegetischen Erzählungen hin: Hierbei handelt es sich um die typischerweise in 122 der narrativen Form des inneren Monologs aufgrund der real unmöglichen Erzählsituation auf die Fiktionalität der Erzählung. 86 Weiterhin zählt Zipfel unter bestimmten Voraussetzungen einerseits die „Selbst-Thematisierung des Erzählens“ und andererseits die „strukturelle Intertextualität“ zu den Fiktionssignalen. So zeigt laut Zipfel erstere nur dann Fiktion an, wenn die narratologische Reflexion des Erzählers entweder hinsichtlich der Erzähllogik inkonsistent ist 87 oder wenn der Erzähler die Fiktivität der Geschichte bzw. die Fiktionalität des Erzählens kommentiert. 88 Etwas unklar bleibt Zipfels Definition der „strukturellen Intertextualität“ - gemeint ist der Bezug einer Geschichte auf einen anderen fiktionalen Text 89 - und ihre Wertung als ein Fiktionssignal: Zipfel begründet ihr fiktionsindizierendes Potential nicht ganz überzeugend mit der Unwahrscheinlichkeit, dass eine ‚reale‘ Ereignisfolge eine so große Ähnlichkeit mit einer literarischen Vorlage aufweist. 90 Heterodiegesen auftretenden Fälle von „unreliable narration […] that is, where a narrator, though not a character physically present in the fictional world, nonetheless takes on conspicuous mental presence by uttering nonmimetic, ‘opaque’ sentences.” (Ebd., S. 799.) Dieses ‘unzuverlässige Erzählen’ sei ein Zeichen für die spezifische Polyphonie fiktionaler Erzählungen und damit ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen fiktionalen und faktualen Erzähltexten. (Ebd., S. 799.) 86 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 236. 87 In meiner eigenen Terminologie handelt es sich bei diesen ‚wertneutralen’ Bemerkungen des Erzählers zu seinem Erzählen um ‚metanarrative’ Kommentare. 88 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 237. Zipfel nennt hier die Kommentare des Erzählers, die den Erzähltext als Erzählung von nicht-wirklichen Ereignissen bzw. als seine eigene Erfindung darstellen, sowie konventionelle fiktionsanzeigende Formeln wie ‚Es war einmal...’. Allerdings bezeichnet Zipfel diese Phänomene nicht mit den korrekten, und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Dissertation bereits etablierten literaturwissenschaftlichen Termini ‚Metanarration’ bzw. ‚Metafiktion’. 89 Auch hier bleibt Zipfel hinter dem Forschungsstand zurück, wenn er auf eine Differenzierung der Formen und vor allem auch der Funktionen von Intertextualität verzichtet. 90 Laut Zipfel wird auf diese Weise z.B. die Fiktivität von Figuren in einer Erzählung und damit die Fiktionalität der Erzählung selbst offengelegt. Doch hängt - wie er betont - die Deutlichkeit der strukturellen Intertextualität als Fiktionssignal von der Intensität der intertextuellen Bezüge ab. Hier bleibt Zipfel ungenau und hinter Wolfs Analyse der Intertextualität als metafiktionales Verfahren zurück: Nach Wolf sind nur die ‚kritischen’ Formen der Intertextualität metafiktional, wenn ein Text sich entweder als „bewusst inauthentisches ‚Pastiche’“ offenlegt oder in der Form der Parodie Literatur als Fiktion thematisiert und inszeniert (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 284f.). 123 Im Gegensatz zu den direkten Fiktionssignalen sind die indirekten Fiktionssignale bzw. Fiktionsindizien laut Zipfel „[…] schwieriger zu fassen […], da sie nicht systematisch aus der Fiktivität der Geschichte oder der Fiktionalität des Erzählens abgeleitet werden können“, sich in abgeschwächter Form also auch in faktualen Texten finden lassen. 91 Als Indizien für Fiktionalität können nach Zipfel eine rein externe Fokalisierung, der Romanbeginn in medias res, die grundsätzliche Unbestimmtheit einer Geschichte in Bezug auf Ort und Zeit des Geschehens, sehr ausgeprägte Anachronien bis hin zur Achronie 92 sowie „wirklichkeitsillusionsbildende“ Detailbeschreibungen gelten. 93 Auch der Paratext kann Hinweise auf die Fiktionalität eines literarischen Erzähltextes enthalten. 94 Zu diesen zählen insbesondere Gattungsbezeichnungen wie z.B. ‚Roman’ oder ‚Novelle’ auf der Titelseite, die in der Regel Fiktionalität implizieren. 95 Daneben kann auch der Titel auf die Fiktionalität des Textes hinweisen, ebenso wie die bereits angesprochene Nicht- Identität zwischen dem Namen des Autors und dem Namen des homodiegetischen Erzählers. Nicht zuletzt fungieren auch vom Autor verfasste Vor- und Nachworte, in denen die Fiktivität der Geschichte thematisch wird, als deutliches Fiktionssignal; auch vom Verlag stammende Paratexte können Informationen über die Faktualität oder Fiktionalität des Textes enthalten. 96 Abschließend soll mit Zipfel betont werden, „[…] daß allgemein als Fiktionssignale interpretierte Rezeptionssignale nicht in jedem Fall ein eindeu- 91 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 238. 92 So stellt auch D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 783, fest, dass die Zeitstruktur in historiographischen Texten dem Quellenmaterial und der Fragestellung gehorche, während die zeitliche Organisation fiktionaler Erzählungen in einem Zusammenhang mit der „narrative situation“ stehe. 93 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 238-241. 94 Vgl. die von G. Genette genannten Elemente des Paratextes: „le péritexte éditorial, le nom d’auteur, les titres, la prière d’insérer, les dédicaces, les épigraphes, l’instance préfacielle, les préfaces, les intertitres, les notes, l’épitexte public, l’épitexte privé.“ (G. Genette: Seuils. (1987)) Ebenso: G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 89: „Les ‚indices’ de la fiction ne sont pas tous d’ordre narratologique, d’abord parce qu’ils ne sont pas tous d’ordre textuel: le plus souvent, et peut-être de plus en plus souvent, un texte de fiction se signale comme tel par des marques paratextuelles qui mettent le lecteur à l’abri de toute méprise et dont l’indication générique roman, sur la page de titre ou la couverture, est un exemple parmi bien d’autres.“ 95 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 242. Hingegen kann sich der BEgriff ‚Erzählung’ in seltenen Fällen auch auf faktuale Texte, beispielsweise Autobiographien, beziehen. 96 Ebd., S. 242f. 124 tiges und unumstößliches Indiz für Fiktionalität darstellen.“ 97 Vielmehr hängt die spezielle fiktionsindizierende Funktion dieser Signale von jeweils geltenden literarischen und allgemein sprachlichen (auf Erzähltexte) bezogenen Konventionen sowie von ihrer Frequenz ab. Zu den Konventionen zählt z.B. auch - wie Zipfel anschaulich zeigt -, dass sich der im Paratext festgelegte faktuale Status eines Textes durch intratextuell auftretende, eigentlich nur in fiktionalen Texten mögliche Erzähltechniken nicht verändert, sondern diese vom Leser als ungewöhnliche Stilmerkmale interpretiert werden. 98 Das nachfolgende Schaubild präsentiert Zipfels Systematik der textuellen und paratextuellen Fiktionssignale. Fiktionssignale Textuelle Fiktionssignale Paratextuelle Fiktionssignale Fiktionssignale auf der Ebene der Geschichte (= Fiktivitätssignale) • Phantastik der Ereignisträger • Phantastik des Ortes • Phantastik des Raumes Fiktionssignale auf der Ebene der Erzählung (= Fiktionalitätssignale) • Direkte Fiktionalitätssignale • Heterodiegese: Darstellung von Innenwelt Dritter, Rede- und Gedankendarstellung in erlebter Rede • Homodiegese: Detailfülle, Darstellung von Innenwelt Dritter, Nicht-Identität von Autor- und Erzählername, (autonomer) innerer Monolog • Allgemein: Unvollständigkeit oder Nicht- Möglichkeit der textinternen Erzähl-Situation, Erzählen im Präsens, strukturelle Intertextualität • Indirekte Fiktionalitätssignale/ Fiktionalitätsindizien • Allgemein: rein externe Fokalisierung, Romanbeginn ‚in medias res‘, grundsätzliche Unbestimmtheit einer Geschichte in Bezug auf Ort und Zeit des Geschehens, sehr ausgeprägte Anachronien bis hin zur Achronie, ‚wirklichkeitsillusionsbildende‘ Detailbeschreibungen • Gattungsbezeichnungen, die Fiktionalität implizieren (‚Roman‘, ‚Novelle‘) • Titel • Nicht-Identität Autorname und Name des homodiegetischen Erzählers • Thematisierung der Fiktivität der Geschichte in Vor- und Nachworten des Autors • Thematisierung der Fiktivität der Geschichte in Paratexten des Verlags Abbildung 9: Fiktionssignale (nach F. Zipfel) 97 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 244. 98 Ebd., S. 244f. Daneben besteht auch die Möglichkeit, durch Faktualitätssignale wie Herausgeberfiktionen oder Fußnoten einen eigentlich fiktionalen Text als faktual zu präsentieren. (Ebd., S. 246.) 125 3.2 Ein neues Modell der Metafiktion: ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ als narratologische Analysekategorien Wie wiederholt in der Forschung angemerkt wurde, gehört es „[z]u den Freiheiten der literarischen Fiktion, daß sie ihre eigene fiktionale Verfasstheit zum Thema machen kann. Die Fiktion wird folglich zur Metafiktion.“ 99 Dabei wirkt - so M.-L. Ryan - die Metafiktion als „defictionalization“, als Suspendierung der Fiktion: den noch in realistischen Erzähltexten gültigen „privileges of fictional communication“ wird insbesondere in der postmodernen Literatur abgeschworen und der textuelle Ursprung der innerfiktionalen Welt offenbart. So wird das sprachliche bzw. fiktionale narrative Medium sichtbar und damit die Fiktionalität des Textes insgesamt. 100 Diese autoreferentielle Kommentierung der eigenen Fiktionalität wurde - dies haben die obigen Ausführungen gezeigt - aus zwei verschiedenen theoretischen Richtungen beleuchtet: Zum einen hat sich ein eher wirkungsästhetisch ausgerichteter Ansatz (Lauzen, Wolf) mit den Konsequenzen auseinandergesetzt, welche die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der eigenen Künstlichkeit - sowohl des Artefakt-Status als auch der Nicht-Referentialität - für die ästhetische Illusion hat. Und zum anderen haben Erzähltheoretiker wie Cohn und Zipfel versucht, die narrativen Unterschiede zwischen fiktionalen und faktualen Textsorten zu bestimmen. Bei ihren Analysen fiktionaler Erzähltexte entdeckten sie bestimmte Fiktions- und Authentizitätssignale, die entweder ausschließlich oder doch überwiegend eine Eigenschaft der betreffenden Textsorte ist. Während der erstgenannte, wirkungsästhetische Ansatz ‚Metafiktion’ vor allem als Verstoß gegen die Prinzipien ästhetischer Illusionsbildung begreift, interpretiert die Narratologie die für uns relevanten Fiktionssignale als strukturelle Eigenschaften narrativ-fiktionaler Texte, die sich auf der histoire- und der discours-Ebene manifestieren. Mit Blick auf das wirkungsästhetische Modell metafiktionalen Erzählens stellt sich jedoch die Frage, ob ‚Metafiktion’ tatsächlich stets mit einer Suspendierung der ästhetischen Illusion einhergeht. Wie gezeigt werden konnte, äußert sich Wolf in dieser Frage äußerst ambivalent: Zwar macht er das illusionsstörende Potential expliziter Metafiktion von der Häufigkeit ihres Auftretens im Text sowie von ihrem unmittelbaren Kontext abhängig. Doch setzt er zugleich in Ermangelung einer überzeugenden Typologie der 99 U. Japp: „Die literarische Fiktion.“ (1995), S. 57. 100 M.-L. Ryan: „Postmodernism and the Doctrine of Panfictionality.“ (1997), S. 168f. Ähnlich auch W. Petersen, der von der „Sprengung des Rahmens der Fiktionalität durch die Preisgabe des Erzählten als bloße Erfindung“ spricht (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 183.). 126 impliziten Varianten der Metafiktion diesen Typus mit allgemein auf die histoire bzw. den discours zielenden illusionsstörenden Verfahren gleich. Am narratologischen Konzept der Fiktionssignale ist hingegen zu bemängeln, dass nicht unterschieden wird zwischen einerseits in der Tiefenstruktur der Texte eingeschriebenen Fiktionsindizien wie z.B. die implizite Kommunikationssituation und andererseits an der Textoberfläche wahrnehmbaren metafiktionalen Anspielungen auf den eigenen fiktionalen Status, die entweder als Erzähler- oder als Figurendiskurs manifest werden können. Neben den genannten Schwächen bieten die beiden Konzepte dennoch einige Anknüpfungspunkte für das hier neu zu entwickelnde narratologische Modell metafiktionalen Erzählens: Zu nennen sind Wolfs Definition der Metafiktion als ‚intendierte’, absichtsvolle, Kommentierung der eigenen Fiktionalität entweder durch den Erzähler oder die Figuren sowie seine typologische Differenzierung zwischen expliziten, offenen, und impliziten, verdeckten, Formen der Metafiktion. Zipfel hingegen bestimmt mit der histoire und dem discours die Ebenen des Textes, auf denen ‚Fiktivität’ bzw. ‚Fiktionalität’ im Sinne von ‚Nicht- Wirklichkeit’ oder ‚Erfundenheit’ erfahrbar werden. Das in der vorliegenden Arbeit entworfene, narratologische Modell metafiktionalen Erzählens beschreitet nun in mehrfacher Hinsicht neue methodische Wege: Zum einen soll Metafiktion stärker als bei Wolf auf zentrale Ebenen narrativ-fiktionaler Texte rückbezogen werden: auf die histoire und auf den discours und die sich hier manifestierende, von Zipfel eingängig beschriebene Fiktivität und Fiktionalität. Der metafiktionale Kommentar zielt folglich einerseits metafiktiv auf die Erfundenheit von Figuren, Orten und Zeitangaben und andererseits metafiktional auf die fehlende Verankerung der narrativen Vermittlung in der Realität, mithin auf die Zugehörigkeit des Werks zu den narrativ-fiktionalen Texten. In Abgrenzung zu den von Zipfel definierten und typologisierten Fiktionssignalen wird ‚Metafiktion’ von uns als intendierter, absichtsvoller - metafiktionaler oder metafiktiver - Diskurs über Fiktionales und Fiktives definiert; dieser kann explizit in Form von zitierbarer Erzähler- oder Figurenrede geführt werden oder implizit als Inszenierung von Nicht-Realität in Erscheinung treten. Die Intention des Textes bzw. seiner Erzählinstanz zur Offenlegung von Fiktivität und Fiktionalität wird erkennbar vor allem an der Qualität der Metafiktion: dabei handelt es sich in erster Linie um explizite metafiktionale Kommentare des Erzählers oder einer Figur zur Erfundenheit der eigenen Geschichte oder der eigenen Welt. Abhängig von der Qualität und Quantität der expliziten Metafiktion sind dann auch für spät- und postmodernistische fiktionale Texte typische Phänomene wie Auffälligkeiten in der narrativen Struktur und auf der Ebene der Geschichte (z.B. Brüche in der Chronologie oder der Kausalität des Erzählens, Auf- 127 fälligkeiten der narrativen Vermittlung oder Übersemantisierungen von Orten, Personen oder Ereignissen) als implizit metafiktional zu bewerten. Im Folgenden soll zunächst in Auseinandersetzung mit Zipfels sprachhandlungstheoretischem Modell der Fiktion sowie mit Wolfs wirkungsästhetisch orientierter Theorie der Metafiktion der Begriff des ‚metafiktionalen Erzählens’ präzisiert werden. Im Anschluss werden in Form eines vorläufigen Überblicks verschiedene metafiktionale Erzählverfahren präsentiert werden; dabei werden die jeweiligen Phänomene nach den Orten unterschieden, an denen sie im Text erscheinen: der histoire-Ebene und der discours-Ebene. 101 Diese vorläufige Kategorisierung soll am Ende der Arbeit unter Einbeziehung der Ergebnisse aus den Textanalysen in eine Systematik metafiktionalen Erzählens überführt werden, die sich an narratologischen Analysekategorien orientiert. 3.2.1 Definitionen Ein Ergebnis unseres Überblicks über die bisherige Theoriebildung zur Metafiktion war, dass das Ursprungswort des Begriffs - ‚Fiktion’ - bislang nicht klar definiert wurde und dass dementsprechend vielfältig die als ‚metafiktional’ bezeichneten literarischen Phänomene waren. Auch der bislang ambitionierteste Ansatz einer Definition und Systematik metafiktionalen Erzählens - die Theorie der Illusionsstörung von W. Wolf, in welche seine Überlegungen zur Metafiktion eingebettet sind - bleibt bei der Bestimmung des Begriffsinhaltes von ‚Fiktion’ ungenau und unterscheidet nicht sehr überzeugend den fictumvon dem fictio-Status des narrativfiktionalen Textes; Metafiktion kommentiert also die ‚Erfundenheit’ und die ‚Gemachtheit’ fiktionaler Erzähltexte. Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs von ‚Fiktion’ schlägt Zipfel eine Binnendifferenzierung des Begriffs vor und unterscheidet ‚Fiktivität’ 102 von ‚Fiktionalität’ 103 , je nachdem ob die Künstlichkeit des fiktionalen Erzähltextes sich auf der Ebene der Geschichte oder auf derjenigen der narrativen Vermittlung manifestiert. Da sich per definitionem alle mit dem Präfix metagebildeten Wörter dadurch auszeichnen, ein bestimmtes Phänomen von einem übergeordneten 101 Die von mir angewandte Methodik zählt demnach zu den sogenannten top-down methods bzw. den nomothetic procedures, da die Annäherung an die literarischen Texte deduktiv von einer höheren Abstraktionsebene aus erfolgt. (Zu dem Unterschied zwischen bottom-up procedures und top-down procedures siehe H. Bonheim: Literary systematics. (1990), S. 10.) 102 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 68. 103 Ebd., S. 179. 128 Standpunkt aus zu kommentieren, so soll im Folgenden ‚Metafiktion’ 104 als autoreferentieller, absichtsvoller Kommentar eines Textes zur eigenen Fiktivität sowie zur eigenen Fiktionalität definiert werden; im ersten Fall ist er metafiktiv, im zweiten metafiktional. Dieser Kommentar kann entweder explizit als zitierbare Rede eines Erzählers oder einer innerfiktionalen Figur in Erscheinung treten oder implizit als verdeckte Inszenierung von Künstlichkeit. Abgegrenzt werden muss der hier neu definierte Begriff der Metafiktion von zwei verwandten Konzepten: einerseits von den Fiktionssignalen, welche den Unterschied zwischen fiktionalen Erzähltexten und ihren faktualen Antipoden begründen, und andererseits von W. Wolfs wirkungsästhetischem Modell metafiktionalen Erzählens. F. Zipfel hat als erster die seit langem in der Literaturwissenschaft bekannten und vor allem im Zusammenhang mit der Differenzierung zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen diskutierten textuellen ‚Fiktionssignale’ nicht nur überblicksartig aufgelistet, sondern auch nach dem Ort ihres Erscheinens im Text - histoire oder discours - systematisiert. Mag seine Typologie auch sehr differenziert sein, bleibt doch seine Definition der Fiktionssignale wenig aussagekräftig und zielt auf „[…] Phänomene […], die auf mehr oder weniger eindeutige Weise anzeigen oder nahelegen, daß ein Text fiktional ist.“ 105 In dieser Begriffsbestimmung erscheint der autoreferentielle Hinweis auf die eigene Fiktionalität nicht als etwas ‚Absichtsvolles’, sondern beschreibt vielmehr allgemeine, z.T. in die Tiefenstruktur 106 eingeschriebene Merkmale fiktionaler Erzähltexte, wie auch seine Typologie der textuellen Fiktionssignale zeigt: „Phantastik der Ereignisträger, des Ortes, des Raumes, Darstellung der Innenwelt Dritter in der Hetero- und Homodiegese, unwahrscheinliche Detailfülle in der Homodiegese, Unvollständigkeit oder Nicht-Möglichkeit der textinternen Erzähl- Situation sowie ausgeprägte Anachronien.“ 107 Der grundlegende Unterschied zwischen den von Zipfel beschriebenen Fiktionssignalen einerseits und metafiktionalen Kommentaren andererseits liegt in der Intentionalität der Metafiktion: Während es sich bei ‚Fiktions- 104 Dem in der Literaturwissenschaft verbreiteten Terminus ‚Metafiktion’ kommt hier die Funktion eines ‚Oberbegriffs’ ohne spezifische Bedeutung zu: Er bezeichnet allgemein Phänomene, die mit der Fiktion eines Textes zusammenhängen. 105 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 232. 106 H.P. Dannenberg: „Die Entwicklung von Theorien der Erzählstruktur und des Plot- Begriffs.“ (1998), S. 52, definiert als ‚Oberflächenstruktur’ die „[…] erkennbaren Merkmale eines konkreten Textes […]“ und als ‚Tiefenstruktur’ die „[…] Abstraktionsebene für die Formulierung grundlegender Regeln […]“. 107 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 234-243. Vgl. ebenso Abbildung 9: Fiktionssignale (nach F. Zipfel), Seite 124. 129 signalen’ um allgemeine, z.T. in der Tiefenstruktur angelegte, Merkmale der Gattung fiktionaler Erzähltexte handelt, stellen Metafiktivität und Metafiktionalität absichtsvolle Kommentare zur ‚Fiktion’ entweder auf der Ebene der Geschichte oder auf der des Erzählens dar. Die ‚Absicht’ des Textes bzw. der jeweiligen Erzählinstanzen wird insbesondere bestimmt durch die Qualität und Quantität der expliziten Metafiktion. Auf W. Wolf wiederum geht die erste differenzierte Begriffsbestimmung von ‚Metafiktion’ zurück; diese definiert er als […] metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die - unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung - folgender Bedingung genügen: Sie müssen den Rezipienten in spürbarer Weise Phänomene zu Bewußtsein bringen, die sich nicht auf den Inhalt von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit beziehen, sondern auf das eigene, fremde oder allgemeine Erzählen als (Sprach-)Kunst und namentlich auf dessen Fiktionalität (im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt). 108 Die vorgeschlagene Definition wirft jedoch mehrere Fragen auf, die vor allem mit dem von Wolf bestimmten Gegenstandsbereich der Metafiktion zusammenhängen. Insbesondere der Ausschluss des „Inhalt[s] von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit“ erscheint widersprüchlich und nicht nachvollziehbar: Die Beschränkung des metafiktionalen Kommentars allein auf Phänomene, die mit dem ‚Erzählen’ zusammenhängen, ist zu eng gefasst; offen gelegt wird ja nicht nur die Fiktion des Erzählvorgangs, sondern - und dies weitaus häufiger - der ‚Schein’ der narrativ vermittelten Wirklichkeit. Überhaupt wird nicht deutlich, was genau der doch vage bleibende Begriff „Erzählen als (Sprach-)Kunst“, der nach Wolf das Ziel des metafiktionalen Kommentars darstellt, beschreibt. Die sich anschließende Definition dieses ‚Erzählens’ als ‚fiktional’ „im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt“ bietet ebenso wenig Aufschluss über das Gemeinte. 109 Zwar impliziert der von Wolf postulierte metafiktionale Bezug auf die ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der narrativ vermittelten Welt unsere Definition von ‚Metafiktivität’ als Kommentar zur Nicht-Wirklichkeit der erzählten Geschichte, auch wenn die Elemente dieser fiktiven Welt nicht genannt werden. 110 Doch bleibt insbesondere Wolfs Bestimmung des fiktionalen 108 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 37. 109 In früheren Definitionsansätzen verwendet Wolf die lateinischen Begriffe „fictio- Status“ bzw. „fictum-Status“ (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223 bzw. v.a. 228.). 110 Es wird also nicht deutlich - dies ist ein großes Manko von Wolfs Definition der Metafiktion und eine Folge seines nicht genügend ausdifferenzierten Fiktionsbegrif- 130 Erzählens als „(Sprach-)Kunst“ unklar und auch seine Definition von ‚Metafiktion’ als Offenlegung der „Gemachtheit“ dieses fiktionalen Erzählens. Schließlich ist jeder - fiktionale oder faktuale - Erzähltext ‚gemacht’, aber nicht jeder Erzähltext ist fiktional. Auch hier ist die Unschärfe von Wolfs Begriffsbestimmung durch die fehlende Ausdifferenzierung seines Fiktions-Begriffes bedingt: ‚Fiktionalität’, mithin die Fiktion des Erzählvorgangs, konstituiert sich weniger - so lautet meine These - in der ‚Gemachtheit’ des Erzähltextes, als in seiner Spezifität im Vergleich zu seinem jeweiligen (fingiert) faktualen Gegenüber. Der metafiktionale Kommentar zielt somit auf die charakteristische ‚Nicht-Wirklichkeit’ fiktionaler Erzähltexte, z.B. historischer Romane oder fiktionaler Auto-/ Biographien vor dem Hintergrund ihrer faktualen Antipoden wie dem historiographischen, autobiographischen oder biographischen Text. 3.2.2 Typologie Das Hauptziel der folgenden Überlegungen besteht darin, ausgehend von der hier vorgeschlagenen neuen Definition der ‚Metafiktion’ ein Raster deskriptiver Kategorien bereitzustellen, die im Anschluss die Analyse metafiktionaler Textstrukturierungsverfahren im Werk Claude Simons ermöglichen. Unsere Definition von ‚Metafiktion’ als Kommentierung von ‚Fiktion’ auf der Ebene der narrativen Vermittlung wie auf der der erzählten Geschichte impliziert vier Varianten metafiktionalen Erzählens: so lassen sich nach dem jeweiligen intratextuellen Ort, an dem sich die spezifische ‚Nicht-Wirklichkeit’ fiktionaler Erzähltexte manifestiert, ‚Metafiktivität’ als Diskurs über die Fiktivität bzw. Erfundenheit auf der Ebene der histoire von ‚Metafiktionalität’ als Kommentar zur Fiktionalität bzw. Erfundenheit auf der Ebene des discours unterscheiden. Im Hinblick auf ihre Vermittlungsform kann Metafiktion entweder explizit als Thematisierung einer Erzählinstanz bzw. einer Figur oder implizit als Inszenierung von Fiktivität und Fiktionalität in Erscheinung treten. 111 fes -, welche Faktoren die ‚Unwirklichkeit’ der erzählten Welt konstituieren und in Opposition zu welchem Gegenpol sich ihre spezifische Unwirklichkeit konstituiert: Es handelt sich dabei um die ‚Alltagswirklichkeit’ des Rezipienten. 111 Diese Systematik der Metafiktion verdankt wertvolle Anregungen sowohl F. Zipfels Unterscheidung von ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ als auch W. Wolfs Typologie expliziter und impliziter Formen der Metafiktion. Allerdings trennt Wolf nicht deutlich zwischen Phänomenen auf der histoire- und auf der discours-Ebene; häufig werden implizit metafiktionale Textstrategien ganz unterschiedlichen Kategorien zugeordnet, vgl. Wolfs Bemerkungen zur Deskription und Argumentation (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 311-316; S. 426-436.) Vor allem aber bleibt Wolfs Typologisierung der impliziten Variante der Metafiktion unscharf; er definiert sie vage als „[…] ein[e] mehr oder weniger unterschwellig[e] 131 Zu den expliziten, auf die Ebene der Geschichte bezogenen metafiktiven Formen zählen Kommentare des Erzählers zur Erfundenheit der von ihm erzählten Geschichte bzw. der Figuren, Ereignisse, Orte oder Zeitangaben. Dies kann typischerweise auch durch ihre Offenlegung als Produkt seiner Imagination oder als Gegenstand seiner Träume geschehen, aber auch durch explizite Diskurse des Erzählers über sein ‚Nicht-Wissen’. Diese Enthüllung des gleichsam ‚virtuellen’ Status von Teilen der erzählten Welt bedingt eine Verdopplung der innertextuellen ontologischen Ebene des ‚Nicht-Realen’: So können die im Text beschriebenen Elemente einerseits bezogen auf die extratextuelle Welt fiktiv sein; sie sind es - wie im Falle von Träumen oder Imagination - jedoch häufig auch im Hinblick auf die innerfiktionale ‚Realität’: Es soll daher im Folgenden zwischen den ontologischen Ebenen ‚extrafiktional real’ und ‚innerfiktional real’ sowie ‚extrafiktional fiktiv’ sowie ‚innerfiktional fiktiv’ unterschieden werden. 112 Hingegen fungieren Übersemantisierungen von Orten, Personen oder Gegenständen bzw. eine allgemein auffällige Gestaltung der Geschichte und ihrer Bestandteile 113 als implizite, auf die histoire-Ebene bezogene, Tendenz eines Textes, die Fiktionalität (im Sinne von Gemachtheit oder Erfundenheit) in den Vordergrund zu rücken.“ (W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36.) Als Beispiel für typische Verfahren nennt er einerseits das „foregrounding der Textmaterialität in typographical devices“ (als discours-Phänomen) und andererseits - diesmal im Einklang mit F. Zipfels Kategorie der ‚Fiktivität’ - „auffallend[e] Unwahrscheinlichkeiten oder Unmöglichkeiten bei der Konstruktion der histoire.“) Vor allem aber - und dies ist die größte Schwäche seines Modells aus narratologischer Sicht - räumt Wolf unter dem Stichwort ‚Perspektivik’ narratologischen Fragestellungen in einem engeren Sinne nur einen nachgeordneten Platz ein und untersucht unter Ausblendung weiter Teile der Genette’schen Theoriebildung einzig Stanzels Erzählsituationen auf ihr illusionsstörendes Potential, ohne jedoch auf die Spezifität fiktionalen Erzählens im Vergleich zum faktualen Erzählen einzugehen. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 407ff.) 112 So weist M.-L. Ryan darauf hin, dass die Darstellung von Träumen als „marker of irreality“ fungieren und ontologisch zu einer innerfiktional anderen Welt gehören: Die „[…] private mental worlds [stand] in opposition to the physical reality of the textual world.“ (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 263.) Diese von ihr ‘virtual narration’ genannte Binnenerzählung „[…] intercepts the reflection of virtual worlds […]“ und stellen „fictions within fictions“ dar. (Ebd., S. 264.) Auf ähnliche Weise unterscheidet U. Margolin zwischen der textuell faktualen Welt einerseits und der subjektiven Welt des Erzählers andererseits; letztere umfasst Glaube, Hypothesen und ‚alternative Welten’ in Form von Wünschen und Imaginationen (U. Margolin: „Reference, Coreference, Referring, and the Dual Structure of Narrative.“ (1991), S. 518.). 113 Z.B. durch mises en abyme, Parallelisierungen, besondere Motiv- und Themenstrukturen, mots-carrefour, Wiederholungen, Instabilität bezüglich der Zeit- oder Raumgestaltung und der Figurenidentität (Vgl. z.B. J. Ricardous Bemerkungen zum „death of the 132 metafiktive Formen. Eine wichtige Variante der impliziten, auf die Ebene der Geschichte zielenden Metafiktivität sind darüber hinaus die verschiedenen Formen der Metalepse: Zu nennen ist einerseits die Überschreitung der Grenze zwischen der extratextuellen und der innerfiktionalen Realität, wenn z.B. der ‚Autor’ in seinem eigenen Werk erscheint oder die Figuren anfangen, das ‚reale Leben’ des Autors zu bevölkern. Andererseits fungiert auch die Grenzüberschreitung zwischen innerfiktionaler ‚Realität’ und Fiktion als Metalepse, wenn sich die Welt des heterodiegetischen Erzählers auf paradoxe Weise mit der seiner Figuren vermischt. Eine weitere Variante dieses innerfiktionalen ‚Bruchs’ zwischen ontologischen Ebenen ist eine paradoxe Form der Intermedialität, z.B. wenn in der ‚realen’ Welt der Geschichte ein unbelebtes Kunstwerk plötzlich ‚animiert’ bzw. narrativisiert wird, also in eine Binnenfiktion bzw. eine hypodiegetische Erzählung übergeführt wird. Die Umkehrung ist ebenfalls möglich: Eine binnenfiktional scheinbar ‚reale’ Szene entpuppt sich als narrativisierte Beschreibung eines Gemäldes und wird damit in ihrer binnenfiktionalen Künstlichkeit enthüllt; der Text gleitet hier vom narrativen in den deskriptiven Modus. 114 Neben der beschriebenen Erfundenheit auf der Ebene der erzählten Geschichte kann Fiktionalität auch auf der Ebene des Erzählens metafiktional kommentiert werden. So zählt zur expliziten Metafiktionalität insbesondere die Dekonstruktion der vom Text imitierten faktualen bzw. fingiertfaktualen Erzählformen: Dies geschieht zum einen, wenn die Illusion eines als autonomer innerer Monolog präsentierten Gedächtnisstroms durch das paradoxe Auftreten von erzähllogisch unmöglichen, das Vorhandensein einer Erzählsituation entlarvenden Verfahren zerstört werden. Zum anderen kann eine (fingierte) Autobiographie als Roman entlarvt werden oder, als weitere Unterkategorie, eine offensichtliche ‚Fiktion’ in die (scheinbar) fictional character“ in den Nouveaux Romans, womit insbesondere der Angriff auf die traditionellen Attribute des „solid Balzacian character” - Name, soziale Rolle, Nationalität, Verwandtschaft, Alter und physische Erscheinung gemeint ist. (J. Ricardou: „Nouveau Roman, Tel Quel.“ (1981), S. 103.)) ebenso wie alternative Schlüsse, Widersprüche und unwahrscheinliche Zufälle. 114 Vgl. hierzu auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 359-372. Diese metaleptischen Varianten der impliziten Metafiktivität können in sogenannten ‚Komplexionsformen’ gipfeln, z.B. durch die Kombination mehrerer dieser narrativen Kurzschlüsse in einem einzelnen Werk oder aber durch paradoxe, zirkulare Möbius-Band-ähnliche Erzählungen. Eine Übersicht über diese und ähnliche paradoxe Formen der Metalepse liefert B. Morrissette: „Robbe-Grillet No. 1, 2... x.“ (1972), S. 129f. In Anlehnung an die in der Mathematik entwickelte topologie nouvelle beschreibt Morrissette verwandte Formen in der Literatur, die sich nach den Verdopplungen und den jeweiligen Verortungen des récit auf den verschiedenen narrativen Ebenen unterscheiden. 133 faktische Welt einer (fingierten) historiographischen oder autobiographischen Erzählung eindringen. Der (fingiert-)faktuale Text und seine besonderen Eigenschaften stellen auch im Falle der impliziten Inszenierung von ‚Fiktion’ auf der Ebene des Erzählens den Antipoden und das Vergleichsobjekt dar, auf das sich die metafiktionale Offenlegung von Künstlichkeit bezieht. Im Vergleich mit faktualen Erzähltexten weisen vor allem Auffälligkeiten der narrativen Vermittlung (z.B. erzählerische unreliability oder eine unklare Erzähleridentität 115 , narrative Digressionen, ‚Nicht-Erzählen’ in Form der Camera-eye- Perspektive) auf den fiktionalen Status des Textes hin. Weitere Varianten sind erzählerische Ellipsen bzw. allgemeine Leerbzw. Unbestimmtheitsstellen, paradoxe und unauflösbare Anachronien bzw. Achronie, intertextuelle Inszenierung des Textes nach dem Muster fremder, offensichtlich fiktionaler Gattungen, unwahrscheinliche Deskriptionen (z.B. große Detailfülle in (fingierten) Autobiographien) 116 , die unauflösbare Multiplikation narrativer Ebenen (Hypertrophie des Erzählens) sowie die Parodie überholter Erzählkonventionen anderer fiktionaler Gattungen (z.B. des realistischen Romans). Die folgende graphische Darstellung des hier neu entwickelten narratologischen Modells der Metafiktion bietet einen Überblick über die metafiktiv und metafiktional kommentierten Ebenen des Erzähltexts, auf denen Fiktion im Sinne von Fiktivität und Fiktionalität beschreibbar wird, sowie über die möglichen Vermittlungsformen der Metafiktion. 115 So nennt J. Ricardou das Phänomen der „floating narrators“ - die Präsenz verschiedener, nur schwer unterscheidbarer Erzähler -, welches Ambiguität auf der Ebene der „fiction as a whole“ erzeugt (J. Ricardou: „Nouveau Roman, Tel Quel.“ (1981), S. 123f.). Dazu auch A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 120-155; L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 11. 116 Vgl. hierzu R. Barthes‘ Analyse der Beschreibungstechnik A. Robbe-Grillets, deren Funktion seiner Meinung darin besteht, den Leser von der erzählten Geschichte zu distanzieren sowie die Suche nach einem Sinn der Beschreibung aufzugeben (R. Barthes: „Le point sur Robbe-Grillet? [1962].“ (1964), S. 199.). Ebenso D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 237f. Auch A. Kablitz wertet die antimimetischen Beschreibungen im Nouveau Roman als Metafiktion im Sinne eines absichtsvollen Aufdeckens von Fiktionalität (A. Kablitz: „Erzählung und Beschreibung. Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte.“ (1982), S. 83f.). Vgl. ebenso S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 101. 134 • Auffällige Struktur der narrative Vermittlung (erzählerische unreliability, unklare Erzähleridentität, Digressionen, ‚Nicht- Erzählen‘ bzw. Camera-eye-Perspektive) • Ellipsen und Leerbzw. Unbestimmtheitsstellen • Paradoxe Anachronien bis zur Achronie • Intertextuelle Inszenierung des Textes nach fremden fiktionalen Gattungen (z.B. Märchen, Mythos) • Unwahrscheinliche Deskriptionen (z.B. Detailfülle in (fingierten) Autobiographien) • Paradoxe Multiplikation narrativer Ebenen (Hypertrophie des Erzählens) • Parodisierung überholter Erzählkonventionen anderer fiktionaler Gattungen (z.B. des realistischen Romans) Metafiktivität (Thematisierung von Fiktion auf der histoire-Ebene) Metafiktionalität (Thematisierung von Fiktion auf der discours-Ebene) Explizit (‚telling‘-Modus bzw. zitierfähige Kommentare einer innerfiktionalen Redeinstanz) Implizit (‚showing‘-Modus bzw. Inszenierung) • Kommentare des Erzählers zur Erfundenheit der von ihm erzählten Geschichte und ihres Inhalts • Geschichte ist Gegenstand der Imagination bzw. von Träumen des Erzählers • Diskurse des Erzählers über sein ‚Nicht- Wissen‘ • Modalisationen des Erzählten • Dekonstruktion (fingiert) faktualer Erzählformen: Entlarvung des autonomen inneren Monologs als Erzählung, der fingierten Autobiographie als Roman, des fiktionalen Anteils in der (fingierten) Historiographie • Übersemantisierungen / unwahrscheinliche Symbolik v. Orten, Personen, Gegenständen • Auffällige Struktur der Geschichte (mises en abyme, Parallelisierungen, Motivu. Themenstruktur, mots-carrefour, Wiederholungen) • Instabilität der Figurenidentität, der Zeitgestaltung, des Raumes • Schablonenhafte Figuren • Alternative Schlüsse, Widersprüche, unwahrscheinliche Zufälle • Metalepsen (extra-/ intradiegetische Ebenen, intra-/ hypodiegetische Ebenen, Kombinationen, Möbius-Band) Abbildung 10: Narratologisches Modell der Metafiktivität und Metafiktionalität 3.3 Zusammenfassung Unsere kritische Analyse bestehender Konzepte metafiktionalen Erzählens, die sich vor allem auf wirkungsästhetischen Kategorien begründeten, hat zum Entwurf eines neuen Modells geführt, welches einerseits ‚Metafiktion’ entweder als metafiktionalen Diskurs über Fiktion auf der Ebene der narrativen Vermittlung oder als metafiktiven Diskurs über Fiktion auf der Ebene der erzählten Geschichte definiert. Andererseits knüpft unser Modell stärker an narratologische Analysekategorien wie ‚Erzähler’ bzw. ‚Erzählsituation’, ‚Figuren’-, ‚Ort’- und ‚Zeitgestaltung’, ‚Struktur der Geschichte’ und ‚Struktur des narrativen Diskurses’ an und ermöglicht auf diese Weise eine Applikation der zunächst abstrakten Kategorien auf die fiktionalen Erzähltexte Claude Simons. Der obige Überblick über wichtige Kategorien der Metafiktion in fiktional-narrativen Texten soll nun im Rahmen von Mikroanalysen metafiktionaler Passagen in den ausgewählten Romanen Simons überprüft und gegebenenfalls um weitere Kategorien ergänzt werden. 135 Teil II Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in ausgewählten Texten Claude Simons 4 « Comment savoir ? » - Metafiktion und Erkenntnisskepsis in La Route des Flandres (1960) 4.1 Einführung „Comment savoir? “ - Diese leitmotivisch wiederkehrende ‚Beschwörungsformel’ des Protagonisten Georges prägt Simons sechsten Roman La Route des Flandres von Beginn an, zählen doch sein Streben nach Erkenntnis und ‚sicherem’ Wissen, das Ringen um die Erinnerung zuverlässiger Wahrnehmungen zu den wichtigsten thematischen Aspekten des Werks, das in weiten Teilen - narrativ vermittelt durch einen autonomen inneren Monolog - den Bewusstseinsstrom der fiktiven Figur Georges präsentiert. Dieser erinnert sich an einem unbestimmt gelassenen Punkt seines Lebens - vermutlich einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - an seine Erlebnisse während des Krieges bzw. aus der Vor- und Nachkriegszeit. Dabei kreisen Georges’ Gedanken auf obsessive Weise um drei Episoden: um den Tod seines Hauptmanns und Cousins de Reixach, um den wiederholten Anblick eines sich in einem Stadium zunehmender Verwesung befindlichen toten Pferdes am Straßenrand sowie um den Ehebruch Corinnes, der Witwe de Reixachs, mit der er nach Kriegsende eine Affäre begonnen hat. Als vermutlicher Auslöser für diesen Gedächtnisstrom fungiert das abrupte Ende seiner Beziehung mit ebenjener Corinne, die ihn überstürzt nach einer gemeinsamen Nacht in einem Hotel verlässt. Dieser emotionale Schock scheint zu bewirken, dass Erlebnisse aus seiner Vergangenheit in Georges’ Gedächtnis auftauchen. Er möchte dabei vor allem mittels seiner Erinnerungen die Hintergründe von de Reixachs mysteriösem Tod auf der von blühenden Weißdornhecken gesäumten Straße aufdecken, hinter dem er aus bestimmten Gründen einen Selbstmord aus enttäuschter Liebe vermutet. Während seiner Suche nach der Lösung für dieses Rätsel zieht Georges nun Parallelen zu scheinbar ähnlichen Ereignissen. Da ist z.B. der gemeinsame Vorfahr, der Revolutionsgeneral Reixach, von dem die Familienlegende berichtet, dass er nach der Niederlage in den spanischen Revolutionskriegen auf unge- 136 klärte Weise sein Leben verlor. Ferner begeht vermutlich auch der General von Georges’ eigener Schwadron nach dem militärischen Debakel in Flandern im Mai 1940 Selbstmord. Doch auch die Ehebruchsgeschichte scheint sich zu wiederholen: beim Vorfahren im 18. Jahrhundert und während des Krieges auf einem Bauernhof in den Ardennen, aber auch zwischen dem Capitaine de Reixach, seiner Frau und dem Jockey Iglésia in der unmittelbaren Vorkriegszeit. Georges’ Gedanken beschäftigen sich demnach mit Ereignissen aus verschiedenen zeitlichen Epochen: dem 18. Jahrhundert, dem Zweiten Weltkrieg und der diesen umschließenden Vor- und Nachkriegszeit. Dabei fällt auf, dass er die vergangenen Ereignisse weniger chronologisch erinnert, als dass er bestimmte Situationen assoziativ evoziert, in welchen er sich bereits früher erinnert bzw. in denen er über ein bestimmtes Thema gesprochen hat: Die Erinnerungen scheinen demnach weniger zeitlich als räumlich gebunden zu sein. Am Ende seines Gedächtnisstroms hat Georges zuletzt jede Orientierung verloren; er weiß nicht einmal mehr, ob seine Erinnerungen nur Bestandteil eines Traumes waren, den er, noch immer im Krieg auf seinem Pferd sitzend, geträumt hat. Zuletzt muss er seine Ohnmacht in der Rekonstruktion der Vergangenheit erkennen: er ist nicht imstande, retrospektiv mit Hilfe seines sprachlich kontrollierten Verstandes die Innenwelt Anderer sowie die vergangene Realität überhaupt zu ergründen. In seinem Ringen um das objektive Wissen über frühere Wirklichkeit scheitert Georges zuletzt und muss erkennen, dass ihm jede Erkenntnis der eigenen, aber auch der fremden Vergangenheit, ‚wie sie wirklich war’, verwehrt bleibt. Diese explizite Wahrnehmungs-, Sprach- und Zeichenkritik soll als metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit gedeutet werden. Dabei soll einerseits die wichtige Rolle von Imaginationen, Träumen und Legenden bei der (Re)Konstruktion der Vergangenheit nachgewiesen werden. Andererseits soll der Einfluss von fremden, fiktionalen Erzählmodellen beim Erinnerungsprozess aufgezeigt werden, welche die erinnerte Realität als ein fiktionales Konstrukt hervortreten lassen. Die oben skizzierte Zielsetzung strukturiert das vorliegende Kapitel dergestalt, dass zunächst in einem vorgeschalteten Kapitel, das in die zentrale Thematik des Romans einleitet, die in La Route des Flandres diskutierten Möglichkeiten objektiver ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ in einen größeren, wahrnehmungs- und gedächtnispsychologischen sowie phänomenologischen Zusammenhang eingeordnet werden (Kap. 4.2). Der textanalytische Hauptteil des Kapitels setzt sich einerseits mit der Rekonstruktion sowie der Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit in La Route des Flandres auseinander (Kap. 4.3) und beschreibt andererseits das von Simon entworfene ‚Alternativmodell’ der Repräsentation 137 vergangener Wirklichkeit, das nicht nur der ‚freien Fabulierlust’ sowie der Imagination der Protagonisten Raum einräumt, sondern insbesondere den Modus des fiktionalen Erzählens als Möglichkeit einer individuellen Annäherung an die vergangene Realität vorschlägt (Kap. 4.4). 4.2 Vorbemerkung: ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ als zentrale Themen des Romans im Spiegel von Psychologie und Phänomenologie Nach allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei Simons Werk um einen Roman über Erinnerung und Wahrnehmung: „In La Route des Flandres entwirft Simon einen [sic] zu den Momenten einstiger Wahrnehmung vielschichtiger angelegtes mnemonisches Panorama […].“ 1 Die zentrale Thematik des Texts ist die Restitution der Vergangenheit, sei es durch den erinnernden Aufruf vergangener Wahrnehmungen oder durch den Rückgriff auf schriftliche und bildliche Quellen. Doch ist die Verfügung des Erinnerungssubjekts Georges über die eigene bzw. über die familiäre Vergangenheit seines Cousins, des Capitaine de Reixach, sowie über die Geschichte seines Ahnen, des Revolutionsgenerals Reixach 2 , nicht unproblematisch: So bleiben seine persönlichen Erinnerungen entweder fragmentarisch oder aber die Grenzen zwischen Erlebtem und Imaginiertem verwischen sich; darüber hinaus bieten auch die scheinbar zuverlässigen Quellen der Familiendokumente und der familieneigenen Gemäldesammlung keinen ‚authentischen’ Zugang zur Vergangenheit. Insbesondere die Bilder lassen Objektivität vermissen und präsentieren immer auch den subjektiven Standpunkt des Künstlers bzw. des Portraitierten. Es stellt sich somit die Frage, ob es sich bei La Route des Flandres tatsächlich um einen ‚wahren’ Erinnerungsroman im Sinne Prousts 3 handelt, 1 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 357. Ebenso: R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 43: „memory novel“; W. Scheller: „‘Geschichte machen, heisst: Sie ertragen’: Claude Simon und der ‘Nouveau roman’.“ (1979), S. 64: „moderner Gedächtnisroman“; J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 144: „Roman der Erinnerung“; R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 363: „Erinnerungsroman“; D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 113: „roman de la mémoire“. 2 Während der revolutionsbegeisterte General im 18. Jahrhundert seinen Adelstitel abgelegt und sich einfach „Henri Reixach“ genannt hat (RF, 79), führt im 20. Jahrhundert der Capitaine und Cousin des Protagonisten Georges wieder den Titel ‚de Reixach‘; diese unterschiedliche Benennung wird in der vorliegenden Arbeit übernommen. 3 So vertritt z.B. W. Engler die These, dass sich Simon gegen Prousts poetischen Restitutionsoptimismus gewendet habe, indem er Erinnerungsbilder oftmals nur noch als 138 nimmt Simon doch keine Rücksicht auf die Chronologie des erinnerten Geschehens und stilisiert den Roman nicht zu einem totalisierenden Gebäude der Erinnerung. 4 Vielmehr demontiert der Roman die „Illusion referentieller Einholbarkeit der ursprünglichen Wahrnehmungen“ durch die Offenlegung der spezifischen „Produktivität des Gedächtnisses“: 5 In La Route des Flandres zeigt sich der Erinnerungsprozess einerseits durch die Kraft der Imagination 6 bestimmt und andererseits durch die produktive Kraft der Sprache bzw. des Schreibens. So existieren die Objekte oder die Ereignisse, von denen die Erinnerung scheinbar ihren Ausgang nimmt, oftmals nicht, während Sprache mit ihrem Potential zur Abschweifung als „déclencheur“ bzw. „déstabilisateur“ fungiert. 7 In La Route des Flandres kann Erinnerung im Gegensatz zum Proustschen Modell nicht mehr gelingen; der „Prozess des Erinnerns stößt nicht zu einem Restituieren der ursprünglichen Wahrnehmung vor“. 8 Insofern insbesondere die Unsicherheiten der subjektiven Wahrnehmung und die Sprachlichkeit der Erinnerung mit all ihren produktiven Aspekten im Zentrum des Romans stehen, präsentiert sich La Route des Flandres als ‚meta-epistemologischer Roman’: 9 Dabei scheitert Georges’ auf Leerstellen registriere. (W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 152.). Daneben hat sich bereits 1961 Y. Berger gegen die Typologisierung von La Route des Flandres als „roman de la pure mémoire“ ausgesprochen, da das Erinnerungssubjekt Georges nicht einfach seine Erinnerungen monologisiere, sondern diese ohne Unterlass präzisiere, erkläre oder korrigiere. Außerdem widersprechen die wiederholt auftauchenden Zeitadverbien der tatsächlichen Zeitlosigkeit des Gedächtnisses. (Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 95f.) 4 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 363. 5 R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 369. 6 So auch R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 48; M. Silverman: „Fiction as Process: The Later Novels of Claude Simon.“ (1985), S. 64; L.A. Higgins: „Problems of plotting, La Route des Flandres.“ (1996), S. 56: „[…] that memory is as much a process of invention as it is one of recall […]”. 7 G. Roubichou: „La mémoire, l’écriture, le roman. Réflexions sur la production romanesque de Simon.“ (1995), S. 101f. Vgl. auch R. Warning, der die Ähnlichkeitsassoziationen zwischen den Jockeys in der Rennszene und den in den Hohlweg einreitenden Soldaten nicht „vermögenspsychologisch als Gedächtnismechanismen [liest], die quasi-mimetisch in Sprache übersetzt würden, sondern sie […] von vornherein aus den Möglichkeiten der Sprache herausentwickelt“ sieht. (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 373.) 8 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 370. 9 In Ansätzen als ‚Erkenntnisroman’ wird La Route des Flandres von A. Duncan: Claude Simon: Adventures in Words. (1994) (S. 17: „[…] La Route des Flandres is an attempt to reconstruct the past and hence a search for knowledge“) und W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995) interpretiert (S. 147: „[Simon] konfrontiert den traditionel- 139 der histoire-Ebene verhandelte Suche nach Wissen bzw. Erkenntnis zuletzt an der Nicht-Erkennbarkeit der Wirklichkeit; diese kann von ihm nicht als ‚Welt’ erfasst werden, da die Existenz der Wirklichkeit selbst im Ungewissen bleibt. 10 Im Folgenden soll versucht werden, diese spezifische epistemologische Thematik des Romans in den größeren Kontext der Wahrnehmungspsychologie bzw. der Gedächtnisforschung sowie der phänomenologischen Erkenntnistheorie einzuordnen. Dabei soll gezeigt werden, dass Simon mit seiner Poetik der scheiternden Erinnerung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans aktuelle wahrnehmungspsychologische Theorien sowie zentrale Elemente von M. Merleau-Pontys Phänomenologie aufgreift. 11 4.2.1 ‚Wahrnehmung’ und Wahrnehmungspsychologie Erstaunlicherweise ist das Verständnis der Wahrnehmung in der Psychologie bei allem Detailwissen noch relativ gering; dies mag vor allem deswegen überraschen, weil doch die Wahrnehmung der grundlegendste aller psychischen Vorgänge ist. 12 Trotz dieser Wissenslücken herrscht in der Wahrnehmungsforschung Einigkeit über verschiedene Prämissen: So existiert „zwischen der äußeren, physikalischen Welt und der durch Wahrnehmung und Gedächtnis geschaffenen phänomenalen Welt kein einfaches 1: 1-Abbildungsverhältnis“; die Reizseite determiniert die phänomenalen Gegebenheiten nicht immer eindeutig, wie verschiedene Wahrnehmungsphänomene (Kippbilder, Vexierbilder etc.) beweisen. 13 Vielmehr zeigt sich die neuere Wahrnehmungspsychologie vom „aktiven und produktiven Charakter der Wahrnehmung“ überzeugt, da dies im Gegensatz zur photographischen Abbildungsgenauigkeit die effizienteste Anpassung an die sich stänlen, d.h. grundsätzlich zentralperspektivisch angelegten ‚roman du savoir’ mit seinem ‘roman du non-savoir’ […]“.). 10 Kuhnle wertet diesen thematischen Aspekt als Zeichen für einen erkenntnistheoretischen Agnostizismus Claude Simons. (T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 397.) 11 Auch in die Geschichtswissenschaft ist nach der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft nun die „erinnerungskritische Skepsis“ (J. Fried) eingedrungen; dabei gebührt Fried das Verdienst, die Geschichtswissenschaft erstmals mit aktuellen Erkenntnissen aus Neurologie und Gedächtnispsychologie konfrontiert zu haben (J. Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. (2004)). Vgl. hierzu genauer die Analyse der metahistoriographischen Diskurse in Les Géorgiques Kap. 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981). 12 Folgende ‚Wahrnehmungssysteme’ sind zu unterscheiden: das visuelle System, das auditive System, das olfaktorische System (Geruchssinn), der Geschmackssinn, das haptisch-taktile Wahrnehmungssystem (Hautsinn) sowie die Propriozeption (Wahrnehmung des eigenen Körpers). 13 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 15. 140 dig verändernden Reizbedingungen darstellt. 14 Viele der bewussten Wahrnehmungen erweisen sich letztlich daher als „aktive Konstruktionen des Verarbeitungsapparates“, die auf frühere Erfahrungen mit der Wahrnehmungsumwelt, also auf bestehende Gedächtnisinhalte, zurückzuführen sind. 15 Aufgrund dieser früheren Wahrnehmungserfahrungen werden im Verlauf einer neuen, ähnlichen Wahrnehmung Hypothesen gebildet, Suchprozesse gesteuert und Reizinformationen verglichen. Darüber hinaus ist für die neuere Wahrnehmungsforschung eine kognitionspsychologische Herangehensweise charakteristisch: Wahrnehmung wird in diesem Kontext stärker in Verbindung zu anderen kognitiven Leistungen, insbesondere dem Gedächtnis, gesehen. 16 Der Wahrnehmungsprozess beginnt - so lautet die These - nicht erst mit der Verarbeitung der sensorischen Information, sondern bereits bei der Selektion der zu verarbeitenden Informationen und der Steuerung der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit als systematischer Such- und Steuerungsprozess wirkt der Reizflut auf die Sinnesorgane entgegen und reduziert die ankommenden Informationen gemäß den in der jeweiligen Situation bestehenden Erfordernissen und Interessen. 17 Eine weitere These der neueren Wahrnehmungspsychologie postuliert die Ähnlichkeit der Gesetzmäßigkeiten, die jeweils den beiden Prozessen ‚Wahrnehmung’ und ‚Vorstellung’ zu Grunde liegen. Während in Wahrnehmungssituationen das Objekt der Wahrnehmung zum Zeitpunkt des Urteils präsent ist, besteht in Vorstellungssituationen über die Sinnessysteme zum Zeitpunkt des Urteils kein Zugang zum Objekt; es muss also ausschließlich auf das Gedächtnis zurückgegriffen werden. 18 Gedächtnispsychologische Experimente legen jedoch die Vermutung nahe, dass durch den Akt der Vorstellung eine der Bildwahrnehmung vergleichbare Gedächtnisabbildung erzeugt wird. So beinhalten auch Vorstellungsbilder einen Großteil der Eigenschaften eines Objektes; sie stellen eine analoge Abbildung des Originals dar. Auf diese Weise bleiben in der Vorstellung die wesentlichen Relationen (wie z.B. die räumlichen Verhältnisse), die ein Objekt konstituieren, erhalten und unmittelbar ablesbar. 19 14 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 16. Hierzu zählen verschiedene Korrekturmechanismen des Gedächtnisses, welche darüber entscheiden, wie die selektierte Information wahrgenommen wird, um ein möglichst ‚originalgetreues’ Abbild, d.h. eines entsprechend den tatsächlichen Eigenschaften des Wahrnehmungsobjektes, zu erhalten. (Ebd., S. 164.) 15 Ebd., S. 174. 16 Ebd., S. 123. 17 Ebd., S. 157. 18 Ebd., S. 186f. 19 Ebd., S. 187f. 141 Im Hinblick auf die Art der psychischen Verarbeitungsprozesse, die an Wahrnehmung und Vorstellung beteiligt sind, wird von der Forschung die These vertreten, dass diese vergleichbar bzw. „funktional äquivalent“ 20 sind. Man nimmt jedoch an, dass sich Wahrnehmung durch die kontinuierliche Aufnahme neuer sensorischer Information aus der Umwelt von der Vorstellung unterscheidet, sie aber ansonsten dieselben neuronalen Grundlagen besitzen. 21 Die Analyse von Simons Roman La Route des Flandres soll im Folgenden zeigen, inwiefern die in dem Text postulierte Wahrnehmungstheorie zentrale wahrnehmungspsychologische Konzepte aufgreift. Es handelt sich dabei vor allem um die produktiven Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung sowie um die Ähnlichkeit von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildern, wie auch Georges während seines Erinnerungsprozesses im Hinblick auf tatsächlich Wahrgenommenes und bloß Imaginiertes erkennen muss. 4.2.2 ‚Wahrnehmung’ und Gedächtnispsychologie Ein zentrales Thema des Romans La Route des Flandres ist die Erinnerung vergangener Wirklichkeit, die sich in diesem Text fast ausschließlich in Gestalt früherer Sinneswahrnehmungen präsentiert. Geht es der Wahrnehmungspsychologie vor allem um die neurologische und psychische Verarbeitung der ankommenden Umweltreize mittels der Sinnessysteme, steht im Mittelpunkt des gedächtnispsychologischen Erkenntnisinteresses der zeitlich nachgeordnete Zugriff auf im Gedächtnis gespeicherte Wahrnehmungen, wobei auch hier - wie bereits im Falle der Wahrnehmung - die interpretative Funktion des Gehirns eine wichtige Rolle spielt, wie die folgende Definition von R. Asanger und G. Wenninger aus dem Handwörterbuch Psychologie zeigt: Das menschliche Gedächtnis ist kein passiver Informationsspeicher, sondern aktives Organ der Informationssuche, der Bildung von Erwartungen, der Verarbeitung und Nutzung von Informationen für Verhaltensentscheidungen. Aufbewahrt werden keineswegs nur Erscheinungen der äußeren, perzeptiv wahrnehmbaren Realität, sondern ebenso Prozeßstrukturen für Handlungen, kognitive Operationen oder Strategien. Das Gedächtnis ist nicht nur Resultat, sondern gleichermaßen Mittel der Erkenntnis. 22 Die im Gedächtnis gespeicherten Wahrnehmungen und Erinnerungen formen einen „[…] stream of consciousness - that flow of perceptions, pur- 20 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 196. 21 Ebd., S. 195f. Nach dieser Auffassung ist ‚Wahrnehmung’ die Bereitstellung von Interpretationen für die ankommende sensorische Information, Erinnern ist das Wiedergewinnen dieser Interpretation. 22 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 113. 142 poseful thoughts, fragmentary images, distant recollections, bodily sensations, emotions, plans, wishes, and impossible fantasies - […] our experience of life, our own personal life, from its beginning to its end.“ 23 Doch stellt dieser ‘Bewusstseinsstrom’ der menschlichen Erinnerungen keine authentische Abbildung einst erlebter Wirklichkeit dar, sondern das menschliche Gedächtnis nimmt immer schon eine Selektion der eintreffenden Informationen nach ihrem emotionalen Gehalt vor: so werden Erlebnisse, die den Menschen besonders berührt haben, eher aufbewahrt als jene, die ihm gleichgültig waren. Nach dem heutigen Kenntnisstand der Psychologie lassen sich folgende drei Gedächtnistypen unterscheiden: das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis sowie das Langzeitgedächtnis. 24 Im Gegensatz zu den ersten beiden Gedächtnistypen, welche die ankommende Information nur für kurze Zeit und zu einem begrenzten Zweck speichern, dient das Langzeitgedächtnis als Wissensspeicher, der „das individuelle Wissen über die Welt und ihre Zusammenhänge“ enthält. 25 Die Speicherung erfolgt in Form von Begriffen sowie in den semantischen Relationen zwischen ihnen, wobei […] bei höher entwickelten Organismen die Informationsspeicherung meist kein rein assoziativer Vorgang [ist, sondern] vielmehr ein integrativer Prozeß, d.h. neu hinzukommende Informationen werden auf der Basis von Klassifikationskriterien in den bereits vorhandenen Informationsbestand des Gedächtnisses regelhaft eingeordnet. 26 Die hinzukommenden Informationen werden aufgrund von bereits erworbenem Wissen sowie aufgrund von individuellen Werten in den existierenden Gedächtnisbestand eingegliedert. Dieser unterteilt sich wiederum in einen instrumentellen sowie in einen erkenntnistheoretischen Bestand. 27 Der instrumentelle Gedächtnisbestand ermöglicht die Orientierung in der sozialen Umwelt und die Bewältigung der allgemeinen Lebensaufgaben sowie die Beherrschung der natürlichen Sprache und ihrer Syntax. Hingegen umfasst der epistemische Teil des Gedächtnisses „[…] objektbezogen den gesamten Bestand an positivem Wissen über die Objektwelt, subjektbezogen die Gesamtheit an terminal bzw. zeitlich (zumeist vage) strukturierten Lebenserinnerungen […].“ 28 Hier finden sich demnach die biographischen bzw. episodischen Erinnerungen des Menschen, welche 23 K.S. Pope und J.L. Singer: „Introduction: The flow of human experience.“ (1978), S. 1. 24 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 213. Vgl. ebenso F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 690. 25 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 214. 26 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 164. 27 Ebd. 28 Ebd. 143 Informationen über Personen, Fakten, Erlebnisse, Lebensumstände und -ereignisse beinhalten. 29 Diese präsentieren sich jedoch keinesfalls so detailgenau wie ein photographisches oder filmisches Abbild, sondern besitzen einen äußerst episodischen und fragmentarischen Charakter. 30 Dabei beruht die spezifische Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses auf der unbewussten Auswahl von Erinnerungen durch das Individuum, um sich z.B. vor sich selbst in einem bestimmten Licht darzustellen: „As we shall see, however, it may be an important feature of autobiographical memories that they are never true in the sense that they are literal representations of events, and in this respect it makes little sense to ask whether an autobiographical memory is true or false.“ 31 Das Wissen über die eigene Vergangenheit bzw. über die eigene Person ist „subjektiv emotional“ 32 besetzt: Indem man die eigene Person wertschätzen möchte, ist das autobiographische Gedächtnis nicht nur an reinen Lebensfakten orientiert, sondern zugleich an einer fortwährenden „Lebensbilanzierung“. 33 Der Mensch ist nicht in der Lage, objektiv über sich selbst zu urteilen. Darüber hinaus nimmt das biographische Gedächtnis laufend Interpretationen von Ereignissen, sinnlichen Wahrnehmungen, Gedanken, Wünschen oder Imaginationen vor. 34 Neben der Speicherung von Wahrnehmungen und Wissen existieren verschiedene Möglichkeiten ihrer nachträglichen Wiedergabe. Für den späteren Zugriff auf frühere Erlebnisse und Erfahrungen ist das Langzeitgedächtnis zentral; bei diesem sind zwei verschiedene Erinnerungsebenen zu unterscheiden: Während auf der Retentionsebene die Erinnerungen langfristig und in der Regel auch problemlos abrufbar deponiert sind, dient die Reproduktionsebene der - soweit möglich - bewussten Wiedervergegenwärtigung derjenigen Erinnerungen, die zuvor auf der Retentionsebene deponiert worden sind. 35 Hier lassen sich nun zwei Erinnerungsformen unterscheiden: Auf der einen Seite erfolgt die Reproduktion in Form wahrnehmungsanaloger Vorstellungen und wird deshalb auch als modale Reproduktionsform bezeichnet, auf der anderen Seite erfolgt sie in amodaler, sprachgebundener Form, auch als nominale Reproduktionsform bezeichnet. Beide Reproduktionsformen sind asymmetrisch: alles was [sic] in modaler Form reproduziert werden kann, kann 29 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), Vgl. ebenso M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 2f. 30 M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 2. 31 Ebd., S. 9, 11. 32 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 164f. 33 Ebd., S. 165. 34 M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 9. 35 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. 144 auch in nominaler Form, d.h. im Medium der natürlichen Sprache, reproduziert werden, aber nicht umgekehrt. 36 Eine Erinnerung analog zur früheren Wahrnehmung gelingt nur dann, wenn sie einst durch den visuellen oder auditiven Sinn erfasst wurde; für alle anderen Wahrnehmungen existieren keine analogen Reproduktionsformen. So können abstrakte oder verborgene - d.h. nicht mit den Sinnen erfassbare - Eigenschaften der äußeren Welt nur in nominaler, also sprachgebundener Form reproduziert werden. 37 Von Bedeutung ist auch, dass vor der Reproduktion einer Erinnerung erst die Stimulation durch einen äußeren Reiz erfolgen muss. 38 Dagegen besteht auf der Retentionsebene, auf der alle Erinnerungen langfristig und in der Regel auch abrufbar gespeichert sind, als weitere Form der Erinnerung die Rekognition, das Wiedererkennen von Wahrnehmungen. Doch auch diese kann nur gelingen, wenn ein Reiz phänomenal, also sinnlich, präsent ist: „Durch die Reizpräsenz werden dann die entsprechenden Gedächtnisinhalte reaktiviert und gelangen beim Menschen in phänomenaler oder nominaler Form auf die Reproduktionsebene.“ 39 Die auf der Retentionsebene langfristig gelagerten Erinnerungsbestände gliedern sich wiederum in einen Aktiv- und in einen Residualbestand. 40 Der Aktivbestand umfasst die Gedächtnisinhalte, die ständig für Handlungen benötigt werden (z.B. die Syntax der natürlichen Sprache). Hingegen gehören zum Residualbestand diejenigen Erinnerungen, die nie oder nur selten für mentale Operationen benötigt werden; sie liegen gewissermaßen im Ruhezustand und können, wenn überhaupt, nur durch Reize reaktiviert werden. In diesem Sinne bedeutet ‘Vergessen’, dass die Erinnerungen zwar noch im Gedächtnis vorhanden sind, jedoch keine Zugriffsmöglichkeit mehr besteht. 41 Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Vergessen ist die Modifikation der Erinnerungen. So entscheiden „einstellungsmäßige, emotionale und motivationale Faktoren“ 42 darüber, wie lange etwas behalten wird. Der Grund für die Veränderung von Erinnerungen liegt darin, dass das menschliche Gedächtnis laufend eine ‘schöpferische Rekonstruktion’ vornimmt. Diese erfolgt nach den Prinzipien der Rationalisierung und Konventionalisierung sowie unter dem Einfluss emotionaler Faktoren 36 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. 37 Ebd. 38 Ebd., Ebenso o. N.: „Memory of things remembered... and forgotten.“ (1992), S. 223. 39 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. 40 Ebd. 41 Ebd. Man nimmt an, dass Informationen, wenn sie einmal ins Gedächtnis aufgenommen wurden, in diesem auch permanent verbleiben, selbst wenn sie reproduktiv, kognitiv oder reaktiv nicht mehr zugänglich sind. 42 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 692. 145 (Wünsche, Befürchtungen etc.) und hat die Vermeidung von Widersprüchen bzw. die nachträgliche Sinnverleihung zum Ziel. 43 In der Psychologie versucht man das Funktionieren der Erinnerung vor allem mittels des hypothetischen Konstrukts der Assoziation zu erklär[en], weitere entscheidende Faktoren sind logische Beziehungen und Sinnzusammenhänge innerhalb der Gedächtnisinhalte, der motivationale und emotionale Zustand des Organismus’ (assoziatives, ‘mechanisches’ und logisches ‘Sinn’- Gedächtnis). 44 So führen die Ähnlichkeiten zwischen einem aktuellen äußeren Reiz und einer vergangenen Wahrnehmung dazu, dass frühere Erlebnisse erinnert werden. Weitere Auslöser von Erinnerungen können kausale Sinnzusammenhänge sowie die motivationale Bereitschaft sein, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist auch für die Erinnerungspoetik von La Route des Flandres die Frage nach der Möglichkeit eines retrospektiven, erinnernden Zugriffs auf die vergangene individuelle Wirklichkeit zentral; diese steht im Roman immer auch im Kontext mit dem produktiven und interpretativen Wirken des Gedächtnisses und dadurch mit dem Scheitern der Erinnerung an ‚authentische’ frühere Wahrnehmungen. 4.2.3 ‚Wahrnehmung’ und Phänomenologie Neben Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie stellen insbesondere die phänomenologischen Überlegungen M. Merleau-Pontys einen weiteren theoretischen Kontext dar, in den die Erinnerungs- und Wahrnehmungsthematik von Simons La Route des Flandres einzuordnen ist und in dem sie womöglich auch ihren Ursprung hat. 45 Als Begründer der Phänomenologie - jedoch nicht als ihr Namensgeber - wird allgemein Edmund Husserl angesehen, der in der Nachfolge der Philosophie Kants 46 eine „Korrelation von Bewusstsein und Welt“ an- 43 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 692. Vgl. ebenso o. N. N.: „Memory of things remembered... and forgotten.“ (1992), S. 233. 44 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 694. 45 Im Folgenden sollen einige zentrale Thesen M. Merleau-Pontys kurz vorgestellt und ihre Relevanz für die in La Route des Flandres entworfene Wahrnehmungs- und Sprachtheorie skizziert werden. 46 Laut Kant ist die Erkenntnis „[…] das Resultat der gegenseitigen Beeinflussung von Subjekt und Objekt. Die Dinge wirken auf unsere Sinne ein und werden damit zur Quelle der Sinneseindrücke, liefern uns also auf diese Weise das Material für die Erkenntnis. Aber die Form der Erkenntnis hängt von den subjektiven Eigenschaften des erkennenden Subjekts ab, vor allem von der spezifischen Organisation des Sinnesapparats. Die Quelle der Erkenntnis liegt also außerhalb von uns, die Erkenntnis selbst aber hat subjektiven Charakter.“ Die Welt wird vom Individuum demnach nicht so erkannt, wie sie ihrem ‚Wesen’ nach ist - Kant unterscheidet daher auch die Erschei- 146 nimmt: „So ist alles raum-zeitliche Sein der Wirklichkeit nur insofern, als es auf ein erfahrendes, wahrnehmendes, denkendes, sich erinnerndes Bewußtsein bezogen ist.“ 47 M. Merleau-Ponty 48 erweitert in der Auseinandersetzung mit seinem Vorgänger Husserl dieses Konzept der Phänomenologie noch um das Motiv der ‚Leiblichkeit’: der Leib stellt „[…] die Bedingung der Möglichkeit aller Wahrnehmung, [die] notwendige Grundlage unseres Zur-Welt-Seins […]“ dar. 49 Einen zentralen Platz in der phänomenologischen Theorie Merleau-Pontys nimmt das Verhältnis zwischen Individuum und (äußerer) Welt ein: Für ihn konstituiert sich die Welt durch die Interaktion von subjektivem ‚Empfinden’ - gemeint ist die Wahrnehmung der Welt mit den Sinnen - und dem Wahrgenommenen. Die äußere Welt, wie sie dem Individuum erscheint, ist demnach in weiten Teilen nur subjektiv fassbar. 50 Die nungen (phaenomena) vom Wesen der Dinge (noumena). (A. Schaff: Einführung in die Erkenntnistheorie. (1984), S. 60.) 47 P. Prechtl: „Phänomenologie.“ (1999), S. 435. 48 Der Umfang der vorliegenden Arbeit verbietet die ausführliche Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Theorie M. Merleau-Pontys, welche zudem auch inhaltlich zu weit führen würde. 49 P. Prechtl: „Phänomenologie.“ (1999), S. 436. Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 169: „Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebensowenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.“ Zur spezifischen Wahrnehmung (hier der eigenen Bewegung) des Leibes, vgl. S. 170: „Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns eine Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen, eine ‚Praktognosie’, die es als eigenständig, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt. Mein Leib hat seine Welt oder begreift [comprend] seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ‚Vorstellungen’ zu nehmen oder sich einer ‚objektivierenden’ oder ‚Symbol-Funktion’ unterordnen zu müssen.“ 50 „Dem Sehen bereits wohnt ein Sinn inne, der ihm seine Funktion im Anblick der Welt wie in unserer Existenz zuweist. Ein reines quale könnte uns nur gegeben sein, wäre die Welt ein Schauspiel und der eigene Leib ein Mechanismus, von welchen beiden ein unbeteiligter Geist bloß Kenntnis nähme. Doch das Empfinden verleiht jeder Qualität einen Lebenswert, erfaßt sie zunächst in ihrer Bedeutung für uns, für jene schwere Masse, die unser Leib ist, und so enthält es stets einen Verweis auf unsere Leiblichkeit. Es gilt, diese einzigartigen Bezüge zu verstehen, die die Momente meiner Umgebung miteinander und sie als ganze mit mir als inkarniertem Subjekt verweben und kraft deren ein Wahrnehmungsgegenstand in sich eine ganze Szenerie versammeln, ja die imago eines ganzes Lebensbereiches werden kann. Das Empfinden ist die lebendige Kommunikation mit der Welt, in der diese uns als der vertraute Aufenthaltsort unseres Lebens gegenwärtig ist. Ihm verdanken wahrgenommener Gegenstand und wahrnehmendes Subjekt ihre Dichtigkeit. Das Empfinden ist das intentionale Geflecht, das zu entflechten Sache aller Erkenntnis bleibt.“ (M. Merleau- Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 75f.) Vgl. auch ebd. S. 244: „[…] die Wahrnehmung […] gibt sich nicht zunächst als ein Vorkommnis in der Welt, auf das z.B. die Kategorie der Kausalität anzuwenden wäre, sondern als in jedem Augen- 147 Wahrnehmung wird damit zu einem „Grundphänomen“ 51 , das den Kontakt mit der Welt bestimmt. Merleau-Ponty wendet sich mit diesem Postulat gegen die lange Zeit in Wissenschaft und Philosophie verbreitete Überzeugung, dass „[…] das Ding die durch alle individuellen Sinnes- und Wahrnehmungsfelder sich durchhaltende Invariante […]“ 52 sei. Doch überschreitet bereits die Wahrnehmung - und für Merleau-Ponty ist sie fast immer gleichbedeutend mit der visuellen Wahrnehmung - die bloße psychisch-neurologische Rezeption von äußeren Reizen: „[…] einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden und von ihm aus alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken.“ 53 Es geht Merleau-Ponty hier um eine gewissermaßen ‚totale’ Sicht auf die Welt: ‚Sehen’ meint implizit immer auch die Wahrnehmung der scheinbar verborgenen Seite der Dinge. So „[ist] der vollkommene Gegenstand gänzlich durchsichtig, allseitig durchdrungen von einer aktuellen Unendlichkeit von Blicken, die sich in seinem Innersten überschneiden und nichts an ihm verborgen lassen.“ 54 Darüber hinaus ist ‚Wahrnehmung’ in einem gewissen Sinne immer schon ‚historisch’, da sie auf früheren Wahrnehmungserfahrungen basiert: „Eine erste Wahrnehmung ohne jeglichen Hintergrund ist undenkbar. Jede Wahrnehmung setzt schon eine bestimmte Vergangenheit des Wahrnehmungssubjekts voraus, und die abstrakte Funktion des Wahrnehmens als Begegnung mit Gegenständen impliziert einen geheimen Akt, durch den wir unsere Umwelt entfalten.“ 55 Schließlich ist auch die Intersubjektivität von Wahrnehmung für die Phänomenologie Merleau-Pontys zentral: „Die wahrgenommene Welt ist nicht nur meine Welt, in ihr sehe ich das Verhalten der Anderen sich abzeichnen, das auf eben diese Welt abzielt, sie ist das Korrelat nicht nur meines Bewußtseins, sondern eines jeden Bewußtseins, das mir je zu begegnen vermag.“ 56 Dies unterscheidet die Wahrnehmung von der Halluzination psychisch Kranker, welche keinen Ort in der „stabilen intersubjektiven Welt“ hat. 57 blicke von neuem die Welt erst schaffend oder rekonstituierend.“ Vgl. hierzu auch B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. (2001), S. 59: „Mit der Verwandlung des Bewußtseins in eine leibliche Existenz, die selbst dem zugehört, was sie konstituiert, ändert sich das transzendentale Gefüge grundlegend.“ 51 B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. (2001), S. 60. 52 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 77. 53 Ebd., S. 92. 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd., S. 327. 56 Ebd., S. 390. 57 Halluzinationen entstehen aus der Fähigkeit des Leibes, losgelöst von seiner wirklichen Umwelt auf Grund seines Eigengefüges eine Scheingegenwart in dieser Umwelt hervorzurufen. (Ebd., S. 390ff.) 148 Diese spezifische Sicht der Wahrnehmung wirkt in letzter Konsequenz auf die besondere Verfasstheit des Subjekts zurück: „So wie die der Welt ist auch die Einheit des Ich immer nur, jedesmal wenn ich eine Wahrnehmung vollziehe, jedesmal wenn ich eine Evidenz gewinne, eher berufen als erfahren; […]“. 58 Das ‚Ich’ wird so zu einer Erfahrung, das sich vom Tag seiner Geburt an weniger aus immer neuen Empfindungen, Bewusstseinszuständen oder Perspektiven konstituiert, sondern in einer immer neuen Möglichkeit von Situationen. 59 Eine Welt, die allein das Feld der Erfahrung ist und deshalb unvollendet bleibt, und ein Subjekt, das allein eine Sicht der Welt ist, schließen folglich ein konstituierendes Subjekt aus. 60 Merleau-Ponty begreift das Subjekt ebenso wenig wie die Welt nicht als stabile, in sich konsistente Einheiten, sondern als situationsbedingt bzw. nur subjektiv erfahrbar. Auch in La Route des Flandres nimmt die Phänomenologie der Wahrnehmung einen zentralen Raum ein. Wie noch zu zeigen sein wird, basiert Georges’ Rekonstruktion seiner eigenen Vergangenheit während des Flandernfeldzugs nahezu ausschließlich auf seinen früheren Sinneswahrnehmungen. Dabei steht wiederholt die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich aus der eigenen Erinnerung ein objektives Bild vergangener Realität konstruieren lässt. In den Gesprächen mit Blum wird zudem die von Merleau-Ponty postulierte Intersubjektivität der Weltwahrnehmung diskutiert: Georges und Blum sind sich, da sie unterschiedliche frühere Erfahrungen gemacht haben bzw. unterschiedliche frühere Wahrnehmungen erinnern, in der verbalen Rekonstruktion der Vergangenheit oftmals uneins. Ein weiterer für die Poetik von La Route des Flandres relevanter Bereich von Merleau-Pontys phänomenologischer Theorie befasst sich mit dem Verhältnis von ‚Leib’ und Sprache: „Die Sprache setzt nicht das Denken voraus, sondern vollbringt es“. 61 Das Wort ist demzufolge kein bloßes Zeichen für Gegenstände und Bedeutungen, sondern wohnt den Dingen selbst 58 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 462. 59 Ebd., S. 463. Vgl. auch S. 464: „Das Subjekt ist aber in Situation, es ist selbst nichts anders als eine Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes. Reflektierend über das Wesen der Subjektivität, finde ich dieses gebunden an das des Leibes und das der Welt, weil meine Existenz als Subjektivität eins ist mit meiner Existenz als Leib und mit der Existenz der Welt und letztlich das Subjekt, das ich bin, konkret genommen untrennbar ist von diesem Leib hier und dieser Welt hier. Welt und Leib im ontologischen Sinn, wie sie uns im Innersten des Subjekts selber begegnen, sind nicht die Welt in der Idee und der Leib in der Idee, sondern die Welt selbst, wie sie sich in einen umfassenden Anhalt zusammengezogen findet, und der Leib selbst als erkennender Leib.“ 60 Ebd., S. 462. 61 Ebd., S. 210. 149 inne und bringt Bedeutungen überhaupt erst zum Tragen: „So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt.“ 62 Auch hier findet sich erneut eine Verbindung zwischen der Phänomenologie Merleau-Pontys und Simons Text: In La Route des Flandres erweist sich die binnenfiktionale Realität als Produkt von Worten. Georges’ eigene Versuche, die Vergangenheit zu rekonstruieren, beruhen größtenteils auf Sprache, auf seiner Auseinandersetzung mit der Repräsentationsfähigkeit von Worten. Doch auch im Gespräch der verschiedenen Romanfiguren wird Realität konstruiert, sei es in den Dialogen zwischen Blum und Georges oder in den eingehenden Befragungen Iglésias im Gefangenenlager. 4.3 Rekonstruktion und Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit In La Route des Flandres kreist - wie im vorigen Kapitel bereits angedeutet wurde - Georges’ Denken um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer zuverlässigen, objektiven Wahrnehmung der eigenen Umwelt sowie um die Vergeblichkeit, nachträglich, in der Erinnerung dieser Wahrnehmungen, sicheres Wissen über die Vergangenheit zu erlangen. Der Roman schreibt sich mit dieser Thematik ein in den zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Umkreis des Nouveau Roman verbreiteten Diskurs der Phänomenologie M. Merleau-Pontys bzw. des reflexiven Realismus 63 . In Simons Roman lassen sich verschiedene ‚Speicher’ vergangener Wirklichkeit unterscheiden: Zu diesen zählen zunächst die individuellen, ganz persönlichen Erinnerungen des Protagonisten Georges an seine Erlebnisse in der Kindheit, während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese werden von ihm in Gestalt der Wahrnehmungen evoziert, die er an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit der Vergangenheit registriert hat. Ferner dienen auch externe Speicher wie Texte oder Bilder dazu, einen bestimmten Moment der Vergangenheit zu bewahren und zu tradieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich im Text ein Wechsel aus Diskurs und Gegendiskurs etabliert: Zum einen verfügt Georges über scheinbar zuverlässige Quellen, aus denen sich sein Wissen sowohl über die eigene Vergangenheit als auch über die seiner Familie zusammensetzt; es handelt sich dabei vor allem um erinnerte visuelle, auditive und taktile 62 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 211. 63 W. Wehle: „Proteus im Spiegel. Zum ‘reflexiven Realismus’ des Nouveau Roman (Statt einer Einleitung).“ (1980), S. 10, definiert als ‚reflexiven Realismus’ die „Selbstthematisierung der eigenen wirklichkeitsbildenden Funktion“. 150 Wahrnehmungen sowie um verschiedene Gemälde, die einen Ahnen, den Revolutionsgeneral Reixach, und seine Frau darstellen. In der Evozierung dieser ihm zunächst als ‚sicher’ erscheinenden Quellen betont Georges oftmals explizit ihre Zuverlässigkeit und ihre besondere Bedeutung als Basis sicherer Erkenntnis. Zum anderen zieht er seine Quellen - seien es nun seine früheren persönlichen Sinneswahrnehmungen oder fremde Quellen wie Texte und Gemälde - zunehmend in Zweifel: er erkennt, dass diese ihm aus verschiedenen Gründen nur ein unzulängliches Abbild der (vergangenen) Realität übermitteln können und dass ihm daher sicheres Wissen über die Vergangenheit verwehrt bleiben muss. 4.3.1 Visuelle, auditive, olfaktorische und haptisch-taktile Sinneswahrnehmungen als Quellen des individuellen Gedächtnisses In seinem Erinnerungsprozess greift Georges auf die verschiedensten früheren Sinneswahrnehmungen 64 zurück; zu diesen zählen - in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit - visuelle, auditive, haptisch-taktile, olfaktorische sowie gustatorische Wahrnehmungen. Erinnerungen visueller Art werden von Georges in der Regel mit „je pouvais voir“, „je l’ai vu“, oder „je vis“ eingeleitet. 65 Auditive Wahrnehmungen werden durch „bruit“, „rumeur“ 64 Den folgenden Ausführungen soll die in der Psychologie etablierte Unterscheidung zwischen Sinnesempfindungen (sensations) und Wahrnehmungen (perceptions) zugrunde gelegt werden: Empfindung ist der elementare Prozess der Reizaufnahme und -registrierung; z.B. das Sehen der Farbe orange. Wahrnehmung ist demgegenüber der höhere Prozess der Organisation und Interpretation der Reizinformation, z.B. das Sehen einer Orange als Objekt, vielleicht sogar als eines essbaren Objekts. In diesem Sinne handelt es sich bei dem von Georges Erinnerten immer schon um Sinneswahrnehmungen. (R. Oerter und L. Montada (Hgg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. (1998), S. 488.) 65 RF, 9, 12, 13, 16, 25 etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich durch das Vorherrschen der visuellen Wahrnehmung der gesamte Roman strukturell als „composition par tableaux“ präsentiert (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 41.). Die Folge dieser besonderen Struktur ist laut S. Sykes, dass die Linearität der Zeit durch die Kontiguität der Erinnerungsbilder („tableaux“) zerstört werde (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 62). Der Text selbst kommentiert darüber hinaus metanarrativ dieses Kompositionsprinzip: „Et cherchant (Georges) à imaginer cela: des scènes, de fugitifs tableaux printaniers ou estivaux, […]“ (RF, 45). A. Duncan weist auf die herausragende Stellung der visuellen Sinneswahrnehmungen im Erinnerungsprozess hin (A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XVII). Simons Erinnerungspoetik unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der „Mnemopoetik“ Prousts, der in Abkehr von der visuell ausgerichteten Mnemotechnik der Antike den anderen, scheinbar weniger ‚scharfen’ Sinnen wie dem Gehörsinn, dem Geruchssinn, dem Geschmackssinn und dem Tastsinn den Vorzug bei der Rekonstitution der Ver- 151 oder „vacarme“ umschrieben, während von Personen oft nur die Stimme erinnert wird. 66 Taktile bzw. sensible Sinneseindrücke werden von Georges als „sentir“, „par le toucher“, „toucher“, „tâtonner“ erinnert. 67 Dagegen evoziert er olfaktorische Erinnerungen als „puanteur“, „odeur“, „sentir“, „exhalaison“, „parfum“ oder auch „senteur“ 68 , während gustatorische Perzeptionen als „goût“ bzw. „relent“ 69 bezeichnet werden. Georges zeigt sich von der Macht seiner Wahrnehmungen überzeugt, ihm Aufschluss über die ihn umgebende Realität zu geben. So hofft er in betrunkenem Zustand während der Flucht nach dem Debakel im Hohlweg, dass ihm die Analyse seiner Wahrnehmungen bei seiner Fortbewegung behilflich sein werde: „[…] pensant que si j’arrivais à fixer classer mes perceptions j’arriverais aussi à ordonner et diriger mes mouvements […]“ (RF, 194). Insbesondere die haptisch-taktilen Sinneswahrnehmungen zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie ihm ein adäquates Abbild der Wirklichkeit vermitteln und ihm auf diese Weise Erkenntnis über die Vergangenheit ermöglichen. Dies gilt in besonderem Maße für seine Liebesaffäre mit Corinne, durch die er die ‚wahre’ Corinne zu erkennen sowie Wissen über ihre Vergangenheit zu erlangen hofft: „[…] et elle maintenant non plus inventée […], mais telle qu’il pouvait la voir maintenant, réellement devant lui, pour de vrai, puisqu’il pouvait (puisqu’il allait) la toucher […]“ (RF, 217). Der langersehnte Vollzug des Liebesaktes mit Corinne soll ihm schließlich Aufschluss darüber geben, ob sie tatsächlich - wie von ihm und Blum während des Krieges und der Gefangenschaft phantasiert - mit Iglésia bzw. mit zahllosen weiteren Männern zusammen gewesen ist. 70 Jedoch verlässt sich Georges dabei - darin Prousts Marcel ähnelnd - weniger auf seine visuellen Eindrücke, sondern erforscht Corinne mit seinen anderen Sinnen, vor allem mit dem Tast- und Geschmackssinn: „[…] mes mains ma langue pouvant la toucher la connaître m’assurer, mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre […]“ (RF, 242). 71 Während der Tastsinn Georges also ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu vermitteln vermag und die so gewonnenen Wahrnehmungen eine sichere Erkenntnis begründen, hat der visuelle Sinn die Macht, ihm die Realität zur Kenntnis zu bringen, ohne dass notwendigerweise ihr Abbild auf seiner Netzhaut erscheinen muss, wie er es am Beispiel des Vaters ergangenheit gegeben hat (H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005), S. 189f.). 66 RF, 28f., 32, 233 etc.; Stimme: 17, 19, 33. 67 Ebd., S. 30, 71, 77, 237 etc. 68 Ebd., S. 12, 19, 62, 101, 211, 242 etc. 69 Ebd., S. 91, 112 etc. 70 Ebd., S. 246, 275. 71 Ebenso ebd., S. 243ff., 259. 152 lebt: „Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder (car il n’en avait pas besoin, il n’avait pas besoin de se servir de ses yeux pour cela, pouvant voir sans avoir besoin que l’image s’en imprime sur sa rétine […]“ (RF, 219). Im Falle des Vaters, der inmitten seiner Papiere in seinem Pavillon sitzt, hat sich das immergleiche Bild in Georges’ Gedächtnis eingebrannt, so dass er auch ohne erneuten Sinnesreiz die erinnerte Wahrnehmung der massigen Gestalt evozieren kann. 72 Es sind also weniger der Seh- und Hörsinn als der Tast- und Geschmackssinn, die Georges ein adäquates Abbild der Wirklichkeit liefern. 4.3.2 Schrift- und Bildzeichen als Quellen des kollektiven Gedächtnisses Neben den individuellen Sinneswahrnehmungen kann Georges bei der Erforschung der Vergangenheit auch auf im kulturellen Gedächtnis 73 Ge- 72 Auch der Vater selbst ist in der Lage, ohne eigentliches Sehen Kenntnis von seiner Umwelt zu erlangen; so weiß er im Dunkeln von der Existenz seiner beschriebenen Papiere, ohne sie jedoch tatsächlich noch erkennen zu können: „[…] comme dans sa nuit un aveugle sait - connaît - l’existence des murs protecteurs, de la chaise, du lit, encore qu’il puisse au besoin les toucher pour éprouver la certitude de leur présence […]“ (RF, 230). Über ähnliche Fähigkeiten scheint paradoxerweise - sie bewegt sich in einem ihr unbekannten Raum - auch Corinne zu verfügen, wenn sie beim übereilten Aufbruch aus dem Hotel im Dunkeln ihren Besitz zusammenrafft und dabei von Georges mit einer Katze verglichen wird: „[…] peut-être y voyait-elle dans l’obscurité comme les chats […]“ (RF, 276). Im Gegensatz dazu erkennt Georges nur ihren Umriss und hört die ihr Packen begleitenden Geräusche; er ist gezwungen, sich auf das auditiv Wahrgenommene zu beschränken und die Handlungen Corinnes zu erraten (RF, 277f.). 73 Diese von M. Halbwachs erstmals beschriebene Variante des kollektiven bzw. sozialen Gedächtnisses zielt darauf ab, das in einer Gruppe zirkulierende Wissen über lange Zeiten und/ oder weite Entfernungen zu transportieren; mit der Erfindung der Schrift wurde das zuvor kollektive Gedächtnis ‚externalisiert’ und damit ‚kulturell’. Das kollektive Wissen wurde nun nicht mehr mündlich oder in Form von Riten und Symbolen von einer Generation an die nächste tradiert, sondern konnte in unveränderter Form aufbewahrt und an zukünftige bzw. räumlich entfernte Gruppen übergeben werden (J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 21ff.). Während seit der Renaissance die Schrift im Gegensatz zu den Bildern als zentrales kulturelles Massen- und Speichermedium galt, da nur sie eine getreue Wiedergabe und stabile Konservierung der Originale leisten kann, beginnt die Aufwertung des Bildes als Speichermedium erst im 20. Jahrhundert mit seiner Entdeckung als geschichtliche Quelle durch zeitgenössische Historiker wie Reinhart Koselleck, Pierre Nora und Lutz Niethammer. (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 218f.) Man sieht in ihnen „[…] ein ursprüngliches, weil unbearbeitetes Rohmaterial für Erinnerungen und damit so etwas wie einen harten Kern des Gedächtnisses […]“ bzw. einen „Träger des kulturellen Unbewussten“, da sie in ihrer spezifischen 153 speichertes zurückgreifen; als Speichermedien dienen insbesondere die Schrift und das Bild. Auch in La Route des Flandres spielen die genannten Speicher des kulturellen Gedächtnisses eine wichtige Rolle: So wird intertextuell auf verschiedene Texte verwiesen, die Georges als Quellen bei seiner Rekonstruktion der Geschichte des Ahnen dienen. Hierzu zählen die vom Revolutionsgeneral Reixach hinterlassenen Dokumente, die in das Familienarchiv eingegangen sind, sowie das Werk Jean-Jacques Rousseaus, das allem Anschein nach den wichtigsten Lektüregegenstand des Ahnen dargestellt hat. Ferner finden sich verschiedene intermediale Verweise auf Gemälde und Gravüren, die Personen und Ereignisse aus der Familiengeschichte repräsentieren. Es sind dies insbesondere die Portraits des Generals und seiner Frau Virginie sowie ein Gemälde, das den Sieg der französischen Revolutionsarmee über die feindlichen spanischen Truppen darstellt. 4.3.2.1 Schriftzeichen: die Dokumente des Generals Reixach und das Werk Jean-Jacques Rousseaus Bei seiner Suche nach den Gründen für den unerklärlichen Tod seines Vorgesetzten und entfernten Verwandten, des Capitaine de Reixach, ‚entdeckt’ Georges auch Parallelen zu einem ähnlich gelagerten ‚Fall’ aus der Familiengeschichte. Auch im 18. Jahrhundert kam ein Revolutionsgeneral der Familie auf unerklärliche Weise ums Leben - er wurde laut der Familienlegende erschossen und nackt vor dem Kamin liegend aufgefunden (RF, 82). Im Laufe seines Erinnerungsprozesses, der auch der Aufklärung des Rätsels um den Tod des Ahnen dienen soll, evoziert Georges in der Erinnerung die Schriften des Vorfahren, die im Besitz der Familie verblieben und ihm eines Tages von seiner Mutter gezeigt worden sind: Et il lui semblait voir les feuillets, les paperasses jaunies que Sabine lui avait montrées un jour, religieusement conservées dans une de ces malles poilues comme on en trouve encore dans les greniers, et qu’il avait passé une nuit à parcourir, obligé de se moucher toutes les cinq minutes à cause de la poussière qui lui desséchait le nez (actes notariés à l’encre blanchie, contrats de mariage, cessions, achats de terre, testaments, brevets royaux, ordres de missions, décrets de la Convention, lettres avec leurs cachets de cire brisés, liasses d’assignats, factures de bijoutiers, relevés de redevances féodales, rapports militaires, instructions, actes de baptême, déclarations de décès, de sépulture : sillage de débris surnageants, morceaux, parchemins […]) et parmi lesquelles se trouvait un épais cahier à couverture bleue, râpée, fermée par des rubans vert olive, dans les pages duquel l’un des lointains ancêtres […] avait accumulé un effarant mélange de poèmes, digressions philosophiques, projets de tragédies, relations de voyages, dont il pouvait se rappeler mot pour mot certains titres (« Bouquet envoyé à Intransparenz als „unmittelbarer Niederschlag eines Affekts bzw. des Unbewussten“ gedeutet werden (Ebd., S. 219f.). 154 une Vieille Dame qui dans sa jeunesse sans être jolie avait fait des passions ») ou certaines pages […] (RF, 51f.). Auch wenn der Verfasser der Dokumente nicht explizit genannt wird, stellt doch Georges selbst die Verbindung zu der tragischen Figur des Generals Reixach her, wie die Sammlung von Gedichten, philosophischen Gedanken und Entwürfen zu Tragödien zeigt. Dabei nimmt insbesondere eine aus dem Italienischen übersetzte Beschreibung einer Gravüre, die einen weiblichen Zentauren zeigt, eine zentrale Stellung sowohl im Text ein als auch bei Georges’ Versuch, den Tod seines Vorfahren aufzuklären: Zum einen etabliert die Beschreibung des abgebildeten weiblichen Zentauren eine Verbindung zum Ehebruchmotiv des Romans, da die sexuelle Begegnung zwischen Corinne und Iglésia immer mit dem Beschälen und dem Reiten der Pferde verglichen wird. 74 Der weibliche Zentaur symbolisiert folglich die Hybridität Corinnes, die ebenfalls - in Georges’ Imagination - menschliche und tierische Merkmale in sich vereint. Zum anderen stellt der Kennerblick des Verfassers, mit dem er den Zentaur und vor allem seine Pferdeattribute beschrieben hat, die Nähe zum General Reixach her, der ebenfalls Ähnlichkeiten mit einem „étalon“ (RF, 53) aufweist bzw. als „chevalin“ (RF, 54) eingeführt wird. Somit besitzt der aus dem Italienischen übersetzte Text aus dem Archiv des Generals die Funktion einer ‚Weiche’ in Georges’ Erkenntnisprozess; er vereinigt in sich wichtige Motive der verschiedenen Binnenerzählungen sowie zentrale Attribute verschiedener Figuren des Romans. Darüber hinaus verfügt der Text über den Status eines innerhalb der Fiktion realen Objekts, kann sich Georges doch noch „mot pour mot“ an die betreffenden Seiten erinnern, die dann - als Mimesis des in Georges’ Bewusstsein vorhandenen Erinnerungsbildes - typographisch wie das ursprüngliche Original im Text abgebildet werden (RF, 52f.). 75 74 Vgl. RF, 129, 136f., 140f., 145, 266f., 279. 75 Der Übersetzung aus dem Italienischen kommt darüber hinaus noch eine explizit metanarrative Funktion zu, spiegelt sie doch zentrale thematische und narrative Elemente des umgebenden Textes wider. Zugleich reflektiert der Text auch seine eigene Struktur und seinen eigenen Inhalt. Erstens: Er spiegelt den Inhalt des gesamten Romans, da auch hier eine Metamorphose der Romanfiguren in Pferde bzw. andere Tiere stattfindet (Vgl. u.a. S. 12, 69 (de Reixach „homme-cheval“), 85 (de Reixach „canard“), 42 (Iglésia „bec“), 51 (de Reixach „pur-sang“), 54, 183 (Reixach „chevalin“/ “pur-sang“), 130f., 174 (Corinne „animal“/ “pouliche“/ “l’alezane-femme“). Zweitens: Auf der discours-Ebene kommt es zu Vermischungen, wenn sich die Übergänge zwischen den einzelnen Episoden in Form von assoziativen Überblendungen vollziehen. Ferner ist auch die Erzählerfigur in La Route des Flandres hybride, indem sie zwischen einem ‘Ich’ und einem ‘Er’ wechselt. Drittens: Häufig stimuliert Bildmaterial die Erzeugung der Fiktion. Es kommt daher zu einer impliziten Vermischung von ikonischen und sprachlichen Zeichen. Viertens: Der eingefügte italienische Text ist seinerseits hybrid, da am Ende die Übersetzung ins Französische aufgegeben und stattdessen das Italienische wortwörtlich abgeschrieben wird. Es ver- 155 Eine ähnliche Funktion bei der Erkenntnis der Vergangenheit wie die Dokumente des Generals nimmt auch das von diesem geschätzte Werk Jean- Jacques Rousseaus ein; alle 23 Bände seines Gesamtwerks scheinen sich in seinem Besitz befunden zu haben. Auch hier lässt Georges wenig Zweifel an der realen Existenz der Bücher in der Bibliothek des Generals, da er sich an dessen Schriftzug in einem der Bücher genau erinnern kann: […] un livre peut-être l’un des vingt-trois tomes que remplissait l’œuvre complète de Rousseau et sur la page de garde desquels s’étalait le même paragraphe, la carolingienne, orgueilleuse et possessive écriture calligraphiant à la plume d’oie dont il lui semblait entendre le grincement sur le papier grenu et jauni l’invariable formule : Hic liber - l’H démesuré, emphatique, en forme de deux parenthèses se tournant le dos et reliées par un trait onduleux, les extrémités des parenthèses s’enroulant en colimaçon comme les motifs de ces grilles rongées de rouille qui gardent encore l’entrée de parcs envahis par les ronces -, puis en dessous : pertinetadme, d’un seul tenant, puis, en caractères décroissants, le nom latinisé et sans majuscule : henricum, puis la date, le millésime : 1783. (RF, 78f.) Mag auch die Rahmensituation - der am Kamin sitzende, ein Buch in der Hand haltende General - imaginiert sein, so deutet die Detailgenauigkeit der Besitzerklärung in dem Buch ihre innerhalb der Fiktion ‚reale’ Existenz an. Georges erinnert sich an die vergangene Wahrnehmung der Seite zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens; dieses Gedächtnisbild, das unabhängig von einem momentanen, realen äußeren Reiz vor seinem inneren Auge auftaucht, besitzt dieselben Merkmale wie eine ihm realiter vor Augen stehende Seite. Über diese relativ banale Beziehung des Generals Reixach zu den Werken Rousseaus hinaus konstruieren Blum und Georges noch eine weitere, subtilere Verbindung zwischen den beiden Männern. Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung für den scheinbar unerklärlichen Tod des Revolutionsgenerals vertritt Blum die These, dass auch dieser wie später sein Nachfahr im Zweiten Weltkrieg Selbstmord begangen habe, weil seine an den Werken Rousseaus entwickelten moralischen Ideale angesichts der blutigen Realität der Revolution und ihrer Kriege gescheitert seien. 76 Diese mischt sich hier, wie auch in den übersetzten Begriffen am linken Seitenrand, das Italienische mit dem Französischen. Der italienische Text stellt demnach einen Metakommentar über die Parallelisierung und Verbindung heterogener Szenen in La Route des Flandres dar (Vgl. hierzu auch L. Dällenbach: „Mise en abyme et redoublement spéculaire chez Simon.“ (1975), S. 160; S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 77f.; R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 80. Vgl. ebenso J.A.E. Loubère: „The Generative Function of Translation in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 187ff. Ebenso M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 89, der die Übersetzung fremdsprachlicher Texte im Werk Simons als Interpretationsanweisung an den Leser auffasst.). 76 RF, 181-184, 189f. Laut F. Dugast-Portes verbindet sich mit der Person Rousseaus und mit seinem Werk die Denunzierung der „[…] idéaux dangereux au nom desquels les 156 Hypothese wird schließlich von Georges übernommen, der in der Evozierung der Todesszene de Reixachs im zweiten Weltkrieg Parallelen zum Tod des Ahnen sieht: […] continuant donc à mener son cheval au pas parce qu’il avait ancestralement appris qu’on doit laisser souffler une bête à laquelle on vient de demander un effort violent voilà pourquoi nous avancions aristocratiquement cavalièrement à une majestueuse allure de tortue lui continuant comme si de rien n’était à parler avec ce petit lieutenant l’entretenant sans doute de ses succès équestres et des mérites de la bride en caoutchouc pour monter en course magnifique cible pour ces Espagnols impénétrables absolument rebelles allergiques il faut croire aux larmoyantes homélies sur la fraternité universelle la déesse Raison la Vertu et qui l’attendaient embusqués derrière les chênes-lièges ou les oliviers […] (RF, 294). Hier zieht Georges einerseits die Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart heran: beide Männer - sowohl der General des 18. Jahrhunderts als auch der Capitaine des 20. Jahrhunderts - bewegen sich durch die feindlichen Linien in dem vollen Bewusstsein ihrer (scheinbaren) aristokratischen Unverwundbarkeit. Beide stellen in ihrem Nicht-Wissen (der General) um die reale, unmittelbare Gefahr eines Hinterhalts bzw. in ihrem Ignorieren (der Capitaine) ideale Zielscheiben für die versteckten Heckenschützen dar; beide setzen so ihr Leben aufs Spiel: der eine - der Offizier des Zweiten Weltkriegs - wird es tatsächlich verlieren. Doch klingt in diesem Zitat andererseits auch das Motiv für den Selbstmord des Generals Reixach an, das bisher nur von Blum vorbereitet, von Georges selbst jedoch noch nicht verbalisiert worden war. Der General, der mit dem französischen Heer nach Spanien gezogen war, um die Spanier unter die Ideale der Französischen Revolution zu zwingen, muss in den ersten Kriegsjahren feststellen, dass sich jene nicht für ihre ‚Befreiung’ begeistern können; erst im Jahr 1794 erringen die Franzosen in Katalonien den Sieg. 77 Vielmehr sieht sich der General auf seinem Zug durch das nördliche Spanien von Heckenschützen bedroht, was ihn - laut Blum - an den Kriegsgründen (ver-)zweifeln lässt und somit seinen späteren Selbstmord vorbereitet. hommes entreprennent de maîtriser leur histoire : le didactisme est ainsi condamné, mais aussi toute tentative de mise en ordre artificielle.“ (F. Dugast-Portes: „La figure de l’ancêtre dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), S. 34.) C. Trevisan weist darüber hinaus darauf hin, dass es sich bei dem Buch Rousseaus, das zu den Lieblingswerken des Generals gezählt haben mag, um La Nouvelle Héloïse, insbesondere um den Brief Saint-Preux’ über den Selbstmord handeln könnte, „[…] cette lettre dont Voltaire disait qu’elle ‚donnait appétit de mourir’“. (C. Trevisan: „L’Icône blessée: Histoire et filiation chez Claude Simon.“ (2002), S. 801.) 77 G. Duby (Hg.): Histoire de la France des origines à nos jours. (1995), S. 533, 1108. D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170. 157 Die innerhalb der Fiktion realen Texte - das Archiv des Generals und die Bände Rousseaus - dienen Georges demnach dazu, verborgene Zusammenhänge in seiner Familiengeschichte aufzudecken und das ihm rätselhafte und scheinbar selbstzerstörerische Verhalten seines Vorgesetzten im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Ähnlich wie ein Historiker diskutiert er mit Blum aus den Quellen erwachsende mögliche Hypothesen und entscheidet sich für die in seinen Augen plausibelste. 4.3.2.2 Bildzeichen: die Portraits des Generals Reixach und seiner Frau, die „gravures galantes“ Auf obsessive Weise kreisen Georges’ Gedanken nicht nur um das Erinnerungsbild des sterbenden Capitaine sowie um das im Verwesungsprozess befindliche Pferd am Straßenrand in Flandern, sondern auch um verschiedene Portraits seines Ahnen Henri Reixach und von dessen Frau. Die Faszinationskraft des den Ahnen repräsentierenden Gemäldes liegt vor allem in seinem schlechten Zustand begründet: Da an einigen Stellen die Leinwand rissig ist, wird die braunrote Grundierung sichtbar - dies verleiht dem Portraitierten den Anschein, als sei seine tödliche Wunde auf dem Bild selbst zu sehen (RF, 53-55). Als Kind war Georges lange Zeit von der ‚Wahrheit’ der Abbildung überzeugt - das Gemälde zeige also die tatsächlichen Todesumstände des Generals und auf geheimnisvolle Weise ‚blute’ die auf dem Ölbild repräsentierte Wunde immer noch, erst später erkannte er im ‚Blut’ die durchscheinende Grundierung der Leinwand (RF, 69f.). Für Georges’ Erkenntnisprozess ist das Gemälde vor allem deswegen relevant, weil er aus der Art seiner Darstellung Rückschlüsse auf den Charakter des Generals bzw. seine Lebensweise zu erhalten meint: […] et l’autre, de face, tout aussi immobile, solennel et raide dans son cadre terni, tel que pendant toute son enfance il avait pu le voir, avec cette différence que la tache qui s’étalait, verticale et déchiquetée, à partir de la tempe, descendait sur le cou délicat, presque féminin dans l’échancrure de la chemise, venait souiller la veste de chasse […] (RF, 69f.); […] cette tenue aristocratique et faussement négligée de chasseur de cailles dans laquelle il avait posé pour ce portrait où le temps - la dégradation - avait remédié par la suite (comme un correcteur facétieux, ou plutôt scrupuleux) à l’oubli - ou plutôt à l’imprévision - du peintre, […] posant là cette tache rouge et sanglante comme une salissure qui semblait un démenti tragique à tout le reste : cette douceur - et même langueur -, ces yeux de biche, ce négligé bucolique et familier des vêtements, et ce fusil, lui aussi semblable à un accessoire de cotillon ou de bal masqué. (RF, 76) Georges vertritt die Hypothese, dass das Portrait nicht den ‚wahren’ Henri Reixach repräsentiere; dieser habe vielmehr durch ein bewusst kriegerisches Auftreten seine „douceur“ und „langueur“ verbergen wollen, die 158 sich jedoch verräterisch in seinen „yeux de biche“ und der eher nachlässigen Kleidung zeigen. Das innerhalb der Fiktion real existierende Gemälde des Generals wird ebenso wie das von ihm rezipierte Werk Rousseaus auf diese Weise zum Ausgangspunkt für Georges’ Spekulation, der General habe Selbstmord begangen, nachdem er seine einstigen Ideale in der nunmehr korrumpierten Revolution verloren hatte: […] et Reixach, debout, là, dans ce décor de gravure galante, se dépouillant, arrachant de lui, rejetant, répudiant ces vêtements, cet ambitieux et tapageur costume qui sans doute était maintenant devenu pour lui le symbole de quelque chose en quoi il avait cru et à quoi maintenant il ne voyait même plus de sens (la redingote bleue au col montant, aux revers brodés d’or, le bicorne, les plumes d’autruche : pitoyable et grotesque défroque gisant à présent, mausolée fripé de ce que (non pas le pouvoir, les honneurs, la gloire, mais les idylliques ombrages, l’idyllique et larmoyant règne de la Raison et de la Vertu) ses lectures lui avaient fait entrevoir) […] (RF, 190). Diese scheinbare Feminität des Generals, die Georges auf dem Gemälde zu erkennen meint, resultiert in seinen Augen aus den Lektüregewohnheiten des Generals: die Schriften und Ideen Rousseaus haben Reixach zum Anhänger unrealistischer Ideale gemacht, bei deren Verlust er auch den Glauben an die Revolution und damit an den Sinn seines Lebens verloren und daraufhin Selbstmord begangen habe. Wie die Abbildungen ihres Mannes so werden auch die Gemälde, die Virginie Reixach zeigen, zum Ausgangspunkt für die verschiedenen Spekulationen von Georges und Blum. Wie im Falle Reixachs ist es ebenfalls Virginies Kleidung, die die Bildung von Hypothesen anregt: Zum einen die Spitze eines mutmaßlichen Schalkragens, der den Abschluss des Dekolletés ihres Kleides bildet, und zum anderen eine venezianische Maske, die sie in der Hand hält: […] et Blum: « Ne m’as-tu d’ailleurs pas raconté qu’il existait, en pendant à l’autre portrait ensanglanté, une peinture exécutée à la même époque et la représentant dans une tenue non de chasseresse en accord avec celle de son mari mais empreinte (la robe, la pose, l’allure, la façon de dévisager hardiment le peintre qui reproduit ses traits et, plus tard, celui qui les interroge) d’une sorte d’insolence, de défi, de violence réfrénée (d’autant qu’elle tient à la main quelque chose de bien plus redoutable qu’une arme, qu’un simple fusil de chasse : un masque, une de ces figures de carnaval vénitien à la fois grotesques et terrifiantes […]), et dépassant dans l’ouverture du corsage quelque chose d’impalpable, une mousse, les replis d’une dentelle délicate et compliquée s’échappant comme si c’était le parfum même de sa chair, de sa gorge cachée plus bas dans la soyeuse obscurité, s’exhalant, la secrète haleine de fleur de sa chair se… » […] (RF, 179). Es ist vor allem die Maske, die zusammen mit dem (scheinbar) herausfordernden Blick Virginies einen Hinweis auf ihre Lust an Verwandlung, an 159 unerkanntem - erotischem? - Spiel zu verraten scheint. 78 In Georges’ und Blums Interpretation wird sie zur untreuen Frau, die unerkannt und im Bewusstsein ihrer Sinnlichkeit auf Männerfang geht. Auf einem späteren Portrait, einer Miniatur bzw. einem Medaillon, zeigen sich in Georges’ Augen bereits die Folgen ihres aufgrund der frühen Witwenschaft befreiten bzw. zügellos gewordenen Lebensstils: […] elle avait un peu grossi entre les deux [portraits; S.Z.], c’est-à-dire qu’elle avait pris cette sorte de voluptueux embonpoint, s’était en quelque sorte épanouie, comme il arrive aux jeunes filles après leur mariage, un peu empâtée peut-être, mais toute sa personne exhalant - dans ce costume qui était comme une négation de costume, c’est-à-dire une simple chemise, et à demi transparente, et qui la laissait à demi nue, ses tendres seins offerts soulignés par un ruban, et jaillissant presque complètement hors de l’impalpable tissu d’un rose parme - quelque chose d’impudique, de repu et de triomphant, avec cette tranquille opulence des sens et de l’âme tout ensemble apaisés et rassasiés - et même gorgés - et ce sourire indolent, candide, cruel […] (RF, 264f.). Während Virginie auf dem ersten Portrait - „cet autre portrait cruel et dur sorte de Diane“ (RF, 273) - ihren wahren Charakter noch hinter der Maske der Anständigkeit und der Keuschheit verbirgt, zeigt sie sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrer wahren Gestalt: unkeusch, triumphierend, träge, offenherzig und grausam. Der größere Leibesumfang scheint auf die gehäuften sinnlichen Genüsse zurückzuführen sein, derer sie sich als Witwe erfreut. Georges und Blum nehmen - wie bereits im Falle Henri Reixachs - die innerhalb der Fiktion real existierenden Portraits Virginies zum Anlass, Vermutungen über ihre nicht mehr auf anderem Wege zu rekonstruierende Lebensweise anzustellen. Allerdings stehen die Gemälde weder Georges noch Blum vor Augen; letzterer hat sie noch nie in seinem Leben gesehen, so dass Georges nur das in seiner Erinnerung gespeicherte Bild der früheren Wahrnehmung evoziert, während Blums Aussagen allein auf seinen Mutmaßungen beruhen, die er nach Georges’ Beschreibungen angestellt hat. Eine wichtige Funktion bei der Rekonstruktion der Geschichte um den Ahnen Henri Reixach erfüllen verschiedene „gravures galantes“ „à la Boucher“ 79 , die erotische Szenen repräsentieren. Wie auch schon die Portraits 78 B. Ferrato-Combe interpretiert die Maske auf dem Gemälde als „[…] instrument de dissimulation et de comédie, qui permet de jouer un rôle et d’échapper impunément aux conventions sociales […]“ (B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), S. 187.). 79 L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 44. B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), S. 182, nennt darüber hinaus auch den Maler Fragonard aus dem 18. Jahrhundert als Urheber dieses Gravürentyps. 160 des Ahnen und seiner Frau hat Georges die Gravüren zum Zeitpunkt seiner Erinnerung bzw. seiner Gespräche mit Blum nicht unmittelbar vor Augen, sondern er erinnert die frühere Wahrnehmung, als er, noch ein Kind, häufig die Gravüren im Schlafzimmer seiner Eltern betrachtet hat (RF, 77f.). Im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses werden die Erinnerungen an diese „gravures […] représentant des scènes galantes ou champêtres“ (RF, 78) zum Ausgangspunkt für eine seiner Hypothesen zum rätselhaften Tod des Vorfahren: Pensant dans le même moment à ce détail, cette chose bizarre qu’on ne racontait dans la famille qu’en baissant la voix […], cette circonstance qui, vraie ou fausse, conférait à l’histoire on ne savait quoi d’équivoque, de scandaleux : quelque chose dans le style d’une de ces gravures intitulées l’Amant Surpris ou la Fille Séduite, et qui ornaient encore les murs de la chambre : […] (RF, 80f.). Es folgt eine Beschreibung der Gravur, welche die üblichen Komponenten der Gattung enthält: die dramatische Ausleuchtung der Szenerie, die halbbekleideten, eilig herbeigelaufenen Bediensteten sowie die aufgebrochene Tür (RF, 81f.). Die auf dem Stich abgebildete Szene generiert nun die fiktive Handlung um den mysteriösen Tod des Generals; 80 das Bild wird auf diese Weise gleichsam zum Abbild der Ereignisse, die einst in dem Raum angeblich tatsächlich stattgefunden haben: Car c’était cela (la légende, ou, au dire de Sabine, la médisance inventée par ses ennemis) : qu’on l’avait trouvé entièrement dévêtu, qu’il s’était d’abord dépouillé de ses vêtements avant de se tirer cette balle dans la tête à côté de cette cheminée au coin de laquelle, enfant, et même plus tard, Georges avait passé combien de soirées à chercher instinctivement au mur ou au plafond (quoiqu’il sût bien que, depuis, la pièce avait été plusieurs fois repeinte et retapissée) la trace de la balle dans le plâtre, imaginant, revivant cela, croyant le voir, dans ce trouble, voluptueux et nocturne désordre de scène galante : peut-être un fauteuil, une table renversés, et les vêtements, comme ceux d’un amant impatient, hâtivement, fiévreusement arrachés, rejetés, éparpillés ça et là […] (RF, 82f.). Das Abbild einer fiktiven Szene und die mögliche, aber unbekannte frühere Realität durchdringen sich auf diese Weise und reichern einander an; für die kolportierten Umstände des rätselhaften Todes - die skandalöse Nacktheit des Generals, die Unordnung im Zimmer - gibt es keine sicheren, historischen, Belege. Die Gravüre scheint nun eine plausible Erklärung für den bislang unerklärlichen Tod des Ahnen zu liefern, sie wird sogar zur authentischen Repräsentation der realen Ereignisse, die in dem Raum stattgefunden haben. Bei dieser ‚Animation’ bzw. Narrativisierung des stati- 80 Hierzu auch A. Wasmuth: Subjektivität, Wahrnehmung und Zeitlichkeit als poetologische Aspekte bei Simon. Untersuchungen zu den Romanen Le Vent, L'Herbe und La Route des Flandres. (1979), S. 172f., der darauf hinweist, dass die in La Route des Flandres konstruierten Todesumstände des Generals Reixach allein auf Georges’ und Blums Imagination beruhen, die ihrerseits von der Gravüre beeinflusst sind. 161 schen Abbildes auf der Gravüre handelt es sich um eine metaleptische, erzähllogisch unmögliche Verletzung der ontologischen Ebenen binnenfiktional ‚real’ und binnenfiktional ‚fiktiv’: Die mit der Familiengeschichte der de Reixach ursprünglich völlig unverbundene Gravüre konstruiert in der Retrospektive eine historische Realität, wenn sie die nicht belegten Todesumstände des Ahnen zu repräsentieren scheint. Im weiteren Verlauf seines Erinnerungsprozesses tritt für Georges der zunächst fiktive Charakter seiner Imagination um den Tod des Vorfahren „à la scène galante“ in den Hintergrund; vielmehr scheint sich in seiner Vorstellung der General im Dekor einer „gravure galante“ selbst bewegt zu haben: „[…] et Reixach, debout, là, dans ce décor de gravure galante, se dépouillant, arrachant de lui, rejetant, répudiant ces vêtements, cet ambitieux et tapageur costume […]“ (RF, 190). So fungieren auch die innerhalb der Fiktion realen Gravüren wie schon die Portraits als générateurs einer von Georges imaginierten Handlung; 81 dabei vergisst er zunehmend den fiktiven, imaginären, Status der Ereignisse während seines Erinnerungsprozesses: In seiner Vorstellung hat sich der Tod des Vorfahren schließlich in der gleichen Umgebung abgespielt wie die auf den Gravüren abgebildete Szenerie - der Stich wird gleichsam zum Abbild des Todes von Henri Reixach: « […] autre chose probablement: une sorte de vide de trou. Sans fond. Absolu. Où plus rien n’avait de sens, de raison d’être - sinon pourquoi enlever ses vêtements, se tenir ainsi, nu, insensible au froid, effroyablement calme sans doute, effroyablement lucide, disposant soigneusement sur une chaise […] la redingote, la culotte, posant les bottes devant, couronnant le tout par ce chapeau, cette extravagante coiffure semblable à un bouquet de feu d’artifice, tout comme s’ils avaient revêtu, coiffé quelque imaginaire et inexistant personnage, les regardant de ce même œil sec, glacé, effrayant, tandis qu’il continuait toujours à grelotter, impassible, et se reculant pour juger de l’effet, et à la fin reversant sans doute la chaise d’un revers de la main, puisque sur la gravure elle gisait par terre et les vêtements… » Et Blum : « La gravure ? Alors il y en a bien une ! Tu m’avais dit que… » Et Georges : « Mais non. Il n’y en a pas. Où as-tu pris ça ? » […] (RF, 201f.). Die zitierte Textstelle verdeutlicht, wie Georges sich in seinem Erinnerungsvorgang von seiner Imagination begeistern lässt: Die Gravur dient ihm nun nicht länger als Inspiration, als générateur einer möglichen Erklärung für den Tod des Generals, sondern sie wird nachgerade zum Abbild bzw. zum Beleg für die scheinbare Authentizität der Todesszene. 81 Laut R. Sarkonak fungieren die Bildbeschreibungen im Werk Simons als Produzenten eines neuen Texts mit eigener Dynamik - „une sorte de récit autonome“ (R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 49.). 162 4.3.3 Problematisierung der Repräsentationsfunktion von Sinneswahrnehmungen, Sprache sowie Schrift- und Bildzeichen In einem dialektischen Prozess aus Konstruktion und Destruktion wird in Simons Roman La Route des Flandres fiktionale Realität erschaffen und zugleich in Zweifel gezogen bzw. als innerfiktional fiktiv entlarvt. Ziel des Konstruktionsprozesses ist - wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde - die Rekonstitution der nicht mehr zugänglichen Vergangenheit; Georges erinnert zu diesem Zweck seine früheren Wahrnehmungen. Dazu gehören individuelle visuelle, auditive, olfaktorische und haptisch-taktile Sinneseindrücke, aber auch die visuelle und z.T. auch auditive Erinnerung an Sprach-, Schrift- und Bildzeichen, die in ihrer realen Form Bestandteil des einer größeren Gruppe zugänglichen kollektiven Gedächtnisses sind. Während die von Georges erinnerten früheren, scheinbar authentischen Sinneseindrücke einerseits als Beleg für eine bestimmte ‚Wahrheit’ herangezogen werden und auf diese Weise sein Wissen über die Vergangenheit begründen, lässt sich andererseits auch ein gegenläufiger Diskurs in La Route des Flandres über die Unzuverlässigkeit und die geringe Aussagekraft von ‚Abbildern’ der Realität nachweisen - seien es nun frühere, nachträglich erinnerte Sinneswahrnehmungen oder aber mediale Repräsentationen der Wirklichkeit. 4.3.3.1 Die Unzuverlässigkeit der Sinne Einen prominenten Platz ganz im Sinne des phänomenologischen bzw. reflexiven Realismus nimmt in La Route des Flandres die Diskussion der Zuverlässigkeit und Authentizität von (früheren) Sinneswahrnehmungen ein. 82 Insbesondere Georges’ visuelle Wahrnehmung ist von Beginn an prekär und durch verschiedene Faktoren wie Schlafmangel, problematische Lichtverhältnisse oder Alkoholkonsum getrübt. 83 An erster Stelle der Beeinträchtigungen des Gesichtssinns steht die große Müdigkeit, die aus dem Schlafmangel resultiert, den die Soldaten in den zehn Tagen 84 des Ritts zur Front und des kurz darauf erfolgenden, überstürzten Rückzugs erleiden müssen. Eine Folge des Schlafdefizits ist, dass die Müdigkeit völlig überraschend und äußerst schnell über Georges her- 82 Interessanterweise steht in La Route des Flandres noch kaum wie später in Les Géorgiques die Authentizität individueller Erinnerung selbst zur Debatte: Nur an wenigen Stellen finden sich in dem Roman Hinweise auf eine problematische oder unmögliche Erinnerung (Vgl. RF, 106, 127, 223, 226, 241, 247). 83 Da in La Route des Flandres vorwiegend die Problematik der visuellen Sinneswahrnehmungen beschrieben und diskutiert wird, sollen sich die folgenden Ausführungen ebenfalls darauf beschränken. Vgl. zu problematischen auditiven Sinneswahrnehmungen RF, 101, 110, 142, 147, 199, 216, 219. 84 Vgl. RF, 16. 163 einbricht und ihn förmlich ‚niederschlägt’: „[…] le néant le noir sommeil me tombant dessus comme une cloche m’ensevelissant […]“ (RF, 241), „[…] cela me tomba dessus comme si on m’avait jeté brusquement sur la tête une couverture m’emprisonnant, tout à coup tout fut complètement noir […]“ (RF, 242). Georges empfindet diesen Erschöpfungszustand als „[…] cette sorte de demi-sommeil, cette sorte de vase marron dans laquelle j’étais pour ainsi dire englué […]“, (RF, 25), als „[…] cette mince pellicule de saleté et d’insomnie interposée entre son visage et l’air extérieur comme une impalpable et craquelante couche de glace […]“ (RF, 37) bzw. als „[…] masque uniforme de fatigue de dégoût de crasse […]“ (RF, 41). 85 An anderer Stelle beschreibt er die körperliche Erfahrung des extremen Schlafmangels bei sich und den anderen verbleibenden drei Soldaten nach der Auflösung der Schwadron sogar als „[…] cette espèce de gravier, de toile émeri conséquence du manque de sommeil sous nos paupières […]“ (RF, 280f.). Als Folge dieser Sinnestrübung fühlt sich Georges von seiner Umgebung getrennt; die Müdigkeit scheint sich wie eine Glasscheibe zwischen ihn und die äußere Realität zu schieben und lässt ihn „un peu étourdi, un peu ahuri, […] stupide“ (RF, 36f.) zurück. Diese Beeinträchtigung der Wahrnehmung scheint sich jedoch nicht allein auf Georges’ äußere Umgebung zu beschränken; so ist auch seine Selbstwahrnehmung verzögert, erkennt er doch sein durch die große Erschöpfung verändertes Gesicht nicht im Spiegel. 86 Auch im Nachhinein ist seine Erinnerung durch dieses ursächliche Wahrnehmungsdefizit beeinträchtigt: in seinem Gedächtnis sind keine zuverlässigen Erinnerungsbilder gespeichert, so dass sich Georges bei der späteren Evozierung bestimmter Situationen aus der Kriegszeit z.B. nicht mehr genau an die Reihenfolge seiner früheren Handlungen erinnern kann, wie das Beispiel der Quartiernahme in einer Scheune im Herbst 1939 zeigt. 87 Einen anderen Faktor, der seine Wahrnehmung der Umgebung beeinflusst, stellen die besonderen Lichtverhältnisse dar: so finden große Teile des Ritts in der Schwärze der Nacht oder im gleißenden Sonnenlicht statt. Während ihn die grelle Frühlingssonne blendet (RF, 24), wird die undurchdringliche Nacht physisch spürbar - sie scheint Georges’ Körper wie „l’espèce de vase sombre“ (RF, 28) zu umgeben. 88 85 Vgl. ebenso RF, 44, 216. 86 RF, 105. 87 Vgl. RF, 39: „[…] (mais était-il encore debout, défaisant courroies et boucles avec des gestes d’automate, ou déjà couché, dormant, gisant dans le foin entêtant, tandis que l’entourait, l’ensevelissait le lourd sommeil) […]“. 88 Doch scheint die Wahrnehmung im Dunkeln individuell verschieden zu sein: So sieht Corinne im nächtlich-dunkeln Hotelzimmer scheinbar wie eine Katze, während Georges beim Erraten von Corinnes in der Dunkelheit verborgenen Handlungen auf 164 Eine andere Ursache für Georges’ getrübte visuelle Wahrnehmung ist sein Alkoholkonsum während der Flucht mit Iglésia 89 und während des Quartiers 90 im Ardennendorf im Herbst 1939. Als Folge seiner Trunkenheit verlangsamen sich seine Wahrnehmung und seine Denkprozesse - er vermag nicht, den Gesprächen der anderen zu folgen und den Inhalt des Gesagten zu begreifen (RF, 110) bzw. seine Umgebung in einem größeren Umkreis zu erkennen (RF, 195). 91 Im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit scheint Georges sogar eine Dissoziation seiner Persönlichkeit zu erleben: Er glaubt, Bewegungen auszuführen, muss jedoch kurz darauf erkennen, dass er die ganze Zeit über unbeweglich am Tisch gesessen hat: […] j’essayais avec cette conscience obstinée des ivrognes de me lever et de m’en aller, […] recommençant donc sans me décourager à incliner le buste en avant de façon que son poids m’entraîne, m’aide à me lever de cette banquette où j’étais comme cloué, en même temps que mes mains s’efforçaient de repousser la table, me rendant compte au même moment que ces divers mouvements restaient à l’état de velléités et que j’étais toujours absolument immobile, une sorte de double fantomatique et transparent de moi-même et sans la moindre efficacité répétant sans cesse les mêmes gestes inclinaison du buste effort simultané des cuisses et poussée des bras jusqu’au moment où il s’apercevait que rien n’avait suivi revenant alors en arrière se confondant de nouveau avec mon corps toujours assis qu’il essayait d’entraîner une nouvelle fois mais sans plus de résultat […] (RF, 193f.). 92 Darüber hinaus erlebt Georges in Momenten größter Anspannung eine Deformation seiner Wahrnehmung in Form von Sinnestäuschungen wie er sie z.B. im Verlauf des Hinterhalts im Hohlweg erfährt, bei dem er seinen Kameraden Wack sterben sieht: […] puis je vis Wack (les choses se déroulant paradoxalement dans une sorte de silence de vide c’est-à-dire que le bruit des balles et des explosions […] une fois accepté admis et pour ainsi dire oublié se neutralisant en quelque sorte on n’entendait absolument rien pas de cris aucune voix sans doute parce que perseine anderen, ebenfalls unzulänglichen Sinne angewiesen ist (RF, 276-278.). Dieses Scheitern der visuellen Wahrnehmung in der Dunkelheit steht metaphorisch auch für das finale Misslingen von Georges’ übergeordnetem Erkenntnisprozess: Ebenso wenig wie er die Bewegungen Corinnes im nächtlichen Hotelzimmer ausmachen kann, kann er mittels seiner Affäre und seiner Erinnerungen die ‚Wahrheit’ um Corinne und ihre mutmaßliche Untreue erkennen. 89 RF, 110, 193-197, 225f., 228, 231, 235. 90 RF, 116. 91 Vgl. auch RF, 226, 228. 92 Sind Georges’ sinnliche Wahrnehmungen zum Zeitpunkt des Erlebens auch häufig diffus und reduziert, so ist es umso erstaunlicher, dass seine Erinnerungen an das einst unter Alkoholeinfluss Wahrgenommene klar und präzise sind: So kann sich Georges an jedes Detail des Cafés im Ardennendorf wie z.B. den Anstrich, die Ausstattung oder die Werbeplakate an den Wänden erinnern (RF, 116). 165 sonne n’avait le temps de crier […], les choses par conséquent se passant un peu comme dans un film privé de sa bande de son […] (RF, 149). In der Erinnerung reflektiert Georges das Paradoxon seiner früheren Wahrnehmung: Obwohl sich die Auflösung der Schwadron inmitten eines großen - auch akustischen - Chaos’ ereignet haben muss, beschränken sich seine Sinneswahrnehmungen allein auf den visuellen Sinn; die Detonationen der Geschosse, die Schreie der Soldaten, das Wiehern der Pferde scheinen ähnlich wie in früheren Stummfilmen ausgeblendet. In der Folge verändert sich jedoch auch seine visuelle Wahrnehmung, wenn Georges minutiös Wacks Tod verfolgt: […] je vis Wack qui venait de me dépasser penché sur l’encolure le visage tourné vers moi la bouche ouverte lui aussi essayant sans doute de me crier quelque chose qu’il n’avait pas assez d’air pour faire entendre et tout à coup soulevé de sa selle comme si un crochet une main invisible l’avait attrapé par le col de son manteau et s’élevant lentement c’est-à-dire à peu près immobile par rapport à (c’est-à-dire animé à peu près de la même vitesse que) son cheval qui continuait à galoper et moi courant toujours quoiqu’un peu moins vite de sorte que Wack son cheval et moi-même formions un groupe d’objets entre lesquels les distances ne se modifiaient que lentement lui se trouvant à présent exactement au-dessus du cheval dont il venait d’être enlevé arraché s’élevant lentement dans les airs les jambes toujours écartées en arc de cercle comme s’il continuait à chevaucher quelque Pégase invisible qui d’une ruade l’eût fait basculer en avant exécutant donc au ralenti et pour ainsi dire sur place une sorte de double saut périlleux me le montrant bientôt la tête en bas la bouche toujours ouverte sur le même cri (ou conseil qu’il avait essayé de me faire entendre) silencieux puis couché dans les airs sur le dos comme un type étendu dans un hamac et qui laisse pendre ses jambes à droite et à gauche puis de nouveau la tête en haut le corps vertical les jambes commençant à abandonner la position de celles d’un cavalier pour se rassembler pendre parallèlement puis sur le ventre les bras tendus en avant les mains ouvertes dans le geste de saisir d’attraper quelque chose plus loin comme un de ces acrobates de cirque dans l’instant où il se tient rattaché à rien et délivré de toute pesanteur entre les deux trapèzes puis à la fin la tête de nouveau en bas les jambes désunies et les bras en croix comme pour me barrer le chemin mais immobile maintenant plaqué contre le revers du talus et ne bougeant plus me regardant le visage empreint d’une expression surprise et imbécile […] (RF, 149f.). Die Wahrnehmung der Ereignisse, die mit Wacks Tod enden, scheint verzögert und zeitlupenartig - „au ralenti“ und vermeintlich „sur place“ - zu erfolgen: die normale physikalische Zeit ist scheinbar aufgehoben. Vielmehr bildet die kleine Gruppe aus Wack, seinem Pferd und Georges eine Insel in der Zeit, da sich alle drei mit derselben Geschwindigkeit inmitten der anderen Reiter und Pferde fortbewegen. Zeit wird hier subjektiviert und von Georges individuell als verlangsamte Bewegung wahrgenommen, denn in Wirklichkeit erfolgen die einzelnen Bewegungsabläufe Wacks sehr viel schneller, wie ja auch der Verweis auf seinen unverändert zum Schrei 166 geöffneten Mund zeigt. 93 Erzähltechnisch dienen die vielfachen mit „comme“ eingeleiteten Vergleiche der sprachlichen Repräsentation dieser verlangsamten ursprünglichen Wahrnehmung; auf diese Weise soll die Zeit des Erzählens bzw. des Lesens mit der gedehnten Zeit des Erlebens, bzw. die Erzählzeit mit der erzählten Zeit, in Einklang gebracht werden. 94 Ein weiterer Faktor, der Sinnestäuschungen bei Georges bewirken kann, ist seine psychische Verfassung: So führt seine Unsicherheit gegenüber Corinne anlässlich ihrer ersten Begegnung nach dem Krieg zu einer vorübergehenden Dissoziation seiner Persönlichkeit, die sich in einer distanzierten Wahrnehmung seiner eigenen Hand ausdrückt: […] puis sa propre main lui apparaissant, entrant dans son champ de vision, c’est-à-dire comme s’il l’avait plongée dans l’eau, la regardant s’avancer, s’éloigner de lui, avec une sorte d’étonnement, de stupeur (comme si elle se séparait de lui, se détachait du bras, par l’effet de cette légère déviation du rayon visuel quand il traverse la surface d’un liquide) : […] sa propre main devenue maintenant pour ainsi dire étrangère à lui-même, c’est-à-dire faisant partie au même titre que les arbres, le ciel, le bleu, le vert, de ce monde étranger, étincelant et incroyable où elle (Corinne) se tenait, irréelle, incroyable elle aussi […]“ (RF, 223f.). 95 93 Interessanterweise ist diese Sinnestäuschung, die Georges die Bewegungen Wacks „au ralenti“ und „sur place“ wahrnehmen lässt, auch eines der Merkmale des von Georges imaginierten Pferderennens: Auch hier erscheint die Gruppe aus Reitern und Pferden als „[…] une houle, un moutonnement de têtes montant et descendant sur place […]“ (RF, 164). Doch ist jetzt die scheinbare Bewegungslosigkeit der wahrgenommenen Reiter und ihrer Pferde weniger einem Schockzustand wie im Falle des Hinterhalts geschuldet, sondern eher der großen Distanz, aus welcher der Betrachter auf die Rennstrecke schaut. Dennoch erscheint auch in diesem Beispiel Wahrnehmung als etwas Individuelles und Subjektives, das die Außenwelt unabhängig von ihrem tatsächlichen, objektiven Zustand erfasst. Vgl. auch RF, 169. 94 Die Detailfülle der erinnerten früheren Wahrnehmung ist typisch für die psychische Situation des Traumas, in die Georges durch den Hinterhalt gerät: das traumatische Erlebnis kann im Extremfall in der Erinnerung die gleichen körperlichen Reaktionen auslösen wie im Fall des ursprünglichen Erlebens, es gestaltet jedoch immer die bleibenden Erinnerungen, die sich häufig durch eine spezifische Detailliertheit auszeichnen. (Vgl. hierzu J. Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. (2004), S. 113.) Vgl. zur Funktion des Kriegstraumas in Simons Romanwerk der 1960er Jahre J. Duffy: „Claude Simon, Merleau-Ponty and Perception.“ (1992), S. 39. Ebenso S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historiographique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 140f. 95 Ebenfalls einen psychischen Hintergrund haben in La Route des Flandres die Fälle von ‘Wahrnehmungsverlust’, z.B. wenn Georges bei der ersten Begegnung mit Corinne nach dem Krieg aufgrund seiner Unsicherheit ihr gegenüber außerstande ist, ihre Worte zu hören: „[…] et alors maintenant tout ce qui le séparait d’elle c’était cette vitre de derrière laquelle elle semblait à présent le regarder, lui parler, prononcer des mots, des paroles qu’il (et probablement elle non plus) n’écoutait pas, exactement comme s’il s’était tenu de l’autre côté de la glace d’aquarium […]“ (RF, 222). 167 Abschließend soll kurz eine paradoxe Form der visuellen Wahrnehmung in La Route des Flandres beschrieben werden: das ‚Wissen ohne zu sehen’. Georges ist wiederholt in der Lage, Personen oder Ereignisse vor seinem inneren Auge auch ohne einen momentanen, äußeren Sinnesreiz zu ‚sehen’. Dieser wahrnehmungspsychologische Spezialfall des ‚Vorstellungsbildes’ zeichnet sich dadurch aus, dass der Wahrnehmende „[…] zum Zeitpunkt des Urteils über die Sinnessysteme keinen Zugang zum Objekt [hat], also ausschließlich auf [sein] Gedächtnis angewiesen [ist].“ 96 Allerdings unterscheiden sich diese Vorstellungsbilder signifikant von Georges’ Imaginationen: 97 Während erstere „analoge“ Repräsentationen des Originals sind, da sie einen „Großteil der Eigenschaften eines Objekts“ enthalten, 98 beruhen - wie noch zu zeigen sein wird - Georges‘ Imaginationen allein auf seiner Phantasie; an den evozierten Situationen war er nicht beteiligt, den evozierten Personen ist er zum Teil sogar nie begegnet. Es sind diejenigen Personen, zu denen Georges eine ambivalente, aber dennoch intensive Beziehung entwickelt hat, deren Abbild er durch seine Vorstellungskraft in seinem Gedächtnis auferstehen lassen kann: sein Vater und Iglésia. So sieht er die Gestalt seines Vaters auch dann vor sich, wenn er ihm nicht persönlich im Pavillon gegenübersitzt: […] Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder (car il n’en avait pas besoin, il n’avait pas besoin de se servir de ses yeux pour cela, pouvant voir sans avoir besoin que l’image s’en imprime sur sa rétine la masse du corps à présent de plus en plus envahie par la graisse, monstrueuse, de plus en plus accablée par son propre poids, […] (RF, 219). 99 An der Grenze zur Imagination befindet sich schließlich die Evokation der rätselhaften „fille laiteuse“ des Ardennendorfes: Georges stellt sich das 96 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 186. 97 In der vorliegenden Arbeit soll der Ausdruck ‘Imagination’ immer mit der Bedeutung „schöpferische Einbildungskraft” verwendet werden: In La Route des Flandres sind ‚Imaginationen’ ‚Erfindungen’ der Figuren, die keine Referenz auf die innerfiktionale Realität besitzen. Vgl. zu den beiden Gegenstandsbereichen des Begriffs ‚Imagination’ - „die reproduktive, das Wirkliche abbildende Vorstellungskraft“ sowie die „schöpferische Einbildungskraft“: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 9: IL-KAS. (1970), S. 13. Vgl. zum problematischen Status der Imagination zwischen „sensory perception“ und „understanding“ J.J.A. Mooij: Fictional Realities. The uses of literary imagination. (1993), S. 7. 98 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 187. 99 Ebenso verhält es sich mit Iglésia, dessen Gesichtsausdruck Georges nach den langen Monaten der Kameradschaft auswendig kennt: „[…] et dans son dos la voix d’Iglésia chuchotant de nouveau, enrouée, furieuse, empreinte de cette espèce de puérile indignation (et pas besoin de se retourner pour voir ses gros yeux de poisson emplis eux aussi de cette même stupéfaction, moroses, outragés) : […]“ (RF, 236). 168 Mädchen im Verlauf seines Erinnerungsprozesses wiederholt vor, doch bleiben diese Vorstellungsbilder aufgrund der Flüchtigkeit der ursprünglichen Begegnung im Laternenschein stets unpräzise: „[…] et tandis qu’il rangeait leurs deux paquetages le long du mur il lui semblait toujours la voir, là où elle s’était tenue l’instant d’avant, ou plutôt la sentir, la percevoir comme une sorte d’empreinte persistante, irréelle, laissée moins sur sa rétine (il l’avait si peu, si mal vue) que, pour ainsi dire, en lui-même : […]“ (RF, 39). In der Erinnerung ist es weniger das Abbild ihrer physischen Gestalt, die Georges vor Augen tritt, als die Empfindungen und Assoziationen, die ihr Anblick in ihm wachgerufen hat und die er nun erneut erlebt: „[…] une chose tiède, blanche comme le lait qu’elle venait de tirer au moment où ils étaient arrivés […]“ (RF, 39). In La Route des Flandres erweist sich die visuelle Wahrnehmung somit wiederholt als trügerisch und unzulänglich: 100 Die erinnerten visuellen Abbilder der Wirklichkeit sind auf verschiedene Weise beeinträchtigt, sie sind anfällig für Täuschungen und sogar durch den Wahrnehmenden manipulierbar. Nicht zuletzt geraten die kraft der Vorstellung evozierten Gedächtnisbilder in die Nähe frei schöpfender Imagination bzw. Spekulation. 101 Hier wird eine grundlegend erkenntnisskeptische bzw. agnostizistische Haltung des Erinnerungssubjekts Georges erkennbar: Sicheres Wissen über die Vergangenheit bleibt ihm verwehrt - „[…] the scenes of the past are irrevocably eroded by time.“ 102 100 Simon hat sich wiederholt zu seiner hier deutlich werdenden Wirklichkeitskonzeption geäußert: „Le monde extérieur - que ce soit les objets ou les gens - il est absolument impossible de le connaître si ce n’est par les images qu’il projette en nous : images visuelles […] ou des images émotives. Tout ce qu’on peut écrire c’est non pas le monde extérieur mais sa projection en nous.“ (C. Simon: „Interview [Bettina Knapp].“ (1969), S. 182.) Simon entwirft hier ein konstruktivistisches Realitätskonzept, das sich durch den Zweifel an der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt und im Gegenzug durch die Beschreibung menschlicher Kognition und Wahrnehmung als konstruktive Prozesse auszeichnet. Die Existenz von Wirklichkeit wird von ihm nicht grundsätzlich abgestritten, sondern er betont ihre Subjektabhängigkeit. 101 Vgl. auch R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 51; B. Pingaud: „Un roman-débâcle [La Route des Flandres].“ (1983), S. 206. 102 L.H. Kelly: Theme and Technique in the Novels of Claude Simon. (1974), S. 95. R. Warning unterstreicht, dass Simon durch sein „Erzählen im Zeichen defizienter Modi der Erinnerung“ in einen kritischen Dialog mit jener Ebene von Prousts Recherche eintritt, die „mit der Suche zugleich das Finden feiert, die Überführung aller Kontingenz in identitätsstiftende Kontinuität.“ (R. Warning: „Vergessen, Verdrängen und Erinnern in Prousts A la recherche du temps perdu.“ (1993), S. 161.) H. Mayer beschreibt die Rolle Prousts für Simon als die eines „[…] unvermeidlichen Gegenspielers, wenn es um eine emphatische Poetik der Erinnerung und ihre Verwirklichung im Roman geht.“ (H. Mayer: „Claude Simon / Henri Michaux. Ein Aufeinandertreffen.“ (2003), S. 144.) 169 4.3.3.2 Die ‚Leere‘ der Wörter In Simons Roman ist nicht nur die ursprüngliche Wahrnehmung der äußeren Realität prekär, auch ihre Speicherung und Vermittlung in Gestalt von sprachlichen Zeichen ist problematisch und liefert ein unvollständiges Abbild der Wirklichkeit. Diese dem Text eingeschriebene Thematik der Sprachskepsis 103 wird zum einen implizit - in Gestalt der sprachlichen Organisation des Textes - und zum anderen explizit - in verschiedenen Äußerungen der Protagonisten bzw. des Erzählers - formuliert. Zu der impliziten Variante zählen die unzähligen Abtönungspartikel, die das zuvor Gesagte präzisieren bzw. relativieren 104 wie „c’est-à-dire“, „je veux dire“, „si l’on peut dire“, „pour ainsi dire“ bzw. „ou si l’on préfère“, welche das Ringen des erinnernden Subjekts um eine adäquate sprachliche Repräsentation der vergangenen Wirklichkeit demonstrieren. 105 Das Ziel ist dabei, die außersprachliche Realität durch immer neue verbale Formulierungen einzugrenzen und möglichst präzise zu erfassen. 106 An anderer Stelle versetzt sich Georges auf eine metasprachliche Ebene im Hinblick auf sein eigenes Sprechen bzw. Erzählen und formuliert fragend die Suche nach den treffenden Wörtern bzw. Vergleichen: „[…] morts elle et moi assourdis par le vacarme de notre sang se ruant refluant en grondant dans nos membres se précipitant à travers les ramifications compliquées de nos artères comme comment appelle-t-on cela mascaret je crois toutes les rivières se mettant à couler en sens inverse, remontant vers leurs 103 D. Schmidt weist auf die Scharnierfunktion des Motivs der Sprachskepsis in La Route des Flandres hin; dieses verbinde eine erkenntnistheoretische („Comment savoir? “) mit einer poetologischen Fragestellung: so werde in dem Roman die Erfassung der Wirklichkeit mittels der Wahrnehmung und Erinnerung unmöglich, weil keine objektive Sicht auf die Tatbestände mehr gelinge. Aus dieser Sichtweise resultiere auch eine andere Auffassung von den Aufgaben eines Romans, als sie noch den sogenannten ‚realistischen’ Romanen des 19. Jhs. oder der littérature engagée zugrunde lagen. (D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 81.) 104 H.-G. Funke bewertet die für La Route des Flandres typischen modalisateurs vor allem als das zuvor Gesagte „relativierende Ausdrücke der Abtönung“ (H.-G. Funke: „Der ‘monologue intérieur’ in Bessettes L’incubation (1965) und Claude Simons La route des Flandres (1960): Nationalität und Internationalität im intertextuellen Konstituierungsprozeß der „littérature québécoise“.“ (2000), S. 459.). 105 Vgl. z.B. RF, 110f., 295. 106 J.A.E. Loubère wendet sich gegen diese von der Simonforschung überwiegend vertretene These und vertritt die Meinung, dass die wiederholten Korrekturen weniger „the desire to capture […] reality itself“ zum Ausdruck bringen als den Versuch „[to capture] the formations created by reality in the mind“ im Sinne einer sprachlichen Repräsentation der inneren Vorgänge des Erinnerungssubjekts Georges (J.A.E. Loubère: „La Route des Flandres.“ (1975), S. 94.). Insgesamt komme es dabei zu einer „déréalisation du récit“, seine Inadäquatheit werde aufgedeckt (J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 491; B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1031; B. Pingaud: „Un roman-débâcle [La Route des Flandres].“ (1983), S. 206.) 170 sources […]“ (RF, 250). 107 In der Beschreibung des Liebesaktes mit Corinne versucht Georges, seine ihm bis dahin unbekannten körperlichen Empfindungen durch Vergleiche mit völlig fremden Phänomenen zu präzisieren; dieser Versuch scheitert jedoch. Noch weniger gelingt es Georges, einen passenden Begriff für grundsätzlich neue, in der Geschichte der Menschheit bislang unbekannte Ereignisse wie die Kriegsführung im Mai 1940 zu finden: […] mais comment appeler cela: non pas la guerre non pas la classique destruction ou extermination d’une des deux armées mais plutôt la disparition l’absorption par le néant ou le tout originel de ce qui une semaine auparavant était encore des régiments des batteries des escadrons des escouades des hommes, ou plus encore : la disparition de l’idée de la notion même de régiment de batterie d’escadron d’escouade d’homme, ou plus encore : la disparition de toute idée de tout concept si bien que pour finir le général ne trouva plus aucune raison qui lui permît de continuer à vivre non seulement en tant que général c’est-à-dire en tant que soldat mais encore simplement en tant que créature pensante et alors se fit sauter la cervelle […] (RF, 282). In seinem Versuch, das Unbekannte, Neue angemessen sprachlich zu beschreiben, entdeckt Georges, dass nicht nur - als historische Tatsache - das gesamte Regiment gleichsam vom Erdboden verschwunden ist, sondern auch die Vorstellung von einer solchen organisierten Einheit bzw. sogar jede Vorstellung und jede Idee an sich. 108 So liegt Georges’ Schwierigkeit nicht allein darin, einen adäquaten Begriff für eine neue Erscheinung zu finden bzw. überhaupt erst zu prägen, sondern vielmehr darin, dass sowohl das Bezeichnete selbst - die reale Armee - als auch das Vorstellungskonzept - das mentale Bild - verschwunden sind. In seinen Augen führt diese absolute Auslöschung des außersprachlichen Referenten und des psychischen Konzepts, 109 das der überlebende Teilnehmer des Krieges von seinen Erlebnissen besitzt, zum Selbstmord des Generals: Dieser habe mit dem Verlust seines Regiments nicht nur seine Existenzberechtigung als Soldat verloren, sondern auch - durch den damit einhergehenden Verlust seiner Vorstellung von diesem Regiment - die eines denkenden Wesens. Nicht zuletzt impliziert diese Textstelle auch eine fundamentale Sprachkri- 107 Vgl. RF, 183, 258, 287. S.W. Sykes: „Ternary Form in Three Novels by Claude Simon.“ (1978), S. 29, weist auf die Funktion der Wörter „mascaret“ und „massacré“ als ein „sound anagram“ hin. 108 Vgl. ebenso die folgende Beschreibung der Situation nach dem Hinterhalt im Hohlweg und der Auslöschung des Regiments: „[…] au milieu de cette espèce de décomposition de tout comme si non pas une armée mais le monde lui-même tout entier et non pas seulement dans sa réalité physique mais encore dans la représentation que peut s’en faire l’esprit […] était en train de se dépiauter se désagréger s’en aller en morceaux en eau en rien […]“ (RF, 16). 109 Vgl. das Zeichenmodell von Ogden und Richards (H. Pelz: Linguistik für Anfänger. (1994), S. 45.). 171 tik: Mit der von Georges in der Rückschau konstatierten Auslöschung sowohl der realen Soldaten als auch des gedanklichen Konzepts geht das Verschwinden der Sprache selbst einher - diese kann nur ‚existierende’, d.h. reale oder mentale, Entitäten bezeichnen. Weitaus prägnanter wird der Zweifel an einer sprachlichen Repräsentation von Wirklichkeit in den expliziten Äußerungen des erinnernden Subjekts Georges ausgedrückt. Dabei werden die in La Route des Flandres entworfenen, gegensätzlichen Konzepte von Sprache beispielhaft von Georges und seinem Vater verkörpert. 110 Der Vater vertritt in diesem Zusammenhang die sprachgläubige Position und zeigt sich von der magischen Repräsentationskraft der Sprache bzw. der Schrift überzeugt: [Georges] pensant: « Mais il a de la peine et il cherche à le cacher à se donner lui aussi du courage C’est pour ça qu’il parle tant Parce que tout ce qu’il a à sa disposition c’est seulement cela cette pesante obstinée et supertitieuse [sic] crédulité - ou plutôt croyance - en l’absolue prééminence du savoir appris par procuration, de ce qui est écrit, de ces mots que son père à lui qui n’était qu’un paysan n’a jamais pu réussir à déchiffrer, leur prêtant, les chargeant donc d’une sorte de pouvoir mystérieux, magique… » […] (RF, 34f.). Für den Vater hat Sprache den Stellenwert eines „sixième sens artificiel“, einer „prothèse omnipotente fonctionnant à l’encre et à la pâte de bois“ (RF, 32); er glaubt an den Vorrang der durch die Lektüre von Texten erworbenen Erkenntnis gegenüber dem Wissen, das auf eigenen, realen Erfahrungen beruht. In diesem Sinne zeigt er sich grundsätzlich überzeugt von der von Georges als „mystérieux“ und „magique“ klassifizierten Fähigkeit von Sprache bzw. von Texten, Realität zu repräsentieren, und dies sogar auf eine angemessenere, authentischere Weise, als ein reales Erlebnis es könnte. Georges wiederum kritisiert parodierend diese ideale Repräsentationsfunktion der Sprache, wenn er ‚erleichtert’ entdeckt, dass ihn bereits die Metamorphosen Ovids auf die eigene ‚Verwandlung’ in ein Tier anlässlich des Gefangenentransports im Zug nach Deutschland vorbereitet haben: « […] à moins que ce ne soit pas du tout une erreur et qu’on l’ait [le wagon, S.Z.], conformément à l’usage pour lequel il a été construit, rempli de bestiaux, de sorte que nous serions devenus sans nous en rendre compte quelque chose comme des bêtes, il me semble que j’ai lu quelque part une histoire comme ça, des types métamorphosés d’un coup de baguette en cochons ou en arbres ou en cailloux, le tout par le moyen de vers latins… […] » (RF, 94). Georges gesteht durch diesen ‚Erkenntnisgewinn’ seinem Vater zu, Recht gehabt zu haben; die Wörter erfüllen allem Anschein nach doch einen gewissen Zweck: 110 Zu dem Konflikt zwischen Georges und seinem Vater vgl. H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364, und W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 90ff. 172 […] pensant encore „Comme quoi il n’a donc pas entièrement tort. Comme quoi somme toute les mots servent tout de même à quelque chose, de sorte que dans son kiosque il peut sans doute se persuader qu’à force de les combiner de toutes les façons possibles on peut tout de même quelquefois arriver avec un peu de chance à tomber juste. Il faudra que je le lui dise. Ça lui fera plaisir. Je lui dirai que j’avais déjà lu en latin ce qui m’est arrivé, ce qui fait que je n’ai pas été trop surpris et même dans une certaine mesure rassuré de savoir que ç’avait déjà été écrit, […] » (RF, 94). Doch ist auch diese Repräsentationsfunktion nur eine scheinbare, wie Georges ironisierend unterstreicht: Die referentielle Beziehung des Ovid- Textes zu seinen eigenen Erfahrungen ist nur eine zufällige - schließlich hat Ovid sein Werk fast zweitausend Jahre früher verfasst -, zumal sich Georges und die anderen Soldaten im Gegensatz zu den Figuren in den Metamorphosen nicht ‚wirklich’ in Tiere verwandelt haben, sondern nur eine metaphorische Beziehung zwischen ihrer Situation und jener von Tieren in Tiertransporten besteht. Auch wenn Literatur bzw. Sprache in Georges’ Augen eine gewisse pragmatische Funktion besitzen können, da sie den Leser bzw. Sprecher auf die Realität vorbereiten, wird, insgesamt betrachtet, auch hier Georges’ fundamentale Kritik an der sprachoptimistischen Sichtweise seines Vaters laut: Sprache beruht auf der willkürlichen Kombination von Wörtern, die möglicherweise auch einmal zufällig außersprachliche bzw. -literarische Phänomene beschreiben können. 111 Für Georges ergeben somit die endlosen Monologe seines Vaters keinen konkreten Sinn. Sie dienen nur der Selbstüberzeugung von der Richtigkeit und dem Nutzen des Gesagten „comme un enfant siffle en traversant un bois dans le noir“ (RF, 35). 112 Im Gegensatz zu seinem Vater ist Georges von der Unmöglichkeit einer sprachlichen Mimesis von Wirklichkeit überzeugt. 113 Seiner Meinung nach ist Sprache - wenn überhaupt - nur dazu imstande, ein deformiertes Abbild der Realität zu liefern, wie das Gleichnis der reflektierenden Brillengläser zeigt: […] le buste immobile du métayer imperceptiblement secoué par les trépidations surgissant peu à peu dans les crépuscule devant le fond de collines, les dé- 111 S. Sykes wertet die zitierte Textstelle dagegen als Beweis für Georges’ Glauben an die Macht der Wörter (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 84.). 112 Vgl. ebenso RF, 62. 113 Vgl. hierzu A. Tenaguillo y Cortazar: „L’Ecriture comme frayage: Claude Simon, La Route des Flandres.“ (1997), S. 211: „Tout le roman de Simon nous dit que le langage est impuissant à saisir les objets, et à les faire exister, comme tels, dans une construction transparente du réel. […] C’est pourquoi le rapport au monde est d’abord un rapport à la langue, et l’écriture une représentation fantasmée de ce rapport.“ Ebenso C. Reitsma La Brujeere: „Récit et métarécit, texte et intertexte dans Les Géorgiques de Claude Simon.“ (1984), S. 231; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270f.; D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 87ff. 173 passant, se détachant enfin, sombre, sur le ciel pâle, et son père dans le fauteuil d’osier qui grinçait sous son poids à chacun de ses mouvements, le regard perdu dans le vide derrière les lunettes inutiles où Georges pouvait voir se refléter deux fois la minuscule silhouette [du tracteur; S.Z.] découpée sur le couchant traversant (ou plutôt glissant lentement sur) la surface bombée des verres en passant par les phases successives de déformations dues à la courbure des lentilles d’abord étirée en hauteur, puis s’aplatissant, puis s’allongeant de nouveau, filiforme, tandis qu’elle pivotait lentement et disparaissait […] (RF, 32f.). In diesem Sinnbild wird die Beziehung zwischen Sprache und Realität thematisiert. Ebenso wie die Brillengläser den Traktor verzerrt reflektieren, bildet auch Sprache eine äußere Realität verfälscht ab; der Raum hinter den Zeichen bleibt dabei leer. Noch weniger kann Sprache die Wirklichkeit erklären: es gibt keinen Sinn hinter den „mots inutiles et vides“ (RF, 35) und „dépourvus d’importance, anodins“ (RF, 47). 114 Zwar „[verweisen] die Wörter im fiktionalen Kontext wohl auf Sachen, [sind] aber etwas wesentlich Anderes als die aufgerufenen Dinge.“ 115 Georges’ Kritik 116 am humanistischen Bildungsideal seines Vaters gipfelt in seinem Kommentar zu einem Feldpostbrief des Vaters, 117 in welchem jener den Verlust der Leipziger Bibliothek nach einem Bombenabwurf bedauert: 114 Ebenso RF, 113, 273. Vgl. hierzu A.B. Duncan: „Claude Simon: la crise de la représentation.“ (1997), S. 46: „[…] il y a incompabilité entre le pouvoir créateur des mots et leur prétention à représenter.“ L. Fraisse: „La lentille convexe de Claude Simon.“ (1999), S. 40, überträgt diese Erkenntnis auf den Schaffensprozess des Autors: „[…] il ne peut pas y avoir de roman réaliste, puisque l’écrit déforme le perçu […]“. Vgl. ferner B. Franolic: „La Route des Flandres, outline of an analysis.“ (1981), S. 48. Ebenso R. Barthes: „L’effet de réel.“ (1968), S. 484: „[…] alors qu’il s’agit au contraire, aujourd’hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu’à mettre en cause, d’une façon radicale, l’esthétique séculaire de la représentation.“ 115 W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 139. Ebenso B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 214. 116 Vgl. Georges Aufzählung nicht nur nutzloser, sondern sogar ‚unschicklicher’ („[des choses] incongrues“) Gegenstände im Kriegsgefangenenlager, zu welchen er neben „des bas ou des culottes de femme“ auch „des livres de philosophie“ zählt (RF, 160). Ebenso sein rechtfertigender, polemischer Monolog gegenüber Blum, warum er „comme un livre“ über das hypothetische Schicksal seines Ahnen de Reixach spricht: „[…] Et Georges […] disant: « C’est vrai. Excuse-moi. Une habitude, une tare héréditaire. Mon père a absolument tenu à ce que je me fasse recaler à Normale. Il tenait absolument à ce que je profite au moins un peu de cette merveilleuse culture que des siècles de pensée nous ont léguée. Il voulait à toute force que son enfant jouisse des incomparables privilèges de la civilisation occidentale. Etant le fils de paysans analphabètes, il est tellement fier d’avoir pu apprendre à lire qu’il est intimement persuadé qu’il n’y a pas de problème, et en particulier celui du bonheur de l’humanité, qui ne puisse être résolu par la lecture des bons auteurs. […] »“ (RF, 209). 117 RF, 210. 174 […] «…à quoi j’ai répondu par retour que si le contenu des milliers de bouquins de cette irremplaçable bibliothèque avait été précisément impuissant à empêcher que se produisent des choses comme le bombardement qui l’a détruite, je ne voyais pas très bien quelle perte représentait pour l’humanité la disparition sous les bombes au phosphore de ces milliers de bouquins et de papelards manifestement dépourvus de la moindre utilité […]» (RF, 211). 118 Die Nutzlosigkeit von Sprache bzw. Literatur zeigt sich in Georges’ Augen vor allem dann, wenn alles kulturelle und zivilisatorische Wissen, das die Menschheit über Jahrhunderte hinweg erworben hat, nicht den Ausbruch eines weiteren Krieges verhindern kann. 119 In diesem Kontext ist auch Georges’ Entscheidung einzuordnen, sich nach Kriegsende der Landwirtschaft zu widmen: […] Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder […], comme il l’avait défié, épié à son retour, la scène se déroulant ainsi : Georges déclarant qu’il avait décidé de s’occuper des terres, et soutenu […], soutenu, donc, par la bruyante, obscène et utérine approbation de Sabine ; et pas plus, c’est-à-dire pas un mot, pas une observation, pas un regret, la pesante montagne de chair toujours immobile, silencieuse, la lourde et pathétique masse d’organes distendus et usés à l’intérieur de laquelle ou plutôt sous laquelle se tenait quelque chose qui était comme une partie de Georges, au point que malgré sa totale immobilité, malgré sa totale absence de réaction apparente Georges perçut parfaitement et plus fort que l’assourdissant caquetage de Sabine comme une sorte de craquement, comme le bruit imperceptible de quelque organe secret et délicat en train de se briser, et rien de plus après cela, rien d’autre, sinon cette carapace de silence, […]“ (RF, 219f.). 120 Georges’ Erklärung gegenüber seinen Eltern, von nun an - aufgrund seiner Kriegserfahrungen - auf die Fortführung seiner akademischen und intellektuellen Karriere zu verzichten und stattdessen Landwirt auf seinem Gut zu werden, wird von Vater und Mutter völlig unterschiedlich aufgenom- 118 Vgl. ebenso RF, 159f., 182f., 209. 119 Vgl. zum Humanismusstreit zwischen Georges und seinem Vater v.a. W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 90ff. Ebenso A. Duncan: „La Route des Flandres: adventure in words.“ (1994), S. 22; S. Guermès: L’écho du dedans. Essai sur La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 155. 120 Die Opposition von Ackerbau und Schreiben nimmt bereits ein zentrales Motiv des zwanzig Jahre später erscheinenden Romans Les Géorgiques vorweg: Während der spätere Text in der Figur des Revolutionsgenerals L.S.M. eine Verbindung von Ackerbau und Schreiben herstellt und damit metaphorisch auch die Arbeit des Schriftstellers beschreibt, gelingt diese Synthese in La Route des Flandres noch nicht: Hier steht der Protagonist vor der Entscheidung, entweder die vor dem Krieg begonnene, aber durch diesen entwertete intellektuelle Tätigkeit fortzuführen oder aber in Abwesenheit von Texten und beinahe auch von Sprache (Vgl. die Beschreibung seiner Treffen zum Kartenspiel in einer Bar, die weitestgehend ‚stumm’ („[de la même façon] silencieuse“) ablaufen; RF, 221) ein Leben als Landwirt zu führen. 175 men. Während Sabines plapperndes Einverständnis aufgrund seiner Sinnentleertheit obszön wirkt und durch ihre Mutterrolle beeinflusst zu sein scheint, lässt der Vater wider Erwarten kein Wort verlauten. Doch kann Georges im Innern des Vaters ein verborgenes und empfindliches Organ - das wie ein Teil seiner selbst ist - zerbersten ‚hören’. Dieses Organ ist die Schrift und damit die Sprache des Vaters, die Georges an anderer Stelle im Text als ‚zusätzliches Organ’ beschreibt: […] [Georges] pensant à son père assis dans le kiosque […] où il passait ses après-midi à travailler, couvrir de sa fine écriture raturée et surchargée les éternelles feuilles de papier qu’il transportait avec lui d’un endroit à l’autre dans une vieille chemise aux coins cornés, comme une sorte d’inséparable complément de lui-même, d’organe supplémentaire inventé sans doute pour remédier aux défaillances des autres […]“ (RF, 31). In Georges’ Beschreibung erscheint das Schreiben des Vaters funktionslos zu sein und nur um seiner selbst willen zu geschehen. 121 Die eng beschriebenen Blätter stets wie ein zusätzliches Organ bei sich zu tragen, scheint dem Vater zur Notwendigkeit geworden zu sein, da seine anderen Organe zunehmend unzuverlässig werden. Georges’ Absichtserklärung, sein weiteres Leben als Landwirt zu verbringen, zerstört in dem Vater dieses ‚Organ’; er hat zuletzt seinen Glauben an die Macht der Sprache verloren - hat er doch seine eigenen Ideale nicht an seinen Sohn weitergeben können. Künftig wird der Vater auch auf jede weitere Kommunikation mit dem Sohn verzichten; so wie zuvor die Schrift das charakteristische Merkmal des Vaters war, wird es fortan sein Schweigen sein. Obwohl Georges so kritisch die Haltung seines Vaters hinterfragt und ablehnt, wählt er doch paradoxerweise einen ähnlichen Weg, um Erkenntnis über die Wirklichkeit zu erlangen. So hofft er, in Corinnes Körper wie in einem Buch lesen zu können und auf diese Weise die Umstände, die zu de Reixachs unerklärlichem Tod führten, aufzudecken: […] qu’avais-je cherché en elle espéré poursuivi jusque sur son corps dans son corps des mots des sons aussi fou que lui avec ses illusoires feuilles de papier noircies de pattes de mouches des paroles que prononçaient nos lèvres pour 121 Siehe auch den Vergleich der verschiedenen Kommunikationsweisen von Vater und Mutter, der von Georges zugunsten der Mutter entschieden wird (RF, 230): „[…] la décevante réapparition de griffonnages sans autre existence réelle que celle attribuée à eux par un esprit lui non plus sans existence réelle pour représenter des choses imaginées par lui et peut-être aussi dépourvues d’existence, et alors mieux valait à tout prendre son jacassement de volatile, ses colliers entrechoqués, son perpétuel et insensé verbiage qui avaient au moins la vertu d’exister, quand ce ne serait que par le bruit et le mouvement […]“. Den schriftlichen Zeugnissen des Vaters spricht Georges jede reale Existenz ab - sie seien nur das imaginäre Produkt eines imaginären Geistes -; hingegen sei das Geschwätz der Mutter allein aufgrund seiner akustischen Vernehmbarkeit in der Wirklichkeit präsent. Georges votiert in dieser Äußerung zugunsten des Vorrangs der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit. 176 nous abuser nous-mêmes vivre une vie de sons sans plus de réalité sans plus de consistance que ce rideau sur lequel nous croyions voir le paon brodé remuer palpiter respirer imaginant rêvant à ce qu’il y avait derrière […] (RF, 259). Auch Georges setzt in seiner Affäre mit Corinne auf die Repräsentationskraft der Sprache: Er hat die Hoffnung, durch den Kontakt mit ihrem Körper und durch ihre gemeinsamen Gespräche die Wahrheit über ihr früheres Leben aufzudecken. 122 Doch muss er bald feststellen, dass es ihm auf diese Weise nicht gelingen wird, Aufschluss über die Vergangenheit eines anderen Menschen zu erhalten. 123 Vielmehr dienen Corinne und Georges die Wörter dazu, sich gegenseitig zu täuschen und ein Leben voller Laute ohne Referenz auf die außersprachliche Realität 124 zu führen. Es wird Georges ebenso wenig gelingen, hinter Corinnes ‚Fassade’ zu gelangen wie hinter den Pfauenvorhang im Ardennendorf. 125 Am Ende ihrer Beziehung muss er erkennen, dass auch sie nur ein ‘leeres’ Zeichen darstellt (RF, 259). 126 So wie die Papiere seines Vaters mit bedeutungsleeren Zeichen beschrieben sind, ergeben auch die Worte, die Georges mit Corinne gewechselt hat, keinen Sinn. Die ganze Episode erscheint ihm zuletzt völlig realitätsfern und gegenstandslos. Über die Parodie der Sprachgläubigkeit seines Vaters hinaus entwirft Georges eine eigene Kritik an der scheinbaren Referentialität sprachlicher Zeichen, den seiner Ansicht nach „mots inutiles et vides“ (RF, 35) und „paroles privées de sens“ (RF, 113). 127 So erkennt Georges, dass Sprache wie alle anderen medialen Repräsentationen von Realität immer nur einen Ausschnitt von ihr darstellen: „[…] des bribes de phrases […] représentant des bribes de réalité […]“ (RF, 217). Wenn er also versucht, im Gespräch mit Iglésia die ursprüngliche Wirklichkeit seiner Beziehung mit Corinne zu rekonstruieren, wird er nie die ‚ganze’ Wahrheit erkennen. 122 Vgl. hierzu R. Sarkonak, der die Suche des Vaters als „linguistic search“, die seines Sohnes als „corporeal search“ beschreibt (R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 51.). 123 Vgl. hierzu R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 30. Er vergleicht den Geschlechtsakt zwischen Georges und Corinne mit dem Schreibakt des Autors Simon, der ebenfalls ‘etwas’ ausdrücken will. Am Ende scheitert aber der Autor bei der sprachlichen Repräsentation von Wirklichkeit ebenso wie Georges bei der sprachlichen Rekonstruktion der Vergangenheit. 124 Ebenso RF, 263. 125 R. Warning interpretiert in diesem Zusammenhang den auf dem Vorhang eingestickten Pfau als Metapher vom Text als ‚Textur’ bzw. ‚Gewebe’, welches jedoch nicht mehr die „Transparenz repräsentativer Schriftlichkeit“ gewährleiste (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 368.) 126 Ebenso S. 278f. T.R. Kuhnle präzisiert, dass Corinne für Georges ein ‚ikonisches Zeichen’ darstellt, das jedoch nur eine banale Bedeutung besitzt (T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 384.). 127 Vgl. z.B. die „noms énigmatiques“ auf den flandrischen Ortsschildern (RF, 291). 177 Doch ist Sprache nicht nur ein unzulängliches Medium bei der Erfassung der Realität, sie ist darüber hinaus in der Lage, fiktive Sachverhalte zu konstruieren, d.h. im Grunde zu ‚lügen’, wie Georges im Zusammenhang mit de Reixachs Analyse des Hinterhalts im Hohlweg erfährt: [de Reixach] disant: … vilaine affaire. Apparemment ils se servent de ces chars comme…, puis il fut trop loin j’avais oublié que ce genre de choses s’appelait simplement une « affaire » comme on dit « avoir une affaire » pour « se battre en duel » délicat euphémisme formule plus discrète plus élégante allons tant mieux rien n’était encore perdu puisqu’on était toujours entre gens de bonne compagnie dites ne dites pas, exemple ne dites pas « l’escadron s’est fait massacrer dans une embuscade », mais « nous avons eu une chaude affaire à l’entrée du village de » […] (RF, 156). Hier dient die Wortwahl der Verharmlosung und damit dem Verbergen der grauenhaften Wahrheit; stattdessen wird von de Reixach eine alternative Wirklichkeit konstruiert, die den Anforderungen der längst überholten Etikette des 19. Jahrhunderts genügt. Nicht zuletzt scheint sich Sprache in manchen Situationen gegen ihre Benutzer zu wenden, wenn sie - anstatt für Klarheit und gegenseitiges Verständnis zu sorgen - jede Kommunikation zunichte macht, wie es im Verlauf der bruchstückhaften, sinnentleerten verbalen Auseinandersetzung der Soldaten im Ardennendorf geschieht: […] les voix se mêlant en une sorte de chœur incohérent, désordonné, de babelesque criaillerie, comme sous le poids d’une malédiction, une parodie de ce langage qui, avec l’inflexible perfidie des choses créées ou asservies par l’homme, se retournent contre lui et se vengent avec d’autant plus de traîtrise et d’efficacité qu’elles semblent apparemment remplir docilement leur fonction : obstacle majeur, donc, à toute communication, toute compréhension, les voix montant alors, comme si la simple modulation des sons se révélant impuissante elles n’avaient plus d’espoir que dans leur force […] (RF, 56f.). 128 Das Durcheinander der Wörter und die sich gegenseitig übertönenden Soldaten lassen keinen verbalen Austausch entstehen. Die Sprache erweckt nur noch den Anschein, für eine Verständigung zu sorgen; in Wahrheit ist sie längst zu einem Hindernis geworden, das die Sprecher durch umso größere Lautstärke zu überwinden suchen. Sie scheint zwar - oberflächlich betrachtet - ihren Zweck zu erfüllen, doch in Wirklichkeit parodiert sie nur sich selbst: Indem sie keine Information mehr übermittelt, rächt sich die Sprache an ihrem Benutzer, der naiv auf ihre Fähigkeit vertraut, Wirklichkeit auszudrücken. 129 128 Vgl. RF, 287, 288. 129 Vgl. hierzu N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 123: „[…] la signification est en crise, la hiérarchie des effets de sens n’a plus de raison d’être.“ Ebenso N. Piégay-Gros: „La voix dans les romans de Simon. Vocalité, représentation, expression.“ (1998), S. 489f. G. Prince zufolge erfüllt Sprache in La 178 Auch wenn Georges dem Sprechen und der Sprache gegenüber kritisch eingestellt ist, 130 erfüllt sie für ihn doch eine ganz wichtige Funktion während seiner Gefangenschaft: [Blum et Georges] y restèrent tous les deux [au camp, S.Z.], travaillant pendant les mois d’hiver à décharger des wagons de charbon, […] minables et grotesques silhouettes, avec leur calot rabattu sur leurs oreilles, le col de leur capote relevé, tournant le dos au vent de pluie ou de neige et soufflant dans leurs doigts tandis qu’ils essayaient de se transporter par procuration (c’est-à-dire au moyen de leur imagination, c’est-à-dire en rassemblant et combinant tout ce qu’ils pouvaient trouver dans leur mémoire en fait de connaissances vues, entendues ou lues, de façon là, au milieu des rails mouillés et luisants, des wagons noirs, des pins détrempés et noirs, dans la froide et blafarde journée d’un hiver saxon à faire surgir les images chatoyantes et lumineuses au moyen de l’éphémère, l’incantatoire magie du langage, des mots inventés dans l’espoir de rendre comestible comme ces pâtes vaguement sucrées sous lesquelles on dissimule aux enfants les médicaments amers - l’innommable réalité) dans cet univers futile, mystérieux et violent dans lequel, à défaut de leur corps, se mouvait leur esprit : quelque chose peut-être sans plus de réalité qu’un songe, que les paroles sorties de leurs lèvres : des sons, du bruit pour conjurer le froid, les rails, le ciel livide, les sombres pins : ) […] (RF, 173). In der grausamen Realität der Gefangenschaft dienen Georges und Blum ihre Gespräche als Fluchtmöglichkeit aus eben dieser „innommable réalité“: Erlebtes und Imaginiertes, Gelesenes und Gehörtes wird mit sprachlichen Mitteln zu phantastischen Bildern verknüpft, die den Schrecken des Lagers und der Zwangsarbeit erträglicher machen sollen. Dabei verfügen die Wörter über eine gleichsam magische Macht: Auch ohne eigentlich auf Reales zu referieren, gelingt es ihnen doch, die Wirklichkeit zu beschwören und zu verdrängen. Auch dienen die Gespräche der gegenseitigen Ermutigung und der Abwechslung vom eintönigen Alltag der Gefangenschaft: „[…] peut-être étais-je toujours en train de lui parler, d’échanger avec un petit juif maintenant mort depuis des années des vantardises des blagues des obscénités des mots des sons rien que pour ne pas nous endormir nous donner le change nous encourager l’un l’autre, […]“ (RF, 262). Die zitierte Textstelle fungiert darüber hinaus auch als mise en abyme der Fiktionalität des Gedächtnisstroms sowie des Romans insgesamt, da auch Georges bei der Evokation der Vergangenheit reale und hypothetische Erinnerungen miteinander vermischt. Indem hier ein Teil des Romans als fiktional entlarvt wird, wird zum einen auf die Fiktionalität des Romans als Route des Flandres weder ihre angestammte „epistemologico-descriptive function“, noch ihre „communicative function“ (G. Prince: „How to Redo Things with Words: La Route des Flandres.“ (1988), S. 772.). 130 Vgl. im Gespräch mit dem Vater: „[…] et lui [Georges]: « Rien je n’ai rien Je n’ai surtout pas envie d’aligner encore des mots et des mots et encore des mots […] » […]“ (RF, 34). 179 Ganzes verwiesen, der ja ebenfalls aus Sprache bzw. aus Zeichen „sans plus de réalité qu’un songe“ (RF, 173) besteht. 131 Zum anderen thematisiert der Text hier auf metafiktionale Weise seine fiktionalen Vertextungsverfahren: Fiktive Realität entsteht auch in La Route des Flandres aus der Synthese von realen und fiktiven Objekten. Die vorangehenden Überlegungen haben gezeigt, dass in Simons Roman ein alternatives Konzept von Sprache entworfen wird: Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die referentielle, vom Text immer wieder dekonstruierte Funktion der Sprache, 132 sondern vielmehr ihre schöpferische Kraft, die es ihren Benutzern ermöglicht, imaginäre Welten zu entwerfen und auf diese Weise der unerträglichen Wirklichkeit zu entfliehen. 4.3.3.3 Die ‚Offenheit‘ der Bildzeichen Ebenso wenig wie die individuellen Sinneswahrnehmungen und die Sprachbzw. Schriftzeichen als zuverlässige Speichermedien vergangener Wirklichkeit fungieren, liefern auch die verschiedenen Bildzeichen in La Route des Flandres kein adäquates Abbild der äußeren Realität; vielmehr wird ihre spezifische Repräsentationsfunktion problematisiert und in Frage gestellt. Dabei zielt im Roman die Diskussion der Beziehung zwischen dem nicht-sprachlichen Artefakt und der von ihm repräsentierten Wirklichkeit auf fünf Problembereiche ab: auf den Rezipienten bzw. Betrachter, auf den Produzenten bzw. Künstler, auf den (kunst-)historischen Kontext, in welchem das Bild entstanden ist, auf den Inhalt bzw. das Abgebildete sowie auf das Kunstwerk allgemein - jeder dieser Bereiche liefert gewisse Faktoren, die das Kunstwerk als ein mimetisches Abbild der Wirklichkeit in Frage stellen. Kennzeichen des Bildes wie anderer, z.B. sprachlicher, Kunstwerke auch ist seine relative ‚Offenheit’ gegenüber verschiedenen Interpretationsansätzen. 133 Auch in La Route des Flandres lassen die beschriebenen Gemäl- 131 Diese Scheinreferenz der Sprache auf eine außersprachliche Realität führen z.B. die arabischen Phantasienamen vor: „leurs noms gutturaux et râpeux Arhmed ben Abdahalla ou Bouhabda ou Abderhamane“ (245). Vgl. ferner die Generalstabskarte mit ihren betont gegenständlichen Ortsnamen (280f.). Hierzu u.a. Stuart W. Sykes: „‘Mise en abyme’ in the novels of Claude Simon“ (1973), S. 342; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres: ‘défi aux voix narratives’“ (1990), S. 270; W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon“ (1995), S. 150. 132 Mit dieser sprachskeptischen Haltung greift der französische Nouveau Roman die Tendenz in der zeitgenössischen, postmodernen, Literatur bzw. Kultur allgemein auf, die referentielle Kraft der Sprache in Zweifel zu ziehen (R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 234f.). 133 U. Eco hat als „Offenheit“ eines Kunstwerks seine spezifische Beschaffenheit beschrieben, über die vom Künstler intendierte geschlossene Form hinaus (das vom Künstler organisierte „Gewebe von kommunikativen Wirkungen“, das jeden Kon- 180 de mehrere Deutungsmöglichkeiten zu: 134 So glaubte Georges als Kind lange Zeit, der Vorfahr de Reixach habe sich auf prophetische Weise zu Lebzeiten mit seiner todbringenden Schusswunde portraitieren lassen, allein weil auf dem Gemälde eine braunrote, blutähnliche Spur im Gesicht und am Jackenkragen zu erkennen war: „[…] comme si - pour illustrer, perpétuer la trouble légende dont le personnage était entouré - on l’avait portraituré ensanglanté par le coup de feu qui avait mis fin à ses jours […]“ (RF, 54). Georges deutet aus seinem späteren Wissen heraus eine Realität in das Gemälde ‚hinein’, die bei seiner Entstehung noch gar nicht bekannt sein konnte: Schließlich entstand das Bild zu Lebzeiten des Generals, als sein späterer gewaltsamer Tod noch im Dunkel der Zukunft lag (RF, 175). Ein wechselseitiger Interpretationsprozess erfolgt auch bei den „gravures galantes“, die Georges als Kind häufig an den Wänden des elterlichen Schlafzimmers betrachtet hat. Zum einen nimmt er ihr Vorhandensein in dem Raum, in dem sich der Vorfahr angeblich erschossen hat, als Beweis für die Glaubwürdigkeit der Vorgeschichte des Geschehens: der General habe sich vor seinem Selbstmord schnell seiner Kleidung entledigt und sei dann völlig unbekleidet von den Bediensteten aufgefunden worden (RF, 83). Andererseits wird Georges von Blum vorgeworfen, er habe den Stich zu einseitig zum Vorteile der familiären Selbstdarstellung interpretiert: et Blum : « […] et puis il y a aussi cette gravure […] représentant la scène et que tu interprètes à la façon de ta mère c’est-à-dire selon la version la plus flatteuse pour votre amour-propre familial en vertu de cette loi qui veut que l’Histoire … » […] (RF, 175f.); et Blum : « … que l’Histoire (ou si tu préfères: la sottise, le courage, l’orgueil, la souffrance) ne laisse derrière elle qu’un résidu abusivement confisqué, désinfecté et enfin comestible, à l’usage des manuels scolaires agréés et des familles à pedigree… Mais en réalité que sais-tu ? Quoi d’autre que le caquetage d’une femme peut-être plus soucieuse de protéger la réputation d’une de ses semblables que de fourbir […] un blason et un nom quelque peu ternis et que … » […] (RF, 177). sumenten in die Lage versetzen soll, die Form des Werkes so zu verstehen und zu genießen, wie von ihm beabsichtigt) in „einer bestimmten individuellen Perspektive“ von den Konsumenten verstanden zu werden. „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in seiner originellen Perspektive neu auflebt.“ (U. Eco: Das offene Kunstwerk. Übersetzt von Günter Memmert. (1977), S. 29f.). Später hat Eco diese These von der absoluten Offenheit eines Kunstwerks eingeschränkt, indem er auf die jede Interpretation kontrollierende Rolle der „Logik der Signifikanten“ sowie der Kontextbeziehungen verweist. (U. Eco: „Die ästhetische Botschaft. Übers. v. Jürgen Trabant.“ (1982), S. 421 und 423f.) 134 W. Nitsch erkennt in der unterschiedlichen Interpretation der Familienwappen der de Reixach durch Blum und Georges einen Hinweis auf die „Vieldeutigkeit bildlicher Zeichen“ in La Route des Flandres (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 80). 181 In Blums Augen ist der Interpretationsansatz der Mutter leicht zu durchschauen: Ohne konkrete Anhaltspunkte für das genaue Tatmotiv des Ahnen zu besitzen, deutet sie seinen Selbstmord zugunsten der Familienehre als Ausdruck einer tief empfundenen Schmach über die französische Niederlage im Krieg gegen die Spanier. Blum hingegen ist der Meinung, dass auf der „gravure galante“ vielmehr das ‚wahre’ Motiv für den gewaltsamen Tod des Generals dargestellt sei: der Ehebruch seiner Frau mit einem „valet“, den der betrogene Ehemann nach seiner überraschenden Rückkehr aus Spanien aufgedeckt habe. 135 So zeigt sich der Stich offen für verschiedene Interpretationen, die aufgrund der nicht überlieferten Gründe für den Tod des Ahnen alle gleichermaßen zulässig sind. Doch finden sich auch auf Seiten des Künstlers gewisse Faktoren, welche die Authentizität der abgebildeten Wirklichkeit in Zweifel ziehen lassen: Dieser kann aus verschiedenen Gründen die ursprüngliche Realität in ihrer Darstellung verändern, so z.B. in der künstlichen Verjüngung der abgebildeten Personen (RF, 184). Auch spielt der Einfluss des zum Entstehungszeitpunkt des Bildes herrschenden künstlerischen Stils eine große Rolle. So war es gegen Ende des 18. Jahrhunderts üblich, Frauen - unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um ehrbare Familienmütter oder um „lascives odalisques“ handelte - „[…] mollement abandonnées sur les coussins des bains turcs […]“ (RF, 265) zu portraitieren. Daher ist es möglich, dass das zweite Portrait einer sehr sinnlichen Virginie eine falsche, aber zu diesem Zeitpunkt angestrebte ideale Realität widerspiegelt, die so nicht existiert hat. Doch auch hier bleibt es dem Betrachter - in diesem Fall Georges - verwehrt, Klarheit über die Vergangenheit seiner Ahnin zu erlangen, da andere, möglicherweise zuverlässigere Quellen für ihr Leben nicht überliefert sind. Nicht zuletzt können auch in der Person des oder der Abgebildeten bestimmte Gründe für die Art der Darstellung liegen. Beispielsweise vermutet Georges, dass es sich bei dem Portrait des Generals nur um eine Pose handelt, die dieser zum Zwecke einer besseren Selbstdarstellung eingenommen hat: […] Car peut-être ce viril attirail de chasseur - l’arme, la large courroie de cuir rouge d’une gibecière postulant les bêtes mortes, quelque chose où se mélangeraient des fourrures et des plumes tachetées comme dans ces natures mortes où sont entassés lièvres, perdreaux et faisans - n’était-il là que pour lui fournir une pose, une contenance comme, de nos jours, les gens se font photographier dans les foires en passant la tête à travers ces trous ovales qui tiennent lieu de visages à des personnages (aviateurs de fantaisie, clowns, danseuses) peints sur une simple toile […] (RF, 76f.). Es geht dem General in Georges’ Augen um die Zurschaustellung einer (möglicherweise so nicht vorhandenen) Männlichkeit: diese zeigt sich im 135 RF, 178f., 181-189. 182 18. Jahrhundert typischerweise in den Attributen eines erfolgreichen Jägers. 136 Dieses Bedürfnis nach einer bestimmten Selbstdarstellung kann jedoch nicht allein einer individuellen Person innewohnen, sondern auch einem ganzen Volk, wie die Art der visuellen Repräsentation von kriegerischen Ereignissen deutlich macht. So existiert von der französischen Niederlage in den Revolutionskriegen gegen Spanien, die laut Georges und seiner Mutter zu der Entscheidung des Generals, Selbstmord zu begehen, beigetragen hat, keine bildliche Repräsentation: „Il n’y avait pas non plus - du moins il n’en avait jamais vu - d’image représentant cette bataille, cette défaite, cette déroute, sans doute parce que les nations vaincues n’aiment pas perpétuer le souvenir des désastres; […]“ (RF, 202). Hingegen ist vom französischen Sieg in der kriegerischen Konfrontation zwischen dem absolutistischen Spanien und dem revolutionären Frankreich ein Gemälde überliefert, das nun einen Ehrenplatz in der „grande salle de l’Hôtel de Ville“ erhalten hat. 137 Schließlich liegt in ihrer Fähigkeit zur optischen Täuschung ein weiterer Grund, weshalb die bildende Kunst und hier insbesondere die Malerei trotz ihres scheinbaren Realismus kaum als mimetische Abbildungen einer Realität jenseits des Kunstwerks gelten können. Wie schon angedeutet wurde, beruht Georges‘ Interpretation des seinen Ahnen repräsentierenden Gemäldes auf einer Sinnestäuschung, hervorgerufen durch den schlechten restaurativen Zustand des Bildes (RF, 69f.). 138 Nicht zuletzt liegt in der prinzipiellen Ungleichzeitigkeit der Wirklichkeit und ihres Abbildes ein weiteres Täuschungspotential. Dies führt Si- 136 Dies gilt vor allem für den männlichen Adligen. Vgl. auch RF, 272. 137 Der Roman nennt nicht die Stadt, in der das Gemälde zu finden ist - vermutlich handelt es sich dabei um Georges’ Heimatstadt. Das Gemälde selbst ähnelt in seiner Beschreibung Eugène Delacroix’ La liberté guidant le peuple (1830), das möglicherweise als Modell für das jüngere Gemälde - „[…] et c’était environ cent ans plus tard encore qu’un peintre officiel avait été chargé de la [la victoire, S.Z.] représenter“ (RF, 202) - gedient hat. 138 Daneben ist besonders das Kino aufgrund seiner technischen Möglichkeiten das Medium schlechthin für Sinnestäuschungen, wie die wiederholten Vergleiche mit cineastischen Verfahren deutlich machen. So wird die übergroße Geschwindigkeit alter Wochenschaubilder durch die Mangelhaftigkeit der damaligen Filmkameras und Projektionsapparate verursacht (RF, 65); auf den Zuschauer wirken die so präsentierten Figuren und Situationen grotesk und verbergen auf diese Weise unfreiwillig den ernsten Hintergrund. Schließlich besteht eine andere Möglichkeit des Kinos zur Sinnestäuschung darin, eine Personengruppe vor einem sich bewegenden Hintergrund zu platzieren, mit dem visuellen Effekt, dass es scheinbar die Figuren sind, die sich bewegen, während der Hintergrund unbewegt bleibt (RF, 68f.). Auf diese Weise unterstreichen die expliziten Referenzen auf das Kino und seine Techniken „[…] le caractère irréel et figé des souvenirs“ und verstärken zugleich „[…] le caractère artificiel de la représentation pour détruire à chaque instant l’illusion de réel créée.“ (A.-M. Baron: „La Route des Flandres, de Simon, roman filmique.“ (1998), S. 100f.) 183 mons Roman am Beispiel der Generalstabskarte vor, die einen bestimmten Zustand der Realität ‚einfriert’, ohne eventuelle Veränderungen dieser Realität nachträglich berücksichtigen zu können: cherchant à nous imaginer nous quatre et nos ombres nous déplaçant à la surface de la terre, minuscules, parcourant en sens inverse un trajet à peu près parallèle à celui que nous avions emprunté dix jours plus tôt en nous portant à la rencontre de l’ennemi l’axe de la bataille s’étant entre-temps légèrement déplacé l’ensemble du dispositif ayant subi de ce fait une translation du sud vers le nord d’environ quinze à vingt kilomètres de sorte que le trajet suivi par chaque unité aurait pu être schématiquement représenté par une de ces lignes fléchées ou vecteur figurant les évolutions des divers corps de troupes (cavalerie, infanterie, voltigeurs) engagés dans les batailles […] (RF, 280). Am Ende muss die Repräsentation der Generalstabskarte versagen, da diese fatalerweise nicht in der Lage ist, adäquat den Verlauf und den Schrecken der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den deutschen Panzern und den französischen Reitern und ihren Pferden abzubilden: les collines figurées sur la carte au moyen de petits traits en éventail bordant la ligne onduleuse d’une crête, de sorte que le champ de bataille semble parcouru de mille-pattes sinueux, chaque corps de troupe étant représenté par un petit rectangle à partir duquel s’élance le vecteur correspondant, chacun d’eux se recourbant en l’occurrence de façon à affecter à peu près la forme d’un hameçon, c’est-à-dire le dard dirigé au rebours de la partie du trait formant pour ainsi dire la hampe, le sommet de la courbe ainsi décrite coïncidant avec le point où le contact avait été pris avec les troupes ennemies l’ensemble de la bataille qui venait de se dérouler pouvant donc être représenté sur la carte d’état-major par une série de hameçons disposés parallèlement et la pointe retournée vers l’ouest, cette représentation schématique des évolutions des différentes unités ne tenant évidemment compte ni des accidents du terrain ni des obstacles imprévus surgis au cours du combat, les trajets réels ayant en réalité la forme de lignes brisées zigzaguant et quelquefois se recoupant s’embrouillant sur elles-mêmes et qu’il aurait fallu dessiner au départ à l’aide d’un trait épais vigoureux allant ensuite s’amenuisant et (comme les tracés de ces oueds d’abord impétueux et qui peu à peu - au contraire des autres fleuves dont la largeur va constamment croissant depuis la source jusqu’à l’embouchure - disparaissent s’effacent évaporés bus par les sables du désert) se terminant par un pointillé les points s’espaçant s’égrenant puis finissant eux-mêmes par disparaître tout à fait (RF, 282). Der Text formuliert an dieser Stelle eine implizite, grundsätzliche Kritik an jedem Versuch, Wirklichkeit durch Bilder - seien es nun abstrahierende oder möglichst realistische - zu repräsentieren: Die Generalstabskarte veranschaulicht den gescheiterten Versuch, Wirklichkeit zu ordnen, indem ein schematisches Abbild von ihr entworfen wird. Dabei zeigt sich dieses Schema als unfähig, einerseits vorher unbekannte Probleme der Landschaft bzw. während des Kampfes auftretende Hindernisse zu integrieren und andererseits der tatsächlichen Entwicklung der Kämpfe - vor allem der schrittweise erfolgten Auslöschung nahezu des gesamten Regiments - 184 Rechnung zu tragen. Die Karte stellt in dieser Hinsicht ein ideales Abbild einer externen Realität dar, das jedoch nichts mit ihrem realen Zustand zu tun hat, und das deshalb in seinem Versagen tragisch ist. 139 So führt Simons Roman zuletzt das Scheitern aller gängigen Möglichkeiten der Repräsentation von Wirklichkeit vor: Ebenso wenig wie die Sinneswahrnehmungen des Menschen in der Lage sind, ein adäquates Abbild der objektiven Realität zu entwerfen, können kollektive Speichermedien wie Sprach-, Text- und Bildzeichen diese erfassen. An einigen Stellen wird die vom Text geübte Repräsentationskritik fundamental: So verliert Sprache ihre Existenzberechtigung, wenn zusätzlich zum außersprachlichen Referenten auch das psychische Konzept verschwindet. Doch auch die Bildzeichen scheitern in La Route des Flandres mit tragischen Folgen bei dem Versuch, die jenseits ihrer selbst liegende Wirklichkeit zu repräsentieren bzw. ihr schematisches, fiktives Bild zu entwerfen. 4.4 Erkenntnis als Fiktion - Metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit In Simons Roman La Route des Flandres nimmt die Frage nach der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der erinnerten Realität einen dominanten Platz in der Themenstruktur ein. Dabei lässt sich im polyphonen Gefüge des Romans ein antithetischer Wechsel von Diskurs und Gegendiskurs unterscheiden, der um die spezifische Subjektivität menschlicher Erkenntnis kreist. Der vorangehende Abschnitt hat in diesem Zusammenhang das Scheitern des Protagonisten vorgeführt: Eine mediale Rekonstruktion der Vergangenheit - mittels Sprach- oder Bildzeichen - ist nicht möglich. Im Folgenden soll nun untersucht werden, auf welche Weise der Text diese Fiktion objektiver Erkenntnis offen legt. Erkenntnis bzw. Wissen über vergangene Ereignisse ist in La Route des Flandres nicht zuverlässig und allgemeingültig, sondern präsentiert sich vielmehr als etwas Fiktives und Fiktionales. Das ‚Wissen’ sowohl über die Vergangenheit als auch über die unmittelbar sinnlich wahrgenommene Realität setzt sich nicht nur aus mehr oder minder gesicherten Fakten, sondern in hohem Maße aus innerfiktional fiktiven Imaginationen der verschiedenen Figuren zusammen. Auch zeigt sich der Erkenntnisprozess - der Gedächtnisstrom - als durch verschiedene Merkmale fiktionalen Erzählens geprägt: So erscheint 139 S. Sykes bewertet die Karte darüber hinaus auch als metanarrative oder metasprachliche Inszenierung des Romans („un résumé langagier“), da sich verschiedene Analogien zwischen Karte und Text finden lassen (z.B. die Verbindungen zwischen den auf der Karte genannten Ortsnamen und bestimmten Textsegmenten); vgl. hierzu S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 78. 185 das Erinnern weniger als zielloser und unwillkürlicher Akt, sondern vor allem als Erzählvorgang des Protagonisten Georges. Die Wirklichkeit des Romans selbst hat dagegen ihren Ursprung überwiegend in den Gesprächen der verschiedenen Protagonisten und erweist sich auf diese Weise als ein dialogisches Konstrukt. Ferner bleibt die Erzählinstanz selbst nicht unberührt von verschiedenen Auflösungstendenzen: Sie spaltet sich einerseits in mehrere Erzähler auf, wobei die verschiedenen Erzählstimmen zunehmend ununterscheidbar werden und sich zuletzt in einer einzigen Stimme zu vereinen scheinen. Schließlich weisen auch die verschiedenen metanarrativen Passagen des Romans, die in erster Linie als mise en abyme der im Text nachvollziehbaren Erzählakte fungieren, auf das Vorhandensein einer Erzählung hin und charakterisieren den Roman als Vertreter fiktionaler Erzählliteratur. Nicht zuletzt wird die Fiktionalität des Erkenntnisprozesses - die Tatsache, dass dieser sich aus Diskursen ohne Referenz auf die ‚reale’ Welt der histoire zusammensetzt - auch durch verschiedene Formen fiktionaler Intertextualität und Intermedialität aufgedeckt: Die histoire scheint geprägt durch die Übernahme von Themen und Motiven aus anderen fiktionalen Texten sowie durch den Vergleich von Figuren und Ereignissen mit typischen technischen Verfahren aus Theater, Oper und Operette. Simons Roman problematisiert demzufolge nicht bloß die Objektivität von Erkenntnis, sondern entwirft ein eigenes, durch Subjektivität und Fiktionalität bzw. Fiktivität bestimmtes Modell vom Wissen um die (vergangene) Wirklichkeit. Im Folgenden sollen die metafiktionalen Textstrategien, welche die Fiktivität und die Fiktionalität des Erkennens von Gegenwart und Vergangenheit explizit thematisieren und implizit inszenieren, im Mittelpunkt der Analyse stehen. Diese Vertextungsverfahren werden nun nicht im Hinblick auf die Konstruktion bzw. Destruktion der authentischen Illusion eines Gedächtnisstroms interpretiert - eine Lesart, die vom Text ebenso suggeriert wird und welche damit ebenso legitim ist - sondern im Hinblick auf eine metafiktionale Offenlegung der wichtigen Rolle, welche Fiktives und Fiktionales bei der im Werk Simons immer subjektiv angelegten Erkenntnis von ‚Welt’ spielt. 186 4.4.1 „Comment savoir? “ - Georges zwischen Wissen und Nicht- Wissen Wie bereits in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, ist Georges’ Wissen lückenhaft: Er verfügt bei der Rekonstruktion der Vergangenheit mittels seiner Erinnerungen nur über wenige, scheinbar gesicherte Informationen, deren Herkunft aus zweifelhaften Quellen jedoch schnell offenbar wird. Daher stellt der in La Route des Flandres präsentierte Gedächtnisstrom „[…] une quête de la connaissance, une poursuite impossible d’un sens qui fuit toujours […]“ 140 dar: Georges versucht im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses ohne Unterlass, den Status seiner Erinnerungen - wahr oder imaginiert - zu begreifen. 141 Letztendlich hat er nur über äußerst wenige seiner früheren Erlebnisse absolute Sicherheit erlangt; zu diesem ‚sicheren’ Wissen gehört z.B. die Erinnerung an die alten, aus dem Besitz der de Reixach geerbten Bücher „[…] dont il [Georges] pouvait se rappeler mot pour mot certains titres («Bouquet envoyé à une Vieille Dame qui dans sa jeunesse sans être jolie avait fait des passions»), ou certaines pages […]“ (RF, 52f.). 142 An anderen Stellen expliziert Georges sein sicheres Wissen durch die einleitende Formel „je sais“/ „je savais (parfaitement)“, wie z.B. nach dem Tode de Reixachs, als er über seine und Iglésias Chancen für eine glückliche Flucht nachdenkt: „[…] quoique, pensa-t-il, il n’eût jamais vraiment espéré que même avec le soleil ils eussent réussi: «Parce que je savais parfaitement que c’était impossible qu’il n’y avait pas d’autre issue et qu’à la fin nous serions pris […]»“ (RF, 72). 143 Im Vergleich zu dem Wenigen, das Georges wirklich bekannt ist, - im Grunde handelt es sich bei dem ‚Wissen’ um seine zum Scheitern verurteilte Flucht auch nur um eine Vermutung -, besitzt Georges für den Großteil seiner Hypothesen keine Belege durch Fakten. Weder hat er vor Beginn der Kriegshandlungen das Paar de Reixach persönlich getroffen (RF, 55), noch hilft ihm letzten Endes der persönliche und intime Kontakt mit Corinne in der unmittelbaren Nachkriegszeit dabei, die rätselhaften Todesumstände 140 J.-M. Barbéris: „ Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 141. 141 B. Dauer weist darauf hin, dass Georges vom Wissen ‚besessen’ ist, doch richtet sich seiner Meinung nach diese Besessenheit weniger auf die Restitution der eigenen Vergangenheit als auf die imaginative Rekonstruktion des Seelenlebens, der Motivationen usw. Anderer, Fremder (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 321.). 142 Georges’ Gedächtnis scheint an dieser Stelle geradezu fotografische Qualitäten zu besitzen, wie die wortwörtliche Erinnerung an die Seite des ins Französische übersetzten italienischen Texts zeigt. 143 Ebenso RF, 26 („à sa connaissance“), 88, 207, 254. 187 seines Capitaine aufzuklären (RF, 278f.). Vielmehr fungiert Blum als Stimme des Zweifels und der Erkenntnisskepsis 144 , wenn er Georges unaufhörlich an seinen rudimentären Wissensstand in Bezug auf Corinne (RF, 56), vor allem aber bezüglich der Ereignisse um den Tod des Ahnen Reixach erinnert: […] la voix pathétique et bouffonnante de Blum disant: „Mais qu’en sais-tu? Tu ne sais rien. Tu ne sais même pas si ce fusil était chargé. Tu ne sais même pas si ce coup de pistolet n’est pas parti par hasard. Nous ne savons même pas quel temps il faisait ce jour-là, si c’était de la poussière ou de la boue qui le recouvrait, […] » (RF, 263f.). 145 Schließlich überwiegt auch bei Georges der Zweifel an seinen erinnerten Wahrnehmungen und an seinem anfechtbaren Wissen, wie die leitmotivische Wiederkehr der immer drängenderen Frage „Mais comment savoir? “ 146 anlässlich der retrospektiven Vergegenwärtigung des Hinterhalts gegen Ende des Romans deutlich macht: […] le soleil se trouvait dans la position sud-ouest donc environ deux heures de l’après-midi mais comment savoir ? […] (RF, 280); […] le bruit du canon s’éloignant lui aussi, sur la droite à présent, vers l’ouest, on pouvait voir un haut clocher gris à bulbes au-dessus de la campagne mais savoir s’ils [les soldats allemands ; S.Z.] avaient pris le patelin comment savoir comment savoir […] (RF, 291). 147 Zuletzt muss Georges erkennen, dass er zugleich sowohl seine eigene Position im Rücken des Capitaine als auch die des im Gebüsch versteckten Heckenschützen hätte einnehmen müssen, um das Rätsel um de Reixachs Tod zu lösen: „[…] - mais comment savoir, comment savoir? Il aurait fallu que je sois aussi celui-là caché derrière la haie le regardant s’avancer tran- 144 So auch A. Duncan: Claude Simon: Adventures in Words. (1994), S. 17. 145 Vgl. ebenso RF, 187. Siehe auch R. Burden: John Fowles, John Hawkes, Claude Simon: Problems of Self and Form in the Post-Modernist Novel: A Comparative Study. (1980), S. 112. 146 K. Wilhelm weist darauf hin, dass die Frage „Comment savoir? “ den fiktiven Charakter der einzelnen Darstellungen apostrophiert und somit eine metafiktionale Funktion besitzt (K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 331f.). Hingegen unterstreicht S. Schreckenberg die Bedeutung des Leitmotivs „Comment savoir? “ als epistemologische und poetologische Kernfrage im frühen Werk Simons (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 306.). A.-M. Miraglia betont, dass durch die Frage „Comment savoir? “ die Authentizität der Repräsentation, die „véracité“ der Erzählung und die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage gestellt werde (A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270.). Ebenso L. Fraisse: „La lentille convexe de Claude Simon.“ (1999), S. 30; M.M. Brewer: „Narrative Fission: Event, History, and Writing in Les Georgiques.“ (1986), S. 31; L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 39. 147 Vgl. ebenso RF, 279, 284, 285, 286, 287, 289. 188 quillement au-devant de lui, au-devant de sa mort sur cette route […]“ (RF, 279). In diesem Kontext kommt dem Romanende - Georges’ fundamentalem Zweifel an seinen Erlebnissen, die möglicherweise nur Gegenstand eines Tagtraumes waren, während er unverändert auf seinem Pferd gesessen hat 148 - die Bedeutung eines „erkenntnistheoretischen Kollapses“ 149 zu: Selbst die von ihm miterlebten Ereignisse wie der Tod des Capitaine auf offener Straße in Flandern werden fragwürdig und sind möglicherweise bloß von ihm imaginiert. So garantiert letztendlich auch die Erinnerung nicht das Wissen über die Vergangenheit. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zeichnet sich Georges’ Gedächtnisstrom in dem Maße durch eine Zunahme an Imaginationen aus, wie sich sein vorgeblich ‚sicheres’ Wissen als anfechtbar und als auf unzuverlässigen Quellen basierend enthüllt. 4.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen, Inventionen und Träume Das erinnernde Subjekt Georges macht im Laufe seines Gedächtnisstroms keinen Hehl aus der Tatsache, dass er die unvermeidlichen Lücken seines Wissens mit Imaginationen und Vermutungen ausfüllt. Oftmals vermischt sich in seiner Erinnerung aufgrund seines Erschöpfungszustands zum Zeitpunkt des früheren Erlebens die erinnerte Realität mit einstigen Tagträumen, so dass in vielfacher Hinsicht der ontologische Status des Erinnerten innerhalb der Fiktion - ‚real’ oder imaginiert - unklar bleibt. Im Folgenden sollen diejenigen Passagen des Romans einer Analyse unterzogen werden, welche offen die fehlende Referenz von Personen, Orten und Ereignissen auf eine innerfiktionale, äußere Realität thematisieren bzw. implizit inszenieren. Insgesamt müssen alle Personen und Orte, zu denen Georges keinen direkten Kontakt hatte, sowie alle Ereignisse, bei denen er nicht persönlich anwesend war, zu seinen Imaginationen gerechnet werden. Es handelt sich dabei folglich um mentale Phänomene des Protagonisten und z.T. auch der anderen Figuren, die außerhalb der „[…] 148 „Mais l’ai-je vraiment vu ou cru le voir ou tout simplement imaginé après coup ou encore rêvé, peut-être dormais-je n’avais-je jamais cessé de dormir les yeux grands ouverts en plein jour bercé par le martèlement monotone des sabots des cinq chevaux piétinant […]“ (RF, 296). 149 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 83. Vgl. hierzu auch B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 213; R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 48: „[…] for in Simon the proverbial whole truth remains an elusive even imaginary construct.“ 189 physical reality of the textual actual world“ 150 stehen, also innerhalb der Fiktion nicht existent und daher in einem doppelten Sinne fiktiv sind - sowohl bezogen auf die außertextuelle Welt als auch bezogen auf die in der histoire vermittelte binnenfiktionale Welt. Die offene und verdeckte Thematisierung bzw. Inszenierung dieses besonderen ontologischen Status der Fiktivität impliziert eine metafiktionale, bzw. genauer: metafiktive, Funktion. 4.4.2.1 Die Figuren zwischen Invention und Imagination: „la femme la plus femme“, die beiden (de) Reixach Reduziert auf die innerfiktionalen ‚Fakten’, bliebe manche der Figuren in La Route des Flandres äußerst flach und unbestimmt; es sind in besonderem Maße die vielfältigen Imaginationen vor allem von Georges und Blum, welche dem Figurenpersonal - insbesondere den verschiedenen Frauenfiguren (Corinne, Virginie, „la fille au lait“) und den beiden (de) Reixach - psychologische Tiefe verleihen, sie aber zugleich außerhalb der fiktionalen Realität positionieren. Die drei zentralen Frauenfiguren des Romans, welche die Imagination von Georges und Blum anfachen und möglicherweise - insbesondere Corinne und Virginie - eine zentrale Rolle beim Tod zweier männlicher Charaktere - den beiden de Reixach - spielen, sind zu großen Teilen oder zur Gänze nur imaginiert, ohne dass der Text für ihre Biographie bzw. ihre Charaktereigenschaften reale oder fiktive Quellenbelege anführen würde. Insbesondere Blum ist Corinne nie begegnet und als Kriegskamerad von Georges hatte er auch keinen Zugang zu den Hinterlassenschaften des Revolutionsgenerals Reixach in der Vorkriegszeit. Doch auch Georges verfügt nur - wie bereits deutlich wurde - über lückenhaftes Wissen, das zum einen auf nicht besonders aussagekräftigen Quellen wie beispielsweise Gemälden beruht und zum anderen auf erfundenem Klatsch und zweifelhaften Familienlegenden basiert. Die Witwe des Capitaine de Reixach - Corinne - kann unbestritten als weibliche Protagonistin des Romans angesehen werden, liefert sie doch die Folie, vor der die anderen weiblichen Figuren von Georges und Blum imaginiert werden. Auch wenn Corinne einen so zentralen Platz in Georges’ Gedanken während des Krieges einnimmt, ist sie ihm doch - wie Blum betont - im Grunde gänzlich unbekannt: […] « Mais tu ne la connais même pas ! dit Blum. Tu m’as dit qu’ils n’étaient jamais là, toujours à Paris, ou à Deauville, ou à Cannes, que tu l’avais tout juste vue une seule fois, ou plutôt entrevue, entre une croupe de cheval et un de ces 150 M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 263. 190 types habillés comme un figurant d’opérette viennoise […] Et c’est tout ce que tu en as vu, tu… » […] (RF, 56). Die einzige Begegnung zwischen ihm und seiner angeheirateten Cousine beschränkt sich auf ein kurzes Treffen möglicherweise anlässlich eines Pferderennens. Erst nach dem Krieg nimmt Georges erneut Kontakt zu ihr auf; es beginnt eine erotische Beziehung, welche sich über einen Zeitraum von ungefähr drei Monaten erstreckt. 151 Allerdings bleibt unklar, wie intensiv diese allem Anschein nach rein sexuelle Affäre wirklich war - der Text beschreibt nur Anfang und Ende der Beziehung, die beide von den gleichen Fragestellungen geprägt waren: Auf Seiten Corinnes von der Frage, ob Georges sie wirklich liebe; auf Georges’ Seite von dem Versuch, durch den Vollzug des Geschlechtsakts mit ihr Aufschluss über ihre Vergangenheit als Ehefrau de Reixachs und als mutmaßliche Geliebte Iglésias zu erlangen. In dem Maße, wie sich vor Georges und Blum die Vergangenheit verschließt, sind beide zusätzlich zu den ihnen zur Verfügung stehenden, spärlichen Informationen auf ihre Imagination bei der Rekonstruktion der möglichen Vergangenheit Corinnes angewiesen: […] et elle maintenant non plus inventée (comme disait Blum - ou plutôt fabriquée pendant les longs mois de guerre, de captivité, de continence forcée, à partir d’une brève et unique vision un jour de concours hippique, des racontars de Sabine ou des bribes de phrases (elles-mêmes représentant des bribes de réalité), de confidences ou plutôt des grognements à peu près monosyllabiques arrachés à force de patience et de ruse à Iglésia, […]) (RF, 217). Das ‚Quellenmaterial’, das Blum und Georges bei ihrem Versuch, die Vergangenheit Corinnes und de Reixachs zu rekonstituieren, zur Verfügung steht, ist mehr als fragwürdig: Nicht nur kennt Georges selbst Corinne kaum, auch andere Zeugen wie seine Mutter und Iglésia sind unzuverlässig, da sie womöglich eigene Motive für eine Realitätsverfälschung haben. Vielmehr beruht das von Corinne in La Route des Flandres entworfene Bild in großen Teilen auf Georges’ Imagination, wie ihre Einführung in den Romantext zeigt: In Georges’ Vorstellung erscheinen de Reixach, vor allem aber seine Frau Corinne aufgrund ihrer Unnahbarkeit und Unzugänglichkeit als „irréels“ (RF, 55f.). 152 Auch die Erklärung, wie es zu der Veränderung im Leben und in der Person de Reixachs kommen konnte - die allem Anschein nach durch Corinnes folgenreichen Entschluss ausgelöst wurde, ebenfalls einen eigenen Rennstall zu besitzen - wird von Georges nur hypothetisch konstruiert: „[…] l’idée lui en étant sans doute venue à la lecture d’une de ces revues, un de ces magazines où les femmes en papier 151 Vgl. Georges’ Erinnerung an den Beginn der Affäre während Corinnes überstürztem Aufbruch aus dem Hotel: „[…] pensant à ce premier jour trois mois plus tôt où j’avais été chez elle et avais posé ma main sur son bras […]“ (RF, 278). 152 Vgl. ebenso RF, 131. 191 glacé ont l’air d’espèces d’oiseaux, de longilignes échassiers […] - ayant lu donc quelque part que les gens vraiment chics se devaient de posséder une écurie de course […]“ (RF, 130; Hervorhebungen S.Z.). Insbesondere ist es jedoch die geheimnisumwitterte Beziehung zwischen Corinne und Iglésia, dem Jockey und Angestellten ihres Mannes, die von Georges wiederholt kraft seiner Phantasie evoziert wird: Sei es ihr Zusammentreffen anlässlich des schicksalhaften Pferderennens, bei welchem de Reixach darauf besteht, an Iglésias Stelle zu reiten, und nur den zweiten Platz belegt (RF, 217), oder sei es der Liebesakt zwischen ihr und Iglésia (RF, 47ff.). Schließlich wird das im Text von Corinne entworfene Bild grundsätzlich in Zweifel gezogen: […] et elle, telle qu’il, ou plutôt ils […], telle donc qu’ils (c’est-à-dire lui, Blum - ou plutôt leur imagination, ou plutôt leur corps, c’est-à-dire leur peau, leurs organes, leur chair d’adolescents sevrés de femmes) l’avaient matérialisée : debout dans le contre-jour ensoleillé d’une fin d’après-midi, dans cette robe rouge couleur de bonbon anglais (mais peut-être cela aussi l’avait-il inventé, c’est-à-dire la couleur, ce rouge acide, peut-être simplement parce qu’elle était quelque chose à quoi pensait non son esprit, mais ses lèvres, sa bouche, peut-être à cause de son nom, parce que « Corinne » faisait penser à « corail » ? …) se détachant sur le vert pomme de l’herbe où galopent des chevaux ; […] (RF, 220f.). Der Figur Corinnes wird jede Authentizität innerhalb der fiktionalen Welt abgesprochen, sie erscheint nicht nur als Produkt der Imagination, der Leidenschaft bzw. des physischen und existentiellen Hungers von Georges und Blum, sondern nachgerade als rein sprachliches Produkt: So fragt sich Georges, ob sein imaginiertes Bild der ihm unbekannten Frau nicht allein auf dem assoziativen Potential ihres Namens beruhe, da der Name ‚Corinne’ „corail“ und damit die erotisch konnotierte Farbe ‚rot’ 153 anklingen lasse. Das in La Route des Flandres entworfene Bild einer sinnlichen und freizügigen Corinne erweist sich demnach als Produkt einer sprachlich vermittelten Assoziation, ohne jedoch einen Anspruch auf Faktizität innerhalb der fiktionalen Welt des Romans zu besitzen. Selbst in der persönlichen Begegnung zwischen Georges und seiner inzwischen verwitweten Cousine bleibt diese trotz ihrer beinahe schon aufdringlichen Körperlichkeit „irréelle“: „[…] ce monde étranger, étincelant et incroyable où elle (Corinne) se tenait, irréelle, incroyable elle aussi malgré son lourd parfum, sa voix, respirant de plus en plus vite maintenant, sa poitrine, ses seins s’élevant et s’abaissant comme ces gorges d’oiseaux […]“ (RF, 223f.). Metaphorisch steht Georges’ Erstaunen, als er bei der Berüh- 153 Vgl. hierzu U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 244f.: Rot gilt einerseits als Farbe der Liebe, der Wärme, der begeisterten Leidenschaft und der Fruchtbarkeit, andererseits aber auch als Farbe unbezähmbarer Begierden (auch die Hure Babylon der Bibel ist rot gekleidet). 192 rung Corinnes von der unerwarteten Zartheit ihres Körpers überrascht wird, für seine grundsätzliche Neigung, Corinne ein bestimmtes Verhalten bzw. einen bestimmten Charakter zu unterstellen, für die es jedoch in letzter Konsequenz keine faktischen Belege innerhalb der fiktionalen Welt gibt: […] si bien que lorsqu’il la toucha (le haut du bras nu un peu au-dessous de l’épaule) il éprouva d’abord la bizarre sensation de ne pas la toucher vraiment, comme lorsqu’on prend un oiseau dans la main: cette surprise, cet étonnement provoqué par la différence entre le volume apparent et le poids réel, l’incroyable légèreté, l’incroyable délicatesse, la tragique fragilité des plumes, du duvet […] (RF, 224). Während der kurzen Beziehung von Georges und Corinne werden somit immer mehr Zweifel an der ‘Wahrheit’ von Georges’ und Blums Imaginationen wach. So wirft Corinne ihm vor, gar nicht an ihr selbst interessiert zu sein, sondern sie weiterhin nur als obszöne Reduktion auf ihre primären Geschlechtsmerkmale wahrzunehmen (RF, 260). Auch äußert sie sich in der kurzen Zeit ihrer Beziehung niemals zu einer möglichen früheren Affäre mit Iglésia, an dem sie nun nicht mehr das geringste Interesse zeigt (RF, 287). So scheint es am Ende des Romans Iglésia gewesen zu sein, der - sei es, dass er von den sensations- und frauenlüsternen Georges und Blum dazu gedrängt wurde, sei es, dass er zum Zwecke der Aufwertung seiner eigenen Person darauf verfallen war - die Affäre mit Corinne möglicherweise nur erfunden hatte. In La Route des Flandres weist darüber hinaus auch die Ahnin und Ehefrau des Revolutionsgenerals Reixach, Virginie, große Ähnlichkeit mit dem im Text entworfenen Bild Corinnes auf. Dabei lässt sich ein wechselseitiger Konstitutionsprozess beobachten: Zum einen dient Corinne, für deren Charakter und Verhalten es innerhalb der Welt des Romans mehr (jedoch in letzter Konsequenz unzuverlässige) faktische Belege gibt, als Folie für Georges’ und Blums Imagination der bis auf zwei Portraits völlig unbekannten Ahnin. Zum anderen fungiert die ebenfalls als sexuell unersättlich und untreu konstruierte Frau aus dem 18. Jahrhundert als Beleg für die ‚Wahrheit’ des Klatsches und der Legenden um die Untreue Corinnes. 154 Es kommt Blum zu, erstmals auf die möglicherweise entscheidende Rolle Virginies beim angeblichen Selbstmord des Ahnen Reixach hinzuweisen: Während Georges die überlieferten Fakten sowie die innerhalb der Familie kolportierten Legenden stets zugunsten der Familiengeschichte interpretiert hat - der General habe sich aus Schmach über die Niederlage gegen die Spanier sowie aus Verzweiflung über das Scheitern seiner aufklärerischen Ideale erschossen - bringt Blum nun erstmals dessen in zwei Portraits überlieferte Frau ins Spiel. Diese habe den General, ebenso wie 154 Vgl. z.B. RF, 294f. 193 Corinne in der Vorkriegszeit ihren Mann de Reixach, mit einem „valet“ betrogen; 155 jener sei dann entweder von dem „valet“ bei der überraschenden Aufdeckung des Ehebruchs erschossen worden oder aber habe sich aus Scham über den Betrug umgebracht. Auf Georges’ Empörung und Vorwurf, den Familiennamen zu beschmutzen, entgegnet Blum mit dem Hinweis auf dessen begrenztes Wissen, das einen gewissen Spielraum zur Interpretation und Imagination eröffne: „« […] Mais en réalité que sais-tu ? Quoi d’autre que le caquetage d’une femme peut-être plus soucieuse de protéger la réputation d’une de ses semblables que de fourbir - c’est un travail en général réservé aux domestiques comme Iglésia - un blason et un nom quelque peu ternis et que… »[…]“ (RF, 177). 156 Im weiteren Verlauf des Gesprächs nimmt sich Blum das Recht, eine alternative Version zum Tode des Vorfahren und zur Rolle von dessen Ehefrau dabei zu entwerfen, die wiederum allein auf seinen Imaginationen bzw. seiner Interpretation der beiden, ihm nur aus Georges’ Bildbeschreibungen bekannten, Portraits der Frau beruht. Eine besondere Funktion kommt dabei Abtönungspartikeln wie „sans doute“, „peut-être“ und „semble-t-il“ zu, welche den fiktiven Charakter der beschriebenen Szenen explizieren. 157 Folgende Elemente dienen Blum beim Entwurf seiner Version der Ereignisse: 1. Die von Georges ins Spiel gebrachte Darstellung Virginies auf dem frühen Portrait, das sie scheinbar im vollen Bewusstsein ihrer Sinnlichkeit zeigt. Auf dem Bild hält sie eine venezianische Maske in der Hand, die unterschwellig von Blum als Symbol für das Verbergen ihres eigentlichen Ichs hinter einem künstlichen Gesicht verstanden wird. 158 Auch schließt er von ihrer Kleidung - der Spitze, die angeblich am Ausschnitt ihrer Korsage zu sehen ist - auf ihren erotischen Lebenswandel (RF, 179f.). 2. Die Tatsache, dass Reixach unmittelbar nach der Niederlage gegen die spanischen Truppen auf sein Gut zurückgekehrt ist; diese Rückkehr wird zum einen von Blum als Verrat an der Revolution bzw. an seinen „rêves idylliques“ 159 interpretiert (RF, 181ff.). Zum anderen unterstellt er dem General das Bedürfnis, seine um einige Jahre jüngere Frau aufzusuchen - vermutlich um bei ihr Trost zu finden (RF, 184). 3. Die Möglichkeit, dass der Vorfahr - der Familienlegende nach - vollkommen unbekleidet aufgefunden worden war (RF, 189), dient Blum als Vorwand für die Imagination 160 der Ereignisse nach der unerwarteten Rückkehr des Generals (RF, 184-189). Darüber hinaus sind seine Ausführungen beeinflusst durch die 155 RF, 175 („cocu“). 156 Ebenso RF, 187, 189. 157 RF, 178-189. 158 U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 184. 159 RF, 184. 160 Vgl. RF, 184: „[…] et Blum: « […] Mais je pense qu’on peut néanmoins l’imaginer : […] » ; S. 185: „[…] et Blum: « Mais on peut imaginer ça : […] »“. 194 Lektüre der École des femmes von Molière (RF, 184f.) und Jean de La Fontaines Fabel von den Deux pigeons (RF, 188) sowie durch die Kenntnis einschlägiger „vaudevilles“ und „tragédies“ (RF, 186). Die ‚Belege’ für Blums Imaginationen sind folglich zum einen innerfiktional fiktiver Natur, da ihre ‚reale’ Existenz in der fiktionalen Welt des Romans im Ungewissen bleibt und sie in der Mehrzahl erst im Laufe seines Erzählens kraft seiner Phantasie konstruiert werden. Zum anderen sind sie ‚fiktionaler’ Natur: Er zieht fiktionale Texte wie die Komödien Molières oder die Fabeln La Fontaines als Blaupause für die nicht näher überlieferten Ereignisse um den Tod des Generals heran. In der Fortsetzung des Gesprächs weist Blum Georges erneut nachdrücklich auf den begrenzten Umfang seines Wissens hin (RF, 263f.) und wirft ihm die Anwendung der gleichen Methode vor: „[…] Et Blum: « Non? Tu as pourtant toi-même reconnu qu’il planait là-dessus dans ta famille une sorte de doute : d’embarras, de pudique silence. Ce n’est tout de même pas moi qui ai parlé de gravure galante, de porte enfoncée d’un coup d’épaule, de confusion, de cris, de désordre, de lumières dans la nuit… » […]“ (RF, 264). Ebenso wie Georges die „gravure galante“ als ‚Beleg’ für die Ereignisse in jener Nacht heranzieht, interpretiert er auch das jüngere Portrait Virginies, das aus der Zeit nach dem Tod des Generals stammt, zugunsten seiner mittlerweile von Blum übernommenen These von der Lasterhaftigkeit der Ahnin (RF, 264f.). Am Ende des Romans bestärken sich die - von Blum und Georges nur imaginierten - Analogien im Leben von Ahn und Nachfahr gegenseitig: […] sans doute aurait-il [der Ahn Reixach] préféré ne pas avoir à le faire luimême espérait-il que l’un deux s’en chargerait pour lui, lui éviterait ce mauvais moment à passer mais peut-être doutait-il encore qu’elle (c’est-à-dire la Raison c’est-à-dire la Vertu c’est-à-dire sa petite pigeonne) lui fût infidèle peut-être futce seulement en arrivant qu’il trouva quelque chose comme une preuve comme par exemple ce palefrenier caché dans le placard quelque chose qui le décida, lui démontrant de façon irréfutable ce qu’il se refusait à croire ou peut-être ce que son honneur lui interdisait de voir, cela même qui s’étalait devant ses yeux puisque Iglésia lui-même disait qu’il avait toujours fait semblant de s’apercevoir de rien racontant la fois où il avait failli les surprendre où frémissante de peur de désir inassouvi elle avait à peine eu le temps de se rajuster dans l’écurie et lui ne lui jetant mêmes pas un coup d’œil […] (RF, 294f.). Hier fungiert die mutmaßliche Untreue Virginies nun als Auslöser für den Tod des Revolutionsgenerals, der in Georges‘ Augen ohnehin, seines Lebens überdrüssig, nach einer Möglichkeit zu sterben Ausschau hielt. Darüber hinaus liefert Virginies Untreue auch die Erklärung für den mysteriösen Tod des Capitaine de Reixach: Dieser habe sich vermutlich ebenfalls - allerdings gegen seinen Willen - die Augen über das Verhalten seiner treu- 195 losen Frau öffnen lassen mit der Konsequenz, nun zur Rettung seiner Ehre den Tod suchen zu wollen. Wie für Corinne und Virginie gilt auch für die „apparition“ der „fille laiteuse“, dass ihr in La Route des Flandres vermitteltes Bild größtenteils von Georges und den anderen Soldaten imaginiert ist. Ebenso wie Corinne erscheint auch das während des Herbstes 1939 von den Soldaten in einem Ardennendorf angetroffene Bauernmädchen als „irrélle“: […] cette sorte de tiédeur pour ainsi dire ventrale au sein de laquelle elle se tenait, irréelle et demi nue, à peine ou mal réveillée, les yeux, les lèvres, toutes sa chair gonflée par cette tendre langueur du sommeil, à peine vêtue, jambes nues, pieds nus malgré le froid dans de gros souliers d’homme pas lacés, avec une espèce de châle en tricot violet qu’elle ramenait sur sa chair laiteuse, le cou laiteux et pur qui sortait de la grossière chemise de nuit, dans cette nappe de lumière jaunâtre de la lampe qui semblait couler sur elle à partir de son bras levé comme une phosphorescente couche de peinture, jusqu’à ce que Wack ait réussi à allumer la lanterne, et alors elle souffla la lampe, se détourna et sortit dans le petit jour bleuâtre semblable à une taie sur un œil aveugle, sa silhouette se découpant un instant en sombre tant qu’elle fut dans la pénombre de la grange, puis, sitôt le seuil franchi, semblant s’évanouir, quoiqu’ils continuassent à la suivre des yeux non pas s’éloignant mais, aurait-on dit, se dissolvant, se fondant dans cette chose à vrai dire plus grisâtre que bleuâtre et qui était sans doute le jour, […] (RF, 37). 161 Die ganze Szene ähnelt zum einen einer Gemäldebeschreibung, wie bereits der einleitende Vergleich mit „une de ces vieilles peintures au jus de pipe“ (RF, 36) deutlich macht. Die Schilderung ist geprägt von dem dramatischen Effekt der Licht-Schatten-Verhältnisse und von der Unbeweglichkeit der Figuren wie dem scheinbar regungslos mit der Laterne in der Hand dastehenden Mädchen. Zum anderen trägt die Szenerie durch die unangemessene, beinahe groteske Kleidung der jungen Frau und insbesondere durch ihr abruptes Verschwinden auch phantastische Züge. Das Bild des auf der Schwelle der Scheune verharrenden Mädchens prägt sich vor allem Georges nachdrücklich ein: […] il lui semblait toujours la voir, là où elle s’était tenue l’instant d’avant, ou plutôt la sentir, la percevoir comme une sorte d’empreinte persistante, irréelle, laissée moins sur sa rétine (il l’avait si peu, si mal vue) que, pour ainsi dire, en lui-même : une chose tiède, blanche le lait qu’elle venait de tirer au moment où ils étaient arrivés, une sorte d’apparition non pas éclairée par cette lampe mais luminescente, comme si sa peau était elle-même la source de la lumière, […] (RF, 39). Bereits hier finden sich die ersten Lücken in Georges’ Wahrnehmung: weniger hat sich das präzise Bild der jungen Frau in sein Gedächtnis einge- 161 Die Szene spiegelt en abyme die imaginierte Situation nach dem aufgedeckten Ehebruch Virginies wider, vgl. RF, 185-189. 196 brannt - der Augenblick des visuellen Kontakts war viel zu kurz und viel zu vage -, als vielmehr die allgemeinen Sinnesreize ihrer Erscheinung: ihre Wärme, die weißliche, an Milch erinnernde Farbe ihrer Haut, ihr scheinbares Fluoreszieren. 162 Dieses Gedächtnisbild der jungen Frau auf der Schwelle der Scheune dient nun zusammen mit anderen erinnerten ‚Fakten’ um die Ereignisse in den Ardennen wie dem von de Reixach geschlichteten Disput der Bauern 163 und den Hinweisen des Wirtes im Café des Dorfes 164 , der Angestellten 165 und der alten Frau 166 im Haushalt des hinkenden Bauern als Ausgangspunkt für den Erklärungsversuch der Soldaten für die rätselhaft bleibende Dreiecksgeschichte in dem Dorf. Wie im Falle der Ereignisse um den Tod des Ahnen Reixach werden auch im Hinblick auf das Eifersuchtsdrama in den Ardennen verschiedene Versionen vorgestellt, in denen die jeweilige Rolle der Beteiligten nur rein hypothetisch, jedoch nicht gesichert ist. Wiederholt versucht Georges, sich „ce bouillonnement caché des passions“ (RF, 115) vorzustellen: „[…] Je l’imaginais claudiquant rongé dévoré par ce tourment comme un chien malheureux animal traqueur et traqué par la honte insupportable affront enduré dans la femme de son frère lui dont on n’avait pas voulu pour faire la guerre à qui l’on n’avait pas voulu confier un fusil […]“ (RF, 272). Schließlich wird in der an Frauen entbehrungsreichen Zeit des Krieges und der Gefangenschaft auch die „fille au lait“ zum Gegenstand seiner Begierde: […] Je l’imaginais sous la forme d’une de ces, je pouvais toucher presser palper ses seins son ventre soyeux à peine voilé à peine couverte qu’elle était par cette chemise d’où émergeait son cou semblable dis-je à du lait tu entends dis-je la seule chose dont elle peut donner l’idée c’est de ramper se pencher comme une source et de laper, […] (RF, 273). Wie bereits Corinne und Virginie wird auch die „fille au lait“ durch die äußere Zuschreibung von Klatsch und Legenden zu einem erotischen und sinnlichen Objekt männlicher Begierde konstruiert. Die innerfiktionalen ‚Fakten’ für eine solche Zuschreibung sind hingegen spärlich; die Hauptbeteiligten wie die Frau selbst oder ihr Schwager bleiben ungehört. Wiederum sind es Dritte wie Georges und Blum, welche die ‚Deutungshoheit’ über die Geschichte der Frau besitzen und diese nach ihren Vorstellungen imaginieren. 162 Dies soll im Übrigen die einzige Begegnung der Soldaten mit der Frau sein - von nun an bleibt sie hinter dem sich leicht bewegenden Vorhang ihres Zimmers im ersten Stock des Wohnhauses verborgen (RF, 58f., 60, 114f., 254f., 255f., 259, 272.) 163 RF, 56-60, 117, 119-123. 164 RF, 116f. 165 RF, 61-63, 256-258. 166 RF, 251-254. 197 In den Augen und in der Phantasie ihrer männlichen Betrachter erscheinen Corinne, Virginie und die unbekannte Bäuerin als ein fiktive Züge tragendes Symbol des ewig Weiblichen. So wird das Milchmädchen auf die primären Geschlechtsmerkmale primitiver Statuen reduziert: […] cette chair diaphane modelée dans l’épaisseur de la nuit: non pas une femme mais l’idée même, le symbole de toute femme, c’est-à-dire […] … sommairement façonnés dans la tendre argile deux cuisses un ventre deux seins la ronde colonne du cou et au creux des replis comme au centre de ces statues primitives et précises cette bouche herbue cette chose au nom de bête, de terme d’histoire naturelle - moule poulpe pulpe vulve - faisant penser à ces organismes marins et carnivores aveugles mais pourvus de lèvres, de cils : l’orifice de cette matrice le creuset originel qu’il lui semblait voir dans les entrailles du monde […] (RF, 39). Die Frau als Symbol der Weiblichkeit tritt hier im Grunde nur als stereotype Trägerin einer „matrice originelle“ in Erscheinung; andere Merkmale von Weiblichkeit werden von Georges nicht imaginiert: Vielmehr erscheint das Milchmädchen in einem assoziativen Wortspiel als schutzbietende Gebärmutter, in welche sich der Mann vor der Brutalität der (Kriegs-)Welt zurückziehen kann. In einem weitaus negativeren Sinne verkörpert auch Corinne in den Augen Iglésias angesichts ihres unmoralischen Wettangebots ‚die Frau’ schlechthin: […] et à ce moment-là Iglésia raconta que ç’avait été comme l’inverse de ce qu’il avait éprouvé ce jour où il l’avait vue pour la première fois, s’avançant au côté de de Reixach, c’est-à-dire qu’il lui sembla qu’il avait devant lui non pas une enfant, ou une jeune femme, ou une vieille femme, mais une femme sans âge, comme une addition de toutes les femmes, vieilles ou jeunes, quelque chose qui avait aussi bien quinze, trente ou soixante ans que des milliers d’années, animé par ou exhalant une fureur, un ressentiment, une hostilité, une rouerie, qui n’étaient pas les résultats d’une certaine expérience ou d’une certaine accumulation de temps, mais de quelque chose d’autre, pensant (racontant plus tard qu’il avait pensé) : « Espèce de vieille salope ! Vieille garce ! » […] (RF, 139). Corinne erscheint trotz ihrer augenscheinlichen Jugend in dieser besonderen, schicksalhaften Situation des (Wett-)Kampfes der beiden Männer um ihre Person als alterslos und geprägt von absoluter und zeitloser Wut, Feindseligkeit bzw. Durchtriebenheit; sie verkörpert scheinbar alle Schlechtigkeit der Frauen von Anbeginn der Zeit an. Auch hier erscheint erneut das männliche Auge als bildprägend: Es ist der in seiner Eitelkeit - Corinne gibt ihm selbst das Geld für die Wette - und Loyalität gegenüber seinem Herrn verletzte Iglésia, der sie auf diese herabsetzende Weise beschreibt und dadurch den Imaginationen von Georges und Blum einen Anknüpfungspunkt liefert. 198 Schließlich wird auch die Ahnin Virginie als Bild stereotyper und obszöner Weiblichkeit präsentiert, wenn ihr Körper mit den pornographischen Kritzeleien auf Mauern in Verbindung gebracht wird: […] robes qui ressemblaient à des chemises, mauve pâle et un ruban vert enserrant ses… oui quelle différence avec cet autre portrait cruel et dur sorte de Diane […], comme ce qu’on voit dessiné sur les murs avait-elle [Corinne ; S.Z.] dit les deux hiéroglyphes les deux principes : féminin et masculin, quelquefois celui-ci n’est plus qu’un signe ressemblant à des ciseaux fermés avec en bas deux ronds comme les anneaux dans lesquels on passe le pouce et l’index et la pointe dressée vers le haut les ronds symboliques en bas symboliquement aussi entourés de traits comme des rayons et l’autre aussi ovale avec sa ligne médiane deux astres rayonnants dans le firmament des murs noirâtres dessinés avec la pointe d’un clou […] (RF, 273). Wie schon die „fille au lait“ und Corinne wird auch Virginie auf ihre primären Geschlechtsmerkmale reduziert; Georges überträgt hier die Kritik Corinnes an seiner stereotypen Imagination ihrer Person während der Kriegszeit als obszöne Zeichnung auf Virginie. Diese trägt dadurch in seinen Augen die gleichen negativen, weiblichen Züge - v.a. geprägt durch unersättliche Sinnlichkeit - wie Corinne selbst. In La Route des Flandres werden demnach die Frauen auf eine bestimmte Weise durch die männlichen Figuren imaginiert: Sie tragen nicht nur jede für sich dieselben stereotypen, auf ihre bloße Körperlichkeit reduzierten Züge, sondern sie dienen in ihrem fiktiven Verhalten untereinander auch als Folie, so dass innerhalb der fiktionalen Grenzen des Textes eine Frau am Beispiel der jeweils anderen konstituiert bzw. imaginativ konstruiert wird. 167 Dieses besondere Konstitutionsverfahren der in einem doppelten Sinne fiktiven Welt der Geschichte - bezogen sowohl auf die reale Lebenswirklichkeit außerhalb des Textes als auch auf die innerfiktionale Welt - wird in Simons Roman durch den metafiktiven Verweis auf den imaginären Status der Frauenfiguren offengelegt. Die Beschreibung Corinnes durch Iglésia mag in dieser Hinsicht für alle wichtigen Frauenfiguren in La Route des Flandres gelten: […] et il dit que c’était ce qui l’avait d’abord le plus frappé : cet aspect enfantin, innocent, frais, prévirginal en quelque sorte, à tel point qu’il avait mis un mo- 167 A. Cresciucci weist darauf hin, dass in La Route des Flandres „[…] l’imaginaire fonctionne à partir de signes composant des topoï érotiques.“ (A. Cresciucci: „Figures du désir dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 55.) J.-Y. Debreuille spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „magma féminin”, der die zunächst unterscheidbaren Frauenfiguren auflöst und sie auf ein Geschlecht bzw. auf obszöne Graffiti auf Kasernenmauern reduziert (J.-Y. Debreuille: „Quête des indices et perte des repères: description d’une histoire et histoire d’une description.“ (1997), S. 94.). B. Pingaud weist darauf hin, dass die Figuren in La Route des Flandres aufgrund ihrer Auswechselbarkeit ihre wichtigste narrative Funktion - nämlich sich zu unterscheiden - nicht erfüllen (B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1033.). 199 ment à s’apercevoir, se rendre compte - envahi alors par une autre sorte de stupeur, sentant monter une bouffée de quelque chose d’à la fois furieux, scandalisé, sauvage - qu’elle était non seulement une femme mais la femme la plus femme qu’il eût jamais vue, même en imagination : « Même au cinoche, dit-il. Mince ! » (RF, 132). Wie schon im Falle der verschiedenen Frauenfiguren in La Route des Flandres, so lässt sich auch am Beispiel des Ahnen Reixach und seines Nachfahren, des Capitaine de Reixach, ein wechselseitiger Konstruktionsprozess beobachten, der weniger auf ‚faktisches’ Material, sondern vor allem auf Imaginationen und Hypothesen zurückgreift. 168 Auf diese Weise offenbaren sich Teile der histoire innerhalb der Fiktion als imaginär; sie haben sich nicht ‚wirklich’ in der fiktionalen Welt ereignet, sondern sind allein das Phantasieprodukt der Figuren. Der die ontologische Verschiedenheit, d.h. die Fiktivität, dieser histoire-Elemente thematisierende Diskurs ist metafiktiv. Auch für die beiden Männer gilt, dass ‚zuverlässige’ Quellenbelege für ihre Biographie eher selten sind; die intimeren Details aus dem Leben des Capitaine - seine Ehe mit Corinne, die mutmaßliche Dreiecksbeziehung zwischen den Ehegatten und dem Jockey Iglésia - beruhen neben dem in der Familie verbreiteten Klatsch und Tratsch 169 vor allem auf Iglésias kryptischen Andeutungen (RF, 134). Georges selbst fungiert als Augenzeuge nur für die Ereignisse, die sich während der gemeinsam erlebten Kriegszeit (1939/ 40) zugetragen haben. Für den Vorfahren, den Revolutionsgeneral Reixach, sieht die ‚Quellenlage’ noch dürftiger aus: Zwar scheinen von ihm gewisse Aufzeichnungen erhalten zu sein (RF, 51f.), doch werden diese von Georges nicht konsultiert und im Roman - mit der Ausnahme des aus dem Italienischen übersetzten Textes - auch nicht zitiert. So bleiben als ‚Belege’ für die Biographie des Ahnen neben dem Portrait nur die in der Familie kolportierten Legenden um seinen mysteriösen Tod. 170 Dieser Prozess der Legendenbildung wird nun in der Gegenwart des Erzählens von Blum und Georges veranschaulicht und fortgeführt. Sie versuchen während ihrer Gefangenschaft im deutschen Lager, die Hintergründe des ‚Heldentodes’ ihres Capitaine zu erhellen, und greifen dabei auch auf die scheinbar ähnlich verlaufende Geschichte des Ahnen aus dem 168 L. Dällenbach unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Fiktion ihre referentielle Verankerung verliert, wenn sich „fabulations“ und „représentations“ gegenseitig immer mehr durchdringen (L. Dällenbach: „Mise en abyme et redoublement spéculaire chez Simon.“ (1975), S. 158.) Vgl. ebenso D. Viarts These von der „représentation imaginaire“ der Romanfiguren (D. Viart: „La destitution du sens.“ (1997), S. 154.). 169 RF, 45, 49, 55. 170 RF, 82. 200 18. Jahrhundert zurück und ergänzen die früher entstandenen Legenden um neue Hypothesen. Folgende, ‚gesicherte’ Gemeinsamkeiten legen dabei eine erzählerische Verknüpfung der beiden Schicksale nahe und bilden den Ausgangspunkt für neue Erklärungsversuche: Beide Männer entstammen dem Adel, haben beim Militär (RF, 54) eine Offizierslaufbahn eingeschlagen und im Verlaufe ihrer Karriere eine militärische Niederlage erlitten - der Revolutionsgeneral 1793 in den Kriegen gegen die Spanier, der Nachfahr 1940 gegen die Deutschen. 171 Beide sind unmittelbar nach ihrer jeweiligen Niederlage einem gewaltsamen und mysteriösen Tod durch Erschießen zum Opfer gefallen (RF, 54). Von Georges und Blum werden nun im Laufe ihrer Gespräche verschiedene Hypothesen im Hinblick auf die möglichen Ursachen für diese scheinbar unerklärlichen Todesfälle aufgestellt: Schon früh wird im Text die These vom Selbstmord de Reixachs präsentiert als „[…] cette ultime conséquence ou plutôt conclusion, ce suicide que la guerre lui donnait l’occasion de perpétrer d’une façon élégante […]“ (RF, 13), um sich aus der schmachvollen, von der durch Corinnes notorische Untreue und sexuelle Unersättlichkeit geprägten Ehe zu befreien. 172 Auch mit Blick auf den Tod des Ahnen wird in der Familie schon seit langem die Selbstmordthese vertreten: Dieser habe sich aus Schande über die Niederlage gegen die spanischen Truppen erschossen, 173 nachdem er sich in den Augen der Familie ohnehin schon als adliger Anhänger der Revolution sowie als Befürworter der Ermordung des Königs entehrt hatte. 174 Blum aber stellt diese Selbstmordthese kurz in Frage, als er die Möglichkeit eines banalen Unfalls beim Reinigen der Pistole ins Spiel bringt (RF, 79), nur um im selben Atemzug die These von den enttäuschten Illusionen des Ahnen aufzustellen und eine weitere Erklärungsmöglichkeit anzudeuten: […] ce qu’un autre de Reixach donc avait déjà fait en se tirant volontairement une balle dans la tête […] parce qu’il s’était pour ainsi dire fait cocu lui-même, c’est-à-dire trompé: cocufié, donc, non par une perfide créature féminine comme son lointain descendant mais en quelque sorte par son propre cerveau, ses idées - ou à défaut celles des autres - qui lui avaient joué ce sale tour comme si, faute 171 RF, 54, 202f., 209. 172 Ebd. und S. 84. Interessanterweise hat in einer weiteren Spiegelung des Selbstmordthemas auch der dem Regiment vorstehende General 1940 Selbstmord begangen (RF, 190f.). 173 Auch für seinen Nachfahren - so deutet der Text an - könnte die ‚Frage der militärischen Ehre’ eine Rolle gespielt haben, hat de Reixach seine Ausbildung doch in der Kavallerieschule von Saumur absolviert (RF, 11), die einen festumrissenen Ehrbegriff tradiert: Ein Offizier lässt sich eher massakrieren, als im Angesicht des Feindes in Deckung zu gehen. 174 RF, 54, 85. 201 de femme (mais ne m’as-tu pas dit aussi que, par-dessus le marché, il y en avait une et qu’elle aussi…), donc plutôt : comme si non content d’avoir une femme à supporter il s’était encore embarrassé, encombré d’idées, de pensées, ce qui évidemment pour un gentleman-farmer du Tarn, constitue, comme pour n’importe qui, un risque encore plus grand que le mariage… »[…] (RF, 79f.). 175 Die zitierte Textstelle zeigt anschaulich, wie Georges und Blum ausgehend von dem bereits Gesagten immer neue hypothetische Erklärungsmodelle entwerfen: So hat sich Georges nur wenige Seiten zuvor - und dies hat er vermutlich auch zu früherer Zeit Blum mitgeteilt - an die Existenz der kompletten Werke Jean-Jacques Rousseaus in der Bibliothek seines Ahnen erinnert (RF, 78f.); diese Tatsache wird von Blum umgehend zum Ausgangspunkt einer neuen These konstruiert: Es seien die enttäuschten Ideen des Generals gewesen, die unmögliche Übertragung der Vorstellungen Rousseaus auf das reale Leben, die ihn des Lebens überdrüssig werden ließen. Zugleich verarbeitet Blum in dem Zitat auch die Geschichte des Nachfahren de Reixach, vor allem seine gescheiterte Ehe mit der angeblich untreuen Corinne, in der Konstruktion hypothetischer Erzählungen zum Tod des Ahnen: Habe nicht auch jener eine treulose Ehefrau an seiner Seite gehabt? 176 In der Folge versteift sich Blum auf die Idee von der ebenfalls treulosen Ehefrau des Ahnen - eine These, die von Georges entschieden in Frage gestellt wird (RF, 175) - jedoch von Blum mit dem Hinweis auf die fragwürdige Legendenkonstruktion in der Familie de Reixach noch bekräftigt wird. 177 Die Basis seiner Ausführungen bilden interessanterweise mehrere Kunstwerke: Da ist zum einen die Gravüre im Schlafzimmer von Georges’ Eltern, die diesen schon als Kind zur Imagination der genauen Todesumstände seines Ahnen verleitet hat. 178 Das Gemälde wird nun von Blum - der es nie gesehen hat - als Substrat für eine neue Hypothese zum Tod Reixachs verwendet: 179 […] et Blum: […] „… Parce que tu prétends que cette femme à moitié nue entrevue dans l’entrebâillement de la porte, le sein et le visage éclairés d’en dessous par une bougie […], - tu prétends donc que cette femme serait une servante ac- 175 Ebenso RF, 182. 176 In diesem Kontext unterstreicht H.-G. Funke, dass „[i]n Abschnitten mit metafiktionaler Funktion die Parallelgeschichten der beiden Reixach von 1940 und 1783 als Ergebnisse der erotischen Phantasie der kriegsgefangenen frauenlosen Kavalleristen erklärt werden.“ (H.-G. Funke: „Der ‘monologue intérieur’ in Bessettes L’incubation (1965) und Claude Simons La route des Flandres (1960): Nationalität und Internationalität im intertextuellen Konstituierungsprozeß der „littérature québécoise“.“ (2000), S. 455.) 177 RF, 175: „[…] la version la plus flatteuse pour votre amour-propre familial […]“. Vgl. ebenso S. 177. 178 RF, 83. 179 Auch RF, 175. 202 courue derrière celui que tu baptises le valet ou le domestique réveillé par le coup de feu, et qui n’est peut-être que son amant, - non de la servante car ce n’est est pas une mais bien la femme, l’épouse ; c’est-à-dire votre commune arrière-arrière-arrière-grand-mère, l’homme - l’amant - appartenant d’ailleurs peut-être en effet à l’espèce domestique comme tu le prétends, pour peu qu’elle ait aussi partagé en matière sexuelle ces goûts plébéiens ou plutôt chevalins, je veux dire les mêmes dispositions pour l’équitation, je veux dire la même tendance à choisir ses amants du côté des écuries… » […] (RF, 177ff.). Auch hier werden erneut die verschiedenen Einflüsse erkennbar, die Blum in seinen Inventionen verarbeitet: Zum einen die fiktive Szene auf dem Stich, die von ihm nun als Repräsentation des Ehebruchs gedeutet wird, und zum anderen die These von der Affäre zwischen Corinne und dem Jockey Iglésia, die das Fundament für eine Beziehung zwischen der Ahnin Virginie und einem „valet“ bildet. Die Fiktivität der von Blum hier imaginierten Zusammenhänge resultiert vor allem auch aus der Tatsache, dass die Gravüre eben nicht eine Repräsentation der Todesszene Reixachs zeigt, sondern diese Beziehung erst nachträglich von Georges und nun auch von Blum hergestellt wird. 180 Neben der Gravüre sind verschiedene fiktionale Texte an Blums Legendenbildung beteiligt: Zunächst der griechische Mythos von Deïanira - frz. „Déjanire“ -, der vom Zentauren Nessus gewaltsam angegriffenen Gattin des Herkules, die später an dessen Tod schuldig wird (RF, 179). 181 Schließlich die Komödie École des femmes von Molière, der Blum das Motiv der untreuen jungen Frau entnimmt, die der erzwungenen Ehe mit einem älteren Mann, ihrem Vormund, durch Witz und Verstand entkommt (RF, 184). 182 Dabei stellt das Motiv der ‚Beziehung zwischen jüngerer Frau und älterem Mann’ auch eine Analogie zur Geschichte de Reixachs auf, dessen Frau Corinne ebenfalls zwanzig Jahre jünger ist (RF, 55). Zuletzt überlässt sich Blum der freien Spekulation und bringt die verschiedensten Ereignisfragmente mit dem General Reixach in Verbindung: So stellt er die These auf, dass dieser - ebenso wie der eifersüchtige Mann im Ardennendorf - möglicherweise ebenfalls gehbehindert sei, eine für einen Adligen des 18. Jahrhunderts untragbare Eigenschaft (RF, 266). Eine weitere Möglichkeit sei, dass er einfach nur Schulden gehabt und deshalb Selbstmord begangen habe (RF, 266) - eine These, die wohl möglicherweise in einem Zusammenhang mit Blums und Georges’ Erfahrungen im Lager und dem dort verbreiteten Glückspiel steht (RF, 204-207). 180 Die zitierte Textstelle weist metafiktional auf die Fiktionalität der Handlung hin, da der Artefakt-Status des Textes offen gelegt wird (Vgl. auch S.W. Sykes: „‘Mise en abyme’ in the Novels of Claude Simon.“ (1973), S. 334.). 181 W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 159f. 182 Vgl. auch Jean de la Fontaines bereits erwähnte Fabel Les deux Pigeons (RF, 188). 203 Der freien Fabulierkunst Blums ist Georges wiederholt hilflos ausgeliefert; 183 oftmals kann er Blums Hypothesen nur ein schwaches « Mais non! » 184 oder ein skeptisches « Comment savoir? » 185 entgegensetzen. Dennoch ist es Blum, der Georges wiederholt ob seiner Legendenbildung und freien Imagination der Ereignisse um den Capitaine de Reixach angreift: „[…] et Blum: « Très bien, excuse-moi. Je croyais que ça t’amusait: tu es là à ressasser, à supposer, à broder, à inventer des histoires, des contes des fées là où je parie que personne excepté toi n’a jamais vu qu’une vulgaire histoire de cul entre une putain et deux imbéciles, […] »“ (RF, 174). Darüber hinaus wirft er Georges vor, ‘wie ein Buch’ zu sprechen angesichts seiner psychologischen Analyse des Vorfahren Reixach im Zusammenhang mit dessen Niederlage gegen die Spanier (RF, 209). Damit wird Georges implizit in die Nähe eines Schriftstellers gerückt, der ja ebenfalls nach Bedarf fiktive Figuren, Orte oder Ereignisse in die fiktionale Handlung einfügt: „[…] Du théâtre de la tragédie du roman inventé, disait-il, tu t’y complais tu en rajoutes tu, et moi Non, et lui Et au besoin tu inventes, et moi Non ça arrive tous les jours, […]“ (RF, 271). Zuletzt gerät Georges selbst ins Zweifeln über den ontologischen Status seiner Erzählungen: „[…] Est-ce que je l’ai inventé dis-je Est-ce que je l’ai inventé ? […]“ (RF, 272). So bilden - wie schon die verschiedenen Frauenfiguren - auch die historisch weitgehend im Dunkeln bleibenden Schicksale der beiden (de) Reixach den Ausgangspunkt für eine wechselseitige Anreicherung um Imaginiertes und Erfundenes sowie als Erklärungsmodell für die zunächst unerklärlichen Ereignisse in der Biographie des jeweils anderen. Dabei fungieren Georges und Blum jeweils als Kritiker der vom jeweils Anderen vertretenen Thesen. Zuletzt stellt Georges seine Hypothesen grundsätzlich in Frage und dekonstruiert auf diese Weise sein eigenes Erzählen. Hier werden demnach sowohl der Diskurs als auch seine Inhalte angegriffen, wenn nicht nur die Sprecher sondern auch das Gesagte in ihrer (möglichen) Fiktivität offenbar werden; es handelt sich dabei um eine metafiktive Aufdeckung der Erfundenheit von Teilen der histoire. 4.4.2.2 Die Ereignisse zwischen Imagination und Traum: das Pferderennen und die erotischen Szenen In La Route des Flandres besitzen nicht nur die Figuren neben einigen wenigen faktischen Merkmalen viele fiktive Elemente, sondern auch zentrale Ereignisse der Handlung. Zu diesen zählt einerseits das Pferderennen, in dessen Verlauf de Reixach die Schmach einer gleichsam prophetischen Niederlage erleidet, und andererseits gehören auch die verschiedenen 183 Vgl. z.B. RF, 174f. 184 RF, 180f., 183f., 187, 189, 264. 185 RF, 80. 204 erotischen Szenen, die von den Soldaten im Lager wiederholt evoziert werden, zu den für den Roman typischen Überschneidungen aus Fakt und Fiktion. 186 Das für die Struktur von La Route des Flandres so wichtige Pferderennen - es flankiert die im Zentrum des Romans stehende Vernichtung der Schwadron im Hohlweg und wird mit dieser narrativ überblendet - existiert ebenso wie die bisher beschriebenen Ereignisse im Leben einiger Romanfiguren nur in der Phantasie des Erinnerungssubjekts Georges. Der fiktive Status der Rennszene wird von Beginn an explizit durch die einleitenden Formeln „Et il me semblait y être, voir cela : […]“ (RF, 18), „Et de nouveau il me semblait voir cela : […]“ (RF, 21) und „Et cherchant (Georges) à imaginer cela: des scènes, de fugitifs tableaux printaniers ou estivaux, comme surpris, toujours de loin; à travers le trou d’une haie ou entre deux buissons : […]“ (RF, 45) offenbart; 187 die detaillierte Beschreibung des Publikums, der Farben der Kleidung und der Pferdedecken verleiht der Szenerie einen statischen Charakter, sie wird dadurch zum tableau einer vergangenen Wahrnehmung, die sich scheinbar in Georges’ Gedächtnis eingegraben hat. Dennoch bleibt kein Zweifel an dem ontologischen Status der Szene innerhalb der Handlung: Georges stellt sie sich auf der Grundlage seiner eigenen Erinnerungen an das Verhalten de Reixachs, 188 der Erzählungen Iglésias und möglicherweise auch seiner Erlebnisse als Zuschauer bei derartigen Veranstaltungen nur vor; er erscheint als unsichtbarer Beobachter, der „à travers le trou d’une haie ou entre deux buissons“ (RF, 45) oder „caché derrière sa haie, derrière le temps“ (RF, 47) zum fiktiven Zeugen der Ereignisse wird. Der eigentlichen Evokation der fiktiven Szene geht in Georges’ Erinnerungsstrom ein Gespräch mit Iglésia voraus, in welchem dieser zugibt, ein intimes Verhältnis mit Corinne gehabt zu haben: 189 Et cette fois Georges put les voir, exactement comme si lui-même avait été là : tous les trois […], les voyant donc tous les trois dans ou plutôt devant cette stalle où le petit lad à tête hydrocéphale, aux membres de poupée, au visage précocement flétri […], s’efforçait de faire tenir en place cette pouliche pendant qu’Iglésia accroupi lui ajustait les guêtres, elle et de Reixach debout, le regardant faire, […] (RF, 135f.). 186 D. Lanceraux weist darauf hin, dass die „images mémorielles et imaginées“ in La Route des Flandres äquivalent seien; „[…] l’imagination [est] susceptible de réinventer le réel grâce à des minces et incertaines données.“ (D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237.) 187 Vgl. hierzu B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1029. 188 RF, 17f., 20f., 47. 189 RF, 127-135. 205 Das Hindernisrennen ist von einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Corinne und ihrem Mann begleitet; dieser will gegen den Willen seiner Frau unbedingt selbst das Rennen reiten, auch wenn Iglésia ursprünglich als Jockey vorgesehen war und Corinne diesen auch für den geeigneteren Reiter hält. In ihrer Wut bietet sie Iglésia schließlich an, dass er mit ihrem Geld auf den Sieg ihres Mannes wetten könne, vorausgesetzt, er glaube daran (RF, 136f.). In der rückwirkenden Deutung dieses Ereignisses hinterfragt der Jockey das scheinbar unverständliche und darüber hinaus folgenreiche Verhalten seines glücklosen Vorgesetzten, durch dessen Niederlage sein auf ihn und die Stute gesetztes Geld verwettet ist: […] (Iglésia pensant, disant plus tard: « Mais alors bon sang il avait qu’à me la laisser monter. Si c’était pour faire cette démonstration, mince ! Qu’est-ce qu’il espérait ? Qu’après cela elle ne coucherait plus qu’avec lui, qu’elle allait se priver de se faire enfiler par le premier venu simplement parce qu’elle l’aurait vu sur son dos ? Mais si ç’avait pas été moi, ça aurait été pareil. Parce qu’elle était en chaleur. […] » (RF, 145) Iglésia interpretiert die Halsstarrigkeit de Reixachs, die Stute unbedingt selbst reiten zu wollen, als Versuch einer „démonstration“ seiner Macht nicht nur über das Pferd, sondern in einem übertragenen Sinne auch über seine Frau. Er unterstellt dem Capitaine die Hoffnung, seine Frau durch die Bezwingung ihres Pferdes gefügig zu machen und von ihrem - von Iglésia unterstellten - promiskuitiven Verhalten in Zukunft abzuhalten. In den Augen Iglésias ist dieses Unterfangen jedoch zum Scheitern verurteilt: Corinne sei „en chaleur“ gewesen, wenn nicht mit ihm, so hätte sie mit jedem beliebigen anderen Mann geschlafen. De Reixach unterliegt auf diese Weise nicht nur in einem sportlichen Wettkampf, sondern auch in einer im Verborgenen stattfindenden erotischen Auseinandersetzung zweier Rivalen. Die unmittelbar sich an das Zitat anschließende Überblendung des Rennens mit dem deutschen Hinterhalt im Hohlweg, der zur Vernichtung nahezu des gesamten Regiments führt (RF, 144-156), nimmt seine erst später im Text erzählte Niederlage im Rennen gleichsam vorweg (RF, 164-171) und spiegelt diese mit der impliziten erotischen Niederlage de Reixachs. 190 Darüber hinaus lässt sich in Iglésias Worten eine ‚Hybridisierung’ Corinnes nachvollziehen: sie wird der von ihrem Mann gerittenen Stute gleichge- 190 In diesen Zusammenhang situtiert sich auch R. Warnings These von der „hochkonventionalisierten Sexualkonnotation von ‚Reiten’“, die insbesondere in der Analogisierung von Wettrennen und Hinterhalt zutage trete: Schließlich sei der Hinterhalt durchweg sexuell konnotiert, wie z.B. das Einreiten in den Hohlweg oder der rosafarbene Himmel, der das Rosa der Jockeyjacke de Reixachs in der Rennszene aufgreift, deutlich machen (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 377.). 206 stellt; ein Verfahren, das den gesamten Roman wie ein roter Faden durchzieht. 191 Im Gefangenenlager wird Iglésias nur angedeutete Vermutung, hinter dem Verhalten de Reixachs könnte sich der Wille zur Abwehr des unerwünschten Nebenbuhlers im Kampf um Corinne verbergen, von Blum spekulierend weiterentwickelt: [Et Blum: ] „Et alors il - je veux dire de Reixach […] a voulu lui aussi monter cette alezane, c’est-à-dire la mater, sans doute parce qu’à force de voir un vulgaire jockey la faire gagner il pensait que la monter c’était la mater, parce que sans doute pensait-il aussi qu’elle… (cette fois je parle de l’alezane-femme, la blonde femelle qu’il n’avait pu ou qu’il n’avait su, et qui n’avait d’yeux - et vraisemblablement autre chose aussi que les yeux - pour ce…) Bref : peut-être a-t-il pensé qu’il ferait alors, si l’on peut dire, d’une pierre deux coups, et que s’il parvenait à monter l’une il materait l’autre, ou vice-versa, c’est-à-dire que s’il matait l’une il monterait l’autre aussi victorieusement, c’est-à-dire qu’il l’amènerait elle aussi au poteau, c’est-à-dire que son poteau à lui l’amènerait victorieusement là où il n’avait sans doute jamais réussi à la conduire, lui ferait passer le goût ou l’envie d’un autre poteau (est-ce que je m’exprime bien ? ) ou si tu préfères d’un autre bâton, c’est-à-dire que s’il réussissait à se servir de son bâton aussi bien que ce jockey qui… » […] (RF, 173f.). Die Hybridisierung Corinnes, die Überblendung zwischen der blonden Frau und der fuchsroten Stute, wird von Blum übernommen. Auch wird mittels der Polyvalenz verschiedener Substantive ein kausaler Zusammenhang zwischen dem erfolgreichen Beherrschen des Pferdes im Rennen und dem Bezwingen der untreuen Frau hergestellt: So benennt das Substantiv „poteau“ nicht nur das Ziel in einem Pferderennen, sondern bezeichnet in diesem Kontext ebenso wie „bâton“ das männliche Glied. „Bâton“ wiederum bezieht sich innerhalb des Isotopiefeldes ‚Pferderennen’ auf die Peitsche, mit der de Reixach seine Stute antreibt. Darüber hinaus werden beide Handlungen - einerseits die Kontrolle des Pferdes und andererseits die Unterwerfung der Frau - in den sportlichen Kontext eines Wettkampfes eingeordnet: Es geht also um den Widerstreit zweier Kontrahenten und Rivalen um den Sieg, der sich in der erfolgreichen Beherrschung sowohl der Frau als auch des Pferdes zeigt. Im Kontext des Romans wird nun von Georges ein Zusammenhang zwischen der früheren Niederlage de Reixachs in diesem doppelten Wettkampf und zwischen seinem ‚bereitwilligen’, von ihm als Selbstmord ausgelegten Tod konstruiert. Zunächst vergleicht Georges, noch nicht explizit auf das Liebesdreieck aus Corinne, de Reixach und Iglésia bezogen, die sich 1940 gegenseitig verfolgenden feindlichen Armeen mit dem burlesken Trio aus ebenfalls einander jagenden Liebhaber, ehebrecherischer Frau und eifersüchtigem Ehemann in der Oper oder im komischen Film (RF, 197). 191 Vgl. z.B. RF, 22f., 129, 134ff. 207 Anfangs scheint es für ihn noch naheliegend zu sein, dass der unerklärliche Ritt des Capitaine in das Maschinengewehrfeuer des Feindes nicht aus dem Streben nach Ehre, der Zurschaustellung von Mut oder dem Bedürfnis nach Eleganz geschehen ist, sondern aus rein ‚persönlichen’ Gründen: […] cet imbécile de petit sous-lieutenant se croyant obligé de faire comme lui, s’imaginant sans doute que c’était le dernir [sic] chic le nec plus ultra de l’élégance et du bon ton pour un officier de cavalerie sans se douter un instant des véritables raisons qui poussaient l’autre à faire ça c’est-à-dire qu’il ne s’agissait là ni d’honneur ni de courage et encore moins d’élégance mais d’une affaire purement personnelle et non pas même entre lui et elle mais entre lui et lui. J’aurais pu le lui dire, Iglésia aurait pu le lui dire encore mieux que moi. […] (RF, 14). In Georges’ Augen scheint de Reixach auf der von Heckenschützen umgebenen Straße in Flandern die bereits vor dem Krieg begonnene Auseinandersetzung um Corinne mit seiner Ordonnanz Iglésia fortzusetzen. Seiner Ansicht nach ist es dieser schwelende Konflikt, der ihn gleichgültig für die am Wegesrand lauernden Gefahren macht und seinen mysteriösen Tod vorbereitet. Doch muss sich Georges zuletzt, am Ende seines Erinnerungsprozesses, eingestehen, dass es ihm nicht gelingen wird, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Corinne wie ein Pferd reitenden Jockey Iglésia und dem gleichgültigen Ritt seines Cousins und Capitaine in den Tod herzustellen: […] peut-être avaient-ils raison tous deux [le père et Blum; S.Z.], lui qui disait que j’inventais brodais sur rien et pourtant on en voyait aussi dans les journaux […] - mais comment savoir, comment savoir ? Il aurait fallu que je sois aussi celui-là caché derrière la haie le regardant s’avancer tranquillement au-devant de lui, au-devant de sa mort sur cette route, se pavanant comme avait dit Blum, insolent imbécile orgueilleux et vide dédaignant ou peut-être n’ayant pas même l’idée de mettre son cheval au trot n’entendant même pas ceux qui lui criaient de ne pas continuer ne pensant peut-être même pas à la femme de son frère chevauchée ou plutôt à la femme chevauchée par son frère d’armes ou plutôt son frère en chevalerie puisqu’il le considérait en cela comme son égal, ou si l’on préfère le contraire puisque c’était elle qui écartait les cuisses chevauchait, tout deux [sic ! ] chevauchant (ou plutôt qui avaient été chevauchés par) la même houri la même haletante hoquetante haquenée, […] (RF, 278f.). Georges scheitert schließlich bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen den dramatischen Ereignissen im Zusammenhang mit dem Pferderennen und dem Selbstmord de Reixachs herzustellen. Dabei wirkt die Semantisierung des Geschlechtsverkehrs als Ritt und die der dabei beteiligten Protagonisten als Reiter bzw. Pferde als Bindeglied zwischen den beiden Kontexten bzw. Isotopien. Unklar wird Georges vor allem das Verhältnis zwischen Iglésia und de Reixach bleiben: Waren sie tatsächlich Rivalen 208 oder haben sie nicht vielmehr als „frères d’armes“, wenn nicht sogar als „frères en chevalerie“, auch die Frau im Einvernehmen miteinander geteilt? Oder war nicht zuletzt Corinne die Dominante in diesem Liebesdreieck, die ihrerseits die beiden Männer ‚geritten’ und damit zu Pferden degradiert hat? So muss Georges im Verlauf seines Erinnerungsstroms erkennen, dass es ihm schlechterdings unmöglich ist, das Pferderennen, das er ausgehend von den vagen Andeutungen Iglésias imaginiert, in einen kausalen Zusammenhang mit dem mysteriösen Tod seines Cousins und Vorgesetzten im Mai 1940 zu bringen: Die Machtverhältnisse in dem Liebesdreieck aus Corinne-Iglésia-de Reixach, die in der Situation des Rennens noch so klar erschienen - de Reixach, der bei dem Versuch scheitert, seine Frau von seinen Qualitäten als ‚Reiter’ zu überzeugen und dadurch gleichzeitig seinen Nebenbuhler auf die Plätze zu verweisen -, lassen sich nachträglich nicht mehr genau bestimmen. Vielmehr wird ihm bei genauerer Betrachtung seines eigenen Erinnerungsvorgangs klar, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen den drei Beteiligten mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulassen. Sein Versuch, das Pferderennen und die dabei offenbar gewordenen Macht- und Beziehungsverhältnisse als ein imaginäres bzw. fiktives Erklärungsmodell für den Tod de Reixachs auf offener Straße in Flandern heranzuziehen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Wie schon zuvor im Falle der Frauenfiguren und der beiden de Reixach wird die Fiktivität der Ereignisse innerhalb der histoire auf metafiktive Weise offengelegt. Weitere Ereignisse, deren ‚reale’ Existenz innerhalb der fiktionalen Realität in Zweifel gezogen werden muss und deren Fiktivität auf diese Weise manifest wird, sind die verschiedenen erotischen Begegnungen. Auf den jeweiligen zeitlichen Ebenen des Romans - im 18. Jahrhundert sowie in der unmittelbaren Vorkriegszeit - werden mehrere Liebesakte nicht nur vom erinnernden Subjekt Georges, sondern auch von den anderen Soldaten und insbesondere von Blum während der Kriegsgefangenschaft imaginiert. Zu diesen fiktiven intimen Begegnungen zählt der Ehebruch Virginie de Reixachs mit ihrem „valet“, die mutmaßliche Affäre zwischen Corinne und ihrem Jockey Iglésia sowie die möglicherweise inzestuöse Beziehung in einem Ardennendorf. Im Folgenden soll versucht werden, Georges’ und Blums Motive für ihre beharrliche Imagination der Liebesakte zu bestimmen. Der in der Zeitstruktur des Romans am weitesten zurückliegende fiktive Liebesakt ist der zwischen Virginie und ihrem Bediensteten; die Möglichkeit, dass er innerhalb der Welt des Romans tatsächlich stattgefunden hat, wird von Blum ins Spiel gebracht, der auf diese Weise eine alternative Erklärung für den Tod des Revolutionsgenerals vorstellt. Als Grundlage 209 seiner Imagination fungieren - wie wir bereits gesehen haben - einerseits eine ihm von Georges zuvor beschriebene Gravüre, die eine erotische Szene repräsentiert, und zum anderen verschiedene fiktionale Texte. Auf die offensichtliche Irrealität des Ereignisses innerhalb der fiktionalen Welt des Romans wird von Georges empört hingewiesen: Wiederholt unterbricht er Blums Redefluss und seine aneinander gereihten Imaginationen mit einem vehementen „(Mais) Non! “ 192 Wie die intime Beziehung zwischen der Ahnin Virginie und ihrem Bediensteten existiert möglicherweise auch die Affäre zwischen Corinne und Iglésia nur in der Phantasie der Soldaten und insbesondere in der von Georges, da Iglésia sich kaum deutlich über sein Verhältnis zu der Frau seines Vorgesetzten äußert (RF, 47). So kann Georges nur aus Iglésias Verhalten auf die ‚Realität’ der Affäre schließen: […] probablement était-ce bien cela: c’est-à-dire pas une idylle, une intrigue se déroulant, verbeuse, convenue, ordonnée, s’engageant, se fortifiant, se développant suivant un harmonieux et raisonnable crescendo coupé par les indispensables arrêts et fausses manœuvres, et un point culminant, et après cela peut-être un palier, et après cela encore l’obligatoire decrescendo : non, rien d’organisé, de cohérent, pas de mots, de paroles préparatoires, de déclarations ni de commentaires, seulement cela : ces quelques images muettes, à peine animées, vues de loin : […] (RF, 47). Ebenso wie das ebenfalls imaginierte Pferderennen hat Georges die fiktive Szene des Geschlechtsaktes zwischen Iglésia und Corinne als tableau, als ‚stummes’ Gedächtnisbild vor Augen; 193 er reduziert ihre Beziehung auf die verbal aufs Nötigste beschränkte, rein körperliche Begegnung inmitten der Pferde im Stall (RF, 48f.). Dabei gewinnt die nur vorgestellte, innerfiktional fiktive Szene durch seine Imaginationskraft gleichsam einen realen Charakter, der auch seine weiteren Befragungen von Iglésia prägen wird (RF, 133f.). Im Gefangenenlager werden Blum und Georges auf der Grundlage der Ereignisfragmente, die ihnen von Iglésia zur Verfügung gestellt werden, die Geschichte ‚fortspinnen’ und immer neue Zusammenhänge konstruieren (RF, 174). Auf gleiche Weise wird auch die anhand von einigen wenigen gesicherten Tatsachen entworfene Dreiecksgeschichte im Ardennendorf - die eifersüchtige Reaktion des hinkenden Bauern auf den „adjoint au maire“, die sich hinter dem symbolträchtigen Pfauenvorhang 194 verbergende Frau, der 192 RF, 180-189. 193 Laut eines metapoetischen Kommentars von Simon habe sich die Genese seines Romans La Route des Flandres ebenfalls „par tableaux détachés“ vollzogen, welchen er verschiedene Farben zugeordnet und die er im Anschluss - nach der Harmonie ihrer Farbigkeit - miteinander verbunden hat. (C. Simon: „Note sur le plan de montage de La Route des Flandres.“ (1993), S. 185.) 194 B. Dauer weist darauf hin, dass in der Motivgeschichte der Pfau die Idee des Weiblichen symbolisiere (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Litera- 210 Klatsch der Dorfbewohner und Familienangehörigen - zum Ausgangspunkt immer neuer Vermutungen und Imaginationen der Soldaten, ohne dass jedoch bis zuletzt die genauen Zusammenhänge aufgedeckt bzw. die tatsächliche Existenz einer illegitimen Beziehung angenommen werden könnten. 195 Auch hier widersprechen sich die verschiedenen vorgestellten Versionen und werden von den Männern empört zurückgewiesen: Insbesondere Wack hat als einziger direkt mit den Bewohnern des Hofes gesprochen und scheint nun im alleinigen Besitz der ‚Wahrheit’ zu sein, was jedoch von Blum und Georges vehement angezweifelt wird. 196 Schließlich fragt sich Georges sogar auf seinem nächtlichen Weiterritt im unverändert rauschenden Regen, ob sich die Ereignisse im Ardennendorf nicht nur in der Phantasie der Soldaten zugetragen haben: […] et cahotés sur nos montures invisibles nous aurions pu croire que tout cela (le village, la grange, la laiteuse apparition les cris le boiteux l’adjoint la vieille folle tout cet obscur et aveugle et tragique et banal imbroglio de personnages déclamant s’injuriant se menaçant se maudissant trébuchant dans les ténèbres tâtonnant jusqu’à ce qu’ils finissent par se cogner contre un obstacle une machine cachée là dans l’obscurité […] qui leur exploserait en pleine figure en leur laissant juste le temps d’entrevoir pour la dernière fois (et probablement la première) quelque chose qui ressemble à de la lumière) que tout cela n’avait existé que dans notre esprit : un rêve une illusion alors qu’en réalité nous n’avions peut-être jamais arrêté de chevaucher chevauchant toujours dans cette nuit ruisselante et sans fin continuant à nous répondre sans nous voir… […] (RF, 261f.). In der jede Wahrnehmung auflösenden und scheinbar zeitlosen Schwärze der Nacht erscheinen Georges - der hier auch die Perspektive der anderen Soldaten einnimmt - die Ereignisse um die erotischen Verwicklungen im Ardennendorf als irreal. Dabei werden den handelnden Figuren wie dem Bauern, der „fille au lait“, dem „adjoint“ gleichsam die Züge von Schauspielern in einer Komödie verliehen: Der komische Effekt resultiert in Georges’ Augen aus ihrer völlig ziel- und wirkungslosen Verfolgungsjagd im Dunkeln, bis zuletzt eine „machine cachée“ - vergleichbar der an anderer Stelle im Text genannten „boîte des farces et attrapes“ - vor ihren Augen explodiert. Zuletzt bleibt den Soldaten das Gefühl der Unsicherheit über den ontologischen Status der Ereignisse: Haben diese sich tatsächlich vor einigen Stunden zugetragen oder sind sie nur das Produkt ihres erschöpften Zustands: ein Traum, eine Illusion, während sie ununterbrochen auf ihren Pferden gesessen haben? Gemeinsam ist somit den drei Liebesbeziehungen in La Route des Flandres zum einen ihre Fiktivität: Für ihre reale Existenz innerhalb der rische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 326.). 195 RF, 61-63, 119-122, 256-258. 196 Vgl. z.B. RF, 61, 256-258. 211 fiktionalen Welt des Romans gibt es keinerlei überzeugende Anhaltspunkte. Es ist sowohl möglich, dass Georges und Blum bzw. auch die anderen Soldaten die erotischen Zusammenhänge nur imaginieren, als auch, dass Georges in seinem Erinnerungsprozess imaginäre Parallelen zur Geschichte der beiden de Reixach bzw. zu seiner eigenen Affäre mit Corinne konstruiert. Zum anderen erfüllen die drei fiktiven Liebesbeziehungen aber dieselben Funktionen innerhalb der fiktionalen Handlung: Sie liefern den ansonsten eher schweigsamen Soldaten einen Anlass zur Kommunikation 197 und helfen Georges und Blum, geistig aus der unerträglichen Realität des Kriegsgefangenenlagers zu entfliehen: […] et ils y restèrent tous les deux [au camp; S.Z.], travaillant pendant les mois d’hiver à décharger des wagons de charbon […] tandis qu’ils essayaient de se transporter par procuration (c’est-à-dire au moyen de leur imagination, c’est-àdire en rassemblant et combinant tout ce qu’ils pouvaient trouver dans leur mémoire en fait de connaissances vues, entendues ou lues, de façon […] à faire surgir les images chatoyantes et lumineuses au moyen de l’éphémère, l’incantatoire magie du langage, des mots inventés dans l’espoir de rendre comestible […] l’innommable réalité) dans cet univers futile, mystérieux et violent dans lequel, à défaut de leur corps, se mouvait leur esprit : quelque chose peutêtre sans plus de réalité qu’un songe, que les paroles sorties de leurs lèvres : des sons, du bruit pour conjurer le froid, les rails, le ciel livide, les sombres pins : ) […] (RF, 173). 198 Diese metasprachlich und metafiktiv fungierende Textstelle thematisiert explizit den fiktiven Status der verschiedenen Liebesszenarien - geht doch dem Zitat ein Gespräch zwischen Blum und Iglésia bzw. Blum und Georges über die Beziehung zwischen Corinne und Iglésia voraus bzw. folgt diesem. 199 Im weiteren Text bezieht sich die beschriebene Fiktivisierung von Teilen der histoire auch auf die Ehebruchsgeschichte um den Ahnen und seine Frau (RF, 175ff.), so dass zuletzt nur noch die Affäre zwischen Georges und Corinne in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen innerhalb der Fiktion ‚realen’ Status zu besitzen scheint. Die anderen, von Georges im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses erneut evozierten erotischen Begegnungen scheinen hingegen das alleinige Phantasieprodukt von ihm, Blum und z.T. auch von den anderen Soldaten während des Feldzugs und der Gefangenschaft zu sein. Die Soldaten versuchen auf diese Weise, zumindest ihrem Geist zu einer Flucht aus der kaum erträglichen Realität 197 RF, 62: „[…] leurs voix lasses monotones aussi s’élevant l’une après l’autre se chevauchant s’affrontant mais comme parlent les soldats, c’est-à-dire comme ils dorment ou mangent avec cette sorte de patience de passivité d’ennui comme s’ils étaient forcés d’inventer d’artificiels motifs de dispute ou simplement des raisons de parler […]“. 198 Vgl. ebenso RF, 174f.: „[…] et Georges: « […] et alors que puis-je, que pouvons-nous faire, que puis-je avoir d’autre que… », […]“. 199 RF, 171f., 173ff. 212 zu verhelfen und sich darüber hinaus eine Möglichkeit der Kommunikation und der geistigen Beschäftigung zu eröffnen. 4.4.2.3 Ou-topoi oder die Semantisierung von Orten: das Ardennendorf und die „route“ Neben bestimmten Personen und Ereignissen tragen auch Orte in La Route des Flandres fiktive Züge innerhalb der fiktionalen Welt des Romans. Scheinbar aus der realen, extraliterarischen Welt vertraute Orte wie die Ardennen oder auch die „route des Flandres“ werden auf diese Weise zu mythischen oder märchenhaften ‚ou-topoi’, zu Nicht-Orten, die eine faktische Existenz weder in der extratextuellen Welt noch in der Realität des Romans besitzen. Der Roman betont ihren imaginären, fiktiven Status in Form einer metafiktiven Inszenierung: So tritt die innertextuelle ‚Faktizität’ der Orte zurück zugunsten von Themen und Motiven, die dem Märchen und Mythos entstammen. Allerdings unternimmt der Text keine ré-écriture der Mythen, sondern diese bilden vielmehr „une sorte de ‚thème’ second“ in der Struktur des Werkes: der Mythos ist das Objekt einer Repräsentation im Roman; es finden sich nurmehr einige „images emblématiques“, welche als Fremdkörper innerhalb der Fiktion fungieren und diese zunehmend in den Hintergrund drängen. 200 In La Route des Flandres werden die Ardennen, in denen die zentrale Handlung des Romans um die erfolglose französische Defensive gegen die Deutschen stattfindet, zu einem irrealen, mythischen bzw. märchenhaften Ort stilisiert. Wie bereits gezeigt wurde, ist es insbesondere das Ardennendorf, das von Beginn an zum Zentrum von Georges’ Imaginationen sowie der anderen Soldaten wird. So tritt die junge Frau, die den erschöpft in der Nacht ankommenden Soldaten mit der Laterne in der Hand den Weg zur Scheune weist, als übersinnliche und irreale „apparition“ 201 auf, und auch die unsichtbar im Verborgenen klagende „vieille“ wird von den Soldaten wie folgt imaginiert: […] toute la maison comme morte, sauf une espèce de gémissement rythmé, monotone, tragique, qui s’élevait à l’intérieur, et certainement c’était d’une gorge de femme que cela sortait mais pas Elle: une vieille, et quoiqu’ils ne l’eussent pas vue ils pouvaient l’imaginer assise dans un fauteuil, aveugle, noire et raide, gémissant, balançant le buste d’avant en arrière.“ (RF, 59) Die geheimnisvolle und den Soldaten unverständlich bleibende Klage der alten Frau - „la voix de la vieille femme qui continuait à faire entendre ses lamentations rythmées, monotones, comme une déclamation emphatique, 200 D. Viart: „Mythes et imaginaire des signes dans la fiction romanesque: Butor, Robbe- Grillet, Simon.“ (1994), S. 270ff. 201 Vgl. RF, 37, 39. 213 sans fin“ (RF, 60) - lässt sie in Georges’ Augen den „pleureuses de l’antiquité“ ähnlich werden und enthebt dadurch die ganze Situation für ihn gleichsam der realen, physikalischen Zeit: […] comme si tout cela (ces cris, cette violence, cette incompréhensible et incontrôlable explosion de fureur, de passion) ne se passait pas à l’époque des fusils, des bottes de caoutchouc, des rustines et des costumes de confection mais très loin dans le temps, ou de tous les temps, ou en dehors du temps, la pluie tombant toujours et peut-être depuis toujours, […] (RF, 60). Die Ereignisse in dem Ardennendorf scheinen der innerfiktionalen Realität enthoben zu sein und in ihrer Archaik gleichsam einen vorzeitlichen bzw. zeitlosen Zustand zu verkörpern; dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den unaufhörlich fallenden Regen. Diese angedeutete Mythologisierung der beteiligten Figuren und des Handlungsverlaufs wird im Text expliziert, wenn die Personenkonstellation im Ardennendorf mit dem Atridenmythos (RF, 115), der Hinkende mit ‚Vulcain’ (RF, 120f.) und die hinter dem Pfauenvorhang verborgene Frau mit ‚Léda’ verglichen werden (RF, 248, 273). Neben diesem mythischen Anstrich tragen das Ardennendorf, die dort auftretenden Personen sowie die umgebende Landschaft auch aus dem Märchen bekannte Merkmale: So trägt eine alte Frau - die vermutlich identisch ist mit dem unbekannten ‚Klageweib’ bei der Ankunft der Soldaten auf dem Bauernhof - anlässlich der abendlichen Begegnung die unheimlichen Züge einer Hexe: […] puis je la vis: non pas elle, cette blancheur, cette espèce de suave et tiède apparition entrevue le matin dans le clair-obscur de l’écurie, mais pour ainsi dire son contraire ou plutôt sa négation ou plutôt sa corruption la corruption même de l’idée de femme de grâce de volupté, son châtiment: une effroyable vieille à profil et barbiche de bouc la tête agitée d’un tremblement continu et qui tourna vers moi quand je m’assis auprès d’elle sur le banc derrière le fourneau deux prunelles bleu pâle presque blanches comme liquéfiées […] (RF, 251f.). In ihrer Hässlichkeit und ihrem Schrecken stellt die Alte das genaue Gegenteil der schönen und jungen „fille au lait“ dar; es wird hier das Gegenbild zur in La Route des Flandres mehrheitlich vertretenen schönen und sinnlichen Frau - verkörpert durch Corinne, Virginie und das Mädchen im Ardennendorf - entworfen. Darüber hinaus konnotieren die Oppositionen zwischen ‚jung und schön’ und ‚alt und hässlich’ auch den Gegensatz zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’, wie das weitere Verhalten der alten Frau, ihre Boshaftigkeit und Bissigkeit gegenüber dem Hinkenden, bei dem es sich vermutlich um ihren Enkel handelt, zeigen. 202 202 R. Barny zieht darüber hinaus insgesamt die ‚reale’ Existenz der alten Frau innerhalb der Fiktion in Zweifel; bei dieser handele es sich möglicherweise nur um einen „fantasme du héros“ (R. Barny: „Simon, La Route des Flandres, 1ère partie. Une exposition? “ (1998), S. 247.). 214 Auch Georges kann sich ihrer unheimlichen Faszination nicht entziehen; er gleitet während des Gesprächs immer mehr in den Zustand einer Verzauberung, der bereits durch die Verlorenheit der Landschaft und die schlechten Witterungsbedingungen vorbereitet wurde: […] (comme si j’étais là dans cette cuisine de paysans victime de quelque enchantement - et en fait il y avait quelque chose comme cela ici dans ce pays perdu coupé du monde avec ces vallées profondes d’où parvenait seul un faible tintement de cloches ces prés spongieux ces pentes boisées roussies par l’automne couleur rouille ; c’était cela : comme si le pays tout entier enfermé dans une sorte de torpeur de charme noyé sous la nappe silencieuse de la pluie se rouillait se dépiautait rongé pourissant [sic] peu à peu dans cette odeur d’humus de feuilles mortes accumulées s’entassant se putréfiant lentement, et moi le cavalier le conquérant botté venu chercher au fond de la nuit au fond du temps séduire enlever la liliale princesse dont j’avais rêvé depuis des années et au moment où je croyais l’atteindre, la prendre dans mes bras, les refermant, enserrant, me trouvant face à face avec une horrible et goyesque vieille…) (RF, 252). Hier wird die das Dorf umgebende Landschaft der Ardennen semantisch überdeterminiert: Es entsteht der Eindruck von Leere, Verlorenheit und Weltabgeschiedenheit, der anscheinend auf einen Zauber zurückzuführen ist. Darüber hinaus verleiht die herbstliche Jahreszeit - es handelt sich um die Zeit der Mobilmachung der französischen Truppen im Herbst 1939 - der Vegetation einen morbiden Aspekt: die mit der Nässe des Regens vollgesogenen Wiesen erscheinen schwammartig, die Wälder sind rostrot gefärbt und spielen damit implizit auf das schon bald im Krieg vergossene Blut an. Der Tod und die mit ihm einhergehende Verwesung ist allgegenwärtig: nicht nur in der Landschaft und in der Natur, sondern auch die von Georges märchenhaft umgedeutete Begegnung mit den beiden so unterschiedlichen Frauen konnotiert die Dichotomie von ‚Leben’ und ‚Tod’. Während die junge „fille au lait“, von Georges im Zusammenhang mit der Interpretation der Ereignisse im Dorf als „liliale princesse“, 203 als Erfüllung seiner langgehegten Träume betrachtet wird, zerstört das unerwartete Auftauchen der alten, dem Tode nahen und in ihrer abstoßenden Physis an die phantastischen Schreckensfiguren Goyas erinnernden Frau diese Illusion. Im weiteren Verlauf der Szene wird die Alte erneut mit dem Tod in 203 Die weiße Lilie („la fille laiteuse“) ist ein altes und verbreitetes Licht-Symbol; daneben gilt sie, vor allem in der christlichen Kunst, als Symbol der Reinheit, Unschuld und Jungfräulichkeit; dies möglicherweise als Sublimierung einer ursprünglich phallischen Bedeutung, die man der Lilie wegen der auffälligen Form ihres Stempels beimaß. (U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 172) Zu einem späteren Zeitpunkt im Verlaufe seines Gedächtnisstroms interpretiert Georges die sich hinter dem Pfauenvorhang verbergende Frau nun konkreter als Dornröschen: „les passions déchaînées engendrées par la chair délicate de la belle au bois dormant emmurée cachée“ (RF, 272). 215 Verbindung gebracht, wenn ihre Augen als „petits yeux de morte“ (RF, 253) beschrieben werden. Diese symbolhafte Aufladung der Ereignisse im Ardennendorf mit mythologischen und märchenhaften Zügen entrückt die Handlung der physikalischen Zeit des Herbsts 1939. Es sind die Vergleiche der Akteure im Dorf mit Figuren aus der griechischen Mythologie sowie die symbolhafte Überdetermination der Landschaft und der beiden so unterschiedlichen Frauen als Verkörperung von ‚Leben’ und ‚Tod’ bzw. von ‚Gut’ und ‚Böse’, die der Szene einen fiktiven Anstrich verleihen. Es bleibt unklar, welche Teile der histoire sich innerhalb der Fiktion tatsächlich ereignet haben und welche nur das Produkt der Imagination des Protagonisten sind, der seine eigenen Erlebnisse mit literarischen Vorbildern vergleicht, so dass hier auf metafiktive Weise Teile der histoire als ‚erfunden’ bzw. als ‚nicht-real’ innerhalb der erzählten Welt offenbart werden. Nicht nur das Ardennendorf, auch die im Zentrum der Handlung stehende „route des Flandres“ wird zu einem irrealen ‚Nicht-Ort’ im Roman. Über diese im Anschluss zu bestimmende innerfiktionale Fiktivisierung des geographischen Ortes hinaus hat L. Baladier darauf aufmerksam gemacht, dass entgegen dem etwas irreführenden Titel die Romanhandlung selbst nicht in Flandern spielt: Erst zwei Wochen nach den von Simon in La Route des Flandres beschriebenen Kriegshandlungen erreicht der Krieg mit den Schlachten um Lille und Dünkirchen Flandern selbst (26. Mai bis 2. Juni 1940); Simons Text beschreibt das zeitlich frühere Ardennendebakel. 204 Die so vielfach im Roman beschworene „route 205 des Flandres“ wird auf diese Weise nicht zu einem festen Ort, sondern vielmehr zu einer Richtung hin zu einem erträumten Land, in dem die Soldaten jedoch nie ankommen werden. Doch ist es nicht nur die offenkundig fehlende Übereinstimmung der Fiktion mit den historischen Fakten, die den fiktiven Status der Straße begründen, sondern auch ihre Mythologisierung, die mit der Wirkung des Krieges auf die Landschaft und die Menschen einhergeht. So erscheint bereits das detailliert beschriebene kranke Pferd während der Quartiernahme im Ardennendorf als Vorbote der kommenden, apokalyptischen Ereignisse: „[…] la tête du cheval couché sur le côté semble s’allonger, prend un air apocalyptique […]“ (RF, 122f.). Das Pferd scheint in seiner Agonie in das Schattenreich überzuwechseln, in dem Heerscharen 204 Die französische Provinz Flandern liegt westlich des Flusses Schelde (frz. L’Escaut) (L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 54). 205 A. Tenaguillo y Cortázar weist auf die spezifische Funktion der Reisethematik im Werk Simons hin: diese sei immer auch Metapher für die kreative Erfahrung des Schreibens (A. Tenaguillo y Cortazar: „L’Ecriture comme frayage: Claude Simon, La Route des Flandres.“ (1997), S. 210.). 216 toter, skelettierter Pferde unermüdlich von ihren ebenfalls toten und skelettierten Reitern geritten werden: […] la bête agonisante au regard terriblement fixe, empli d’une terrifiante patience, et dont le cou semble s’être encore allongé, tirant sur les muscles, les tendons, comme si le poids de l’énorme tête l’entraînait hors de la litière dans le noir domaine où galopent infatigablement les chevaux morts, l’immense et noir troupeau des vieilles carnes lancées dans une charge aveugle, luttant de vitesse pour se dépasser, projetant en avant leurs crânes aux orbites vides, dans un tonnerre d’ossements et de sabots heurtés : quelque fantomatique cavalcade de rosses exsangues et défuntes chevauchées par leurs cavaliers eux-mêmes exsangues et défunts aux tibias décharnés brinqueballant dans leurs bottes trop grandes, aux éperons rouillés et inutiles, et laissant derrière eux un sillage de squelettes blanchissants […] (RF, 125). Die imaginären toten Pferde und ihre Reiter werden auf diese Weise zu den Vorboten der anderen, realen Armee, die einige Monate später auf der Straße nach Flandern ebenfalls sterben wird. Darüber hinaus spielt die Armee der toten Pferde und Reiter auf das vierte Pferd in der biblischen „Offenbarung an Johannes“ an. 206 Auf ihrem Ritt durch den nächtlichen Regen Richtung Grenze und Front wird die Schwadron selbst zu apokalyptischen Reitern: […] il faisait noir de nouveau et on ne voyait plus rien et toute la connaissance du monde que nous pouvions avoir c’était ce froid cette eau qui maintenant nous pénétraient de toutes parts, ce même ruissellement obstiné multiple omniprésent qui se mélangeait semblait ne faire qu’un avec l’apocalyptique le multiple piétinement des sabots sur la route […] (RF, 261). Diese zunächst in der imaginären Armee der toten Reiter anklingende Anspielung des Romans auf die „Offenbarung an Johannes“, die schließlich auf die französischen Soldaten selbst bezogen wird, macht auch die Straße in Flandern, in der durch die berittene Armee ebenfalls der Tod über die Menschen kommen wird, zu einem mythischen Ort der Apokalypse: Hier liegt der in der Figur des Heckenschützen personifizierte Tod in der nur scheinbar friedlichen Landschaft hinter Weißdornhecken auf der Lauer (RF, 73, 88), und es werden sogar die Tageszeiten in einem unendlich gleißenden Sonnenlicht aufgehoben (RF, 199). Nach dem Zusammenprall der französischen Kavallerie mit den deutschen Panzerdivisionen erscheint die Straße gleichsam als riesige Müllhalde, auf der sich kaum mehr einzelne Gegenstände oder Körper unterscheiden lassen: 206 „Die Offenbarung an Johannes“ 6, 7f.: „Dann brach das Lamm das vierte Siegel auf. Ich hörte, wie die vierte der mächtigen Gestalten sagte: ‚Komm! ’. Da sah ich ein leichenfarbenes Pferd. Sein Reiter hieß Tod, und die Totenwelt folgte ihm auf den Fersen. Ein Viertel der Erde wurde in ihre Hand gegeben. Durch das Schwert, durch Hunger, Seuchen und wilde Tiere sollten sie die Menschen töten.“ 217 […] cet inextricable, monotone et énigmatique sillage des désastres, c’est-à-dire même plus des camions, ou des charrettes brûlées, ou des hommes, ou des enfants, ou des soldats, ou des femmes, ou des chevaux morts, mais simplement des détritus, quelque chose comme une vaste décharge publique répandue sur des kilomètres, et exhalant non pas la traditionnelle et héroïque odeur de charnier, de cadavre en décomposition, mais seulement d’ordures, simplement puant […] (RF, 192). 207 In eine ähnliche motivische Richtung weisen auch die von Georges erinnerte Begegnung mit dem ausgemergelten, einer Leiche ähnelnden Mann (RF, 106-110) sowie die dreimalige Begegnung mit dem toten, am Straßenrand verwesenden Pferd (u.a. RF, 99). Beide Figuren - Mann und Pferd - symbolisieren verschiedene Auswirkungen des Krieges: Der ausgemergelte, einem Toten ähnelnde Mann weist auf die auch in der „Offenbarung an Johannes“ beschriebene Hungersnot hin, der die Menschen zum Opfer fallen sollen; das tote Pferd auf die Macht des ‚Schwertes’, welches ebenfalls das Leben von Mensch und Tier zu beenden imstande ist. Darüber hinaus spielt der Gestank des „sillage des désastres“ auf die mit dem Chaos des Krieges einhergehende Seuchengefahr an, die eine Folge der unbeseitigten Kadaver und Leichen sowie der nicht mehr kontrollierten Trinkwasserversorgung ist. Wie bereits das Ardennendorf wird in La Route des Flandres auch die titelgebende Straße in zweifacher Hinsicht zu einem fiktiven Nicht-Ort, welche diejenigen, die sie beschreiten, nie ans Ziel gelangen lassen wird. Dies geschieht zum einen durch die geographische Inkongruenz von Straßennamen und bezeichnetem Ort, zum anderen durch die mythologische Aufladung der Straße als Schauplatz von Krieg und Tod. Die wiederholte Anspielung auf die Apokalypse des Johannes versetzt die Schwadron der französischen Reiter von der innerhalb der Fiktion ‚realen’ Straße in einen überzeitlichen, mythischen Raum, der fiktive Züge - geprägt durch die allgegenwärtige Figur des Todes und die Aufhebung der Tageszeiten - trägt. 208 Dieses metafiktive Spiel mit zentralen Elementen aus fremden fiktionalen Gattungen bzw. Texten inszeniert die innertextuelle Fiktivität der eigenen histoire. 207 Vgl. auch RF, 102, 104. 208 Laut D. Alexandre liegt die besondere Bedeutung der „Offenbarung an Johannes“ für La Route des Flandres in der Umkehrung der biblischen Offenbarungsidee: In der Bibel sei der Sinn der Apokalypse die finale Offenbarung, die dem Alten und Neuen Testament erst Sinn verleihe. In La Route des Flandres hingegen scheitere die Suche nach Wissen; das Weltende erweise sich als Betrug und die finale Krise bleibe offen und ungelöst (D. Alexandre: „Simon, une H/ histoire sans fin? “ (1997), S. 113.). 218 4.4.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität Neben der metafiktiven Thematisierung und Inszenierung der Erfundenheit bzw. ‚Nicht-Wirklichkeit’ der Romanfiguren, einiger Orte sowie zentraler Handlungselemente innerhalb der fiktionalen Grenzen des Romans wird darüber hinaus in La Route des Flandres auch die Fiktionalität des Textes - seine Zugehörigkeit zur Gattung fiktionaler Erzählliteratur - explizit und implizit offen gelegt. So erweist sich einerseits, wie ich in einer früheren Arbeit habe zeigen können, 209 die „Illusion eines Gedächtnisstroms“ als ein relativ konventioneller Erzählakt, der die innerfiktionale Realität als dialogisches, fiktionales Konstrukt enthüllt. Der Protagonist Georges fungiert in dieser Hinsicht weniger als ‚Erinnerungssubjekt’ denn als seinen Erzählprozess aktiv gestaltender und auf die Erzählungen Dritter zurückgreifender Erzähler, der sich jedoch zuletzt in den von ihm erinnerten Stimmen auflöst und auf diese Weise dekonstruiert wird. Auch wird das Erzählen selbst und insbesondere seine Hypertrophie in metanarrativen Passagen thematisiert, wenn die fiktionale Kommunikationssituation bestehend aus dem (impliziten) Autor, der erzählten Geschichte und dem (impliziten) Leser innerhalb der Fiktion in Form von mehrfachen mises en abyme gespiegelt wird. Schließlich verweisen in Simons Roman verschiedene intertextuelle und intermediale Zitate fremder fiktionaler Gattungen wie das Märchen, der Mythos, die klassische Tragödie, die Operette sowie die Übernahme ihrer typischen narrativen Muster auf die spezifische Fiktionalität des eigenen Textes bzw. auf seine fiktionalen Konstitutionsverfahren. 4.4.3.1 Die narrative Fiktion der Erinnerung: Georges zwischen Erinnern und Erzählen Von der Forschung wird allgemein angenommen, dass Simons Roman La Route des Flandres den mit literarischen Mitteln vertexteten Gedächtnisstrom des Protagonisten Georges präsentiert, der sich zu einem im Text nicht konkret genannten Zeitpunkt seines Lebens seiner Vergangenheit erinnert und diese erneut vor seinem ‚inneren Auge’ durchlebt. 210 Typisch 209 Sabine Waltemate: Die erzähltechnische Gestaltung des Gedächtnisstroms in Claude Simons La Route des Flandres. Unveröffentlichte Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. (1999). 210 Hier liegt laut S. Schreckenberg auch der wichtigste Unterschied zwischen den ähnlich angelegten Romanen La Route des Flandres und Les Géorgiques begründet: Während Les Géorgiques einen distanzierten Erzähler präsentiert, der in erster Linie Texte sichtet, verwaltet und verarbeitet, findet sich in La Route des Flandres ein Protagonist, der als Ich- oder als personaler Erzähler mit der Unzulänglichkeit seiner Erinnerung ringt (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 93.). 219 für diesen teilweise in der Erzählform des inneren Monologs präsentierten, fiktiven Gedächtnisstrom - diesen „monologue remémoratif“ - ist die Verschmelzung von früher Erlebtem und aktuellem Erinnern: „[…] le passé est revécu dans le présent d’une mémoire en activité […]“. 211 Georges fungiert also in diesem Sinne als Reflektorfigur, durch deren Augen der Leser die erinnerte Realität wahrnimmt, 212 und erscheint dabei sowohl unter dem Personalpronomen der dritten Person Singular als auch in der ‚Ich’-Form. Interessanterweise verwandelt sich der Reflektor Georges an verschiedenen Stellen im Text in einen Ich-Erzähler und überschreitet damit die Grenzen des sich seinen Erinnerungen überlassenden Bewusstseins. Die Illusion eines unvermittelt fließenden Bewusstseinsstroms wird auf diese Weise nachhaltig untergraben und der Erinnerungsprozess als Erzählakt offengelegt. 213 Im Unterschied zu dem eher ‚stummen’ Reflektor „erzählt [eine Erzählerfigur], berichtet, zeichnet auf, teilt mit, übermittelt, korrespondiert, referiert aus Akten, zitiert Gewährsmänner, bezieht sich auf ihr eigenes Erzählen, redet den Leser an, kommentiert das Erzählte usw.“ 214 Auch Georges übernimmt in La Route des Flandres des öfteren die Rolle eines Erzählers, wenn er z.B. metanarrativ seinen sprachlich-narrativen Erinnerungsvorgang kommentiert und die Funktionsweise seines Gedächtnisses erklärt: „[…] non, rien d’organisé, de cohérent, pas de mots, de paroles préparatoires, de déclarations ni de commentaires, seulement cela: ces quelques images muettes, à peine animées, vues de loin“ (RF, 47). 215 211 A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 266. Uneinigkeit herrscht in der Sekundärliteratur über den Status - mündlich oder verschriftlicht - des inneren Monologs in La Route des Flandres. So weist B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe- Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 313, die Annahme zurück, dass es sich bei der Erzählsituation um eine „solche des Schreibens, eines fiktiven literarischen Unternehmens, der Schaffung eines Dokuments individueller Wirklichkeitserfahrung“ handeln könnte, da weder eine Thematisierung des Schreibakts zu entdecken sei, noch Georges den Hang zum Schreiben zeige, vor allem aber seine Ablehnung des Schreibens als sinnvolle Aktivität ein solches Projekt unglaubwürdig erscheinen lasse. Die konträre Ansicht vertreten K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 341: „Niederschrift eines Gedächtnisstroms“ und vor allem W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 65: „[…] am Schreibtisch schließlich - wie ich die extradiegetische Äußerungssituation vereinfachend bezeichnen will - nimmt er den Dialog mit seinem Vater wieder auf […]“. 212 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 213 A.M. Miraglia zollt dieser narratologischen Ambivalenz Tribut und bezeichnet Georges als „narrateur-monologueur“ (A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269.). 214 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 215 Ebenso lässt die Dialogregie auf die Anwesenheit eines Erzählers schließen, wenn Figurenrede indirekt wiedergegeben wird und damit zur eigentlichen Erzählung ge- 220 Ferner sind die zahlreichen Erklärungen, Ergänzungen, Berichtigungen, Selbstbefragungen und Modalisationen des Erzählten zu nennen, mittels derer sich Georges wiederholt auf das von ihm Erinnerte bezieht: „[…] des voix donc, irréelles et geignardes criant quelque chose (mise en garde, avertissement)“ (RF, 17) oder „[…] tandis que les quatre cavaliers avançaient toujours (ou plutôt semblaient se tenir immobiles […])“ (RF, 68). Da Georges hier seine Geschichte aktiv ausgestaltet, kehrt er „au discours personnel et fortement évaluatif“ 216 zurück und tritt somit als Erzähler auf, der sich seiner Botschaft sehr bewusst ist. 217 Darüber hinaus gefährdet die Einleitung von Georges’ Gedanken und Erinnerungen mittels verba cogitandi 218 die Illusion eines Bewusstseinsstroms, denn „[…] dire ‘je me rappelle’, ce n’est pas encore se souvenir mais dire qu’on se souvient. On n’est pas dans le récit de mémoire mais dans le discours de (éventuellement sur) la mémoire.“ 219 Hier präsentiert sich Georges’ Gedächtnis erneut nicht in actu. Stattdessen wird die ordnende Hand eines auktorialen Erzählers bzw. eines auktorial handelnden Bewusstseins sichtbar. Als Ich-Erzähler verkörpert Georges in La Route des Flandres verschiedene Typen; dabei hängt sein Auftreten vor allem davon ab, in welchem Verhältnis er zu den erinnerten Ereignissen steht. Auf der eigentlichen - intradiegetischen - Erzählebene liegt der Schwerpunkt der Darstellung im erzählenden Ich: So erscheint er in den Binnenerzählungen, wenn er die Erlebnisse anderer berichtet, als ein auktorialer Ich-/ Er-Erzähler, der nicht hört, vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 96. In diesen indirekten Redezitaten kommt es häufig zu einer Verschmelzung von Erzähler- und Figurenrede, wenn Georges z.B. eine Bemerkung Sabines indirekt zitiert: „la main […] faisant dire […] à Sabine qu’il avait une main de pianiste, qu’il aurait dû faire de la musique, qu’il avait certainement gâché, gaspillé là un don, une chance unique […]“ (RF, 223). Hier wird hinter Sabines Stimme die von Georges hörbar, der aufgrund seiner Kriegserlebnisse dem Sinn und Zweck von Kultur kritisch gegenübersteht und mit dieser desillusionierten und kulturpessimistischen Haltung eine andere Meinung als seine Eltern vertritt. So färben das modalisierende Adverb „certainement“ sowie die Synonyme „gâché“ und „gaspillé“ die indirekte Rede Sabines ironisch ein. (Ebd., S. 249.) 216 D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237. 217 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 197. K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 351, bemerkt, dass hierdurch der Roman eben doch nicht als „völlig unkontrollierte[r] Gedächtnisstrom“ erscheint. Ebenso Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 95, und J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 493. Diese Kommentare können auch als Versuch eines Bewusstseins interpretiert werden, die erinnerte Realität mit der größtmöglichen Präzision zu erfassen. 218 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 243. 219 P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompe-l’œil.“ (1997), S. 189, 192. Ebenso R. Barny: „Simon, La Route des Flandres, 1ère partie. Une exposition? “ (1998), S. 239; D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237. 221 am Ablauf der Zeit teilhat, sondern die Handlung von einem festen Punkt aus berichtet. Ein Übergang in das erlebende Ich erfolgt hingegen, wenn er bestimmte Episoden imaginiert und diese an der Stelle des eigentlichen Protagonisten erlebt (dies geschieht z.B. beim Pferderennen, das er aufgrund von Iglésias spärlichen Informationen imaginativ rekonstruiert). Schließlich tritt Georges auch als peripherer Ich-Erzähler auf, wenn er von Ereignissen berichtet, bei denen er selbst zwar anwesend - z.B. als Beobachter und Augenzeuge - aber nicht als Protagonist beteiligt war. Hier werden die Ereignisse von ihm aus einer gewissen räumlichen und zeitlichen Distanz zum Geschehen geschildert. 220 Dieser Typ des Ich-Erzählers zeichnet sich oftmals dadurch aus, dass er das Erzählte aus seiner Einbildungskraft wiederauferstehen lässt und dabei keinen Unterschied zwischen der Evokation aus der Erinnerung und jener aus der Phantasie macht. 221 Georges befindet sich beispielsweise als Erzähler an der Peripherie des Geschehens, wenn er die Umstände von de Reixachs Tod narrativ vermittelt und versucht, sich in dessen Lage zu versetzen: „feignant toujours de ne rien voir pensif et futile sur ce cheval tandis qu’il s’avançait à la rencontre de sa mort […]“ (RF, 295). Je weiter sich Georges in seinem Gedächtnisstrom derjenigen Erinnerung annähert, die diesen vermutlich auslöst - der plötzliche Abbruch der Liebesbeziehung zu Corinne -, desto mehr konzentriert sich die Darstellung der Ereignisse im erlebenden ‘Ich’, wie die an Assoziationen und Vergleichen reiche Beschreibung des Geschlechtsaktes zeigt: […] mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre avec un bruit de soie rencontrant cette touffe broussailleuse poussant comme étrangère parasite sur sa nudité lisse, je n’en finissais pas de la parcourir rampant sous elle explorant dans la nuit découvrant son corps immense et ténébreux, comme sous une chèvre nourricière, la chèvre-pied […] suçant le parfum de ses mamelles de bronze […] (RF, 242f.). 222 Hier wird die Erzähldistanz insbesondere durch das gehäufte Auftreten der participes présents verringert, 223 die dem Leser eine Darstellung in actu 220 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 263f. 221 Ebd., S. 275. 222 Vgl. ebd., S. 273: „Je kürzer die Erzähldistanz, je näher das erzählende Ich dem erlebenden Ich steht, desto enger ist der Wissens- und Wahrnehmungshorizont des erlebenden Ich und desto geringer ist die Wirkung der Erinnerung als Katalysator, der die Erlebnissubstanz zu klären imstande ist.“ Ferner verweist Stanzel auf die Bedeutung der Metonymie bei der Darstellung von Außenwelt im Reflektor-Modus. (Ebd., S. 103) 223 B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 208f., macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Distanz zwischen dem Leser und der erzählten Handlung dann wieder größer wird, wenn sich die participes présents auf die durch den Namen ‚Georges’ bezeichnete Person beziehen: z.B. „Georges disant“ (RF, 57). Hier ist die Handlung einer bestimmten Person eindeutig zuzuordnen. 222 suggerieren sollen. Wenn Georges also von Ereignissen berichtet, an denen er als ‚Held’ beteiligt war, wandelt er sich vom peripheren zum quasiautobiographischen Erzähler. Hier tritt das erzählende ‚Ich’ zugunsten des erlebenden ‚Ich’ in den Hintergrund; der Erinnerungsvorgang wird nun nicht mehr thematisiert. 224 Neben diesen auf die Erzählerfigur bezogenen Merkmalen, ist auch die Verwendung von Zeitadverbien wie „maintenant“, „à présent“, „puis“ etc. dem Gedächtnis im Grunde unangemessen, da dieses „[…] ne pense pas le temps, c’est-à-dire pense en dehors du temps, pense (par) images, qui lui viennent découpées et qui s’accouplent“. 225 Durch die zeitliche Strukturierung der Ereignisse wird jedoch eine gewisse Kontrolliertheit von Georges’ Erinnerungen zum Ausdruck gebracht. In diesem Sinne ist auch der Tempusgebrauch zu interpretieren, da „lorsque des verbes à un mode personnel apparaissent pour référer aux événements, ce sont des temps du passé (passé composé, imparfait, passé simple). C’est ce qui permet de dire que ce texte romanesque est encore une narration.“ 226 So berichtet Georges die Ereignisse während der Sommermonate nach Iglésias Fortgang aus dem Gefangenenlager in geraffter Form: […] (mais cette fois Iglésia n’était plus là: tout l’été ils le passèrent, une pioche (ou, quand ils avaient de la chance, une pelle) en main, à des travaux de terrassement, puis, au début de l’automne, ils furent envoyés dans une ferme arracher les pommes de terre et les betteraves, puis Georges essaya de s’évader, fut repris […], puis il fut ramené au camp et mis en cellule, puis Blum se fit porter malade et rentra lui aussi au camp, et ils y restèrent tous les deux, travaillant pendant les mois d’hiver […] (RF, 172f.). Abschließend bleibt festzuhalten, dass oftmals speziell die stilistischen Mittel, die eigentlich die Illusion der Unmittelbarkeit und Simultaneität des sich unwillkürlich und ungeordnet erinnernden Bewusstseins erzeugen sollen (Abtönung des Erzählten, Zeitadverbien), vor allem im Kontext mit anderen Merkmalen einer Erzählung als Zeichen für die Präsenz einer Erzählerfigur zu werten sind. In La Route des Flandres wird somit über weite Strecken des Textes die Präsentation eines Gedächtnismonologs zugunsten einer Ich-Erzählung aufgegeben. 227 Darüber hinaus offenbart der Text dadurch seine Zugehörigkeit zur Gattung fiktionaler Erzähltexte, dass er auf für dieses Genre typische narra- 224 Vgl. hierzu F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 268ff. 225 Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 96. Vgl. auch K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 351f. 226 J.-M. Barbéris: „Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 144, Anm. 1. Ebenso: J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 165. 227 Diese Ansicht vertreten auch D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 81, und M. Evans: Claude Simon and the Transgressions of Modern Art. (1988), S. 26. 223 tive Textkonstitutionsverfahren wie z.B. die Vermittlung der fiktionalen Welt durch eine (Ich-)Erzählerfigur zurückgreift. 4.4.3.2 Innerfiktionale Realität als dialogisches, fiktionales Konstrukt Ein konstitutives Merkmal des Erzählverfahrens in La Route des Flandres ist, dass die Handlung überwiegend innerhalb von bestimmten Gesprächssituationen vermittelt wird. Dies geschieht vor allem in den Gesprächen zwischen Blum und Georges im Gefangenenlager, in denen beide eine jeweils andere Version des bereits vom Anderen Gesagten postulieren. 228 So greift Blum Georges wiederholt an, wenn er ihn daran erinnert, dass es sich bei dessen Thesen zu der Familienlegende um den mysteriösen Tod des Vorfahren nur um Vermutungen handelt. 229 Zudem beutet Blum Georges’ Erzählungen sogar noch parasitär aus, um sie als Grundlage für seine eigenen Interpretationen zu verwenden, deren Erfundenheit er jedoch explizit deutlich macht. 230 Auf diese Weise entstehen zwei sich widersprechende Versionen zum Tod des Vorfahren, wobei Georges vorgibt, über ‚sicheres’ Quellenmaterial zu verfügen, wie die von seiner Mutter kolportierte Familienlegende sowie verschiedene Erbstücke aus dem Familienbesitz. 231 228 Hierzu W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 72ff. Vgl. M. Silverman: „Fiction as Process: The Later Novels of Claude Simon.“ (1985), S. 63, und H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364, der das Verhältnis zwischen Georges und Blum als „[…] das einer reziproken Konstruktion und Destruktion der das Geschehen ordnenden Geschichten” beschreibt. A. C. Pugh macht hingegen deutlich, dass „the desire for ‚knowledge’“ in La Route des Flandres stets auf einen diskursiven Ursprung und damit auf das Problem des „‘original’ discourse“ zurückgeführt werde. (A.C. Pugh: „Defeat, May 1940: Claude Simon, Marc Bloch, and the Writing of Disaster.“ (1985), S. 62.) Nach S. Sykes erzeugen Rede und Gegenrede von Georges und Blum „[…] une fiction possible mais incessamment minée.“ (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 85.) 229 Vgl. RF, 174: „[…] et Blum: «Très bien, excuse moi. Je croyais que ça t’amusait: tu es là à ressasser, à supposer, à broder, à inventer des histoires, des contes de fées […] »“. Ebenso RF, 175, 185, 189. Vgl. ebenso Blums Einwand zu den Ereignissen um Corinne, Iglésia und de Reixach: „«Mais tu ne la connais même pas! dit Blum. […] »“ (RF, 56). A. Duncan weist auf die satirischen Aspekte der ‘Gegenversionen’ Blums hin (A. Duncan: „Satire, Burlesque and Comedy in Claude Simon.“ (2002), S. 106f.). 230 RF, 79f. („trompé […] par son propre cerveau, ses idées“), 175-189 („cet autre cocu“ Analogie de Reixach und Reixach), 263f. („[…] trouvant donc sa femme occupée à mettre en pratique ces principes naturistes et effusionnistes dont n’avaient pas voulu les Espagnols“), 266 („quelque malformation honteuse“; „Ou peut-être encore avait-il simplement des dettes“). 231 Vgl. W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 77; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269. Vgl. N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 125. W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisverein- 224 Blums Kritik kann als Verkörperung des Zweifels interpretiert werden, der Georges angesichts seiner Imaginationen und seines Wissens aus zweiter Hand befällt. 232 Der Roman nimmt hier seine eigene Kritik - eine Autokritik - vor, die „met en évidence le hiatus existant entre le réel et le symbolique, d’un côté les faits et leur narration, de l’autre le désir et sa formulation“ 233 ; der dabei entstehende „co-texte dénonce bien la vanité du récit“ 234 . Dies bewirkt zum einen, dass die sich gegenseitig in Frage stellenden Versionen von Georges und Blum metafiktional die Fiktionalität des diese transportierenden Textes in den Vordergrund rücken. Zum anderen wird auf die Rolle, welche die Imagination in der retrospektiven Wahrnehmung der Vergangenheit spielt, aufmerksam gemacht. 235 Darüber hinaus lässt sich die Polyphonie der Erzählerstimmen in La Route des Flandres als metanarrative Inszenierung der traditionellen Mehrstimmigkeit des Romans interpretieren; dieser ist in Anlehnung an das von J. Kristeva entwickelte Konzept der Intertextualität aus verschiedenen Diskursen konstruiert: „[…] der Dialog innerhalb eines Werkes ist damit gleichzeitig ein Dialog mit den fremden Wörtern und Reden außerhalb des Werks.“ 236 Die Georges’ und Blums Versionen zugrundeliegenden Bildquellen, wie z.B. die Gravur, stehen dabei stellvertretend für die Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens. Dieses steht ebenfalls mehreren Interpretationen offen und verweist somit nicht mehr auf eine eindeutig umrissene Wirklichkeit. 237 barung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 142, führt ferner aus, dass Georges’ Informationsquellen allein schon aufgrund ihrer Ausdrucksweise („kryptische Zitate“ und Idiolekt) nicht glaubwürdig seien. 232 Vgl. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 40. Ebenso J.-Y. Debreuille: „Quête des indices et perte des repères: description d’une histoire et histoire d’une description.“ (1997), S. 92f. 233 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 173. Vgl. zur Auto-Kritik des Textes auch A. Cresciucci: „Présentation.“ (1997), S. 6f. 234 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 173. 235 Vgl. hierzu A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270f.; A.C. Pugh: „Defeat, May 1940: Claude Simon, Marc Bloch, and the Writing of Disaster.“ (1985), S. 62. Ebenso M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 38: „Indeed the fictionality of all the narratives in the novel is further outlined by the interchangeability of the different discourses in which the narratives are set.“ D. Alexandre weist darüber hinaus darauf hin, dass Blums Kritik auch eine Kritik am Diskurs der Geschichte bzw. an seiner Ausschlussfunktion impliziere (D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 172.). 236 M. Pfister: „Intertextualität.“ (1994), S. 215. Vgl. P. Waugh: „What is Metafiction and Why are they saying such awful things about it? “ (1995), S. 43: Der Roman „[…] assimilates a variety of discourses (representations of speech, forms of narrative) - discourses that always to some extent question and relativize each other’s authority.“ 237 Hierzu W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 80f. 225 Die polyphonen Erzählerstimmen in La Route des Flandres demontieren somit einerseits die „dominant ‘voice’ of the omniscient, godlike author“. 238 Andererseits wird die Unmöglichkeit einer adäquaten sprachlichen Repräsentation der außersprachlichen Realität thematisiert: Diese lässt sich aufgrund ihrer Polyvalenz nicht auf einen primären Sinn reduzieren und kann daher auch nicht auf eindeutige Weise im Roman abgebildet werden. In La Route des Flandres wird auf diese Weise mit der traditionellen Mehrstimmigkeit des romanesken Genres gespielt und gleichzeitig die Unmöglichkeit einer retrospektiven verbindlichen Deutung von - vergangener - Realität aufgedeckt. 239 Auf diese Weise wird einerseits metafiktional auf die besonderen Konventionen fiktionaler Erzählliteratur verwiesen und andererseits werden in Form eines metafiktiven Kommentars wiederum Teile der histoire als innerfiktional ‚erfunden’ bzw. fiktiv ‚entlarvt’. 4.4.3.3 Die Dekonstruktion der Erzählinstanz In Simons Roman lässt sich eine fortschreitende Instabilisierung des narrativen Zentrums beobachten, die zuletzt in seiner Auflösung gipfelt. Diese Destruktion der Erzählinstanz wird durch zwei gegenläufige Prozesse verursacht: zum einen durch die Hypertrophierung der narrativen Instanzen, mithin der Aufspaltung des Erzählzentrums in mehrere Erzähler; zum anderen durch die Vereinigung aller zunächst noch unterscheidbaren Erzählerstimmen in einer einzigen Stimme. Im Folgenden soll zunächst die narrative Vermittlung des Romans beschrieben werden, bevor untersucht wird, welchen Auflösungsprozessen diese unterliegt. Wie bereits skizziert wurde, präsentiert La Route des Flandres nach allgemeiner Auffassung den inneren Monolog des Protagonisten Georges, der jedoch - wie eine genauere Analyse des Erzählverfahrens ergeben hat - neben seiner Reflektor-Funktion auch die Rolle eines relativ konventionellen Erzählers innehat und entweder in der Ich- oder in der Er-Form in Erscheinung tritt. Doch erweist sich die narrative Vermittlung der Handlung in Simons Roman als weitaus vielschichtiger als auf den ersten Blick ersichtlich. So lässt sich nicht nur eine Verdoppelung der Erzählerfigur, sondern sogar ihre Verdreifachung konstatieren: Neben dem bereits bekannten personalen Erzähler sowie dem (autobiographischen) Ich-Erzähler findet sich auch ein anonym bleibender, körperloser Erzähler am Roman- 238 P. Waugh: „What is Metafiction and Why are they saying such awful things about it? “ (1995), S. 43. 239 Vgl. ebenso M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 29: „[…] its [La Route des Flandres] very multiplicity of direction, reflecting the polyphonic ‘vie de sons’ of fictional writing […]“. Ferner W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 141. 226 ende. 240 Keine Klarheit ist hingegen bezüglich der Erzählsituation am Romananfang zu erlangen; hier lässt die fehlende Markierung als Rede- oder Gedankenzitat ebenfalls auf eine genuine Ich-Erzählung schließen. 241 D. Alexandre hat in einer Arbeit zum Erzählverfahren in La Route des Flandres den Versuch unternommen, die verschiedenen Erzählebenen des Romans in einen Zusammenhang mit den jeweiligen Erzählern zu bringen, und unterscheidet dabei drei Ebenen der Romanhandlung: eine extradiegetische, eine (intra)diegetische sowie eine metadiegetische. 242 Abbildung 11: Übersicht über die Erzählebenen in La Route des Flandres und die dort jeweils auftretenden Erzählertypen 240 Allerdings tritt in La Route des Flandres überwiegend ein autobiographisch-auktorialer bzw. personaler Erzähler in der dritten Person Singular in Erscheinung, da die Form der ersten Person bis auf wenige Ausnahmen das Subjekt eines Gedankenbzw. Redezitats des Er-Erzählers darstellt: Er: S. 25-246, 256-238, 263-271; Ich: S. 146-156, 241- 263, 271-280, 289-296; anonymer Erzähler: S. 280-289. 241 Vgl. D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 240. 242 Ich habe mich bei der Erstellung der Übersicht an D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170, orientiert, wobei ich auf der extradiegetischen Ebene darüber hinausgehend einen Reflektor und einen auktorialen Erzähler unterscheide. Alexandre wiederum hat Genettes Einteilung der personne und der niveaux narratifs übernommen, und bezeichnet mit narrateur hétérodiégetique „[…] un narrateur absent de l’histoire qu’il raconte“, und mit narrateur homodiégétique einen „[…] narrateur présent comme personnage dans l’histoire qu’il raconte“. (G. Genette: Figures III. (1972), S. 252.). Genette definiert ferner „[…] tout événement raconté par un récit est à un niveau diégétique immédiatement supérieur à celui où se situe l’acte narratif producteur de ce récit.“ Die Produktion der Erzählung ist „un acte (littéraire) accompli à un premier niveau, que l’on dira extradiégétique, les événements racontés dans [ce récit] sont dans ce premier récit, on les qualifiera donc de diégétiques, ou intradiégétiques; les événements racontés dans [ce] récit […], récit au second degré, seront dits métadiégétiques.“ (Ebd., S. 238f.) Erzählertyp Erzählebene Erzähler ohne Leib (heterodi egetisch) Erzähler mit Leib (homodiegetisch) Rahmene rzä hlung (extradiegetisch) Entsteh ung ssituation des Gedächtnisstro ms (unbestimmt) Auktorialer Erzähler, anonym in Teil III ‚Er‘-Form Geo rges als Reflektor Wechsel ‚Ich’un d ‚Er’-Form Erzählung (intradiegetisch) Erzähl-/ Erinn erungssituati on en Georges, Sabine, Blum, „on dit“, (Vater) Geo rges, Blum, Iglésia, Wack, Martin Binnenerzählungen (metadiegetisch) Rede- / Gedankenzitate, Imaginati one n Revolutionsgeneral (de) Reixach, Affäre Iglésia u. Corinne, Dreiecksgeschichte im Ardennendorf a lle Erlebnisse des Krieges, d er Gefangenschaft, d er Nachkriegszeit (Georges) 227 Die äußere, extradiegetische Ebene umfasst die nicht eindeutig festlegbare Rahmenhandlung des Romans, wobei die Sekundärliteratur entweder von einer Schreibsituation des Protagonisten Georges’ ausgeht (und damit den Gedächtnisstrom von La Route des Flandres als schriftlich fixiert betrachtet), oder aber die letzte Liebesnacht selbst, nach Corinnes Fortgehen, als Präsens des Erinnerns annimmt. 243 Auf dieser Ebene der nicht näher bestimmten Rahmenhandlung treten nun zwei Erzählerfiguren in Erscheinung. Die erste ist als heterodiegetisch zu definieren, da sie keine körperliche Präsenz in der Welt der Charaktere besitzt. Vielmehr betrachtet sie einem auktorialen Erzähler gleich das Geschehen von einem übergeordneten Standpunkt aus, 244 von dem aus sie die Dialog- und Gedankenregie des Erinnerungssubjekts Georges kontrolliert, indem sie mit Hilfe von verba dicendi bzw. verba cogitandi seine eigenen, ebenso aber auch die Gedanken und Beobachtungen der anderen Charaktere ankündigt. Allerdings haben diese Formeln „[…] fast nur funktionellen Charakter und [werden] daher vom Leser in der Regel gar nicht als Äußerung einer Erzählerfigur registriert.“ 245 In La Route des Flandres tritt dieser allwissende Erzähler vor allem gegen Ende des Romans auf, wo er als anonymer Erzähler Vermutungen über die vier Romanfiguren - den Capitaine und seinen Sous-lieutenant sowie Georges und Iglésia - anstellt, die auf dem Weg in den Hinterhalt sind. Der außenperspektivische Blick dieses Erzählers lässt die vier Soldaten so erscheinen, als ob sie sich auf einer überdimensionalen Generalstabskarte vorwärtsbewegten. 246 Außerdem ist auf der extradiegetischen Ebene des Romans die Anwesenheit eines homodiegetischen Erzählers, also eines persönlichen Erzäh- 243 Vor allem W. Nitsch plädiert für eine schriftliche Fixierung des Gedächtnisstroms und identifiziert als „chronologisch letztes Gespräch des Romans [das] von Schreibtisch zu Schreibtisch“ zwischen Vater und Sohn (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 96.). Auch R. Birn vertritt die These, dass „La Route des Flandres is a novel about its own genesis [: ] [i]t relates the story of George’s [sic] struggle to become an artist […]“. (R. Birn: „The Road to Creativity: Eighteenth-Century Parody in The Flanders Road.“ (1981), S. 88.) 244 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 16, 170. D. Alexandre unterstreicht, dass dieser anonyme extradiegetische Erzähler die Standpunkte der intradiegetischen Erzähler Georges, Blum und Iglésia übernimmt. (D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 176.) 245 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 243. Vgl. ebenfalls J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 156, der die Dialogregie der Erzählfunktion der Tiefenstruktur zuschreibt, ohne dass auf der Oberflächenstruktur eine Erzählerfigur präsent ist. 246 Vgl. RF, 280: „cherchant à nous imaginer nous quatre et nos ombres nous déplaçant à la surface de la terre, minuscules […]“. Hier ist zunächst noch ein persönlicher Erzähler - Georges - zu entdecken, der jedoch immer mehr in den Hintergrund tritt. In der Folge sind es mehrere participes présents, die die Handlungen der vier Soldaten vermitteln: „luttant“ (282), „entrevoyant“ (285), „découvrant“ (285). 228 lers, festzustellen. Dieser Erzähler nimmt als „Georges“ die Gestalt eines Reflektors an, der den Gedankenmonolog „[…] in [seinem] Bewusstsein widerspiegelt, […] empfindet, registriert, aber immer stillschweigend“, 247 d.h. ohne seine Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle zu verbalisieren, da er sich in keiner Kommunikationssituation mit dem Leser befindet. Er besitzt in der Welt seiner Erlebnisse (also auf der Ebene der eigentlichen Handlung) ein „Ich mit Leib“, 248 indem er als erlebendes ‚Ich’ in Interaktion mit den übrigen Romanfiguren Blum, Iglésia und Wack, Corinne und de Reixach tritt. Ein Beispiel für das Auftreten dieser Reflektorfigur findet sich besonders im letzten Teil des Romans, wenn Georges in der Liebesnacht mit Corinne seine Empfindungen quasi in actu vermittelt: „[…] mes mains ma langue pouvant la toucher la connaître m’assurer, mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre avec un bruit de soie rencontrant cette touffe broussailleuse poussant comme étrangère parasite sur sa nudité lisse […]“ (RF, 242f.). Es sind vor allem diese assoziativen Vergleiche, die dem Leser die Unmittelbarkeit von Georges’ Sinneswahrnehmungen und Gedanken suggerieren sollen. Auf der sich anschließenden Ebene - auch intradiégétique genannt - findet die eigentliche Handlung des Romans statt. Auf dieser Ebene sind wiederum die beiden verschiedenen Erzählertypen präsent, wobei als heterodiegetische Erzähler neben Georges nun auch Sabine, Blum und „la rumeur“ fungieren; diese tauchen in den von ihnen berichteten Ereignissen nicht als Person auf (so z.B. Sabine in dem Familienklatsch um den Tod des Vorfahren Reixach). Als homodiegetische Erzähler erscheinen dagegen Georges, Blum, Iglésia, Wack und Martin. 249 Diese berichten ihre eigenen Erlebnisse, sie besitzen also in ihren Erzählungen ein „Ich mit Leib“. Die dritte, metadiegetische Ebene umfasst die von den Romanfiguren auf der Ebene der eigentlichen Handlung - der intradiegetischen Ebene - berichteten oder erinnerten Ereignisse. So schildern die heterodiegetischen Erzähler Georges, Sabine, Blum und „la rumeur“ die Begebenheiten um den Vorfahren Reixach, die Affäre zwischen Iglésia und Corinne sowie die Dreiecksgeschichte zwischen den Bauern im Ardennendorf. Sie kommen in ihren eigenen Geschichten jedoch nicht als Figuren vor. Hingegen berichten die homodiegetischen Erzähler der zweiten Ebene Georges, Blum, Iglésia, Wack und Martin ihre eigenen Erlebnisse; sie besitzen daher einen Körper in ihren Erzählungen. Hierzu zählen die Ereignisse während des Krieges (erlebt von allen), aber auch die Beziehung zwischen Iglésia und Corinne (erlebt von Iglésia), die Ereignisse im Lager (erlebt von 247 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 248 Vgl. ebd., S. 124. 249 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170. Allerdings taucht in Alexandres Einteilung der Vater, mit dem George kurz vor seiner Einberufung ein Gespräch führt, nicht auf. 229 Georges, Blum, Iglésia) sowie diejenigen nach dem Krieg (erlebt von Georges). Georges ist auf allen Ebenen als handelndes und als erzählendes ‚Ich’ präsent; er ist zugleich ein ‚Ich’ „qui voit“ und ein ‚Ich’ „qui parle“. 250 An dieser Stelle soll auch kurz der Wechsel der Personalpronomina zwischen der ‘Ich’- und der ‚Er’-Form analysiert werden. In der Sekundärliteratur herrscht keine Einigkeit über die narrativen Motive für diesen Wechsel. Während die einen den Bezugswechsel psychologisch als Depersonalisation des Protagonisten Georges deuten, der sich in einen Handelnden (‚Er’) und einen Erzählenden (‚Ich’) aufspaltet, 251 sehen andere in den unterschiedlichen Pronomina zwar „grammatisch, aber nicht inhaltlichthematisch unterscheidbare Erzählsubjekte“, 252 die dem inneren Monolog einfach nur „Relief“ 253 verleihen sollen. Doch lassen sich die Perspektivenwechsel zwischen erlebendem und erzählendem Ich nicht nur als eine psychologische Plausibilisierung des literarisch vermittelten Gedächtnisstroms lesen, sondern auch als metafiktionale Strategien, welche die Konventionalität bzw. die Fiktionalität des traditionellen Erzähler-Konzepts - seine Bedeutung als typisches Verfahren fiktionaler Erzähltexte - offen legen. 254 So hat J. Mecke in seiner Studie zur Zeitgestaltung in La Route des Flandres erstmals darauf hingewiesen, dass über die Dissoziierung des Protagonisten und Erzählers hinaus - also die Abspaltung des erzählten vom erzählenden Ich 255 - der pronominale Bezugswechsel sich als Dekonstruktion des zeitenthobenen, heterogene Momente zu einer Einheit synthetisierenden Erzählers interpretieren lässt: Dieser wird genauso wie 250 Vgl. zu der Erzähler-Held-Problematik G. Genette: Figures III. (1972), S. 203f. und v.a. S. 252f. 251 Vgl. hierzu u.a. K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 350f.; B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 210f.; R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 51; B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 314; J. Ricardou: „Un ordre dans la débâcle.“ (1960), S. 1018; D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 241; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269; D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 83, 89; M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 18. 252 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364. Auch: K. Passias: „Meaning in Structure and the Structure of Meaning in La Modification and La Route des Flandres.“ (1985), S. 324. 253 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 358. 254 So schlägt z.B. A.-C. Gignoux vor, den Wechsel zwischen den Personalpronomen als „réflexion sur le rôle du narrateur“ zu interpretieren (A.C. Gignoux: „La Route des Flandres, problémes de stylistique actantielle.“ (1998), S. 12.). 255 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 156, 159. 230 der Protagonist Georges vom Strom der Zeit erfasst und resorbiert und ist durch diesen Verlust seiner ursprünglich zeitenthobenen Position nicht mehr „Garant der transzendentalen Synthesis verschiedener, heterogener Momente“ und kann deshalb auch nicht mehr zeitliche Kontinuität verbürgen. 256 Das Subjekt der Erzählung wird ausgelöscht, womit „die Abwesenheit des seine eigene Geschichte transzendierenden Erzählers als substantiellem Träger des Bewusstseinsstroms bzw. als Fundament für die narrative Bauform des gesamten Romans gemeint“ ist. 257 Auch M. Evans interpretiert die aus dem Zerfall des Erzählers in ein ‚Ich’ und ein ‚Er’ und damit in eine Innen- und eine Außensicht resultierende multiple Perspektivik als Angriff auf das kohärente Erzählbewusstsein des Romans. 258 Der Leser richte dadurch gezwungenermaßen seine Aufmerksamkeit auf das Problem der narrativen Vermittlung; die Folge sei, dass die Illusion des unvermittelt fließenden Gedächtnisstroms durch die Offenlegung einer vermittelnden Instanz zerstört werde und der Leser sich von der ‚erinnerten’ Wirklichkeit distanziere und diese als ‚Fiktion’ erkenne. Darüber hinaus zerfällt das erinnernde Bewusstsein jedoch nicht nur auf der narrativen Vermittlungsebene, sondern Georges entfremdet sich auch auf der Handlungsebene von sich selbst. So kann er immer weniger einen Bezug zu seinem Spiegelbild, sogar zu seinen Gliedmaßen, herstellen und auch die eigene Stimme wird ihm schließlich fremd: „Georges continuant encore la phrase qu’il avait commencée ou plutôt entendant sa voix la continuer […] puis la voix cessant, les lèvres persistant peut-être encore à remuer sur du silence, puis cessant elles aussi […]“ (RF, 38). 259 Er wechselt 256 Vgl. RF, 28: „[…] quelque chose de majestueux, monumental : le cheminement même du temps, c’est-à-dire invisible immatériel sans commencement ni fin ni repère, et au sein duquel il avait la sensation de se tenir […]“. 257 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 161. Auf ähnliche Weise argumentiert auch D. Schmidt, die den Wechsel zwischen den beiden Personalpronomina als Versuch Simons interpretiert, die von G. Genette in seiner Theorie vorausgesetzte Existenz einer Erzählerfigur und klar unterscheidbarer narrativer Niveaus zu unterlaufen (D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 85, Fußnote 24.). 258 Vgl. M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 14: „The alternation of internal and external points of view is replaced by a stress on the undermining of the concept itself of point of view with reference to a work of fiction.“ Auch nach G. Roubichou: „La mémoire, l’écriture, le roman. Réflexions sur la production romanesque de Simon.“ (1995), S. 97, ist die ‚Er’-Form „[…] à la fois pronom de l’impersonnel, de la multipersonnalisation et de l’impersonnalisation“. Dagegen vertritt A. Cresciucci: „Présentation.“ (1997), S. 17, die Ansicht, dass der Perspektivenwechsel keine Gefährdung der Kohärenz darstelle, da es sich immer noch um dasselbe erinnernde Bewusstsein - Georges - handele. 259 Vgl. RF, 101, 105, 211, 223, 237. Die Dissoziation von Georges und seinem Spiegelbild lässt sich darüber hinaus als gescheiterte Mimesis interpretieren, gilt doch seit Sten- 231 an dieser Stelle von der Innenin die Außensicht, wenn er die Bewegung seiner eigenen Lippen zu ‚sehen’ glaubt. Je weiter sich der Roman und damit der Gedächtnisstrom ihrem Ende zuneigen, umso mehr schreitet Georges’ Identitätsverlust fort, bis zuletzt der Ritt in den Hinterhalt aus der Sicht eines anonymen Erzählers geschildert wird. 260 Die Dekonstruktion der Erzählerfigur auf der discours-Ebene findet somit ihre Entsprechung auf der Ebene der histoire. 261 In die gleiche Richtung weist die in La Route des Flandres feststellbare Vermischung von Erzähler- und Figurenrede: Diese ist ein weiteres Zeichen für den Kontrollverlust des Erzählers und Protagonisten über die von ihm erinnerte Vergangenheit; er ist immer weniger in der Lage, die erinnerte direkte Rede bestimmten Personen zuzuordnen. 262 Dabei findet die stärkste Angleichung in den Dialogen zwischen Georges und Blum statt, bis sich Georges schließlich nicht einmal mehr sicher ist, tatsächlich mit Blum gesprochen zu haben: […] et Georges (à moins que ce ne fût toujours Blum s’interrompant lui-même, bouffonnant, à moins qu’il (Georges) ne fût pas en train de dialoguer sous la froide pluie saxonne avec un petit juif souffreteux […] mais avec lui-même, c’est-à-dire son double, tout seul sous la pluie grise, parmi les rails, les wagons de charbon, ou peut-être des années plus tard, toujours seul (quoiqu’il fût maintenant couché à côté d’une tiède chair de femme), toujours en tête-à-tête avec ce double, ou avec Blum, ou avec personne: […] et Blum (ou Georges): «C’est fini? », et Georges (ou Blum): «Je pourrais continuer», et Blum (ou Georges): «Alors continue» […] (176f.). Erneut wird hier Georges’ Identitätsverlust deutlich: Er kann die eigenen Handlungen nicht mehr sicher seiner Person zuordnen 263 und ist schließlich nicht mehr imstande, zwischen sich und den von ihm erinnerten Figudhals Le Rouge et le Noir (1830) der Spiegel als Modell für Mimesis in der Fiktion bzw. im Roman. 260 RF, 282-289. 261 Allerdings geht der Wechsel von der Innenzur Außensicht innerhalb des erzählenden Bewusstseins nicht mit einem pronominalen Bezugswechsel einher. Vielmehr hängt auf der Vermittlungsebene der Wechsel zwischen der Außenperspektive eines Erzählers und der Innenperspektive eines Reflektors mit der Präsentation der Handlung im ‘showing’bzw. ‘telling’-Modus zusammen. 262 Vgl. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41; P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompe-l’œil.“ (1997), S. 192; C. Genin: L’écheveau de la mémoire, La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 50; D. Viart: „Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), S. 76; D. Alexandre: Le magma et l’horizon. Essai sur La Route des Flandres, de Claude Simon. (1997), S. 113. 263 Vgl. u.a. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41; M. Calle-Gruber: „Le phrasé de l’histoire. Pour une poétique de la mémoire dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 188; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269. 232 ren zu unterscheiden. Darüber hinaus ist nicht zu erkennen, welcher ontologischen Erzählebene die ‚erinnerten’ Dialoge mit Blum angehören: Handelt es sich bei ihnen um innerhalb der fiktionalen Wirklichkeit tatsächlich stattgefundene Gespräche oder nur um Georges’ Halluzinationen, in denen er sich eine Gesprächssituation vorstellt? Diese Dialoge lassen sich somit auch als „monologues intimes“, 264 als Selbstgespräch zwischen Georges und einem fiktiven Alter Ego, interpretieren. In La Route des Flandres wird also nicht nur der Erinnerungsprozess des Protagonisten Georges erzählt, sondern auch „la désagrégation de [son] identité“, wenn nicht sogar seine „mort symbolique“. 265 Wie gezeigt werden konnte, dekonstruiert das sowohl auf der discoursals auch auf der histoire-Ebene feststellbare Verschwinden der kohärenten Erzählerfigur die Erzählkonventionen des traditionellen Romans; die Fiktionalität des Erzählerkonzepts wird in Form einer metafiktionalen Inszenierung enthüllt. 266 4.4.3.4 Die metanarrative Spiegelung des Erzählakts als Spiel mit den Gattungskonventionen Typisch für Simons Roman La Route des Flandres sind die unzähligen metanarrativen Passagen, die explizit auf das Vorhandensein einer Erzählung hinweisen. Auf diese Weise wird die Illusion eines unvermittelten Gedächtnisstroms erneut als Fiktion entlarvt; die Grundkonstante in der narrativen Vermittlung der fiktionalen Realität ist somit ihre Erzählung und nicht ihre stumme Spiegelung im Bewusstsein eines Reflektors. Laut L. Dällenbach kann der Erzählakt in einem Roman auf unterschiedliche Weise thematisch werden; der Grad richtet sich dabei „[…] selon le degré d’analogie existant entre (l’activité de) l’auteur et (celle de) son représentant et que ce paramètre s’applique également, quoique de manière plus diffuse, aux mises en abyme du récepteur et de la réception.“ 267 In seiner Theorie der mise en abyme hat Dällenbach das folgende Schema ent- 264 J.-M. Barbéris: „Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 133. Vgl. ebenso J.A.E. Loubère: „The Generative Function of Translation in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 188; W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 79, 82f. 265 C. Simon: „Les secrets d’un romancier. [H. Juin].“ (1960), S. 5. Zitiert nach A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41. Vgl. D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 43f. 266 In diesem Sinne beschreibt E.P. Helleland den Skeptizismus metafiktionaler Texte „[…] towards concepts such as self, consciousness, and voice […]“, der als ein dekonstruktivistisches Konzept der narrativen ‚Stimme’ interpretiert werden könne (E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 77ff.). Ebenso A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 120ff. 267 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 103. 233 wickelt, um die Spiegelung des Autors und des Lesers in der Erzählfunktion bzw. im impliziten Leser der Tiefenstruktur sowie ihre Spiegelung in bestimmten Figuren auf der histoire-Ebene aufzuzeigen: Abbildung 12: Spiegelung des Erzählakts nach L. Dällenbach 268 Wie bereits gezeigt werden konnte, wird die Illusion eines Gedächtnisstroms an einigen Stellen in La Route des Flandres zugunsten einer Ich- Erzählung aufgegeben. Daher ist anzunehmen, dass die Kommunikationssituation, die außerhalb des Textes zwischen dem Autor Simon und dem jeweiligen Leser besteht, auch auf der Handlungsebene gespiegelt wird. Es ist diesbezüglich zu betonen, dass die Präsenz eines Erzählers und eines Zuhörers bzw. Lesers die Illusion des Gedächtnisstroms in hohem Maß gefährdet und seine Fiktionalität, d.h. seine fiktional-narrative Vermittlung, offen legt. Bei der Übertragung des von L. Dällenbach entwickelten Schemas auf La Route des Flandres lässt sich folgende Erzählsituation nachweisen: 268 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 105. Auteur Lecteur Auteur implicite réflexion Lecteur implicite mise en abyme énonciative mise en abyme énonciative 1 personnage de producteur 1 personnage de récepteur 234 Cl. Simon Leser Auktoriale Erzählfunktion Impliziter Zuhörer mise en abyme énonciative mise en abyme énonciative Anonymer Erzähler ‚vous‘ Spiegelung Georges (Reflektor/ Erzähler) Blum u.a. (Interlokuteur II) Abbildung 13: Der narrative Akt in La Route des Flandres 269 Es wird deutlich, dass es sich bei Simons Roman gewissermaßen um ein ‚trojanisches Pferd’ handelt; der Text präsentiert im Gewand eines Gedächtnisstroms eine Ich-Erzählung. Das obige Schema interpretiert die verba cogitandi, die in Form verschiedener participes présents wie „se demandant“, „se rendant compte“ auftreten, als Manifestation einer auktorialen Erzählerstimme auf der extradiegetischen Ebene. Außerdem erwecken auch die Gedankeneinleitungen im Präsens wie „je me rappelle“, „je pense“ eher den Eindruck einer Erzählsituation als den eines aktiven Gedächtnisses: „[…] je me rappelle que j’ai entendu le bruit de cascade qu’elle faisait“ (RF, 86), „[…] chaque fois que je pense à ces seaux je les revois pleins d’une eau recouverte comme d’une taie […]“ (RF, 293). An diesen Stellen erzählt eine Person, dass sie sich erinnert, ohne dass die Erinnerungen jedoch direkt präsentiert werden. 270 Georges’ Gedanken werden demnach diegetisch vermittelt, wohingegen sie in einem ‚reinen’ inneren Monolog 269 In dem von mir modifizierten Schema steht die durchgezogene Umrandung wie bei L. Dällenbach für die Fiktion - den Roman bzw. den Text - an sich, während der gestrichelte Rahmen den eigentlichen Gedächtnisstrom zeigt. Das Innere dieses Rahmens präsentiert die von Georges erinnerten Erlebnisse, es handelt sich um die intradiegetische Ebene, also die Ebene des Erzählten. 270 Vgl. hierzu insbesondere P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompel’œil.“ (1997), S. 192: „[…] car dire „je me rappelle“, ce n’est pas encore se souvenir mais dire qu’on se souvient. On n’est pas dans le récit de mémoire mais dans le discours de (et éventuellement sur) la mémoire.“ 235 unvermittelt - also ohne Redebzw. Gedankeneinleitung - präsentiert werden müssten. Überdies kommt es zu einer zweiten Spiegelung des Erzählakts in der erinnerten Vergangenheit, jetzt auf der intradiegetischen Ebene. Einerseits erzählt Georges hier in den Gesprächen mit Blum seine Interpretation der Vergangenheit. Andererseits werden seine Erinnerungen wiederum diegetisch durch verba cogitandi, diesmal in einer Zeitform der Vergangenheit, eingeleitet: „[…] un effarant mélange de poèmes, digressions philosophiques […] dont il pouvait se rappeler mot pour mot certains titres […]“ (RF, 52; Hervorhebungen S.Z.). Auch hier wird wiederum die Außensicht eines auktorialen Erzählers auf Georges’ Erinnerungsprozess sichtbar. Zusammenfassend lassen sich folgende mises en abyme des Erzählens festhalten: Erstens: Der Erzählprozess des Autors sowie des narrataire - der unpersönlichen Erzählfunktion in der Tiefenstruktur - wird innerhalb des Romans auf der extradiegetischen Ebene der Erinnerungssituation in der auktorialen Einleitung von Georges’ Gedanken im Präsens (z.B. durch „je me rappelle“) gespiegelt. Zweitens: Dieser Erzählprozess wird erneut auf der intradiegetischen Ebene, die den Inhalt von Georges’ Gedächtnisstrom umfasst, reflektiert. Denn hier wird ja ebenso erzählt, dass sich Georges erinnert hat, wobei die verba cogitandi nun in einer Zeitform der Vergangenheit wie „il pouvait se rappeler“ auftreten. Häufig ist diese Erzählung eines Erinnerungsvorgangs auch Bestandteil eines Gesprächs mit Blum. Die narrative Situation lässt sich demnach mit folgender Formel umschreiben: „Georges erzählt, dass er sich erinnert, sich erinnert zu haben“; bei den Erinnerungen auf der intradiegetischen Ebene handelt es sich folglich um Erinnerungen zweiten Grades. 271 Drittens: Es findet auch eine mise en abyme des externen bzw. des impliziten Lesers 272 auf der Romanebene statt. Auf diese doppelte Kommunikationssituation, die der Roman nicht expliziert, wird indirekt durch das an einigen Stellen auftretende Pronomen der zweiten Person Plural angespielt: „[…] c’est-à-dire pas la guerre mais le meurtre, un endroit où l’on vous assassinait sans qu’on ait le temps de faire ouf, les types tranquillement installés comme au tir forain derrière une haie ou un buisson et prenant tout leur temps pour vous ajuster, le vrai casse-pipe en somme […]“ (RF, 15). 273 Das Erscheinen dieses Pronomens ist auf zweierlei Weise inter- 271 Vgl. hierzu C. Genin: L’expérience du lecteur dans les romans de Claude Simon. Lecture studieuse et lecture poignante. (1997), S. 181. 272 Ich habe den Ausdruck ‘impliziter Zuhörer’ gewählt, da es sich bei der Kommunikationssituation in La Route des Flandres in jedem Fall um eine mündliche handeln muss, da sich keinerlei Hinweise auf eine fiktive Vertextung von Georges’ Gedanken finden lassen. 273 Vgl. ebenso RF, 25, 71, 84, 115. Diese Interpretation ist jedoch nur deshalb zulässig, da bereits andere Faktoren auf die Spiegelung der externen Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser in den Grenzen des Romans hingewiesen haben. Das 236 pretierbar: Zum einen kann das „vous“ innerhalb des Gedächtnismonologs für die Aufspaltung des Erinnernden in einen stummen Sprecher sowie in einen impliziten Zuhörer stehen. Der innere Monolog nähert sich in diesem Fall einem Selbstgespräch an. Für diese Hypothese der Bewusstseinsspaltung des Erzählers spricht, dass Georges zunehmend darüber ins Zweifeln gerät, ob die von ihm erinnerten Gespräche mit Blum oder Corinne tatsächlich stattgefunden haben, oder ob er nicht nur die ganze Zeit ein Selbstgespräch geführt hat: […] Georges (à moins que ce ne fût toujours Blum, s’interrompant lui-même, bouffonnant, à moins qu’il (Georges) ne fût pas en train de dialoguer sous la froide pluie saxonne avec un petit juif, et qui n’allait bientôt plus être qu’un cadavre - un de plus - de petit juif - mais avec lui-même, c’est-à-dire son double, tout seul sous la pluie grise, parmi les rails, les wagons de charbon, ou peut-être des années plus tard, toujours seul […] (RF, 176). 274 Die zweite Möglichkeit besteht darin, das „vous“ als Anrede des impliziten Zuhörers bzw. des Lesers zu deuten. Da auf diese Weise wiederum eine Kommunikationssituation entsteht, wird erneut die Illusion eines Gedächtnisstroms in La Route des Flandres gefährdet. 275 Hinter dem Gedächtnisstrom in Form eines inneren Monologs verbirgt sich - wie gezeigt werden konnte - eine Ich-Erzählung. 276 Die für fiktionale Erzählungen typische Kommunikationssituation wird dabei mehrfach innerhalb des Romans in Gestalt einer metafiktionalen Inszenierung gespiegelt und dem Leser erneut die Zugehörigkeit des Romans zur Gattung literarischer, fiktionaler Erzähltexte vor Augen geführt. „vous“ in den zitierten Textstellen lässt sich auch einfach als Bestandteil einer Redewendung auffassen. 274 Vgl. RF, 88, 95, 220. 275 Als dritte Möglichkeit kann das Zitat als allgemeine Aussage über den Krieg interpretiert werden. Dieser ist kein fairer Schlagabtausch mehr, sondern ähnelt vielmehr einem gegenseitigen ‘Sich-in-den-Rücken-Fallen’. Das „vous“ verstärkt in diesem Fall die ironische Wirkung der anderen Ausdrücke wie „sans qu’on ait le temps de faire ouf“, „type“ etc. So wird Georges’ Resignation und Abgeklärtheit hinsichtlich des Krieges verdeutlicht. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die metafiktionale Wirkung, die aus der Spiegelung des Erzählakts resultiert, die beiden ersten Interpretationen rechtfertigt. 276 Vgl. hierzu D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 113. Viart betont, dass es sich zwar um keinen inneren Monolog, aber dennoch um einen Bewusstseinsstrom handele. Sie unterscheidet jedoch an dieser Stelle nicht eindeutig zwischen dem psychischen Ereignis - also dem Bewusstseinsstrom - und seiner narrativen Präsentation - dem inneren Monolog. 237 4.4.3.5 Fiktionale Intertextualität und Intermedialität: der fiktionsgenerierende Einfluss fremder fiktionaler Gattungen Abschließend soll gezeigt werden, inwiefern Georges’ Streben nach Wissen und Erkenntnis sich auch aus dem Vergleich seiner persönlichen Erlebnisse mit literarischen und dramatischen Vorbildern speist. Bei dem Versuch, das Rätsel um den Tod seines Verwandten und Vorgesetzten de Reixach aufzuklären und seine Erfahrungen während des Krieges in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen, erkennt Georges vielfältige Parallelen zu typischen Themen und Motiven aus Literatur, Theater, Oper und Operette bzw. zu den dort gebräuchlichen technischen Verfahren. Georges erweist sich mit seinem Hang, Parallelen zwischen seinen Erfahrungen und früheren Lektüreerlebnissen zu suchen, als Sohn seines Vaters, des Universitätslehrers: Obwohl er offen dessen Glauben an die Macht der Wörter ablehnt, greift er doch selbst ebenfalls auf seine aus Büchern gewonnenen Erkenntnisse zurück, um die Schrecken des Krieges erklären und ertragen zu können. 277 So vergleicht er - wie an anderer Stelle bereits deutlich wurde - die Ereignisse in dem Ardennendorf mit verschiedenen antiken Mythen sowie mit dem Märchen um Dornröschen, während er den deutschen Hinterhalt und die damit einhergehende Vernichtung der französischen Schwadron im Hohlweg mit der biblischen Apokalypse des Johannes verbindet. Ein anderer fiktionaler ‚Prätext’, der Georges bei der Deutung seiner Wirklichkeit zur Verfügung steht, ist die Recherche von M. Proust, aus deren erstem Band Du côté de chez Swann (1913) er das berühmte Motiv der Weißdornhecke („la haie d’aubépines“) übernimmt: Doch während der Weißdorn für den jungen Marcel stets mit der Erinnerung an seine erste Begegnung mit Swanns Tocher Gilberte verbunden ist und damit den Anfang seiner Liebe zu ihr konnotiert, 278 verbirgt sich für Georges in den Weißdornhecken, welche die „route des Flandres“ säumen, der Tod: Hinter den Hecken hält sich der deutsche Schütze verborgen, der de Reixach und den Unterleutnant erschießen wird (RF, 85f.). Auch - sein möglicherweise fiktives Alter Ego - Blum greift auf verschiedene literarische Vorbilder zurück, um seine Hypothesen zu den Vorgängen im Ardennendorf und zum geheimnisumwitterten Tod des Ahnen de Reixach zu untermauern. So vergleicht er sowohl den Ahnen als auch 277 Vgl. z.B. seine Reaktion auf die unerträgliche Situation im Kriegsgefangenenzug: „[…] [Georges] pensant: « Après tout, j’ai bien lu quelque part que des prisonniers avaient bu leur urine… », […]“; siehe auch der Vergleich (RF, 159) der Personenkonstellation (George, Blume, Iglésia) im Kriegsgefangenenlager mit den jüdischen Stammvätern der Bibel: Noah und seine drei Söhne Sem, Ham und Jafet (1. Mose/ Genesis 5, 32 und 1. Mose/ Genesis 10, 1). 278 M. Proust: Du côté de chez Swann. Texte établi, présenté et annoté par Elyane Dezon-Jones. (1992), S. 179-184. 238 den eifersüchtigen Hinkenden aus dem Ardennendorf mit Shakespeares Othello: „[…] Après tout tu ne l’as jamais vu qu’en peinture et en buste, avec son fusil de chasse à deux coups sur l’épaule, comme l’autre Othello bancal de village. Peut-être après tout qu’il boitait. Simplement. […]“ (RF, 266). Shakespeares Othello (1603/ 04) gilt allgemein als literarisches Musterbeispiel eines Eifersuchtsdramas mit tragischem Ausgang zwischen einem älteren, ‚fremdrassigen‘ Mann und einer jüngeren Frau; 279 dieses Motiv wird nun von Blum zum Teil auf die beiden - von ihm imaginierten - Eifersuchtsszenarien im 18. Jahrhundert und im Ardennendorf übertragen: der Ehemann bzw. der als ‚Vormund’ fungierende Schwager 280 (der Ehemann der fille laiteuse 281 im Ardennendorf ist ebenfalls zum Krieg eingezogen) bezichtigen die Frau der Untreue. In den Augen Blums scheint die Untreue Virginies eine Tatsache zu sein, während über das ehebrecherische Verhalten der jungen Frau in den Ardennen letzten Endes nur spekuliert werden kann. 282 Interessanterweise findet das Motiv von der erwiesenen Unschuld Desdemonas aus Shakespeares Drama keine Umsetzung in Blums Imaginationen: In beiden Fällen erscheint die Schuld der Frau für ihn eine Tatsache zu sein. 283 Darüber hinaus konnte bereits gezeigt werden, dass Blum insbesondere die Figur der Virginie mit der aus Molières L’École des femmes (1662) bekannten Protagonistin Agnès vergleicht und damit das Motiv der erzwungenen - und am Ende gescheiterten - Verbindung eines älteren Mannes mit einer wesentlich jüngeren Frau übernimmt. 284 Neben diesen Motiven aus literarischen Werken finden sich in La Route des Flandres jedoch auch wiederholt allgemeine Anspielungen auf Darstellungsformen des Theaters wie Tragödie, Oper bzw. Operette und vaudeville. So werden bestimmte Ereignisse in der fiktionalen Welt des Romans mit bekannten Illusionseffekten und anderen technischen Verfahren des Theaters verglichen: der nächtliche Ritt im Regen der scheinbar auf der Stelle tretenden Schwadron - „progresser sans avancer“ - wird verglichen mit „[…] comme au théâtre ces personnages immobiles dont les jambes 279 W. Jens (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Band 15: Sc-St. (1988-1998), S. 344. 280 RF, 61. 281 In einer anderen Version handelt es sich bei der möglicherweise betrügerischen Frau aus dem Dorf um die Ehefrau des Hinkenden selbst, die zugleich auch die Schwester der „fille laiteuse“ und des „adjoint“ ist, mit welchem sie - angeblich - ein inzestuöses Liebesverhältnis unterhält (RF, 119f.). Das ‚Milchmädchen’ hingegen sei dieser Version zufolge die Frau des abwesenden Bruders des Hinkenden (RF, 121). 282 Vgl. die verschiedenen Gespräche der Soldaten: RF, 60ff., 116f., 119-122, 256-258 sowie Blums Bezeichnung Virginies als „putain“ (RF, 175). 283 Auch ein weiteres Stück von Shakespeare - Romeo and Juliet (1597) - taucht in den Überlegungen Blums auf, wenn er den „adjoint“ als „Le Roméo du village“ betitelt (RF, 119). 284 RF, 184ff. 239 imitent sur place le mouvement de la marche tandis que derrière eux se déroule en tremblotant une toile de fond sur laquelle sont peints maisons arbres nuages […]“ (RF, 29). An anderer Stelle meint Georges in einer kurzen Vision den Ahnen in seiner Kleidung aus dem 18. Jahrhundert am Wegrand der „route de Flandres“ stehen zu sehen, „[…] se tenant là, à la manière de ces apparitions de théâtre, de ces personnages surgis d’une trappe au coup de baguette d’un illusionniste, derrière l’écran d’un pétard fumigène […]“ (RF, 76). Darüber hinaus ähneln bestimmte Figuren und Szenen des Romans dramatischen Vorbildern: So wird Iglésia aufgrund seiner markanten Hakennase wiederholt mit dem aus der italienischen Commedia dell’arte bekannten Pulcinella verglichen. 285 Aber auch bestimmte Szenen können entweder aufgrund der Beleuchtung oder aufgrund der Anordnung der Gegenstände einen unwirklichen, künstlichen Charakter haben: Der „éclairage théâtral de la lanterne“ (RF, 124) in der Scheune lässt die Züge der um sie herumsitzenden Soldaten stärker hervortreten; hingegen scheint Blum Sabines These vom Selbstmord des Ahnen de Reixach aufgrund der Ähnlichkeit mit einer absichtsvollen Inszenierung - „[le] théâtral, [le] pittoresque de la mise en scène“ (RF, 175) - unglaubwürdig zu sein. In seiner Gegenversion imaginiert Blum einen Schrank, in welchem Virginie ihren Liebhaber bei der unerwarteten Rückkehr des Ehemannes versteckt; auch die Existenz dieses Schrankes ist ihm nicht nur aus Molières L’École des Femmes, sondern auch aus unzähligen vaudevilles und tragédies bekannt: „[…] et elle - la virginale Agnès - debout, poussant par les épaules l’amant […] vers l’inévitable et providentiel placard ou cabinet des vaudevilles et des tragédies qui se trouve chaque fois là à point nommé […]“ (RF, 186). In der Fortführung seiner Argumentation verleiht Blum dem fiktiven Schrank die Funktion, Auslöser für den Selbstmord des Generals de Reixach gewesen zu sein: Dieser erschießt sich im Moment des Öffnens der Schranktür (oder wird vom dort verborgenen Liebhaber erschossen), so dass der Schrank erneut und wie in den Inszenierungen der vaudevilles und tragédies als „la boite des farces et attrapes fonctionnant à point nommé“ (RF, 188) fungieren kann. Zwei andere dramatische Gattungen, die als Vergleichsobjekt für Szenen des Romans herangezogen werden, sind die Oper bzw. die opérette viennoise: Während Blum in seiner Imagination der Ereignisse auf dem Pferderennplatz einen anderen Besucher mit einer Figur aus einer opérette viennoise vergleicht (RF, 56), sieht Georges in einer kurzen Vision die beiden feindlichen Armeen der Franzosen und Deutschen einander verfolgen „[…] comme à l’Opéra ou dans les films comiques les gens lancés dans ces poursuites parodiques et burlesques […]“ (RF, 197). Darüber hinaus bezeichnet Georges - passend zu Blums bereits beschriebenen Vergleichen 285 RF, 117, 129, 142, 162. 240 der Ereignisse mit Motiven aus Shakespeares Dramen Othello und Romeo and Juliet - die am Morgen nach der im Ardennendorf verbrachten Nacht disputierenden Männer um den „adjoint“ als „tragédiens“ (RF, 115); auch Blum kommt zuletzt zu dem Schluss, dass die Ereignisse in dem Dorf vermutlich doch nicht so ernst gewesen seien: „[…] Mais peut-être ce fusil n’était-il pas chargé peut-être ne savait-il [le boiteux] même pas comment on se sert Les gens aiment tellement faire de la tragédie du drame du roman […]“ (RF, 262). Die wiederholten Vergleiche von Personen bzw. Szenen der Handlung in La Route des Flandres mit aus dramatischen Inszenierungen bekannten Gegenständen, Figuren und Techniken unterstreichen somit auf metafiktionale Weise ihre Unwirklichkeit: Sie scheinen entweder wie z.B. die Figur Iglésia fremden Repräsentationsformen wie dem Drama entnommen zu sein oder aber die Fiktivität der jeweiligen Szene in La Route des Flandres wird durch ihren Rückbezug auf fremde, fiktionale Gattungen unterstrichen. Letzteres geschieht insbesondere am Ende des Romans, wenn die nach dem Durchzug der französischen Flüchtlinge und deutschen Besatzer gleichsam ‚leergefegte’ Landschaft mit einer leeren Theaterbühne verglichen wird: „[…] quelque chose comme la scène vide d’un théâtre comme si une équipe de nettoyage était passée des pillards ou les vainqueurs ne laissant que ce qui avait été trouvé trop lourd ou trop encombrant pour être emporté ou vraiment inutilisable […] maintenant que les acteurs et le public étaient partis […]“ (RF, 291). Darüber hinaus spielen die metafiktionalen Vergleiche von Figuren, Objekten und Szenen der histoire mit Objekten bzw. spezifischen Techniken fremder, fiktionaler Gattungen bzw. Medien die Fiktionalität des eigenen Textes in den Vordergrund. 286 4.5 Zusammenfassung Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse der Analyse von Simons Roman La Route des Flandres im Hinblick auf seine These der Unmöglichkeit einer ‚objektiven’ bzw. ‚authentischen’ Wahrnehmung von Realität und ihrer Erinnerung vorgestellt werden. Der Roman fügt sich mit seinem spezifischen wahrnehmungspsychologischen Thema ein in intellektuelle und philosophische Strömungen im Frankreich der 1960er Jahre. Die subjektive Sicht des Protagonisten Georges - seine fehlgeschlagenen Versuche, die ‚Wahrheit’ hinter den ihm rätselhaft bleibenden Ereignissen aus verschiedenen zeitlichen Epochen 286 So auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 282, der auf die Funktion der sogenannten ‚eigentextkritischen Intertextualität’ hinweist: Die Integration von Prätexten dient v.a. der Kritik des eigenen Textes; die eigene Geschichte erscheint durch fremde Fiktionen bestimmt. 241 seines eigenen Lebens aber auch aus seiner Familiengeschichte aufzudecken - lässt den Text auf die von M. Merleau-Ponty entwickelte Phänomenologie rekurrieren: Eine neutrale Sicht auf die Welt ist unmöglich, diese kann nur über die persönlichen Sinneswahrnehmungen erfasst werden. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist auch die in La Route des Flandres virulente Wahrnehmungs- und Erkenntnisskepsis zu interpretieren. Aktuelle und vergangene Realität bleibt immer in großen Teilen ‚ungreifbar’, sei es, weil die menschlichen Sinne aus verschiedenen Gründen anfällig für Täuschungen sind, oder sei es, weil auch scheinbar zuverlässige mediale Speicher wie Text und Bild nicht imstande sind, ein authentisches Bild der Wirklichkeit zu bewahren. So bleibt das ‚Wissen’ nicht nur über die eigene Biographie, sondern auch über die fremder und historischer Personen stets fragmentarisch und prekär. 287 Ein typisches Charakteristikum von Simons Poetik ist es nun, dass er den hier spürbar werdenden „erkenntnistheoretischen Agnostizismus’“ 288 nicht nur demonstriert, sondern in seinem Roman ein alternatives Modell individueller Erinnerung vorschlägt, das unter dem Vorzeichen eines „[…] entpragmatisierenden Eindringens poetischer Imagination in die Gedächtniskunst“ steht, mithin eine „Subjektivierung des Gedächtnisses“ postuliert. 289 In diesem Rahmen thematisieren verschiedene Textstrategien explizit bzw. inszenieren implizit metafiktiv die Fiktivität erinnerter Wirklichkeit. So erweisen sich große Teile der von Georges erinnerten bzw. der im Gespräch mit Blum rekonstruierten Vergangenheit als Produkt der Imagination bzw. als Inventionen und Tagträume. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn zur Auflösung des Rätsels um die Dreiecksbeziehung zwischen dem Capitaine de Reixach, seiner jungen Ehefrau Corinne und dem Jockey Iglésia vor allem von Blum mehrere Parallelgeschichten konstruiert werden: Einerseits gleichen sich die dominanten Frauenfiguren des Romans - Corinne, die Ahnin Virginie und die geheimnisvolle „fille au lait“ aus dem Ardennendorf - in den ihnen von Blum unterstellten Motiven und Verhaltensweisen an; andererseits scheint auch der mysteriöse Tod des Capitaine auf der „route des Flandres“ bereits im Schicksal seines Ahnen aus dem 18. Jahrhundert vorgezeichnet zu sein. 287 Mit dieser Thematik einer Relativität von Wahrnehmung und Erkenntnis gerät La Route des Flandres in die Nähe konstruktivistischer Literaturströmungen: Wahrnehmung erscheint stets als subjektabhängig und die textuelle Welt als imaginäres Konstrukt des Erzählers. (Vgl. hierzu A. Nünning: „Bausteine einer konstruktivistischen Erzähltheorie: Die erzählerische Umsetzung konstruktivistischer Konzepte in den Romanen von John Fowles.“ (1989).) 288 Kuhnle, Till R. „Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘Nouveau Romancier’ Claude Simon.“ (1995), S. 397. 289 Warning, Rainer. „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 379. 242 Doch sind nicht nur die Figuren größtenteils der Phantasie des Protagonisten Georges entsprungen, auch bestimmte Ereignisse und Orte erweisen sich innerhalb der fiktionalen Romanwelt als fiktiv. So dient das imaginäre Pferderennen, das Georges allein auf der Grundlage von Iglésias vagen Andeutungen und aufgrund eigener ähnlicher Erfahrungen konstruiert, durch die Parallelisierung von Liebes- und Sportwettkampf bzw. durch die Polyvalenz der aus dem Verb „chevaucher“ gebildeten Isotopie als Erklärungsversuch für die rätselhafte Beziehung zwischen de Reixach, seiner Frau und dem Jockey. Hingegen scheinen die verschiedenen erotischen Szenen in der Romanhandlung gar nicht ‚wirklich’ stattgefunden zu haben, sondern von den Soldaten in der an Frauen und Ablenkung entbehrungsreichen Zeit der Gefangenschaft nur imaginiert worden zu sein, um der unerträglichen Realität des Lagers wenigstens geistig zu entkommen. Nicht zuletzt sind auch die zentralen Orte der Handlung - das Ardennendorf und die „route des Flandres“ - der fiktionalen Realität enthoben. Während das Dorf als verwunschener, märchenhafter Ort erscheint, zeigt sich die „route“ durch verschiedene Anspielungen auf die „Offenbarung an Johannes“ als mythischer, apokalyptischer Ort, der, wie das Dorf, scheinbar außerhalb der physikalischen Zeit existiert. Doch wird in La Route des Flandres nicht nur die Fiktivität von Personen, Ereignissen und Orten der Handlung metafiktiv offen gelegt, auch die Fiktionalität des Erzählens wird explizit thematisiert bzw. implizit inszeniert. So wird die vom Text postulierte Illusion eines Gedächtnisstroms durch das weitgehende Fehlen unvermittelter Erinnerungen als ein relativ konventioneller Erzählvorgang und Georges in diesem Rahmen als aktiv kontrollierender Erzähler seiner Erinnerungen entlarvt. Darüber hinaus wird im Laufe des Romans deutlich, dass die fiktionale Realität weitgehend das Produkt dialogischen und fiktionalen Erzählens ist: Es sind die konkurrierenden, einander an Erfindungsreichtum und Spekulation überbietenden Versionen von Georges und Blum, die große Teile der Geschichten um de Reixach und Corinne, um Virginie und Henri Reixach sowie um die Ereignisse im Ardennendorf erst konstruieren. Schließlich werden die verschiedenen Erzählerstimmen des Romans zunehmend ununterscheidbar; diese Dekonstruktion des traditionellen Erzählkonzepts geht mit der Dissoziation des Protagonisten Georges auf der Handlungsebene einher, bis am Ende des Romans die Ereignisse unmittelbar vor dem Tod des Capitaine ein letztes Mal scheinbar aus der Perspektive eines neutralen, mechanischen ‚Kameraauges’ repräsentiert werden. Nicht zuletzt verweist auch die mehrfache Spiegelung des Erzählvorgangs zwischen (implizitem) Autor und (implizitem) Leser - jene liegt dem Roman als Vertreter fiktionaler Erzählliteratur zugrunde -, auf die verschiedenen Erzählakte innerhalb des discours. Diese metanarrativ fungierende Thematisierung des Erzählens hat 243 insofern auch eine metafiktionale Implikation, als es grundlegende Textstrategien fiktionaler Erzählgattungen offen legt. Auf metafiktionale Weise wird schließlich in La Route des Flandres der fiktionsgenerierende Einfluss fremder fiktionaler Texte und Gattungen offenbar. So zeigt sich einerseits, dass Teile der Handlung prominente Vorbilder aus verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte und aus mehreren Literaturen, und andererseits, dass sich die offensichtliche Irrealität wichtiger Figuren und Ereignisse in diesem Text häufig bestimmten, aus Malerei und Theater bekannten und in das Medium ‚Sprache’ übertragenen, inszenatorischen Verfahren verdankt. Zentrales Kennzeichen des Romans ist demnach die poetische Doppelstrategie zum einen aus der Destruktion des naiven Glaubens an eine mögliche objektive, sprachliche bzw. textuelle sowie bildhafte Repräsentation erinnerter Wirklichkeit und zum anderen aus der Konstruktion eines alternativen Modells individueller Erinnerung, das diese immer zugleich „a process of invention as […] one of recall“ 290 sein lässt. Im Rückblick weist das hier entwickelte poetische Konzept bereits voraus auf den zwanzig Jahre später erscheinenden Roman Les Géorgiques, in dessen Mittelpunkt die (Un-)Möglichkeit einer historiographischen Restitution vergangener Wirklichkeit stehen wird. Mit dieser innovativen Ästhetik emanzipiert sich Simon in La Route des Flandres endgültig von der als überholt aufgefassten Ästhetik des Realismus: „Il ne s’agit pas de la restitution du réel, mais de la constitution d’un réel dans et par le langage.“ 291 290 Higgins, Lynn A. „Problems of Plotting, La Route des Flandres.“ (1996), S. 56. 291 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XXVI. 245 5 Metafiktion und Metanarration als metapoetischer Diskurs über Repräsentation in Triptyque (1973) 5.1 Einführung Simons experimenteller Roman Triptyque - entstanden in Auseinandersetzung mit Jean Ricardous skripturalistischem Theorieentwurf - diskutiert die fundamentale ontologische Verschiedenheit des Kunstwerks und der von ihm repräsentierten Realität und beschäftigt sich in diesem Kontext mit der poetologischen Frage nach ihrer adäquaten Repräsentation. Auf der Ebene des Erzählverfahrens manifestiert sich diese Thematik in einem Oszillieren des Textes zwischen Diskontinuität und Kontinuität: So lassen neben der auffallenden Fragmentarisierung des discours vor allem die vielfachen narrativen Kurzschlüsse zwischen den Ebenen ‚innerfiktional real’ und ‚innerfiktional fiktiv’ den Leser unsicher werden über die Unterscheidung von Ereignissen, die innerhalb der Welt des Romans ‚wirklich’ stattgefunden haben, und solchen, die bloß imaginiert oder durch (fremde) Medien repräsentiert sind. Doch entsteht bei der Lektüre zugleich der Eindruck einer gewissen unterschwelligen Kohärenz des Textes, die insbesondere durch die Wiederkehr bestimmter Motive und von bereits aus früheren Romanen bekannten Themen wie ‚erotische Liebe’, ‚Eifersucht’ und ‚Tod’, aber auch von neuen wie ‚Natur’ und ‚Voyeurismus’ sowie durch die Motivoppositionen ‚Licht’ und ‚Dunkelheit’, ‚Bewegung’ und ‚Stillstand’, ‚Lärm’ und ‚Stille’ garantiert wird. Die genannten thematischen und motivischen Strukturen verbinden nun drei bzw. vier scheinbar disparate Fiktionen miteinander: Die erste histoire spielt im ländlichen Zentrum Frankreichs, wo sich in einem kleinen Dorf eine erotische Begegnung zwischen einer Hausangestellten und einem Jäger anbahnt; diese verursacht indirekt den mutmaßlichen Tod durch Ertrinken eines kleinen Mädchens, das unter der Aufsicht der jungen Frau gestanden hat. Zwei Jungen beobachten die erotischen Handlungen des Paares in einer Scheune; aus ihrer Perspektive verfolgt auch der Leser teilweise die Ereignisse. Die zweite Episode ist dagegen in Frankreichs Norden angesiedelt: In einer flandrischen Industriestadt betrügt in der Nacht seiner Hochzeit ein Bräutigam seine Braut mit einer Kellnerin - vermutlich einer ehemaligen Geliebten - und wird dafür von dem (mutmaßlichen) Gefährten der Frau verprügelt. Die dritte Handlungssequenz schließlich nimmt im Süden Frankreichs, an der Côte d’Azur, ihren Lauf: Eine Frau und ein Mann befinden sich in einem Zimmer; bestimmte Hinweise im Text lassen ebenfalls eine erotische Begegnung erahnen, die sich vermut- 246 lich kurz vor dem Einsetzen der Handlung ereignet hat und für die die Frau nun eine Gegenleistung erwartet. Der Mann soll sich bei bestimmten einflussreichen Stellen für die Freilassung ihres Sohnes aus einer Untersuchungshaft einsetzen; der Junge scheint als Schüler in den Handel mit Drogen verstrickt zu sein. Die vierte histoire, deren Verhältnis zu den drei anderen jedoch im Unklaren bleibt, präsentiert eine Zirkusszene, in der ein Clown zusammen mit zwei anderen Artisten, zuerst einem Herrn im Anzug und später einem Harlekin, eine Reihe grotesk-komischer Gags vorführt. Im Unterschied zu den drei erstgenannten Fiktionen lässt sich die im Zirkus spielende Handlung nicht geographisch verorten und scheint vor allem zentrale Elemente der anderen drei histoires wiederaufzugreifen. 1 Die Lückenhaftigkeit der verschiedenen Fiktionen und ihre Ambivalenz im Hinblick auf ihren ontologischen Status ist nur ein Beispiel für den Eindruck von Rätselhaftigkeit, welcher dem Roman u.a. von L. Dällenbach attestiert wurde: 2 Der Leser wird in seiner Rezeption eines Ereignisses als innerhalb der Fiktion ‚real’ immer wieder erschüttert. Dies geschieht typischerweise dann, wenn Handlungssequenzen, die er zunächst als innerfiktional ‚wirklich’ rezipiert hat, sich plötzlich als Gegenstand eines Films, eines Buchs oder eines Gemäldes erweisen. Unser Kapitel wird in diesem Kontext die These diskutieren, dass die für Triptyque typische Rätselhaftigkeit und Undurchsichtigkeit des Sinns aus dem Zusammenwirken verschiedener metafiktionaler Phänomene resultiert, die nicht nur auf die Fiktionalität des discours und auf die Fiktivität der verschiedenen Geschichten verweisen, sondern darüber hinaus ganz allgemein Fragen erörtern, die mit der literarischen Referenz auf eine 1 Auch der Titel des Romans spielt auf diese inhaltliche Dreigliederung an - im Einklang mit einem Großteil der zu Triptyque veröffentlichten Forschung soll hier die Zirkusfiktion aufgrund ihres unklaren Status nicht als eine den anderen gleichrangige Handlungssequenz aufgefasst werden -, die sich wie schon bei La Route des Flandres in der formalen Dreiteilung des Textes spiegelt (ohne dass jedoch die inhaltliche Gliederung der formalen entspräche): In der christlichen Kunst ist ein Triptychon ein dreiteiliges Tafelbild bzw. ein dreiteiliger Flügelaltar, der aus einem Mittelfeld und zwei halb so breiten, beweglichen Flügeln besteht. (Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 19: Trif-Wal. (1974)) Allerdings weist S. Sykes darauf hin, dass in Triptyque eben keine völlige Symmetrie der einzelnen Teile (wie noch in La Bataille de Pharsale) festzustellen sei, „[…] car les deux volets extérieurs de Triptyque ne se rabattent pas de la même façon sur le panneau central; le mouvement du texte n’est pas aussi clairement centripète, et les trois parties se recouvrent les unes les autres grâce à ce système de transferts que Simon élabore.“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 174.) 2 So beschreibt Lucien Dällenbach, ohne direkt auf den Roman Bezug zu nehmen, in seiner Globalanalyse des Simonschen Werks ein auch für Triptyque typisches Merkmal seiner Texte: „C’est parce qu’il fait toujours mystère de quelque chose que le roman simonien se présente si souvent comme un puzzle, c’est-à-dire comme un roman à énigme. (L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 40.) 247 außertextuelle Realität und der (sprachlichen und ikonischen) Repräsentation dieser Wirklichkeit zusammenhängen. 3 Aus dieser Annahme ergeben sich zwei Hypothesen, welche die Analyse von Triptyque leiten sollen: 1. Die verschiedenen - expliziten und impliziten - metafiktionalen bzw. metafiktiven Phänomene auf der Ebene des discours und der histoire problematisieren die Referenz von Literatur und stellen diese vor allem am Beispiel der vielfältigen Grenzüberschreitungen zwischen innerfiktionaler Realität und Fiktion grundlegend in Frage. 2. Die wiederkehrenden expliziten und impliziten metanarrativen Passagen kommentieren nicht nur die spezifische Poetik des Romans, sondern diskutieren darüber hinaus das Problem der narrativen Repräsentation einer äußeren Realität durch die verschiedenen Medien. Im Folgenden wird zunächst die metafiktive Thematisierung und Inszenierung der problematischen Referenz analysiert (Kap. 5.2.). Im Anschluss soll untersucht werden, auf welche Weise in Triptyque die literarische Repräsentation von ‚Wirklichkeit’ mittels narrativ-fiktionaler Erzählstrategien problematisiert wird (Kap. 5.3). 3 Es soll an dieser Stelle betont werden, dass sich die Arbeit nicht in die Tradition desjenigen Forschungsansatzes stellt, der dem Text jegliche Referenz auf eine außertextuelle Wirklichkeit abspricht. Vielmehr wird postuliert, dass Simons Werk von dem Ringen um die Möglichkeit und die adäquaten literarischen Mittel einer Repräsentation außerliterarischer Realität geprägt ist. In diesem thematischen Rahmen ist - so lautet die hier vertretene These - Triptyque in der Nähe desjenigen Pols anzusiedeln, der einer angemessenen Repräsentation von Wirklichkeit durch Sprache und durch Literatur aber auch durch andere Medien bzw. Künste eher skeptisch gegenüber steht. Vertreter der erstgenannten, radikalen Position, die sich z.T. im Einklang mit Simons eigenen, poetologischen Aussagen befinden (Vgl. C. Simon: „Attaques et stimuli (entretien inédit avec Lucien Dällenbach).“ (1988), S. 177.), sind u.a. M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 9ff., und J. Duffy: „Bureau des référents perdus: La représentation populaire et le texte productible dans l’œuvre de Claude Simon.“ (1994), S. 51. Gegen das auf Derrida zurückgehende Postulat von der ‚Nicht-Referenz sprachlicher Zeichen’ - „[i]l n’y a pas de hors-texte“ (J. Derrida: De la grammatologie. (1967), S. 227.) - wendet sich auch F. Zipfel, der betont, dass, nähme man diese Aussagen wörtlich, jeder Untersuchung der Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihrer Referenz der Boden entzogen wäre (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 53.). Vielmehr sind die fiktiven Welten stets auf eine bestimmte Weise auf die Lebenswirklichkeit bezogen, denn eine Geschichte, die in keiner Relation zu unserer Wirklichkeitskonzeption stehe, könnte weder erzählt noch verstanden werden, sie wäre nicht einmal vorstellbar (Ebd, S. 82.). 248 5.2 Die metafiktive Thematisierung und Inszenierung von Nicht-Referenz 5.2.1 Die Kontamination des Realen durch das ‚Imaginäre’: Imaginationen und Modalisationen Im Gegensatz zu La Route des Flandres wird in Triptyque der Diskurs über die Fiktivität - die ‚Erfundenheit’ oder ‚Nicht-Wirklichkeit’ - der verschiedenen histoires nur an wenigen Stellen explizit geführt: Nur selten legt eine innerfiktionale Redeinstanz den künstlichen Status der jeweiligen histoire dadurch offen, dass sie diese als Objekt von Imaginationen, Hypothesen oder Träumen präsentiert. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die narrative Instanz, aus deren Sicht die Handlung dargestellt wird, nicht genau bestimmbar; es entsteht vielmehr der Eindruck eines gesichtslosen, mechanischen, nicht-menschlichen, Kameraauges, das neutral und ohne jegliche Gefühlsregung die Ereignisse registriert. 4 Insbesondere die vielen detaillierten Beschreibungen von Landschaft und Stadt lassen die Szenerie wie ‚gefilmt’ erscheinen; diese deutlich perspektivierte Raumdarstellung zählt zu den typischen Merkmalen der Camera-eye-Perspektive. 5 Dennoch finden sich in Triptyque Anhaltspunkte dafür, dass hinter der Narration nicht nur eine neutrale Instanz, sondern ein anthropomorpher Erzähler steht: Vor allem die vereinzelten Imaginationen und Modalisationen, die das Beschriebene oder Erzählte in seiner Bedeutung als hypothetisch präsentieren, es differenzieren oder variieren und über die reine Feststellung einer Tatsache hinaus Gefühle ausdrücken, weisen auf eine, die Handlung vermittelnde, Erzählerfigur im Hintergrund hin. Im Gegensatz zu früheren Romanen wie La Route des Flandres finden sich in Triptyque kaum Imaginationen, da diese - um der Logik der Erzählung zu genügen - eine identifizierbare fiktionale Redeinstanz entweder in Gestalt einer Erzähler- oder einer Reflektorfigur voraussetzen. Ein Hinweis, dass auch in diesem Roman das neutrale „on“ über einen Leib, und jenseits der visuellen Wahrnehmung, auch über Gefühle und Gedanken verfügen könnte, findet sich in dem Kommentar der Wahrnehmungsinstanz zu der Handlung des Films, der die konfliktträchtige Begegnung eines Mannes mit einer von ihm aus verschiedenen Gründen abhängigen Frau erzählt: La voix tonitruante s’est tue. A sa place, une musique douce se déverse par le vasistas de la cabine de projection. […] La partition orchestrée principalement sur les violons est du genre de celles qui sont utilisées comme fond pour les scènes d’amour (toutefois la scène précédente entre l’homme et la femme qui gisait 4 Zur Technik des camera eye vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 294ff. 5 Ebd., S. 160. 249 sur le lit rend cette éventualité peu plausible) ou d’intenses conflits psychologiques qu’exprime par une série d’attitudes pathétiques et de gestes lents un personnage solitaire, […] on peut imaginer la femme restée seule se levant du lit, enfilant un déshabillé, allant et venant à pas anxieux dans la pièce, allumant une nouvelle cigarette, […] (T, 61f. ; Hervorhebungen S.Z.). Der Kontext einer Filmvorführung lässt das nicht näher bestimmte „on“ zu einem Zuschauer werden, der sich möglicherweise im Kinosaal befindet und seine Gedanken über die Handlung mitteilt. Aus den auf die Leinwand projizierten Bildern und der Begleitmusik schließt er auf die vorangegangene und sich möglicherweise anschließende Handlung, die er in Form einer visuellen Imagination dem Leser mitteilt. Der mit „on peut imaginer“ eingeleitete Abschnitt ist demnach nicht Teil des innerhalb der Fiktion ‚realen’ Films, sondern existiert nur in der Vorstellung des unbekannten Zuschauers „on“. Im Zusammenhang mit der Filmvorführung fällt auf, dass der Zuschauer - „on“ - oftmals allein auf die Aussagekraft der Bilder angewiesen ist, da die Tonspur immer lückenhafter wiedergegeben wird. Während zunächst die Dialoge der Schauspieler noch problemlos verstehbar sind (T, 39, 42), wird im weiteren Verlauf die Wiedergabe der gesprochenen Rede wiederholt beeinträchtigt, zunächst durch eine vorbeifahrende Trambahn (T, 48), dann nach einem Filmriss (T, 52f.) durch längere Intervalle, in denen nicht gesprochen wird und nur das Surren des Projektionsapparates und das Rauschen des Regens außerhalb des Kinos zu hören ist (T, 56f.). Der wichtigste Grund für die gestörte Tonrezeption liegt jedoch in den unzureichenden Sinnesorganen selbst: Il n’existe aucun rapport entre la puissance monumentale de la voix et le sens des paroles que l’on peut saisir, postulant une conversation ou plutôt des propos (car aucune autre voix ne répond) […] les quelques mots que l’oreille retient (temps, combien, manger, fortune, Reixach), prononcés de façon interrogative et légèrement ironique, retentissant à la façon d’onomatopées émises non par quelque organe de chair (langue, palais, lèvres) mais par l’un de ces mégaphones, de ces pavillons aux parois métalliques et évasées, pourvus en leur centre d’une langue rigide, et qui non seulement les lancerait dans la nuit pluvieuse mais les aurait auparavant pensés à l’aide d’un cerveau caché à sa base et luimême constitué de pièces de métal, de fils multicolores, de relais et de connections. (T, 57) 6 So wird einerseits die Stimme des Sprechers verfremdet, bis die stimmbildenden Organe nicht mehr die eines Menschen zu sein scheinen, sondern dem Ton eines Megaphons ähneln. Auch existiert zwischen der Sprechweise, der besonderen Stimmkraft einerseits, und der Bedeutung des Gesagten andererseits keinerlei Beziehung mehr: der Sinn der Worte erschließt sich 6 Der Name „Reixach“ verweist in Form eines intratextuellen Zitats natürlich auf Simons früheren Roman La Route des Flandres. 250 trotz der hinreichenden Lautstärke dem Ohr des Zuhörers nicht. Hier äußert sich der Text skeptisch sowohl gegenüber der Aussagekraft von Wörtern als auch allgemein gegenüber Sprache als Medium der Bedeutungsübermittlung zwischen einem Sender und einem Empfänger: Ihre Funktion, Sinn zu vermitteln, erfüllt Sprache nur rudimentär oder gar nicht, zumal sie in dieser Textstelle im Rahmen der Filmprojektion als etwas rein Mechanisches, sogar als Produkt eines elektronischen Gehirns erscheint. 7 Zuletzt verschwinden - bedingt durch einen paradoxen Perspektivwechsel - auch die Filmbilder: Während zuvor der unbekannte Wahrnehmende noch unter den Zuschauern im Kinosaal saß, befindet er sich nun außerhalb des Gebäudes, in der Sackgasse, in welcher das Liebespaar sein erotisches Abenteuer erlebt und das Geräusch des Regens und einer Dampflokomotive zu hören ist: Puis l’espèce de barrissement s’arrête, coupé net, laissant de nouveau place au grésillement continu de l’appareil et de la pluie, ponctué par les jets de vapeur de la locomotive qui propulse les wagons sur les différentes voies de triage, tandis que l’invisible personnage à la voix de cyclope observe peut-être maintenant l’effet de ses dernières paroles sur le visage de l’actrice gisant sur le lit, fait peutêtre quelques pas dans la pièce, ou allume à son tour une cigarette, […]. (T, 57) Dieser Perspektivwechsel bleibt handlungslogisch unmotiviert; das Rätsel um die Identität desjenigen, dessen auditive Wahrnehmungen und Imaginationen über den Fortgang des Films präsentiert werden, wird nicht aufgelöst. In der Folge bleiben dem ‚Zuhörer’ des Films zur Rekonstruktion der Handlung nur noch die Wortfetzen, die er von seinem Standort in der Nähe des Lüftungsschlitzes aus dem Kino hören kann: La voix s’élève de nouveau, les mots (ce garçon, fils, votre nom, porte pas) hurlés par la voix mécanique et éraillée semblable à celles de ces speakers rendant compte d’un match de football, suivis presque immédiatement cette fois d’autres (j’imagine, doit avoir, père, quelque part, fabuleusement, riche, lui aussi), puis d’un nouveau silence pendant lequel le cyclope se laisse peut-être tomber dans un fauteuil, se renverse en arrière ou se verse à boire les pièces compliquées et les connections du cerveau métallique amassant pendant ce temps les mots de la proposition suivante qui retentissent tout à coup à travers la nuit et la pluie : lycée, sortie, pincé, sa poche, drogues ? , quoi ? , cigarettes ? , non ? , pire ? , fichtre ! […] (T, 58f.) An dieser Textstelle ist zum einen bemerkenswert, dass die Satzfetzen bereits eine bestimmte Interpretation suggerieren: Die nackte Frau auf dem Bett ist die Mutter eines Sohnes, dessen unbekannter Vater vermutlich sehr reich ist und der beim Verlassen des lycée mit harten Drogen in der Tasche von der Polizei festgenommen wurde. Dies ist zugleich der Ausgangs- 7 Die sich hier manifestierende Sprachskepsis verweist ebenfalls auf La Route des Flandres. 251 punkt für die spezielle Beziehung zwischen den beiden, in der es um einen Handel geht: Die Frau gibt ihren Körper, damit der Mann seine Kontakte nutzt, um die Anklage des Sohnes zu verhindern und seine Entlassung aus der Untersuchungshaft zu erreichen. Zum anderen ist interessant, dass die Rede der Figuren ja einem „cerveau métallique“ zugeschrieben wird; dieses steht am Ursprung der Fiktion, die Gegenstand des Kinofilms ist. Der zitierten Textpassage wohnt in mehrfacher Hinsicht ein metafiktives Potential inne: So werden ganz explizit durch Wendungen wie „j’imagine“ und „peut-être“ Teile der Kinohandlung als nicht-faktische Imaginationen eines unbekannten Zuschauers offengelegt. Diese Ergänzungen der Kinohandlung durch die Phantasie sind deswegen notwendig, weil die Übermittlung der auditiven und visuellen Inhalte des Films lückenhaft sind - einerseits aufgrund der schlechten Qualität der Tonspur sowie aufgrund eines gewissen Lärms von außerhalb des Gebäudes, andererseits aber auch wegen der Sinnarmut der Aussagen selbst. Und schließlich steht am Ursprung der von den Schauspielern gesprochenen Sätze scheinbar kein Drehbuch oder Regisseur, sondern ein nicht näher beschriebenes „cerveau métallique“, das den Fortgang der Handlung paradoxerweise entscheidend zu beeinflussen scheint. Darüber hinaus ist die Textstelle implizit als metafiktional fungierende Metapher für die Fiktionalität des Romans Triptyque zu lesen: Auch der Roman bleibt an zentralen Stellen der Handlung elliptisch - so wird das Ertrinken des kleinen Mädchens von der Narration ebenso ausgespart wie die erotische Begegnung zwischen Mann und Frau in der Côte d’Azur- Szene oder die Prügelei des untreuen Bräutigams mit dem (mutmaßlichen) Liebhaber der Kellnerin. Der Leser ist daher - genau wie der namenlose Zuschauer des Films - auf seine Imagination angewiesen, um aus den rudimentären Informationen, die der Text liefert, die Handlung zu ergänzen. Dagegen lässt sich das „cerveau métallique“ als Metapher für den Erzähler-Autor des Romans bzw. für den skripturalen Text deuten: Die von jenem erzählte Geschichte repräsentiert nicht eine präexistente, extrafiktionale Wirklichkeit, sondern basiert vielmehr auf den zufälligen, assoziativen Wortkombinationen einer unbekannten Erzählinstanz. In beiden Fällen wird durch die Negierung der Referenz auf eine äußere Realität - mit Ausnahme von Referenzspuren wie z.B. der Landschaft der Côte d’Azur oder der nordfranzösischen Industriestadt - der Text als auf sich selbst bezogen präsentiert; er ist autoreferentiell. Nicht zuletzt verweist die zitierte Textpassage auch auf die Fiktionalität des Textes und besitzt daher eine allgemeine metafiktionale Qualität: Teile der Fiktion - die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz - genauso wie der sie hervorbringende discours werden hier als das Produkt der Imagination eines unbekannten Zuschauers bzw. einer unbekannten Erzählinstanz enthüllt. 252 Es sind jedoch nicht nur die expliziten Imaginationen, welche die beschriebenen Wahrnehmungen der unbekannten Erzählinstanz ins Reich der Phantasie verweisen, sondern auch Modalisationen wie „sembler“, „apparemment“, „plutôt“ oder auch „peut-être“, die den referentiellen Bezug einer Aussage auf die innerfiktionale Wirklichkeit in Frage stellen bzw. den Erzähler als nicht im Besitz der vollständigen ‚Wahrheit’ präsentieren. Auffälligerweise treten diese Modalisationen häufig im Zusammenhang mit der Beschreibung von Szenen aus dem an der Côte d’Azur spielenden Film auf. Als die beiden Jungen die fragmentarischen Filmstreifen in einer Batterie entdecken, 8 wechselt in der Beschreibung der Filmszene sofort der Fokus der Wahrnehmung von den Jungen zum unbekannten Erzähler: Tenant écarté le doigt blessé, le garçon étire le U [das Filmfragment besitzt noch eine U-Form, da es in der Batterie eingerollt war; S.Z.] et l’élève pour regarder en transparence sur le ciel la courte bande qui ne comprend que cinq images et la moitié d’une sixième. Au bout d’un moment il dit Mince regarde ça ! et les deux têtes se rapprochent. Sans doute s’agit-il d’une scène surtout parlée car d’une image à l’autre aucune modification, aucun changement de place, même minime, d’un membre, aucun mouvement de la tête de l’actrice n’est perceptible. […] (T, 80) Es ist die Vermutung der anonymen Erzählinstanz, die - mit „sans doute“ eingeleitet - wiedergegeben wird. Nicht nur die Sprachwahl, auch die Komplexität der Beobachtungen insbesondere im weiteren Verlauf der Textstelle lassen darauf schließen, dass nicht aus der Sicht der beiden Jungen erzählt wird, sondern aus der Perspektive eines ‚erwachsenen’ Beobachters. Gegen Ende der Beschreibung des Filmfragments öffnet sich das Blickfeld und es wird auf die zuvor bereits angedeutete Produktionssituation des Films - das Filmstudio - angespielt: Dans le visage [der Schauspielerin; S.Z.] renversé en arrière les yeux sont ouverts, regardant fixement le plafond de la chambre ou plutôt les cintres du studio de prises de vues avec leurs câbles, leurs treuils, leurs passerelles garnies de projecteurs. […] (T, 81) Hier erfolgt ein metaleptischer Bruch zwischen den Ebenen innerfiktional ‚real’ und innerfiktional ‚fiktiv’, da die Realität des Filmsets in die Beschreibung der fiktiven Szene eindringt und auf diese Weise Realität und Fiktion ‚kurzgeschlossen’ werden. 9 Doch wie im Anschluss insbesondere die Ab- 8 Es ist unklar, wie die Streifen - und warum! - in die Umhüllung der Batterie („pile“) hineingelangt sind. Dienen sie der Isolierung oder hat der Besitzer der Batterie - der ältere Junge - sie dort versteckt? 9 J. Ricardou: „Le dispositif osiriaque. (Problèmes de la segmentation: Osiris, ainsi que les Corps conducteurs et Triptyque de Claude Simon).“ (1978), S. 233, postuliert „un ef- 253 tönung durch verschiedene Modalisationspartikel deutlich macht, handelt es sich auch bei der ‚Realität’ des Filmdrehs nur um eine Mutmaßung der Erzählinstanz: Invisible mais présent, on devine le demi-cercle formé par les techniciens (opérateurs, maquilleurs, machinistes, secrétaires) groupés un peu en arrière de l’appareil de prises de vues, immobiles dans l’ombre, leurs regards convergeant vers le corps de l’actrice. Obéissant à des ordres brefs, les électriciens procèdent à des essais d’éclairage, coupant et rallumant tour à tour des rampes de projecteurs, tout s’éteignant ensuite brusquement, la toile peinte qui figure le ciel à quelques mètres derrière la fenêtre ouverte soudain plongée dans l’obscurité, le plateau du studio, pendant les quelques instants où le metteur en scène explique sans doute ses nouveaux ordres, n’étant plus éclairé que par une unique ampoule qui, probablement heurtée par quelque échelle ou quelque portant, se balance au-dessus du lit […] (T, 82 ; Hervorhebungen S.Z.). 10 Gleich im ersten Satz des Zitats wird auf die paradoxe Entstehungssituation des Films verwiesen: die scheinbar einsame Frau auf ihrem Bett ist in der ‚Realität’ von einer großen Zahl Menschen umgeben und diese Realität ist in der Aufnahme - dem Aufnahmewinkel, den Lichtverhältnissen etc. - zu erahnen. Dennoch erscheint die Produktionssituation der Filmsequenz nicht in der Aufnahme selbst - dem Bild; es handelt sich bei der Beschreibung der Studioszene also nur um eine Vermutung des betrachtenden „on“, die erkennbar wird an „on devine“ sowie an den Modalisationspartikeln „sans doute“ und „probablement“. Erzähltechnisch lässt sich diese Mutmaßung der Erzählinstanz dahingehend interpretieren, dass diese Instanz ganz im Sinne einer Camera eye-Perspektivik nur über einen begrenzten Wissenshorizont verfügt. Ein anderer Interpretationsansatz legt eine metafiktionale Deutung der Filmszene als Metapher für die Produktionssituation der Fiktion bzw. des Romans selbst nahe: Ähnlich wie der Regisseur zur Ausgestaltung des Films seine Anweisungen an die Beleuchter und Ausstatter gibt, verfügt auch der Erzähler über die Macht, seine Erzählung auf eine bestimmte Weise zu gestalten. Es zeigt sich, dass beide Interpretationen - sowohl eine aus der Erzähllogik heraus begründbare als auch eine metafiktionale - in der Textstelle angelegt sind. Dabei wirkt der metafiktionale Kommentar in zwei Richtungen: zum einen auf die Handlung des Films selbst, da ihr fiktiver Status innerhalb des Romans - also die Tatsache, dass es sich bei den dargestellten Ereignissen um eine Repräsentation von innerfiktionaler Realität in Form eines Films, jedoch nicht um die (innerfiktionale) Wirklichkeit selbst handelt - durch eine Metalepse offen gelegt wird. Zum anderen wird metafet anti-réaliste“ als Ergebnis dieser Brüche zwischen narrativen bzw. ontologischen Ebenen. 10 Ein ähnlicher Verweis auf die Produktionssituation des Films findet sich im Zusammenhang mit der Liebesszene in der nordfranzösischen Industriestadt (S. 126). 254 fiktional auch auf die spezifischen, realitätskonstruierenden, Vertextungsstrategien des Romans selbst angespielt. 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen Wie bereits angedeutet wurde, besteht schon während einer ersten oberflächlichen Lektüre von Triptyque der nachhaltigste Eindruck in der beständigen Unsicherheit über den Realitätsstatus der verschiedenen Handlungssequenzen. Der Text und die erzählten Fiktionen scheinen sich in einem fließenden Zustand zu befinden und ähneln darin dem schnell dahinfließenden Wasser des Flusslaufs in der Landschaftsszene. Diese Verwandlungen oder Metamorphosen des Textes vollziehen sich auf zwei verschiedenen Ebenen: Einerseits im Bereich der Fiktion - so erweisen sich innerhalb der Fiktion scheinbar ‚reale’ Sequenzen plötzlich als Gegenstand eines Films, einer Postkarte, eines Gemäldes, eines Filmplakats oder gar eines Puzzles. Diese ‚Verwandlungen’ der Fiktion stellen metaleptische Rahmenbrüche bzw. narrative Kurzschlüsse dar zwischen den ontologischen Ebenen der scheinbaren ‚Realität’ der erzählten histoire(s) und ihrer Enthüllung als eine Repräsentation, die - wie noch zu zeigen sein wird - nicht erzähllogisch aufzulösen sind. Andererseits finden sich Metamorphosen des Textes auch in Form einer Narrativisierung von Deskriptionen, wenn sich eine zunächst ‚leblose’ Szenerie plötzlich belebt und den Rang einer Handlung erhält, der Text von einem deskriptiven in einen narrativen Modus gleitet. 11 In Triptyque werden die drei bzw. vier verschiedenen histoires bzw. Teile von ihnen auch durch andere Repräsentationsformen abgebildet: als Gemälde, als Werbeplakat, als Film, als Postkarte, als Roman, als beleuchtetes Bild auf einer Jukebox, als Filmstreifen, als Gravüren sowie als Puzzle. Auffällig ist, dass jede der vier Fiktionen als Plakat bzw. als Film auftritt, jedoch nicht unbedingt als Roman, Gemälde oder Puzzle. Im Folgenden soll in einem kurzen Überblick dargestellt werden, durch welches Medium die verschiedenen histoires jeweils repräsentiert werden und in welche umgebende Fiktion die medial vermittelten Fiktionen eingebettet sind. Anschließend sollen einige ausgewählte Beispiele Simons 11 Wie Simon in einem Interview erklärt, orientiert er sich mit diesem Funktionswandel der literarischen Beschreibung an dem russistischen Essayisten Tyrianov, der ihre Aufwertung im Roman vom rein dekorativen zum handlungstragenden Element gefordert hatte: Sein eigenes Ziel sei daher, „[de] réaliser un roman où la description engendrerait l’action.“ (C. Simon: „Fragments de Claude Simon. [Eribon, D.].“ (1981), S. 22.) 255 Technik des metaleptischen 12 Rahmenbruchs illustrieren, um in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Funktion dieser Metalepsen in Triptyque zu beantworten. 13 Typisch für die Poetik dieses Romans ist, dass die verschiedenen histoires weniger als die Erzählung einer narrativen Instanz oder als ein innerer Monolog einer Reflektorfigur, sondern vielmehr medial vermittelt in Erscheinung treten - es findet eine Medialisierung der Fiktionen statt. Dabei lassen sich drei verschiedene mediale Kategorien voneinander unterscheiden: erstens das Medium ‚Film’ mit den Unterkategorien ‚Film als Produkt’ bzw. als fertiger Film, ‚Film als Produktion’ (also der Filmset in einem Studio), ‚Film als Fragment’ (das materielle Produkt des Filmstreifens); zweitens das Medium der im weitesten Sinne ‚bildenden Kunst’ mit den Unterkategorien ‚gemaltes (Film-)Plakat’, ‚Gemälde’, ‚anatomische Abbildung’, ‚Gravüren’, ‚Postkarte’, ‚Werbebild’ und ‚Puzzle’; sowie drittens das Medium des ‚fiktionalen Textes’ mit dem ‚roman‘, den die Schauspielerin in der Côte d’Azur-Fiktion liest, als einziger Unterkategorie. Das Erzählverfahren des Romans Triptyque zeigt sich demnach geprägt durch eine Zersplitterung der Vermittlungssituation; dieselbe histoire kann auf ganz unterschiedliche Weise im Roman präsentiert werden. Insbesondere die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz, in der eine Mutter durch einen im Text nicht repräsentierten Liebesakt versucht, ihren kriminellen Sohn vor einer Anklage und Inhaftierung zu bewahren, wird durch fast alle der genannten Medien vermittelt: Am häufigsten durch die Kategorie ‚Film’ - entweder als ein in einem Kino gezeigter fertiger Film oder als Filmset in einem Studio - genauso aber auch 12 Von G. Genette wurde zur Bezeichnung dieser narrativen Grenzüberschreitungen bzw. Kurzschlüsse zwischen binnenfiktionaler ‚Realität’ und Fiktion der Ausdruck métalepse narrative geprägt; er versteht darunter ganz allgemein „[l]e passage d’un niveau narratif à l’autre […]“ (G. Genette: Figures III. (1972), S. 243.). In seinem jüngsten Werk zur Métalepse differenziert G. Genette allerdings die frühere Definition und bezieht nun auch die unterschiedlichen ontologischen Ebenen der eingeschobenen Erzählung bzw. métadiégèse und der diese hervorbringenden diégèse mit ein: „La relation entre diégèse et métadiégèse fonctionne presque toujours, en fiction, comme relation entre un niveau (prétendu) réel et un niveau (assumé comme) fictionnel, […] : la diégèse fictionnelle apparaît ainsi comme « réelle » par rapport à sa propre (méta)diégèse fictionnelle.“ (G. Genette: Métalepse. De la figure à la fiction. (2004), S. 25f.) Darüber hinaus beschreibt er am Beispiel des Nouveau Roman A. Robbe-Grillets nun erstmals das auch für Simons Poetik typische Phänomen eines die Fiktion erst generierenden Gemäldes, „[…] cette source non proprement - ou non verbalement - narrative qu’est un tableau présent dans la diégèse, comme celui de Dans le labyrinthe, d’où sortent et où rentrent, à la guise de l’auteur, tel ou tel élément de cette diégèse environnante.“ (Ebd., S. 16.) 13 M. Bertrand verwendet zur Bezeichnung dieser unwahrscheinlichen Rahmenbrüche in seiner Studie zu Simons Langue romanesque et parole scripturale den ursprünglich von Jean Ricardou geprägten Begriff der mise en abyme mutante. (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 75.) 256 als in einem Standbild erstarrte Szene auf einem fragmentarischen Filmstreifen sowie als Filmplakat. Darstellungen, die entweder direkt diese Sequenz aufgreifen oder aber indirekt auf sie verweisen, finden sich aber auch in der Kategorie ‚bildende Kunst’ als Gemälde, anatomische Zeichnung, Postkarte sowie als Werbebild auf der Jukebox. Am zweithäufigsten wird die in einer nordfranzösischen Industriestadt spielende Liebes- und Eifersuchtsszene fremdmedial vermittelt; diese erscheint vor allem auf einem Filmplakat sowie als Gegenstand eines Romans, und nur an einer Stelle als fertiger Film. Noch seltener durch andere Medien wird die ländliche Szene um den Tod des kleinen Mädchens und den Liebesakt der zur Aufsicht verpflichteten Frau repräsentiert: Außer als fertiger Film finden sich Elemente, die auf diese Fiktion anspielen, auf den Gravüren, dem Puzzle, den Filmplakaten und dem Gemälde wieder. Eher vernachlässigbar ist die Fiktion, die die Zirkusszene zum Inhalt hat: diese tritt bis auf zwei Ausnahmen (Film und Gemälde) nur auf einem Plakat in Erscheinung. Abbildung 14: Intermediale Vermittlung der Fiktionen in Triptyque Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Repräsentation der verschiedenen Fiktionen durch die jeweiligen Medien analysiert werden, um einerseits Simons Technik der ‚Transkription’ eines nichtsprachlichen Mediums in einen narrativen Text zu veranschaulichen und um andererseits die metafiktionale Wirkung dieser wiederholten Grenzüberschreitungen zwischen innerfiktionaler Realität und ihrer Repräsenta- Fiktionen/ Szenen Medien Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) Städtische Szene in Nordfrankreich (C) Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) Film (Produkt) 90f., 160f., 162, 163f., 194f., 196f. 22f., 33-37, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 100ff., 129f., 137ff., 139-143, 215f., 223-225 123-126 189f. Filmfragmente 27-29, 31, 80-81, 83f., 96ff., 100, 170-176, 218f. Film (Produktion) 81, 82f., 128f., 130f. (Film-)Plakat 65f. 64f., 94, 104 19, 21, 25f.(? ), 94-96, 104, 145f. 10, 12ff., 21, 23, 40, 44, 76-79, 110, 117, 158, 178, 218 Gemälde 161 127f. 190 Anatomische Abbildung 81f. (? ) Gravüren 36, 42-44, 195f. Postkarte 7, 84, 200f. Werbebild Jukebox 137 Puzzle 220-223 Roman 126, 216f. 257 tion zu analysieren. Dies soll am Beispiel der Fiktion um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur geschehen. In Triptyque geschieht die Verwandlung der zu Beginn des Romans als innerfiktional ‚real’ vorgestellten Handlung um das südfranzösische Paar in ihre Repräsentation durch ein fremdes Medium ganz allmählich: Zunächst scheint der Roman noch die auktoriale Beschreibung einer ländlichen Szene durch einen unbekannten Erzähler zu präsentieren (T, 7ff.); allenfalls die auffallend im optischen Modus vermittelte Darstellung der Landschaft spielt versteckt auf die mediale Vermitteltheit an. 14 Der erste Hinweis auf das Medium ‚Film’ erfolgt sehr unauffällig nach mehreren Seiten: Un homme d’un certain âge, assez corpulent et vêtu de noir se tient debout sur la moquette rouge d’une pièce éclairée d’une lumière crue. Les pieds joints, il tourne la tête sur le côté, son visage faisant ainsi face au spectateur, comme s’il cherchait à entendre quelque bruit ou une voix à travers le panneau de la porte dont l’une de ses mains tient la poignée. […] (T, 22) Bemerkenswert an dieser Textstelle ist zunächst ganz allgemein, dass hier zum ersten Mal ein Wechsel zwischen der ländlichen und einer anderen Fiktion stattfindet - in diesem Fall handelt es sich um die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz -; diese Transgression ist vom Leser bei der Erstlektüre kaum wahrzunehmen, da sie unmarkiert erfolgt. Zentraler ist jedoch die Offenlegung des fiktiven Status der Szene innerhalb der Welt des Romans: Bei ihr handelt es sich um eine Repräsentation, wie der Verweis auf einen möglichen Betrachter, „le spectateur“, deutlich macht: denn das Vorhandensein eines Betrachters setzt immer schon ein ‚Betrachtetes’ voraus; sei es beispielsweise ein Film, ein Gemälde oder eine Photographie. Der nächste Hinweis auf die in diesem Falle filmische Repräsentation der erzählten Geschichte erfolgt weitaus expliziter, wenn die räumlichen Gegebenheiten des Kinosaales und die Mechanik des Projektionsapparates in einen direkten Zusammenhang mit dem projizierten Film gestellt werden: Des poussières aussi et des volutes bleuâtres de fumées qui s’élèvent en se déroulant et se renroulant sur elles-mêmes sont suspendues dans le faisceau de lumière qui jaillit de la cabine de projection et va de celle-ci à l’écran par-dessus les têtes des spectateurs. Des striures mouvantes dont l’intensité va du blanc au noir balaient le pinceau lumineux en fonction des déplacements des ombres et des lumières sur l’écran. Dans les courts intervalles de silence entre la voix tonitruante du commentateur et les vagues de la musique d’accompagnement on perçoit de nouveau comme un bruit de fond permanent le grésillement régulier 14 Vgl. „[…] on peut voir la trame marron.“ (T, 8), „[…] on peut voir le clocher.“ (T, 9), „[…] on peut aussi voir le clocher mais pas la grange.“ (T, 9), „[…] on voit les graminées et les ombelles […]“ (T, 9) etc. 258 du mécanisme de l’appareil. A chacun des déplacements, à l’intérieur du pinceau, des soies rigides, lumineuses ou obscures, correspondent sur l’écran des modifications de l’image projetée. Des façades blanches aux décorations boursouflées défilent lentement de droite à gauche, animées simultanément d’un double mouvement, c’est-à-dire tressautant rapidement de bas en haut par suite sans doute de l’usure du mécanisme de projection, ce premier mouvement, de courte période, se superposant à un autre, également dans le sens de la hauteur et provenant, lui, du fait que le film a été tourné à partir d’un bateau, probablement une vedette automobile, se déplaçant le long du rivage, montant et descendant au gré des vagues. […] Certains des baigneurs allongés sur la plage ou des enfants debout au bord de l’eau agitent le bras et font des signes en direction des spectateurs ou plutôt de la vedette sur lequelle [sic] ils ont sans doute aperçu la caméra de prises de vues et le groupe de cinéastes. […] (T, 33-35) Hier wird explizit auf eine filmische Repräsentation in der erzählten Welt angespielt: Das sich bewegende Bild auf der Leinwand erscheint als das Produkt eines Lichtkegels, in dessen Schein tanzende Staubflocken und bläulicher Qualm zu erkennen sind; der Lichtkegel selbst zeigt sich aufgefächert in helle und dunkle Farbtöne je nach der ursprünglichen Ausleuchtung der Szene auf der Leinwand. Insbesondere aber sind das Bild auf der Leinwand und der Ton im Kinosaal durch die Bedingungen der speziellen filmischen Vermittlung determiniert: So erklingt parallel zur Stimme des Kommentators auch das unaufhörliche Surren des Projektionsapparates und die Bilder auf der Leinwand resultieren aus den Veränderungen in den Helligkeitsverhältnissen innerhalb des Lichtkegels. In diesem Zusammenhang ist das Auf- und Abgleiten des auf die Leinwand projizierten Bildes nicht allein durch die Aufnahmesituation bedingt - die Filmeinstellung wurde vermutlich von einem Motorboot aus gedreht -, sondern auch durch die Altertümlichkeit des Projektionsgerätes. 15 In dieser Textstelle wird demnach explizit auf die filmische Repräsentation der Fiktion um das Paar an der Côte d’Azur verwiesen. Die im Film vermittelte Geschichte erscheint nun innerhalb der binnenfiktional ‚realen’ Welt der nordfranzösischen Industriestadt als irreal, als künstlich in Form eines in diese Welt ‚eingebetteten’ Films, den die Zuschauer in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino sehen. 16 Ein Teil der histoire in Triptyque, der zunächst als binnenfiktional ‚real’ präsentiert wurde, wird nun als die innerfiktionale Fiktion eines Spielfilms entlarvt. Die an der Côte d’Azur spielende Handlung erscheint in Triptyque nicht nur als vollständiger Film, sondern auch in Form von Einzelbildern bzw. 15 Eine Entsprechung der metafiktionalen Ebenenüberschreitung zwischen der zunächst scheinbaren innerfiktionalen Realität der Handlung um das Paar in dem Zimmer und ihrer Offenlegung als eine filmische und damit fiktionale Repräsentation findet sich, wenn die Badenden im Film den Zuschauern im Kinosaal zuzuwinken scheinen, in der Realität des Films hingegen dem Filmteam winken. 16 Vgl. ebenso T, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 223-225. 259 Filmstreifenfragmenten, welche die beiden Jungen in der Dorf-Fiktion besitzen. Zunächst betrachtet der größere Junge alleine in seinem Zimmer zwei kurze Filmstreifen, von denen der eine sechs und der andere vier Bilder umfasst. 17 Erzähltechnisch interessant an der Beschreibung der Filmfragmente ist die Überblendung der innerfiktionalen Realität - das Zimmer des Jungen - mit den innerhalb der Fiktion fiktiven Filmbildern: Elevant l’une d’elles dans la lumière, il regarde par transparence l’un des petits rectangles où l’on distingue deux personnages assis derrière une table basse où sont posés des verres et un cendrier. L’ensemble de l’image est sombre, comme, par exemple, l’intérieur d’un bar, et seuls les deux visages, les plastrons des chemises, les mains et le cendrier de faïence posent des taches claires. Entre les deux personnages, le garçon peut voir bouger la silhouette noire de la vieille femme sous le prunier. Les taches claires des visages, des plastrons et des mains se font imprécises, floues, et semblent suspendues devant le fond lumineux du verger où l’échantillonnage varié des verts vu à travers la pellicule sombre est toutefois ramené à une gamme uniforme de verts olive seulement différenciés par leurs valeurs. […] (T, 27f.) Die Beschreibung der Filmfragmente lässt die Abgrenzung der Ebenen ‚binnenfiktional-real’ und ‚binnenfiktional-fiktiv’ zunächst im Unklaren, wenn der Junge zwischen den beiden auf dem Filmbild abgebildeten Figuren den Umriss der alten Frau unter dem Pflaumenbaum erkennen kann. Doch wird diese Ambivalenz der Deskription bereits im nächsten Satz auf eine Bedeutung festgelegt, wenn zwischen der innerhalb der Welt des Romans ‚realen’ Umgebung des Gartens und den auf dem Filmbild repräsentierten Figuren unterschieden wird. So kommt es - wie bereits im Zusammenhang mit der Projektion des Films auf die Leinwand des Kinosaals - bei der Beschreibung der Filmstreifenfragmente zu einer Überschneidung zwischen innerfiktionaler ‚Realität’ und ‚Fiktion’, in deren Verlauf sich die abgebildete Szene um das Paar an der Côte d’Azur eindeutig als innerfiktional fiktiv bzw. ‚künstlich’ herauskristallisiert. 18 Doch erscheint die Handlung um das Paar an der Côte d’Azur nicht nur als Film, der in einem oder auch mehreren Kinosälen auf die Leinwand projiziert wird, sondern der Leser wird paradoxerweise auch Zeuge der Entstehung dieses Films. Zunächst sind die Hinweise noch eher versteckt, wenn anlässlich der Beschreibung der Filmfragmente auf die Aufnahmesituation angespielt wird: 17 T, 27. 18 Vgl. auch T, 29, 80f., 83f., 96-98, 100, 170-176, 218f. Ein gelungenes Beispiel für die Überblendung von Realität und Fiktion ist auch die Szene, in der plötzlich Insekten und Kühe durch das Zimmer, in dem die Schauspielerin auf ihrem Bett liegt, zu laufen scheinen - diese sind Teil der Umwelt des Jungen, der die Filmfragmente vor dem Hintergrund seiner Umgebung betrachtet. (T, 97f.) 260 La vue légèrement plongeante est prise d’un point situé à un mètre environ en arrière de la tête du lit, ce qui donne à penser […] que le lit se trouve au centre de l’espace vide du plateau du studio fermé à l’extrémité opposée par un décor composé de panneaux, également nus, au centre desquels s’ouvre le rectangle d’une fenêtre où ne s’encadre rien d’autre qu’un ciel sans nuages, d’une teinte uniforme comme passée par un peintre en bâtiment sur une toile située à quelques mètres en arrière de la fenêtre. […] Dans le visage renversé en arrière [de l’actrice; S.Z.] les yeux sont ouverts, regardant fixement le plafond de la chambre ou plutôt les cintres du studio de prises de vues avec leurs câbles, leurs treuils, leurs passerelles garnies de projecteurs. […] (T, 80f.) Mehrfach wird auf die Künstlichkeit der Rahmensituation angespielt, in der sich die Handlung um die auf dem Bett liegende Frau vollzieht: die Sicht hinab auf die Frau erfolgt von einem erhöhten Standpunkt hinter dem Kopfende ihres Bettes aus; die Aufstellung des Bettes im Raum lässt insgesamt an die offene ‚Bühne’ in einem Filmstudio denken, die nur an einer Seite durch eine Wand begrenzt ist, welche wiederum mit einem Fenster durchbrochen ist. Das Blau des durch dieses Fenster sichtbaren Himmels lässt in seiner gleichmäßigen Farbgebung an eine bemalte Leinwand denken, die jenseits des Fensters aufgespannt ist. Auch scheint sich der Blick der Schauspielerin weniger an die Decke eines wirklichen Zimmers zu richten als vielmehr auf einen Schnürboden, von dem die verschiedenen Kabel, Haken und Scheinwerfer herabhängen. Schließlich erscheint die Aufnahmesituation des Studios einen kurzen Moment lang im fertiggestellten Film, als die Schauspielerin von ihrem Bett aus die verspiegelte Schranktür in Bewegung setzt und diese kurz die Filmkamera reflektiert: Dans son mouvement tournant, la glace a reflété pendant une fraction de seconde la pénombre du studio où dans un camaïeu brun est apparue la forme noire de la caméra de prises de vues aux yeux multiples, ses tambours, son socle, ses câbles, et les visages attentifs quoique imprécis des techniciens de l’équipe massés derrière elle. (T, 129) Und zuletzt bricht die innerfiktionale Realität des Filmdrehs explizit und massiv in die Fiktion selbst - den Film - ein: […] la voix au fort accent anglais disant Maintenant vous devriez essayer de dormir voulez-vous que je vous donne ces cachets? , la voix du metteur en scène criant alors Coupez, et les lumières des projecteurs s’éteignant les unes après les autres sur les passerelles invisibles dans les ténèbres des cintres qui se referment peu à peu. Pendant un moment on peut entendre le remue-ménage des appareils que l’on change de place, la voix du metteur en scène qui commente la prise de vues ou donne ses ordres, et les discussions des techniciens qui s’affairent pour les exécuter. L’acteur anglais s’est assis en arrière de la caméra et à l’écart, dans un fauteuil pliant. […] (T, 130) Die Ereignisse um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur sind dadurch endgültig in das Reich der innerfiktionalen Fiktion verwiesen; sie 261 besitzen keinen Realitätsstatus, sondern werden als Gegenstand eines Films nun innerhalb der Welt des Romans als künstlich im Sinne von ‚erfunden’ und ‚(als Spielfilm) gemacht’ offengelegt. 19 Neben diesen im engeren Sinne filmischen Repräsentationen der Handlung um das Paar an der Côte d’Azur findet sich ihre Darstellung noch als Filmplakat, das sowohl am Kino in der flandrischen Industriestadt angebracht ist als auch an der zum Kinosaal umfunktionierten Scheune in dem zentralfranzösischen Dorf. 20 Darüber hinaus sind Elemente, die ursprünglich zu der beschriebenen Filmhandlung gehören, auch in einem Gemälde anzutreffen, das den (bzw. denselben? ) dickleibigen Mann aus dem Film zeigt, ohne dass die logische Ordnung von Film und Gemälde aufgelöst würde. 21 Ähnliches gilt für die anatomische Abbildung, die den auf dem Bett liegenden, nackten Körper der (bzw. derselben) Frau darzustellen scheint. Schließlich zeigt neben dem Werbebild auf der Jukebox 22 auch die wiederholt beschriebene Postkarte Elemente der Sicht auf die Côte d’Azur, die in den Beschreibungen der Filmszenen ebenfalls auftauchen; daher ist die Postkarte ebenfalls zu den intermedialen Repräsentationen jener Fiktion zu zählen. 23 Sie thematisiert explizit das in Simons Werk wiederholt behandelte Problem der adäquaten Repräsentation einer außerliterarischen Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur bzw. allgemein der Kunst. Die beschriebene Ansichtskarte stellt eines jener Produkte des touristischen Handels dar, auf denen die jeweilige Landschaft mit einfachen und unzureichenden photographischen Mitteln abgebildet ist und die deswegen nur ein unvollständiges Abbild der ursprünglichen Realität präsentieren: La carte postale représente une esplanade plantée de palmiers qui s’alignent sous un ciel trop bleu au bord d’une mer trop bleue. Une longue falaise de façades blanches, éblouissantes, aux ornements rococo, s’incurve doucement en suivant la courbe de la baie. Des arbustes exotiques, des touffes de cannas sont plantés entre les palmiers et forment un bouquet au premier plan de la photographie. Les fleurs des cannas sont coloriées d’un rouge et d’un orangé criards. Des personnages aux costumes clairs vont et viennent sur la digue qui sépare l’esplanade de la plage. L’encrage des différentes couleurs ne coïncide pas exactement avec les contours de chacun des objets, de sorte que le vert cru des palmiers déborde sur le bleu du ciel, le mauve d’une écharpe ou d’une ombrelle mordent sur l’ocre du sol ou le cobalt de la mer. […] (T, 7) Dabei resultiert der vom Hersteller derartiger Produkte wohl unbeabsichtigte Eindruck der übertriebenen Zurschaustellung von Künstlichkeit ins- 19 Dieser Interpretation liegt die Prämisse zugrunde, dass es sich bei dem Film um keinen Dokumentarfilm handelt. 20 T, 64f. bzw. 94 und 104. 21 T, 127f. 22 T, 137. 23 T, 7, 84, 200f. 262 besondere aus der Farbgebung und aus dem Farbverlauf: Die Farben sind nicht nur zu monochrom - zu blau, zu weiß bzw. ‚schreiend’ rot und orange -, sie stimmen auch nicht exakt mit den Konturen der Formen überein, deren Farbigkeit sie ausmachen. 24 So tritt das Grün der Palmen in das Blau des Himmels über, ebenso das Lila eines Schals oder eines Sonnenschirms in die Ockerfarbe des Bodens oder in das Kobaltblau des Meeres. Die Postkarte lässt sich daher in mehrfacher Hinsicht als metafiktionaler Kommentar lesen: Erstens deutet sie schon gleich zu Beginn des Romans die Künstlichkeit eines Teils der erzählten histoire an, und zwar die der an der Côte d’Azur spielenden Fiktion. 25 Zweitens thematisiert sie explizit das Problem der Repräsentation von Wirklichkeit durch die bildende Kunst, die ja insbesondere auch durch ihre Farbwahl die abgebildete Realität - als effet de réel 26 - wiederzugeben versucht. Und drittens spielt die Karte implizit auch auf das Repräsentationsproblem allgemein an, mit dem sich jede Kunstform konfrontiert sieht: Wie kann eine Realität jenseits der Kunst adäquat repräsentiert werden? Die in Triptyque vertretene Position wird einerseits aus der Häme gegenüber Machwerken wie die beschriebene Ansichtskarte und andererseits durch die spezifische Ästhetik des Romans selbst deutlich: Die Kunst ist aus verschiedenen Gründen nicht imstande, die Wirklichkeit mimetisch zu imitieren: In Abhängigkeit von der Zahl der Betrachter existieren auch eine Vielzahl von Wirklichkeiten, so wie in Simons Roman dieselbe Handlungssequenz durch unterschiedliche Medien und in verschiedenen Kontexten leicht verändert repräsentiert wird. Darüber hinaus besteht die Freiheit der Kunst darin, ein eigenes Bild der Wirklichkeit zu erschaffen und zu diesem Zweck die ihr jeweils zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Photographie als scheinbar ‚realistischste’ Repräsentationsform von Wirklichkeit, wird ihr doch gemeinhin die Fähigkeit zugeschrieben, im Gegensatz zu den anderen Künsten Wirklichkeit, ‚so wie sie ist’, abzubilden. Doch wird diese scheinbar herausragende Bedeutung der Photographie in Simons Roman durch die ‚Potenzierung von Künstlichkeit’ persifliert: Das innerhalb der erzählten Welt fiktive Abbild der Wirklichkeit auf der Postkarte ist (noch) künstlicher als die sie rahmende, ebenfalls fiktive Umgebung der Küche. Diese impliziten Kommentare zur Repräsentationsfunktion von Kunstwerken verweisen auf die in Triptyque vertretene These: Kein Medium kann ‚wahrer’ als ein anderes die äußere Realität abbilden, sondern jede 24 Hierzu auch J. Duffy: „Bureau des référents perdus: La représentation populaire et le texte productible dans l’œuvre de Claude Simon.“ (1994), S. 57. 25 Allerdings erschließt sich diese Vorausdeutung auf die Künstlichkeit der ‚mondänen’ Fiktion erst im Rück’blick’ der Lektüre. 26 Vgl. zu diesem Terminus R. Barthes: „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002), S. 1261. 263 Repräsentationsform erschafft ihr spezifisches Bild, das nicht notwendig auf eine eindeutig identifizierbare äußere Realität bezogen sein muss. 27 In Triptyque erweisen sich die verschiedenen Fiktionen zudem nicht nur wiederholt als Gegenstand anderer Repräsentationen, sondern diese ‚Repräsentationen einer Repräsentation’ sind, ähnlich einer russischen Matroschka-Figur, ineinander verschachtelt, bis die Hierarchie zwischen eingefügter und aufnehmender Szene sowie diejenige zwischen den ontologischen Ebenen der (innerfiktionalen) ‚Realität’ und der ihrer Repräsentation vollends aufgelöst zu sein scheint bzw. für den Leser nicht mehr nachvollziehbar ist. Wie aus der folgenden Übersicht deutlich wird, enthalten sich (mit Ausnahme der Zirkusszene, die einen Sonderstatus in Simons Text einnimmt) alle Szenen gegenseitig in Form verschiedener Repräsentationen. So finden sich z.B. die Plakate, welche die den an der Côte d’Azur spielenden Film ankündigen, in der ländlichen Szene wieder bzw. die Gravüren an der Wand des Zimmers an der Côte d’Azur greifen einige Elemente des in der Scheune stattfindenden Liebesakts auf. Eingefügte Szene Aufnehmende Szene Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) Städtische Szene in Nordfrankreich (C) Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) 7, 27-29, 31, 80-83, 84, 94, 96ff., 100, 100-102, 129 (? ), 137-146 (? ), 170-176, 218f. 14, 19, 21, 94-96 10, 12ff., 21, 23, 40, 44, 76-79, 110, 117, 178 Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) 36, 42-44, 195f., 220- 223 126f., 216f. -- Städtische Szene in Nordfrankreich (C) 65f. 33-37, 48, 50-53, 57- 62, 64f., 99f., 129 (? ), 137, 223-225 -- Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) -- -- -- Unbekannt 90f., 160f., 163f., 194f. -- -- 189f. Abbildung 15: Reziproke Einbettung der Fiktionen in Triptyque Es soll betont werden, dass diese gegenseitigen Einbettungen der jeweiligen Handlungssequenzen nicht per se unwahrscheinlich bzw. handlungslogisch unmöglich sind, sondern sich in der Mehrzahl der Fälle durchaus im Einklang mit der jeweiligen Geschichte lesen lassen. Daher soll als Beispiel für eine handlungslogisch mögliche Verschachtelung des Textes im Folgenden zunächst die Einfügung der Episode um den an der Côte 27 Vgl. zu diesem Aspekt auch J.A.E. Loubère, der die Funktion der Postkarte darin erkennt, „[…] to shock us into reflection upon reality itself, or what we have always taken for reality.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 216.) 264 d’Azur gedrehten Film in die beiden anderen Fiktionen - die Dorf- und die Stadtfiktion - untersucht werden. Anschließend sollen zur Kontrastierung zwei paradoxe Einfügungen präsentiert werden, die handlungslogisch nicht mehr nachvollziehbar bzw. möglich sind und die der histoire zunehmend einen unwahrscheinlichen Anstrich verleihen. Dabei handelt es sich zum einen um das in Form einer multiplen Metalepse vermittelte Ende des Liebesaktes zwischen dem Bräutigam und der Kellnerin in der nordfranzösischen Stadt und zum anderen um die unbestimmt bleibende Szene, welche die in Zentralfrankreich angesiedelte Handlung aufnimmt. Wie im vorherigen Kapitel bereits deutlich wurde, handelt es sich bei der Fiktion des Paares an der Côte d’Azur um die mit dem größten Variantenreichtum vermittelte histoire. So wird die Thematik dieser Handlungssequenz nicht nur von sehr verschiedenen Repräsentationsformen aufgegriffen, sondern sie erscheint wiederholt auch in den beiden anderen histoires - der dörflichen sowie der städtischen Szenerie. Allerdings werden die jeweiligen Einfügungen der Sequenz ‚Côte-d’Azur’ in der Regel durch die Logik der Handlung begründet: 28 So wird sowohl im Dorf in einer Scheune als auch in der nordfranzösischen Stadt in einem Kino ein Film gezeigt, der die Geschichte um das Paar präsentiert. 29 Ebenso finden sich an beiden Orten Kinoplakate, die diesen Film ankündigen. 30 Im Rahmen der im Dorf spielenden Handlung finden sich darüber hinaus noch Verweise auf die Côte d’Azur-Fiktion in Form der Postkarte, die sich auf dem Küchentisch befindet, sowie in den Filmfragmenten, die der Junge erst allein und später mit seinem Freund untersucht. 31 Dagegen verweist in der Handlungssequenz, die die Ereignisse in der flandrischen Industriestadt zum Inhalt hat, das Werbebild der Jukebox auf die Côte d’Azur-Episode. 32 Neben diesen handlungslogisch plausiblen Verschachtelungen finden sich in Triptyque jedoch mehrere paradoxe Einfügungen, die nicht von der Handlungslogik legitimiert werden, sondern den Ereignissen zunehmend 28 Diese handlungslogisch nachvollziehbare Einfügung findet sich natürlich auch bei den beiden anderen histoires: So wird auf die dörfliche Szene im Rahmen des an der Côte d’Azur spielenden Films durch die Gravüren verwiesen, die über dem Bett der Schauspielerin hängen (T, 36, 42-44, 195f.) sowie durch das Puzzle, das die zu Beginn des Romans beschriebene Szene wiederaufgreift (T, 220-223). Schließlich findet sich die dörfliche Szene auch im Rahmen der in Nordfrankreich angesiedelten Handlung in Gestalt eines Kinoplakates wieder (T, 65f.). Ebenso ist die Einfügung der städtischen Szenerie Flanderns in die dörfliche Szene Mittelfrankreichs handlungslogisch legitimiert, wenn sie in Form der Plakate an der Scheune geschieht (T, 14, 19, 21, 94- 96). Im Falle der mondänen Szene wird die in Nordfrankreich spielende Handlung handlungslogisch nachvollziehbar in dem Roman wieder aufgegriffen, den die Schauspielerin liest (T, 216f.). 29 ‚Dorf’: T, 137-146; ‚Stadt’: T, 33-37, 48, 50-53, 57-62, 99f., 223-225. 30 ‚Dorf’: T, 93f.; ‚Stadt’: T, 64f. 31 Postkarte: T, 7, 84, 200f.; Filmfragmente: u.a. T, 27-29, 80-81, 100-102, 170-176. 32 Jukebox: T, 137. 265 einen irrealen Anstrich verleihen und den von der Forschung vielfach beschriebenen „vertige de la représentation“ 33 in diesem Roman begründen. Eine sehr auffällige multiple Metalepse findet sich im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Sackgasse: Nach dem Liebesakt trennt sich der Bräutigam von der jungen Kellnerin, woraufhin diese in die Kneipe zurückkehrt. Dort wird sie bereits von dem mit einer Lederjacke bekleideten anderen Mann erwartet. Ohne dass viele Worte gewechselt werden, wird schnell deutlich, dass dieser Mann ‚Rechte’ an der Frau besitzt - entweder waren sie liiert oder sind es noch immer - und dass er nun eifersüchtig auf den von ihm vermuteten oder vielleicht auch beobachteten Liebesakt zwischen der Kellnerin und dem Bräutigam reagiert. Schließlich zieht oder vielmehr schleudert („projeter“) er die junge Frau in die Kneipe zurück, während er selbst sich mit seinem Motorrad an die Verfolgung des Nebenbuhlers macht. 34 An diesem Punkt in der Darstellung der Handlungsabläufe angelangt, erfolgt plötzlich ein Einschnitt, der das soeben Erzählte unvermittelt als Gegenstand eines Films präsentiert: Sans doute la caméra a-t elle été hissée au sommet, soit d’un clocher, soit encore de l’un de ces échafaudages de poutrelles métalliques qui s’élèvent au-dessus du puits d’une mine et qui dominent l’agglomération, mais en tout cas dans l’axe de la longue artère, car l’on découvre celle-ci en vue plongeante, faiblement éclairée de loin en loin par les réverbères. Sur la surface obscure de l’écran, l’agglomération apparaît comme une vaste plage sombre dont les lumières dessinent en maigres pointillés le réseau anarchique des rues entre les maisons uniformes et basses, les entrepôts, les usines, le long du canal à l’eau stagnante où bougent à peine les reflets. […] (T, 126) Da bislang ein Hinweis auf eine mediale - filmische - Repräsentation der Ereignisse um das Paar eher unauffällig in Form der verschiedenen Filmplakate erfolgte, ist dieser Einschnitt durchaus als metafiktionaler Bruch in der Verortung der Handlung zu werten. Während die Fiktion um das Paar in der Sackgasse bislang als innerfiktional ‚real’ präsentiert wurde, erweist sie sich nun ‚bloß’ als die Beschreibung eines Films, der diese Geschichte zum Gegenstand seiner fiktiven Handlung hat. Doch erfolgt bald darauf ein neuer Einschnitt und die zunächst fortgeführte Beschreibung der nun als Film offengelegten Handlung um den seinen Nebenbuhler verfolgenden Motorradfahrer wird erneut abgebrochen und erscheint nun als das Kapitel eines Romans, den die Schauspielerin in der Côte d’Azur-Fiktion liest: […] Toutefois, arrivé à une vingtaine de mètres de celui qu’il poursuit, son conducteur ralentit et s’arrête. Il hisse la lourde machine sur le trottoir, rabat sa 33 So z.B. S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 324. Ähnlich auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 155. 34 T, 123-126. 266 béquille, et continue alors à pied. D’un réverbère à l’autre l’intervalle entre les deux hommes diminue. Arrivée à ce point du récit qui, d’ailleurs, clôt un chapitre, la femme interrompt sa lecture. Sans doute l’air qui pénètre par la fenêtre ouverte sur le ciel noir apporte-t-il maintenant un peu de fraîcheur, car elle a tiré à demi sur elle le drap du dessus qui couvre ses jambes, son ventre, sa poitrine, et dont ne dépassent que ses épaules et les deux bras nus. L’un de ses doigts bagués glissé entre deux pages à l’endroit où elle en est restée, elle tient le livre à plat sur le lit, le titre contre le drap, la quatrième page de la couverture où s’étalent les titres des autres ouvrages de la collection seulement visible. […] (T, 126f.) Angesichts dieses erneuten Einschnitts stellt sich die Frage nach dem Realitätsstatus dieser Episode innerhalb der fiktiven Welt: Bei ihr handelt es sich nun nicht mehr um den Bericht eines unbekannten Erzählers, sondern ‚bloß’ um einen Film, den eine unbekannte Wahrnehmungsinstanz in einem Kino sieht; auf diese Weise erhält die Handlung um das Paar in der Sackgasse einen innerfiktional fiktiven Status. Darüber hinaus klärt der Text nicht darüber auf, ob die Frau einen Roman liest, der die Geschichte des Liebespaares an der Backsteinmauer in einer medial unvermittelten Form präsentiert, oder ob dieser Roman paradoxerweise denselben Film über das Paar erzählt, der zu Beginn der zitierten Handlungsfolge an einem unbekannten Ort vorgeführt wird. 35 Mit anderen Worten: Stellt der Film über das Paar in der Sackgasse eine Verfilmung eben des Romans dar, den die Schauspielerin im Begriff zu lesen ist, oder beinhaltet dieser fiktive Roman selbst eine paradoxe Verschachtelung der Erzählsituation im Sinne eines ‚Films im Buch’? 36 Indes besitzt die zitierte Textstelle eine gewisse metafiktionale Implikation, da erneut ein Teil der Handlung - die Ereignisse um das Paar in der Sackgasse -, der zunächst innerhalb der fiktionalen Welt als Gegenstand eines ‚realen’ Berichts eines Erzählers galt, sich plötzlich als fiktiv im Sinne von ‚erfunden’ und ‚nicht-wirklich’ offenbart. Der sich an den zitierten Abschnitt anschließende Text präsentiert den mutmaßlichen Liebhaber der Frau in der Côte d’Azur-Fiktion: Assis ou plutôt enfoncé dans un fauteuil auprès d’un petit guéridon, l’homme au complet sombre, au gilet toujours strictement boutonné en dépit de la chaleur, tient d’une main le combiné à hauteur de son oreille droite. Il est penché en avant, dans une posture qui trahit une certaine tension, […] le coude droit appuyé sur la cuisse droite, le visage incliné vers la moquette rouge et presque tout entier dans l’ombre d’où saille à peine l’extrémité de son nez plat. Il semble que l’artiste s’y soit repris à plusieurs fois avant de se satisfaire de l’état final de son 35 Auch J.A.E. Loubère hält den Film über das Paar in der Sackgasse für die Verfilmung des Romans, den die Schauspielerin im Begriff zu lesen ist. (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 209. 36 Zu dem Status der Fiktion um das Paar in der Sackgasse als Handlung eines Romans vgl. T, 216f. 267 travail, ayant peint d’abord le visage tourné vers la droite (c’est-à-dire vers le petit guéridon où est posé le socle du combiné), comme en témoigne un profil raclé au couteau (ou peut-être ne convient-il de voir dans cette tache plate, où la couleur du mur resurgit, à peine altérée par la couche de peinture grattée, et d’ailleurs plus grande que la tête elle-même, que l’ombre de celle-ci projetée par une lampe basse située sur la gauche du personnage), puis, une seconde fois, dans sa position définitive, c’est-à-dire de trois quarts, la face baignant dans une demi-teinte violacée. […] (T, 127f.) Hier erfolgt erneut ein Bruch in der Kontinuität des Erzählens: Die Beschreibung des sitzenden und telefonierenden Mannes erweist sich nun als ein Gemälde, das von einer unbekannten Wahrnehmungsinstanz beschrieben wird. 37 Allerdings scheint der nicht näher bestimmte Betrachter des Bildes nicht um ein umfassendes, auktoriales, Wissen zu verfügen, da er auf Vermutungen über die Bedeutung einzelner Bestandteile des Gemäldes zurückgreifen muss: Sind bestimmte wahrnehmbare Veränderungen in der Komposition von vorneherein beabsichtigt gewesen oder erst nachträglich eingefügt worden? Viel wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch die Frage nach der Beziehung zwischen der Gemäldebeschreibung einerseits und der vorangegangenen Handlungsszene andererseits. Sollte diese auch Teil des Gemäldes sein, so dass es sich bei der vorangegangenen Szene um die paradoxe Belebung einer Gemäldebeschreibung handelt, oder bildet das Bild nur zufällig Teile der vorher beschriebenen Handlung ab? Auch hier bleibt der Text die Antwort schuldig und die von ihm produzierte Ambivalenz unaufgeklärt. Das beschriebene Gemälde lässt sich darüber hinaus auch im Hinblick auf eine metafiktionale Inszenierung von Künstlichkeit interpretieren, da es einen Teil der Handlung, der in dem vorangehenden Textabschnitt noch nicht eindeutig als Film definiert wurde, innerhalb der Fiktion als mediale Repräsentation einer fiktiven Wirklichkeit aufdeckt. Im Anschluss erfolgt ein erneuter Wechsel - das Gemälde scheint sich zu ‚beleben’ -, bis die Beschreibung des statischen Gemäldes schließlich erneut in eine Handlung übergeht: Lorsqu’il change de position, la lumière crue du plafonnier glissant sur le visage révèle, en noir et rose, les traits lourds, fatigués, tandis que par un réflexe irraisonné il tourne la tête vers le support du combiné, comme pour mieux faire face à son interlocuteur invisible, les traits du visage soudain projetés en avant, le regard toutefois en retrait, fixe, comme ailleurs, à la fois vide et acéré […] (T, 128). Schließlich erklärt sich auch diese paradoxe ‚Animation’ der Deskription: Die abgebildete Szene erweist sich als Teil eines Films; die erneut beschriebene Frau und der Mann sind Schauspieler: 37 Vgl. ebenso die ‚Verwandlung’ des Films über die alte Frau und ihre Hasen in ein Gemälde (T, 160f.). 268 Sortant une jambe de sous le drap et l’étirant, la femme atteint de son orteil la porte, pourvue d’une glace, de l’armoire située près du lit et la fait pivoter sur ses gonds jusqu’à ce que dans l’étroit rectangle délimité par les deux côtés verticaux apparaisse la tête couperosée [de l’homme ; S.Z.], vue maintenant en profil perdu, […]. Dans son mouvement tournant, la glace a reflété pendant une fraction de seconde la pénombre du studio où dans un camaïeu brun est apparue la forme noire de la caméra de prises de vues aux yeux multiples, ses tambours, son socle, ses câbles, et les visages attentifs quoique imprécis des techniciens de l’équipe massés derrière elle. (T, 128f.) 38 Der kurze Hinweis auf die Repräsentationsform ‘Film’ findet sich in einem ‘Bild im Bild’, denn die Filmkamera wird kurz von dem Spiegel der sich hin- und herdrehenden Schranktür erfasst. Die Kamera verweist metafiktional auf die Produktionssituation der Fiktion - in diesem Fall des Films - und legt auf diese Weise die Artifizialität der Handlung offen. Der nächste Bruch in der Erzählung ist zwar immer noch überraschend, dafür aber erstmals erzähllogisch plausibilisiert, da der Film nun in die Vorführsituation des Kinos eingebettet ist: L’appareil de projection vétuste fait soudain entendre un cliquetis anormal tandis que, sur l’écran, le visage collé au combiné passe par saccades d’une position à l’autre, comme une série de plans fixes, à partir de la position initiale de la tête vue d’abord presque de dos, puis en profil perdu, puis de profil, puis de trois quarts, une nouvelle tempête de sifflets, de protestations et de cris d’animaux s’élevant dans la salle, s’apaisant presque aussitôt, empêchant toutefois de saisir les paroles qui s’échappent des lèvres, le visage maintenant de face, la projection reprenant normalement, la main droite reposant le combiné sur son support, […]. (T, 129) Allerdings findet sich kein Hinweis darauf, um welche der beiden Vorführsituationen es sich handelt: ob um das Kino in der nordfranzösischen Stadt oder um die zum Kinosaal umfunktionierte Scheune in dem Dorf. 39 Im ersten Fall entstünde ein neues Paradoxon und die Einbettung der Szenen würde sich wie folgt darstellen: Die Handlung um das Paar in der Sackgasse, die selbst ein Film ist, findet sich zugleich in einem Buch, das die Schauspielerin in dem an der Côte d’Azur spielenden Film liest. Und der an der Côte d’Azur spielende Film wiederum wird in dem Film über das Paar in der Sackgasse gespielt. 40 38 Mit ihrem ‚Auge’ spielt auch die Filmkamera auf den überall im Roman präsenten voyeuristischen Blick an. 39 Es muss allerdings bedacht werden, dass nur wenige Seiten später eine Filmvorführsituation eindeutig bestimmt wird: Es handelt sich hierbei um das Kino in der nordfranzösischen Industriestadt, so dass der Schluss nahe liegt, dass es sich bei dem zuerst nicht näher lokalisierten Ort der Filmprojektion ebenfalls um dieses Kino handelt (Vgl. T, 131f.). 40 Der sich an das Zitat anschließende Abschnitt liefert eine Beschreibung der Filmszene, in welcher die Frau von den mit Erfolg gekrönten Bemühungen des Mannes um die Freilassung ihres Sohnes aus der Haft erfährt (T, 129f.). 269 Doch erfolgt unvermittelt ein neuer Einschnitt in den discours; wieder wird die Produktionssituation des Kinofilms aufgegriffen, dieses Mal jedoch explizit: […], la voix du metteur en scène criant alors Coupez, et les lumières des projecteurs s’éteignant les unes après les autres sur les passerelles invisibles dans les ténèbres des cintres qui se referment peu à peu. […] Lorsque les rampes des projecteurs se rallument l’une après l’autre, l’appareil de prises de vues a été roulé en avant et dans le viseur s’encadrent en gros plan la tête, le buste et les bras de la femme qui feuillète en arrière (sans doute à la recherche d’un passage mal lu ou d’un détail auquel elle n’avait pas suffisamment prêté attention) le livre dont, un peu plus tôt, elle a interrompu la lecture. (T, 130) 41 Auch bei diesem Einschnitt bleibt die Hierarchie der verschiedenen Szenarien im Ungewissen, zumal die neu einsetzende Handlung im Filmstudio nicht in Raum und Zeit verortet werden kann. Insbesondere führt die bereits beschriebene Verschachtelung der verschiedenen Handlungsszenarien dazu, dass die Produktionssituation des Films innerhalb der Narration in keinem logischen Verhältnis mit den drei anderen Repräsentationsformen - dem Film selbst, dem Gemälde sowie der Filmvorführung im Kino - steht. In einer kreisförmigen Bewegung treffen die verschiedenen eingebetteten Szenen zuletzt wieder am Ausgangspunkt ein: La sonnette annonçant le début imminent de la séance s’est tue depuis quelques instants quand parvient du dehors le tapage de deux voitures qui semblent se poursuivre […]. (T, 131f.) Es handelt sich bei diesem Zitat, chronologisch gesehen, um den Beginn derjenigen Handlungssequenz, die in der Kneipe der nordfranzösischen Industriestadt spielt: zeitgleich mit dem Beginn der Filmvorführung im Kino treffen die jungen Leute um den Bräutigam vor der Kneipe ein. In der Folge wird sich der Liebesakt zwischen ihm und der Kellnerin vorbereiten, der wiederum vom Ton des Kinofilms über das Paar an der Côte d’Azur, der aus der Belüftungsklappe nach außen dringt, untermalt wird. Die multiplen Metalepsen lassen sich nun wie folgt beschreiben: Die zunächst innerfiktional als ‚real’ geltende Episode um den Liebesakt in der Sackgasse (A) erweist sich als Film (B), über den die nackte Frau auf dem Bett einen Roman liest (C); allerdings entpuppt sich diese Szene wiederum als Gegenstand eines Gemäldes (D). Dieses belebt sich in der Folge paradoxerweise und wird zu einem Film (E), der einerseits in einem zunächst nicht näher bestimmten Kino (X) und andererseits im Entstehen begriffen (Y) gezeigt wird. Zuletzt schließt die Narration an ihren Ausgangspunkt an 41 Interessant ist hier auch die metanarrative Spiegelung des realen Lesers in der Figur der Schauspielerin: Auch der außertextuelle Leser nimmt ebenfalls den Roman in seiner Materialität wahr, wenn er das Buch auf der Suche nach einer bestimmten Passage durchblättert. 270 und der Beginn der Vorführung des Films über das Paar an der Côte d’Azur (E) wird in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino gezeigt (A). Abbildung 16: Multiple Metalepsen in Triptyque (S. 125-132) Die besondere metafiktionale Funktion dieser mehrfachen Metalepsen besteht zum einen darin, den Status auch der binnenfiktionalen ‚Realität’ unsicher werden zu lassen: Innerhalb der fiktionalen Welt wird nicht mehr auf eine binnenfiktionale ‚Realität’ referiert, sondern nur noch auf verschiedene Formen ihrer künstlichen - medialen - Repräsentation. Zum anderen erscheint der Text als Paradoxon; er lässt sich weder als Darstellung einer innerfiktionalen Realität lesen, noch als diejenige einer möglichen äußeren, extratextuellen, Wirklichkeit. Zuletzt soll noch ein weiterer, auffälliger Widerspruch im Handlungsgefüge des Textes vorgestellt werden; es handelt sich dabei um die fehlende Verankerung der ‚ländlichen Fiktion’ in einem festen Raum-Zeit- Kontinuum. Während die intermediale Vermittlung der beiden anderen Fiktionen mehr oder minder eindeutig aufgelöst wird, 42 ist die sichere Einordnung der Handlung um das Paar in der Scheune in ein festes Raum- Gefüge schwierig. Im Vergleich zu den anderen beiden histoires erfolgen die Hinweise auf eine mediale bzw. filmische Vermittlung dieser Handlungssequenz erst recht spät: Erst nach einem knappen Drittel des Texts 42 So handelt es sich bei der Geschichte um das Paar an der Côte d’Azur um einen ‚Film’, der von den Zuschauern sowohl in dem Scheunenkino als auch in dem nordfranzösischen Kino gesehen wird; auch die in der nordfranzösischen Industriestadt angesiedelte Geschichte ist Gegenstand eines Films und darüber hinaus auch noch eines Romans, den die Schauspielerin des Films liest. A B C D E X Y E A 271 erscheinen Elemente der Episode um das ertrunkene Kind erstmals auf einem Filmplakat, das den Film in dem nordfranzösischen Kino ankündigt (T, 65f.). Einige Seiten später erscheint die dörfliche Szene in Form einer langen Filmeinstellung von der Nahaufnahme zur Totalen: Die Kamera, die zunächst noch voyeuristisch durch den Spalt der Scheunenwand hindurch das Liebespaar beobachtet, zieht sich nun scheinbar immer weiter zurück, bis - angefangen bei der Rückansicht der beiden in die Scheune lugenden Jungen - zuletzt das Dorf in einer Gesamtschau zu sehen ist (T, 90f.). An anderer Stelle erweist sich auch die alte, mit einem Strohhut behütete Frau „à la mâchoire de chien“ als Figur eines Films - der Leser erlebt sie beim Füttern ihrer Hasen, von denen sie zuletzt einen vermutlich zum Schlachten auswählt (T, 160-164). Kurz vor dem Ende des Romans tritt auch das Paar in der Scheune als Protagonisten eines Films auf, der jedoch plötzlich reißt und Mann und Frau auf der Leinwand mitten in der Bewegung erstarren lässt (T, 194f.). Als die Beschreibung der Handlung fortgesetzt wird - der Film ist zwischenzeitlich unter Auslassung einiger beschädigter Einzelbilder repariert worden - findet sich kein Hinweis auf den Ort der Vorführung des Films; es könnte sich bei diesem demnach entweder um einen unbekannten dritten Ort oder um die zum Kino umfunktionierte Scheune bzw. um das Kino in der nordfranzösischen Stadt handeln. Da jedoch in den beiden letzteren jeweils der Film über das Paar an der Côte d’Azur zur Aufführung gelangt, liegt der Schluss nahe, dass es sich um einen unbekannten, dritten Ort handelt. 43 Diese Opazität des Textes - die fehlende Auflösung der Rahmensituation, in welcher der Film über die Ereignisse in dem zentralfranzösischen Dorf gezeigt wird - lässt sich ebenfalls als metafiktional fungierende Metalepse interpretieren: Ein zunächst als binnenfiktional ‚real’ präsentierter Teil der Handlung erweist sich plötzlich als Gegenstand eines Films - diese paradoxe ‚Metamorphose’ der Fiktion stellt einen metaleptischen Kurzschluss zwischen den ontologischen Ebenen ‚binnenfiktional real’ und ‚binnenfiktional fiktiv’ dar. Auf diese Weise wird die Irrealität eines Teiles der Fiktion offengelegt und durch die unmögliche Einordnung dieses Teiles in eine eindeutig identifizierbare Rahmenhandlung der ambivalente Eindruck noch verstärkt. Der Realitätsstatus des Films über das Dorf wird immer fragwürdiger, weil er mehreren möglichen Aufführungsorten und damit letztendlich keinem eindeutig zuzuweisen ist: Es scheint durchaus plausibel zu sein, dass der Film über das Dorf in dem Dorf selbst zur Aufführung gelangt und dazu noch parallel zu den von ihm repräsentierten Ereignissen selbst; auf diese Weise wird die Verschachtelung vollends 43 Vgl. T, 33-37, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 100-104, 129f., 137-139, 223-225. Allerdings nur, wenn die Einheit der Handlung vorausgesetzt wird: Die Zeit des Erzählens umfasst in diesem Fall also allein die Vorführung der beiden erwähnten Filme. 272 unmöglich und unwahrscheinlich. Die Fiktion bzw. Teile von ihr sind nicht mehr in einen konsistenten, handlungslogisch plausiblen Zusammenhang zu integrieren und werden stattdessen in ihrer Künstlichkeit enthüllt. Abschließend soll nach der Funktion der paradoxen medialen Vermittlung der verschiedenen Fiktionen sowie der multiplen metaleptischen Rahmenbrüche zwischen den ontologischen Ebenen der innerfiktionalen Realität und Fiktion gefragt werden. Für beide Verfahren gilt, dass Teile der Fiktion, die zunächst als innerfiktional ‚real’ präsentiert wurden, sich in der Folge als medial vermittelt und damit als künstlich erweisen; sei es, dass sie Gegenstand eines Films, eines Gemäldes oder eines Puzzles sind. 44 Die Ereignisse der jeweiligen Fiktion haben also - auf der innerdiegetischen bzw. innerfiktionalen Ebene - nicht ‚wirklich’ stattgefunden, sondern sind von einem unbekannten Regisseur bzw. Drehbuchautor oder Maler erfunden. Es wird also auf den besonderen Status eines Kunstwerks im Vergleich zur der von ihm repräsentierten ‚realen’ Welt verwiesen: Dieses Kunstwerk ist zum einen von der Hand des Künstlers gemacht - es ist ein Artefakt und damit künstlich im Sinne von ‚gemacht’ - und zum anderen präsentiert es nicht das Abbild einer zugrundeliegenden Realität, sondern nur eine Nachahmung derselben mit seinen eigenen Mitteln. Darüber hinaus ist der Gegenstand des Kunstwerks fiktiv im Sinne von lebensweltlich ‚nicht-real’ und dies auch innerhalb der Welt des Romans. 45 Für die beschriebenen komplexen Formen der Metalepse gilt darüber hinaus, dass die Referenz der jeweiligen Handlungssequenzen auf eine zugrundeliegende innerfiktionale Realität bis auf einige Spuren letztendlich unmöglich wird. Die Verschachtelung der jeweiligen medialen Repräsentationsformen lässt keine Sequenz als diejenige hervortreten, die innerfiktional ‚real’ wäre und welche die jeweiligen Beschreibungen der verschiedenen Repräsentationsformen in Form einer Rahmenhandlung beinhalten würde. Der Text erscheint dadurch als auto-referentiell bzw. als pure fiction - als „story [which] originates in itself”. 46 Auch von der Forschung zu Triptyque wird gemeinhin die These vertreten, dass durch diese spezielle Poetik der vielfachen metaleptischen Rah- 44 So auch J.A.E. Loubère: „Announcing the World: Signs and Images at Work in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 126. 45 So weist auch W. Wolf in seiner Studie zur Ästhetischen Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst diesem „Spiel mit ‚variablen Realitäten’“ die Funktion einer „metafiktionalen Reflexion des ontologischen Status des Kunstwerks und einer erkenntniskritischen Infragestellung des Konzeptes einer ‚objektiven’ Realität’“ zu. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 402.) 46 Vgl. zu der Diskussion der These von Triptyque als ‚pure fiction’ M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 40. 273 menbrüche der Text das Ziel verfolge, die Illusion einer Wiedergabe von Wirklichkeit zu zerstören. So weist S. Sykes früh darauf hin, dass die in Triptyque wiederholt praktizierte Auflösung der Grenzen zwischen den verschiedenen Repräsentationen genauso wie die zwischen scheinbarer innerfiktionaler Realität und Fiktion sich gegen die traditionelle Stabilität der verschiedenen Ebenen im realistischen Roman richte und stattdessen ein Konzept unablässiger mouvance postuliere. 47 In diesem Zusammenhang beschreibt R. Sarkonak das für Triptyque typische Verfahren des „textual framing“ - von mir definiert als ‚Metalepse’: This occurs when a scene which one supposes to be real is ‘captured’ by a mimetic form, for example, the scene is transformed into a film, a poster, a book, and so on, which belongs to another one of the narrative sets. The effect is a retroactive subversion of the illusion of reality. 48 Diese ‘Untergrabung’ der Realitätsillusion gestaltet sich laut Sarkonak derart, dass kein Teil der Fiktion ‚sicher’ im Sinne von ‚real’ ist. 49 Vielmehr erteile der Roman dem Leser eine Lektion über die Beziehung der Kunst zur Wahrhaftigkeit, wenn der Text sich selbst als ein Produkt menschlichen Schaffens enthüllt, als ein Kunstwerk mit eigenen Regeln, aber auch eigenen Freiheiten. 50 Neben den beschriebenen ‚Metamorphosen’ von innerfiktional Realem in innerfiktional Fiktives findet sich in Triptyque auch die Verwandlung von zunächst unbelebten, als fiktiv präsentierten, Gemäldeszenarien in belebte, narrativisierte Szenen mit scheinbar innerfiktional ‚realem’ Inhalt: der Text gleitet hier von einem deskriptiven in einen narrativen Modus und die jeweilige Deskription wird zum Generator von Handlung bzw. von Fiktion. 51 Diese paradoxe Grenzüberschreitung ist insbesondere im Zusammenhang mit der bisher noch nicht näher betrachteten Zirkusszene zu beobach- 47 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169. 48 R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 153. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 155f. Auch J.A.E. Loubères Interpretation von Triptyque weist in diese Richtung; er betont, dass in Simons Roman gerade die Erinnerung an den Schreibakt sowie an die Distanz zwischen der geschriebenen und der realen Welt ständig aufrecht gehalten werde (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 223.). 51 M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 266, spricht in diesem Zusammenhang von „animated pictures“ bzw. von „frozen gestures“, deren Beschreibung eine „embryonic narration“ erzeuge. Vgl. ebenso E. Kafalenos: „Image and Narrativity: Robbe-Grillet’s La Belle Captive.“ (1989), S. 375, und B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 117f. 274 ten, die zu Beginn des Romans zunächst allein als mediale Repräsentation in Gestalt eines der Plakate an der Scheunenwand eingeführt wird: 52 Les bas de la fille sont d’une couleur noisette, cuivrée, s’arrêtant à mi-cuisse. Le pan de chair dévoilé (les deux visages sont maintenant invisibles, celui de la fille caché par la tête de l’homme qui l’embrasse dans le cou, aux trois quarts enfouie dans les boucles cuivrées l’affichiste ayant utilisé la même couleur pour les bas et les cheveux) constitue la seule note claire dans l’ensemble de couleurs sombres (noir, rouge violacé des briques du mur, fumées ou nuages obscurs) que découvre le pan décollé de l’affiche du cirque. Une immense tête de clown emplit tout entière une autre affiche (en hauteur celle-là) collé bord à bord contre celle qui représente le dompteur aux bottes brillantes au-dessus duquel bondissent les tigres. (T, 21; Hervorhebung S.Z.) Während hier die Trennung zwischen - innerfiktionaler - Realität und Fiktion zunächst noch relativ eindeutig ist, 53 verschwimmt die Grenze zwischen den beiden Ebenen bereits einige Seiten später: Sur le visage pathétique du clown sculpté par la lumière blafarde du projecteur la sueur délaye le blanc gras du maquillage qui luit sur ses tempes et ses joues. A l’arrière-plan, dans l’ombre, on distingue vaguement les rangées des bustes des spectateurs assis sur les gradins circulaires et étagés formant comme un vaste entonnoir. La sciure mouillée de la piste est de la même couleur que les bas noisette et la chevelure de la fille adossée au mur de briques. […] Le pourtour de la piste fait de caissons badigeonnés de blanc à la base desquels les sabots des chevaux ont laissé des marques brunes dessine un cercle parfait. […] (T, 23) Insbesondere die Verwendung der Zeitform des présent in Verbindung mit dem passé composé im letzten Satz der Beschreibung lässt eine Handlungsabfolge erahnen, die schließlich innerhalb der Welt des Romans Wirklichkeit wird: Dans la lumière éblouissante du projecteur le clown au visage barbouillé de couleurs violentes pénètre sur la piste d’une démarche grotesque de canard. De sa bouche agrandie de rouge s’échappent des sons rauques, un peu effrayants, comme amplifiés par un haut parleur, proches de ces cris inarticulés et sauvages qui retentissent parfois dans les jardins zoologiques, poussés dans leurs cages par quelque oiseau exotique ou des singes irascibles. Un frisson de rires mêlés d’un vague d’effroi court dans l’ombre à la surface de l’entonnoir où s’étagent les rangées de spectateurs. D’impalpables paillettes de poussière tournoient en scintillant dans le pinceau blafard du projecteur. […] (T, 33) 52 Auf ähnliche Weise wie die Zirkusszene wird jedoch auch die Szene um das Liebespaar in der nordfranzösischen Industriestadt wiederholt in ihrem Realitätsstatus gebrochen: Auch sie erscheint zunächst eindeutig als Filmplakat, um sich in der Folge zu ‚beleben’, vgl. T, 14, 19, 21f., 23, 25f., 30f. etc. 53 Eine paradoxe Ausnahme stellt das Zeitadverb „maintenant“ dar, das eine Ereigniskette impliziert. 275 Die ursprüngliche Vermittlungssituation des Plakats tritt völlig in den Hintergrund; die Szene um den Clown präsentiert sich nun als eigenständige Fiktion, die innerhalb der erzählten Welt vorgibt, ‚real’ zu sein. 54 Doch stellt sich im weiteren Verlauf des Romans zunehmend die Frage nach dem tatsächlichen Realitätsstatus der Zirkusfiktion: Die Belebung der Szene scheint immer auf die Beschreibung des Zirkusplakats zu folgen bzw. umgekehrt scheint sie einer Beschreibung des Plakats voranzugehen: Le mur de la grange couvert d’affiches fait une tache bariolée et criarde dans la verdure, presque à la lisière du bois. Malgré l’éloignement, on peut distinguer, faisant pendant au visage monumental du clown, de l’autre côté de la piste où le dompteur affronte les tigres, une tête de lion de deux mètres de haut environ et d’un roux fauve, qui rugit en secouant sa crinière brune. […]. Plus haut, le nom du cirque est écrit en grandes lettres bleues qui entourent en demi-cercle le chapeau verdâtre du clown. Plus fort que la musique qui joue en sourdine on peut parfois entendre, venant du dehors, des feulements et des rugissements de fauves. […] Toujours emprisonné dans les pinceaux éblouissants des projecteurs, blanc pour les lumières, vert jade pour les ombres, et dont les sections elliptiques se déplacent sur la piste en même temps que lui, le clown au visage enduit de blanc gras et de vermillon sur lequel brillent les ruisselets de sueur s’affaire maladroitement avec une échelle. […] (T, 76f.) 55 Der Übergang zwischen der Repräsentation der Zirkusszene auf einem Plakat und ihrer Belebung als eigenständige Fiktion geschieht unmerklich; Signale, die auf eine Handlungsabfolge hinweisen, sind insbesondere die Verben der auditiven Wahrnehmung wie „entendre“, die durch das Adverb „parfois“ abgetönt werden, sowie die verschiedenen Verben im présent, die zeitlich andauernde Handlungen vermitteln. 56 Im dritten Teil des Romans stehen die mediale Vermittlungssituation des Zirkusplakats und die Belebung der Szene zunehmend unverbunden nebeneinander: Die Fiktion scheint sich von ihrer ursprünglichen Rahmenhandlung abgekoppelt zu haben und ist nun eigenständig geworden: […] Le bouquet de noisetiers isolé en avant de la lisière des bois cache la partie inférieure de la paroi de la grange où sont collées les affiches du cirque. Dans la lumière aveuglante des projecteurs et provoquant un murmure émerveillé qui court sur les gradins, une apparition à l’aspect fabuleux s’avance à la rencontre du clown aux vêtement grotesques. Le personnage est chaussé de fines ballerines blanches, ses mollets sont gainés de bas blancs, son costume d’une seule pièce à la culotte bouffante et qui moule étroitement son torse est fait d’une soie blanche et son visage enduit d’une couche de blanc est surmonté d’une calotte de feutre blanc, en forme de cône, penchée sur une oreille. A chacun de ses mouvements les paillettes de son costume, sa main poudrée et chargée de bagues, ses paupières même, enduites d’un fard brillant, couleur de jade, jettent 54 Ebenso T, 49f. 55 Vgl. ebenso T, 107-110. 56 Fortsetzung der Zirkusfiktion auf den Seiten 87f., 107-110. 276 des feux à l’éclat minéral et irisés, comme des topazes, des rubis et des améthystes. […] (T, 178) Die beschriebene Eigenständigkeit der Fiktion resultiert neben der Belebung der Beschreibung durch verschiedene Verben der Bewegung insbesondere aus dem Auftritt der auf dem Zirkusplakat selbst nicht repräsentierten Figur des Harlekins. Ferner lässt das quantitative Ungleichgewicht zwischen dem Text, der auf die Rahmensituation des Plakats verweist, und demjenigen, der die Fiktion darstellt, die ursprüngliche Rahmensituation schnell vergessen. Schließlich tritt diese vollständig zurück; die Zirkusfiktion steht nun scheinbar unvermittelt vor den Augen des Lesers. 57 Doch bleibt auch diese Präsentation der Zirkusszene als innerhalb der fiktiven Welt ‚reale’ Episode nicht stabil, sondern sie erweist sich paradoxerweise plötzlich zunächst als ein Film, der an einem unbekannten Ort vorgeführt wird, und dann als ein Gemälde („tableau“), das auf unheimliche und unerklärliche Weise Teile der etwas später beschriebenen Fiktion vorwegzunehmen scheint: La surface de l’écran est coupée dans le sens de la longueur par une bande blanche, légèrement bombée, qui la divise en deux parties inégales. La zone inférieure, la plus étroite, est de cet ocre foncé, presque marron, dont se teinte la sciure arrosée. Dans la partie supérieure, obscure, se dessinent, vaguement esquissées par une modulation de noirs, les bustes serrés des spectateurs. […] Un être bizarre progresse à quatre pattes, dans une posture simiesque, en équilibre sur la bande de velours. Devant le fond noir, ses bras nus et démesurément longs se détachent en rose dans la lumière des projecteurs qui fait ressortir aussi le gilet blanc, le pantalon gris clair et, coloré d’ombres vertes, le visage dont la chair semble à vif, sanguinolente, les traits grossièrement modelés dans une pâte molle comme une tragique ébauche abandonnée, à mi-chemin entre la bête et l’homme, bouffi de vagues excroissances. Des lèvres en boudins s’échappent, comme étouffés par un bâillon, des cris inarticulés. La partie droite du tableau est tout entière remplie, au premier plan, par le profil d’un visage entièrement recouvert d’une couche de blanc gras et de poudre où se détachent les paupières fardées de vert et la bouche aux lèvres minces étirées par un sourire qui laisse voir une langue de batracien, mauve. Sans doute tenue par la main invisible du personnage lunaire, une laisse de cuir sort du bas du tableau et va rejoindre un collier passé autour du cou de la créature mi-singe mis-homme qui progresse en équilibre sur l’étroite bande cramoisie. (T, 189f.) 58 57 T, 180f., 183f. 58 Es soll an dieser Stelle auch an die spezifische Funktion hybrider Kreaturen innerhalb der Poetik Simons erinnert werden. Ähnlich wie die „femme Centaure“ in La Route des Flandres (Vgl. RF, 52f. Auch de Reixach erscheint als „homme-cheval“; RF, 12, 51, 54, 69, 183) präsentiert auch die „créature mi-singe mi-homme“ in Triptyque die Metamorphose eines Menschen in ein anderes, drittes Wesen, das menschliche und tierische Züge in sich vereint. Interessanterweise spiegeln die verschiedenen Verwandlungen menschlicher Figuren in Simons Romanen die Verwandlung des Textes selbst wider bzw. seine hybride Verfasstheit; sie lassen sich daher als metanarrative Meta- 277 Der Übergang zwischen den beiden Medien Film und Bild geschieht kaum wahrnehmbar; allein der Ausdruck „une pâte molle“ lässt bereits an die weiche Konsistenz dick aufgetragener Ölfarbe denken. Hier vollzieht sich nun die Rückverwandlung der fiktionalen Handlung in die ‚eingefrorene’ Repräsentation eines Gemäldes. 59 Der zitierte Abschnitt ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil er einen neuen Bruch in der Kohärenz der Zirkusfiktion markiert: Schien diese zuvor noch als paradoxe Belebung des an der Scheunenwand angeschlagenen Plakats interpretierbar zu sein, erweist sie sich nun als innerfiktional fiktive Episode, die sowohl von einem Film als auch von einem Gemälde präsentiert wird. Erstaunlich und beinahe unwahrscheinlich ist die große Ähnlichkeit zwischen den vier repräsentierten Varianten der Zirkusszene; sie wirft erneut die Frage nach dem besonderen Status der Handlung um die beiden Clowns auf: Hat sich diese tatsächlich innerhalb der fiktionalen Welt ereignet oder wurde sie von einer unbekannten Erzählinstanz imaginiert, die sich vom Anblick der Plakate hat inspirieren lassen? Bis zum Ende des Romans erscheint die Zirkusfiktion nun wieder unvermittelt vor den Augen des Lesers; jeglicher Hinweis auf eine besondere mediale Rahmung wie die eines Gemäldes oder Films fehlt. Die Episode um den Clown endet schließlich mit seiner Niederlage gegenüber dem Äffchen, das ihn einholen und ihm auf den Rücken springen kann. 60 Abschließend soll zunächst die Frage nach dem Realitätsstatus der Zirkusepisode eingehender untersucht werden: Handelt es sich bei dieser Handlungssequenz um innerfiktional ‚wirklich’ Stattgefundenes z.B. im Sinne eines im ländlichen Dorf ‚real’ stattgefundenen Zirkusgastspiels oder präsentiert diese Episode allein die Imaginationen einer unbekannten Erzählerinstanz? Ferner soll nach der Funktion der Zirkusszene innerhalb des Textes gefragt werden: In welchem Verhältnis steht diese Teilhandlung zu den anderen drei Fiktionen und in welcher Weise unterscheidet sie sich von ihnen? Und welche Auswirkungen hat die am Beispiel der Zirkusfiktion gezeigte Verwandlung von Handlung in verschiedene Repräsentationsformen und vice versa für die Realitätsillusion? In der Forschung zu Triptyque finden sich unterschiedliche Meinungen zu dem besonderen Status der Zirkusszene: Sie wird allgemein nicht als eigenständiger Handlungsstrang aufgefasst, sondern vielmehr als Teil der ländlichen Szenerie; mithin als dort tatsächlich stattgefundene Episode. 61 pher für die Poetik des Romans interpretieren: So soll im Falle von Triptyque der Terminus ‚Metamorphose’ zunächst auf die wiederholten Grenzüberschreitungen bezogen sein, die sich scheinbar innerfiktional ‚Reales’ in verschiedene Repräsentationen von (innerfiktionaler) Realität und damit in innerfiktional Fiktives verwandeln lassen. 59 Vgl. hierzu auch J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 138. 60 T, 192, 194, 197-199. 61 So z.B. R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 149. 278 Ihre Funktion besteht nach Ansicht der Mehrheit der Autoren entweder darin, einen parodistischen Kommentar zu den drei anderen Fiktionen zu liefern, 62 oder allein eine kompositorische, ausgleichende Funktion ähnlich einer Scheintreppe in der Architektur - „which like an ornamental stairway leads nowhere“ - zu besitzen. 63 Doch ist die These von dem abhängigen Status der Zirkusszene meines Erachtens nicht überzeugend, da im Text jeglicher Hinweis auf eine mögliche Einordnung der Episode in die im zentralfranzösischen Dorf spielende Handlung fehlt. Auch eine andere handlungslogisch nachvollziehbare Erklärung für die Präsenz dieser Sequenz wird vom Text nicht geliefert, so dass daher die Zirkusepisode als autonomer Handlungsstrang anzusehen ist, der nicht in der fiktiven Welt der anderen drei histoires verankert ist. Die Ereignisse um den Clown und seine Mitspieler mögen der Imagination eines unbekannten Erzählers entsprungen sein oder aber scheinbar unvermittelt als Spiegel wichtiger Motive und Themen der drei anderen Episoden fungieren; der Text selbst liefert keine Hinweise auf eine Verknüpfung zwischen der Zirkussequenz und den anderen drei Fiktionen. Die Zirkusszene präsentiert in doppelter Hinsicht einen metafiktionalen Kommentar: Da die im Zirkus spielenden Ereignisse im Gegensatz zu den drei anderen Fiktionen nicht in der fiktiven Realität verortet werden können, scheint es sich bei dieser Handlungsepisode um die Imagination einer unbekannten Erzählinstanz zu handeln, die durch die innerfiktional ‚realen’ Plakate an der Scheunenwand des mittelfranzösischen Dorfes ‚inspiriert’ wurde. 64 Andererseits greift die Zirkusszene auf unwahrscheinliche und nicht durch die Handlung plausibilisierte Weise Teile der anderen Fiktionen auf, die auf diese Weise durch den offen fiktiven Status der Zirkusfiktion kontaminiert werden. Daher liegt der Schluss nahe, dass so, wie die zwei Zirkusplakate die Fabulierlust eines unbekannten Erzählers angeregt haben, auch die anderen Handlungssequenzen durch verschiedene Repräsentationen generiert sein könnten. So findet sich im Falle der in Nordfrankreich spielenden Episode eine auffällige Parallele zur Genese der Zirkusfiktion: auch das Paar in der Sackgasse tritt aus dem zunächst noch begrenzenden Rahmen des Plakats förmlich in die fiktive Realität heraus. 65 Die Funktion der Zirkusszene ist demnach vorzuführen, wie aus dem unbelebten Medium des Plakats Handlung entsteht; die Plakate fungieren 62 M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 45. 63 M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 41. 64 Auch die durch die Medien ‚Film’ und ‚Gemälde’ repräsentierten Ereignisse im Zirkus werden nicht in der fiktiven Realität verankert: es finden sich keine Hinweise auf die Vorführsituation des Filmes bzw. auf den Ort der Gemäldebetrachtung. 65 T, 14, 19, 21f., 23, 25f., 30f. etc. 279 in diesem Sinne als générateurs. 66 Wie die Beschreibung der anderen Plakate auch regt das Zirkusplakat einen Prozess der Fiktionalisierung an: ohne das Plakat hätten die beschriebenen Ereignisse im Zirkus nicht innerfiktional existiert. 67 Durch die auffälligen Parallelen zu den anderen drei Fiktionen enthüllt die Zirkusepisode darüber hinaus in Form eines metafiktionalen Kommentars anspielungsreich deren ebenfalls innerfiktional fiktive Entstehungssituationen. 68 Aus dieser Tatsache resultiert zuletzt auch ihre problematische Wirkung auf die Realitätsillusion: Bleibt diese zunächst noch solange intakt, wie die jeweiligen Filmplakate aus der Sicht einer unbekannten Erzählinstanz beschrieben werden, wird diese Illusion spätestens dann merklich beeinträchtigt, wenn die Beschreibung des statischen Plakats - handlungslogisch nicht plausibel - narrativisiert wird. Zuletzt zeigt sich, dass es in Triptyque, entgegen der ersten Annahme, weder eine stabile, den anderen Fiktionen hierarchisch übergeordnete innerfiktionale ‚Realität’ zu geben scheint, in welche die anderen Fiktionen eingebettet sind, noch eine identifizierbare zentrale Wahrnehmungsinstanz, aus deren Sicht die Plakate beschrieben werden. 69 In Triptyque existiert demnach keine übergeordnete ‚Wirklichkeit’, welche die verschiedenen Repräsentationen beinhalten könnte; vielmehr befinden sich die drei Fiktionen ‚Land’, ‚Stadt’ und ‚Meer’ in einem absoluten Gleichgewicht - eine jede von ihnen greift die beiden anderen jeweils in Form einer medialen Repräsentation auf und wird wiederum abgebildet. Jeder Anschein von ‚Wirklichkeit’ innerhalb der fiktionalen Welt des Romans erweist sich letztendlich immer als fiktiver Gegenstand einer medialen Abbildung, sei es ein Bild, ein Film oder ein (fiktionaler) Text. 70 Der 66 Auch J.A.E. Loubère verweist darauf, dass die Filmplakate als Generator von Geschichten fungieren, jedoch zugleich auch wieder Teile anderer Geschichten sind. (J.A.E. Loubère: „Announcing the World: Signs and Images at Work in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 126. W. Wolf betont, dass u.a. die mangelnde Motivation der générateurs aus dem Kontext der histoire diese auf die Konstruiertheit der Geschichte verweisen lassen (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 293.). 67 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt auch L. Dällenbach in seiner Analyse der Bedeutung der Photographien in Simons Werk. (L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 110.) 68 So auch F. Jost: „[…] la description […] loin d’être une parenthèse dans la narration, lance et relance le récit.“ (F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1037.) 69 Vgl. hierzu auch J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 140. 70 In diesem Sinne unterstreicht auch L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 195, die Auflösung jeder „totalité non contradictoire“, die das Ergebnis der vielfachen und instabilen mises en abyme ist. Diesen paradoxen Typus nennt A. Macris auch „generative mise en abyme“ (A. Macris: „Claude Simon and the Emergence of the Generative Mise en Abyme.“ (2003), S. 51ff.). 280 Roman dekonstruiert auf diese Weise den Authentizitätsanspruch realistischer Texte und legt die fiktionale Welt in Form einer metafiktiven Inszenierung als das offen, das sie ist: Fiktiver Gegenstand eines Textes ohne eindeutige Referenz auf eine außertextuelle Realität. 71 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen Wie bereits ansatzweise in La Route des Flandres ist auch in Triptyque der Gegenstand des Erzählens, die Handlung bzw. die histoire, durch Banalität und Lückenhaftigkeit vor allem im Hinblick auf wichtige Ereignisse, die beim Erzählen elliptisch ausgespart werden, geprägt. Darüber hinaus ist ein quantitativer Rückgang der eigentlichen Handlung zugunsten umfangreicher, äußerst detaillierter Beschreibungen zu verzeichnen; dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Qualität und Bedeutung der Geschichte. Bei dieser handelt es sich weniger um das Erzählprodukt eines klar erkennbaren Erzählers, sondern vielmehr um die Aufzeichnungen einer unpersönlichen Erzählinstanz oder gar einer Kamera. Die in Triptyque erzählten Geschichten zeichnen sich allgemein durch ihre Vorhersehbarkeit, einen fehlenden tieferen Sinn sowie durch ihre scheinbare Spannungslosigkeit - kurz: durch große Banalität - aus. So bleibt beispielsweise das Personal dieser Geschichten dem Leser suspekt, da detaillierte Beschreibungen ihres äußeren Aussehens, vor allem aber ihre Psychologisierung weitestgehend fehlen. Diese fehlende ‚Tiefe’ der Romanfiguren lässt sie als Statthalter, als bloße Variablen erscheinen und spielt auf diese Weise metafiktional mit den Konventionen realistischen Erzählens. 72 Am Beispiel der Fiktion um das Paar in der Sackgasse der flandrischen Industriestadt soll kurz die für die Geschichten in Triptyque typische Handlungs- und Bedeutungsarmut skizziert werden. Einen Großteil der Handlung, in deren Zentrum das Paar steht, nimmt die Schilderung der Ereig- 71 B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 113f., rechnet Triptyque dem postmodernen Roman zu und konstatiert als Effekt der multiplen und paradoxen Metalepsen, „[…] that the fiction’s ontological ‚horizon’ is effectively lost.“ Auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993). S. 402, wertet die durch die Metalepsen bewirkte „Verwischung“ zwischen innerfiktionaler Fiktion und ‚Realität’ als metafiktionale Reflexion des ontologischen Status des Kunstwerks sowie als erkenntniskritische Infragestellung einer ‚objektiven’ Realität. 72 W. Wehle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Ziel derartiger Textkonstitutionsverfahren die Vereitelung einer realistischen Inszenierung von Wirklichkeit bzw. die Zerstörung der realistischen Illusion sei, da gewohnte „mimetische Raster“ wie Held, Handlung oder stimmige Psychologie nicht mehr erfüllt werden (W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 7f.). 281 nisse in der Sackgasse ein - vor allem der erotische Akt an der Backsteinmauer -, der ausführlich beschrieben wird. 73 Daran schließt sich die Darstellung des durch die Trunkenheit des Bräutigams erschwerten Versuchs des Paares an, die Sackgasse zu verlassen und sich voneinander zu trennen; dies endet mit den Tritten und Schlägen des Mannes, der die ihm zu Hilfe eilende und ihm dadurch lästig werdende Kellnerin vertreiben will. 74 Zuletzt wird das Ende der Geschichte erzählt: die Begegnung der Kellnerin mit ihrem mutmaßlichen Liebhaber, dem Mann in der Lederjacke in der Bar, der sich sogleich an die Verfolgung des Nebenbuhlers macht. 75 In Form einer Analepse wird die Ankunft und der Aufenthalt der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe erzählt; ein Ereignis, das zeitlich mit dem Beginn der Filmvorführung in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino zusammenfällt. 76 Eine weitere Analepse präsentiert im Anschluss die Fahrt der Hochzeitsgesellschaft im Laufe des Tages durch die Stadt auf dem Weg zur oder von der Kirche. 77 Unter Aussparung der gewalttätigen Begegnung zwischen dem Liebhaber der jungen Kellnerin mit den möglicherweise älteren Rechten und seinem Nebenbuhler wird schließlich die Ankunft des nun verletzten Bräutigams im für seine Hochzeitsnacht vorgesehenen Hotel dargestellt. 78 In einem elliptischen Sprung wird als nächstes das Hotelzimmer von innen gezeigt; der Bräutigam liegt nun nahezu vollständig entkleidet auf dem Bett und wird von der Braut beobachtet, die anfangs noch bekleidet am Fenster steht und sich schließlich ebenfalls entkleidet, um sich im Spiegel zu betrachten. 79 Die beiden Anachronien, die zum einen die abendliche Ankunft der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe sowie den vorangehenden Tag der Hochzeit zum Gegenstand haben, erfolgen scheinbar willkürlich und sind weder durch die Handlung noch durch das Erzählen motiviert. Die Handlung insgesamt scheint in ihrer narrativen Vermittlung nicht durch einen identifizierbaren Erzähler gestaltet zu sein, sondern sie präsentiert sich insbesondere aufgrund der häufigen, ausführlichen Beschreibungen als bloße Wahrnehmungen einer unbestimmten Erzählinstanz. Die verschiedenen Ellipsen im Erzählen verleihen der Handlungssequenz um das Paar in der nordfranzösischen Stadt trotz ihrer Ereignisarmut eine gewisse Spannung: So legen einige Andeutungen des Textes den Schluss nahe, dass sich Bräutigam und Kellnerin möglicherweise bereits kannten. 80 Auch die 73 Vgl. T, 19, 21f., 23, 25f., 30f., 32f., 48f., 52f., 56f., 60f. 74 T, 61f., 69-71, 99f., 104-107, 112-116. 75 T, 123-126. 76 T, 131-137, 146f., 154-156. 77 T, 165-170. 78 T, 184-187, 190-192. 79 T, 203-206, 208-213. 80 So betont der Text z.B. die Ausdruckslosigkeit auf den Gesichtern von Bräutigam und Kellnerin („Le jeune homme ne semble pas remarquer la porte ouverte de l’estaminet 282 Aussparungen der Gewaltszene zwischen den beiden Männern und das rätselhafte Ende der Episode erzeugen einen Spannungsbogen, da „der Leser in Bezug auf seine evozierten Erwartungen in Unsicherheit oder Unwissen versetzt wird, die er auflösen möchte.“ 81 Doch sieht der Text eine Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht vor: es bleibt ungewiss, ob der Bräutigam tatsächlich von seinem Nebenbuhler malträtiert wurde bzw. ob die Braut ihren treulosen Ehemann verlassen wird. 82 Der erste Eindruck von Ereignis- und Spannungslosigkeit der Handlungssequenz um das Paar in der Sackgasse resultiert jedoch insbesondere aus den sich stereotyp wiederholenden Deskriptionen der immer gleichen feucht-fröhlichen Runde in der Kneipe. Diese sind noch unterbrochen bzw. ergänzt durch die langen Beschreibungen der städtischen Umgebung bzw. des Platzes vor dem Hotelfenster. 83 Wie bereits angedeutet wurde, finden sich in Triptyque zudem kaum detaillierte Beschreibungen 84 der Figuren bzw. ihrer psychologischen Verfassung; stattdessen werden sie häufig mit Ausdrücken wie „personnages“ oder „silhouettes“ und ihre Gesichter als „masques“ schemenhaft umrissen. 85 Die Sicht auf die Figuren erfolgt demnach vor allem von außen; allerdings nicht aus der außenperspektivischen Sicht eines allwissenden, et la fille au corsage rose […].“; „Le visage de la jeune femme debout sur le seuil de l’estaminet est dénué d’expression.“ (T, 169)), auch scheint der Bräutigam nicht ohne Grund bei der Ankunft in der Kneipe den Blick auf die Kellnerin vermeiden zu wollen („Le jeune marié évite de regarder la serveuse.“ (T, 134)) wie auch die Kellnerin selbst den Bräutigam zunächst nicht anblickt (T, 135). In dieselbe Richtung weisen auch die Kommentare des „boute-en-train“: „[…] allez les amoureux […]“ (T, 136). In der Sekundärliteratur wird ebenfalls überwiegend davon ausgegangen, dass sich Bräutigam und Kellnerin aus einer früheren Liebesbeziehung kennen (So z.B. M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 43; R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 149; S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169.) 81 H.-W. Ludwig (Hg.): Arbeitsbuch Romananalyse. (1998), S. 164. 82 Ähnliches gilt auch für den vom Text nicht erwähnten Tod des kleinen Mädchens im Fluss sowie für den ausgesparten Liebesakt des Paares in der südfranzösischen Episode. 83 T, 25f., 62f., 69-71, 165-167, 205f., 208-210. 84 J.H. Duffy betont, dass Simon eine Anzahl von Verfahren verwendet „to curb the establishment of an ‘effet de réel’ and to direct the reader’s attention, away from the schematically outlined characters and the incidental plot, to the intricate formal patterns which underpin the text and which constitute its principal interest.” (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 137.) 85 Vgl. z.B. die Beschreibung der alten Frau in der Dorfszene als „silhouette noire“ (T, 48) oder als „silhouette courbée“ (T, 112), die des Paares in der Sackgasse als „deux silhouettes“ (T, 61, 105). Ebenso der „masque de ténor“ des Schauspielers an der Côte d’Azur (T, 51), der „masque de porcelaine“ der jungen Braut (T, 168) sowie der „masque de mouton“, der „masque livide“, der „masque lunaire“ bzw. „masque blême“ des untreuen Bräutigams. (T, 114, 184, 186, 191) Auch erinnert das stark geschminkte Gesicht des Clowns an die Masken der antiken Tragödie (T, 158). 283 auktorialen Erzählers, sondern aus der eines gefühllos aufzeichnenden Kameraauges. 86 Dieser Eindruck einer künstlichen, theaterähnlichen Vermittlungssituation wird dadurch verstärkt, dass bestimmte Situationen direkt mit einem „spectacle“ oder mit anderen Aspekten aus der Welt des Theaters verglichen werden. 87 Die Funktion dieser banalen histoires besteht nun nicht wie im traditionellen Roman darin, eine komplexe, vorstellbare fiktive Realität zu schaffen, die das scheinbare Abbild einer äußeren, präexistenten Wirklichkeit ist, sondern vielmehr darin, besonders durch die wiederholten metafiktiven Verweise auf andere fiktive Realitäten - z.B. die des Films oder des Theaters - auch die eigene textuelle Welt in ihrer Artifizialität und Erfundenheit zu enthüllen. Zwar lassen sich noch Spuren einer extratextuellen Realität insbesondere in den detaillierten Beschreibungen der Landschaft erkennen, doch fügen sich diese nicht mehr zu einem kohärenten und konsistenten Ganzen zusammen, da sich immer wieder neu die Frage nach ihrem Realitätsstatus innerhalb der Fiktion stellt: Handelt es sich bei einer beliebigen Beschreibung um fiktive Wirklichkeit oder nur um die Repräsentation einer solchen in Form eines Films oder eines Bildes? Es lässt sich somit die These formulieren, dass der Roman Triptyque weniger das Ziel verfolgt, eine sinnhaltige Geschichte von Liebe und Tod bzw. von einer Welt jenseits des Textes zu erzählen, sondern vielmehr darum, den Leser metafiktional stets an die Künstlichkeit der vor ihm ausgebreiteten Wirklichkeit zu erinnern. 88 Die eigentliche Spannung resultiert daher nicht aus der Handlung selbst, sondern - wie J.H. Duffy anschaulich zeigt - aus dem Gegensatz zwischen der Konstruktion einer Geschichte und ihrer unmittelbar erfolgenden Subversion durch die multiplen metaleptischen Rahmenbrüche. 89 Auf diese Weise kommentiert der Text metafiktional nicht nur seinen eigenen Status als ein Artefakt, sondern ebenso auch denjenigen anderer Kunstwerke. Exemplarisch wird in Form einer metafiktiven Inszenierung vorgeführt, dass jede mediale Vermittlung von Realität nicht diese selbst repräsentiert, sondern stattdessen stets ein voll- 86 Vgl. hierzu die Überlegungen F.K. Stanzels zur unterschiedlichen Vermittlung der Innenwelt der Romanfiguren je nach dem Vorherrschen von Außen- oder Innenperspektive (F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 172.) 87 T, 62; z.B. „personnages de guignol“ (T, 46) ; „[…] comme brusquement tirée ou se rejetant dans la coulisse.“ (T, 49). 88 So auch A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 302f. und F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1037. Dagegen betont J.A.E. Loubère, dass die Banalität der in Triptyque erzählten Geschichten Simons Absicht verraten, einen Roman zu verfassen „[…] that could not be reduced to any realistic schema or pinned down to any definable time or space.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 199.) 89 J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 136. 284 kommen neues Produkt am Ende des Schaffensprozesses steht, das nur wenig mit der ursprünglichen Wirklichkeit gemein hat. 90 Neben der auffällig ereignisarmen, sinnentleerten histoire sieht die Forschung häufig Simons erzählerische Kraft in seinen Beschreibungen, die seine Romane zu „a prose poem“ werden lassen, dessen eigentlicher Protagonist „[…] language, with its infinite capacity for verbal resonances, distinctive rhythms, and erotic overtones […]“ sei: So enthalte Triptyque „[…] descriptions of natural phenomena and human beings that are as rich in beauty as the finest poetry in the language.“ 91 Im Folgenden soll die metafiktive Funktion hypertropher Deskription in Simons Roman dargestellt werden: diese überwiegt an Quantität die eigentliche Handlung um ein Vielfaches. 92 Häufig impliziert die detaillierte Beschreibung lebloser Objekte ihre Gleichrangigkeit mit den menschlichen Akteuren, wie es z.B. die Deskription der Liebesszene in der Scheune verdeutlicht: Der voyeuristische Blick der beiden durch den Spalt in der Scheunenwand spähenden Jungen nimmt nicht nur das Paar wahr, das sich durch einen optischen Trick dem Liebesakt auf der Zirkuspiste inmitten der Zuschauer hinzugeben scheint, sondern zugleich eine Reihe von für den Ackerbau notwendigen Gerätschaften. In diesem speziellen, durch landwirtschaftliche Motive geprägten Rahmen scheinen Mann und Frau keine menschlichen Lebewesen zu sein, sondern eher ein unbekanntes Tier: On dirait quelque animal invertébré au corps lisse, pourvu de membres multiples, de protubérances, et où des cavités violettes bordées de dents s’ouvrent par places, comme pour mordre, laisser passer un râle ou un cri. Les chevelures raides sont rejetées en arrière comme des crinières par les furieux mouvements qui agitent le couple. (T, 45) Die sich anschließende Beschreibung der verschiedenen Gegenstände in der Scheune greift Aspekte der ineinander verschlungenen, miteinander kämpfenden Körper des Paares auf: So besitzen die Düngersäcke „ventres gonflés“, die am Traktor haftenden „touffes d’herbe grise“ evozieren - ty- 90 Diese Interpretation sieht sich im Einklang mit der von Simon selbst vertretenen Poetik der Repräsentation: „[…] on n’écrit jamais quelque chose qui se serait passé (ou pensé) avant que l’on se mette à écrire, mais ce qui se passe (se pense) au présent de l’écriture.“ (C. Simon: „Attaques et stimuli (entretien inédit), réalisé le 22 février et le 30 mars 1987. [L. Dällenbach].“ (1988), S. 172.) 91 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 145f. A. Goulet weist in ihrer Studie nach, dass in Triptyque insbesondere die Beschreibung visuell wahrnehmbarer Phänomene und somit der optische Modus vorherrschend ist. (A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 297.) 92 So auch S. Sykes: „Chez Simon, l’emploi du triptyque vise au triomphe d’un art tout descriptif […].“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 175.) 285 pisch für Simon - das menschliche Schamhaar und die „versoirs“ ebenso wie die „fers de bineuses“ lassen an Zähne denken. Ähnlich wie die menschlichen Protagonisten scheinen auch die nicht-menschlichen Gegenstände einen Kampf auszufechten bzw. ausgefochten zu haben; sie wirken wie mythische Fabelwesen. Doch sind nicht nur leblose Gegenstände den menschlichen Figuren in Triptyque ebenbürtig, auch die Welt der Tiere - und seien diese klein wie Insekten - spiegeln zentrale thematische Elemente aus den verschiedenen histoires: Les petites lumières qui dansent ça et là vont et viennent, se rapprochent, se séparent de nouveau, comme des lucioles, dérisoires au sein des ténèbres, de même que les appels, les voix aussitôt englouties sous le monotone fracas de la cascade et l’assourdissant grésillement des insectes en rut : les signaux obstinés, inlassablement relancés dans la paisible nuit d’août par des centaines de pattes rigides crissant avec frénésie sur les abdomens cuirassés, appelant sans trêve à d’aveugles, impérieux et éphémères accouplements. Dans les cônes lumineux des lampes […] apparaissent parfois, d’un vert cru, froid et artificiel, sur le fond d’encre qui les engloutit aussitôt, un instant révélées, brutalement extirpées hors de l’occulte conjuration de la nuit où l’on croit percevoir (plus bas, plus secret et pourtant aussi puissant que le bruit de la cascade ou celui des grillons) comme une sorte de palpitation, quelque chose d’aussi irrépressible que les appels de rut : la mystérieuse palpitation végétale (d’imperceptibles mouvements de feuilles, non sous l’effet de quelque souffle d’air, mais de ces lents déploiements, ces lentes torsions, comme si elles s’ouvraient, se rétractaient ou se refermaient au seul contact, ou plutôt accolement, des ténèbres), l’impérieuse et incessante circulation de la sève, les secrètes mutations de la matière, la multiple respiration de la terre nocturne. (T, 207f.) Der thematisch zentrale erotische Akt wiederholt sich auch in der Welt der Insekten, die dadurch der menschlichen Welt angenähert zu sein scheint. Umgekehrt zeigt sich die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der irdischen Existenz bei den Insekten noch eindrucksvoller als bei den Menschen, die ja ebenfalls durch den Liebesakt den Tod besiegen wollen. Insgesamt wird in dieser Textstelle die Natur in ihrer Allmacht vorgeführt: das zirkulierende Strömen des ‚Lebenssaftes’ ist den Menschen ebenso wie den kleinsten Insekten zu eigen; beide - Mensch und Tier - sind der Natur und ihrer zerstörerischen Kraft ausgeliefert. 93 Die Beschreibungen erfüllen hier die Funktion, die menschlichen Figuren der histoires und ihre Bedürfnisse in der Welt der Insekten zu spiegeln 93 Auch R. Sarkonak betont in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Erotik in Triptyque eben nicht um Pornographie handele, sondern diese stets die unpersönliche Macht der Natur verkörpere, der neben den Tieren auch die Menschen ausgeliefert seien. (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 151.) Vgl. ebenfalls M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 36: Sie beschreibt die Erotik in Simons Roman als „force primordiale à l’œuvre“. 286 mit dem Ergebnis, dass die Menschen den Tieren bzw. den Insekten nicht übergeordnet zu sein scheinen, sondern jenen in ihrer Schutzlosigkeit angesichts der Macht der Natur gleichgestellt sind. Ureigenste menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte - insbesondere das vergebliche Streben nach der Überwindung des Todes durch (körperliche) Liebe - finden sich auch bei den Insekten und werden so in ihrer Bedeutung für den Menschen relativiert. Auf diese Weise vermindern die Beschreibungen die Wichtigkeit der menschlichen Protagonisten in Triptyque; der Roman erzählt nicht nur eine Geschichte der Menschen, sondern ebenso eine der Tiere bzw. der Insekten. 94 Dabei wirkt die Anthropomorphisierung der Insekten phantastisch; sie scheinen in einem Paralleluniversum zu dem der Menschen zu existieren - die Handlung wirkt dadurch unwahrscheinlich, phantastisch und damit fiktiv. Eine weitere metafiktiv bedeutsame Funktion der Beschreibung liegt in der Verlangsamung der Handlung bis zu ihrem völligen Stillstand. Dies geschieht wiederholt in der Episode um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur, wenn die nackte Frau auf dem Bett immer in nahezu derselben, unveränderten Position beschrieben wird und allein die wechselnde Farbe des ‚Himmels’ hinter dem Fenster Aufschluss über die verstreichende Zeit zu geben scheint: „Dans l’encadrement de la fenêtre ouverte sur le ciel nocturne plus aucun souffle n’agite la touffe de palmes colorées d’un vert électrique par le projecteur situé au-dessous et dont les plus hautes mordent un peu sur le rectangle noir. La femme est toujours dans la même position. […]“ (T, 199f.) 95 Das Kennzeichen der Beschreibungen in Triptyque ist folglich, dass die aufgewendete Erzählleistung - erkennbar in der Seitenzahl - in keinem Verhältnis zur Relevanz der beschriebenen Handlung steht; es handelt sich daher um hypertrophe, wuchernde, Deskriptionen. 96 Diese lassen sich zum einen interpretieren als subversives, metafiktionales Spiel des Romans mit den erzählerischen Konventionen des realistischen Romans, in dem die Beschreibungen die wichtige Funktion besitzen, die dargestellte Welt vorstellbarer werden zu lassen. Die Deskriptionen in Triptyque parodieren demnach die Gattungskonventionen des realistischen Romans und entwer- 94 So auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 146. 95 Auch T, 38f., 42, 50, 82f., 100f., 126f., 128f., 131, 150f., 171, 196, 219f. Auf ähnliche Weise scheinen auch der Liebesakt des Paares in der Scheune sowie der des anderen Paares an der Backsteinmauer in Form einer Zeitlupe verlangsamt, da immer dieselbe ‚Einstellung’ mit geringfügigen Veränderungen gezeigt wird. 96 Vgl. auch A. Kablitz: „Erzählung und Beschreibung. Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte.“ (1982), S. 83, der die übermächtig gewordenen Beschreibungen u.a. im Nouveau Roman als Fiktionssignal im Sinne einer Inszenierung von Anti-Mimesis interpretiert. Ebenso D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 237f. 287 fen demgegenüber eine eigene Poetik: zum einen die einer - durch die Verwendung ausgedehnter Deskriptionen bewirkte - phantastischen Gleichrangigkeit von belebter und unbelebter Materie bzw. von Mensch und Tier, und zum anderen die Auflösung der Handlung durch die wiederholte Beschreibung nahezu unveränderter Szenen. Nicht zuletzt erwecken die überwiegend im optischen Modus vermittelten Beschreibungen den Eindruck der narrativen Transkription eines Films; daher sind die hypertrophen Deskriptionen wie schon die Metalepsen als implizit metafiktive Anspielung auf die Künstlichkeit bzw. auf die mediale Vermitteltheit der in Triptyque erzählten Fiktionen aufzufassen. Ein weiterer Faktor, der neben ihrer Banalität und den ‚wuchernden’ Beschreibungen zur metafiktiven Entwertung der histoire beiträgt, sind die narrativen Ellipsen. Dabei handelt es sich um die erzählerische Aussparung wichtiger Elemente bzw. Ereignisse, welche vom Leser rekonstruiert werden müssen. Zu diesen ausgesparten Ereignissen zählt der Tod des Kindes in der ländlichen Fiktion, 97 aber auch die Schlägerei zwischen dem Bräutigam und dem eifersüchtigen, mutmaßlichen Liebhaber der Kellnerin in der in Nordfrankreich spielenden Fiktion sowie die mutmaßliche Liebesszene zwischen Mann und Frau in dem an der Côte d’Azur spielenden Film. Den Ellipsen wohnt insofern ein metafiktionales Potential inne, als sie den ‚Sinn’ der histoire aufgrund der möglichen Polyvalenz unklar werden lassen. Der Text bietet mehrere Interpretationsmöglichkeiten an; allerdings bleibt ungeklärt, ob die ausgesparten Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, oder ihr ‚realer’ Status innerhalb der Fiktion nur fälschlicherweise vom Text suggeriert wird, sie aber eigentlich einen binnenfiktional ‚fiktiven’ Status besitzen. Die narrativen Ellipsen fungieren in dieser Hinsicht als metafiktive Inszenierung von Künstlichkeit, da der ontologische Status der ausgesparten Ereignisse innerhalb der fiktionalen Welt bewusst offengelegt wird. Allerdings liefern der unmittelbare Kontext des ausgesparten Ereignisses ebenso wie die bereits beschriebene Motivstruktur relativ eindeutige Hinweise auf die ‚innerfiktionale Realität’ der fehlenden Episoden. Im Folgenden soll die Ellipse des Ertrinkens genauer analysiert werden; auf die beiden anderen Fiktionen und die jeweils fehlende zentrale Episode wird nur kurz verwiesen. Im Falle des möglichen Todes des Kindes ist die Szene, die das letzte Erscheinen des Mädchens direkt an der Böschung des Flusses beschreibt, 97 M. Andrews weist dem Ertrinken des Kindes sogar die besondere Bedeutung der „focal scene in the novel“ zu und zeichnet die verschiedenen Anspielungen in Triptyque auf die ebenfalls ertrunkene Ophelia in Shakespeares Hamlet nach. (M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 38 und 44.) 288 kontextuell einerseits von der Zirkusfiktion umgeben sowie andererseits von der Beschreibung des zweiten und letzten erotischen Aktes zwischen dem Mann und der Hausangestellten in der Scheune. In der Handlung der beiden benachbarten Szenen ist eine gewisse Tendenz zur Beschleunigung zu bemerken: der den Clown verfolgende Affe beschleunigt sein Tempo und scheint den Clown beinahe einzuholen; dieser Vorgang wird von dem sich beschleunigenden Rhythmus der die Ereignisse untermalenden Musik aufgegriffen. 98 Auch in der Scheune streben die Ereignisse ihrem erotischen Höhepunkt zu und die Atmung der jungen Frau wird schneller. 99 Die im Zusammenhang mit der Motivstruktur des Textes beschriebene Bedeutung der Farbe ‚schwarz’ als Symbol des Todes 100 und der Vergänglichkeit wird im Kontext aller drei Szenen deutlich: So hat der Schatten des sich neigenden Tages nun das ganze Tal erfasst und die Kiesel und größeren Steine im Flussbett sind mit einer „mousse noire“ bedeckt (T, 194). Schwarz ist auch die Forelle, die unter dem Überhang des Flussufers verschwindet, und dunkel das sich im Wasser spiegelnde Laub. Die Farbe ‚schwarz’ wird auch im Zusammenhang mit der Liebesszene in der Scheune wieder aufgegriffen: So ist der Haarschopf des Liebhabers schwarz, seine sonnengebräunten Hände erscheinen auf der hellen Haut des Mädchens als dunkel, und auch seine Zunge wirkt im Halbschatten der Scheune beinahe schwarz (194f.). Weitere Hinweise auf den wahrscheinlichen Tod des kleinen Mädchens finden sich in einem größeren kontextuellen Zusammenhang in der auffälligen Rekurrenz des Morphs NOYE 101 z.B. in den vier Walnussbäumen, die den Vorplatz der Kirche in der dörflichen Fiktion umgeben (T, 8), oder in dem Vergleich der durchnässten Kellnerin an der Backsteinmauer mit „une noyée“ (T, 56). Nicht zuletzt deuten die Reaktionen der jungen Frau und des Jungen am Romanende sowie die nächtliche Suche am Fluss ein tragisches Ende der Episode an. 102 98 T, 194. 99 Ebd. 100 Zur Symbolik der ‚nicht-bunten’ Farbe ‚schwarz’ vgl. U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 265f. 101 S. Lotringer nennt diese kleinsten bedeutungstragenden lautlichen Segmente „sèmes similaires“. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 325.) 102 T, 200ff., 206ff., 213ff. Insgesamt ist es wohl die zunehmend unheimliche Atmosphäre in dem Tal - z.B. das Wandern des Schattens über die Bergzüge, die am Himmel kreisenden Krähen mit ihren heiseren Schreien (T, 53) - die den Tod des Kindes nahezu von Beginn an proleptisch andeuten. Darüber hinaus weist A. Duncan auf die alte Frau hin, die in ihrem Kinderwagen eine Sense transportiert, und die deshalb eher Tod als Leben konnotiert: „[…] elle préfigure la mort de l’enfant […].“ (A. Duncan: „Allées et venues familiales chez Claude Simon.“ (2004), S. 174.) 289 Auch wenn erzählerisch der Sturz des Kindes in das Wasser ausgespart wird, verleitet der Text durch seine vielfältigen Hinweise den Leser dazu, über die fehlende Handlung zu spekulieren. Dieses offenkundige Beispiel für die notwendige Imaginationsarbeit des Lesers bei der Rekonstruktion der histoire steht stellvertretend für seine Mitwirkung bei der Erschaffung der fiktiven Welt, in deren Verlauf er die zahlreichen Unbestimmtheitsstellen des Textes mit Hilfe seiner Phantasie auffüllt. 103 Die Rekonstruktionsarbeit des Lesers ist typisch für die Rezeption fiktionaler Erzähltexte; die narrativen Ellipsen bzw. Unbestimmtheitsstellen besitzen daher nicht nur eine metafiktive, sondern auch eine metafiktionale Implikation. 104 Die beschriebene, für das Ergänzen der drei ausgesparten Ereignisse notwendige und die Fiktion mitkonstruierende Imaginationsarbeit des Lesers wird in Form einer Meta-Metafiktion durch die Suche der beiden Jungen nach der richtigen Reihenfolge der Filmfragmente beispielhaft vorgeführt. 105 Sie gewinnen bis zuletzt keine Sicherheit über die Reihenfolge der einzelnen Bilder, vor allem über den richtigen Ort für dasjenige, das den beleibten Mann, die Klinke in der Hand an der Tür horchend, zeigt. (T, 175). Ebenso wie die Jungen erhält auch der Leser keine Gewissheit weder über den ‚realen’ Status von Teilen der histoire noch über die richtige Reihenfolge der verschiedenen Handlungsfragmente. Und wie den Jungen bleibt es auch der Spekulation des Lesers überlassen, die fehlenden Elemente der Handlung zu ergänzen. Auf diese Weise wird dem Leser ebenso wie durch die multiplen Metalepsen erneut vor Augen geführt, dass es sich bei den in Triptyque erzählten histoires nicht um innerfiktional - geschweige denn außertextuell - ‚reale’ Ereignisse handelt, sondern um die Imagina- 103 L. Dällenbach unterstreicht, dass die zahlreichen Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen „[…] the effect of exasperating a reading aiming at reestablishing a continuity of meaning“ bewirkten (L. Dällenbach: „Reading as Suture (Problems of Reception of the Fragmentary Text: Balzac and Claude Simon).“ (1984), S. 203.). 104 Auf ähnliche Weise legt der Text dem Leser auch die Rekonstruktion des ausgesparten Kampfes zwischen dem Mann in der Lederjacke und dem treulosen Bräutigam nahe: Es wird detailliert beschrieben, wie der eifersüchtige, mutmaßliche Liebhaber der Kellnerin die Verfolgung aufnimmt und sich zuletzt die Distanz zwischen den beiden Männern zunehmend verringert. In der sich chronologisch anschließenden Szene befindet sich der Bräutigam in verletztem Zustand vor dem Hotel, in dem er allem Anschein nach ursprünglich seine Hochzeitsnacht verbringen sollte (T, 185). Einen wichtigen Hinweis auf die tatsächliche Existenz der Kampfszene zwischen den beiden Männern innerhalb der fiktionalen Welt liefert darüber hinaus die Beschreibung des die Handlung der Fiktion repräsentierenden Filmplakats (T, 94f.). Für den ausgesparten Liebesakt im Falle der südfranzösischen Fiktion gilt, dass es insbesondere die Nacktheit der auf dem zerwühlten Bett liegenden Frau sowie der sich (wieder) ankleidende Mann sind, die eine zuvor erfolgte erotische Begegnung wahrscheinlich werden lassen (T, 38f., 42, 50f.). Auch lassen gewisse Andeutungen des Mannes die Abhängigkeit der Frau von seinem Einfluss und seinen Verbindungen sowie die dafür von ihr erbrachte sexuelle Gegenleistung deutlich werden (T, 52.). 105 T, 170-176. 290 tionen einer unbestimmt bleibenden Erzählinstanz sowie um seine eigenen. Die narrativen Ellipsen besitzen demnach in zweifacher Hinsicht eine metafiktionale Funktion: Zum einen spielen sie metafiktiv auf die mögliche Irrealität von Teilen der histoire an, zum anderen thematisieren sie metafiktional typische Sinnkonstitutionsverfahren narrativ-fiktionaler Texte. 5.2.4 Fremddetermination der histoire durch latente Verweisungssysteme: Motive und mots-carrefour Wie bereits in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, ist Simons Intention in Triptyque weniger das Erzählen einer interessanten, sinnhaltigen Geschichte, als die metafiktive Aufdeckung der Künstlichkeit einer jeden Repräsentation von Wirklichkeit. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Botschaft des Romans weniger in der unverhüllten Beschreibung der verschiedenen erotischen Akte bzw. in dem eher banalen Inhalt der drei histoires, sondern vielmehr in den verschiedenen Verweisungssystemen zu suchen ist, die dem Text eine spatiale Struktur verleihen. 106 Es lassen sich zwei verschiedene Verfahren bestimmen, die eine Art Netz über den Text legen und die verschiedenen diegetischen bzw. ontologischen Ebenen und thematischen Bereiche miteinander verbinden: es sind dies vor allem die Motive und die für Simons Ästhetik typischen mots-carrefour, 107 welche die drei Fiktionen zueinander in Bezug setzen. Diese auffälligen Verweisungssyteme konstituieren die eigentliche, bei der Erstlektüre häufig nicht wahrzunehmende Bedeutung des Textes; der Roman besitzt folglich mehrere Botschaften - die eher banale der histoire sowie die in der Motiv- und Sprachstruktur verborgene - er ist polyvalent. Darüber hinaus fungieren sowohl die auffällige Fremddetermination der histoire durch die sprachlichen Strukturen als auch die dadurch entstehende Mehrdeutigkeit des Textes in zweifacher Hinsicht als metafiktive bzw. metafiktionale Thematisierung von Künstlichkeit: Zum einen scheint die fiktionale Welt des Romans weniger das Produkt des Erzählens einer bestimmten, klar erkennbaren Erzählinstanz zu sein, als das einer sprachlichen Kombinatorik ohne erkennbare Referenz auf eine äußere, jenseits des Textes liegende, ‚Realität’. Zum anderen verweist die besondere Mehrdeutigkeit des Romans metafiktional auf seinen Status als narrativ-fiktionaler Text. 106 Vgl. hierzu auch S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 167 und 173. 107 Mit seinem Konzept der sprachlichen Verweisungssysteme in seinen Texten beruft sich Simon auf ein Zitat Lacans: „Le mot n’est pas seulement signe, mais nœud de significations.“ Er beschreibt seine Poetik als „[création] mot à mot, par le cheminement même de l’écriture.“ (C. Simon: „La fiction mot à mot.“ (1972), S. 73f.) 291 Die vielfältigen Kohärenz stiftenden Motive sind wohl das auffälligste Strukturierungselement des Textes. Ihre Funktion besteht vor allem darin, die verschiedenen, zunächst disparat wirkenden Fiktionen miteinander zu verknüpfen und eine bestimmte Aussage des Textes zu formulieren, die an der Oberfläche des Romans - dem Inhalt der erzählten Geschichten - nicht wahrnehmbar ist. Ein typisches Motiv in der Simonschen Poetik ist „l’herbe“ - das ‚Kraut’ bzw. das ‚Gras’ -, das in Triptyque insbesondere in der Gestalt von „touffe“, „toison“ oder auch „mousse“ auftritt. „L’herbe“ allgemein ist bei Simon immer auch erotisch konnotiert: Zwar finden sich in der süd- und zentralfranzösischen Landschaft „touffes de cannas“ (T, 7), „touffes d’herbes folles“ (T, 10, 13) bzw. „touffes d’osiers“ (T, 15f.), zugleich wird aber auch das Schamhaar des Mannes in der Scheune als „buisson de poils“ (T, 16) und seine Frisur als „fris[ée] en touffes“ (T, 176) beschrieben, während der Liebesakt selbst im Heu („foin“) stattfindet (T, 25). 108 Ebenso präsentiert sich das Schamhaar der nackten Schauspielerin auf dem Bett als „touffe“ (T, 81) genauso wie dasjenige des Bräutigams (T, 204) bzw. das der Braut (T, 212). So zieht der Text mittels des Motivs „herbe“ nicht allein eine Verbindungslinie zwischen den drei Fiktionen, sondern kommentiert darüber hinaus metaphorisch das Verhältnis von Natur und Mensch: Die Erotik des Menschen, 109 die auch von seiner Gestalt abhängt, erscheint in Triptyque als etwas Natürliches, Archaisches ebenso wie als etwas unkontrolliert Wucherndes, Fruchtbares. Ein anderes wichtiges Motiv in Triptyque sind die verschiedenen Farbadjektive und hier insbesondere die Farbe ‚schwarz’ - häufig in Verbindung mit ‚rot’ verwendet 110 -; sie ist als Hinweis auf Tod und Sterben bzw. auf Vergänglichkeit allgemein zu interpretieren. 111 So tritt die alte Frau, die in der ländlichen Fiktion den Hasen tötet, als „silhouette noire“ (T, 48) vor dem hellen Hintergrund der Sonne in Erscheinung und ist grau bzw. schwarz gekleidet (T, 24). 112 Auch die „hampes de pavillons“ der Boote auf 108 Es würde über das Thema der vorliegenden Arbeit hinausgehen, alle Varianten, die ‚natürlich’ bzw. ‚erotisch’ konnotiert sind, aufzuzählen, daher hier nur einige kurze Hinweise. 109 Vorausgesetzt, man erkennt das Schamhaar als pars pro toto für die Geschlechtsmerkmale des Menschen an. 110 Diese Farbkombination lässt sich als Anspielung auf Stendhals Le Rouge et le Noir interpretieren. 111 Auch R. Sarkonak unterstreicht die bedeutungstragende und kohärenzstiftende Funktion der Farbadjektive und ihre Fähigkeit, eine bestimmte - häufig unheimliche - Atmosphäre zu kreieren. (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 150f.) 112 R. Sarkonak identifiziert in der Figur der alten Frau eine moderne Version der Hekate (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 152.). Interessanterweise spielt in der Repräsentation und in der Verehrung der Hekate die Zahl ‘drei’ ebenfalls eine wichtige Rolle: Sie wird dreigestaltig abgebildet und hat die Beinahmen die „Dreiköpfige“/ „Dreigestaltige“/ „Die auf drei Wegen Wandelnde“; ihre Attribute sind Fackel, 292 dem Kanal in der nordfranzösischen Industriestadt zeichnen sich durch ihre „couleurs de deuil et de feu“ (T, 63) aus und nicht zuletzt die Grabsteine auf dem Friedhof des zentralfranzösischen Dorfes sind „de marbre noir, poli“ (T, 68). Interessanterweise wird auch der Liebhaber in der Scheune häufig mit der Farbe ‚schwarz’ in Verbindung gebracht; so sind der Tank und der Sitz seines Motorrads schwarz (T, 11, 19) ebenso wie seine Kopf- und Schamhaare (T, 67, 86). Dies lässt sich als verborgenen Hinweis auf seine Rolle beim Tod des kleinen Mädchens deuten, da ja er es ist, der die junge Frau zu einem erneuten Beischlaf zwingt und damit über Gebühr von der Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht abhält (T, 187ff.). Eine ähnliche Konnotation besitzt auch die Farbe des Tisches, auf dem der Mann in dem an der Côte d’Azur spielenden Film das Puzzle zusammensetzt: Dieser ist schwarzlackiert (T, 220), so dass das nahezu beendete Puzzle die durchschimmernden, verbleibenden schwarzen Stellen wie „îlots“ wirken lässt (T, 223). Hier spielt die Farbe ‚schwarz’ ebenfalls auf ‚Tod’ und ‚Zerfall’ an: In diesem Fall auf die Suspendierung der Realitätsillusion der in dem zentralfranzösischen Dorf spielenden Episode. Die finale Metalepse, die in der Aufdeckung der Dorf-Fiktion als einer weiteren Repräsentation innerfiktionaler Realität gipfelt, wird somit auch über die Motivstruktur vorbereitet. 113 Dolch und Schlüssel, Hunde sowie Schlangen; verehrt wurde sie auf dreigeteilten Wegen, da sie zu drei Wegen den Schlüssel hatte: zum Hades, zum Himmel und zur Erde. (W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 230f.) 113 Im Rückblick der Lektüre wird bereits früh auf den lackschwarzen Tisch und damit auch auf das Ende dieser Fiktion verwiesen: das Wasser im Springbrunnen des Dorfes erscheint „comme vernie“ (T, 16) und auch die Fische in dem dortigen Fluss sind „d’un gris foncé, presque noir, comme vernis“ (T, 56). Gleiches gilt für die Farbe „mauve“, die bereits in der Beschreibung der Postkarte zu Beginn des Romans erscheint (T, 7) und die (im Rückblick) auf die schicksalhafte Liebesszene in der Scheune hinweist, da sowohl der Mann eine „chemise aux larges raies mauves“ (T, 55) als auch die Frau ein „corsage à dessins mauve et blanc“ trägt (T, 157). Hingegen verbindet das Motiv ‚rot’ als Farbe des Blutes den toten Hasen mit dem verletzten Bräutigam und dem rot geschminkten Clown und impliziert die Gewalttätigkeit der Handlung in den drei Fiktionen. Ein weiteres Motiv ist ‚Reptil’ bzw. ‚reptilartig’: So stellt die Natter in der ländlichen Szene eine reale Gefahr für die beiden Jungen dar (T, 152), doch auch der Harlekin ähnelt in seinem Aussehen einem Reptil - in diesem Fall einer Eidechse („lézard“) - und strahlt insgesamt Gefahr und gefühllose Kälte aus: die „couleur métallique“ seiner Augen (T, 178), seine „paupières de lézard“ (T, 180) sowie „sa langue violette comme celle d’un reptile“ (T, 181, 183). Auch die Braut in der städtischen Szene besitzt ähnliche „yeux de verre“ genauso wie die mutmaßliche Besitzerin der Eckkneipe („ses yeux minuscules […] paraissent aussi durs que des morceaux de verre“ (T, 134)) - ein Hinweis auf ihre emotionale Kälte? Neben den genannten finden sich andere Motive, die sich in Oppositionspaaren gruppieren und interpretieren lassen: Licht/ Tag = Leben vs. Dämmerung/ Schatten = Zwischenzustand vs. Dunkelheit/ Nacht = Tod; Lärm = Ankündigung von Gefahr/ Begleitung von erotischen Akten vs. Stille = Tod. 293 Die Motive verleihen dem Text folglich eine ganz eigene, im Verborgenen liegende Bedeutung: Während an seiner inhaltlichen Oberfläche banale Geschichten um erotische, untreue und eigennützige Varianten der Liebe erzählt werden, die den Leser aufgrund ihrer Fragmentarisierung und sparsamen erzählerischen Gestaltung eher unberührt lassen, zielt die Motivstruktur des Textes auf elementare, mit Liebe und Tod zusammenhängende Fragen der menschlichen Existenz. Überdies scheint der Text durch die auffällige Motivstruktur gleichsam ‚fremdgesteuert’ zu sein: Die fiktionale Welt ist nicht das narrative Produkt einer Erzählerfigur, sondern hat ihren Ursprung scheinbar allein in den sprachlichen Verweisfunktionen der Motive. In dieser Hinsicht legt die Motivik des Romans ebenso wie die paradoxen Metalepsen und die fiktionsgenerierenden Deskriptionen in Form einer metafiktiven Inszenierung die fehlende bzw. nur in Spuren vorhandene Referenz der Fiktion auf Reales offen, mithin ihre Fiktivität bzw. Künstlichkeit. Eine ähnliche Funktion wie die Motive erfüllen die mots-carrefour 114 ; allerdings verfügen sie in Triptyque im Gegensatz zu den Motiven über keine ausgeprägte bedeutungstragende Funktion, sondern sie sichern allgemein die Kohärenz der scheinbar disparaten Fiktionen. 115 Inhaltlich lassen sich fünf verschiedene Typen von mots-carrefour unterscheiden: So beruhen einige durch mots-carrefour generierte Verbindungen zwischen Teilen der Fiktionen auf visuellen, auditiven und olfaktorischen Bildern, andere wiederum auf semantischen und phonetischen Eigenschaften der betreffenden Wörter. 116 Neben diesen inhaltlichen Varianten finden sich zwei strukturelle Formen: Zum einen solche, die als ‚Nahverweise’ den Übergang von eigentlich nicht thematisch verbundenen Szenen bewirken, 117 und zum 114 Die sogenannten mots-carrefour - dt. ‚Kreuzungswörter’ - fungieren als ‚Weichen’ für die verschiedenen Handlungsstränge. Sie ermöglichen den abrupten Übergang - oftmals auch die sich vom Leser nahezu unbemerkt vollziehende Überblendung - zwischen Szenen bzw. Themen, die im Grunde nur wenige Berührungspunkte besitzen. Der Effekt dieses Verweisungssystems wird von M. Bertrand prägnant beschrieben: „Ainsi, l’espace romanesque défini, le texte s’engendre-t-il de lui-même à l’intérieur d’une symphonie de mots, mots carrefour, mots matrice, mots langage.“ (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 62.) Die dabei entstehende Fiktion scheint weniger dem scheinbar natürlichen Erzählfluss einer Vermittlungsinstanz zu entspringen als das Produkt unsichtbar wirkender sprachlicher Ordnungsprinzipien zu sein. 115 So konstatiert J.A.E. Loubère in Triptyque „[…] a web of inner connections based on the word and the image.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 210.) 116 Ebd., S. 210ff. 117 Aus Gründen des Umfangs sollen nur einige Beispiele genannt werden: Vgl. z.B. die „bas blancs“ auf der Gravüre in dem an der Côte d’Azur spielenden Film und die „bas noirs“ der jungen Hausangestellten in der Scheune der ländlichen Fiktion (T, 44); „le grincement“ des Kinderwagens in der ländlichen Szene und „le grincement 294 anderen jene, die als ‚Fernverweise’ auf räumlich entfernte Teile von Fiktionen anspielen. Im Folgenden soll der letztgenannte Typus von mots-carrefour einer Analyse unterzogen werden. Es handelt sich dabei um Ausdrücke, die in mehreren bzw. teilweise auch in allen Fiktionen erscheinen und die in der Rückschau des nach dem Abschluss seiner Lektüre ‚wissenden Lesers’ als Prolepsen auf zeitlich nachgeordnete Ereignisse in der Handlungsstruktur zu deuten sind. Interessanterweise steht im Mittelpunkt dieser Verbindungslinien die Zirkusfiktion: diese enthält all jene Elemente, die entweder als Gegenstand oder aber auch teilweise nur als Metapher oder Vergleichsobjekt in den anderen Fiktionen auftauchen. So liegt beispielsweise im Fluss der Dorf-Fiktion ein Männerstiefel „à l’empeigne béante“, der dann später am Schuh des tollpatschigen Clowns in der Zirkusszene erneut auftaucht. 118 Auch die „cris rauques“ des Kuhhirten in der dörflichen Fiktion (T, 18) wiederholen sich im „grincement strident“ der Trambahn in der nordfranzösischen Szene, der „comme un cri plaintif“ das Trommelfall zerreißt (T, 48). Doch findet sich ein Schrei bzw. Schreien auch noch in anderen Zusammenhängen des Romans: Das Stoppen des Films in den beiden Kinos wird von den Zuschauern mit metaphorisch beschriebenen „cris d’animaux“ quittiert, 119 die Frau stößt während des Liebesakts an der Backsteinmauer „un cri étouffé“ und später unter den Tritten des Mannes „un cri de douleur“ aus 120 und auch die Kinder, die während der Kinovorführung am Dorfbrunnen spielen, äußern „des cris“. 121 Im Zusammenhang mit dem ‚Gelage’ der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe treten ebenfalls „des cris“ auf (T, 135), die an verschiedenen Stellen auch von Tieren geäußert werden: die „cris éraillés“ der Krähen und der „cri grave“ eines Frosches. 122 Im Mittelpunkt dieser Schreie steht jedoch der Clown mit seiner „voix éraillée“ (T, 109, 116) 123 der Zirkusszene, dessen Rede in Onomatopöien an „un cri d’animal“ erinnert (T, 158). An anderer Stelle werden seine Schreie als „bizarre[s]“ (T, 159, 199) beschrieben, als „cris de douleur“ (T, strident“ der Räder der Trambahn in der städtischen Fiktion (T, 48) sowie insgesamt das kohärenzstiftende Auftreten der Adjektive „écarté“, und „écartelé“: T, u.a. 98f., 109f., 119f. 118 T, 78f., 88, 107-110, 116f., 158f. 119 T, u.a. S. 53, 102, 129, 137. 120 T, 61, 114. 121 T, 112, 120. Auch beim Spielen im und am Fluss und am Wasserfall: T, 154. 122 Krähen: T, 53; Frosch: T, 208. Das Bild der um einen fixen Punkt kreisenden Krähen verweist intratextuell auf die unfreiwillig das tote Pferd umkreisenden Soldaten in La Route des Flandres. 123 Die „voix éraillée“ des Clowns verweist auf den defekten bzw. qualitativ schlechten Lautsprecher des Kinos (T, 58, 102). Auch die Stimme der Kellnerin nimmt im Anschluss an den Liebesakt aus Angst und Entrüstung über das Verhalten des Bräutigams eine heisere Färbung an (T, 106). 295 181) oder als „cris inarticulés et sauvages“ (T, 49, 190, 199). 124 Andere wichtige Elemente der drei Fiktionen, die von der Zirkusfiktion gespiegelt werden, entstammen den beiden Wortfeldern „singe“ 125 und „reptil“ 126 sowie den verschiedenen Konnotationen von „marteau“. 127 Die in Triptyque auftretenden, unterschiedlichen Formen von motscarrefour erfüllen verschiedene Funktionen: Während diejenigen syntagmatischen Elemente des Textes, die einen scheinbar assoziativen Übergang zwischen benachbarten Handlungssträngen bewirken, die Kohärenz des Textes auf der mikrostrukturellen Ebene - der Verknüpfung benachbarter Handlungssequenzen - sichern, spielen die als Fernverweise fungierenden mots-carrefour im Hinblick auf die Themen des Romans eine wichtige Rolle: Sie verbinden die disparat nebeneinander stehenden Fiktionen durch die Wiederholung bestimmter Syntagmen oder Lexeme miteinander; insbesondere greift die Fiktion um das Geschehen im Zirkus zentrale Elemente der anderen histoires wieder auf und kommentiert auf diese Weise die drei anderen Fiktionen. So verweist die am Ende der Zirkusfiktion erfolgende Metamorphose des Clowns in eine „créature mi-singe mi-homme“ - ausgelöst durch das Umlegen einer Leine und den Beginn der Verfolgung durch den Affen - auf den Status der Menschen in den anderen histoires. Auch diese sind in Simons Text durch ihr Verhalten oder ihre Körperhaltung häufig Affen, oder allgemein Tieren, ähnlicher als Menschen. In dieselbe 124 Paradoxerweise entstammen die „cris inarticulés“ dem Mund eines Clowns auf einem Gemälde - es findet hier erneut eine metaleptische Verletzung der Grenzen zwischen binnenfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’ statt. 125 Vgl. das ähnlich wie bei manchen Affen oder Hunden hervorspringende Kinn der seltsamen alten Frau in der ländlichen Szene (T, 24), das im Rausch des Liebesaktes zu Boden gestürzte Paar in der Sackgasse und die nun „à quattre pattes“ kniende Frau (T, 61); später kniet auch der Mann auf allen Vieren auf der Suche nach seinem Schlüssel (T, 114). Auch einer der beiden Jungen klettert in der ländlichen Fiktionen „courbé en deux presque à quattre pattes“ den Steilhang zum oberen Ende des Wasserfalls empor (T, 111); später sieht man einen von ihnen auf seinen Fersen, „comme un singe“ sitzen (T, 120) und nach der überraschenden Begegnung mit der Natter erscheinen die beiden als „bête à quattre pattes“ (T, 153). In der ländlichen Fiktion wird die Frau vom Mann gewaltsam zu Boden geworfen und kniet „à quattres pattes“ über dem Mann (T, 189). Und schließlich kumulieren die verschiedenen Anspielungen auf affenähnlich verharrende Kreaturen im Bild des Clowns selbst, der sich als „créature mi-singe mi-homme“ auf allen Vieren von dem Äffchen verfolgen lässt. (T, 190, 192, 194, 197-199) 126 Vgl. die mit einem Trageriemen, der wiederum einer Schlange ähnelt, verbundenen Bücher auf einem Filmfragment (T, 176), die ‚reale’ Natter in der ländlichen Fiktion (T, 153) und schließlich den mit allen Merkmalen eines Reptils ausgestatteten „personnage lunaire“ der Zirkusfiktion (T, 178f., 180f., 183f., 186, 190). 127 Die beiden ‚realen’ Hämmer in der Zirkusfiktion (T, 108ff., 116f.) und die aus dem buchstäblichen „avoir un coup de marteau“ übertragene Bedeutung „être fou, cinglé, dingue“ von „être marteau“ (J. Rey-Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 1360.): T, 106, 108, 112, 117. 296 Richtung weist auch das Aussehen des „personnage lunaire“ - des Harlekins - der in seiner Reptilähnlichkeit als Symbol für Gefahr und körperliche Überlegenheit zu deuten ist. Auch hier ist eine Metamorphose - jetzt zwischen Mensch und Reptil - zu beobachten, welche die negative Bilanz des Romans aus der Diskussion um die Frage nach der Conditio des Menschen veranschaulicht: dieser scheint nicht nur in seiner Gewalttätigkeit, sondern auch in seiner Sexualität und seinem körperlichen Verhalten allgemein den Tieren ähnlicher zu sein als gedacht. Doch lassen sich die mots-carrefour nicht nur als Garanten der thematischen Kohärenz des Textes interpretieren, sondern sie sind - in ihrer nahwie auch in der fernverweisenden Variante - in struktureller Hinsicht zu lesen als verborgenes Netz, das den Text schon bei der Erstlektüre wahrnehmbar determiniert. Die Wechsel zwischen den verschiedenen Fiktionen scheinen weniger der erzählerischen Logik geschuldet zu sein als den semantischen und phonetischen Eigenschaften der Lexeme: Es tritt die ordnende und generative Macht der Sprache zulasten der Erzählung einer kohärenten, interessanten histoire in den Vordergrund. Obendrein überschreiten die auffälligen Parallelen der als carrefour bzw. ‚Weiche’ fungierenden Zirkusfiktion mit den anderen Handlungssequenzen das Maß erzähllogischer Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit. Wiederum, wie bereits im Falle der den Text auffällig strukturierenden Motivik, wird die Erfundenheit der verschiedenen histoires sowie des sie hervorbringenden Diskurses metafiktiv bzw. metafiktional inszeniert: Es ist die Sprache, das eigentliche Substrat der Fiktion, welche die Fiktionen und den diese hervorbringenden Erzählprozess zu generieren scheint. 5.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der gescheiterten fiktional-narrativen Repräsentation In Triptyque wird nicht nur die Möglichkeit einer literarischen bzw. allgemein medialen Referenz auf Außertextuelles kritisch diskutiert, auch die Repräsentation dieser Realität mit sprachlichen bzw. literarisch-narrativen Mitteln wird in Zweifel gezogen. So ist der narrative Diskurs, welcher die verschiedenen banalen und spannungsarmen histoires vermittelt, nicht unproblematisch: Zum einen fehlt, wie bereits angedeutet wurde, eine genau bestimmbare Erzählinstanz bzw. ein Erzähler mit ‚Leib und Seele’ und zum anderen ist die narrative Repräsentation dieser Geschichten in hohem Maße durch Anachronien und Fragmentarisierungen geprägt. Im Folgenden soll zunächst die unbestimmt bleibende Erzählinstanz, die weniger einem Menschen als einem unbelebten Kameraauge gleicht, untersucht werden. Im Anschluss erfolgt ein kurzer Überblick über die verschiedenen Verstöße gegen die Chronologie der erzählten Ereignisse, 297 die in den drei Hauptfiktionen zu verorten sind. Abschließend werden die Fragmentierungserscheinungen des discours behandelt. 5.3.1 Die Camera-eye-Erzählinstanz Schon bei der Erstlektüre von Triptyque fällt auf, dass die Handlung weder durch ein „je“, also durch einen Ich-Erzähler, noch durch ein „il“ - sei es durch eine Reflektorfigur oder durch einen auktorialen Erzähler - vermittelt wird. Stattdessen findet sich wiederholt die Kombination des unbestimmten „on“ mit verschiedenen Verben insbesondere der visuellen, aber auch der auditiven und olfaktorischen Wahrnehmung. So wird gleich zu Beginn des Romans das idyllisch daliegende Dorf vor allem durch visuelle Sinneswahrnehmungen präsentiert: On peut entendre le bruit tout proche de l’eau basculant par-dessus la murette d’un canal de retenue et fusant entre les joints de la vanne. Plus faible, lointain, plus grave, parvient aussi celui d’une cascade. […] De la grange on peut voir le clocher. Du pied de la cascade on peut aussi voir le clocher mais pas la grange. Du haut de la cascade on peut voir à la fois le clocher et le toit de la grange. […] Le bruit de la grande cascade est répercuté par les versants abrupts de la vallée et les rochers. Couché dans le pré en haut de la cascade, on voit les graminées et les ombelles qui se détachent sur le ciel et dont parfois la brise fait osciller les tiges, celles des graminées, plus souples, se courbant légèrement, les ombelles se balançant avec raideur. Sous cet angle les ombelles sont plus grandes que le clocher. En fait on ne peut pas regarder à la fois les ombelles et celui-ci. Si l’on fixe les ombelles, le clocher, dans le lointain, apparaît comme un rectangle flou et gris, étiré en hauteur, surmonté d’un triangle violacé, flou lui aussi. (T, 8f.) Allerdings findet sich die visuelle Wahrnehmung nicht nur auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung, sondern auch auf der Ebene der histoire selbst, wenn die Protagonisten des Romans vor allem durch ihren jeweiligen Blick - „le regard“ - hervortreten: der voyeuristische Blick der beiden Jungen in das Innere der Scheune, in der der Liebesakt zwischen der jungen Hausangestellten und dem Jäger stattfindet (T, 46); der blinde ‚Blick’ der alten Frau (T, 46, 202); der stets an die Decke oder auf das Fenster gerichtete Blick der Schauspielerin (T, 129, 151); der rätselhafte, sphinxähnliche Blick des Schauspielers durch die halbgeschlossenen Lider (T, 141, 148) und der „regard aigu“ des die junge Hausangestellte ‚jagenden’ Jägers (T, 177). Auf diese Weise übernehmen die Romanfiguren für den Leser die Rolle des die Handlung vermittelnden Erzählers; er scheint durch ihre Augen die Welt des Romans wahrzunehmen. Die herausragende Stellung der Sinneswahrnehmung ‚Sehen’ bzw. des ‚Blicks’ lässt die visuelle Wahrnehmung als ein weiteres Motiv in Triptyque fungieren, das ebenfalls die verschiedenen Handlungssequenzen bzw. Themen miteinander verbindet. So wird der voyeuristische Blick der beiden Jungen auf das Geschehen in der Scheune in der Dorffiktion von dem 298 Blick des eifersüchtigen Liebhabers der jungen Kellnerin durch die Vorhänge der Kneipe (T, 106f., 113) 128 wieder aufgegriffen sowie durch den ebenfalls voyeuristischen Blick des Schauspielers auf die unbekleidete Frau durch die spaltbreit geöffnete Tür (T, 219f.). Nicht zuletzt spiegelt sich auch der Blick des Lesers auf die Buchseiten und die in ihnen verborgene Handlung in der optischen Täuschung der auf der Scheunenwand übereinander geklebten Plakate: Des bas noirs, montant un peu au-dessus du genou, gainent les jambes blanches de la fille dont les pieds sont noués sur les reins de son partenaire. Les lèvres de la déchirure verticale s’écartent comme les pans de rideaux mal joints, ouvrant un angle aigu à peu prés au centre de la piste. Le couple qu’elles dévoilent semble épié de toutes parts par les regards invisibles des spectateurs dont le pinceau de l’artiste a seulement dessiné les contours (têtes et épaules serrées comme des mouches sur une tartine) d’un épais trait noir. Par un autre artifice du peintre, toute la lumière semble se rassembler sur l’amas de membres emmêlés et mouvants du couple luttant comme au milieu d’un ring et que les rayons du projecteur sculptent violemment, le creusant d’ombres noires, posant sur les parties saillantes (fesses, dos, cuisses) des reflets argentés vigoureusement indiqués dans une pâte épaisse. […] (T, 44) Paradoxerweise erscheint der Liebesakt des Paares in der Scheune in der Mitte der Zirkuspiste stattzufinden und von den kreisförmig sitzenden Zuschauern voyeuristisch betrachtet zu werden. Mit einem gewissen ironischen Unterton hat der Text seine reale Leserschaft und ihre voyeuristische Neugierde in sein Zeichensystem eingeschrieben: so, wie die skizzierten Zuschauer auf dem Zirkusplakat die durch einen Spalt sichtbaren und sich scheinbar inmitten der Zirkuspiste vollziehenden Ereignisse zu verfolgen scheinen, betrachten auch der implizite und in letzter Konsequenz auch der reale Leser die im Roman Triptyque erzählten Ereignisse. Darüber hinaus spiegelt das begrenzte Wahrnehmungsfeld der Romanfiguren den ebenfalls begrenzten Blick der unbestimmten Erzählinstanz. Auf ähnliche Weise wie diese in ihrer Sicht auf die Ereignisse häufig beeinträchtigt sind - so wird z.B. die Sicht der Jungen auf das Paar durch die schlechten Lichtverhältnisse in der Scheune sowie durch die Enge des Spalts in der Scheunenwand behindert 129 - verfügt auch der unbekannte Erzähler nur über einen eingeschränkten Zugang zu den Ereignissen, die er berichtet: Insbesondere die Ausführlichkeit und Detailliertheit der Be- 128 Auch bei dem Unbekannten, der in die von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Tram erhellten Sackgasse späht, könnte es sich um den Liebhaber der jungen Kellnerin aus der Kneipe handeln (T, 49). 129 Hingegen werden die Sucher nach dem vermutlich ertrunkenen Kind durch die Dunkelheit der Nacht eingeschränkt sowie durch den begrenzten Lichtkegel ihrer Taschenlampen; der eifersüchtige Liebhaber der Kellnerin hingegen durch die beschlagenen Scheiben des Lokals sowie durch die in der Sackgasse herrschende Dunkelheit. 299 schreibungen zeigen, dass ihm nur die Sicht von außen auf die Figuren und Vorgänge der fiktionalen Welt bleibt; ihr Innenleben bleibt ihm unbekannt. Mit A. Goulet lassen sich diese „multi-focal descriptions“ als metanarrative Kritik an „the overarching, perspectival gaze - or survol - of traditional omniscient narration“ deuten. 130 Doch soll neben dieser allgemein metapoetischen noch eine weitergehende Interpretation vorgeschlagen werden: Die Vorherrschaft des optischen Modus’ bei der Vermittlung der fiktiven Welt von Triptyque greift die vielfältigen visuellen Repräsentationen von Teilen der Fiktion auf. Wie bereits gezeigt wurde, erweisen sich alle Binnenfiktionen zuletzt nicht als innerfiktional ‚real’ sondern nur als Repräsentation einer vom Text erzählten - fiktiven oder ‚realen’ - Wirklichkeit. Die Handlung um das Paar an der Côte d’Azur entpuppt sich als Film, die Handlung um das vermutlich ertrunkene Mädchen als Puzzle bzw. ebenfalls als Film genau wie die erotische Begegnung in der Sackgasse, die zudem möglicherweise die Verfilmung eines Romans ist. Diese vielfältigen Repräsentationen von Wirklichkeit durch unterschiedliche Kunstformen werden nun in der erzählerischen Vermittlung selbst gespiegelt. Die Erzählinstanz in Triptyque ist weniger ein psychologisches Zentrum als ein unbeseeltes Kameraauge, das die berichteten Vorgänge nur in ihrer Äußerlichkeit einfängt. Die in diesem Roman repräsentierte Welt scheint durch detaillierte Deskriptionen auch der geringsten Objekte geprägt zu sein und erweckt dadurch eher den Eindruck eines narrativ vermittelten Films als den eines Romans. Die Künstlichkeit der narrativen Vermittlungssituation des Romans wird somit metafiktional aufgedeckt: nicht eine anthropomorphe Erzählerfigur steht am Anfang der fiktionalen Welt, sondern ein mechanisches Kameraauge; statt einer narrativen Vermittlung von (binnenfiktionaler) ‚Realität’ wird bloß wiederum eine weitere Repräsentationsebene - die des Films bzw. der bildlichen Darstellungen bzw. des Romans - vermittelt. 131 Die eigentliche innerfiktionale Realität hinter den verschiedenen, mehrfach gerahmten Repräsentationen ist nicht mehr greifbar. Metafiktionale Hinweise auf den künstlichen Repräsentationsrahmen finden sich - wie bereits gezeigt wurde - in Triptyque zuhauf; 132 zuletzt ist es die narrative Vermittlung der fiktiven Welt selbst, die sich als künstlich 130 A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000). 131 Simons Roman illustriert auf diese Weise die postmoderne These vom „‘decentered’ subject“: das ‚Selbst’ löst sich in einem Akt der Selbstentfremdung in verschiedenen (textuellen) Funktionen auf, bis das menschliche Subjekt zuletzt zu „[…] a structural position in a system governed by differences“ wird. (S. Rimmon-Kenan: A glance beyond doubt. Narration, representation, subjectivity. (1996), S. 12f.) 132 Vgl. Kap. 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen. 300 erweist. Das Fehlen einer Erzählerfigur und die scheinbare Vermittlung der Handlung durch ein mechanisches Kameraauge lassen die erzählten Ereignisse nicht als innerfiktionale Realität erscheinen, sondern nur als ihre Repräsentation. 133 Somit besitzt auch die narrative Instanz des Kameraauges selbst eine metafiktionale Funktion, da sie implizit auf die Künstlichkeit der medialen Vermittlungssituation hinweist. 5.3.2 Die Dekonstruktion linearen Erzählens durch Anachronien und Fragmentierungen Die Erzählsituation in Triptyque ist nicht allein durch das Fehlen einer eindeutig bestimmbaren Erzählerfigur gekennzeichnet, sondern darüber hinaus auch durch verschiedene Verletzungen der Reihenfolge des Erzählten durch mehrere Pro- und Analepsen. Einerseits gewinnen ganze Handlungsepisoden die Funktion einer Probzw. Analepse, wenn sie an handlungslogisch falscher Stelle in die Erzählung eingefügt werden, und andererseits besitzen in Triptyque auch bestimmte Motive eine vorausdeutende Funktion. 134 In ihrer Brief story of postmodern plot untersucht C. Burgass die Zeitstrukturen postmoderner Romane und kommt zu dem Schluss, dass diese auf metafiktionale Weise durch „thematic and/ or plot devices“ die erzählerische Chronologie dekonstruieren und ontologisch-chronologische Grenzen überschreiten. 135 Ziel sei die Infragestellung der Möglichkeit objektiver Zeit zugunsten eines relativen bzw. in hohem Maße subjektiven Zeitkonzepts. Auch wenn die Verstöße gegen die Reihenfolge der Ereignisse auf den ersten Blick in Triptyque kaum entschlüsselbar zu sein scheinen, so wird in diesem Roman die Zeitstruktur nicht völlig dekonstruiert, sondern die ursprüngliche Ordnung der verschiedenen histoires ist grundsätzlich rekonstruierbar, wenn auch nicht ohne einige ‚Unbestimmtheitsstellen’. 133 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 11, und S. Rimmon-Kenan: A Glance Beyond Doubt: Narration, Representation, Subjectivity. (1996), S. 14, werten die Verwandlung des traditionellen Erzählers von der kohärenten, bedeutungsgenerierenden Einheit in ein „impersonal system“ als Merkmal des postmodernen Romans. Vgl. zum problematischen Erzähler in Triptyque auch D. Sherzer: „Serial Constructs in the Nouveau Roman.“ (1980), S. 89. 134 Wie bereits angedeutet wurde, verweist die Farbe mauve als Farbe der Korsage der jungen Hausangestellten von Beginn an proleptisch auf das unglückliche Ende dieser histoire. Neben den bereits erwähnten farblichen Übereinstimmungen in den Kleidungsstücken des Liebespaares in der Scheune finden sich weitere Hinweise auf eine unglückliche Verkettung der Ereignisse: Das Motorrad des Jägers hat eine „fleur mauve“ erdrückt (T, 19), die Kreuze auf dem Friedhof sind mit „perles mauves“ geschmückt (T, 68); darüber hinaus finden sich auf den Kreuzen häufig Kinderbilder (T, 69). 135 C. Burgass: „A Brief Story of Postmodern Plot.“ (2000), S. 177ff. 301 Am wenigsten durch Anachronien ‚infiziert’ erweist sich die Fiktion um das Paar an der Côte d’Azur. Lässt man die nicht eindeutig in den Handlungsverlauf einzuordnende Szene, die den Mann vor der geschlossenen Tür zeigt, unberücksichtigt, folgt die Präsentation der Ereignisse im Wesentlichen ihrem tatsächlichen Verlauf: Discours 22 26 36 83 100 126 139 147 150 171 175 196 Seite 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Abschnitte Histoire 2. Nacht - Mann telefonierend im Nebenzimmer; Frau: lesend auf dem Bett 6. Fragment: Nacht - Begegnung der Mutter mit ihrem wütenden Sohn; Mann als Beobachter im Hintergrund 8. Nacht - Frau schlafend im Bett, Roman auf der Bettdecke; Mann an der spaltbreit geöffneten Tür; geht zurück ins Nebenzimmer, dort Zerstörung des Puzzles. 5. Tag - Rückkehr des Mannes; scheinbar schlafende Frau; Nachricht von der erfolgreichen Verhandlung über die Freilassung des Sohnes 4. Tag - Mann: kauft eine Zeitung an einem Kiosk, kehrt dann zu der Frau zurück 1. Tag - Zimmer: nackte Frau auf dem Bett, Mann in Hemdsärmeln, zieht sich an, Gespräch über mögliche Mitwirkung des Mannes bei der Befreiung des Sohnes der Frau 7. Fragment: Junger Mann verlässt wütend das Zimmer und wirft einen Stapel Bücher auf den Boden 3. Fragment: Bar: Treffen des Mannes mit ‚l‘homme-oiseau‘; vorher: Verpfändung eines Perlen-Colliers der Frau (? ) Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire Abbildung 17: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Côte d’Azur-Fiktion’ Die beiden auffälligen Prolepsen 136 in der narrativen Präsentation der Ereignisse - der eigentlich am Ende der Handlung vor der geschlossenen Tür stehende Mann bzw. sein Blick durch die spaltbreit geöffnete Tür auf die schlafende Frau - sind vom Text ambivalent angelegt: Der metanarrative Dialog der beiden Jungen über den ‚richtigen’ Ort des betreffenden Filmfragments spiegelt die Freiheit des Lesers, eigene Lösungsvorschläge für die mögliche Einordnung der Szene in die Handlung zu unterbreiten. 136 In der obenstehenden Grafik Abschnitt 1 und 4. 302 Im Vergleich zur Côte d’Azur-Fiktion besteht die Episode um das Paar in der Sackgasse zwar nur aus wenigen Handlungsabschnitten, dafür finden sich aber umso deutlicher wahrnehmbare Verstöße gegen die Chronologie der Ereignisse: Die Erzählung beginnt in medias res mit der Darstellung des Geschlechtsaktes von Bräutigam und Kellnerin in der Sackgasse, die auch bezüglich der Seitenzahl den größten Umfang im Erzählen besitzt. Im Anschluss wird die Ankunft und der Aufenthalt der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe zwar analeptisch eingefügt, aber im Wesentlichen chronologisch erzählt; daraufhin wird in einer weiteren Analepse der eigentliche Beginn der Handlung berichtet: die Fahrt des Hochzeitszuges am Tag zuvor durch die Stadt. Histoire Discours 5. Nacht - Sackgasse: Paar nach Liebesakt, Trennung; Kneipe: Mann verfolgt Bräutigam; Kino: Ende der Vorstellung 7. Nacht - Hotel: Schlafender Bräutigam, wache Braut 3. Abend/ Nacht - Kneipe: Hochzeitsgesellschaft; 2. Abend - Kneipe: Ankunft der Hochzeitsgesellschaft; Kino: Beginn der Filmvorstellung 4. Nacht - Sackgasse: Geschlechtsakt; Kino: Filmvorstellung 1. Tag - Straße vor der Kneipe: Vorbeifahrt der Hochzeitsgesellschaft/ geschlossene Schranke 1 2 3 4 5 6 7 Abschnitte 19 69 131 146 165 184 203 Seite 6. Nacht - Hotel: Rückkehr des Bräutigams Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire Abbildung 18: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Stadt- Fiktion’ Im Gegensatz zu den beiden genannten Fiktionen sind die Verstöße gegen die Chronologie der Ereignisse in der Fiktion um das ertrunkene Mädchen zum Teil nicht auflösbar; die unten gezeigte Übersicht versteht sich daher 303 als eine mögliche Interpretation unter mehreren. Zu den Szenen, die nicht eindeutig in den Handlungsablauf einzuordnen sind, zählt z.B. die Angelepisode der beiden Jungen. Sie werden gleich zu Beginn des Romans mit ihren Angelruten auf der Brücke sitzend gezeigt; ein Bild, das sich auf dem Puzzle des Mannes in der ‚Côte d’Azur-Fiktion’ wiederholt. Es soll daher hier die These vertreten werden, dass es sich bei der Beschreibung der beiden Jungen auf der Brücke zu Beginn des Romans um einen proleptischen Verweis auf das Puzzle handelt, das vermutlich die Fiktion um die Ereignisse im Dorf erst generiert hat. Die eigentliche Handlung präsentiert die Jungen dagegen beim Angeln nur am Fluss in der Nähe des Wasserfalls (T, 156f.). Abbildung 19: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Dorf- Fiktion’ Fragwürdig bleibt darüber hinaus auch die ‚korrekte’ Einordnung der Binnenepisode ‚Wildschweinjagd’ sowie die der Filmvorstellung in der zum Kinosaal umgewandelten Scheune in den Handlungsverlauf. Die beiden Jungen sind in beiden Episoden ebenfalls anwesend, haben bereits geangelt und beobachten nun die Blicke zwischen dem Jäger und der jungen Hausangestellten, die sich für ein späteres Stelldichein in der Scheune zu verabreden scheinen (T, 55f.). Da die beiden Jungen jedoch später vom Fluss aus unter Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht über das kleine Histoire Discours 3. Späterer Nachmittag: Wildschweinjagd, Filmvorführung 2. Alte Frau - Tötung Hase; Junge - am Schreibtisch 7. Später Nachmittag: Geschlechtsakt in der Scheune, spionierende Jungen; alte Frau mit Kinderwagen 9. Nacht: Weinende Frau/ Suche mit Taschenlampen 5. Zwei Jungen am Fluss: Schwimmen, Angeln, Betrachten der Filmfragmente, Gespräch über Liebesakt in der Scheune, Alte Frau mit Kinderwagen; Mädchen im Badeanzug, Mann und Frau; Flucht der Jungen 4. Zwei Jungen: laufen zum Fluss 1. Alte Frau - Auswahl Hase 8. Früher Abend: Ende des Geschlechtsakts in der Scheune; Heimkehr der Jungen 6. Zwei Jungen am Fluss und andere dort spielende Kinder, kleines Mädchen; Scheune: Geschlechtsakt 14 23 45 53 65 66 73 79 86 96 102 110 137 148 152 156 159 160 170 176 199 200 217 Seite 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Abschnitte Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire 304 Mädchen zur Scheune hingehen, in der zur selben Zeit der Liebesakt stattfindet, 137 stellt sich die Frage, wann die Beendigung der Jagd bzw. die Filmvorführung im Handlungsverlauf stattgefunden haben könnte. Der Text liefert keine eindeutige Antwort, daher soll auch die Graphik nur als Vorschlag einer Interpretation gelten, welche die Jagdszene unter Berücksichtigung der Handlungslogik 138 vor dem Angeln der Jungen in der Nähe des Wasserfalls und ihrer Begegnung mit der jungen Hausangestellten und dem kleinen Mädchen einordnet. Die Tatsache, dass die beiden Jungen frisch gefangene Fische bei sich haben, stellt ein Paradoxon dar, dass der Text nicht auflöst. 139 Im Rahmen einer Interpretation dieser z.T. paradoxen Anachronien in Triptyque muss zunächst betont werden, dass diese diskursiven Verstöße gegen die Reihenfolge des Erzählten nicht durch die histoire plausibilisiert werden: Es existiert - wie bereits gezeigt wurde - kein psychologisches Zentrum wie noch in La Route des Flandres, das unter dem Einfluss von Müdigkeit, Drogen oder eines Traumes sich assoziativ-fragmentarisch an bestimmte Ereignisse in seinem Leben erinnert. Stattdessen scheint die Reihenfolge der erzählten Ereignisse auf bestimmten sprachlichen und thematischen Phänomenen zu beruhen. Auch die beschriebenen, auffälligen Anachronien in der narrativen Präsentation der Geschichten lassen sich metafiktional als Spiel des Textes mit den Konventionen des traditionellen, realistischen Romans und mit den Erwartungen der an dieser Textgattung geschulten Leserschaft interpretieren. Die beschriebene Dominanz der visuellen Sinnenswahrnehmung in Verbindung mit der unbestimmten Erzählinstanz und die extremen Anachronien, die nicht durch die histoire legitimiert werden, präsentieren den Text nicht als das Produkt eines Erzählprozesses, sondern - insbesondere aufgrund der detaillierten Beschreibungen von Objekten - vielmehr als 137 T, 181ff., 184. 138 Die einzige andere Möglichkeit, die Wildschweinszene in den Ablauf der Handlung einzuordnen, besteht darin, den Aufenthalt der Jungen am Fluss zu teilen in einen Abschnitt, in welchem sie baden, die Filmfragmente betrachten, über die Liebesbeziehung des Paares in der Scheune sprechen sowie dem Mann mit der Angelrute und der Frau begegnen und daraufhin fliehen, und in einen durch die Wildschweinjagd davon getrennten zweiten Abschnitt, in dem sie angeln und von der jungen Hausangestellten um die Aufsicht über das kleine Mädchen gebeten werden. Der Text selbst ist hier aber relativ eindeutig und verbindet die Ereignisse am Fluss nahtlos miteinander: das Treffen mit dem Mann, der die Angelrute in der Hand hält, die darauffolgende Flucht der Jungen, ihre Rückkehr zu ihrer Kleidung und ihren Angeln sowie das darauffolgende Angeln und die Begegnung mit der jungen Hausangestellten und dem Kind (Vgl. T, 117-123, 148f., 152ff., 156ff.). 139 Die Einordnung einzelner Episoden in die Handlung wird auch durch die Beschreibungen der sich verändernden Lichtverhältnisse in dem Tal sowie durch die der alten, blinden Frau und ihres zunächst leeren und später mit Heu gefüllten Kinderwagens gestützt. 305 schlecht zusammengeschnittenen Film. So spielt letztendlich auch das Erzählverfahren - in diesem Fall seine (Un-)Ordnung - wie schon die multiplen Metalepsen auf die mediale Vermittlung der erzählten Geschichten an. Letztendlich fungiert auch die Anachronie des Erzählens als implizite metafiktionale Inszenierung von Künstlichkeit, da sie auf die intermediale Vermittlung der histoires anspielt. Abschließend soll ein letzter Blick auf die auffällige Fragmentierung des Erzählens in Triptyque geworfen werden. Diese hängt eng mit der bereits beschriebenen Anachronie in der diskursiven Präsentation der fiktiven Ereignisse zusammen: Denn die auffälligen Verstöße gegen die zeitliche Ordnung des Erzählten spiegeln sich auch in dem abrupten Übergang von einer Handlungsepisode zur nächsten wider, deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten fiktionalen Handlungssequenz bzw. zu einer bestimmten zeitlichen Ebene nicht ohne Weiteres bestimmbar ist. Insgesamt lassen sich in Triptyque 115 verschiedene Handlungseinheiten isolieren, von denen die Mehrzahl - nämlich 47 - der in dem zentralfranzösischen Dorf spielenden Episode angehören. Daneben sind 30 der in der nordfranzösischen Industriestadt angesiedelten Episode hinzuzurechnen, 19 der Episode um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur und schließlich 15 Einheiten der Zirkusepisode. Bei einer Episode ist die Zuweisung zu der Sequenz ‚Dorf’ oder ‚Stadt’ unklar (T, 129f.) und bei drei weiteren liegt die Vermutung nahe, dass die Ereignisse an einem unbekannten dritten Ort stattfinden (T, 81f., 195ff.). Ein typisches Kennzeichen der Fragmentierung des Erzählens in Triptyque ist darüber hinaus, dass in die jeweiligen Handlungssequenzen oftmals weitere - metadiegetische - Erzählungen eingeschoben werden: Dies geschieht insbesondere dann, wenn mediale Repräsentationen beschrieben werden, d.h. Filmszenen, Gravüren, Zeichnungen oder Gemälde, die sich anschließend im Sinne einer Narrativisierung paradoxerweise beleben. Ähnlich wie die Anachronien des Erzählens sind auch die Fragmentarisierungen nicht handlungslogisch plausibilisiert; der Grund für die Zersplitterung des discours wird also wiederum nicht durch die psychologischen Bedürfnisse einer Erzählerfigur motiviert. Vielmehr scheint die willkürliche Anordnung der drei Geschichten auf den sprachlichen Gegebenheiten - so z.B. auf thematischen und motivischen Analogien - des Textes zu beruhen. 140 Zu Beginn des Romans evozieren sich beispielsweise die beiden Liebesszenen - diejenige des Paares in der Scheune sowie die des Paares an der Backsteinmauer - gegenseitig (T, 14-22). Auch verweisen sowohl die Beschreibung des toten, gehäuteten Hasen (T, 84f.) als auch die 140 So auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 148. R. Sarkonak unterstreicht darüber hinaus, dass die einzig ‘wahre’ Form der Chronologie des Erzählens sich im aktuellen Lektüreprozess konstituiere (Ebd.). 306 der Abbildung aus dem Anatomiebuch (T, 81f.) auf den unbekleideten Körper der Schauspielerin, der „[…] plus que nu […], vulnérable, comme le corps d’un animal écorché“ daliegt. (T, 51f.) In die gleiche Richtung zielen das bereits beschriebene Wirken der Motive und der verschiedenen motscarrefour. Die Frage nach einer möglichen Funktion dieses scheinbar eigenmächtigen Wirkens der Sprache wird von der Forschung unterschiedlich beantwortet. So betont J.H. Duffy, dass die Wirkung dieser „emboîtement procedure“ darin bestehe, „[…] to problematize the relationships among the representation, the frame, and the referential and including world.“ 141 Während also einerseits die Zersplitterung des discours die Erwartungen und Einstellungen des Lesers immer neu erschüttere, da er die bei der Lektüre neu gewonnenen Informationen stets mit dem bereits Gelesenen in Einklang bringen müsse, erlaubten die intermedialen, paradoxen Verschachtelungen ihm nicht, einen Teil der histoire endgültig als innerfiktional ‚real’ zu identifizieren. Über die Interpretation Duffys hinausgehend, vertritt J.A.E. Loubère in seiner Studie zu Triptyque die These von der Freiheit des Autors, „[…] to exploit and even to profit from the obscuring, contradictory, and ambiguous character of the word, since he is not bound to make his text coincide with any universal outside reality.” Die Ambivalenz und Opazität der Sprache fungiert demnach als Abwendung von einer äußeren Realität. Doch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Beschaffenheit und dem Status der Welt, die stattdessen in Triptyque mit der allergrößten Detailversessenheit evoziert wird. Meine Arbeit vertritt im Gegensatz zu J.A.E. Loubère die These, dass eine vollständige Abkehr von einer wie auch immer erkennbaren äußeren - d.h. außerhalb des Textes liegenden - Realität nicht möglich ist, denn sie ist es, die auch die Imaginationen eines jeden Autors prägt. Es mag daher adäquater sein, von ‚Spuren einer außerliterarischen Referenz’ zu sprechen, die sich in Triptyque immer noch finden lassen, so z.B. in den räumlichen Beschreibungen der Küstenansicht, des Dorfes oder auch der flandrischen Industriestadt. Im Gegensatz zum realistischen oder naturalistischen Roman integrieren sich diese Spuren jedoch nicht mehr zu einem kohärenten und in sich konsistenten Abbild einer äußeren Realität. Der Roman Triptyque entwirft somit nicht mehr das Bild einer stabilen, eindeutig als ‚real’ identifizierbaren fiktiven Welt, sondern schreibt die Unsicherheit über die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Realität in die eigene Textstruktur hinein. Wirklichkeit und ihre Repräsentation, Wahrheit und Fiktion verbinden sich in Triptyque unauflösbar miteinander, bis zu- 141 J.H. Duffy: „The Textualization of Time in Conducting Bodies, Triptych and The World about Us.“ (1985), S. 72. 307 letzt keine Gewissheit über den ontologischen Status einer bestimmten Episode innerhalb des Textes mehr zu erlangen ist. 5.4 Metanarration als metapoetischer Kommentar zur Referenz- und Repräsentationsfunktion des Textes Nachdem bislang die metafiktionale Aufdeckung von Künstlichkeit im Sinne von ‚Erfundenheit’ und ‚Gemachtheit’ in Triptyque analysiert wurde, sollen im Folgenden diejenigen Strategien des Textes untersucht werden, die selbstreflexiv sowohl die besondere narrative Verfasstheit als auch den Produktions- und Rezeptionsakt des Romans explizit thematisieren oder implizit spiegeln. Es handelt sich hierbei um die „autoreprésentation de l’axe narratif“ 142 - um die metanarrative Analyse des eigenen Erzählverfahrens innerhalb der Grenzen des Romans selbst; auf diese Weise gibt der Text dem Leser eine Rezeptionsanleitung an die Hand. Diese explizite Kommentierung und implizite Veranschaulichung des eigenen Erzählverfahrens geschieht in Triptyque auf ganz unterschiedliche Weise: So spielt das wiederkehrende Motiv der fente bzw. der déchirure auf die insbesondere im Mittelalter gebräuchliche Technik des Palimpsests an und verweist damit auf Simons Poetik eines ‚Durchblicks’ auf die stets im Verborgenen präsenten übrigen Fiktionen. Daneben lassen sich bestimmte Themen des Romans wie z.B. das Puzzle des Mannes in der ‚Côte d’Azur- Fiktion’ sowie die geometrische Aufgabe des Jungen am Schreibtisch als Umsetzung dieser Poetik lesen. Zuletzt sollen die verschiedenen intermedialen Repräsentationen auf ihre metanarrative Funktion hin untersucht werden: Simon führt in Triptyque vor, wie sich verschiedene ästhetische Konzepte gegenseitig bereichern können. Mittels der Überführung von aus der Cineastik entlehnten Verfahren in seine eigene Poetik beschreitet er einen in seinen Augen angemesseneren Weg der Repräsentation von Wirklichkeit. 5.4.1 Motive als Metaphern für die Poetik des Romans: „la fente“/ „le labyrinthe“/ „le cadre“/ „se déformant sans cesse“ Neben den bereits beschriebenen finden sich in Triptyque weitere Motive, denen die Funktion eines mehr oder weniger expliziten metanarrativen Kommentars zukommt: Sie verweisen metaphorisch auf die Poetik des Romans - insbesondere auf sein Konstruktionsprinzip und sein Erzählverfahren. 142 M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 17. 308 Ein wichtiges wiederkehrendes Element in Triptyque ist das Motiv der „fente“ bzw. der „déchirure“, in einem weiteren Sinne auch das des spaltbreit geöffneten „rideau“, der den Blick auf Dahinterliegendes freigibt. Die Bedeutung dieses Motivs, dem die Funktion eines Leitmotivs zukommt, wird auch aus seinem Erscheinen gleich zu Romanbeginn ersichtlich, wenn die Wachstischdecke auf dem Küchentisch in der Dorf-Fiktion wie folgt beschrieben wird: […] La carte est posée sur le coin d’une table de cuisine recouverte d’une toile cirée aux carreaux jaunes, rouges et roses, fendue d’entailles en plusieurs endroits par les lames de hachoirs ou de couteaux qui ont glissé. Les lèvres effilochées des entailles se soulèvent et on peut voir la trame marron. (T, 7f.) Das Bild der mit Rissen versehenen Tischdecke verweist implizit nicht nur auf die in Triptyque wichtigen Themen ‚Tod’ - die Klingen der Messer, die die Tischdecke beschädigt haben, erinnern an die Tötung des Hasen - und ‚Erotik’ - die ausgefransten ‚Lippen’ der Risse im Wachstuch evozieren die Lippen der Frau, 143 sondern stellt darüber hinaus einen metanarrativen Kommentar zum Text selbst dar: Dabei wird der metaphorisch verwendete Begriff ‚Text’ auf seine ursprüngliche Bedeutung ‚Gewebe’ - abgeleitet vom lateinischen Verb texere ‚weben’ oder ‚flechten’ - zurückgeführt und so die Parallelen zwischen dem Romantext und der Wachstischdecke herausgearbeitet: Ähnlich wie das Gewebe der Tischdecke aus Kett- und Schussfaden besteht, konstituiert sich auch der Text aus verschiedenen bedeutungstragenden Ebenen, die zu einer komplexen Struktur miteinander verbunden werden. Und ebenso wie das zerrissene Wachstuch mit dem Schussfaden - „la trame marron“ - das Grundgerüst des Gewebes durchscheinen lässt, erlaubt auch der Romantext die Durchsicht sowohl auf das sprachliche Material, aus dem er besteht, als auch auf die in einem bestimmten Textabschnitt immer unterschwellig präsenten anderen Fiktionen, Themen oder Motive. Dieses Bild der stets möglichen Durchsicht auf Verborgenes findet sich auch in den übereinander geklebten Plakaten auf der Scheune wieder, in welcher der Liebesakt stattfindet: […] On a probablement dû s’aider d’un couteau pour tailler dans la couche feuilletée des affiches superposées et agrandir la plus large des déchirures ouvertes par les contractions du bois. Sur l’un des bords, la piste ocre du cirque décollée et recroquevillée sur elle-même en rouleau dévoile l’affiche précédente. (T, 14) 144 Hier wird schon expliziter auf die narrative Konstitution des Romans angespielt, da die überklebten Plakate zum Teil zentrale Elemente der anderen Fiktionen - in diesem Fall die in der nordfranzösischen Industriestadt 143 Vgl. auch T, 37, 42f., 160. 144 Vgl. auch T, 10f. 309 spielende Geschichte - aufgreifen: Auch dem Leser ist der voyeuristische Blick auf Verborgenes bei der Lektüre des vorliegenden Textes möglich, da in der Beschreibung einer erotischen Szene auch immer die anderen Liebesszenen mitgemeint sind. 145 In die gleiche semantische Richtung verweisen die vielfachen Beispiele für nicht völlig geschlossene Vorhänge, die durch einen Spalt die Sicht auf dahinter Liegendes erlauben: So ermöglichen die Vorhänge in der Kneipe einen vagen Blick auf ihr Inneres (T, 113); der Schleier der Braut fungiert ebenso als Sichtschutz wie später der echte Vorhang in dem Hotelzimmer, hinter dem sie sich vor den Blicken verbirgt (T, 168, 205, 209ff.). Auch den Bäumen in der Dorf-Fiktion kommt immer wieder die Rolle eines „rideau“ zu (T, 76, 118, 149). 146 Ferner wird zugleich auf die Ambivalenz eines jeden Vorhangs verwiesen, auf die typische Gleichzeitigkeit des Verbergens und Zeigens, wenn die als Vorhang fungierenden Zweige das nackte Mädchen in der Dorf-Fiktion zugleich verhüllen und enthüllen (T, 118). Überhaupt findet sich im Bild des Vorhangs noch stärker als in den anderen genannten Motiven eine Anspielung auf das in Triptyque so wichtige Motiv des voyeuristischen Blicks. Dieses Verfahren einer Überlagerung, bei der das Überlagerte nicht vollkommen verschwindet, erinnert an die antiken und mittelalterlichen Palimpseste, an die Handschriften auf Papyrus oder Pergament, auf denen die ursprüngliche Schrift entweder durch Abwischen oder durch Radieren mit Bimsstein beseitigt und durch eine jüngere ersetzt wurde, ohne jedoch ganz zum Verschwinden gebracht worden zu sein. Simons Roman verweist neben den genannten Motiven anspielungsreich auf diese alte Technik, wenn das Gesicht der mysteriösen alten Frau als parcheminé beschrieben wird (T, 46). Darüber hinaus erinnert diese Erzähltechnik der ständigen, impliziten Präsenz der anderen Fiktionen, Themen und Motive in einer bestimmten Szene an die von Claude Simon schon in La Route des Flandres eingesetzte Überblendungstechnik. In Simons älterem Roman sind jedoch in einer 145 Weitere Beispiele für eine Überlagerung unter Wahrung der Durchsicht auf das Überlagerte vgl. T, 28, 34, 42, 79, 139f., 194. Andere Beispiele für das wichtige Motiv „fente“ bzw. „déchirure“ sind z.B. die zu einem Schlitz geschlossenen Augen des Schauspielers (T, 22, 29, 84,130, 141, 224), die als „fissure horizontale“ wahrnehmbare Quelle des Flusses in der Dorf-Fiktion (T, 67), der für die Münzen bestimmte Schlitz der Jukebox (T, 133), die Schlange „fendant l’eau“ in der Dorf-Fiktion (T, 153), die durch die vielen Köpfe von hinten nur spaltbreit sichtbare Leinwand in der Kino- Scheune (T, 143f.), der einem Schlitz ähnelnde Mund des Harlekins in der Zirkus- Fiktion (T, 181, 183) sowie die nur einen Spalt breit geöffnete Tür in der Côte d’Azur- Fiktion (T, 213). 146 Der Text zieht sogar einen direkten Vergleich zwischen beiden Motiven, wenn der Riss in den Plakaten auf der Scheunenwand mit „les pans de rideaux mal joints“ verglichen wird (T, 44). 310 Überblendung wie z.B. im Fall der Hinterhaltsszene aus dem 2. Weltkrieg mit dem Pferderennen nur diese beiden Szenen präsent, während in Triptyque stets mehrere Szenen mitgemeint sind, die sich oftmals nicht im unmittelbaren Kontext der evozierenden Szene befinden. Ein anderes Motiv in Triptyque, das mehr oder minder deutlich auf die Poetik des Romans verweist, ist das „labyrinthe“, das jedoch nur an zwei Stellen explizit thematisiert wird. 147 So befindet sich an der Wand der zum Kino umfunktionierten Scheune der Dorf-Fiktion neben der Leinwand ein großes Plakat, das ein Konzert einer Gruppe namens Labyrinthe ankündigt (T, 103). Einem Labyrinth gleichen auch die unordentlich auf dem Boden des Film-Studios in der Côte d’Azur-Fiktion herumliegenden Kabel (T, 131). Die Parallele zwischen einem Labyrinth und dem discours in Triptyque besteht nun insbesondere darin, dass sich auch der Leser während der Lektüre des Romans auf der Suche nach einer endgültigen Antwort auf die Frage verliert, welche der erzählten Geschichten denn nun innerfiktional ‚real’ ist. Ebenso wie sich in einem Labyrinth immer wieder eine Abzweigung als Irrweg entpuppt, erweisen sich auch die Zuordnungen einer bestimmten Szene entweder zu dem Pol ‚innerfiktional real’ oder zu dem Pol ‚innerfiktional fiktiv’ stets als falsch, da sich zuletzt jede Szene nicht als Beschreibung einer innerfiktionalen ‚Realität’, sondern nur als ihre Repräsentation offenbart. Ein weiteres wichtiges Motiv in Simons Roman, dem ebenfalls eine metanarrative Funktion zukommt, ist der ‚Rahmen’: „le cadre“. Dieses findet sich bis auf die Zirkusfiktion in allen Episoden des Romans. So besitzen die auf die Scheunenwand geklebten Zirkusplakate eine Umrandung aus einem gelben Band mit roten Sternen (T, 10), auch die durch ein Fenster sichtbare Welt ist stets ‚gerahmt’ (T, 24, 27, 81, 129, 199f.) genau wie auch die Einzelbilder auf den Filmstreifen von den Perforierungen am Rand des Filmstreifens umgeben sind (T, 27). Nicht zuletzt werden gewöhnlich auch Gemälde und Gravüren in einem Rahmen präsentiert (T, 42). 148 Das Motiv des Rahmens bzw. der Umrahmungen verweist zunächst grundsätzlich auf den gerahmten Ausschnitt der Wirklichkeit, den ein Roman typischerweise präsentiert, und damit auf seinen besonderen ontologischen Status: Schließlich handelt es sich bei jeder künstlerischen Beschreibung von Wirklichkeit nicht um ihre naturgetreue Imitation, sondern stets um ihre ideale Repräsentation. Darüber hinaus spielt dieses Motiv 147 Als einzige hat bislang S. Lotringer die Parallelen zwischen einem Labyrinth und Triptyque ansatzweise erkannt; sie findet die labyrinthische Struktur des Textes in den Beschreibungen der nordfranzösischen Industriestadt (T, 62f.) wieder. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 329.) 148 Weitere Beispiele für Rahmungen sind der durch die beiden großen Facettenaugen umrahmte Kopf der Fliege (T, 87); die Tür der Kneipe, die den eifersüchtigen Liebhaber wie einen Rahmen umgibt (T, 123); aber auch das von den Koteletten umrahmte Gesicht des Bräutigams (T, 133, 217). 311 auch auf die vielfältigen metaleptischen Rahmenbrüche in Triptyque an, auf die paradoxe Vermischung der Ebenen innerfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’, die zuletzt jede Handlungssequenz des Romans infiziert. Ein anderes, häufig wiederkehrendes Motiv beschreibt implizit die Instabilität der fiktionalen Ebenen in Simons Roman: Es handelt sich dabei um Strukturen „se déformant sans cesse“ wie z.B. die Wolken oder das sich im Wind bewegende Blattwerk der Bäume: […] le ciel où les nuages glissent calmement, leurs contours sinueux ou dentelés se déformant sans cesse, dessinant des boursouflures, des golfes et des caps qui saillent, se creusent et se déchirent. (T, 12) 149 Sur les faces inférieures des feuilles d’un aulne dont les branches basses s’avancent au-dessus de l’eau les reflets forment des lacis lumineux qui ondulent, se déforment et se reforment sans cesse. (T, 119) Auch die Spiegelungen des Laubs der Walnussbäume sowie die Reflexion der Ausschnitte des Himmels auf der Wasseroberfläche des Dorfbrunnens vor der Kirche bleiben unter dem Einfluss der Fontäne ständig in Bewegung: Sous l’ombre des grands noyers la surface de l’eau dans la fontaine est presque noire, comme vernie, sans cesse parcourue de rides concentriques qui vont s’élargissant et s’affaiblissant peu à peu à partir du point où tombe le jet et où les reflets des feuilles des noyers et de fragments [sic] de ciel se disjoignent et se rejoignent dans un perpétuel tremblotement. (T, 16) Wie die Wolken, die Blätter im Wind und die Spiegelungen im Wasser verändern sich auch die Fiktionen und die ontologischen Ebenen in Triptyque ohne Unterlass: Die verschiedenen histoires greifen sich gegenseitig in Form intermedialer Repräsentationen wiederholt auf und die fiktionalen Ebenen geraten durch die multiplen Metalepsen und die durch sie bewirkte metafiktive Inszenierung von Fiktivität ins Fließen. Und schließlich gelangt auch die Interpretationsarbeit des Lesers nie an einen Endpunkt, da er ständig das bereits Gelesene an die neuen Informationen angleichen und sein Urteil über den innerfiktionalen ontologischen Status einer Szene wiederholt revidieren muss. 5.4.2 Die ludische Inszenierung der Poetik: das geometrische Problem und das Puzzle Wie nun bestimmte Motive metaphorisch die Poetik des Romans zum Ausdruck bringen, so fungieren bestimmte Themen - das des Puzzles und das des geometrischen Problems - als Umsetzungen dieser Poetik; das heißt, sie spiegeln implizit den Autor bzw. den Erzähler bei der Konstruk- 149 Ebenso T, 13, 97. Darüber hinaus evoziert diese Beschreibung auch die Beschreibung der Küstenansicht in der Côte d’Azur-Fiktion. 312 tion seines Textes bzw. seiner Erzählung. Die geometrische Aufgabe bzw. das Puzzle sind somit Metaphern für den Text selbst, da sich die jeweiligen Konstruktionsverfahren vergleichen lassen. 150 Die Handlungssequenz um das geometrische Problem, das der Junge an seinem Schreibtisch zu lösen versucht, stellt in ihrer Stringenz einen Fremdkörper in den ansonsten scheinbar wuchernden Deskriptionen der Natur dar: Mit knappen Worten und präzisem, geometrischem Vokabular wird die Aufgabenstellung und ihre vom Jungen skizzierte Umsetzung - ein Kreis, ein Dreieck und mehrere Geraden - präsentiert; die entstandene Zeichnung spiegelt - wie zu zeigen sein wird - zentrale Elemente des Textes. An sechs Stellen wird im Roman die Szene des Jungen am Schreibtisch evoziert; in jeder einzelnen nimmt die Lösung der Aufgabe etwas mehr Gestalt an. Zunächst scheint die Erfüllung der in der Aufgabenstellung verlangten Bedingungen noch recht einfach zu sein: La main du garçon trace sur la feuille du cahier un triangle, son cercle circonscrit et une tangente à ce cercle parallèle à l’un des côtés du triangle. Près de chacun des sommets du triangle il inscrit les lettres A, B et C. Puis il prolonge les côtés BA et BC qui coupent la tangente parallèle au côté AC en deux points, A’ et C’. Dessiné à main levée le cercle est un peu aplati, comme le contour d’une pomme et les diverses droites ondulent légèrement. Néanmoins la figure est suffisamment correcte pour permettre de réfléchir au problème posé dont le garçon relit une seconde fois l’énoncé sur la page du livre ouvert, posé sur la table à gauche du cahier : « Connaissant la valeur de l’angle ABC, démontrer : 1) que le rapport des surfaces des triangles ABC et A’B C’ est proportionnel à… » […]. (T, 23f.) Zentrale Elemente der geometrischen Zeichnung sind das Dreieck, der dieses umgebende Kreis und die diesen berührende Tangente. Die Aufgabenstellung selbst bleibt aufgrund ihrer Unvollständigkeit unverständlich. In der Fortführung der Szene erweitert der Junge die Skizze um ein weiteres Dreieck und erstellt nun eine Gleichung: De la pointe de sa plume tournant rapidement sur elle-même, le garçon marque le centre du cercle circonscrit et trace à côté la lettre O. A partir de lui il mène ensuite deux droites aboutissant aux sommets A et C du triangle initial et il écrit au-dessous de la figure l’équation : 150 J.A.E. Loubère hat darüber hinaus noch weitere Metaphern für den Schreib- und Leseakt im Text ausgemacht: die durch die Bewegung des Photographierten verpfuschte Photographie, der brennende Film im Kino sowie die verschiedenen Masken z.B. der Clowns und der Schauspieler. (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 224.) Hingegen betrachtet M. Andrews den nicht ordnungsgemäß funktionierenden Filmprojektor in der Stadt- und Dorf-Fiktion als Allegorie der fehlerhaften und ineffizienten Performanz des Textes. (M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 41.) 313 (T, 27) Im nächsten Schritt markiert er die von der Aufgabenstellung erfragten Winkel durch die Einzeichnung eines kleinen Kreisbogens: Au bout d’un moment il trace un petit arc de cercle allant de l’un à l’autre des côtés de l’angle ABC, non loin de son sommet, puis il répète l’opération pour l’angle AOC en doublant cependant le petit trait courbe par un autre. (T, 32) Danach stellt er eine neue Gleichung auf, die die Winkel und Strecken in ein Verhältnis zueinander setzt: Au-dessous de la première équation le garçon écrit : (T, 38) In der nächsten Szene erweitert er seine Zeichnung erneut um zwei weitere Tangenten: La porte située dans le dos du garçon s’ouvre. Le garçon ne se retourne pas, apparemment absorbé dans son travail, tirant la langue tandis qu’il prolonge d’une main incertaine la droite qu’il vient de tracer. Il peut entendre le bruit des pas qui s’approchent et sent tout contre le dossier de sa chaise la présence de quelqu’un qui se penche par-dessus son épaule et le regarde tracer avec application une troisième tangente au cercle, parallèle cette fois au côté BC du triangle initial, […]. Il peut sentir le regard qui suit sa main tenant le porte-plume et qui écrit maintenant rapidement sous la première équation : (T, 40f.) Am Ende der Episode verwirft der Junge seine Zeichnung: Er reißt die Seite aus seinem Heft heraus, zerknüllt sie und unternimmt einen neuen Versuch, die Aufgabe zu lösen: Le garçon arrache rageusement la page du cahier de brouillon qui se détache mal, tout son côté gauche se découpant en créneaux et en languettes irrégulières. […] Après quoi, reprenant son porte-plume et tirant légèrement la langue, il en- ABC AOC 2 = AOC AC = SA‘ BC‘ SABC AC AE = A‘C‘ A‘D 314 treprend de tracer à nouveau sur la feuille vierge qui s’offre le triangle primitif et son cercle circonscrit, accolant les lettres A, B et C à chacun des sommets du triangle, menant la tangente au cercle parallèle au côté AC et prolongeant les côtés BA et BC jusqu’à leurs intersections avec la tangente où il écrit les lettres A’ et C’. (T, 92) Von der Forschung zu Triptyque wird die geometrische Aufgabe und ihre zeichnerische Umsetzung häufig als Metapher entweder für die strukturelle Organisation des Textes 151 oder für die Arbeit des Schriftstellers interpretiert, dessen Text sich ebenfalls einer strengen dreigeteilten Struktur unterwerfen muss. 152 Nach Ansicht der Kritik wird auch die interne Entwicklung des Textes von den Kreuzungen bestimmt, die durch Polysemien und die verschiedenen Motive generiert werden und zwischen denen sowohl der Schriftsteller als auch der Leser Bezüge herstellen muss. 153 Doch stellt sich die Frage, ob die Ähnlichkeit der geometrischen Zeichnung mit dem Text nicht über die oberflächlich sichtbaren strukturellen Parallelen hinausgeht. Dies lässt sich am einfachsten beantworten, wenn der Versuch unternommen wird, die im Text vorgeschlagene Lösung der Aufgabe tatsächlich umzusetzen; dabei entsteht folgende Zeichnung: Abbildung 20: Zeichnerische Umsetzung der geometrischen Aufgabe in Triptyque 151 F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1038. 152 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 170. 153 Ebd., S. 170f. O B C A A‘ C‘ D E 315 Wie bereits von der Forschung zu Recht beobachtet wurde, ist die geometrische Zeichnung durch die Zahl ‚drei’ bestimmt: Es finden sich drei Dreiecke, drei Tangenten, der umgebende Kreis wird an drei Stellen durch das Dreieck berührt, wodurch wiederum drei Teile des Kreises abgegrenzt werden. Insofern spielt die Zeichnung auf zentrale strukturelle und thematische Elemente des Textes an wie z.B. die formale Gliederung des Romantextes in drei Teile; die drei zentralen Handlungssequenzen; die drei Orte, an denen die Fiktionen jeweils spielen, sowie das Liebesdreieck gebildet aus der Kellnerin, dem Bräutigam und dem eifersüchtigen Liebhaber in der Stadt-Fiktion. Darüber hinaus finden sich auch im Text vielfältige Beispiele für Dreiecke: So hat das Dach des Kirchturms in der Dorf-Fiktion die Form einer Pyramide (T, 9, 221), der Schlitz in den Plakaten an der Scheunenwand besitzt die Form eines „triangle“ (T, 14), die Postkarte ist im Winkel des Küchentisches aufgestellt, wodurch wiederum ein Dreieck gebildet wird (T, 84), das unverputzte Gemäuer der Kinoscheune in der Dorf- Fiktion bildet ebenfalls Dreiecke (T, 103) ebenso wie der flache Kopf der Schlange einem rechtwinkligen Dreieck zu ähneln scheint (T, 153). In der an der Côte d’Azur spielenden Fiktion erscheinen die vielen weißen Segel der Regatta aus der Luft als kleine Dreiecke (52); in der Stadtfiktion sind die Wagen des Hochzeitszuges „ornée de deux larges rubans de tulle tendus en V“ (T, 168) und in der Zirkusfiktion bilden die beiden Leinen des Affen und des Clowns, die der Harlekin in der Hand hält, ein sich stets verkleinerndes Dreieck (T, 192, 198). Doch neben diesen expliziten Verweisen auf Teile des discours bzw. der histoire in Triptyque spielt die Zeichnung auch auf einige verborgene Phänomene der fiktionalen Welt des Romans an. So bezeichnet der Junge völlig willkürlich die drei Ecken des Dreiecks mit den Buchstaben ‚A’, ‚B’ und ‚C’ und später die Kreuzungspunkte der beiden neuen Tangenten mit ‚D’ bzw. des Berührungspunktes der einen Tangente mit dem das Dreieck umgebenden Kreis mit ‚E’. Ebenso scheinbar willkürlich folgen auf der discours-Ebene die Szenen der verschiedenen Handlungsabschnitte aufeinander. Darüber hinaus präsentiert die obige Zeichnung ‚fiktive’ Punkte - nämlich die Punkte ‚D’ und ‚E’ - die vom Text selbst nicht im Zusammenhang mit der Zeichnung des Jungen genannt werden, sondern nur in der Gleichung auftauchen. 154 Auch im Roman finden sich Ereignisse - der verletzte Bräutigam im Hotel, die weinende Frau in der Küche, das zerwühlte Bett im Hotel an der Côte d’Azur - deren Ursachen vom Text ausgespart werden und die der Leser daraufhin rekonstruieren muss. Die geometrische Zeichnung des Jungen spiegelt folglich zentrale strukturelle, thematische und fiktionale Phänomene des Romans und erfüllt dadurch eine wichtige metanarrative Funktion. 154 Genauso wenig wie übrigens die Aufgabenstellung selbst. 316 Das andere zentrale Handlungselement, dem eine gewisse metanarrative Bedeutung zukommt, ist das Puzzle, das an verschiedenen Orten der Fiktion - entweder als Metapher oder in seiner eigentlichen Gestalt - erscheint und für L. Dällenbach „la métaphore du texte par excellence“ ist. 155 So ähneln die Zweige einer jungen Eiche, die über der glänzenden Wasseroberfläche des Flusses in der Dorf-Fiktion hängen, einem Puzzle: Presque à l’horizontale, deux rameaux d’un jeune chêne, légèrement divergents, détachent leurs feuilles sur le fond éclatant de lumière. Leurs contours sinueux le découpent en parcelles qui viennent s’emboîter, comme les éléments d’un puzzle. (T, 118) Die besondere Bedeutung der zitierten Textstelle liegt darin, dass sie einerseits auf das paradoxe Ende der Dorf-Fiktion hinweist - diese erweist sich zuletzt ebenfalls als eine Repräsentation innerfiktionaler Wirklichkeit und nicht als diese selbst - und andererseits metanarrativ auf die diskursive Verfasstheit des Romans anspielt: So wie die von dem Eichenlaub abgegrenzten Parzellen der hellen Wasseroberfläche Puzzleteilen ähnlich ineinander passen, verbinden sich dank der Motive und der anderen motscarrefour auch die zunächst scheinbar disparaten drei Fiktionen zu einem Ganzen. Am Ende des Romans erscheint dann das Puzzle als innerfiktionale Wirklichkeit auf dem Tisch des Mannes in der Côte d’Azur-Fiktion: Sur la longue table basse de style chinois aux pieds décorés et galbés, au long plateau laqué de noir à l’une des extrémités duquel sont posés un journal local et le Financial Times replié à la page des cours de la Bourse, est étalé un de ces grands puzzles comme les affectionnent les Anglo-Saxons, d’environ quarante centimètres sur soixante. Le puzzle est presque terminé. Une vingtaine de petites pièces encore, aux contours sinueux, sont étalées en désordre sur la droite. L’homme reste un moment à contempler le puzzle sans bouger, puis il se penche en avant et sa main va prendre un des petits morceaux qu’il tient quelques instants au-dessus de l’assemblage que ses yeux parcourent rapidement avant de trouver sa place où il l’insère. […] (T, 220f.) Eine auffallende Parallele zum Text ist die unmittelbar bevorstehende Vervollständigung des Puzzles, die das nahe Ende des Romans widerspiegelt. Eine weitere, eher unauffällige Ähnlichkeit des Puzzles mit dem fiktionalen Text ist die kombinatorische Praxis bzw. l’assemblage, die beiden zu eigen ist. Nicht ohne Grund liegen die Puzzleteile, die noch einzufügen sind, auf der rechten Seite neben dem Puzzle: Auch unsere lateinische Schreibweise erfolgt von links nach rechts - rechts befindet sich also das noch zu Vollendende, sowohl der ungeschriebene Text als auch die verbleibenden Puzzleteile. Und ähnlich wie das vollständige Puzzle sich aus der Gesamtheit 155 L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 198. Ebenso: S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 316. In eine semantisch verwandte Richtung weisen die Vergleiche mit „filets“ bzw. „lacis“ (T, 74, 132, 186). 317 seiner Teile ergibt, entsteht auch der Sinn des Romans aus der Kombination einzelner Wörter zu komplexeren Sinnzusammenhängen. Mit der Einfügung des letzten fehlenden Steins ist das Puzzle ebenso vollständig wie die auf ihm abgebildete Fiktion: Penché en avant, les cuisses écartées, l’avant-bras gauche reposant sur la cuisse gauche, l’homme à la stature puissante mais alourdie place de sa main droite la dernière petite pièce, et le dernier îlot de laque noire disparaît, obturé par une partie de la chevelure de l’un des garçons qui se détache sur la surface vernie, olive foncé, de la rivière. (T, 223) Doch am Ende des Romans - das auch das Ende des an der Côte d’Azur spielenden Films ist - zerstört der Mann in einer einzigen Bewegung das Puzzle und fegt es vom Tisch: Toujours avec la même lenteur la tête de l’homme revient à sa position première. Il reste encore ainsi pendant quelque secondes puis, brusquement, sa main droite balaie avec violence la surface de la table, aller et retour, dispersant les petites pièces du puzzle qui s’éparpillent tout autour. Leurs découpures méandreuses ont été calculées de façon qu’aucune d’entre elles, prise isolément, n’offre l’image entière d’un personnage, d’un animal, d’un visage même. A part de très rares exceptions (l’ocre de la robe des vaches, le gris des pierres du pont, le brun violacé des toits) leur ensemble présente toute la gamme variée des verts (émeraude, vert bronze, vert pomme, jade, perse, olive) et elles forment comme un archipel de petites îles creusées de baies, de golfes, hérissées de caps, sur le fond rouge de la moquette. […] (T, 224) Die finale Zerstörung des Puzzles stellt ein eigenes Paradoxon dar: 156 Zum einen verkörpert die mediale Repräsentation einer Szene aus der Dorf- Fiktion eine Metalepse, die diese Fiktion metafiktional als innerfiktional fiktiv bzw. ‚künstlich’ entlarvt und die Realitätsfiktion der Ereignisse in dem Dorf dekonstruiert. Zum anderen spiegelt die Zerstörung des Puzzles die allgemeine Dekonstruktion eines stabilen Sinns in Triptyque insbesondere durch die multiplen Metalepsen wider: Wiederholt erweisen sich Teile der Handlung bzw. der histoires nicht als innerfiktionale Realität, sondern stets nur als ihre Repräsentation. Insofern spielt die Destruktion des Puzzles am Romanende metafiktional auf die Zerstörung der realistischen Konventionen durch Simons Roman an. Darüber hinaus verweist auch das Charakteristische eines Puzzles - die einzelnen Teile zeigen in der Regel nie vollständig eine Person, ein Gesicht oder einen Gegenstand - auf eine spezifische Qualität des Simonschen 156 So S. Sykes in seiner Studie zu Triptyque: „Joli paradoxe: la « représentation » est terminée, mais entre-temps l’illusion de la fiction réaliste a été détruite dans le circuit clos du texte.“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 175 ; ebenso S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 332.) 318 Textes: Auch der die drei Fiktionen erst hervorbringende discours bildet nicht die ‚ganze Wahrheit’ der histoire ab; Ambivalenzen und Ellipsen lassen dem Leser genügend Spielraum, im Laufe des Rezeptionsprozesses das Fehlende imaginativ zu ergänzen. 5.4.3 Die intermediale Inszenierung der Poetik: Malerei, Photographie und Cineastik Eine wichtige metanarrative Funktion besteht neben der allgemeinen Spiegelung zentraler Elemente des Erzählverfahrens und der Poetik des Romans auch die kreative Verwendung fremder ästhetischer Konzepte für die Anschaulichkeit des Erzählens in Triptyque. Von der Forschung wurde bereits früh auf die drei Künstler - Jean Dubuffet, Francis Bacon und Paul Delvaux - verwiesen, deren Gemälde Simons Triptyque zugrunde liegen, 157 doch erst Jean H. Duffy identifizierte eindeutig die jeweiligen Werke und die Wirkung, die sie auf die strukturelle und thematische Konstitution des Romans ausgeübt haben. 158 Allerdings sah sie wie andere Kritiker auch diesen Einfluss begrenzt auf die mögliche Anregung der Imagination des Autors Simon und der daraus resultierenden Interpretation von auf den genannten Gemälden abgebildeten Szenen oder Gegenständen in den Text. 159 Doch greift meines Erachtens diese Hypothese einer generativen Funktion der Gemälde zu kurz: Triptyque - wie im Übrigen auch die Mehrheit der anderen Romane Simons - mag sehr wohl durch die Ästhetik der zeitgenössischen Malerei sowie der des Barock beeinflusst worden sein, doch geht es Simon noch um ein anderes Ziel. Er versucht stets, ihm als adäquat erscheinende Verfahren zur Konstruktion fiktiver Realität aus den bildenden Künsten - der Malerei, der Photographie sowie in Triptyque 157 So S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169. 158 Es sind dies der Hourloupe cycle von Jean Dubuffet und insbesondere folgende Gemälde: La vie de famille, La marée de l’Hourloupe, Les riches fruits de l’erreur; ferner haben von Paul Delvaux vor allem die Gemälde Vue de la Gare du Quartier Léopold (1920), Le Canapé bleu (1967), Petite Place de Gare (1963) und Les Trains du soir (1957) auf Simon eine Wirkung ausgeübt und schließlich sind auch einige Gemälde Francis Bacons von Simon in Triptyque intermedial zitiert worden: Triptych - Three Studies for a Crucifixion (1962), Portrait of George Dyer and Lucien Freud (1967), Three Figures in a Room (1964), Triptych Inspired by T.S. Eliot’s poem ‘Sweeney Agonistes’ (1967) und Portrait of George Dyer in a Mirror (1968). (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 114-134. Vgl. die Reproduktionen einiger Bilder im Anhang.) 159 So erkannte J.H. Duffy „[…] considerable evidence of the interaction of stimuli and of the synthesis of elements from the work of more than one painter in the production of a single textual motif or image.” (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 129.) Vgl. ebenfalls M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982), S. 105. 319 insbesondere der Cineastik - in das lineare Erzählverfahren des literarischen Textes zu übertragen. Im Folgenden sollen daher diejenigen Passagen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, die einen Vergleich der literarischen Techniken mit denen anderer Künste erlauben bzw. die eine Reflexion des unbekannten Erzählers über die aus anderen Künsten entnommenen Verfahren darstellen. In Triptyque finden sich implizite oder explizite Verweise auf die Malerei im weitesten Sinne eher selten. Es sind vor allem die Beschreibungen von Gemälden und Zeichnungen, die Elemente der Handlung aufgreifen und häufig in detaillierter oder paradoxer Form präsentieren. So parodieren die beiden Gravüren, die an der künstlichen Wand des Filmstudios hängen, Elemente aus der Dorf-Fiktion (T, 42f., 195f.), während die anatomische Zeichnung eine Parallele zu der nackten Schauspielerin auf dem Bett zieht (T, 81f.). Ähnliches gilt für das Gemälde, das paradoxerweise den zuvor noch in einem Film ‚lebendigen’ Mann aus der Côte d’Azur-Fiktion nun ‚gemalt’ am Telefon zeigt (T, 127). 160 Darüber hinaus werden wiederholt Elemente von Deskriptionen zur besseren Veranschaulichung mit bestimmten Maltechniken verglichen. So ähnelt die misslungene Aufnahme des sich zu schnell bewegenden „homme-oiseau“ einem schnellen Strich mit einem Pinsel, der ungleichmäßig Farbe aufgenommen hat 161 und der wie in einem Kubus isoliert liegende Körper der nackten Schauspielerin auf dem Bett erinnert an gewisse, sparsam kolorierte, orientalische Stiche (T, 50). Die Atmosphäre der im Regen daliegenden nordfranzösischen Stadt soll dagegen durch den Vergleich mit „[…] ces aquarelles aux couleurs ternes où le ciel, la surface des canaux, les arbres aux branches noires, les pierres, semblent faits d’une seule et même matière diluée par l’eau[.]“ (T, 170) anschaulicher werden. Dagegen wirkt das Licht des Mondes auf der ländlichen Landschaft der Dorf-Fiktion „comme une couche de peinture argentée“ (T, 213). Auch das Gesicht des Mannes in der Côte d’Azur-Fiktion wird mittels eines Vergleichs aus der Malerei beschrieben: „Son visage sanguin, incliné en avant, baigne tout entier dans une demi-teinte violacée trouée d’ombres noires, comme sommairement échauché par un peintre qui se serait arrêté après avoir posé de hâtives indications.“ (T, 223) Die zitierten Beispiele verdeutlichen, dass die von Simon als Inspirationsquelle herangezogenen Gemälde nicht allein als Generator der Handlung dienen, sondern dass sie bzw. Teile von ihnen darüber hinaus als 160 Vgl. ferner das Gemälde des Hasen (T, 161) und das der beiden Clowns (T, 190). 161 T, 31: „[…] comme si l’espace entre les deux profils avait été balayé d’un coup de pinceau aux poils inégalement chargés de couleur.“ 320 Vergleichsobjekte fungieren, die mit den Verfahren der Malerei die beschriebenen Elemente des Romans anschaulicher werden lassen sollen. Ein weiteres Vergleichsmedium, das die Beschreibungen von Szenen und Objekten in Triptyque entscheidend beeinflusst, ist die Photographie, die schon in früheren Romanen Simons wie z.B. Histoire (1967) eine wichtige Rolle gespielt hat. Wie bereits erwähnt wurde, 162 fungiert die eingangs beschriebene Postkarte, die eine Ansicht der Côte d’Azur präsentiert, als negatives Modell für die Ästhetik des Romans: Indem sie die Wirklichkeit scheinbar authentisch repräsentiert, wird sie ihr nicht gerecht - das von ihr mit den Mitteln der Photographie gezeichnete Bild ist durch eine monochrome und dadurch künstliche Farbgebung charakterisiert. Die Passage lässt sich somit als Kritik an der Photographie interpretieren, die sich repräsentationsoptimistisch als einzige die realistische Abbildung von Wirklichkeit zuschreibt. Ein weiteres Manko der Photographie wird im Zusammenhang mit den Filmfragmenten thematisiert: Zu schnelle Bewegungen des photographierten Objekts erscheinen auf dem Bild als Verwischung. So zeigt das Fragment, auf dem l’homme-oiseau beim Vollzug einer schnellen Kopfdrehung abgebildet ist, „[…] à la fois deux profils tournés en sens opposés et reliés par une trace claire striée horizontalement de traînées sombres à hauteur des yeux et de la bouche, […]“ (T, 31) und verfälscht auf diese Weise ebenfalls die ursprüngliche Wirklichkeit, anstatt sie adäquat zu repräsentieren. Doch neben dieser offensichtlichen Kritik am Medium der Photographie kommentieren die Beschreibungen von Photos in Triptyque metapoetisch die Poetik des Romans. Im Falle der Filmfragmente, die die beiden Jungen betrachten, finden sich beispielsweise von einem Einzelbild zum nächsten kaum Modifikationen der abgebildeten Objekte bzw. Figuren - ein Phänomen, das der unbekannte Erzähler als Vorliegen einer Sprechszene interpretiert (T, 80). Diese Charakterisierung lässt sich auch auf verschiedene Szenen des Romans selbst übertragen wie auf die Liebesszene an der Backsteinmauer oder auf die stets nahezu unveränderte Szene der nackten Frau auf dem Bett in der Côte d’Azur-Fiktion: Auch hier verändern die beschriebenen Elemente von einer Sequenz zur nächsten kaum ihre Lage. Darüber hinaus fungiert die Photographie wie die Malerei als Vergleichsobjekt, um die Beschreibungen besser vorstellbar werden zu lassen: So scheint das halbnackte Mädchen hinter dem Busch in der Dorf-Fiktion mit seiner weißen Haut das Licht auf sich zu konzentrieren „[…] ou plutôt, 162 Vgl. oben Kap. 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen. 321 comme dans ces films surexposés, scintiller faiblement, comme si elle était elle-même une source de lumière.“ (T, 119) 163 Das Verhältnis des Romans zur Photographie erweist sich demnach als ambivalent: Einerseits wird ihr die Fähigkeit abgesprochen, ein adäquateres Bild der Wirklichkeit zu erzeugen als die Literatur, andererseits kommentiert sie wie die Malerei metanarrativ die Poetik des Romans bzw. sie fungiert als Vergleichsobjekt, um das Beschriebene in Triptyque sinnfälliger werden zu lassen. Mehr noch als die Malerei und die Photographie ist die Cineastik das herausragende Medium in Triptyque, das ebenso wie die beiden anderen Kunstformen häufig als Quelle metanarrativer Kommentare fungiert, darüber hinaus aber auch die Poetik - bzw. genauer: die Erzähltechnik - des Romans illustrieren soll. Wie Irene Albers in ihrer Studie zu den Photographischen Momenten bei Claude Simon bereits betont hat, zielt Simons Interesse vor allem auf die photographische Seite des Films, d.h. auf das stillstehende, von einem Vorher und Nachher isolierte Einzelbild, da in diesen Zwischenräumen zwischen den Filmbildern „[…] die Rätsel und Geheimnisse liegen, welche nach einer narrativen Auflösung verlangen, die Simon ihnen aber nicht gewährt.“ 164 Auch hier klingt wie bereits schon bei J.H. Duffy im Zusammenhang mit den als générateurs fungierenden Gemälden eine Begrenzung der Filmbilder auf ihre fiktionsgenerierende Funktion an. Dagegen ist einzuwenden, dass sich in Triptyque Beschreibungen finden lassen, die durch den Vergleich auch mit aus der Cineastik stammenden Techniken darauf zielen, das Beschriebene anschaulicher werden zu lassen. Dazu zählen die Vergleiche des Handlungsablaufs mit dem filmischen Verfahren der Zeitlupe, z.B. wenn der eifersüchtige Liebhaber in der Stadt- Fiktion langsam den seidenen Chiffonstoff aus der Manteltasche der Kellnerin zieht (T, 124). Neben diesen direkten Vergleichen von Handlungen mit aus der Filmkunst stammenden Techniken finden sich auch mehr oder weniger explizite metanarrative Kommentare, die auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Erzählverfahren des Romans und dem eines Films verweisen. So wird wiederholt die Sicht auf eine Szenerie aus einer vue plongeante beschrieben, die an eine auf einen Kran montierte Kamera erinnert (T, 126), zugleich aber auch auf die Allwissenheit und gottgleiche Sicht eines auktorialen Erzählers auf das fiktive Geschehen anspielt. Ähnlich verhält es sich mit der Nahaufnahme der Schauspielerin in der Studioszene (T, 215f.): Diese lässt sich als metapoetischer Kommentar zu der dem Roman inhärenten 163 Diese Beschreibung evoziert die Beschreibung der „fille laiteuse“ in La Route des Flandres. 164 I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. 113. In eine ähnliche Richtung weist auch die Analyse der Filmfragmente von S. Lotringer, der in ihnen „la fiction d’une narration“ erkennt. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 317.) 322 Beschreibungstechnik lesen. Auch diese ist geprägt von ‚Nahaufnahmen’ der beschriebenen Objekte, die sich vor allem durch eine besondere Detailgenauigkeit auszeichnen und eine Egalisierung der Kategorien ‚Mensch’ und ‚Tier’/ ’Insekt’ bzw. ‚belebt’ und ‚unbelebt’ bewirken. Auch die komplizierten Kamerabewegungen, die nötig gewesen sein müssen, um die mutmaßliche Geldübergabe zwischen dem korpulenten Mann und dem homme-oiseau zu filmen, erinnern an den ebenfalls kompliziert gestalteten discours des Romans: Le plan suivant a dû faire l’objet de tous les soins du metteur en scène car il suppose une série de mouvements compliqués de la caméra s’approchant, s’éloignant, se rapprochant de nouveau, cadrant successivement : une serviette de cuir noir à fermoir métallique, puis les deux protagonistes assis sur une banquette, comme celle d’un bar, puis l’un ou l’autre de leurs visages, et, à la fin, de nouveau la serviette, mais ouverte cette fois, et dont on peut voir l’intérieur rempli de liasses de billets. (T, 140) Ähnlich wie die Kamera im Film richtet sich auch der Fokus des Erzählens abwechselnd auf die verschiedenen Episoden der drei bzw. vier Fiktionen; diese werden mit einer mehr oder minder großen Detailgenauigkeit beschrieben. 165 Abschließend soll das wichtige Phänomen des beschädigten bzw. nichtvollständigen Films auf eine unterschwellig metanarrative Aussage hin untersucht werden. Unvollständige Filmstreifen finden sich an zwei Stellen im Roman: Einerseits in der Dorf-Fiktion, wenn die beiden Jungen versuchen, die aus der Batterie entnommenen Filmstreifen mit den bereits vorhandenen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, und andererseits im Zusammenhang mit der Projektion des Films auf die Kinoleinwand. Die Filmfragmente, über die die beiden Jungen verfügen, gehören verschiedenen Genres an, so dass die beiden zunächst eine Auswahl von fünf verschiedenen Filmstreifen treffen müssen, „[…] qui leur semblent présenter une certaine unité et qu’ils entreprennent maintenant de classer dans un ordre sur lequel ils restent toutefois incertains, discutant entre eux, et les repassant plusieurs fois en revue.“ (T, 171) 166 Ähnlich wie die Jungen wird auch dem Leser von Triptyque eine gewisse ‚Sortierarbeit’ auferlegt, da - wie bereits gezeigt wurde - die Chronologie des Erzählens nicht dem eigentlichen Handlungsverlauf entspricht. Und ebenso wie die von den Jungen festgelegte Ordnung aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit keine endgültige ist, muss jeder Versuch, die fiktiven Ereignisse in Simons Roman in eine endgültige chronologische Reihenfolge überzuführen, scheitern. 165 Vgl. auch die Fortführung der beschriebenen Szene auf T, 141-143. 166 Vgl. ebenso T, 174f. 323 Im nächsten Schritt ihres Ordnungsversuchs müssen die Jungen feststellen, dass bei einer Handlungssequenz anscheinend einige Filmbilder fehlen: Aux trois premiers […] se sont ajoutés un quatrième et un cinquième que le plus grand a sorti de sa poche après coup et sur lesquels, en deux fois cinq images, on peut suivre les diverses phases d’une même scène dont cependant, entre les deux séries, il manque très évidemment une phase intermédiaire. (T, 171) Die fehlenden Szenen verweisen ebenfalls metanarrativ auf den discours des Romans: Auch hier fehlen zentrale Episoden wie z.B. der Unfalltod des kleinen Mädchens oder die Schlägerei zwischen Bräutigam und eifersüchtigem Liebhaber, die der Leser aus dem Kontext rekonstruieren muss. 167 Und nicht zuletzt scheint der Roman eine explizite Autokritik zu liefern, wenn die Atmosphäre der auf den Fragmenten abgebildeten Szenerie der an der Côte d’Azur spielenden Szene wie folgt beschrieben wird: Cependant, en dépit (ou peut-être en raison même) de la somptuosité du mobilier dont l’arrangement et l’entretien postulent l’intervention d’un personnel mercenaire, il se dégage de l’ensemble une sensation de vacuité, d’anonymat et de désolation, comme si les protagonistes n’étaient là que de passage, dans un cadre provisoire et factice auquel ils n’ont aucune part, disposé la veille par des machinistes prêts à le démonter et isolé par les projecteurs comme un minuscule et éphémère îlot de lumière dans l’immensité du cosmos ou, plus simplement, d’un vaste hangar de studio, tout aussi noir et tout aussi vide. (T, 172f.) Das Mobiliar erweckt trotz seiner augenscheinlichen Gepflegtheit den Eindruck einer gewissen Anonymität und Verzweiflung, so dass der ganze Rahmen - das Zimmer, in dem sich das Paar aufhält, die Einrichtung etc. - nur einen provisorischen und künstlichen Charakter erhält, der stark an seine reale Existenz in den Hallen eines Filmstudios erinnert. Diese Darstellung lässt sich auch auf die banalen histoires des Romans übertragen, deren fiktives Personal und fiktive Welt merkwürdig flach und austauschbar erscheinen und die damit an die Künstlichkeit der Fiktionen - an ihre Erfundenheit und Artifizialität - erinnern. Insofern lassen sich die Filmfragmente und die mit ihnen verbundenen Probleme der Chronologisierung und der Interpretation als metanarrativer Kommentar zum discours und zu den histoires in Triptyque lesen. Auch das Phänomen des zerstörten - zunächst stillstehenden, dann brennenden - Films spielt metanarrativ auf gewisse Phänomene in der Organisation des discours in Simons Roman an: So wie die Schauspieler mitten in der Bewegung förmlich erstarren und die Zeit in ihrem Verlauf scheinbar angehalten wird, verzögert sich in Triptyque auch die Handlung bis hin zum völligen Stillstand, der narrativen Pause: 167 Vgl. ebenso die durch den Filmbrand zerstörten und nun fehlenden Bilder (T, 197). 324 […] le film se coinçant à ce moment précis dans l’appareil de projection et les deux protagonistes restant soudain figés dans cette posture, comme si tout à coup la vie se retirait d’eux, le temps cessant de s’écouler, l’image ne constituait qu’une phase passagère, un simple relais, accédant tout à coup à une dimension solennelle, définitive, […] (T, 195) Insbesondere im Zusammenhang mit den Beschreibungen kommt es im Text zu keinem Fortgang der Handlung; darüber hinaus gelingt es Simon auch durch aus der Cineastik entlehnte und literarisch umgeformte Techniken wie der Zeitlupe, die Handlungsabfolge scheinbar zu verlangsamen. Im weiteren Verlauf der Beschreibung des auf der Leinwand stillstehenden Films verliert das dort abgebildete Paar zunehmend sein menschliches Aussehen und wird zu zwei weiteren unbelebten Objekten unter den landwirtschaftlichen Gegenständen, die sich in der Scheune befinden: „[les deux personnages] […] passant d’un instant à l’autre à l’état d’objets inertes, choses parmi les choses qui les entourent sur la surface de l’écran et dont l’œil, jusque-là accaparé par les formes mouvantes, prend alors peu à peu conscience […]. (T, 195) Interessant in diesem Zusammenhang ist die Wirkung des scheinbar in der Bewegung erstarrten Paares auf das Auge des Betrachters: Das an die Bewegung der Filmbilder gewöhnte Auge nimmt die in ihrer Bewegung ‚eingefrorenen’ Menschen nun wie die unbelebte Umgebung der Scheune als Objekte wahr und nicht mehr als Menschen. Auch diese Textstelle lässt sich somit als mehrfacher metanarrativer Kommentar zu der von Simon in Triptyque entwickelten Poetik lesen: Wie bereits deutlich wurde, liegt eine Besonderheit der Deskriptionen darin, die Grenzen zwischen belebten und unbelebten Objekten, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen einzuebnen. Darüber hinaus lässt sich die zitierte Stelle auch als Kommentar zur diskursiven Konstitution der Fiktionen lesen, da hier ebenfalls eine paradoxe Grenzüberschreitung - die von innerfiktionaler Fiktion zu innerfiktionaler ‚Realität’ und vice versa - festzustellen ist. Zuletzt beginnt der Film im Projektor vermutlich aufgrund der großen Hitzeeinwirkung zu brennen; dies wird erkennbar als ein sich rapide vergrößernder weißer Fleck auf der Leinwand, der das Filmbild nach und nach ‚verschluckt’: […] jusqu’à ce que, comme pour confirmer l’impression de catastrophe, apparaisse une tache blanche, aveuglante, dont le pourtour roussi s’agrandit avec rapidité, dévorant sans faire de distinction les deux corps enlacés, les outils et les murs de la grange, les lumières se rallumant alors, l’écran vide maintenant, terne et uniment grisâtre. (T, 195) Die metanarrative Konnotation des Zitats liegt hier in der großen Ähnlichkeit zwischen dem das Filmbild zerstörenden weißen Fleck auf der Leinwand und den die realistische Illusion zerstörenden bzw. die Künstlichkeit der fiktiven Welt postulierenden metafiktionalen Strategien in Triptyque. 325 Auch die drei Fiktionen des Romans werden von den verschiedenen Medien, in denen sie repräsentiert werden, und dem damit einhergehenden Verlust an innerfiktionaler Realität ‚verschlungen’, bis zuletzt nur noch mediale Repräsentationen von innerfiktionaler Realität, jedoch nicht diese selbst, zurückbleiben. Es bleibt festzuhalten, dass neben der Malerei und der Photographie insbesondere die Cineastik in Triptyque Verfahren und Phänomene präsentiert, die sich als metanarrative Kommentare zur Narration und allgemein zur Poetik des Romans lesen lassen. Zuletzt bleibt die Frage nach der Funktion derartiger Kommentare: Diese mögen als augenzwinkerndes Spiel mit dem Leser gedacht sein, stellen darüber hinaus jedoch eine konkrete Handlungsanweisung dar, indem sie bestimmte Rezeptions- und Decodierungsstrategien aus der Cineastik auf die Narrativik eines postmodernen Romans übertragen. 5.5 Zusammenfassung In Simons Triptyque wird ‚Fiktion’ vor allem implizit metafiktiv auf der Ebene der Geschichte und metafiktional auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung kommentiert: So erweist sich Referenz auf Wirklichkeit innerhalb und außerhalb des Textes schlechterdings als unmöglich und auch die sprachliche und fremdmediale Repräsentation misslingt stets in letzter Konsequenz. Insbesondere die auffälligen Metalepsen entlarven als paradoxe Überschreitung der Grenze zwischen den Ebenen innerfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’ zuletzt alle histoires als medial vermittelte Repräsentation von fiktiver Wirklichkeit und enthüllen dadurch metafiktiv die Fiktivität bzw. die fehlende Referenz der erzählten Geschichte. Daneben zielen auch andere Phänomene der histoire wie ihre auffallende Spannungslosigkeit und Sinnarmut, die fehlende Psychologisierung der Figuren und vor allem die Reduktion der eigentlichen Handlung durch hypertrophe Deskriptionen auf eine Entwertung der Geschichte, welche wiederum das metafiktionale foregrounding der Künstlichkeit der fiktionalen Welt befördert. Darüber hinaus haben sich - im Vergleich zu La Route des Flandres - auch die Beeinträchtigungen des discours in ihrem Ausmaß verändert: Nun hat sich der Erzähler vollends aus der Vermittlung der Ereignisse zurückgezogen; es bleibt ein nicht näher identifierbares „on“ zurück, das die fiktive Welt des Romans vor allem im optischen Modus vermittelt, jedoch ohne über einen Einblick in das Fühlen und Denken der Figuren zu verfügen. Das Erzählverfahren lässt daher eher an ein unbelebtes Kameraauge als an eine anthropomorphe Erzählinstanz denken. Auf eine mediale Vermittlung der Ereignisse weisen indes auch die wiederholten, z.T. paradoxen und nicht auflösbaren, Anachronien in der narrativen Präsentation der Ereignisse sowie die markante Fragmentierung der Handlung hin: In ihrer 326 scheinbaren Willkür und aufgrund der fehlenden Plausibilisierung durch die Handlungslogik lassen diese Brüche den discours nicht als die literarische Vermittlung einer fiktiven Geschichte, sondern vielmehr als die narrative Transkription eines schlecht geschnittenen Films erscheinen. Die genannten Verfahren verbindet jenseits der metafiktionalen Thematisierung bzw. Inszenierung von Fiktivität und Fiktionalität auch die kritische Diskussion der Referenzfunktion der Literatur bzw. allgemein der Künste auf eine präexistente Realität. In diesem Rahmen vertritt Simons Roman die Sicht, dass eine adäquate Repräsentation der außerliterarischen Wirklichkeit mit den individuellen künstlerischen Mitteln nicht möglich sei: jedes mediale Abbild der Realität muss verzerrt bleiben und kann ihre wesentlichen Aspekte nicht angemessen darstellen. Neu in Triptyque im Vergleich zu La Route des Flandres ist schließlich der Umfang fremd-medialer Repräsentationsformen wie die Cineastik, welche in die sprachliche Zeichenstruktur des Textes integriert werden. Diese fungieren als Generator von Handlung, wenn sich die Beschreibung einer auf einem Plakat oder einem Puzzle abgebildeten Szene plötzlich zu beleben scheint und schließlich den Status einer Handlung erhält. Darüber hinaus dienen die Vergleiche mit fremdmedialen Verfahren der Wirklichkeitskonstitution auch der metanarrativen Illustration des eigenen Erzählverfahrens bzw. der Romanpoetik allgemein. Eine ähnliche Rolle übernehmen ferner bestimmte Motive und Themen des Romans, die autoreflexiv auffällige Merkmale des Erzählens entweder explizit thematisieren oder implizit vorführen und daher ebenfalls über eine metanarrative Funktion verfügen. 327 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981) 6.1 Einführung Simons Alterswerk Les Géorgiques zeichnet sich noch mehr als seine Vorgänger durch das autobiographische bzw. biographische Substrat aus, das seiner fiktiven Welt zugrunde liegt: so hat Simon einerseits eigene Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg in diesem Text verarbeitet und sich andererseits narrativ-fiktional dem Schicksal eines Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert angenähert. 1 Diese übergeordnete historische Thematik des Romans wird bereits durch den Titel - Les Géorgiques - angedeutet, welcher den Roman in einen historischen Kontext situiert, verweist er doch explizit auf die Georgica Vergils, die dieser im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Augustus’ Veteranen als Lobpreisung der Landarbeit gegenüber der ‚Kriegsarbeit’ verfasst hat. 2 Auch wenn sich keine weiteren direkten Zitate des lateinischen Prätexts in Simons Werk finden, so ist doch das Vorgängerwerk thematisch stets präsent: Es sind die Virulenz der Themen ‚Krieg’ und ‚(Land)Arbeit’ und ihre ambivalente Wertung in Les Géorgiques, welche die beiden Texte sowohl verbinden als auch trennen und darüber hinaus das zentrale Geschichtsthema illustrieren. 3 Verkörpert werden diese beiden zentralen Themen durch die Lebenserfahrungen dreier Männer, die alle jeweils zu ihrer eigenen Zeit mit den direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges konfrontiert waren und die ganz unterschiedliche Antworten auf diese Grenzerfahrungen 1 Simon selbst wehrte sich gegen die Kategorisierung seines Textes als ‚historischer Roman’ mit der Begründung, dass er keine vollständige Biographie des Generals Lacombe Saint Michel (‚L.S.M.’) liefere (C. Simon: „Fragments de Claude Simon. [Eribon, D.].“ (1981), S. 21.). 2 Das lateinische Adjektiv georgicus (= „den Landbau betreffend“, „vom Landbau“) stammt aus dem Griechischen: gê = „Erde“ und ergon = „Arbeiten“ und meint das „Bearbeiten der Felder“, im übertragenen Sinne auch der Schlachtfelder des Krieges. In Simons Roman gewinnt Georgica auch noch eine dritte - selbstreflexiv auf den eigenen Text verweisende - Bedeutung: das ‚Bearbeiten’ der zunächst leeren Seiten durch den Autor. (Vgl. hierzu auch R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 172f.) 3 Darüber hinaus findet sich in Les Géorgiques häufig der Name ‚Georges’ bzw. Derivate von diesem: die Hand des alten Mannes, welcher die Cahiers des Generals durchblättert, ähnelt der „crêpe georgette“ (G, 24), der tunesische Premierminister ist ein „georgiano grasso“ (G, 48f.) und bei dem mysteriösen „O.“ des vierten Kapitels handelt es sich um George Orwell. 328 gefunden haben: ein namentlich nicht genannter Mann erinnert sich zum einen an seine Kindheit und Jugend in der südwestfranzösischen Provinz 4 , wo seine Familie ein repräsentatives Stadthaus besaß. Zum anderen sieht er sich wiederholt den Erinnerungen an traumatische Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt, über die er anscheinend bereits in einem Roman zu berichten versucht hat. Eine weitere Figur des Romans, deren Leben der Text in Ausschnitten darstellt und die nur als „Général (Jean-Pierre) L.S.M.“ 5 bezeichnet wird, erweist sich als Zeitgenosse und vor allem militärischer Akteur der Französischen Revolution bzw. des Empire und scheint in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Erstgenannten zu stehen. Und schließlich präsentiert der Text die Erfahrungen eines ebenfalls unbestimmt bleibenden „O.“ 6 ; dieser hat vom Winter 1936/ 37 bis Juni 1937 in Spanien am Bürgerkrieg teilgenommen und auf der Seite der marxistischen POUM 7 in Barcelona und an der Aragonesischen Front gekämpft. Diese zunächst scheinbar disparat nebeneinander stehenden Lebenserfahrungen werden durch verschiedene, vor allem thematische und motivische, Spiegelungseffekte miteinander verbunden, welche die Gewalt- und Kriegserfahrungen der Protagonisten gleichsam als überzeitlich und als einzige historische Kontinuität erscheinen lassen. Auch wenn das Geschichtsthema bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen war, hat die für Les Géorgiques so charakteristische kritische Reflexion der Möglichkeiten einer historiographischen bzw. auto-/ biographischen Rekonstruktion von vergangener Wirklichkeit bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren; mit diesem repräsentationskritischen Ansatz schreibt sich Simon ein in immer noch aktuelle Diskurse der Geschichts- und Literaturwissenschaft. 8 4 Es handelt sich allem Anschein nach um Perpignan. 5 Die Abkürzung ‚L.S.M.’ steht vermutlich für ‚Lacombe Saint-Michel’ - das ist der reale Familienname des Generals -, ohne dass jedoch von einer Identität zwischen der fiktiven Figur L.S.M. und der historischen Person des Revolutionsgenerals ausgegangen werden kann. 6 Nicht zufällig verweist die Wahl der Initiale auf die ebenfalls „O.“ genannte Erzählbzw. Wahrnehmungsinstanz aus La Bataille de Pharsale. In Les Géorgiques verbirgt sich hinter „O.“ jedoch ein fiktionalisierter, d.h. um fiktive Züge angereicherter, George Orwell, der Verfasser der von Simon in diesem Text kritisch diskutierten Homage to Catalonia. 7 POUM = Partido Obrero de Unificación Marxista (dt. „Arbeiterpartei Marxistischer Vereinigung“). 8 So bildet ein Auszug aus Simons Les Géorgiques den Epilog eines von Christoph Conrad und Martina Kessel herausgegebenen Überblicks über aktuelle theoretische Diskussionen in der Geschichtswissenschaft. (C. Conrad und M. Kessel (Hgg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. (1994)) Innerhalb der Simonforschung weist allein A. Duncan in seiner Bewertung des Romans indirekt auf die metanarrative, metafiktionale bzw. metahistoriographische Qualitäten des Werks hin: „In making visible its own processes of generation, [the work] raises questions about representation and reference, about genre, about the writing of ficti- 329 Im Gegensatz zu den bisher erschienenen Studien, die sich vornehmlich mit den in Les Géorgiques anzutreffenden Verfahren ‚historischer Sinnstiftung’ auseinander gesetzt haben, fokussiert das vorliegende Kapitel einerseits auf die explizite und implizite Kritik des Romans an traditionellen Konzepten von ‚Geschichte’ sowie an dem literarischen Realismus entliehenen Strategien historischen Erzählens nicht nur in der Historiographie, sondern auch im historischen Roman. Mit dieser Kritik greift Simon immer noch aktuelle Diskussionen der postmodernen Geschichtswissenschaft auf, die sich ebenfalls zunehmend von überholten Geschichtskonzepten und nicht mehr zeitgemäßen Darstellungsverfahren distanziert. Andererseits liegt dem Kapitel die Annahme zugrunde, dass Simon in diesem Roman neben der Dekonstruktion überholter Konzepte historischen Erzählens zugleich auch ein alternatives Modell fiktionaler Vergangenheitsdarstellung entwirft und dabei auf Erzählstrategien zurückgreift, welche er zuvor in seiner ‚skripturalistischen’ Phase entwickelt hatte. Im Gegensatz zu traditionellen Entwürfen historischen Erzählens verweist Simons Text autoreferentiell auf die wichtige Rolle der Imagination und anderer fiktionaler Intertexte bei der Rekonstruktion der Vergangenheit; diese Verweise legen in Form von metafiktionalen Kommentaren bzw. Inszenierungen die Fiktivität des eigenen Gegenstandsbereichs sowie die Fiktionalität des eigenen Textes offen. Die obige These strukturiert das vorliegende Kapitel dergestalt, dass einleitend zunächst die in Les Géorgiques diskutierten konkurrierenden Geschichtskonzepte sowie aktuelle Definitionen und Beschreibungen historisch-fiktionalen, historiographisch-faktualen, autobiographischen sowie biographischen Erzählens präsentiert werden (Kap. 6.2). Im Hauptteil werden zunächst die verschiedenen Protagonisten des Romans vorgestellt, die schreibend Zeugnis von ihrer eigenen Vergangenheit oder von historischen Ereignissen allgemein ablegen; sie verkörpern mit ihren Schreibprojekten verschiedene Typen des Historikers. Die Schwierigkeiten, mit denen sich die Romanfiguren im Zuge ihrer narrativen Vergangenheitsrepräsentation konfrontiert sehen, werden bezogen auf verschiedene Aporien, die auch von der (post)modernen Geschichtswissenschaft im Rahmen einer Kritik an der naiven Überzeugung von der ‚Abbildbarkeit’ vergangener Realität im Sinne ihrer totalen Repräsentation genannt werden (Kap. 6.3). Im Anschluss sollen diejenigen metafiktionalen Strategien im Zentrum der Analyse stehen, welche den Anteil der Fiktion am historischen Erzählen offenlegen. Dabei lassen sich zwei Gegenstandsbereiche metafiktionaler Kommentare unterscheiden: So zielt die metafiktionale Offenlegung von Erfundenheit einerseits auf die Fiktivität der dargestellten Personen, Orte on, history or biography.“ (A. Duncan: „Les Géorgiques and intertextuality.“ (1994), S. 68.) 330 und Ereignisse. Andererseits wird die eigene Fiktionalität des Textes, seine Zugehörigkeit zu den nicht-faktualen, fiktionalen Textsorten, thematisch (Kap. 6.4). 6.2 Vorbemerkungen: Geschichte und Historiographie als zentrale Themen des Romans Bereits zu Beginn seiner Lektüre wird dem Leser von Simons Les Géorgiques das zentrale Thema des Romans plastisch vor Augen geführt: im ersten Kapitel vermischen sich unterschiedliche Zeitebenen, Orte und Protagonisten fast bis zu ihrer Nivellierung; einziges gemeinsames Kennzeichen ist die traumatische Erfahrung von Krieg und Gewalt in drei verschiedenen historischen Epochen - in der Französischen Revolution und ihren Kriegen 1792-1799, in den Kriegen während der Anfangszeit des Empire 1799-1810, im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 sowie im Zweiten Weltkrieg 1939- 1945. Daneben finden sich weitere, kürzere, Hinweise auf andere Epochen der Menschheitsgeschichte, so z.B. auf das europäische Mittelalter, wenn der zahlreichen kriegerischen Konfrontationen im vielumkämpften Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland gedacht wird (G, 136), oder aber auf die ägyptische Antike, wenn der General der Weltkriegshandlung mit einer Mumie verglichen wird (G, 121). Unabhängig von der jeweiligen historischen Epoche werden jedoch auch verschiedene „Geschichten“ erzählt; dabei handelt es sich in Simons Roman im Gegensatz zu traditionellen Geschichtslehrwerken in erster Linie um die Geschichte der „kleinen Leute“ 9 : im Mittelpunkt des Romans stehen weniger die Erlebnisse und Handlungen der militärischen oder politischen Machthaber, sondern vielmehr diejenigen der einfachen Soldaten, Bauern, Landadeligen sowie der Frauen. Neben dieser eher indirekten Inszenierung des Themas Geschichte, das den Roman wie ein Aderngeflecht durchzieht, führt der Erzähler von Les Géorgiques jedoch auch einen expliziten Diskurs über die Möglichkeiten 9 Die Geschichte der „kleinen Leute“ stellt einen Teilbereich der Geschichte dar, der von der Alltagsgeschichte untersucht wird. Im Gegensatz zu der „herkömmlichen, historistisch-staatsorientierten Geschichtswissenschaft“ stehen im Mittelpunkt dieses neueren Zweigs der Geschichtswissenschaft unter anderem „die Lasten und Leiden, die den ‚Vielen’ zugemutet werden oder die diese sich selbst auferlegen“. (A. Lüdtke: „Alltagsgeschichte.“ (2002), S. 21.) Ebenso Hans Medick: „[…] die Alltagsgeschichte und die Erfahrungsgeschichte […] hatten den arbeitenden, handelnden, leidenden und widerständigen, ‚normalen’ Menschen anstelle von historischen Eliten, Strukturen oder politischen Herrschafts- und Ereigniszusammenhängen in den Blickpunkt des Interesses gerückt.“ (H. Medick: „Historische Anthropologie.“ (2002), S. 158.) Dieses Erzählen der ‚Geschichte von unten’ stellt eines der zentralen Merkmale des postmodernen historischen Romans dar. (Vgl. hierzu E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. viif.) 331 einer historiographischen - hier genauer: autobiographischen und biographischen - Rekonstitution vergangener Wirklichkeit. Dabei thematisiert der Erzähler zum einen allgemeine epistemologische und sprachtheoretische Probleme; er problematisiert zum anderen jedoch auch autoreflexiv den eigenen sprachlichen Umgang mit seiner Vergangenheit bzw. seiner Familiengeschichte und die Möglichkeiten ihrer angemessenen sprachlichen Repräsentation. Im Folgenden soll zunächst in einem kurzen Überblick dargestellt werden, wie der Text zwei gegensätzliche Geschichtskonzepte entwirft bzw. diskutiert und schließlich eine eigene Position zur Interpretation von Geschichte einnimmt. Der zweite Teil des Kapitels präsentiert als Vorbereitung auf die sich anschließenden Analysen der verschiedenen Historikerfiguren eine Skizze über aktuelle Definitionen und Modelle historisch-fiktionalen und historisch-faktualen bzw. historiographischen sowie autobiographischen und biographischen Erzählens. 6.2.1 Zwei Auffassungen von Geschichte: zyklisches und teleologisches Geschichtsmodell In Simons Roman werden zwei gegensätzliche Geschichtsbilder entworfen: zum einen wird Geschichte im Sinne eines zyklischen Geschichtsbildes aufgefasst als die ewige Wiederkehr des Immergleichen, seien es nun Krieg und Gewalt oder die Jahreszeiten sowie die dadurch bedingten Tätigkeiten in der Landwirtschaft. 10 Zum anderen wird auf das teleologische Geschichtskonzept verwiesen, wenn das Heilsversprechen der Französischen Revolution oder aber das Perfektionsstreben im Bereich der Künste und der Zivilisation in der römischen Antike mit dem der Aufklärung verglichen wird. 11 Wie bereits angedeutet wurde, erscheint Geschichte in Les Géorgiques überwiegend als die unabänderliche Wiederkehr von Gewalt und Schrecken in Gestalt des Krieges. Diese Funktion des Krieges, alles mit Vernichtung zu überziehen, kristallisiert sich besonders am Beispiel der im Laufe der Jahrhunderte immer neu umkämpften Orte im deutsch-französischen Grenzgebiet heraus, die wiederholt zunächst durch räuberische Überfälle und später durch Bombenangriffe zerstört und von den Bewohnern in stoischem Gleichmut in einem provisorischen, sachlichen und banalen Stil immer wieder aufgebaut werden (G, 135f.). Dabei verlieren die „noms grisâtres et ferrugineux“ der umkämpften - ostfranzösischen und west- 10 Vgl. hierzu z.B. M.M. Brewer: „[…] history defined as an eternal recurrence of the same.“ (M.M. Brewer: „Narrative Fission: Event, History, and Writing in Les Georgiques.“ (1986), S. 32f.). 11 Vgl. auch den Gegensatz zwischen vernünftig-teleologischer Geschichte und Geschichte als ewig wiederkehrendem Verhängnis. (H.D. Kittsteiner: „Geschichtsphilosophie.“ (2002), S. 118.) 332 deutschen - Festungsstädte, Schlachtfelder und Grenzflüsse wie „[…] Bazeilles, Sedan, Mézières, Rocroy, Givet, Wattignies, Meuse, Moselle, Ardennes, Longwy […] Mons, Charleroi, Coblence, Pirmassens, Trèves, Mayence […]“ mit der Zeit ihren eigentlichen Bedeutungsinhalt als Bezeichnung von „villes avec des tramways, des magasins, des cinémas, mais [deviennent] de simples assonances, des lettres dont l’assemblage n’avait d’autre sens que siège, capitulation, incendie ou bals d’émigrés.“ (G, 107) 12 Die militärische „Arbeit“, die der General L.S.M. an diesen und anderen Orten wie „Pavie, Namur, Mantou, l’Yssel, Anvers, l’Adige, Vérone, Peschiera […]“ zu verrichten hat, lässt in den Augen von Onkel Charles das Kriegshandwerk den Tätigkeiten ähneln, die jener als Landbesitzer im Turnus der Jahreszeiten auszuführen befahl: «[…] Je veux parler de cet éternel recommencement, cette inlassable patience ou sans doute passion qui rend capable de revenir périodiquement aux mêmes endroits pour accomplir les mêmes travaux: les mêmes prés, les mêmes champs, les mêmes vignes, les mêmes haies à regarnir, les mêmes clôtures à vérifier, les mêmes villes à assiéger, les mêmes rivières à traverser ou à défendre, les mêmes tranchées périodiquement ouvertes sous les mêmes remparts : […] Prises, franchies, perdues, reprises, reperdues, reconquises de nouveau, reperdues encore, infatigablement, sans fin ni espoir de fin, avec pour seules variantes les prévisibles imprévus des successives coalitions de la pluie, du gel ou de la sécheresse…» (G, 447). In den Augen des Onkels besteht die manifeste Ähnlichkeit zwischen dem stets wiederkehrenden Krieg und dem jahreszeitlichen Rhythmus des Ackerbaus darin, dass einerseits dem Menschen ein hohes Maß an Geduld bei der Erfüllung seiner jeweiligen Aufgaben abverlangt wird, da die Tätigkeiten auf dem Schlachtfeld und auf dem Ackerfeld im Grunde unverändert bleiben. Andererseits erscheint der Mensch als Sklave der Natur 12 Im Zusammenhang mit der durch die Französische Revolution und ihre militärische Verteidigung geprägten Lebensgeschichte des Generals L.S.M. erscheinen dieselben geographischen Orte „[…] comme les pivots, les épicentres ou les lignes de force de quelque convulsion souterraine, le formidable ébranlement d’un continent tout entier (et plus qu’un continent : un état de choses établi depuis des millénaires, condamné, balayé…) […]“ (G, 371). Die Schlachten, die an diesen Orten zwischen den Revolutionsarmeen und ihren europäischen Kontrahenten geschlagen wurden, haben das Schicksal des Kontinents und seiner seit Jahrtausenden im Grunde unveränderten Geschichte ‚verdammt’ bzw. ‚hinweggefegt’. In diesem Sinne erhalten die Städte, Flüsse und Schlachtfelder die Bedeutung von Angelpunkten, an denen die Geschichte eine Wende nimmt, bzw. von Kraftfeldern, die durch die schicksalhafte Bedeutung der an ihnen stattgefundenen historischen Ereignisse gleichsam energetisch aufgeladen sind. C. Britton vertritt in diesem Kontext die These, dass Geschichte in Les Géorgiques grundsätzlich innerhalb bestimmter Grenzen stattfindet und damit „takes the form of a delimited space“; Geschichte ist also weniger zeitlich, denn spatial wahrnehmbar. (C. Britton: „The Georgics: The Limits of History.“ (1985), S. 97.) 333 und vor allem des Klimas, an dessen Bedingungen er sich sowohl bei der Kriegsführung als auch bei der Bestellung seiner Felder anzupassen hat. 13 Der Roman vertritt zwar weitestgehend ein zyklisches Konzept der Geschichte, das insbesondere durch die Beispiele der ewigen Wiederkehr von Krieg und Gewalt, des unveränderlichen Gleichmaßes der Jahreszeiten sowie der Lebensaltersstufen des Menschen veranschaulicht wird. 14 An mehreren Beispielen - der beschleunigten Alterung des Menschen, dem Aufhalten der Jahreszeiten sowie der Verschmelzung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ein archaisches, prähistorisches und präzivilisatorisches Chaos - zeigt der Text jedoch, dass ein einziges Phänomen die Macht besitzt, in den Ablauf von Zeit und Geschichte einzugreifen bzw. Temporalität und Historizität zu nivellieren bzw. anzuhalten: der Krieg. So erlebt der ‚Nachfahr’ des Generals L.S.M. als Kavallerist im flandrischen Winterlager 1939/ 40 eine außerordentliche Kälte 15 - „[…] il [le froid] atteignit une intensité terrifiante, devint quelque chose de pour ainsi dire cosmique: […]“ (G, 102) -, die wochenlang die Temperatur auf minus 15 Grad Celsius sinken (G, 119) und den Winter als endlos erscheinen lässt: Il semblait que l’hiver ne dût pas avoir de fin qu’il avait toujours été là, serait encore là lorsque les barres sur les jours des calendriers arriveraient à mai ou à juillet, que le printemps et l’été faisaient partie de ces choses abolies une pour toutes le jour où un ministre introduit par un chambellan dans des salons surchargés de dorures ou de marbres avait remis à un autre ministre un document scellé de cire, salué froidement […] et tourné les talons. (G, 105) Das versiegelte Dokument, das von einem Minister an einen anderen übergeben wird, enthält die Kriegserklärung von Frankreich an das „Dritte Reich“ vom dritten September 1939. Die Schicksalhaftigkeit des Dokuments, das innerhalb weniger Monate die Auslöschung einer der berühmtesten Armeen Europas und den lange anhaltenden Verlust des französischen Selbstwertgefühls bewirken sollte, scheint sich bereits in der Tatsache anzudeuten, dass mit seiner Übergabe der bis dahin noch stets 13 Der Text weist jedoch darüber hinaus auf wichtige Unterschiede zwischen den Jahreszeiten und dem Krieg hin: Nur die Jahreszeiten können das geomorphologische Bild der Erde verändern (G, 343f., 136); der zerstörerische Einfluss des Krieges beschränkt sich allein auf Menschenwerk; der Krieg blieb auch lange Zeit ohne Auswirkungen auf die Jahreszeiten (vgl. den Frühling in Spanien (G, 301) oder in Flandern (G, 52; RF, 296); die Jahreszeiten wiederum verändern das Aussehen der Menschen (vgl. Batti (G, 408, 413f.)). 14 Simon selbst präzisiert sein Bild von ‚Geschichte’ als das einer Spirale, im Sinne einer Wiederholung derselben Ereignisse mit leichten Veränderungen (C. Simon: „Claude Simon, romancier, [Haroche, C.]“ (1981), S. 15.). 15 Weitere bis dato unbekannte Effekte der Kälte sind: das Einfrieren des Weins in den Fässern (G, 79) bzw. das Umformen aller Materie in einen glasartigen Zustand (G, 102) sowie die Transformation selbst der Luft in einen festen Aggregatzustand (G, 118). 334 unbeirrt anhaltende Rhythmus der Jahreszeiten und die Monatsfolge erstmals unterbrochen scheint. Das bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Ausmaß des Schreckens, der durch den Zweiten Weltkrieg über Europa kommen sollte, wird in Les Géorgiques auch an seiner Macht erkennbar und erfahrbar, das Rad der Jahreszeiten anzuhalten. Diese unvorstellbare Kälte katapultiert die Soldaten gleichsam aus der Geschichte, aus unserer physikalischen Zeit heraus in eine prähistorische Epoche: Scheinbar um der Kälte zu trotzen, schichtet ein Trupp Soldaten in einem Waldstück einen „bûcher géant“ auf […] comme s’ils (les hommes de corvée) se vengeaient, comme un défi, comme s’ils voulaient compenser par une sorte d’autodafé dément ce qu’avait de démentiel le froid lui-même, projetés, comme hors de l’Histoire, ou livrés à quelque chose qui se situait au-delà de toute mesure (de même que la colonne carminée du thermomètre s’était depuis longtemps rétractée au-dessous de la plus basse graduation (moins quinze) conçue pour des époques, des mœurs, un mode de vie sinon civilisé du moins étalonnable [sic] : l’état (temps, espace, froid) où devait être le monde à l’époque des cavernes, des mammouths, de bisons, et autres bêtes gigantesques chassées par des hommes gigantesques pour prendre leurs fourrures, boire leur sang chaud, au sein de gigantesques et inépuisables forêts. (G, 119) Auf der primären Bedeutungsebene des Textes passen sich die Soldaten in ihren Handlungen - dem Aufschichten eines archaischen Scheiterhaufens - den außergewöhnlichen Bedingungen der Kälte an, welche die Welt in eine urbzw. eiszeitliche Epoche tauchen lässt. Die beschriebene Kälte lässt sich darüber hinaus in einem übertragenen Sinn auch als Allegorie 16 für den Zweiten Weltkrieg selbst lesen, in dessen Verlauf die Menschen - so wie die Soldaten unter dem Einfluss dieser unvorstellbaren Kälte - zuvor noch undenkbare Taten begehen werden, wodurch sie nicht nur die historische Epoche unserer aufgeklärten Zeit, sondern die menschliche Zivilisation überhaupt verlassen. 17 Noch deutlicher vermittelt der Text seine Botschaft der Zerstörung von Historizität und Temporalität durch unermessliche Schrecken und Gewalt am Beispiel der ‚Zigeuner‘familien in der Kinovorstellung, die der ‚Nachfahr’ als Junge in seiner Heimatstadt besucht (G, 208ff.). In Simons Roman scheinen die „gitans“ den Menschen im ‚Urzustand’ zu repräsentieren, frei von jeglicher zivilisatorischen Zähmung, seit undenkbaren Zeiten unverän- 16 Der Begriff ‚Allegorie’ meint hier „die Veranschaulichung eines abstrakten Vorstellungskomplexes oder Begriffsfeldes durch eine Bild- und Handlungsfolge“. (G. Schweikle: „Allegorie.“ (1990), S. 9.) Vgl. auch Gerhard Kurz’ Ausführungen zur Allegorie, der ihre - im Gegensatz zur Metapher - Doppeldeutigkeit betont. (G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. (2004), S. 39.) 17 Ein weiteres Beispiel für ein Ende der Zeitlichkeit bzw. der Geschichte ist die in völliger Zurückgezogenheit lebende alte Dame, die Großmutter des Nachfahren in seiner Kindheit (G, 199). 335 dert. Durch ihre magischen Kräfte beherrschen sie die Zeit: sie können die Zukunft präfigurieren, in dem sie die Zeit beschleunigen und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bis zur Unkenntlichkeit miteinander mischen (G, 214). In diesem Zusammenhang ist der Kontext der zitierten Textstelle von Bedeutung: der Erinnerung des ‚Nachfahren’ an seine Jugenderlebnisse im Kino geht die Beschreibung der Situation des gefangenen Kavalleristen im deutschen Kriegsgefangenenlager voran; ihr folgt die Erinnerung des ‚Nachfahren’ an seine erste Bombardierung im Zweiten Weltkrieg. Die Episode im Kriegsgefangenenlager steht sowohl durch die Thematik - Gewalt, Reduzierung des Menschen auf das Elementare - als auch durch die Motivik - die überall wimmelnden Flöhe als Sinnbild der Verwahrlosung des Menschen, seiner Reduktion auf ein wildes Tier - im Zusammenhang mit der Zigeunerepisode im Kino. Mit der nachfolgenden Episode - die Erlebnisse des Kavalleristen im Zweiten Weltkrieg - verbindet die ‚Zigeunerepisode’ das narrative Zentrum, aus dessen Sicht die Ereignisse, im Kino und im Flandern des Krieges, vermittelt werden: […] puis il y fut (le garçon - c’est-à-dire plus un garçon alors, devenu un homme par une brusque mutation en l’espace d’une fraction de seconde, […]) sauvagement agressé comme à la sortie du cinéma dont derrière lui le petit vieux à casquette éteignait l’une après l’autre les lumières et refermait les portes, incrédule, trop ahuri, trop indigné pour, sur le moment, être même capable d’avoir peur, assourdi (de sorte que le crépitement des explosions dans le nuage de poussière - l’espèce de buisson ardent, marron sale et déchiré d’étincelles, matérialisé tout à coup dans le champ à côté de la route - semblait lui parvenir comme ténu, comme de menus craquements d’allumette) par le fracas d’un paquet de bombes lâchées avec l’indifférence d’oiseaux se soulageant en plein vol par trois avions paresseux qui, à tout hasard, au passage, dans la lumière déclinante d’une fin d’après-midi, essayaient, négligemment pour ainsi dire, de le tuer… (G, 216f.). An dieser Stelle wird dem Leser die Identität der Figur des Kavalleristen in der Weltkriegshandlung mit der des zunächst jugendlichen, dann älteren ‚Nachfahren’ des Generals L.S.M. enthüllt. Die Konfrontation des Jungen im Kino mit den archaischen ‚Zigeunern’ erhält auf diese Weise die Bedeutung einer narrativen Prolepse, die auf das ihm bevorstehende Los verweist: Auch er wird in wenigen Jahren regredieren in ein prähistorisches, präzivilisatorisches Stadium des Menschen und sich auf diese Weise den ‚Zigeunern’ seiner Jugend annähern, auch er wird durch den Kontakt mit den deutschen Bomben absolute Gewalt erleben - eine Erfahrung, die ihn Zeit seines Lebens traumatisieren wird. Im Gefangenenlager wird er schließlich auf seine menschliche Elementarität reduziert: Er wird zum Wirt von unzähligen Läusen, verwandelt sich im Kampf um sein Leben in 336 ein misstrauisches, unberechenbares Tier, der Körper geprägt vom Mangel an Schlaf und Nahrung (G, 209-211). 18 Diesem bisher beschriebenen zyklischen Geschichtsmodell, das eher geschichts- und fortschrittsskeptische Züge trägt, wird in Les Géorgiques eine Geschichtsauffassung antithetisch gegenüber gestellt, für die das Streben nach Vervollkommnung, nach stetiger sozialer, moralischer und kultureller Verbesserung sowie der Gedanke eines der Geschichte inhärenten Sinns zentral ist. Dieses teleologische Geschichtsverständnis expliziert der Text im Zusammenhang mit der Französischen Revolution bzw. dem spanischen Bürgerkrieg, die als eine Überwindung überkommener, ungerechter Verhältnisse aufgefasst werden. 19 Die positive Bewertung des Bürgerkriegs in Spanien als hoffnungsvolle „apothéose“ (G, 336) wird verständlich vor dem Hintergrund der feudalen Strukturen des Vorkriegsspaniens; diese zeigen Spanien im Vergleich zu anderen Ländern wie z.B. Frankreich, die sich durch eine Revolution bereits von Willkürherrschaft und Unterdrückung befreit haben, als archaisch und von der Geschichte vergessen: […] comme les symboles conservés intacts non pas même de ce passé que d’autres avaient répudié en même temps qu’ils coupaient la tête de leurs rois, mais de quelque chose d’avant même les rois, comme si aux derniers confins d’un continent pendait une sorte de fruit desséché et ridé, oublié par l’histoire et rejeté, repoussé par la géographie, comme un récipient, une espèce de cloaque 18 Die Forschung ist sich uneinig in der Interpretation dieser Regression in mythische bzw. archaische Epochen: Während einerseits Autoren wie N. Piégay-Gros diese Rückkehr des Archaischen als Indiz für ein negatives Geschichtsbild werten, da hier jede Zivilisation, jede progressive, optimistische, dialektische und humanistische Ausrichtung von Geschichte geleugnet werde und Geschichte als anarchisch, als sterile, ewige Wiederholung desselben erscheine (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 86ff.), betont S. Schreckenberg die im Rahmen von Les Géorgiques dekonstruktive und kritische Funktion solcher Ereignisse: Es handele sich hierbei keinesfalls um ein naives, romantisches oder gar faschistisches Plädoyer für die Rückkehr zu einer archaischen, prämodernen Weltsicht; vielmehr werde das historische Denken grundsätzlich in Frage gestellt und die Unmöglichkeit rationaler historischer Erkenntnis aufgezeigt (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 272.). 19 Auch am Beispiel vor allem der römischen Antike wird in Les Géorgiques die Möglichkeit einer auf die ästhetische, politische oder juristische Vervollkommnung gerichteten Geschichte diskutiert. Aus Gründen des Umfangs soll in der vorliegenden Arbeit nicht auf diese Variante eines möglichen teleogischen Geschichtsbildes eingegangen werden. Vgl. hierzu S. Schreckenberg, der die Funktion des v.a. in der Motivstruktur wahrnehmbaren Rekurses auf die Antike in den teleologisch-utopischen Tendenzen und in dem neuen Geschichtsbewusstsein der Zeit Vergils und Augustus’ begründet sieht, die diese Zeit für die französischen Revolutionäre so interessant machte. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 349.) 337 où par l’effet de la pesanteur avait glissé, était venu s’amasser, s’accumuler ce que les autres pays avaient péniblement et peu à peu expulsé au cours des siècles, entassé là comme au fond d’une poche, d’un cul-de-sac, bloqué, malodorant et couvert de mouches. (G, 320) Im Anschluss wird die auf das feudale, vorrevolutionäre Spanien bezogene Metapher der Fäulnis und Verwesung ausgedehnt auf die Beschreibung der Stadt Barcelona, die als pars pro toto des ganzen Spaniens und seiner sozialen und politischen Situation zu lesen ist. Barcelona erscheint in einem Zustand fortgeschrittener Krankheit, die schon fast in das Stadium der Nekrose übergegangen zu sein scheint: „[…] l’énorme et monstreux cancer gisant là, […] secrétant [Barcelone] comme une espèce d’invisible pus, d’invisible et innommable déjection de cadavre […]“ (G, 321). Die Ursache dieser ‚Krankheit’ scheint auch in einem moralischen Verfall zu liegen, wie im Folgenden z.B. die Beschreibung der Werbeplakate für die zahlreichen Kliniken zeigt, die sich der Behandlung von Geschlechtskrankheiten verschrieben haben. Es ist aber vor allem das Elend der gesichtslosen Vorstädte, das „continuait à puer“ (G, 323) und so zu einem Sinnbild des moralischen, sozialen und hygienischen Verfalls wird, in welchem sich Spanien vor dem Beginn des Bürgerkriegs befindet. Die Phase des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit in Spanien ist jedoch nur kurz und schon bald wieder bedroht, wie auch der Text durch die Beschreibung des Stadtbildes von Barcelona als Metapher für die gesamtspanische Situation deutlich macht: […] comme ces villes restées telles quelles après le passage de quelque catastrophe, paradoxalement protégées par la violence, la soudaineté, la vitesse même d’un cataclysme brutal, quelque ouragan ou quelque pluie de cendres surprenant ses habitants en plein sommeil, puis l’ouragan déjà parti, les cendres dispersées, sans presque laisser de traces, du moins spectaculaires, […] sauf qu’on n’y voyait plus ni vieilles momies aux joues fardées, ni pékinois en laisse, ni chauffeurs en livrées, ni propriétaires de luxueuses limousines, tout ce qui de près ou de loin ressemblait ou était apparenté à une vieille momie, un pékinois ou un propriétaire de quoi que ce soit disparu, ceux qui n’avaient pas eu le temps de s’enfuir tués sans distinction de sexe ni d’espèce, les anciens chauffeurs en livrées, aux leggins vernis, vêtus maintenant de simples combinaisons de mécanos, ou en manches de chemise conduisant à tombeau ouvert les limousines à présent poussiéreuses et cabossées […] avec leurs cargaisons d’hommes aux visages farouches et naïfs de manœuvres ou de paysans analphabètes, à la fois résolus, sombres, vigilants, […] et maintenant vaguement frustrés, furibonds, ne sachant que faire, parce que dans l’autre moitié du pays c’était l’inverse qui s’était passé, qu’on avait abattu comme des animaux de boucherie tout ce qui portait des vêtements rapiécés ou avait des cals aux mains et qu’à présent c’était la guerre, […] (G, 324f.) Hier finden sich bereits Hinweise auf das bevorstehende, unglückliche Ende der kurzen ‚Revolution’ in Barcelona: So scheint dieser auf den ersten Blick erfolgreiche soziale Ausgleich zwischen den verschiedenen Klassen 338 nicht ohne tödliche Gewalt - die besitzende Schicht und mit ihr all ihre Attribute wurde entweder vertrieben oder ermordet - vor sich gegangen zu sein; eine Entwicklung, die nicht spurlos an den vorläufigen Siegern - den ehemals besitzlosen, ungebildeten und unterdrückten Schichten - vorübergegangen ist. Zumal das Ende des Krieges nicht von Dauer ist: In der anderen Hälfte Spaniens haben sich die putschende Armee und die mit ihr verbundenen Kräfte durchgesetzt und tödliche Rache an den Verteidigern der legal gewählten Regierung genommen. Aus diesem Blickwinkel ist der Fortgang der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Barcelona nicht überraschend: […] sourdement inquiets [les hommes aux visages farouches et naïfs de manœuvres ou de paysans analphabètes], rongés par cette espèce de malédiction dont ils avaient cru s’affranchir une fois pour toutes, pensé extirper de cette ville bouffie, s’épiant d’un côté à l’autre de ces luxueuses avenues, qui leur appartenaient maintenant, d’un perron à l’autre de ces palaces conquis, se soupçonnant avec cette ombrageuse et meurtrière méfiance des faibles, s’accusant les uns les autres de mollesse, puis d’incapacité, puis de trahison, d’abord à voix basse, puis par périphrases, puis, comme si le lourd et jaunâtre cancer de pierres édifié par et sur la violence, à la fois écrasant et mou, ne pouvait secréter rien d’autre que de la violence, se remettant sournoisement à tuer, entre eux à présent. (G, 325) Der Krieg, der als „apothéose“ (G, 336) begonnen hatte, endet nun in sinnloser Gewalt, die das Projekt einer Verbesserung der sozialen Situation der Armen Spaniens und eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen Klassen scheitern lässt und auf diese Weise auch die Unmöglichkeit einer zielgerichteten Entwicklung der Menschheit zu größerer Zivilisiertheit unterstreicht. Doch handelt es sich dabei um kein unvorhersehbares Ereignis, da sich in der Rückschau des Erzählers schon lange die Hinweise auf die Absurdität der von ihm erlebten Geschichte gehäuft haben: […] il lui semblait de moins en moins probable qu’il participât à une action historique: en tout cas, si action il y avait, elle apparaissait sous une forme, bruyante certes et tapageuse, de non-action, à moins d’admettre […] que l’Histoire se manifeste (s’accomplit) par l’accumulation de faits insignifiants, sinon dérisoires, tels que ceux qu’il récapitula plus tard, comme par exemple : […]. (G, 304) Die Geschichte erscheint hier nicht als zielgerichtet auf ein großes - sinnvolles - Ereignis, sondern als Aneinanderreihung unbedeutenden, absurden Geschehens, das dem absurden Ende des spanischen Bürgerkriegs - dem sinnlosen gegenseitigen Töten - den Weg bereitet. Auf ganz ähnliche Weise wie den Spanischen Bürgerkrieg kommentieren Simons Les Géorgiques auch die Französische Revolution, die ja in ihrer Funktion als Wegbereiterin der Menschenrechte nahezu unantastbar ist und in dieser Leistung in dem Roman auch entsprechend bewertet wird. Doch zeigt der Text deutlich, wie die Revolution an der eigenen Sache 339 Verrat begeht, da auch hier, wie knapp 150 Jahre später in Spanien, das hohe Ziel zugunsten einer gegenseitigen Ermordung der verschiedenen revolutionären Gruppen während der Epoche der Terreur aufgegeben wird. Die Ideale der Französischen Revolution und damit ihr Fortschrittsoptimismus werden in Simons Roman in dem Plädoyer des Generals L.S.M. für die Bestrafung Louis XVI. am deutlichsten (G, 180f., 200f., 234f.): die Errichtung der unteilbaren Republik, die Befreiung der ganzen Welt von Willkürherrschaft, die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit auch auf den König, der Kampf gegen Vorurteil und Aberglaube. Paradoxerweise leitet das Todesurteil, dessen sofortige Vollstreckung insbesondere auch von dem General mit besonderer Verve befürwortet wird, 20 den mörderischen Niedergang der Revolution ein: Vor allem im Juli/ August 1793 eskaliert der Streit zwischen den verschiedenen Gruppen - insbesondere den Girondistes und den Montagnards und später zwischen den Montagnards und den Sansculottes - in der Terreur, einer blutigen Schreckensherrschaft durch den Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre. 21 Die direkten Folgen dieser Eskalationen beschreibt der Text wiederum am Beispiel eines Stadtbildes - in diesem Fall demjenigen von Paris -, das der General bei der Errettung seiner zukünftigen zweiten Frau im Vorbeireiten wahrnimmt und das als pars pro toto für die Zustände im ganzen Land zu interpretieren ist: „[…] il avait brusquement pénétré à l’intérieur non d’une ville mais d’une sorte de champ clos, de pourrissoir où dans une puanteur de sang croupi […]“ (G, 384), „[…] ce pourrissoir, l’étouffant labyrinthe de pierres, de ruelles, de palais vides, de prisons sous son pestilentiel couvercle aux relents de sang croupi et de cadavres mal chaulés - […]“ (G, 390). Die Ähnlichkeit mit der Beschreibung Barcelonas im Bürgerkrieg liegt insbesondere in den Metaphern von Fäulnis und Verwesung 20 Der von Les Géorgiques mythisierten „alleinigen Verantwortlichkeit“ des Generals an der Hinrichtung des Königs sind mit Hans-Ulrich Thamer folgende historische Abstimmungsergebnisse entgegenzusetzen: Vom 15. bis zum 19. Januar 1793 kam es im Konvent zu mehreren Abstimmungen über das Schicksal des Königs: 673 Abgeordnete von 718 bejahten, dass Ludwig der „Verschwörung gegen die Freiheit schuldig“ sei. Von 721 Abgeordneten stimmten 387 für die Todesstrafe, 334 waren dagegen. Für die sofortige Vollstreckung des Urteils gab es 361 Ja-Stimmen und 360 Nein-Stimmen. Bei einer Neuabstimmung über den sofortigen Strafvollzug am 19. Januar waren nun schon 383 für den sofortigen Vollzug des Urteils, 310 dagegen. Am 21. Januar 1793 fand schließlich die Hinrichtung von Louis XVI. auf der heutigen „Place de la Concorde“ statt. Die Verantwortung des Generals liegt somit nur in einem relativen Bereich, stand das Todesurteil doch bereits zuvor nach einer deutlich ausgefallenen Abstimmung fest. Auch die sofortige Vollstreckung wurde in einer zweiten Abstimmung mit deutlicherem Ergebnis befürwortet. (H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 65.) 21 Vgl. hierzu ebenfalls H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 76-89. 340 begründet, die in einem übertragenen Sinne auch die verratene Revolution charakterisieren. Das Chaos, in dem sich die Revolution nunmehr befindet, wird zurückgeführt auf das Chaos der Geschichte selbst: […] comme si pendant son absence [de L.S.M.] l’Histoire avait divergé, s’était insensiblement dédoublée, se poursuivant d’un côté au grand jour, à visage découvert et à coups de canon, de l’autre obligée de s’inventer, hors de toute règle connue, tâtonnant, hésitant, dérapant, perdant pied soudain, s’affolant alors, se précipitant, se mettant à fonctionner à vide, emballée, tournant à la parodie, au bouffon : un de ces films projetés à l’accéléré, avec ses foules, ses personnages ataxiques, aux gestes incohérents, inachevés ou achevés trop tôt -, l’invisible metteur en scène pressé d’en finir, accablé par les redites d’une pièce cent fois jouée, laissant à peine aux acteurs le temps de lancer leur réplique, faisant déjà signe au suivant, tyrans, despotes pour un mois, une semaine, un jour, morts le soir d’après […] (G, 385). Es ist das Bild einer auf kürzestem Wege auf ein Ziel hin strebenden Geschichte, das hier persifliert wird: 22 Geschichte erscheint in dieser Textstelle in der Personifikation einer anscheinend betrunkenen Figur, die zunächst unsicher tastend ihren Weg sucht, um sich dann zu beschleunigen, schließlich durchzugehen, um zuletzt als Parodie ihrer selbst im Sinne eines gemächlichen, zielgerichteten Ereignisverlaufs aufzutreten. Die überstürzten und unkoordinierten Handlungen dieser Revolutionsphase werden durch den Vergleich mit einem im Schnellvorlauf gezeigten Film illustriert, wobei es sich bei dem Regisseur im Falle der Französischen Revolution möglicherweise um das Schicksal handelt, das die Akteure wie Marionetten tanzen lässt und über den Fortgang der Ereignisse entscheidet. Am Ende dieser stetigen Beschleunigung sowohl der Ereignisse als auch der Zeit steht der Stillstand, das ‚Sich-auf-der-Stelle-Drehen’ der Geschichte: […] le temps à la fois statique et emballé, l’Histoire se mettant à tournoyer sur place, sans avancer, avec de brusques retours en arrière, d’imprévisibles crochets, errant sans but, entraînant tout ce qui se trouvait à la portée de cette espèce de tourbillon […] (G, 386f.). Es sind die absurde Wiederholung der Ereignisse, das sich fortsetzende gegenseitige Morden, welche den Fortschritt der Revolution auf ein übergeordnetes Ziel hin aufhebt und den Stillstand von Zeit und Geschichte 22 S. Schreckenberg legt anschaulich dar, dass die Personifizierung der Geschichte als handelnde Figur zu lesen ist, „als Karikatur von geschichtsphilosophischen Vorstellungen […], in denen der Weltgeschichte - etwa in Gestalt des hegelianischen ‚Weltgeistes’ - ein quasi-personaler Status zukommt. Bei Simon ist die Geschichte vom Weltgeist heruntergekommen auf das Niveau eines angetrunkenen, debilen Mörders.“ (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 136.) 341 bedingt. Auch in einem größeren zeitlichen Rahmen, insbesondere mit Blick auf das 19. Jahrhundert, scheint es Beispiele für die absurde Ziellosigkeit der Geschichte zu geben: Mit der Einsetzung Napoleon Bonapartes als Konsul 1802 und seiner zwei Jahre später erfolgenden Kaiserkrönung und insbesondere mit der Restauration der Bourbonenmonarchie im Jahre 1814 kehrt die Geschichte zur Monarchie zurück. 23 In Les Géorgiques scheitert somit in letzter Konsequenz die teleologische Vorstellung von einer sinnvollen, zielgerichteten, progressiven Geschichte; diese erscheint vielmehr stets als iterativ und zyklisch 24 - die bereits gemachten historischen Erfahrungen scheinen mit jeder neuen Generation in Vergessenheit zu geraten, so dass sich nahezu dieselben Ereignisse und v.a. sinnloser Tod und sinnlose Gewalt ewig wiederholen und die kurzen Perioden des Friedens abrupt und brutal unterbrechen. 25 Ein zentrales Kennzeichen von Simons Roman ist, dass diese Geschichtsauffassung nicht nur in die Themen- und Motivstruktur des Romans eingeschrieben ist, sondern sich auch im discours wiederfindet. Dieser ist einerseits geprägt von vielfältigen Analogiestrukturen in Form von mises en abyme, die die verschiedenen historischen Epochen und die individuellen Erfahrungen, welche die Figuren in ihrer Zeit machen, miteinander verknüpfen und in einen übergeordneten Kontext einordnen. 26 Andererseits sind insbesondere im ersten Kapitel des Romans die narrative Fragmentierung und die syntaktische Diskontinuität auffällig; diese inszenieren die zerstörerische Wirkung des Krieges auf das Zeitempfinden und die Zivilisation des Menschen und prägen die Vorstellung einer sich stets wiederholenden bzw. in letzter Konsequenz stillstehenden Geschichte. Das wichtigste analogiebildende Element, welches das Leben der drei Protagonisten prägt und diese über die trennende Zeit miteinander verbindet, ist die Konfrontation mit Krieg, Gewalt und Tod, die sogar an denselben geographischen Orten in Europa stattfindet. So ist die Jugend des Kavalleristen geprägt von der Nähe zum spanischen Nachbarland und „de ces mises en scène barbares et funèbres“ - von der ritualisierten Begegnung mit Tod und Vergänglichkeit in der „Semaine sainte“ (G, 225f.). In Barcelo- 23 Dagegen betont S. Schreckenberg, dass Les Géorgiques nur la Terreur negativ bewerte, die Französische Revolution als „Ursprungsereignis der Moderne“ ebenso wie ihre „Macher“ jedoch wertschätze. In der Überschreitung und Sprengung der bisher gültigen Ordnung liege die Einzigartigkeit dieses herausragenden historischen Ereignisses, das somit einer rein zyklischen Vorstellung von Geschichte entgegenlaufe. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 327ff.) 24 Damit ist die letztendlich in Les Géorgiques vertretene Geschichtsauffassung der ‚Zyklentheorie’ zuzuordnen, die am ehesten in dem Bild „einer um eine Zeitachse oszillierenden Wellenlinie“ vorstellbar ist. (J. Schlobach: „Zyklentheorie.“ (2002), S. 345.) 25 Vgl. hierzu L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 138. 26 Hierzu z.B. N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 58. 342 na nimmt O. als Milizionär am Bürgerkrieg teil und ebenfalls in Barcelona übernimmt der General L.S.M. am Ende seiner Karriere das Amt des Militärgouverneurs. Es sind aber vor allem die deutsch-französischen Grenzlande, die einerseits für den Kavalleristen im Mai 1940 zum Ort traumatischer Kriegserfahrungen und andererseits Anfang des 19. Jahrhunderts zum wichtigen Drehpunkt der Karriere des Generals werden. Abschließend stellt sich die Frage nach der Interpretation der beiden konkurrierenden Geschichtskonzepte in Les Géorgiques. Der Text schreibt sich mit dieser Gegenüberstellung eines teleologischen und eines zyklischen Geschichtskonzepts ein in den seit der Aufklärung - genauer seit der Querelle des Anciens et des Modernes - bestehenden Diskurs über die mögliche Interpretation von Geschichte: Während die Anciens Geschichte als Abfall von der einstigen Größe der Antike begriffen, die nur durch ein bewusstes Streben nach den früheren Idealen kompensiert werden kann, sahen die Modernes die Antike erst am Anfang der Menschheitsgeschichte, die sich durch einen ständigen Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten auszeichnet. 27 Claude Simon bezieht in seinem Werk deutlich Stellung und betrachtet Geschichte als ewigen Kreislauf - als Teufelskreis - der immer selben Erfahrungen, vor allem von Tod und Gewalt, aus dem es kein Entkommen gibt. Auch herausragende Ereignisse in der Geschichte wie z.B. die Französische Revolution, die mit früheren Strukturen und Ordnungen radikal brechen und auf diese Weise auch die Wiederholungsstruktur von Geschichte auflösen, 28 werden aufgrund ihrer Korruption durch Gewalt und Tod dennoch in den großen Kreislauf von langen Kriegs- und kurzen Friedensepochen eingeordnet und damit tendenziell negativ bewertet. Die dem zyklischen Geschichtsbild inhärente Fortschritts- und Geschichtsskepsis ist von der Forschung vielfach kritisiert worden; 29 dagegen 27 Vgl. hierzu Fontenelle: „Digression sur les Anciens et les Modernes (1688).“ (1968), S. 353-365, und aus späterer Zeit exemplarisch Condorcets These von der „perfectibilité indéfinie de l’espèce humaine“ (Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) suivi de Fragment sur l’Atlantide. Introduction, chronologie et bibliographie par Alain Pons. (1988), S. 231.). Der Begriff der perfectibilité ist ein Neologismus von Rousseau (J.-J. Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes [1755]. Avec une postface de Jacques Juillard. (1996), S. 51.). 28 Dagegen die Einschätzung der Geschichtswissenschaft: „Denn es gilt als unumstritten, dass die politische Radikalisierung in den Jahren 1792 bis 1794 zu einer tieferen Zäsur im soziokulturellen Leben der Franzosen, zu einem besonders scharfen Bruch in ihren mentalen Befindlichkeiten wie in ihrem politischen Denken geführt, auf diese Weise die Ansätze einer demokratischen politischen Kultur erst verstärkt und dadurch das Verhalten und Bewußtsein der Menschen tief geprägt hat.“ (H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 89f.) 29 So z.B. N. Piégay-Gros, die die Fortschrittsfeindlichkeit des in Les Géorgiques vertretenen negativen Geschichtsbildes unterstreicht (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 86.). Auch: C. Britton: „The Georgics: The Limits of History.“ (1985), S. 97. 343 betont S. Schreckenberg, dass in Les Géorgiques Geschichte grundsätzlich bejaht werde: allerdings nicht im Sinne der großen geschichtsphilosophischen Erzählungen der Neuzeit oder einer Rückkehr in ein geschlossenes mythisches Weltbild, sondern durch die „Pluralisierung legitimierender Erzählungen und Sinnentwürfe und in einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Pluralität“. 30 6.2.2 Die schriftliche Repräsentation vergangener Wirklichkeit: Historischer Roman, Historiographie, Autobiographie und Biographie In Simons Roman Les Géorgiques werden nicht nur zwei konträre Geschichtsbilder diskutiert, sondern auch am Beispiel der jeweiligen über ihr Leben schreibenden Protagonisten verschiedene Möglichkeiten einer schriftlich fixierten Form der Vergangenheitsrepräsentation inszeniert und problematisiert. Indem Simon eine fundamentale Kritik an dem naiven Glauben einer sprachlichen Mimesis von historischen Ereignissen formuliert, greift er immer noch aktuelle Diskussionen sowohl innerhalb der Geschichtswissenschaft als auch innerhalb der Literaturwissenschaft auf, die das Verbindende und Trennende bezüglich der jeweils angewandten Verfahren zur Repräsentation vergangener Wirklichkeit zum Gegenstand haben. Im Folgenden sollen zunächst aktuelle Konzeptionalisierungen des fiktionalen ‚historischen Romans’ sowie von faktualer ‚Historiographie’, ‚Autobiographie’ und ‚Biographie’ vorgestellt und diskutiert werden, um im darauffolgenden Kapitel zu untersuchen, inwiefern diese Konzepte der Vergangenheitsdarstellung Eingang in die thematische und narrative Struktur von Simons Roman gefunden haben. Eine knappe, doch zutreffende Definition des ‚historischen Romans’ beschreibt diesen als „[…] einen Typus des Romans, der einen geschichtlichen, dokumentarisch verbürgten Stoff (Personen, Ereignisse, Entwicklungen, Lebensverhältnisse) in fiktionalen Konstruktionen darstellt.“ 31 Laut E. Lämmert weisen klassische, realistische historische Romane folgende Kennzeichen auf: einen „[…] fiktive[n] mittlere[n] Held und eine Konfiguration bekannter historischer Personen und Ereignisse, eine grosso modo quellengetreue Nachzeichnung geschichtlicher Hauptvorgänge wie Kriegszüge, Erbstreitigkeiten, Familienmorde und Volksaufstände nach verbürg- 30 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 140f. 31 J. Holzner: „Roman, historischer.“ (2002), S. 260. Großes gattungsprägendes Vorbild waren die Waverly novels Sir Walter Scotts (1814ff.); einschlägige Verfasser realistischer historischer Romane in Frankreich sind Victor Hugo, Prosper Mérimée, Stendhal, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert und Guy de Maupassant. 344 ten Quellen, und das ganze verlebendigt durch die Einwebung eines erfundenen persönlichen Lebens- und Liebesgeschickes […].“ 32 Doch blieben - wie z.B. M.A. Weinstein nachweist - die im Folgenden noch zu skizzierenden Paradigmenwechsel in der Geschichtsphilosophie nicht ohne Auswirkung auch auf die Gattungsbildung des historischen Romans: The change in the philosophy of history over the last 150 years is reflected in the tradition of the historical novel. There too the world of objective fact has disappeared. History in the novel has become a continuous interaction between the protagonist and his facts, an unending dialogue between the present and the past. The protagonist is a hero of thought, using all possible means to recreate the past: reason, imagination, dream, impersonation, identification, and guesswork. His conclusions are admittedly unsubstantiated, but they are the only ones available. Even his creator, the author, cannot go beyond his creature’s vision of history. 33 A. Nünning hat vor einiger Zeit die erste umfassende Typologie des historischen Romans vorgelegt, die auch die von Weinstein skizzierten neueren Ausprägungen der Gattung berücksichtigt. Er gelangt zu einer Unterscheidung von fünf Typen literarischen historischen Erzählens: ‚dokumentarische historische Romane’, ‚realistische historische Romane’, ‚revisionistische historische Romane’, ‚metahistorische Romane’ und ‚historiographische Metafiktion’. 34 In einer neueren Arbeit beschreibt er die in der typologischen Ausdifferenzierung wahrnehmbaren Veränderungen innerhalb der Gattung des historischen Romans als einen „Prozess fortschreitender Hybridisierung“: „Im Zuge dieses Prozesses hat sich die Fiktion nicht nur den Gegenstandsbereich der Geschichte angeeignet, sondern auch die Spezial- 32 E. Lämmert: „Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman.“ (1985), S. 237. 33 M.A. Weinstein: „The Creative Imagination in Fiction and History.“ (1976), S. 268. 34 A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 256- 292; auch: A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 25-32. Der Begriff ‚historiographic metafiction’ wurde von L. Hutcheon geprägt (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988): „By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages […]“ (S. 5.). An anderer Stelle schreibt sie präziser: „Historiographic metafiction refutes the natural or common-sense methods of distinguishing between historical fact and fiction. It refuses the view that only history has a truth claim, both by questioning the ground of that claim in historiography and by asserting that both history and fiction are discourses, human constructs, signifying systems, and both derive their mayor claim to truth from that identity. […] The ‚real’ referent of their language once existed; but it is only accessible to us today in textualized form: documents, eye-witness accounts, archives. The past is ‚archaeologized’, but its reservoir of available materials is always acknowledged as a textualized one.” (Ebd., S. 93.) 345 diskurse der Historiographie und der Geschichtstheorie.“ 35 Nünning legt dar, dass sich die genannten fünf Varianten des historischen Romans „ausgehend von der Selektionsstruktur und der Relationierung und Gestaltung der Erzählebenen“ auf einem Kontinuum zwischen zwei Polen - der ‚fiktionalisierten Historie’ sowie der ‚historiographischen Metafiktion’ bzw. ‚metahistoriographischen Fiktion’ - bewegen. 36 Texte, die eher dem Typus der ‚fiktionalisierten Historie’ zuzurechnen sind, sind sehr heteroreferentiell ausgerichtet; historisch belegte Ereignisse bilden den wichtigsten außertextuellen Referenzbereich. Das Erzählen selbst bzw. die Erzählinstanz werden kaum thematisiert; die Geschichtsdarstellung findet hauptsächlich auf der diegetischen Ebene statt. Hingegen beziehen sich die zum entgegengesetzten Pol der ‚historiographischen Metafiktion’ bzw. ‚metahistoriographischen Fiktion’ tendierenden Texte autoreferentiell verstärkt auf sich selbst, was sich in einer „ausgeprägten Dominanz der fiktionalen und metafiktionalen Elemente gegenüber Elementen der außertextuellen Realität“ offenbart. In diesen Romanen stellen nicht geschichtliche Ereignisse, sondern historiographische und geschichtstheoretische Fragen den primären Referenzbereich der außertextuellen Bezüge dar. Einher mit dieser Verlagerung des Erzählens auf metafiktionale Komponenten und Reflexionen über historiographische Probleme geht oftmals die metanarrative Thematisierung der erzählerischen Vermittlung, die nun gegenüber der Ebene des eigentlichen Geschehens in den Vordergrund rückt. 37 Interessanterweise wendet sich Simon nicht nur gegen die philosophischen Konzepte wie z.B. den Positivismus und den Empirismus, die sich hinter der Auffassung von einer grundsätzlich möglichen mimetischen ‚Abbildung’ vergangener Wirklichkeit verbergen, sondern auch gegen die nicht nur in seinen Augen überkommene Ästhetik traditionellen historischen Erzählens. So beschreibt A. Nünning ausführlich verschiedene innovative ‚Darstellungstendenzen’, die für (post-)moderne historische Romane im Gegensatz zu traditionellen Gattungsausprägungen charakteristisch sind, 38 während auf geschichtswissenschaftlicher Seite D. Fulda konstatiert, 35 A. Nünning: „Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans.“ (2002), S. 545. 36 Ebd., S. 549. Nünning nimmt keine definitorische Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen vor. 37 Ebd., S. 550. 38 Hierzu zählen die Semantisierung von Räumen, Gegenständen, Ereignissen zur Darstellung der Bedeutung, die Orte und ‚Erinnerungsräume’ für das Geschichtsbewusstsein und die Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses haben können; die Semantisierung von Erinnerungsprozessen, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen zur Darstellung subjektivierter, fragmentierter und entteleologisierter Geschichte; ein hohes Maß an Intertextualität; die Bevorzugung von analytischen Erzählstrukturen, 346 dass die Geschichtswissenschaft bezüglich des von ihr vertretenen Textmodells „nicht allein den Eintritt in die sog. Postmoderne verpaßt [hat], sondern bereits den von der literarischen Moderne vollzogenen Abschied von der goethezeitlich-realistischen Textorganisation.“ 39 Zugleich fordert er, „die betroffenen Strukturen schleunigst zu modernisieren, die eingerissene Ungleichzeitigkeit von Ästhetik und Geschichtstheorie zu überwinden.“ 40 In diesem gattungstheoretischen Kontext - so meine These - übt Simon in Les Géorgiques im Einklang mit zentralen Postulaten der (post)modernen Geschichtstheorie Kritik an traditionellen - historiographischen und literarischen - Verfahren der mimetischen Vergangenheitsrepräsentation und entwickelt dabei eigenständige Formen von fiktionaler Geschichtskonstruktion. In der Geschichtswissenschaft ist in den vergangenen vierzig Jahren eine sehr kontroverse Diskussion darüber entbrannt, ob es etwa Parallelen zwischen einerseits dem faktualen historischen Erzählen und andererseits dem literarischen, fiktionalen historischen Erzählen gebe. 41 Ausgelöst wurde die Debatte durch das Erscheinen verschiedener Studien insbesondere von Arthur C. Danto und Hayden White, 42 welche die große Nähe zwischen prononciert personalisierten und subjektivierten Erzählinstanzen sowie die einer ausgeprägten Erzählillusion; die multiperspektivische Auffächerung des erzählten Geschehens und die damit einhergehende Pluralisierung von Geschichte (history) zu Geschichten (stories); ein hohes Maß an metafiktionalen und selbstreflexiven Elementen. (A. Nünning: „Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans.“ (2002), S. 553f.) 39 D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 47. D. LaCapra beschreibt ein solches Erzählen in seinen extremen Ausformungen bestehend aus „teilnahmslosen, trockenen und unverbindlichen Feststellungssätzen in der dritten Person Perfekt”. (D. LaCapra: Geschichte und Kritik. (1987), S. 106f. ) 40 D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 47. 41 In jüngerer Zeit hat J. Rüsen den Versuch unternommen, die beiden kontroversen Positionen miteinander zu verbinden: Unter Rückgriff auf die Darstellungsmodi von Rankes - die Gleichrangigkeit von (wissenschaftlichem) Forschungsaspekt und (literarischem) Darstellungsaspekt - weist er auf die „Vergegenwärtigung der Vergangenheit [hin], durch die sie ‚Leben’ in der Gegenwart gewinnt[.]“ Diese ‚Vergegenwärtigung’ geschieht allein durch Sprache, bzw. genauer: durch die Rhetorik, wie die Vergabe des Literaturnobelpreises 1902 an Theodor Mommsen für seine Römische Geschichte beweist (J. Rüsen: „Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke.“ (1990), S. 2ff.). 42 A.C. Danto: Analytical Philosophy of History. (1965); H. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. (1973). Auf französischer Seite ist R. Barthes: „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002) richtungsweisend für eine poststrukturalistische Bestimmung des historischen Diskurses geworden. 347 historiographischen und literarischen Verfahren einer narrativen Textkonstitution herausarbeiten: „Historians describe what happened by means of narratives, they are, since a narrative itself is a way of organizing things, and so ‚goes beyond’ what is given, involved in something one might call ‚giving an interpretation’.“ 43 In einem späteren Aufsatz erweitert H. White den Gegenstandsbereich des Begriffs narrative um die vergangene Wirklichkeit selbst: For the narrative historian, the historical method consists in investigating the documents in order to determine what is the true or most plausible story that can be told about the events of which they are evidence. […] The story told in the narrative is a mimesis of the story lived in some region of historical reality, and insofar as it is an accurate imitation, it is to be considered a truthful account thereof. 44 Auch wenn das Narrative bzw. Literarische schon seit der Aufklärung seinen umstrittenen Ort in der Historiographie hatte, 45 erlangt die Auseinandersetzung insbesondere mit den Thesen Hayden Whites eine neue Qualität. Es ist der linguistic turn - „[…] das Bewusstsein von der sprachlichen Bedingtheit, Zeichenvermitteltheit und Konstrukthaftigkeit jeglicher Wirklichkeitserfahrung und Erkenntnis“ 46 -, der die Historiographie erreicht hat 43 A.C. Danto: Analytical Philosophy of History. (1965), S. 140f. Dieser Überzeugung von den Parallelen zwischen Historiographie und Literatur bezüglich der Verwendung literarischer Erzählmuster hängt zwanzig Jahre später auch noch L. Hutcheon an, sie weist jedoch darüber hinaus auch auf die beiderseitige Verstrickung in empiristische und positivistische Ideologien hin: „[…] they [historiography and literature] share the same questioning stance towards their common use of conventions of narrative, of reference, of the inscribing of subjectivity, of their identity as textuality, and even of their implication in ideology. In both fiction and history writing today, our confidence in empiricist and positivist epistemologies has been shaken - shaken, but perhaps not yet destroyed.” (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 106.) 44 H. White: „The question of narrative in contemporary historical theory. [1984].“ (1987), S. 27. 45 Vgl. hierzu die konzisen Überblicke, in denen sowohl D. Fulda als auch A. Nünning die sich im Laufe der Historiographiegeschichte vollziehende Entfremdung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung beschreiben. (D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 36-43; D. Fulda und S.S. Tschopp: Literatur und Geschichte: ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. (2002); A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 356-358.) Mit D. Fulda lässt sich formulieren: „Je dezidierter die Historie sich in der Folge als Wissenschaft verstand, desto mehr neigte sie allerdings dazu, ihre ästhetisch-poetische Konstruktivität und Prägung zu verdrängen.“ (D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S 42.) 46 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 353. 348 und nun die Textualität von Geschichte und Geschichtsschreibung betont, liegt die Vergangenheit doch insbesondere in Form von Textquellen bzw. von nicht- oder nur teiltextuellen Quellen vor, über die von den Historikern dann wiederum neue interpretative Sekundärtexte verfasst und untereinander ausgetauscht werden. 47 H. White erweitert diese These jedoch noch, indem er ‚Erzählung’ grundsätzlich mit ‚Fiktion’ gleichsetzt und den Status einer historischen Erzählung definiert als „[…] a verbal artifact purporting to be a model of structures and processes long past and therefore not subject to either experimental or observational controls.“ 48 Historische Erzählungen sind seiner Ansicht nach somit „[…] verbal fictions, the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more in common with their counterparts in literature than they have with those in sciences.“ 49 Ansgar Nünning 50 hat in jüngerer Zeit H. Whites simplifizierendes Konzept vom historiographischen Erzählen als einer Variante literarischen, fiktionalen Erzählens kritisiert und dabei festgestellt, dass White einerseits die unterschiedlichen Modi der Referenz ignoriere, wenn er behauptet, auch der Inhalt historiographischer Werke sei ‚erfunden’. Außerdem beschränke sich White in seinen Ausführungen seiner Analyse allein auf die Strukturierung des Erzählten auf der Ebene der Geschichte und vernachlässige darüber völlig die Aspekte der erzählerischen Vermittlung. 51 47 Vgl. hierzu die Bemerkung M. de Certeaus zum paradoxen Begriff ‚Historiographie’: hierunter versteht er das „[…] Paradox - und beinahe das Oxymoron - einer zwischen zwei antinomischen Begriffen, der Wirklichkeit und dem Diskurs, hergestellten Beziehung. Ihre Aufgabe [der Historiographie] ist es, die beiden zu verbinden und dort, wo die Verbindung unvorstellbar ist, so zu tun, als ob sie sie verbinde.“ (M. de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. (1991), S. 9.) 48 H. White: „The Historical Text as Literary Artifact. [1974].“ (1985), S. 82. 49 Ebd. Auch R. Koselleck spricht auf ähnliche Weise von der „Fiktion des Faktischen“ und beschreibt damit den Umstand, dass die „[…] Faktizität ex post ermittelter Ereignisse nie identisch ist mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge.“ Doch betont er, dass die Quellenkontrolle verhindere, dass ein geschichtliches Ereignis beliebig oder willkürlich setzbar ist. (R. Koselleck: „Ereignis und Struktur.“ (1973), S. 567.) 50 Auch M. Fludernik hat in einer kritischen Lektüre der Thesen Whites trotz einiger Ähnlichkeiten auf die fundamentalen Differenzen auf der Produktions- und Rezeptionsebene historischer bzw. fiktionaler Texte hingewiesen; zu nennen sind hier insbesondere die ‚Authentizitätsbzw. Fiktionalitätssignale’ (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), 83.). 51 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 363. Ausführlicher in A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 129ff. Vor A. Nünning hat bereits F.K. Stanzel allgemein auf die Unterschiede zwischen historischem und literarischem Erzählen hingewiesen, so auf die unterschiedlichen Erzählertypen, auf die Dichotomie Quellen vs. Geschichte sowie auf die differierende Tempusverwendung (Präsens vs. Präteri- 349 Im Gegensatz zu Whites Auffassung besteht laut A. Nünning [d]ie Besonderheit literarischer Erzählungen zum einen darin […], daß deren Fiktionalität in der Regel durch eine Vielzahl von paratextuellen und textuellen Indikatoren explizit oder implizit markiert ist. Zum anderen zeichnen sich fiktionale Erzähltexte durch ein breites Spektrum von Privilegien bei der Auswahl und erzählerischen Vermittlung des Geschehens aus, die ebenfalls die Fiktionalität des jeweiligen Textes signalisieren. 52 Es ist also insbesondere die spezifische metafiktionale Qualität literarischer Texte - der implizite und explizite Verweis auf den eigenen fiktionalen Status -, die diese von faktualen bzw. historischen Texten unterscheidet. Eine ähnliche Entwicklung wie in der Historiographie ist auch in der Forschung zur Autobiographie zu beobachten. Definierte P. Lejeune die autobiographie Anfang der 1970er Jahr noch sprachoptimistisch als einen „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de son propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité“ 53 und verlieh auf diese Weise dem autobiographischen Lebensbericht den Status einer historischen Quelle, blieb der linguistic turn nicht ohne Auswirkungen auch auf die Definition der Autobiographie. So schlägt sich die postmoderne These von der „sprachlichen Verfasstheit von Subjektivität und Individualität“ 54 auch in neueren Auffassungen des autobiographischen Diskurses nieder: Dieser sei ein „Tatsachenbericht, der äußere Lebensereignisse widerspiegel[e]“ 55 , das Subjekt „konstituier[e] sich als sprachliches in eben der Diskursivierung seiner Welt.“ 56 Seit den 1980er Jahren scheint sich ein Ausgleich zu vollziehen zwischen einerseits der essentialistischen Position, welche Autobiographie als authentischen Ausdruck des autonomen Subjekts betrachtet, und andererseits der dekonstruktivistischen Position, die das ‚Ich’ immer nur innerhalb von Diskursen konstituiert sieht. 57 Die zeitgenössische Forschung betrachtum). (F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 114f.) 52 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 377. Ebenso: A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 173ff. 53 P. Lejeune: „Le pacte autobiographique.“ (1973), S. 138. Die notwendige Bedingung für den autobiographischen Pakt ist die Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur; diese ist durch die Namensidentität nachweisbar. (Vgl. ebd. S. 138, 145.) 54 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 11. 55 Ebd., S. 30. 56 A. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. (1999), S. 40. 57 M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 171. Vgl. ebenso C. Gronemann: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Li- 350 tet Autobiographie nicht mehr als Repräsentation verbürgter Identität, sondern als ein identitätsstiftendes Verfahren; 58 es wird insbesondere die „narrative Konstitution des Subjekts im autobiographischen Akt“ 59 betont: We assume that life produces the autobiography as an act produces its consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of self-portraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium? And since the mimesis here assumed to be operative is one mode of figuration among others, does the referent determine the figure, or is it the other way round: is the illusion of reference not a correlation of the structure of the figure, that is to say no longer clearly and simply a referent at all but something more akin to a fiction which then, however, in its own turn, acquires a degree of referential productivity? 60 Neben der Narrativität der autobiographischen Identitätskonstruktion steht somit heute vor allem die Fiktionalität des autobiographischen Diskurses im Zentrum der Aufmerksamkeit: „[…] in the last twenty years, the pervasive initiative has been to establish autobiography as an imaginative art, with special emphasis on its fictions.“ 61 Die traditionelle Autobiographik begreift sich noch als referentielles Genre, indem sie Bezug auf das Subjekt und die Biographie eines Autors nimmt, die damit als außersprachliche, in der Wirklichkeit angesiedelte Größen konzipiert werden. Ziel ist die Erlangung von Authentizität im Sinne einer plausiblen Zusammenfügung von konkreten biographischen Ereignissen; dies kann nur ein zuverlässiger, in der Regel auktorialer Erzähler und die von ihm hergestellte textuelle Kohärenz garantieren. 62 Im Gegenzug hat sich die ‚neue’ 63 - manchmal auch ‚fiktional’ genannte 64 - Autobiographie trotz weiterhin zumindest im Ansatz bejahter Refeteratur. Autofiction - Nouvelle Autobiographie - Double Autobiographie - Aventure du texte. (2002), S. 16ff. 58 M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 172. 59 Ebd., S. 184. 60 P. de Man: „Autobiography as De-facement.“ (1979), S. 920f. 61 P.J. Eakin: Touching the World: Reference in Autobiography. (1992), S. 29. 62 C. Gronemann: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction - Nouvelle Autobiographie - Double Autobiographie - Aventure du texte. (2002), S. 24f. 63 Die Gattungsbezeichnung wurde von A. Robbe-Grillet geprägt, der diese etwas diffus auf die autobiographischen Texte einiger Nouveaux Romanciers aus den 1980er Jahren applizierte: So wie sich der Nouveau Roman vom realistischen Roman des 19. Jahrhunderts abgesetzt habe, so handele es sich bei diesen Texten im Sinne einer nouvelle autobiographie um Gegenentwürfe zur traditionellen Autobiographie, die häufig die Memoiren eines alten Schriftstellers oder Generals präsentiere; Ziel sei die retrospektive Erlangung der Konsistenz, die das Leben verweigert habe. (A. Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie. Übersetzt von Hans Rudolf Picard. (1987), S. 23f.) 351 rentialität 65 von den zentralen Postulaten der traditionellen Autobiographik verabschiedet: das ‚Ich’ wird nicht mehr als eine der Sprache präexistente und durch sie repräsentierbare Größe aufgefasst; Sprache selbst erscheint nicht mehr als transparentes Medium, das unvermittelten Zugang zur Welt der Referenzen hinter dem Text bietet; die chronologisch organisierte biographische Erzählung stellt nicht mehr die einzig angemessene Form der Autobiographie dar. 66 Im Zentrum neuerer Autobiographie-Konzepte steht die Herausarbeitung der besonderen Fiktionalität des autobiographischen Diskurses: dieser wird als „fiktiver Entwurf eines Lebens“ begriffen und der „hybride Charakter dieser Textsorte zwischen Fakt und Fiktion“ betont. 67 Dabei resultiert die Fiktionalisierung der biographischen Fakten im Verlauf des autobiographischen Schreibens insbesondere aus Stilisierungen, Verfälschungen und Erinnerungslücken: Autobiographie ist weniger die objektive und lückenlose Dokumentation eines Lebens als seine erinnernde Neuschöpfung 68 - „[…] la rétrospection conduit immanquablement à la constitution d’un individu fictif, détaché du temps de l’énonciation.“ 69 Es ist insbesondere das Zusammenspiel von Erinnerung und Imagination, 70 das den fiktiven Status der erzählten Lebensereignisse begründet: da das Gedächtnis einerseits defizitär ist, springt die Vorstellungskraft zum Ausgleich der Lückenhaftigkeit ein. Andererseits werden bestimmte unangenehme Ereignisse vergessen im Sinne einer unbewussten oder auch bewussten Verdrängung bzw. einer Zensur durch das Unbewusste, so dass 64 D. Cohn definiert den ontologischen Status des jeweiligen Sprechers als zentrales Merkmal zur Unterscheidung zwischen realen und fiktionalen Autobiographien: einerseits die Identität zwischen Autor und autobiographischem Erzähler und andererseits die Schaffung eines imaginären Sprechers. (D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 13.) 65 Wie J.M.L. den Toonder betont, handelt es sich bei den außertextuellen Referenzen der Autobiographie um ihre elementare - und notwendige! - Bedingung: „[…] sans elles il serait impossible de lier le livre à la vie de l’auteur.“ (J.M.L. den Toonder: „Qui est-je? “ L’écriture autobiographique des nouveaux romanciers. (1999), S. 16.) 66 P.J. Eakin: Touching the World: Reference in Autobiography. (1992), S. 30. 67 A. Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie.“ (1995), S. 287f. Vgl. ebenso M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 14; M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 169; M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 5. 68 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 39ff. 69 R.-M. Allemand und C. Milat: „’Nouveau Roman’, ‘Nouvelle Autobiographie’? “ (2004), S. 19. Vgl. auch die Autobiographie von R. Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes. (1975), S. 60: „le sujet n’est qu’un effet de langage“. 70 Siehe hierzu auch die Verbindungen zwischen der in La Route des Flandres entwickelten Gedächtnispoetik und neueren theoretischen Entwicklungen in der Gedächtnispsychologie. 352 auch hier die schöpferische Kraft der Imagination beim Entwurf von biographischen Alternativen tätig wird. 71 Die neue Autobiographie kennt verschiedene Verfahren, um die Subjektivität und die sich dadurch bedingende Fiktionalität des autobiographischen Lebensentwurfs zu repräsentieren: insbesondere durch die Auflösung der chronologischen, kausale Kohärenz suggerierenden Erzählweise 72 soll der assoziative Charakter des Erinnerns als (scheinbar) ungerichtete Abfolge von Bildern, Träumen und Ereignissequenzen sprachlich imitiert werden. 73 Ferner wird der auktoriale und zuverlässige Erzähler der traditionellen Autobiographie in der modernen Ausprägung abgelöst durch Polyperspektivität, Perspektivenwechsel, unreliability 74 und die variable Gestaltung des Erzähler-Ichs. 75 Aus der Psychologie und der antiken Rhetorik übernommene Konzepte betreffen die Visualität 76 der Erinnerung: so illustrieren Rückgriffe auf in der kulturellen Tradition verankerte Bild- und Wahrnehmungsmuster - die sogenannten Topoi -, sowie auf im kulturellen Gedächtnis abgelegte loci und imagines die spezifische Arbeit des Gedächtnisses. Durch die Intermedialität des in den autobiographischen Diskurs integrierten Materials einerseits und durch die Verräumlichung der Textstrukturen andererseits soll das „Denken in Bildern“, soll die topologische Ordnung des Gedächtnisses, repräsentiert werden. 77 Nicht zuletzt finden sich typischerweise extensive metanarrative Passagen, die der Selbstanalyse des Erkenntnissubjekts dienen, aber auch selbstreferentiell auf den eigenen Text bzw. die Gattung als solche Bezug nehmen. Dies kann in Form von Gattungsironie sowie - markierten und unmarkierten - intertextuellen Verweisen geschehen, aber auch als argumentative Reflexionen der eigenen Schreib- und Erinnerungstätigkeit. Allgemein soll auf diese Weise einerseits die besondere Qualität des autobiographischen Diskurses, seine Ansiedlung auf der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, aufgedeckt und andererseits die spezifischen autobiographischen narrativen Verfahren thematisiert werden. 71 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 43-48. 72 A. Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie.“ (1995), S. 290. 73 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 49. 74 Vgl. hierzu M. Löschnigg, der die Funktion des unreliable narrator - des ‚unzuverlässigen’ Erzählers - in der Autobiographie darin sieht, eine „subjektive, selektive Sicht“ der Erfahrung zu präsentieren. (M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 183.) 75 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 45. 76 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 88. 77 Ebd., S. 12-15. 353 Der Hauptunterschied zwischen Autobiographie und Biographie besteht nun darin, dass es sich bei letzterer um eine „von der historisch beglaubigten Person nicht selbst erzählte Lebensgeschichte“ 78 handelt; ansonsten finden sich aber zwischen den beiden Gattungen sehr viele übereinstimmende Strukturmerkmale und Entwicklungslinien bis hin zur oben beschriebenen Fiktionalisierung. 79 Dorrit Cohn unterscheidet verschiedene Typen faktualer und fiktionaler Biographien: die historical biography, in welcher das Leben einer historischen Person im faktualen Erzählmodus beschrieben wird; die fictional historical biography, die das Leben einer historischen Person im fiktionalen Diskurs wiedergibt; die historicized fictional biography, in der ein nicht-fiktionaler (historiographischer) Diskurs das Leben einer fiktiven Figur beschreibt; und schließlich die fictional biography, welche die Vita einer fiktiven Figur im fiktionalen Modus darstellt. Ähnlich der traditionellen Autobiographie besaß auch die faktuale Biographie lange den Status einer historischen Quelle; die erzählten Ereignisse müssen nach historiographischem, psychologischem, medizinischem, ökonomischem oder geographischem Wissen verifizierbar sein. Ebenso finden sich häufig historiographische Repräsentationsverfahren wie Fußnoten oder der Hinweis auf Forschungskontroversen sowie historiographische Verfahren der Kohärenzerzeugung wie Evaluierung der Daten bzw. der Ergebnisse früherer Forscher und früherer wissenschaftlicher Forschung. 80 Doch allem wissenschaftlich-objektiven Anschein zum Trotz findet sich auch in der faktualen Biographie die Subjektivitätsproblematik des Biographen wieder, dessen eigene Sichtweise der Dinge in die Auswahl der berichteten Ereignisse und in ihre Anordnung mit einfließt. 81 Im Gegensatz zur faktualen Biographie erhebt die fiktionale Biographie den Anspruch „[…] that the truth of poetry as opposed to the truth on an expository statement, that the essential rather than the factual reality is being expressed.“ 82 Es geht in der fiktionalen Variante der Biographie demnach weniger darum, das Leben einer historischen Persönlichkeit an- 78 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 29. 79 Interessant ist die „Doppelfunktion“ der Biographie: Diese ist ja nicht nur Biographie des historischen Subjekts, sondern zugleich immer auch Autobiographie des Beschreibenden. (Vgl. hierzu H. Scheuer: „Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung.“ (1982), S. 11.) 80 Hierzu I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 5-9. 81 Ebd., S. 10. Ebenso H. Scheuer: „Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung.“ (1982), S. 16. 82 I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 4. In einer späteren Arbeit definiert Schabert genauer den fiktionalen Aspekt dieser Subgattung der Biographie als „[…] the essentially imaginative approach to the task of re-enacting and communicating the reality of life.” (I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 4.) 354 hand möglichst vieler Fakten darzulegen, sondern vielmehr darum, das Essentielle eines Charakters herauszuarbeiten. Hier liegt auch die große Nähe der fiktionalen Biographie zum zeitgenössischen Roman begründet: „FICTIONAL BIOGRAPHY is engaged in the comprehension of real historical individuals by means of the sophisticated instrument of knowing and articulating knowledge that contemporary fiction offers.” 83 Wie D. Cohn zeigt, greift die fiktionale Biographie häufig auf eigentlich dem Roman vorbehaltene Verfahren der Repräsentation innerer Rede zurück, wie z.B. psychonarration oder free indirect style. 84 Diese Mischformen aus faktualer Biographie und fiktionalem Roman bezeichnet Cohn einerseits als hybrid biography - „[which] are characterized by their unlimited irradiation of the minds of their historical subjects“ 85 - und andererseits als fake biography - „a novel that acts like a biography” 86 : „[…] in lieu of applying fictional discourse to bring a historical figure to life, it applies historical discourse to bring a fictional figure to life.” 87 Demgegenüber schlägt I. Schabert einen weiteren Subtypus der fiktionalen Biographie vor: die imaginative biography. Diese „[…] has claimed […] a special knowledge resulting from an existential engagement of the biographer in the person of the biographee; [imaginative] biographies would be based on fellow-feeling, sympathy, intuition, imagination, imaginative sympathy.” 88 83 I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 4. Dennoch muss laut Schabert eine Grenze zum biographischen Roman vor allem des 19. Jahrhunderts gezogen werden, in welchem die ‚novelistic patterns’ überhand nehmen über die Darstellung der historischen Lebensgeschichte, so dass „[…] the historical facts are throroughly assimilated to conventions of literary plot and literary character portrayal, novelistic invention and amplification.“ Hingegen soll in der fiktionalen Biographie die spezifische historische Vergangenheit eines menschlichen Lebens die romanhaften Muster brechen, um auf diese Weise der individuellen Realität möglichst nahe zu kommen. (Ebd., S. 31f.) 84 D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 10f. In der deutschen Terminologie entspricht der psychonarration der ‚Gedankenbericht’ und dem free indirect style die ‚stumme erlebte Rede’ (Hierzu M. Löschnigg: „Gedankenbericht.“ (1998)). 85 D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 11. Vgl. zu den Verfahren der hybriden Biographie I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 11f. 86 D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 11. 87 Ebd., S. 12. In einem späteren Aufsatz definiert Cohn diese Subgattung der fiktionalen Biographie wie folgt: „[…] it creates the life of a wholly imaginary character by way of the standardized discourse of historical biography.“ (D. Cohn: „Breaking the code of fictional biography. Wolfgang Hildesheimer’s Marbot. „ (1992), S. 303.) 88 I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 57. Der Unterschied zwischen beiden Gattungen liegt in der Extensivität der Imagination: Während in der fiktionalen Biographie der ganze Text als ein „conditional statement“ präsentiert wird und damit das gesamte Wissen über das Innenleben historischer 355 In jüngster Zeit hat A. Nünning 89 seine ‚Prolegomena’ zur Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte der fiktionalen (Dichter-)Biographie vorgelegt und ihren Wandel zur biographischen Metafiktion verfolgt. 90 Er postuliert für die fiktionale englische Dichterbiographie - das sind „[…] Werke […], die die Lebensgeschichte eines Schriftstellers im Medium der Fiktion darstellen“ 91 - einen Paradigmenwechsel hin zu innovativen Gattungsausprägungen, die er als ‚biographische Metafiktion’ bzw. als ‚fiktionale Metabiographie’ bezeichnet. 92 Diese „[…] rücken den Prozeß der imaginativen Rekonstruktion und Darstellung des Lebens einer (mehr oder weniger) berühmten Person in den Mittelpunkt und zeichnen sich durch ein hohes Maß an ästhetischer, historiographischer und biographischer Personen imaginiert ist (vgl. die von Cohn genannten Verfahren zur Wiedergabe innerer Rede), überbrückt in der imaginativen Biographie der Verfasser nur quellenarme Lebensperioden mit Imaginationen und Hypothesen. (Ebd., S. 61.) 89 Die Unterschiede zwischen den einerseits von D. Cohn und I. Schabert und andererseits von A. Nünning vorgeschlagenen Typologien zur fiktionalen Biographie liegen vorrangig in der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Während Cohn und Schabert nach Merkmalen einer graduellen Fiktionalisierung der ursprünglich faktualen Biographie suchen und innerhalb der fiktionalen Biographie verschiedene „Grade“ an Fiktionalität ausmachen, die in erster Linie auf der in faktualen historiographischen Texten unmöglichen Wiedergabe der Innenwelt Dritter beruhen, unterscheidet Nünning innerhalb der fiktionalen Biographie eine zunehmende Metafiktionalisierung bzw. ‚Metabiographisierung’. 90 A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000). Auf nicht ganz überzeugende Weise oszilliert Nünning in seinen Ausführungen zwischen Aussagen, die allein das Genre der ‚fiktionalen (englischen) Dichterbiographie’ betreffen, und solchen, die allgemeiner auf die fiktionale Biographie als solche zielen. Es stellt sich bei der Lektüre seines Aufsatzes wiederholt die Frage, ob seine aus der Analyse der speziellen Subgattung der fiktionalen Dichterbiographie gewonnenen Ergebnisse auch Allgemeingültigkeit für die fiktionale Biographie insgesamt und ihre Subgenres besitzen. 91 Ebd., S. 20. 92 Der grundsätzliche Unterschied zwischen diesen beiden Formen biographischer Vergangenheitsrekonstruktion besteht laut Nünning darin, dass in traditionellen fiktionalen Biographien „die Differenz zwischen faktischem Geschehen und erzählter Geschichte, den res gestae und der historia rerum gestarum, weitgehend verdeckt oder gar nivelliert wird.“ Dagegen „[…] hebt biographische Metafiktion sowohl deren Diskontinuität als auch die für den historischen und biographischen Roman konstitutiven Spannungen zwischen Fiktion und Historie, zwischen Kunst und Wissenschaft, hervor [; ] […] die Aufmerksamkeit liegt auf [der] Kluft zwischen dem (vergangenen) Leben und dessen narrativer oder dramatischer Repräsentation.“ (Ebd., S. 24f.) Nünning betont, dass zwischen diesen beiden Idealtypen fiktionaler Biographie ein breites Spektrum verschiedener Erscheinungsformen anzutreffen ist; es handelt sich also um ein Formenkontinuum und nicht um eine dichotomische Opposition. (Ebd., S. 25.) 356 Selbstreflexivität aus.“ 93 Im Zentrum stehen also neben der Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer historischen Person die Tätigkeit des Biographen selbst sowie die Probleme, die sich bei der Rekonstruktion und Darstellung von Lebensgeschichten ergeben. 94 In Analogie zu seiner Typologie für den historischen Roman und seine jüngeren innovativen Ausprägungen unterscheidet A. Nünning vier Typen der fiktionalen Biographie: die ‚dokumentarische fiktionale Dichterbiographie’, die ‚realistische fiktionale Dichterbiographie’, die ‚revisionistische fiktionale Dichterbiographie’ sowie die ‚fiktionale oder metafiktionale Metabiographie’. 95 Im folgenden beschreibt er verschiedene Merkmale, welche die zwei letztgenannten Typen charakterisieren: die revisionistische Ausprägung der Dichterbiographie zeichnet sich im Unterschied zu den realistischen Formen der Gattung durch die Erschließung neuer Themenbereiche aus, wendet dazu verstärkt experimentelle Erzählverfahren an und setzt sich kritisch mit etablierten Urteilen der Biographie bzw. Historiographie auseinander, ohne jedoch auf die für historiographische Metafiktion typischen expliziten metafiktionalen und geschichtstheoretischen Reflexionen zurückzugreifen, welche die Erkennbarkeit und verbale Rekonstruktion von Geschichte grundsätzlich in Zweifel ziehen. 96 Dagegen tritt in der expliziten Variante der fiktionalen oder metafiktionalen Metabiographie bzw. der biographischen Metafiktion 97 die Schilderung eines historischen Lebens zugunsten eines argumentativen Diskurses über die Bedingungen biographischer Erkenntnis sowie über die Methoden und den Status der jeweiligen biographischen Darstellung in den Hintergrund. Auch werden die spezifischen biographischen Verfahren zunehmend problematisiert; beides geschieht im Modus eines Kommentars fiktionaler Sprecherinstanzen. In der impliziten Erscheinungsform der (meta)fiktionalen Metabiographie bzw. der biographischen Metafiktion werden Probleme der Biographie formal reflektiert und metabiographische Themen strukturell inszeniert. Dies geschieht häufig durch die „Semantisierung literarischer Darstellungsverfahren“ wie z.B. die multiperspektivische Auffächerung des erzählten Geschehens oder die Funktionalisierung der Raumdarstellung als Bedeutungsträger. 98 93 A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 19. 94 Ebd., S. 20. 95 Ebd., S. 25. 96 Ebd., S. 26f. Interessanterweise erkennt A. Nünning in Lytton Strachey den literarischen Ahnherren revisionistischer Biographien. 97 Nünning verwendet die drei Begriffe synonym, ohne auf mögliche feine Unterschiede im Gegenstandsbereich einzugehen. 98 Ebd., S. 28. An anderer Stelle betont Nünning, dass die „[…] Tendenz zur Fiktionalisierung der eigenen Biographie […] auf die konstruktivistischen Konzeptualisie- 357 Als zentrale Funktion des letztgenannten Typus der fiktionalen Biographie nennt A. Nünning die Bloßlegung der Paradoxien von ‚Bio-graphien’, die ja zwei ontologisch verschiedene Seinsbereiche - die (vergangene) Wirklichkeit und ihre sprachliche Repräsentation - miteinander zu verbinden beanspruchen. 99 Daneben besitzen diese innovativen Formen biographischer Vergangenheitsrekonstruktion als Medium der kulturellen Erinnerung, der biographischen Sinnstiftung und der metabiographischen Selbstreflexion auch eine didaktische und kognitive Funktion: Oftmals entwickeln sie eigenständige Formen von fiktionaler Geschichtskonstruktion, ziehen die herkömmlichen Ansichten von historischer Erkenntnis und Biographie in Zweifel bzw. erweitern diese oder ersetzen sie durch neue (dekonstruktivistische oder konstruktivistische) Vorstellungen. 100 Mit Blick auf die - fiktionalen 101 - historiographischen und auto-/ biographischen Diskurse in Simons Roman Les Géorgiques stellt sich nun die Frage, mit welchen narrativen Mitteln die jeweiligen ‚Historikerfiguren’ versuchen, eigene oder fremde Vergangenheit zu repräsentieren oder zu rekonstruieren. Das folgende Kapitel wird dementsprechend die verschiedenen Schreibprojekte der Protagonisten vorstellen und im Hinblick auf ihr Gelingen oder Scheitern untersuchen. Im Anschluss soll gezeigt werden, wie Claude Simon die verschiedenen Möglichkeiten historiographischen bzw. auto- und biographischen Erzählens thematisiert, inszeniert und auch problematisiert und dabei auf aktuelle Diskurse in der historiographischen und auto-/ biographischen Theoriebildung rekurriert. 6.3 Spuren historiographischer und auto-/ biographischer Diskurse in Les Géorgiques Meine These lautete, dass Claude Simon mit seinem Roman auf verschiedene - traditionelle und postmoderne - Konzepte historiographischen bzw. auto-/ biographischen Erzählens Bezug nimmt. rungen von Gedächtnis und Erinnerungen verweist[.]“ (A. Nünning: „Bausteine einer konstruktivistischen Erzähltheorie: Die erzählerische Umsetzung konstruktivistischer Konzepte in den Romanen von John Fowles.“ (1989), S. 8.) 99 A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 29. 100 Ebd., S. 30. 101 Es muss im Folgenden immer von fiktionalen bzw. besser noch: fingierten historiographischen bzw. (auto)biographischen Diskursen in Les Géorgiques zu sprechen sein, da allein schon das Wort „roman“ auf dem Umschlag des Buchs bzw. die Veröffentlichung von Simons Werk durch die prestigeträchtigen Éditions de Minuit den Text eindeutig in die fiktionale Sparte historischen Erzählens einordnen. 358 Im Folgenden soll nun nachgezeichnet werden, inwieweit sich in den verschiedenen Binnenerzählungen, welche die Erlebnisse der Protagonisten präsentieren, Spuren traditioneller Verfahren der historiographischen und auto-/ biographischen Sinnrestitution finden lassen. 6.3.1 Historikerfiguren In Les Géorgiques treten drei Figuren als ‚Historiker’ auf und versuchen auf ganz unterschiedliche Weise, Zugang zur eigenen oder fremden Vergangenheit zu finden: der ‚Nachfahr’, der Revolutionsgeneral und der unbestimmt bleibende „O.“. Insbesondere dem ‚Nachfahren’ kommt eine Doppelrolle zu: Er versucht nicht nur, das Leben seines Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert durch intensives Quellenstudium und durch die Besichtigung sogenannter ‚Erinnerungsorte’ 102 zu rekonstruieren, sondern strebt darüber hinaus auch die autobiographische Deutung seines eigenen Lebens an. Demgegenüber tritt der General zu Lebzeiten als typischer Verfasser der eigenen Memoiren bzw. von Berichten über die eigene frühere politische und gesellschaftliche Rolle auf: Die teilweise in Form von intertextuellen Zitaten vorliegenden Aufzeichnungen, die er kurz vor Ende seines Lebens begonnen hat, zeichnen sich durch die „Schilderung äußerer (oft politischer) Verhältnisse und Persönlichkeiten“ aus; es fehlt jedoch der besondere „autobiographische Antrieb“. 103 Schließlich erhält der Leser auch einen indirekten - durch eine nicht näher benannte Erzählerfigur vermittelten - Einblick in die autobiographischen Schreibversuche der Figur O., die einige Wochen nach ihrer Rückkehr nach England ihre Erlebnisse im Spanien der Bürgerkriegszeit zu Papier zu bringen sucht. Wie nun im Einzelnen zu zeigen sein wird, werden in Les Géorgiques verschiedene Verfahren traditioneller historiographischer und auto-/ biographischer Vergangenheitskonstitution vorgeführt: Der Leser kann den Figuren bei ihren Versuchen, mittels verschiedener textueller und fremd- 102 Diesem von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägten Begriff (‚lieux de mémoire’) liegt eine Opposition zugrunde zwischen einerseits der modernen Auffassung von Geschichte als „Dynamik der Historisierung, die alles in ‚tote Vergangenheit’ verwandelt“ und andererseits dem Gedächtnis als „‘Wärme der Tradition, Schweigen des Brauchtums, Wiederholung des Überlieferten’“. Dieser Auffassung zufolge hat sich einstmals „bewohnte Vergangenheit in Überreste, Spuren, Erinnerungsorte verwandelt.“ (J. Assmann: „Gedächtnis.“ (2002), S. 99.); Assmann spricht auch von ‚Gedächtnisorten ‘ (J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 60). 103 I. Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk [1970].“ (1998), S. 178. Mit dem Begriff „autobiographischer Antrieb“ ist gemeint, dass der Verfasser einer Autobiographie im Gegensatz zum Memoirenschreiber „[…] den tieferen Zusammenhängen seines Lebens nachspürt, seine Existenz für ihn […] zum Problem wird, zum Rätsel, dessen Lösung er zu finden sucht.“ (Ebd.) 359 medialer Quellen sowie basierend auf ihren eigenen Erinnerungen Vergangenheit zu erzählen, gleichsam über die Schulter sehen. 6.3.1.1 Der ‚Nachfahr‘ als Autobiograph seiner Kriegserlebnisse Dem ‚Nachfahren’ des Generals L.S.M. kommt in Simons Roman eine besondere Funktion zu: Nur er vereinigt in seiner Person die zwei Funktionen des Historikers bzw. des Historiographen - er ist zugleich Autor von Teilen seiner eigenen Lebensgeschichte und Biograph der Lebensgeschichte seines berühmten Ahnen aus dem 18. Jahrhundert. Es finden sich in Les Géorgiques nur wenige Hinweise darauf, dass der ‚Nachfahr’ die Schilderung seiner eigenen Kriegserlebnisse schriftlich niedergelegt hat. Die schriftliche Fixierung seiner autobiographischen Erinnerungen wird im ersten Kapitel des Romans in metaleptischer Form deutlich, wenn der Erzähler plötzlich den nicht näher bestimmten Bericht über den Hinterhalt zugunsten einer metanarrativen Reflexion des eigenen Schreibens unterbricht: „Aussitôt après avoir écrit cette phrase il se rend compte qu’elle est à peu près incompréhensible pour qui ne s’est pas trouvé dans une situation semblable et il relève sa main.“ (G, 47) Im Folgenden soll die autobiographische Darstellung der Ereignisse um die Quartierverlegung im Winter 1939/ 40 einer genaueren Analyse unterzogen werden. In diesem Zusammenhang lässt sich der autobiographische Status der Erzählung kaum mit dem von Ph. Lejeune entwickelten begrifflichen Instrumentarium fassen. Zum Vorliegen eines autobiographischen Diskurses ist nach seiner Definition ja die Namensidentität zwischen dem auf dem Deckblatt des Textes genannten Autor, dem Erzähler sowie dem Protagonisten der Handlung zwingend erforderlich. Simons Les Géorgiques zeichnet sich demgegenüber ja eindeutig als fiktionaler Text aus - auf dem Deckblatt findet sich das Wort roman -, der an keiner Stelle einen autobiographischen Pakt zwischen Autor und Leser zustande kommen lässt. 104 Dennoch lässt sich meines Erachtens zu Recht dem Handlungsfragment aus der Vorkriegszeit 1939/ 40 ein gewisser - fingierter bzw. fiktionaler - autobiographischer Status zuweisen: Unabhängig von der Wahl des Perso- 104 Es ist hier vor allem die nicht gegebene Namensidentität, die einen Pakt im Sinne Lejeunes nicht entstehen lässt; die Präsentation der Erzählung durch eine auktoriale Erzählsituation (vgl. das Pronomen der 3. Pers. Sg.) stellt laut Lejeune keinen, einen autobiographischen Pakt ausschließenden, Faktor dar: „En effet, en faisant intervenir le problème de l’auteur, l’autobiographie met en lumière des phénomènes que la fiction laisse dans l’indécision : en particulier qu’il peut très bien y avoir identité du narrateur et du personnage principal dans le cas du récit ‚à la troisième personne’.“ Lejeune nennt verschiedene Gründe, die ein Autor haben könnte, den eigenen Lebensbericht im biographischen Modus erscheinen zu lassen, so z.B. Stolz, Bescheidenheit, allgemein jedoch eine gewisse Distanzierung von der eigenen Vergangenheit. (P. Lejeune: „Le pacte autobiographique.“ (1973), S. 139f.) 360 nalpronomens ist es gerade die existentielle Verstricktheit des Erzählers in die Erlebnisse des Protagonisten in dieser Winternacht, die eine Identität der beiden Figuren sehr wahrscheinlich werden lässt; bei der Erzählung handelt es sich, dieser Interpretation nach, um eine fiktionale Autobiographie. 105 Die Anteilnahme des Erzählers an den Erlebnissen des Protagonisten zeigt sich einerseits insbesondere in der detaillierten Beschreibung der Sinnesempfindungen von Kälte und kaum zu durchdringender Dunkelheit beim Ritt durch den Schnee 106 und andererseits in den tastenden Versuchen des Erzähler-Protagonisten, eine retrospektive Erklärung für den chaotischen Verlauf der Ereignisse zu finden, der im Kontrast zu seinen scheinbar souveränen Ordnungsmanövern der verschiedenen Handlungsphasen steht. Nachdem im ersten Teil des Romans die Ereignisse um den unkoordinierten Rückzug über die Maas eher zusammenhangslos und aus der Sicht eines neutralen und unbestimmten Beobachters vermittelt worden waren, 107 tritt ein deutlicheres Erzählbewusstsein erst im zweiten Teil des Buchs auf. Hier wird die Darstellung der Außenwelt schon bald auf die Perspektive eines nicht näher bestimmten „il“ fokussiert, dessen olfaktorische, visuelle und taktile Wahrnehmungen beschrieben werden (G, 80). 105 So vertritt A. Duncan die Ansicht, bei Les Géorgiques handele es sich um eine Autobiographie zweiten Grades, da sich „un aspect autobiographique“ nachweisen lasse, auch wenn das Werk auf der vom Fiktionalen zum Faktualen reichenden Skala aufgrund seiner poetischen Qualitäten eher in der Nähe des Pols ‚Fiktion’ anzusiedeln sei. (A.B. Duncan: „Claude Simon, le projet autobiographique.“ (1990), S. 61.) Vgl. darüber hinaus die von J.M.L. den Toonder aufgezählten, für die nouvelle autobiographie typischen Merkmale: neben den nicht mehr im Zentrum der autobiographischen Erzählung stehenden Referenzen auf eine extratextuelle Welt rechnet sie vor allem das „moi fragmenté et multiple“ zu den wichtigsten Kennzeichen der neuen, fiktionalen Autobiographie. Dagegen spricht sich A.C. Pugh gegen eine Klassifizierung der Géorgiques als Autobiographie aus: Da keine der drei ‚Personen’ (der Kavallerist selbst; der Schreiber, der eine Biographie über den Kavalleristen in der dritten Person verfasst sowie derjenige, der die Autobiographie eines anderen Schreibers über seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg kritisiert) letztendlich im Text präsent sein könne, werde auch jede „autobiographical ‚message’“ im Roman sabotiert durch die Dekonstruktion des autobiographischen Diskurses, die das Ergebnis der widersprüchlichen Repräsentation sowohl des Schreibsubjekts als auch der beschriebenen Subjekte „as third persons“ sei (A.C. Pugh: „Claude Simon: Fiction and the Question of Autobiography.“ (1986)). Allerdings geht Pugh immer noch von einer eher traditionellen Definition des autobiographischen Diskurses aus, während neuere Ansätze ja gerade die multiple Perspektivierung der eigenen Vergangenheit zu den zentralen Kennzeichen (post)moderner Autobiographien zählen, da diese die retrospektive Repräsentation und Deutung des eigenen Lebens in Frage stellt. 106 Vgl. z.B. G, 90 und insbesondere G, 97-99. 107 Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch die vorherrschende Außensicht auf die Handlung, vgl. z.B. folgende fragmentarische Beschreibung: „Le dimanche de la Pentecôte a été très ensoleillé. Quand ils franchissent le pont le fond encaissé de la vallée est déjà envahi par l’ombre.“ (G, 24). Vgl. ebenso G, 44-47. 361 Während das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des Erlebens und dem des Berichtens bzw. die zeitliche und möglicherweise personelle Distanz zwischen der erlebenden Figur und der berichtenden Instanz zunächst nicht näher bestimmt wird, findet sich etwas später ein Hinweis auf die nachgeordnete Situation des Erzählens und vor allem auf die analytische Intention des Erzählers, der seine Beschreibung der Ankunft der Schwadron am nächtlichen Zielort unterbricht, um von einem übergeordneten Standpunkt auf das berichtete Geschehen zu blicken: „Ici il est peut-être nécessaire d’ouvrir une parenthèse pour tenter d’expliquer ce qui surviendra par la suite, c’est-à-dire le désespoir qui va s’emparer d’eux, la panique, la débandade que rien apparemment ne semble suffisant à justifier: […]“ (G, 82). 108 Bereits hier deutet der Erzähler das Motiv seines Erzählens an: die Klärung der unbeantworteten Fragen um die Auflösung der vormals militärisch geordneten Reiterschwadron im nächtlichen Schnee, welche die erste Hälfte des zweiten Kapitels von Les Géorgiques dominiert. 109 Im weiteren Verlauf der Erzählung ist ein Kontrast festzustellen zwischen den souverän die verschiedenen Phasen der Vorgeschichte strukturierenden Bemerkungen des Erzählers ( „A ce moment […]“ (G, 85), „Toujours est-il qu’il n’y eut rien de cette sorte: […]“ (G, 87), „Au contraire, […]“ (G, 88), „Et alors ceci: […]“ (G 88)) 110 und seinen metasprachlichen Unsi- 108 Von der Forschung wurde dieser metaleptische Bruch im Erzählen, der im Wechsel von der diegetischen Ebene der Handlung auf die extradiegetische Ebene der erzählerischen Vermittlung besteht, als parodisierender intertextueller Verweis auf die auktorialen Erzähler Balzacs gedeutet. (Vgl. z.B. S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 100; Lucien Dällenbach: „Les Géorgiques ou la totalisation accomplie“ (1981), S. 1237.) 109 Interessanterweise verbindet sich mit diesem Erkenntnisziel ein weiteres: „[…] une tentative d’explication de la débandade qui va se produire au cours de la marche, préfigurant la désagrégation ultérieure et définitive au contact du feu, […]“ (G, 83); der Versuch also, eine Erklärung für die allerletzte und absolute Auflösung und damit für die Niederlage der geordneten berittenen Schwadron bei der Begegnung mit dem deutschen Artilleriefeuer im Hinterhalt des Hohlwegs zu finden. Diese wiederum spiegelt in der Erzählfigur einer pars pro toto die Niederlage der gesamten französischen Armee. In diesem Zusammenhang wurde von einigen Forschern wie v.a. S. Schreckenberg „das Winterlager als rituelle Vorbereitung auf ein Frühlingsopfer“ interpretiert. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 107-138.) 110 N. Piégay-Gros weist darauf hin, dass Formulierungen wie „ceci“ / „Et ceci“ einen „effet de cadrage“ besitzen: dieser „[…] montre comment une image peut se détacher de la perception générale, s’imposer avec force, lorsque le sujet s’absorbe et se concentre pleinement dans cette perception.“ Die Erinnerung an einen bestimmten visuellen Eindruck der Vergangenheit könne ex abrupto auftauchen und so ein Indiz für ein Trauma sein. (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 74.) Meines Erachtens fungieren diese handlungsstrukturierenden Partikel in dem genannten Zusammenhang eher dazu, die chaotischen Erinnerungen an eine mögli- 362 cherheiten, die bereits auf die künftige problematische Interpretation der Ereignisse verweisen: „[…] (le seul incident - mais peut-on employer ce terme, quoique le fait ait eu sans doute un effet moralement traumatisant? - ayant été le passage du train de voyageurs civils).“ (G, 83) 111 Eine Zuspitzung der Ereignisse findet durch die Entscheidung der militärischen Führung zu einem nächtlichen Gewaltmarsch ins nächste Quartier statt, bei welchem die Soldaten zum einen von der Dunkelheit der Nacht und zum anderen von dichtem Schneefall überrascht werden (G, 88- 100). Für den homodiegetischen Erzähler sind diese Ereignisse trotz der inzwischen vergangenen Zeit noch immer derart traumatisch und rätselhaft, dass er sich weiterhin intensiv um eine Erklärung für die Vorfälle bemüht - sei es das Verhalten des Capitaine und der Offiziere, seien es die klimatischen, geographischen und tageszeitlichen Begleitumstände. Erzähltechnisch wird der Marsch zunächst aus der Perspektive einer unbestimmten Menge Soldaten - ‚ils’ - geschildert; der Erzähler nimmt folglich den Standpunkt der unwissenden Soldaten (zu denen er ja auch gehört) ein, die den Entscheidungen ihrer Führung hilflos ausgeliefert sind. Dieser begrenzte Wissenshorizont der Perspektivträger erklärt auch die gehäuft auftretenden Modalpartikel „peut-être“ - vereinzelt auch „sans-doute“ -, welche die Mutmaßungen der Soldaten über zukünftige Ereignisse bzw. vor allem über die in der Dunkelheit kaum wahrnehmbare Umgebung ausdrücken (G, 91-94). Es ist jedoch letztlich der plötzlich einsetzende dichte Schneefall „[qui] va encore produire sur les hommes à la résistance amoindrie un effet décisif.“ (G, 94) Diese sich nun abzeichnende katastrophale Entwicklung der Ereignisse bleibt auch im Moment des Erzählens nicht ohne Auswirkungen. Der Erzähler-Protagonist wählt in seinem verzweifelten Bestreben, die Ereignisse um die Auflösung der Schwadron im Schnee - „[…] cette désagrégation ou si l’on préfère désintégration complète d’une troupe encadrée et organisée en quelques heures d’une marche de nuit, et sans qu’aucun incident important se soit produit, […]“ (G, 94) - als logisch und in sich konsistent zu präsentieren, den Weg der auktorialen Erzählweise, indem er versucht, aus seiner übergeordneten, nachzeitigen Perspektive heraus die verschiedenen Phasen voneinander zu unterscheiden und zu charakterisieren: […] l’affaire donc (ou le phénomène) pouvant être décomposée en trois phases, soit : les prémisses de la désagrégation, la menace de la désagrégation (les premiers craquements), enfin la désagrégation elle-même, consommée pour ainsi dire, entérinée comme fait accompli, irréversible, la cessation de toute cohésion, cherweise ebenso ungeordnete, undurchschaubare vergangene Realität zu ordnen und zu fixieren. 111 Vgl. ebenso: „[…] (toujours dans une tentative d’explication de la débandade qui va se produire au cours de la marche, […]“ (G, 83). 363 de toute discipline (chose presque inconcevable dans un corps aux traditions aussi sévères et rigides que celui de la cavalerie), toute notion de commandement et d’obéissance apparaissant aux uns et aux autres sans objet, privée de sens, nulle.“ (G, 95) Bereits bei der Darstellung der ersten Phase - die unvermittelte und für die Soldaten schockierende Begegnung mit dem Personenzug und damit gleichsam mit einer für sie kaum noch vorstellbaren zivilen, friedvollen Parallelwelt, die Gleichgültigkeit des Capitaine beim Abschreiten der Schwadron - gerät der Erzähler an die Grenzen seines Wissens. Er fragt sich, ob nicht bereits das Verhalten seines Vorgesetzten, seine purpurne Gesichtsfarbe (die seiner Ansicht nach nicht allein durch die Kälte zu erklären ist), seine Eile beim Abmarsch bereits auf die in der Zukunft liegende Katastrophe und seine Verantwortung daran hingedeutet haben: „[…] le prémonitoire comportement du capitaine […] avec son visage fermé, absent, coloré par une rougeur que le froid ne suffit pas à expliquer complètement (empourpré de colère? , la colère elle-même suscitée par l’absurdité des ordres ? , ou une sorte de honte, le pressentiment de l’inévitable, de l’humiliation, de la perte d’autorité et de prestige qui vont en résulter ? comment l’expliquer ? : sa hâte à gagner son cheval, son refus de relever les yeux (ou sa répugnance à ? ), […]“ (G, 95). Auch das weitere Verhalten der militärischen Führung im Laufe des nächtlichen Ritts - vor allem die wiederholten Halte, bei denen dennoch nicht auf die Nachzügler gewartet wird - interpretiert der Erzähler als „[…] la conséquence de ce qu’il est permis d’appeler une véritable défaillance du commandement, péchant, ainsi qu’il arrive souvent, par un excès de rigueur ou plutôt de hauteur confusément ressenti par la troupe comme un abandon des responsabilités et, en quelque sorte, une démission au sommet autorisant toutes les démissions individuelles.“ (G, 96) Die grundlegende Voraussetzung, welche die Auflösung der Schwadron erst ermöglicht hat, ist aus Sicht des Erzähler-Protagonisten die Aufkündigung der eigenen Loyalität zur Truppe durch die Offiziere und den capitaine; diese hat erst die Vereinzelung der Soldaten, die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Nächsten bedingt. Doch wie in der ersten Phase der Auflösung ist auch in der zweiten, relativ ereignislosen und kurzen Phase - die Halte werden nun so ausgedehnt, dass die Zurückgebliebenen wieder aufschließen können - der Informationslauf durch die Reihen, die (Selbst-)Kontrolle der Soldaten sowie die militärische Führung noch gewahrt, obwohl die alles überwältigende Müdigkeit bereits die ersten Folgen zeitigt (G, 96). In der Darstellung der letzten Phase, in welcher die Auflösung der geordneten Schwadron durch den überraschend einsetzenden Schneefall vollendet wird, verliert der Erzähler-Protagonist plötzlich die souveräne Herrschaft über sein Erzählen. Er erklärt die veränderte Darstellungsweise 364 - die Ereignisse werden nun nicht mehr in größere kausale Zusammenhänge eingeordnet, sondern die Erzählweise imitiert mit ihrem fragmentarischen Charakter die scheinbar bruchstückhaften, unverbunden aufeinander folgenden Ereignisse bzw. vielmehr ihre Wahrnehmung durch den mit einer Bewusstseinstrübung kämpfenden Protagonisten: „La troisième phase […] ne peut être décrite que de façon fragmentaire à l’image du phènomène de fragmentation lui-même.“ (G, 96f.) Diese Fragmentarisierung findet auf verschiedenen Ebenen statt: zum einen auf der Ebene der Schwadron selbst, deren Zusammenhalt und geordnete Struktur nun endgültig aufgelöst werden, da bei einem weiteren Halt nicht mehr auf die Nachzügler gewartet wird. Zum anderen auch auf der Ebene der Perspektivträger: Wurden die Ereignisse bislang aus der Sicht einer unbestimmten Menge Soldaten - „ils“ - geschildert, spiegelt sich die Auflösung der Einheit der Schwadron nun auch in der Verengung des Wahrnehmungsfokusses auf ein ebenfalls unbestimmtes „il“ - auf den Erzähler-Protagonisten selbst, der nun die Funktion einer Reflektorfigur übernimmt: „[…] il faut (puisqu’il n’y a plus d’unité constituée) passer du pluriel au particulier.“ (G, 97) 112 Doch wird zuletzt auch die histoire selbst fragmentiert: Es wechseln sich nur noch monoton die Sinneswahrnehmungen von „il“ ab - das knirschende Geräusch des verharschten Schnees, das bleiche Fluoreszieren der ihn umgebenden Schneefläche, das paradoxerweise leise ‚Geräusch’ der unablässig niedersinkenden Schneeflocken und die im dämmrigen Schneetreiben immer wieder schemenhaft auftauchenden anderen Soldaten und ihre Pferde. Die Monotonie der Handlung spiegelt sich darüber hinaus auch im discours wider, der ab einem Wendepunkt in der Handlung - die Begegnung des „il“ mit einem anderen Reiter, der alle Selbstkontrolle verloren hat - nur noch aus parataktisch aneinandergereihten Sätzen in präsentischer Zeitform besteht: […] le cheval arrêté, planté sur ses quatre jambes comme sur des piquets, et le cavalier arrêté aussi, […] et quand il passe a côté de lui il entend quelques chose comme bon dieu oh bon dieu bon dieu, mais il ne s’arrête pas, il continue, et il entend le type et le cheval qui marchent maintenant derrière lui, le bruit de la 112 Es findet an dieser Stelle somit ein Wechsel der Erzählsituation statt: Erfolgte die Präsentation der Ereignisse anfangs noch aus der Sicht eines auktorialen, scheinbar souverän sein Material beherrschenden Erzählers, der seine zeitliche Distanz zum Geschehen und seine dadurch bedingte Fähigkeit zur Analyse betont, findet sich nun die auf ein Wahrnehmungszentrum verengte Perspektive der personalen Erzählsituation, mit der ein Kontrollverlust über das Erzählen und die erinnerte Wirklichkeit einhergeht. Von der Forschung wurde dieser Wechsel häufig nicht als Indiz eines problematisierten autobiographischen Diskurses interpretiert, sondern als Ironisierung und Infragestellung der auktorialen Attitüde „à la Balzac“ und damit allgemein als Kritik am realistischen Erzählen. (So z.B. S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 100f.) 365 neige crissant sous quatre souliers et huit fers, et il marche, et le type suit, et il l’entend qui pleure, et il se retourne pas, il continue, et puis il ne l’entend plus, et il se retourne pas, il continue, et la neige continue à tomber, […]“ (G, 98). In der Folge verliert „il“ den Bezug zur Realität, da sich die Ereignisse zu wiederholen scheinen, es also zu immer neuen Begegnungen mit anderen unbeweglich verharrenden Pferden und Reitern kommt, bis sich „il“ zuletzt zu fragen beginnt, ob nicht er selbst es dieses Mal ist, der stehengeblieben ist etc. (G, 98f.). Diese Unsicherheit über die damalige Realität bzw. über die eigenen früheren Wahrnehmungen äußert sich sprachlich in einer Vielzahl von Fragen und von Modalpartikeln wie „peut-être“. So löst sich mit der Gewissheit über die Vergangenheit auch diese selbst auf; übrig bleiben verschiedene alternative Versionen, die aufgrund des durch die Müdigkeit getrübten, früheren Wahrnehmungsbewusstseins nicht aufschlüsselbar sind. Am Ende seiner Schilderung der Ereignisse um die Auflösung der Schwadron scheint der Erzähler-Protagnist sein ursprüngliches erkenntnisleitendes Interesse völlig vergessen zu haben: Anstatt eine endgültige oder zumindest resümierende Erklärung für den katastrophalen Verlauf des nächtlichen Ritts zu liefern, beschreibt er detailliert die Sinneswahrnehmungen des ‚il’ am Morgen nach der Ankunft im neuen Quartier sowie die Scheune, in der die Reiter untergebracht sind. Es scheint, als hätten die (erinnerten! ) Strapazen des Ritts nicht nur jegliche analytische Fähigkeit, sondern paradoxerweise auch die Fähigkeit zum Erinnern selbst vollkommen ausgelöscht. Zuvor verschwand der auktoriale Erzähler bereits hinter der Reflektorfigur, aus deren Sicht die letzten Stunden des nächtlichen Ritts beschrieben wurden. Diese fingierte Autobiographie in der dritten Person Singular weist verschiedene Merkmale fiktionaler (postmoderner) autobiographischer Texte auf: die Akzentsetzung „sur l’imprécision des souvenirs et sur l’imperfection de la mémoire“ 113 sowie „la combinaison d’une référentialité réelle et d’une reférentialité fictionnelle“ 114 , womit vor allem der Einfluss der Imagination auf den fiktionalen Diskurs gemeint ist. Dabei verweist das Scheitern des Erzähler-Protagonisten bei der rückwirkenden Rekonstruktion eines möglichen Sinns seiner Erlebnisse im Winterlager auf das Scheitern eines jeden autobiographischen Diskurses, der die mimetische Repräsentation der Vergangenheit und ihre nachträgliche Deutung zum Ziel hat. 113 J.M.L. Den Toonder: „A la limite de l’écriture autobiographique. Simons L’Acacia (1989).“ (1999), S. 8f. 114 Ebd., S. 14. 366 6.3.1.2 Der ‚Nachfahr‘ als Biograph des Generals L.S.M. Wie bereits gezeigt wurde, steht der ‚Nachfahr’, der zugleich Protagonist der Weltkriegshandlung ist, in einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Revolutionsgeneral L.S.M. 115 Im Laufe seines Lebens gerät er in den Besitz wichtiger Dokumente aus dem Leben des Generals wie Prozessakten, Briefe sowie verschiedene cahiers, die Listen mit den Daten seiner Pferde und der ihm untergebenen Soldaten enthalten bzw. die Verwaltung seines Gutes betreffen. Er wird auf diese Weise nicht nur zum Biographen L.S.M.s, sondern dokumentiert auch das Leben der mit diesem in einer engen verwandtschaftlichen oder sozialen Beziehung stehenden Personen. In der Kontaktaufnahme und später im Umgang des ‚Nachfahren’ mit der Geschichte seiner Familie lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden: Am Anfang steht seine Initiation in die Rolle des zukünftigen Biographen oder ‚Familienhistorikers’, die nach dem Tode der Großmutter zunächst vom Onkel des Jungen, Charles, verantwortet wird. Im Anschluss erfolgt die Übergabe des Quellenarchivs durch den Onkel und damit gleichzeitig auch die Übergabe der Verantwortung für die Deutung der brisanten Lebensgeschichte des Generals, wodurch der Neffe nun selbst endgültig die Rolle des Biographen übernimmt. In dieser Funktion wählt er verschiedene Wege der Annäherung an die Vergangenheit: einerseits widmet er sich dem Studium schriftlicher und kunsthistorischer Quellen und andererseits der Besichtigung sogenannter ‚Erinnerungsorte’. Die Initiation des ‚Nachfahren’ in die Rolle des Biographen und des Bewahrers der Lebensgeschichte des Generals vollzieht sich sehr behutsam und im Verlaufe mehrerer Jahre. Während in seiner Kindheit die Deutungshoheit über die Familiengeschichte insgesamt, genauso aber auch die Hoheit über die Quellen allein in der Hand der „vieille dame“ lag, vollzieht sich erst mit dem Tod der Großmutter eine Wende im Umgang mit der prekären Vergangenheit. Zeit ihres Lebens bemüht sich die alte Dame darum, das Geheimnis um ihren Ahnen zu bewahren und es schließlich auch mit ins Grab zu nehmen, ohne jedoch die Belege dafür zu vernichten: „[…] emportant en même temps avec elle le secret dont par fidélité au nom ensanglanté qu’elle avait porté elle ne s’était senti le droit ni de se soulager ni de détruire la trace […]“ (G, 193). Stattdessen hütet sie sorgsam die hinter mehreren Lagen Tapete verborgene Tür eines Einbauschranks - „[…] où était empilé l’amoncellement de paperasses, de vieilles lettres et de registres sur lesquels s’accumulait une crissante poussière de plâtre moisi […]“ (G, 193) - in der von Charles vermuteten Hoffnung, dass nach ihrem Tod und dem damit einhergehenden Verschwinden des belasteten Namens das längst Vergangene an Bedeutung verliere. Deshalb scheint es, als sei 115 Vgl. Kap. 6.2.1 Zwei Auffassungen von Geschichte: zyklisches und teleologisches Geschichtsmodell. 367 mit dem Tod der alten Dame auch ein Teil der Geschichte selbst ausgelöscht worden: „Et avec elle ce fut comme si tout ce qui subsistait encore d’un passé confus, d’une tranche d’Histoire (fût-ce dans l’incertaine mémoire d’un cerveau vieilli), avait été effacé, aboli, […]“ (G, 197). 116 Doch sind die belastenden und die Wahrheit erhellenden Dokumente keineswegs verschwunden; diese befinden sich hinter der verborgenen Schranktür und erhalten in der Beschreibung des Erzählers den Charakter eines langsam verwesenden Leichnams: so ähneln die über die Tür geklebten Lagen Tapete in ihrem durch Nässe aufgequollenen und stellenweise aufgerissenen Zustand den Leinenbinden, mit denen die altägyptischen Mumien eingewickelt sind (G, 193). Schließlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Geheimnis ans Tageslicht treten wird, da der Vorrat an passenden Tapetenrollen zusehends kleiner und der Zustand der Bahnen an der Wand stetig schlechter wird. Nach dem Tod der alten Dame ist es ihr Sohn Charles, der die verborgenen Dokumente entdeckt. Dazu zählt einerseits ein Brief, den Jean-Pierre L.S.M. anlässlich der Verhaftung seines Bruders an die Gendarmerie von Caylus geschrieben hat und der von der alten Dame in ihrem Schmuckkasten verborgen gehalten wurde (G, 429f.). 117 Und andererseits werden nun auch die Dokumente in ihrem Schrankversteck freigelegt, nachdem auch die letzte Tapetenrolle beinahe aufgebraucht ist. In einem alles umfassenden Zustand der Verwesung und der Fäulnis zerfallen die Papierbahnen mit dem darunter liegenden Gips und der Schrank wird endlich sichtbar: […] Et ce fut alors […] qu’on la découvrit : à mi-hauteur entre le rez-de-chaussée et le palier du premier étage, la porte cachée de ce placard […], et, derrière un amoncellement de paperasses, de registres, de manuscrits […], et parmi les piles de cahiers, de feuillets aux bords déchiquetés, pliée en quatre, cette sentence, l’affiche avec son en-tête officiel au-dessus d’un cartouche ovale surmonté d’un bonnet phrygien, entouré de rayons, orné de lauriers, et sur lequel étaient écrits ces simples mots LA LOI. […] (G, 439f.). Das wichtigste Dokument in diesem Sammelsurium aus Briefen, Berichten, Reden, Erlassen, Rechnungen, persönlichen Notizen etc., die den Nachlass L.S.M.s bilden, sind jedoch die Akten des Prozesses gegen den auch über den Sturz der Monarchie hinaus königstreuen und seit dem 10. August 1792 fahnenflüchtigen Bruder, Jean-Marie L.S.M. Damit verfügt Charles über das Wissen um die eigentliche Schuld des Generals: diese besteht 116 Ungeachtet der eher negativen Bewertung der Großmutter als Zensurinstanz der Familiengeschichte sieht Th. Klinkert ihre Funktion als „Allegorie der Erinnerung“: „[d]ie Großmutter steht für den Vorgang des überindividuellen, generationsübergreifenden Erinnerns, […].“ (T. Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. (1996), S. 202.) 117 Zum ersten Mal wird dieser Brief bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung des Todes der alten Dame erwähnt (G, 194). 368 nicht in der leidenschaftlichen Befürwortung der Hinrichtung Louis’ XVI., sondern vielmehr im Nicht-Einschreiten gegen die Verhaftung und Hinrichtung seines eigenen Bruders. Dieser lag ein Gesetz zugrunde, für das der revolutionsbegeisterte ältere Bruder Jean-Pierre L.S.M. wiederholt in seinem Leben gestimmt hatte und „[…] [qui] condamnait automatiquement à être exécuté tout émigré rentré en France et pris les armes à la main.“ (G, 445) Bereits in seiner Jugend wird der Neffe mit der geheimnisumwitterten Geschichte seiner Familie konfrontiert. Dazu zählen in seinen frühesten Erinnerungen die monatlichen Einladungen 118 der Großmutter, die in dem eigens für derlei Anlässe bestimmten „grand salon“ des Stadthauses einige mehr oder weniger entfernte Verwandte und Freunde versammelt, darunter einen als „nain“ beschriebenen Greis, dem das Schicksal allem Anschein nach finanziell besser mitgespielt und der seine royalistischen Überzeugungen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht verloren hat (G, 179). Die Vergangenheit ist dem Neffen in diesem Raum auf unheimliche Weise stets präsent: So werden die im unbenutzten Zustand mit weißen Schonbezügen bedeckten Stühle verglichen „[…] à une assemblée de fantômes assis face à face, leurs maigres os, leurs mains décharnées posées sur les accoudoirs soulevant les linceuls qui les drapaient, solennels, sans visages, […]“ (G, 172). Es sind gleichsam die unzähligen verstorbenen Verwandten, die den Raum zu bevölkern scheinen und die weiterhin Anteil am Leben nehmen wollen. Dominiert wird diese Versammlung von leichenhaften Phantomen jedoch […] du haut du socle où il était placé, derrière le canapé disposé dans l’un des angles, par la masse ombreuse, indécise et incolore du buste monumental aux épaules drapées d’un suaire de marbre, au masque puissant, à la fois débonnaire et narquois, de celui qu’entourait la mystérieuse aura de gloire, d’exécration et de respect […]. (G, 172) Die marmorne Statue des Generals, omnipräsent im großen Salon, erhält bereits in der Erinnerung des Kindes einen Beiklang von ‚Tod’: Es ist ein Leichentuch, das die Schultern der Büste zu bedecken scheint; dieses verbindet sich mit der „odeur persistante et vaguement funèbre d’encaustique, de sueur et de poussière soulevée“ (G, 173) des Raumes zu einer morbiden Atmosphäre, welche die Wahrnehmungen und die Erinnerungen des Kindes für immer prägen, ohne dass es jedoch schon Verständnis für die verborgenen Strömungen der Familiengeschichte hätte. 119 118 Die fragmentarische Beschreibung eines dieser Empfänge findet sich auf den Seiten 172-185. 119 Ein Hinweis auf die innerhalb der Familie konkurrierenden Überzeugungen finden sich in der Haltung des „nain“ gegenüber der Büste des Generals: „[…] [le] nain […] 369 Lange nach dem Tod der Großmutter, als sich der Neffe bereits auf der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend befindet, scheint sich das Stadthaus der Familie, in welchem nun nur noch der Onkel Charles, der Junge selbst und seine sterbende Mutter wohnen, noch mehr einem Ort der Vergangenheit und des Todes anverwandelt zu haben: der große Salon ist trotz des Klavier spielenden Charles’ ungeheizt, eiskalt und von Schatten erfüllt. Immer noch dominiert der „colosse de marbre“ den Raum „[…], comme si dans la vaste et sombre pièce se tenait un troisième personnage, hors de ce temps que les notes pressées, se bousculant, se chevauchant et se disjoignant tour à tour semblaient tantôt précipiter, tantôt ralentir, disséquer…“ (G, 230). 120 Der General hat sich nun scheinbar in der aktuellen Zeit manifestiert, ohne dieser jedoch unterworfen zu sein. Im Folgenden scheint sich alles Licht des immer dunkler werdenden Raumes auf die Büste zu konzentrieren, während die gleichsam anwesenden Porträts anderer Familienmitglieder zunehmend im Dunkeln und damit scheinbar auch in der Zeit verschwinden (G, 233); sichtbar bleiben „[…] les reliefs polis du buste luisant imprécis dans le noir, dessinant fantomatiquement les replis de la toge romaine, les saillies du visage bosselé...“ (G, 234). Schließlich - als die Dunkelheit den Raum beinahe ganz erfüllt - erschließt sich dem Jungen in einer kurzen Vision sein Vorfahr und dessen Leben: der General erteilt in seiner Gestalt als Statue Anweisungen, diktiert Briefe und Befehle und wird in einer Kutsche quer durch Europa transportiert (G, 243-250). Zuletzt imaginiert er den General in einer weiteren paradoxen bzw. metaleptischen Wendung als Abbild auf einer Zeichnung des 18. oder 19. Jahrhunderts, welche die Maler vor der Ausführung des eigentlichen Ölgemäldes auf die Leinwand skizzieren und die den Körper der abgebildeten Person in unbekleidetem Zustand zeigt (G, 250). 121 Schließlich scheint sich auch diese Szene auf paradoxe Weise zu beleben, das Gemälde wird im Entstehen begriffen, der Maler bei der Ausführung seiner Arbeit gezeigt (G, 252). Wie im weiteren Handlungsverlauf deutlich werden wird, besitzt diese imaginative Auseinandersetzung des Jungen mit seinem Ahnen eine ihn auf seine Rolle als zukünftiger Biograph vorbereitende Funktion. Denn der vom Jungen in seiner Vision scheinbar nur imaginierte Brief, den der General als Statue in der Phantasie des Jungen zu schreiben scheint (G, 250f.), invariablement assis à la table de bridge de façon à tourner avec ostentation le dos au buste de marbre, […].“ (G, 184) 120 Interessanterweise nähern sich in dieser auch metaleptisch zu interpretierenden Szene der Onkel und der als Büste repräsentierte General in ihrem Aussehen einander an: So hat nun auch Charles eine „épaisse chevelure grise, soyeuse, légèrement renversée en arrière“ (G, 230f.). 121 In diesem intermedialen Vergleich greift der Roman den ihm vorgeschalteten Prolog auf, der ebenfalls die Beschreibung einer skizzenhaften und unfertigen Szene präsentiert (Vgl. G, 12, 15f.). 370 verfügt zumindest innerhalb der fiktionalen Welt des Romans über einen realen Status: Auf ihn bezieht sich der Onkel in seinen Ausführungen zum weiteren Schicksal L.S.M.s, die unmittelbar auf die Imagination des Jungen folgen (G, 252-256). Doch wird eine unbekannte Anzahl von Monaten oder gar Jahren, die zwischen den beiden Szenen liegen, elliptisch ausgespart; einzig der Hinweis „[…] (c’était l’été, ou plutôt le commencement de l’automne, et non plus le salon glacé, le piano, mais le petit bureau aux volets toujours aux trois quarts clos pour protéger du soleil […])“ (G, 253) liefert einen Anhaltspunkt dafür, dass sich ein Orts- und Zeitwechsel vollzogen hat und mindestens ein halbes Jahr, eher mehrere Jahre 122 , vergangen sind. In diesem Gespräch mit seinem Onkel wird die Initiation des Jungen in die Familiengeschichte und das in ihrem Zentrum stehende skandalöse Geheimnis vollendet: Dabei reihen sich die Enthüllungen des Onkels mit derselben Langsamkeit aneinander, mit der auch der Alkohol des Traubenmosts unter seiner Aufsicht destilliert wird, so dass der Spannungsbogen bis zur vollständigen Aufdeckung des Geheimnisses um den General relativ lange gehalten wird (G, 253-255). Der zentrale Hinweis auf die schuldhafte Verstrickung des Generals in den Tod seines eigenen Bruders findet sich im Nachvollzug seiner Karriere, die unerwartet und scheinbar unmotiviert einen Dämpfer erfährt: « Ou fusiller, dit l’oncle Charles, Il n’en fallait pas beaucoup plus à cette époque. Et leur police était bien faite… », cessant d’observer la chute tremblotante des petites gouttes dans les flacons, regardant le garçon par-dessus ses lunettes : « Parce que pour un homme qui avait été Représentant en mission, secrétaire de la Convention, membre du Comité de salut public, président de quelque chose qui était alors comme ce qu’est aujourd’hui le Sénat et ambassadeur, le titre de général en chef de l’artillerie d’une armée, même si c’était un commandement important, ne constituait pas précisément une promotion. Tu n’as jamais pensé à ça ? Quant au choix précis de cette armée et de Strasbourg… », il se pencha vers l’un des flacons et dit : « Ça va bientôt y être », […] (G, 253f.). Trotz der verantwortungsvollen und einflussreichen Positionen, die der General zuvor bekleidet hat, stellt die Berufung auf den Posten eines oberkommandierenden Artilleriegenerals der Rheinarmee eher eine Rückstufung als einen weiteren Karriereschritt dar. Auf die Frage, weshalb die Karriere des Vorfahren diesen plötzlichen Einschnitt erfährt, bietet der Onkel folgende, vage Vermutung an: « Oui, leur police était bien faite. Ou plutôt elle se faisait toute seule. Je suppose que comme toujours il suffisait d’avoir assez de patience pour éplucher les piles de dénonciations. Et alors ils avaient sans doute trouvé la faille, le défaut de la cuirasse… Et je crois l’avoir trouvé aussi : il n’était pas rentré directement de Gênes sur Paris à son retour de Tunis, il… Attention ! … » : il se pencha, retira 122 Vgl. den Hinweis: „[…] et le garçon qui portait maintenant des pantalons, se servait depuis quelques années d’un rasoir, […]“ (G, 253). 371 prestement l’un des petits flacons à long col […] l’oncle Charles l’observant [l’alcoomètre] attentivement, se reportant à une table punaisée au mur […], disant : « Il avait fait un détour par le château… Oui : ce qui n’est plus aujourd’hui qu’une grosse ferme à moitié en ruine… Et il n’avait pas seulement fait qu’y laisser cet étalon que le beau-frère du bey lui avait offert, ou simplement respiré l’air du pays… A moins qu’il n’ait pas su ce qui l’y attendait… ou ne l’attendait peut-être pas : le téléphone n’existait pas encore en ce temps-là… En tout cas il y avait apparemment trouvé quelque chose de plus que l’air du pays, ou plutôt quelqu’un… », […] (G, 254f.). Laut dem Onkel hat der Vorfahr die ihm erteilten Befehle einer direkten Reise nach Paris nicht befolgt, da er auf der Rückkehr aus der Gefangenschaft in Tunis angeblich zur sicheren Überstellung des mitgebrachten Hengstes einen Umweg über sein Schloss gemacht hat. Und dort muss er eine Person getroffen haben, die seinen politischen Gegnern das Mittel in die Hand gab, ihn endlich seiner einflussreichen Positionen zu entheben. Von dieser Person, deren Existenz von der alten Dame ihr Leben lang geheim gehalten wurde, weiß auch der Onkel erst, seitdem er den Brief des Generals in dem Schmuckkasten seiner Mutter gefunden hat (G, 255). Schließlich enthüllt Charles seinem Neffen diesen Teil des Familiengeheimnisses und macht ihn so zum Mitwisser und Mitbewahrer: „Naturellement ça peut te paraître ridicule. A moi aussi d’ailleurs. Quelque chose qui s’est passé il y a plus de cent ans… Seulement pour elle ce n’était pas si loin. Et c’était son nom. Et après tout il s’agissait de son arrière-grand-père et de son arrière-grand-oncle… », et le garçon : « Oncle ? Mais qu’est-ce que… », l’oncle Charles tassant le tabac dans le fourneau de sa pipe, l’allumant, tirant quelques bouffées, puis relevant les yeux : « Parce qu’il avait un frère… », et le garçon : « Un fr… Quel frère ? », et l’oncle Charles : « Légalement et biologiquement. Oui. Parce qu’il est convenu de donner ce nom aux produits de deux embryons issus des mêmes glandes mâles et grandis dans le même ventre. Sauf qu’il se ressemblaient à peu près comme un négatif photographique ressemble à l’épreuve tirée. C’est-à-dire exactement pareils et exactement contraires… », et le garçon : « Alors il avait un frère ? Mais pourquoi… », et l’oncle Charles : « Tu veux dire : pourquoi est-ce qu’on n’en a jamais parlé ? Eh bien voilà : précisément ! » (G, 255f.) Die Fortsetzung des Gesprächs findet erst im letzten Teil des Romans statt; hier zeigt der Onkel seinem Neffen das betreffende Dokument - den Brief L.S.M.s an die Gendarmerie von Caylus -, das die Existenz des Bruders belegt. Charles’ These lautet nun, dass die politischen Gegner des Generals schon länger von der ungesetzlichen Anwesenheit des Bruders auf dem Schloss wussten und mit dem Zugriff absichtlich so lange gewartet hatten, bis auch Jean-Pierre L.S.M. selbst seinen aus dem Exil zurückgekehrten Bruder dort unerwartet treffen konnte, um dann über eine Handhabe ge- 372 gen den mittlerweile zu einflussreich gewordenen General zu verfügen (G, 430). 123 In der Fortsetzung des Gesprächs, die dieses Mal wohl unmittelbar im Anschluss erfolgt (G, 438-448), übergibt der Onkel seinem Neffen schließlich die gesamten Unterlagen des Generals und macht ihn so zu seinem Nachfolger als Familienhistoriker bzw. als Biograph des Vorfahren: […] la voix de l’oncle Charles disant: « Ils sont à ta disposition si ça t’intéresse. Peut-être es-tu encore trop jeune, mais plus tard… Quand tu seras vieux toimême. Je veux dire quand tu seras capable non pas de comprendre mais de sentir certaines choses parce que tu les auras toi-même éprouvées… […] » (G, 445). Wie der Onkel vorausgesagt hat, wird es noch lange dauern, bis sein Neffe sich eingehender mit den Dokumenten des Vorfahren beschäftigen wird, auch wenn das Verständnis für dessen Lebensumstände aufgrund der ähnlichen Kriegserfahrungen - beide haben am Krieg in der Kavallerie teilgenommen (G, 446) - schon vorhanden sein dürfte. 124 Es vergeht eine im Roman wiederum nicht näher definierte Zahl von Jahren, 125 bis der ‚Nachfahr’ sich entschließt, sich weiter auf die Spurensuche nach dem Geheimnis seiner Familie und vor allem seines prominenten Vorfahren zu begeben. Die von ihm besuchten ‚Erinnerungsorte’, denen zwar kein „immanentes Gedächtnis“ innewohnt, erfüllen dennoch die von A. Assmann beschriebene, wichtige, Funktion, dass sie „die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, [und darüber hinaus] auch eine Kontinuität der Dauer verkörpern, die die ver- 123 Die Feinde des Generals wählten zur Strafe deshalb Strasbourg als seinen neuen Einsatzort, da hier auch sein Bruder vor seiner Desertierung stationiert war. (G, 443) 124 Es lässt sich hier die Hypothese formulieren, dass eben diese vom Onkel konstatierte Ähnlichkeit der Lebenserfahrungen von Ahn und ‚Nachfahr’ das ausschlaggebende Motiv für seine Beschäftigung mit der Geschichte des Generals darstellt. Die zeitlich getrennte Gleichheit der Erfahrung lässt sich mit der geschichtstheoretischen Formel von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ beschreiben: Diese meint bezogen auf die eigene Geschichte und Kultur „[…] das Hineinragen früherer Geschichte, als Überlagerung chronologisch verschiedener Herkunftsbestände, in die eigene Gegenwart […]“. (P. Nolte: „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.“ (2002), S. 134f.) In der Geschichte des Nachfahren wiederholen sich bestimmte Aspekte der Biographie seines Vorfahren wie z.B. die Kavallerie oder die Schlachten im deutsch-französischbelgischen Grenzland. Die biographische Methode des Nachfahren besteht also in der ‚Einfühlung’ in die Vergangenheit seines Ahnen aufgrund seiner eigenen, ähnlich gelagerten Erfahrungen. Biographische Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit erfolgt also weniger über ein intensives Quellenstudium als über eine Projektion eigener Erfahrungen auf den beinahe unbekannten Vorfahren. Vgl. hierzu auch S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 359f. 125 Aufschlussreich ist der Hinweis „[…] … des années plus tard encore, il (celui qui avait été le garçon, était maintenant à son tour un vieil homme) voulut revoir […] l’espèce de colossale et narquoise divinité de marbre […]“ (G, 235f.). 373 gleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt.“ 126 Da die vom ‚Nachfahren’ besuchten Orte in engem Zusammenhang mit der eigenen Familiengeschichte stehen, ist mit A. Assmann auch von „Familien“ bzw. „Generationenorten“ zu sprechen. 127 Der erste Ort der Familiengeschichte, den er später 128 aufsucht, ist das zum größten Teil längst verfallene Familienschloss, das dennoch auf geheimnisvolle Weise auf verborgene Fakten der Geschichte verweist: „[…] le château abandonné, ou plutôt la ferme, […] vaguement effrayant, comme la partie visible mais trompeuse de quelque iceberg, infime, en dépit de ses dimensions, au regard du soubassement d’histoire qui le supportait, […]“ (G, 149). Das Schloss lässt sich daher mit S. Schreckenberg interpretieren als „[…] Zeichen einer viel größeren, aber unsichtbaren Wirklichkeit […]“ 129 : wie im Falle eines Eisbergs der größere Teil unter Wasser liegt und damit für das Auge unsichtbar bleibt, zeigt auch die Schlossruine nur einen Ausschnitt der Familiengeschichte - ihren Verfall, ihren Bedeutungsverlust, der auch am Verschwinden des Familiennamens erkennbar wird - der weitaus wichtigere und möglicherweise immer noch ‚lebendige’ Teil bleibt verborgen. Darüber hinaus evoziert der metaphorische Vergleich mit einem Eisberg auch die Bedeutung ‚Gefahr’: Ebenso wie die Kollision mit einem Eisberg ein Schiff zum Sinken bringen kann, lässt auch die Besichtigung der einschlägigen Orte seiner Familiengeschichte den ‚Nachfahren’ nicht unberührt. Der Besuch des Schlosses und seiner Umgebung wird aus der Perspektive eines nicht näher bestimmten ‚visiteur’ 130 geschildert, hinter dem sich jedoch - wie die soeben skizzierten Zusammenhänge verdeutlichen - der zwischenzeitlich gealterte ‚Nachfahr’ verbirgt. 131 Die Ruine des Schlosses erhält nun eine für die Aufdeckung der Familiengeschichte ambivalente Funktion: Zum einen bleibt sie in ihrer immer noch erkennbaren ursprünglichen Topologie „Stütze und Unterpfand“ des Familiengedächtnisses, zum 126 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 299. 127 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 301. 128 Der Besuch findet auch erst nach dem Tode des Onkels statt: „[…] (il y avait alors longtemps déjà que la vieille dame était morte, que ses enfants eux-mêmes étaient morts, […])“ (G, 151). 129 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 238. 130 G, 151. 131 Mit A. Assmann lassen sich die an malerische romantische Ruinen anmutenden Überreste des Familienschlosses als Verweis weniger auf eine spezifische Vergangenheit als auf eine überzeitliche Dauer interpretieren, die nur noch im Sinne eines „neugierig antiquarischen Blicks“ lesbar ist, der mehr von Imagination als von Wiederbelebung der Vergangenheit geprägt ist. (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 316f.) 374 anderen ist es für den ‚Nachfahren’ jedoch nahezu unmöglich, Spuren der früheren Bewohner, v.a. des Generals, in den Überresten zu finden: sie ist demnach gleichzeitig ein „Monument des Vergessens“. 132 Zwar gibt der Besucher als Motiv für den Besuch auf dem ehemaligen Schloss seiner Familie „la curiosité, ou plutôt l’intérêt, la lointaine parenté“ (G, 152) gegenüber dem „homme-babouin“ an, doch bleibt ihm die Beantwortung seiner Fragen zunächst verwehrt, da ihm die verschiedenen Ereignisse und Zusammenhänge auf dem früheren Gut rätselhaft bleiben. So wird nicht deutlich, welche Funktion der „homme-babouin“ auf dem Gut bekleidet - ist er der „gardien“, der sich um die Kellerschlüssel, die Blumen und den Zugang zum Anwesen kümmert (G, 152)? Ebenso wenig klärt sich auf Anhieb die Rolle des „personnage noiraud“, der ölverschmiert unter dem alten Traktor hervorkriecht (G, 153f.). Der fehlende Einblick des „visiteur“ in die Zusammenhänge wird angesichts des ihm völlig unverständlich bleibenden Monologs des Mechanikers deutlich: „[…] le visiteur fasciné, la scène, semblait-il, continuant à se dérouler dans le silence, comme dans un film muet ou, ce qui revenait au même, dans une langue étrangère, la suite des mots pressés de termes techniques, incompréhensibles, que débitait le mécanicien, privés de sens pour tout autre que pour lui […]“ (G, 154). Die irreale Atmosphäre steigert sich in der Folge noch, bis der Besucher selbst den Zugang zu seiner Umgebung, vor allem aber zu den raumzeitlichen Koordinaten zu verlieren scheint: „[…] les choses, les personnages toujours dans cette atmosphère d’irréalité, d’incohérence, de sorte que plus tard il (le visiteur) n’aurait pu dire (cherchait en vain à se rappeler) comment il s’était tout à coup trouvé dans une vaste pièce […]“ (G, 155). In der Begegnung mit einer alten, gebrechlichen Dame scheinen sich für den Besucher die zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegenden Zeitschichten endgültig aufzulösen: Evoziert die Beschreibung der alten Dame doch auf den ersten Lektüreeindruck hin in gewisser Hinsicht die „vieille dame“, die Großmutter des Besuchers, zumal sie auch das Epitaph auf dem Grabstein der ersten Frau des Generals auswendig rezitieren kann (G, 158- 159). Im Anschluss an das Zusammentreffen mit der unbekannten alten Frau führt der „homme-babouin“ den Besucher zu dem Ort, an dem das Grabmal der ersten Frau des Generals steht; auf dem Weg dahin deutet sich metaphorisch bereits die Auflösung und die dadurch bedingte Unzugänglichkeit der Vergangenheit an: starke Regenfälle der Tage zuvor (der Besuch findet im Herbst statt) haben die Erde aufgeweicht, in Schlamm verwandelt und die Verwesung der bereits gefallenen Blätter beschleunigt (G, 161). Das Motiv eines herabfallenden Blattes illustriert in diesem Zusam- 132 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 315. 375 menhang prophetisch die Wirkung der Zeit auf die Relikte der Vergangenheit: ([…] l’infime froissement d’une feuille se détachant, tombant de branche en branche en molles glissades, se balançant dans l’air immobile comme une plume d’or terni, impondérable, éphémère, s’affalant enfin sans bruit, confondue avec les autres sur le tapis bariolé de rouges et de bistres, et commençant aussitôt à pourrir) […] (G, 162). Das unaufhaltsame Vergehen der Zeit verdeutlicht der nun einsetzende Regen, dessen Rhythmus das zuvor bestehende, scheinbar zeitenthobene Schweigen in Intervalle einteilt: […] et à un moment la pluie se mit à tomber […] un silencieux bruissement gagnant de proche en proche sur les pentes boisées du vallon, entourant à la fin les deux hommes de toutes parts, ponctué par intervalles par les chutes de quelques gouttes plus larges tombant des derniers feuillages qui tantôt proches, s’écrasant sur le tapis pourrissant avec un son mat, tantôt plus lointaines, élargissant pour ainsi dire l’espace par la répétition des mêmes chocs distincts, séparés, comme une scansion, comme le battement d’un invisible système d’horlogerie égrenant, patient et indifférent, les parcelles successives de temps) […] (G, 162). Mit dem Regen und dem Rhythmus seiner fallenden Tropfen kehrt die Zeitlichkeit in die zunächst scheinbar atemporale Szenerie zurück; auf diese Weise wird die Begegnung des Besuchers mit dem verfallenen Grab - „la pierre grenue et rongée“ (G, 162) - und der aufgrund des dichten Flechtenbewuchses nur noch in Bruchstücken lesbaren Inschrift (G, 163) implizit vorbereitet. Das Entziffern der Inschrift im Regen gerät dabei zu einer archäologischen Freilegung von etwas vermeintlich längst Verschwundenem: der Finger des „gardien“ löst die Büschel aus Moos und Flechten von dem Grabstein, während der Regen erneut das Vergehen der Zeit und damit das sich bald schließende Zeitfenster, in welchem ein Zugang zur Vergangenheit noch möglich ist, symbolisiert (G, 163f.). Im Rückblick wird die Rezitation der alten Frau im Schloss zum prophetischen Fanal: […] la voix cassée, fragile aussi, fluette, récitant comme une leçon apprise, avec cette espèce de ferveur et de laborieuse application des enfants, les mots pour elle privés de sens, enregistrés et retenus par cœur, comme une prière en latin ou une fable, quelque chose, en tout cas, que l’on ne doit dire que debout, et qui […] semblaient (les mots qui sortaient de la bouche édentée, les cadences des vers, l’épitaphe) une simple suite de sons, absurdes, inventés pour parler de choses sans existence réelle comme des colonnes de marbre, l’écume et l’indigo de la mer, des frontons - […] (G, 159). Ebenso wenig wie die alte Dame den Inhalt der Verse zu begreifen vermag, da ihr das historische Kontextwissen um die Geschichte des Generals und seiner ersten Frau fehlt, kann auch der ‚Nachfahr’ bei der Lektüre der rea- 376 len Inschrift ihre ursprüngliche Bedeutung erfassen. 133 Dies liegt zum einen am mangelhaften Überlieferungszustand der Inschrift: es finden sich auf dem Stein sogar völlig leere Abschnitte - „l’intervalle d’une ligne sans aucune trace de caractère gravé, rien que la pierre grise, froide, nue“ (G, 164) - die nur im Sinne eines allgemeinen Schweigens, eines allgemeinen Trauergefühls entschlüsselbar sind, ohne jedoch einen Bezug zur konkreten historischen Situation des Generals nach dem vorzeitigen Tod seiner ersten Frau herzustellen. 134 So bleibt es dem ‚Nachfahren’ zuletzt verwehrt, am Orte des Grabes einen Zugang zu der Vergangenheit seines Vorfahren zu finden; Sprache allgemein und selbst in Stein gravierter Text erweisen sich als ungeeignete Speichermedien von (vergangener) Realität. Die spezifischen Gefühle des Generals nach dem Verlust seiner Frau sind in dem von ihm selbst komponierten Trauervers nicht länger nachvollziehbar; es bleiben dem Besucher und seinem Begleiter nur allgemeine Empfindungen von Vergänglichkeit und Trauer, die vor allem durch die Begleitumstände - die im Zustand der Verwesung begriffene Natur sowie durch den Regen, den Herbst und die Stille - hervorgerufen werden. Nach der Schlossruine und dem Grab der ersten Frau ist es das Grab von L.S.M. selbst, dass der Besucher als letzten Erinnerungsort seiner Familiengeschichte aufsuchen möchte. Aber dieses andere Grab existiert schon seit langem nicht mehr, wie der „homme-babouin“ erklärt: „[…] l’autre expliquant alors: la nouvelle route, le cimetière amputé, la tombe profanée, la croix seule alors hissée au sommet de clocher, […]“ (G, 168). Die sterblichen Überreste des Generals wurden nach der Einebnung seines Grabes gemeinsam mit denen seiner ehemaligen Bediensteten in einem kommunalen Massengrab bestattet. Der ‚Nachfahr’ sucht nach Erklärungen für diesen Umstand, der jeden Zufallscharakter verloren zu haben scheint: […] comme si tout, donc, avait été ordonné, décidé, programmé par une puissance non pas moqueuse, facétieuse, mais logique, rationnelle, pour parfaire audelà de la mort, de la putréfaction, un destin hors série, à la fois violent, sacrilège, indocile, ou plutôt indomptable (pensant : « Mais pas seulement cela : quelque chose d’autre encore, quelque chose de plus acharné, de plus puissant 133 Die Inschrift verliert in Simons Roman also ihre Funktion als die Vergangenheit erklärende Hilfestellung für die Erinnerung, auch wenn das Grab mit seinen dort immer noch ruhenden sterblichen Überresten der ersten Frau „ein Ort numinoser Präsenz“ bleibt (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 324.). 134 S. Schreckenberg erläutert, wie die Verwitterung der Schrift bis hin zur Unlesbarkeit als Metapher für das endgültige Vergessen zu interpretieren ist. Ebenso wie die auf den Stein gemeißelte Schrift der Zeitlichkeit unterworfen ist, ist auch das Gedenken der Lebenden an die Verstorbenen vergänglich. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 241.) 377 que le fantôme d’un roi décapité, plus puissant même que celui d’une jeune morte, la huguenote […]) (G, 169). Die endgültige Vernichtung des Generals, das Auslöschen selbst seines Körpers scheint mit Absicht geschehen zu sein; eine rationale, logisch agierende Macht hat scheinbar ein außergewöhnliches Schicksal vollendet. Hier wird einerseits auf den mysteriösen Fluch angespielt, der auf der Familie zu lasten scheint (der Verfall des Schlosses, der Verfall des Familienvermögens nach der Reblaus-Epidemie, die Dekadenz des durch den General begründeten Familienzweiges im Sinne eines zunehmenden Bedeutungsverlustes und einer Verbürgerlichung). Und diese mysteriöse Macht, die den Fluch ausgesprochen hat, stellt sich als machtvoller dar als ein enthaupteter König oder eine vernachlässigte Ehefrau. So findet sich an dieser Stelle der erste explizite Hinweis, dass die Schuld des Generals aus einer Tat resultiert, die noch verurteilenswerter ist als ein régicide - als die Ermordung eines Königs. Doch wird der kriminelle Akt, die Verantwortung für die Hinrichtung des eigenen Bruders, hier noch nicht genannt; der Spannungsbogen, der sich bis in das fünfte Kapitel hinein erstreckt, wird somit weiter ausgebaut. Mit Stefan Schreckenberg lässt sich die Episode um den Besuch auf dem Familienschloss als Versuch des ‚Nachfahren’ interpretieren, „[…] jenseits des kollektiven Gedächtnisses einen Zugang zur familiären Vergangenheit zu finden.“ 135 Das kollektive Gedächtnis, repräsentiert von der Großmutter sowie von Mutter und Onkel, ist dem ‚Nachfahren’ aus verschiedenen Gründen nicht mehr zugänglich: Während die Großmutter einerseits durch ihren Tod und andererseits durch ihre die Ereignisse um den General zensierende Funktion als Vermittlerin der ‚wahren’ Familiengeschichte ausfällt, ist auch die Elterngeneration als Instanz der Vergangenheitsübermittlung weitestgehend bedeutungslos. So spielt die Mutter des Jungen in seiner Erziehung wahrscheinlich aus Krankheitsgründen keine nennenswerte Rolle und auch der Onkel verfügt nur über rudimentäres Wissen über die Vergangenheit und stützt sich in seinen Ausführungen vor allem auf Hypothesen. Auch ist - wie gezeigt wurde - der Versuch des ‚Nachfahren’, die Orte der Familiengeschichte zum ‚Sprechen’ zu bringen, zum Scheitern verurteilt: Das Schloss selbst befindet sich in einem Stadium des Verfalls, das keinen Aufschluss mehr gibt über seine früheren Bewohner; das Grab der ersten Ehefrau des Generals und die dort eingravierte Inschrift sind ebenfalls nur noch ansatzweise in einen Zusammenhang mit den spezifischen Trauer- und Verlustgefühlen des Witwers zu bringen, sie drücken vielmehr insbesondere in Verbindung mit der deutlich von Verwesung und Zerfall geprägten Atmosphäre des Ortes ein ganz allgemeines Bewusstsein von 135 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 232. 378 der Endlichkeit - auch des eigenen - Lebens aus. Und nicht zuletzt fällt das Grab des Generals selbst, das einen Anhaltspunkt hätte bieten können für die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung des dort Bestatteten, als historische Quelle aufgrund seiner restlosen Zerstörung völlig aus. So bleibt dem ‚Nachfahren’ zuletzt nur noch, als letzte nicht-textuelle Quelle nach der Büste des Generals zu suchen. Er gelangt schließlich an die Adresse oder vielmehr an die Telefonnummer eines insolventen Immobilienmaklers, der mit einer Nachfahrin des Generals verheiratet war. Doch zu seiner Überraschung muss er entdecken, dass er um wenige Tage zu spät gekommen ist: die Räume sind von den Gläubigern vollständig ausgeräumt worden - „[…] dans un coin la moquette gardait encore l’empreinte d’un carré où les poils aplatis étaient restés couchés, […]“ (G, 237f.). Der frühere Besitzer weiß jedoch nichts über den Verbleib der Statue, da er beim Verkauf nicht anwesend war (G, 238). So scheint sich zuletzt die Bedeutung der Büste als historische Quelle für die Biographie des Generals auf ihr bloßes Gewicht zu reduzieren, von dem jedoch nichts bleibt als „[…] cette empreinte vide, comme ces traces de pieds géants qu’on prétend laissées dans un rocher par quelque personnage fabuleux, […]“ (G, 242). Die Versuche des ‚Nachfahren’, die Biographie des Generals zu rekonstruieren und insbesondere den mysteriösen Skandal um seine Person aufzuklären, enden schließlich in seiner Auseinandersetzung mit den von L.S.M. hinterlassenen textuellen Quellen - seinen Briefen, Berichten, Listen und Anordnungen. Diese Lektüre- und Interpretationsarbeit des ‚Nachfahren’ lässt sich nur indirekt nachvollziehen, da sich die betreffenden Textstellen auf mehrdeutige Weise sowohl auf den General selbst als auch auf seinen ‚Nachfahren’ beziehen lassen. Doch finden sich verschiedene Anhaltspunkte im Text, die eine etwas klarere Zuordnung plausibel machen: So lassen sich zwei verschiedene Szenerien unterscheiden; während die eine einen alten Mann auf einer Terrasse vor einem aufgeschlagenen Register zeigt, 136 präsentiert die andere ebenfalls einen alten Mann, der auf einem Balkon oberhalb eines Kasernenhofes sitzend verschiedene cahiers durchblättert 137 Die zweite Szene zeigt möglicherweise denselben alten Mann beim Verfassen eines Berichts über den Hinterhalt im Zweiten Weltkrieg (G, 47). 136 Weitere Merkmale dieser Szene ist der Flug mehrerer Krähen am Himmel sowie der Lichtfleck, den das im Sonnenlicht aufgeschlagene Register auf der Netzhaut hinterlässt (G, 25, 37, 40, 40f., 41, 53f., 59, 65, 67f., 68f.) 137 G, 28f., 35, 36, 37, 41, 47, 49, 55 (? ), 56, 60, 62, 72. (Auch in dieser Szene hinterlässt etwas - in diesem Fall das im gleißenden Sonnenlicht liegende Fenster - einen Lichtpunkt auf der Netzhaut, vgl. G, 49. Paradoxerweise scheint der Krähenflug auf S. 37 beiden Szenerien zugeordnet werden zu können.) 379 Hier soll daher vorgeschlagen werden, 138 die Figur in der ersten Szene als den General L.S.M. in seinem letzten Lebensjahr zu bestimmen, in welchem er den Sommer und den Herbst überwiegend auf der Terrasse seines Gutes verbracht hat, um dort seine Unterlagen zu ordnen und seine Memoiren abzufassen. Hingegen präsentiert die zweite Szene des Kasernenhofes den ‚Nachfahren’ selbst, und zwar einerseits in seiner Rolle als Autobiograph seiner eigenen Kriegserfahrungen, und andererseits als Leser und Biograph im Archiv des Generals. 139 In jedem Fall tritt der ‚Nachfahr’ hier als Historikerfigur auf, der auf traditionelle Weise verschiedene Quellen interpretiert. Das Ergebnis dieses Quellenstudiums liegt dem Leser nun scheinbar in Gestalt von Teilen des Romans Les Géorgiques vor Augen. 140 Von Bedeutung ist die ambivalente Funktion der verschiedenen Schriftstücke, die ähnlich wie in einem Archiv in dem verborgenen Wandschrank aufbewahrt wurden. Einerseits hat das Versteck im Wandschrank die Dokumente vor ihrer möglichen ‚geschichtsreinigenden’ Vernichtung durch andere Familienmitglieder gerettet, andererseits war der Zugang zu diesen Dokumenten bis hin zur Unzugänglichkeit reglementiert; die Kontrolle über das Archiv des Generals und damit die Kontrolle über die Familiengeschichte wurde im Laufe der Jahre zur Machtfrage. Erst nach dem Tod der alten Dame konnte die nachfolgende Generation Zugang zum Archiv 138 Zu demselben Schluss in der Bestimmung der jeweiligen Figurenidentität ist auch S. Schreckenberg in seiner Monographie gekommen, vgl. S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 52. Dagegen hält N. Piégay-Gros den in den Unterlagen blätternden alten Mann ausschließlich für den Nachfahren. (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 12.) T. Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. (1996), S. 193, konstatiert allgemein eine „Konfusion […] der Identität“, die er „[…] strukturell […] als Überlagerung zweier Schreibprojekte [interpretiert], eines biographisch-historiographischen […] und eines autobiographischen […].“ (Ebd., S. 195.) Dadurch werde letztendlich die „Illusion eines mimetischen Erinnerungssubjektes“ zerstört (Ebd., S. 235). 139 Die physische Existenz dieser Unterlagen wird im ersten Kapitel des Romans anschaulich beschrieben, wenn z.B. die unterschiedlichen, verblichenen, Farbtöne des Registers sowie die schon fast völlig ausgelöschte Schrift auf dem Einband geschildert werden (G, 68f.). Es stellt sich hier allerdings die Frage nach der beruflichen Situation des Nachfahren im Alter: Ist er Militär und hat deshalb Zugang zu den Örtlichkeiten (Kaserne, Pferde)? Oder hat er die Möglichkeit erhalten, die Militärarchive zu benutzen, die sich anscheinend nach wie vor an Ort und Stelle befinden? Die letzte Möglichkeit ist meines Erachtens wahrscheinlicher, zumal ja das fortgeschrittene Alter des Erzählers eine militärische Tätigkeit kaum glaubwürdig erscheinen lässt. 140 Vgl. zu der Funktion des Nachfahren als die eines Historikers auch S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 233, 286, 290. 380 erlangen und die Dokumente einer kollektiven bzw. demokratischen Nutzung wieder zugänglich machen. 141 Im Folgenden soll nur kurz auf die Bedeutung des Archivmaterials für die Rekonstruktion der Familiengeschichte bzw. der Biographie des Generals eingegangen werden. Wie Stefan Schreckenberg ausführlich dargelegt hat, ist in diesem Zusammenhang interessant, auf welch’ unterschiedliche Weise das fremde Textmaterial des Generals in die Romanhandlung integriert wird. Während im ersten Kapitel die Inhalte der verschiedenen Schreiben häufig nur paraphrasierend wiedergegeben werden, nimmt die Länge der einzelnen Zitate aus den Dokumenten im dritten Kapitel deutlich zu; diese werden in die Haupthandlung im Kursivdruck integriert, ohne dass jedoch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen Intertext und Haupttext zu erkennen ist. 142 Laut Schreckenberg dient dieses besondere Verfahren der Integration von Fremdtexten dazu, einerseits ihren Charakter als historische Dokumente zu unterstreichen - „[s]ie erzählen nichts, sie geben nur Zeugnis von historischen Fakten, sei deren Inhalt auch noch so banal[.]“ - und andererseits dem Leser einen direkten Blick zumindest in Teile des Archivs zu gewähren. 143 Hingegen weist die Episode um den Jungen, der im dunklen Salon, inspiriert von der Marmorbüste, seinen Vorfahren und dessen Tätigkeiten imaginiert (G, 250ff.), bereits voraus auf das fünfte Kapitel: Hier beziehen sich die Zitate aus den Registern inhaltlich direkt auf den Haupttext und belegen auf diese Weise die Ausführungen des Erzählers. 144 Es stellt sich nun abschließend die Frage nach dem Gelingen oder Scheitern dieses historiographischen bzw. biographischen Projektes. Gelingt es dem ‚Nachfahren’, durch den Besuch von Erinnerungsorten bzw. durch sein Quellenstudium plausible Antworten auf die Fragen nach der Verantwortung des Generals am Schicksal seines Bruders zu finden? Wie noch zu zeigen sein wird, arbeitet der ‚Nachfahr’ nur vordergründig ernsthaft als Historiker: weder beschreibt er präzise die von ihm zitierten Dokumente, noch hält er sich ausschließlich an die ‚Fakten’. Das Beispiel seiner früheren Imaginationen weist bereits exemplarisch auf das spätere Vorgehen des ‚Nachfahren’ insgesamt hin: Er rekonstruiert die Biographie des Generals nicht allein aus den ihm zugänglichen Dokumenten und Objekten, 141 Vgl. hierzu A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 343f. 142 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 287-289. 143 Ebd., S. 289. 144 Ebd., S. 289f. Gerade durch die Beglaubigung seiner Ausführungen durch Quellenbelege aus den Unterlagen des Generals wird der Nachfahr zum (scheinbar) ernsthaft arbeitenden Historiker. 381 sondern greift auch auf Imaginationen und Spekulationen zurück und bewegt sich damit im Bereich des Fiktiven bzw. des Fiktionalen. 145 6.3.1.3 Die Memoiren des Generals L.S.M. Auch wenn die Lebensgeschichte des Generals 146 überwiegend durch den narrativen Diskurs seines ‚Nachfahren’ in Les Géorgiques vermittelt wird, so finden sich an einigen Stellen im Text jedoch auch Hinweise auf seine eigene Schreibtätigkeit sowie auf die jeweiligen Kategorien, in welche sich die von ihm produzierten Texte einordnen lassen. Die spezifische Motivation des Generals zum Abfassen seiner Memoiren liegt in seinem Bestreben, detailliert Zeugnis abzulegen von den zeitgenössischen politischen Ereignissen und Entscheidungen, an denen er beteiligt war; hierzu zählen insbesondere die Französische Revolution und die durch sie bedingten Kriege in Europa. 147 Die vom General verfassten Texte finden sich überwiegend als markierte 148 intertextuelle Zitate im umgebenden Romantext wieder; die Figur des Generals wird nur an wenigen Stellen beim Verfassen dieser Texte präsentiert. So finden sich im ersten Kapitel des Romans wiederholt Zusammenfassungen von Briefen, die mit „il écrit“ eingeleitet werden. 149 Wie die „registres“, die der ‚Nachfahr’ zur Abfassung seiner Biographie des Generals verwendet, deutlich machen, lassen sich die von L.S.M. hinterlassenen Schriftstücke verschiedenen Kategorien zuordnen: „Ils [les registres] contiennent les doubles de centaines de lettres, de rapports, de mémoires, de bordereaux, de comptes de domestiques, de projets d’ar- 145 Vgl. S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 286. Dagegen betont N. Piégay-Gros, dass sich im Umgang des Nachfahren mit den „archives familiales“ zwar eine gewisse Tendenz zur Biographie nachweisen lasse, jedoch kein autobiographischer Pakt im traditionellen Sinne geschlossen werde: „[…] l’écriture les [les archives] arrache au vécu individuel et les transforme en matière fictionnelle et romanesque.“ (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 34.) Meines Erachtens fehlt auch hier sowohl bei Schreckenberg als auch bei Piégay-Gros die Berücksichtigung fiktionaler auto- / biographischer Formen der Vergangenheitsrekonstruktion: Es muss unterschieden werden zwischen traditionellen bzw. faktualen Formen des biographischen bzw. historiographischen Schreibens, deren Konventionen Simons Roman sicherlich nicht erfüllt. Daher stellt sich vielmehr die Frage, warum hier mit den Konventionen realistischen historischen Erzählens gespielt wird. 146 A. Fletcher hat die biographischen Daten des historischen Generals Lacombe Saint- Michel rekonstruiert: J. Fletcher: „The General in The Georgics.“ (1985). 147 Vgl. z.B. den Eintrag in seinen Memoiren in italienischer Sprache über seine Begegnung mit dem Bey von Tunis (G, 48). 148 Sei es durch die typographische Markierung oder durch die Einleitung mit sogenannten ‚inquit-Formeln’ wie „il écrit“. 149 Vgl. G, 21, 23- 30, 32-34, 39, 45, 49, 57, 59, 60, 69-76. 382 mées, d’inventaires d’arsenaux, d’ordres et d’instructions de toutes sortes, parfois des récits de voyages ou des brouillons de discours.“ (G, 69) 150 Gegen Ende seines Lebens unternimmt der General den Versuch, unter Rückgriff auf dieses heterogene Quellenmaterial seine Memoiren zu destillieren. Allerdings markiert der Text die Zitate aus diesem Prätext nicht, so dass allein die stilistische Gestaltung des jeweiligen Textabschnitts Aufschluss über die Textsorte geben können. 151 Hierzu zählen möglicherweise die Beschreibung, die der General von der unter seinem Befehl stattfindenden Belagerung Peschieras gibt, sowie von dem ihm im Anschluss übertragenen Oberbefehl über Piemont (G, 55f.). Schließlich erscheint der General im letzten Kapitel des Romans in der Imagination des ‚Nachfahren’ als Verfasser seiner Memoiren auf der Terrasse seines Gutes sitzend: Ou peut-être pas: les yeux grands ouverts, fixant devant eux sans les voir les ormeaux de l’allée, le pré aux poulains, le verger, l’autre flanc du vallon, et sur les genoux (ou peut-être la table qu’il se faisait apporter, ou encore, les jours de pluie, dans cette bibliothèque de la tour aux panneaux boisés où plus tard le fou entasserait sa provision de pommes de terre germées) un de ces simples cahiers sans reliure, formés de feuilles sommairement cousues ensemble à la main, et sur la première page desquels il écrivait : « Mémoire sur mon ambassade à Naples », ou « Voyage en Barbarie », ou « Souvenirs », […] (G, 373). Im Anschluss an diese Imagination des Erzählers/ des Biographen über die Schreibsituation des Generals folgt ein allem Anschein nach reales Zitat aus den genannten Texten, das zur Betonung seiner Authentizität die von L.S.M. vorgenommenen Korrekturen und Streichungen im Druckbild des realen Romans enthält. 152 Die beiden zitierten Schriftstücke präsentieren einerseits L.S.M.s Analysen der politischen Lage in Neapel anlässlich des Italienfeldzugs von Napoleon Bonaparte im Jahre 1796. Andererseits wird die Situation des ersten directoire kurz vor seinem Niedergang bzw. seinem Übergang ins zweite directoire am 23. fructidor an V (September 1795) beschrieben. Mit diesem Datum beginnt die Epoche der Staatsstreiche in der Französischen Revolution, die am 9. November 1799 mit dem Putsch Napoleon Bonapartes nach 150 Eine genauere Aufzählung der verschiedenen Textsorten findet sich im Zusammenhang mit der Darstellung der Entdeckung der Dokumente im verborgenen Wandschrank (G, 439f.). 151 So wird der Berichtscharakter der Textstelle, welche u.a. die Belagerung Peschieras zum Gegenstand hat, durch die Verwendung des passé simple unterstrichen sowie durch die Neutralität der Faktenvermittlung. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den historischen Ereignissen und der Beteiligung des Generals an ihnen; der Leser erhält keinen Einblick in seine Gedanken oder Gefühle. 152 G, 373f., 375f. Die Funktion dieser Nachahmung einer wissenschaftlich exakten Manuskript-Transkription, die auch Varianten und Fehler berücksichtigt, besteht in der Erzeugung und Aufrechterhaltung der Authentizitätsillusion. 383 seiner Rückkehr aus Ägypten enden wird. 153 Der General L.S.M. verfolgt mit seiner Darstellung der genannten politischen Ereignisse im ersten Fall das Ziel, die überlegene militärische Stärke der Revolutionsarmee in Italien unter ihrem Oberbefehlshaber Napoleon Bonaparte zu zeigen. Darüber hinaus unterstreicht er seine Mittlerfunktion als Botschafter in Neapel: in dieser Funktion versuchte der General laut der Selbstdarstellung in seinen Memoiren erfolglos, das Königreich Neapel von einem Aufstand gegen die französische Besatzung abzuhalten. Der Darstellung seiner Argumentation gegenüber seinem italienischen Verhandlungspartner de Gallo schließen sich die Schilderung von Reiseeindrücken an, die der General bei einem Besuch der erst 1709 bzw. 1748 wiederentdeckten römischen Städte Herculaneum und Pompeji gesammelt hat. Das zweite Zitat aus den Memoiren des Generals präsentiert seine Klage über die Missachtung, die ihm von seinen ehemaligen Direktoriumskollegen entgegenschlägt. Dabei stellt er die Hochachtung, die der directoire von Ligurien ihm gegenüber in einem Brief ausgedrückt hat, der Gleichgültigkeit und Ablehnung des französischen directoire gegenüber. Prophetisch äußert sich der General über die Wirkung dieser persönlichen „faiblesfe [sic! ] et […] caducité“ auf die „prospérité des états“, in diesem Fall des französischen Staats (G, 375). In einem zweiten Abschnitt kommentiert L.S.M. die Geschichte des Priester Siéyès, eines Zeitgenossen, der das Direktorium zunächst abgelehnt hatte, um dann später durch Intrigen doch Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen bis hin zur Einforderung des Botschafterpostens in Preußen. Auch diese Episode zeugt von der Enttäuschung des Generals über die Korruption der revolutionären Ideale und ihrer Urheber; er selbst scheint sich mit zunehmendem Alter immer mehr von diesen zu distanzieren. 154 In diesen beiden Auszügen aus seinen Memoiren - die einzigen, die Simons Roman ausführlich und eindeutig zitiert - präsentiert sich der General in der Rolle des traditionellen Memoirenschreibers. Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt in der Schilderung und Analyse zentraler politischer Ereignisse und Zusammenhänge, in denen er selbst eine tragende Rolle gespielt hat. Die persönliche Note der Texte resultiert vor allem aus der Andeutung seiner persönlichen Meinung zu den Vorgängen; es fehlen jedoch explizite Beschreibungen seiner Gefühls- und Gedankenwelt. 155 153 Vgl. hierzu G. Duby (Hg.): Histoire de la France des origines à nos jours. (1995), S. 534- 536. 154 M. Thouillot unterstreicht, dass der General vor allem in der Sicht des Erzählers „[…] un acteur capital de l’Histoire de France, demeuré incorruptible dans un océan de compromissions […]“ darstellt. (M. Thouillot: „Claude Simon et l’autofiction: D’un Acacia à l’autre.“ (2004), S. 125.) 155 Vgl. z.B. I. Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk [1970].“ (1998), S. 178. 384 Die historiographische Bedeutung der Memoiren des Generals sowie der anderen von ihm überlieferten Dokumente liegen in ihrer besonderen Aussagekraft für die Skizzierung einer ‚Alltagsgeschichte’ der Französischen Revolution, indem die ganz spezifischen „[…] sogenannten Handlungsbedingungen [,] Landschaft (ihrerseits man made), Familienbeziehungen, Tod, Glück, Zeitlichkeit und Zeitordnung […]“ 156 einer historischen Figur beschrieben und analysiert werden und der Leser auf diese Weise Informationen über das ganz private (Er-)Leben der großen historischen Umwälzungsprozesse in dieser Epoche erhält. Im Sinne der Mikrohistorie konzentriert sich der Blick auf ein eng begrenztes Beobachtungsfeld für die historische Rekonstruktion der Zeit von 1789 bis 1812: In der Darstellung der historischen Vorgänge vor allem aus dem Blickwinkel des Generals können „[…] die Wechselbeziehungen der kulturellen, sozialen, ökonomischen und politisch-herrschaftlichen Momente umfassender historischer Prozesse als lebensgeschichtliche Zusammenhänge in den Blick gerückt werden.“ 157 Die zitierten Dokumente des Generals könnten somit über ihren ganz speziellen Informationswert im Hinblick auf seine eigene Lebensgeschichte bzw. die seiner Familie hinaus fruchtbar gemacht werden für eine umfassendere Interpretation der Auswirkungen der Französischen Revolution sowie der mit ihr in Zusammenhang stehenden Ereignisse auf das Leben der einfachen Menschen. Wie die Auswahl der zitierten Schriftstücke aus dem Nachlass des Generals zeigt, ist es dieses spezifische Erkenntnisziel, das den ‚Nachfahren’ bei der Rekonstruktion der Lebensgeschichte seines Ahnen neben der Enthüllung des Familiengeheimnisses geleitet hat. 158 6.3.1.4 O. als indirekter Autobiograph Eine besondere Stellung im Romantext von Les Géorgiques nimmt die ‚indirekte’ - scheinbar oral konzipierte 159 - Autobiographie des Spanienkäm- 156 A. Lüdtke: „Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie.“ (2001), S. 563. 157 H. Medick: „Mikrohistorie.“ (2002), S. 217. Vgl. zu den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen von Makro- und Mikrohistorie W. Schulze: „Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema.“ (1988), S. 324; 337. 158 Dagegen wertet N. Piégay-Gros die auffällige Fragmentierung der Archive in Les Géorgiques als Zeichen ihrer notwendigen Unvollständigkeit - diese können per se nicht die vollständige Vergangenheit enthalten; der Text übt hier also Kritik an einer „vision totalisante du roman historique“. (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 95.) 159 N. Piégay-Gros hat in ihrer Studie zu Les Géorgiques zu Recht darauf hingewiesen, dass in dem Kapitel über den Spanischen Bürgerkrieg jeder Hinweis auf eine schriftliche Fixierung des „récit“ (G, 51) fehlt. In ihrer Sicht erscheint O. hier als „beau parleur“; der ursprüngliche, real existierende Text von Orwell wird auf diese Weise ab- 385 pfers O. ein. Das vierte Kapitel, das eine Zusammenfassung und Interpretation des Primärtextes von George Orwells Homage to Catalonia (1938) 160 durch eine unbekannte Erzählerfigur liefert, 161 präsentiert sich als monolithischer Block im Textgefüge: Im Gegensatz zu den anderen vier Kapiteln finden sich in diesem Kapitel keine Verknüpfungen mit den übrigen histoires des Romans; alle hier berichteten Ereignisse stehen inhaltlich allein im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936/ 37. Doch weist der discours noch eine weitere Besonderheit auf: So werden - wie bereits angedeutet - die autobiographischen Erinnerungen der historischen Person Orwell nicht direkt in Form von intertextuellen Zitaten präsentiert, wie es bei den verschiedenen Dokumenten des Generals L.S.M. der Fall war. Stattdessen ist zwischen den Leser und den ursprünglichen Autor Orwell eine unbekannte Erzählerfigur als auktoriale Instanz geschaltet, welche Passagen aus dem Primärtext auswählt und kritisch bewertet. Auf diese Weise erhält der Leser - auch hier wieder im Gegensatz zur Biographie des Generals - keinen direkten Einblick in das Quellenmaterial, sondern muss sich auf die Zuverlässigkeit und die Meinung des unbekannten Erzählers verlassen. Im Folgenden sollen die rudimentären Versatzstücke des ursprünglichen autobiographischen Berichts von O. in Les Géorgiques einer Analyse unterzogen werden: Welche Intention hat O. mit seinem Bericht über die Ereignisse im Spanien des Jahres 1936/ 37 verfolgt und lässt sich diese in der Zusammenfassung durch die unbekannte Erzählerfigur rekonstruieren? Welcher Verfahren der historiographischen bzw. autobiographischen Darstellung bedient er sich? Vor welche Probleme sieht er sich bei der retrospektiven Rekonstruktion dieses besonderen Lebensabschnitts gestellt? Der Leser wird über die Intention des Spanienkämpfers O., die dieser mit seinem Bericht über die von ihm erlebten Ereignisse verfolgt, nur aus zweiter Hand, durch die Mutmaßungen der Erzählerfigur, aufgeklärt: Peut-être espère-t-il qu’en écrivant son aventure il s’en dégagera un sens cohérent. Tout d’abord le fait qu’il va énumérer dans leur ordre chronologique des événements qui se bousculent pêle-mêle dans sa mémoire ou se présentent selon des priorités d’ordre affectif devrait, dans une certaine mesure, les expliquer. Il pense aussi peut-être qu’à l’intérieur de cet ordre premier les obligations de la construction syntaxique feront ressortir des rapports de cause à effet. (G, 310f.) Das mutmaßliche, aus der Organisation des Textes ableitbare Erkenntnisinteresse des Autobiographen O. besteht laut Erzähler in einem kohärenten gewertet, ihm bleibt der Status eines Textes verwehrt. (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 55f.) 160 G. Orwell: Homage to Catalonia. (2000) 161 Vgl. das regelmäßig wiederkehrende „il raconta que“ in diesem Kapitel. R. Sarkonak definiert diese besondere narrative Vermittlungssituation auch als „re-writing“ von Orwells Primärtext (R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 169.). 386 Sinn, den O. in seinen Erlebnissen erkennen bzw. den er diesen nachträglich verleihen möchte. Doch ist bereits in dieser Mutmaßung eine leichte Skepsis des Erzählers gegenüber dem Sprachoptimismus von O. zu erkennen, ergibt sich doch in den Augen des Erzählers ein Widerspruch zwischen der angestrebten chronologischen und syntaktischen Ordnung der Ereignisse im Text und ihrer völlig ungeordneten bzw. affektiv kontrollierten „Abspeicherung“ im Gedächtnis. Ein weiteres Ziel, das O. mit seinem Bericht verfolgt, wird in dem lakonischen Satz des Erzählers „Il essaie de faire comprendre cela[.]“ (G, 314) angedeutet. Diesem Satz geht eine Imagination des Erzählers über die Schreibsituation des Autobiographen O. im friedvollen England der Zwischenkriegszeit voraus, das sich in einem starken Kontrast zu Spanien befindet, welches zur selben Zeit unter dem Eindruck eines blutigen und völlig chaotischen Bürgerkriegs steht. So sieht sich O. in seinem autobiographischen Bericht auch vor die Aufgabe gestellt, seiner unwissenden Leserschaft einen Eindruck von der Lebenssituation der Menschen in Spanien zu vermitteln, einerseits von der Bedrohung durch die verschiedenen Geheimpolizeien und ihre Kerker sowie andererseits von der Machtlosigkeit der republikanischen Regierung (G, 312f.). So sind die von O. verwendeten, für die Autobiographie typischen Verfahren - Chronologie des discours und traditionelle Syntax - angereichert um die mögliche Verifizierbarkeit der erzählten Fakten sowie um einen journalistischen Stil, der von Bilder- und Detailreichtum und einer gewissen Neutralität geprägt ist (G, 314). Dadurch will O. verhindern, dass sein Bericht eine „interprétation partisane ou tendancieuse des événements“ zulassen könnte (G, 314). Andererseits verliert O. - wie der Erzähler wiederholt deutlich macht - durch diese ‚Historiographisierung’ seines Erzählens seinen autobiographischen Status existentieller Betroffenheit: „([…] comme s’il n’y avait pas été étroitement mêlé mais en avait été un témoin sans passion, seulement soucieux d’information).“ (G, 314) 162 Wie der Erzähler beklagt, geht es O. weniger um eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der vergangenen Realität des Bürgerkriegs und seiner eigenen besonderen Rolle darin, sondern allein um den „effet produit“ (G, 314). Doch deutet der Erzähler schon bald in einer erneuten Imagination von O.s Schreibsituation an, dass jener sein Ziel wohl nicht erreicht hat; dieses bestand darin, „[…] son invisible auditoire de morts et de vivants à la fois incrédule et attentif, composé de personnages qui sont à quelques variantes près comme autant de copies conformes de lui-même […]“ von den Schrecken des Bürgerkriegs in Spanien zu überzeugen: […] s’interrompant de nouveau d’écrire pour dévisager les invisibles auditeurs pour lesquels il parlait et qui l’observaient hochant dubitativement la tête, évi- 162 Vgl. ebenso G, 345-347, 352. 387 tant ses yeux, échangeant à la dérobée de brefs regards cachés par leurs lunettes aux fines montures, l’écoutant avec cette indulgence apitoyée que l’on accorde aux obsédés et aux fous, vaguement offusqués, vaguement gênés […] le regardant récapituler sur ses doigts pour être sûr de ne rien oublier, de ne pas se tromper, chacun des épisodes depuis le moment où il était entré dans cette caserne sept ou huit mois plus tôt jusqu’à ces journées qu’il était en train de décrire : […] (G, 358f.). Die Ungläubigkeit und Skepsis seiner Zuhörer ist einerseits bedingt durch die Unglaublichkeit der von O. berichteten Ereignisse, die in einem Europa des 20. Jahrhunderts nicht mehr vorstellbar sind und die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit wecken. Andererseits erscheint O. selbst in der Imagination des Erzählers als unglaubwürdig, hat er doch mit der Erinnerung an die von ihm erlebten Ereignisse zu kämpfen. In diesem Zusammenhang ist das „Finger-Zählen“ des Autobiographen O. als Metapher für seine dilettantischen Versuche zu interpretieren, ‚wahres’ Zeugnis von seiner Vergangenheit abzulegen. Wie der Erzähler an anderer Stelle deutlich macht, erschwert O. jedoch weniger seine problematische Erinnerung das Erzählen, als „[…] de rendre aussi cela crédible […]“; in diesem Fall sein Gefühl eines „enchantement“ (G, 348) anlässlich des nächtlichen „coup de main“ an der aragonesischen Front (G, 347). Vor allem machen jedoch die wiederholten „trous“, „des points obscurs“ bzw. „des incohérences même“ in O.s Bericht seine Autobiographie problematisch und für seine Leserschaft kaum glaubwürdig (G, 311). So geht O. nicht näher auf seine eigene Vergangenheit vor seinem Engagement in Spanien ein und verschweigt auch die wahren Gründe für seine aktive Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg (G, 311). Vermutlich aus Angst vor Fragen oder Bemerkungen aus seiner Zuhörerschaft expliziert er nicht die Gründe für seine Wahl einer bestimmten Milizionärskaserne und der damit verbundenen Entscheidung für eine bestimmte politische Gruppierung. Auch spart er in seiner Erzählung seine Aktivitäten und Gefühle aus und nennt auch nicht die Personen, die er vor dem eigentlichen Beginn seines Engagements in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Spanien getroffen hat (G, 328f., 334). Insbesondere erwähnt er aber mit keinem Wort die bereits auf die drohende Zuspitzung des Konfliktes zwischen den verschiedenen linken Gruppierungen hinweisenden Zeitungsschlagzeilen sowie die sich verstärkenden Rivalitäten zwischen den politisch unterschiedlich ausgerichteten Milizionärskasernen (G, 331). 163 Stattdessen beschreibt er ganz allgemein „l’atmosphère sinistre et 163 Vgl. ebenso G, 336: Hier imaginiert der Erzähler - oder ergänzt möglicherweise aus seiner eigenen Erinnerung - stalinistische Gruppen, die bereits beim Zug der neuen Milizionäre durch die Stadt (zu denen O. nun auch gehört) schwer bewaffnet in den Cafés oder vor den besetzten Gebäuden sitzen und nur darauf zu warten scheinen, diese Waffen gegen die doch eigentlich auf ihrer Seite kämpfenden Milizionäre auch einzusetzen. 388 lugubre de la ville“, die er als Zeichen des herrschenden Krieges interpretiert (G, 331f.). Tatsächlich resultiert diese unheilvolle und finstere Atmosphäre Barcelonas aus den schwelenden Konflikten innerhalb der linken Gruppen und vor allem aus der schließlich erfolgten Machtübernahme des kommunistischen Partido Socialista Unificado de Cataluña (PSUC), der auf großzügige materielle Unterstützung durch die UdSSR zurückgreifen konnte und deswegen den antistalinistisch-anarchistischen Gruppen wie unter anderem dem Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) überlegen war. 164 O. jedoch deutet in seinem autobiographischen Bericht sein Wissen um diese Zusammenhänge nur an - als Beispiel erwähnt er die von den Kommunisten eingerichteten „maison de fous“, die als Konzentrationslager für ihre politischen Gegner dienten: Pourtant cela aussi il l’admit. Il raconta bien que dès l’abord il lui parut encore que quelque chose n’allait pas, ou plutôt allait d’une façon telle qu’il commença à se demander pour de bon si la cause pour laquelle il était là n’était pas une cause définitivement perdue. Il ne fit pas tout de suite le rapprochement entre ce qu’il voyait maintenant et les discrets établissements placés sous la protection de saintes mariales couronnées d’ampoules électriques. (G, 351) So interpretiert der Erzähler das Aussparen der Ereignisse um den „Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“ 165 innerhalb der linken Gruppen in Barcelona als Zeichen entweder für den Stolz oder die Vorsicht O.‘s: Stolz, die eigenen Fehlentscheidungen zu verbergen, und Vorsicht, sich nicht nachträglich für mögliche politische Gegner angreifbar zu machen (G, 351f.). Am Ende zeigt sich O. mit dem Anspruch, seine Erlebnisse im Spanien des Bürgerkriegs in eine kohärente und sinnvolle Erzählung zu verwandeln, gescheitert: En fait, au fur et à mesure qu’il écrit son désarroi ne cessera de croître. A la fin il fait penser à quelqu’un qui s’obstinerait avec une indécourageable [sic] et morne persévérance à relire le mode d’emploi et de montage d’une mécanique perfectionnée sans pouvoir se résigner à admettre que les pièces détachées qu’on lui a vendues et qu’il essaye d’assembler, rejette et reprend tour à tour, ne peuvent s’adapter entre elles ni pour former la machine décrite par la notice du catalogue, ni selon toute apparence aucune autre machine, sauf un ensemble grinçant d’engrenages ne servant à rien, sinon à détruire et tuer, avant de se démantibuler et de se détruire lui-même. (G, 311f.) Der Erzähler verwendet zur Beschreibung der problematischen Situation, in der sich der Autobiograph O. beim Abfassen seines Berichtes befindet, 164 Vgl. hierzu W.L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939. (2005), S. 104f., v.a. S. 144-148. Simon äußert sich ebenfalls zu dem Hintergrund der von ihm selbst erlebten Ereignisse: C. Simon: „Claude Simon ouvre Les Géorgiques [Piatier, Jacqueline].“ (1981), S. 11. 165 W.L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939. (2005), S. 148. 389 die Metapher einer Maschine, die nach einer Gebrauchsanleitung zusammenzubauen ist. Doch sei es, dass die Anleitung fehlerhaft ist, oder sei es, dass die Bestandteile der Maschine nicht zusammenpassen, der Zusammenbau der Maschine funktioniert weder dahingehend, dass die auf der Anleitung abgebildete Maschine entsteht, noch dass ein anderes, ebenso verwendungstüchtiges Gerät entstehen würde. In den Augen des Erzählers verhält es sich so auch mit O.s autobiographischem Bericht: Weder repräsentiert dieser trotz seiner erzähltechnischen, syntaktischen und stilistischen Ausgefeiltheit die von O. erlebte, noch irgendeine andere Realität. Vielmehr handelt es sich - wie das Bild der unvollständig bleibenden Maschine illustriert - um einzelne, isolierte Anekdoten, die jedoch nicht aufeinander bezogen werden und auch keinen übergeordneten Sinn ergeben. 166 Der von O. produzierte Text erfüllt also nicht den anfangs formulierten, sprachoptimistischen Anspruch, den entweder scheinbar verborgenen Sinn in den vergangenen Ereignissen herauszuarbeiten oder diesen erst nachträglich Sinn zu verleihen, und stellt damit ein Beispiel für das Scheitern autobiographischer Sinnstiftung dar. 167 6.3.2 Das gescheiterte auto-/ biographische Projekt: Die Aporien der Vergangenheitsrepräsentation Aus verschiedenen Gründen ist das Projekt der nachträglichen, historiographischen Repräsentation vergangener Wirklichkeit, das die verschiedenen Figuren mit ihren autobiographischen bzw. biographischen Texten verfolgen, als gescheitert anzusehen. Der ‚Nachfahr’ muss bei der autobiographischen Rekonstruktion der Episode um die nächtliche Verlagerung des Winterquartiers erleben, dass seine Erinnerungen aufgrund der extremen Witterungsbedingungen und der daraus resultierenden psychischen Beeinträchtigungen wie Müdigkeit und Realitätsverlust unzuverlässig sind und von ihm nicht mehr sicher eingeordnet werden können. Als Biograph der Lebensgeschichte seines Vorfahren stößt er wiederum an die Grenzen des noch existenten Quellenmaterials: Weder erlauben ihm 166 Dabei lässt sich die am Ende der Beschreibung genannte Funktion der Maschine - „détruire et tuer“ - als Hinweis auf die für O. selbst in England immer noch anhaltende zerstörerische Wirkung des Krieges interpretieren (im Sinne von Traumata), die auch nicht ohne Einfluss auf den von ihm produzierten Text bleibt. 167 C. Conrad und M. Kessel interpretieren dieses Scheitern von O.s Anspruch auf eine sinnstiftende Funktion autobiographischen Schreibens als „ironische Spiegelung historischen Schreibens“ (C. Conrad und M. Kessel: „Geschichte ohne Zentrum. (Einleitung).“ (1994), S. 24.), während R. Sarkonak darauf hinweist, dass die von O. angewandte Strategie chronologischen, historischen Erzählens im Kontrast steht zum insgesamt in Les Géorgiques entworfenen Konzept historischen Erzählens, das sich ja nachgerade gegen die realistischen Prämissen von Chronologie und Rationalität wendet (R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 181.). 390 die Ruine des ehemaligen Familienschlosses und das sich auf dem dortigen Gelände befindende Grab der ersten Frau eine Annäherung an die frühere Lebenssituation und die einstigen Gefühle seines Ahnen, noch ist die Büste - eine der wenigen scheinbar naturgetreuen Abbildungen des Generals - auffindbar; von den nicht-textuellen Quellen ist demnach kein Aufschluss ebenso wenig über die schuldhafte Verstrickung des Generals in die Ermordung seines Bruders wie über sein Leben als adliger Anhänger der Revolution des 18. Jahrhunderts zu erwarten. So sieht sich der ‚Nachfahr’ zuletzt gezwungen, auf die textuellen Quellen zurückzugreifen; doch sind auch diese nicht unproblematisch für eine Rekonstitution der Vergangenheit, da sie nur wenig über die Gedanken und Gefühle des Generals verraten, sondern vielmehr äußere - politische und gesellschaftliche - Zusammenhänge präsentieren und die Verstrickung des Generals darin. Ebenso verhält es sich mit den wenigen Auszügen aus den Memoiren des Ahnen; in diesen finden sich vor allem Anspielungen von L.S.M. auf seine sich im Laufe der Zeit verändernde Haltung zur Französischen Revolution und zu ihren Urhebern, jedoch keine Informationen über sein privates Leben. Gleichsam als Paradigma für das Scheitern autobiographischer Sinn(re)konstruktion fungieren jedoch die indirekt wiedergegebenen Erinnerungen des Spanienkämpfers O. an die nur wenige Monate umfassende Zeit seines Engagements in Aragon bzw. in Barcelona. Detailliert analysiert der unbekannte Erzähler, wie und weshalb O. im Laufe seines Schreibprozesses die eingangs aufgestellten Ziele verfehlt und am Ende einen scheinbar neutralen, lückenhaften Bericht einer unbeteiligt wirkenden Beobachterfigur verfasst hat. Im Folgenden sollen die skizzierten Ursachen des Scheiterns auto-/ biographischer Sinnkonstitution in Les Géorgiques eingeordnet werden in den größeren Kontext der aktuellen Diskussion in den Geschichtswissenschaften um die grundsätzliche (Un-)Möglichkeit einer historiographischen Repräsentation von vergangener Realität. 168 In der geschichtstheoretischen Diskussion finden sich verschiedene Hinweise auf gewisse Aporien, 169 die eine tiefverwurzelte Skepsis der postmodernen Geschichtswissenschaft gegenüber der sprachlichen Erfassung ihres eigenen Gegenstandes, der Ver- 168 Vgl. hierzu die Feststellung von L. Hutcheon: „In both fiction and history writing today, our confidence in empiricist and positivist epistemologies has been shaken - shaken, but perhaps not yet destroyed.“ (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 106.) 169 Der Begriff soll hier verwendet werden im Sinne einer „Unlösbarkeit“ des Widerspruchs zwischen der nicht-sprachlichen vergangenen Realität und den verschiedenen sprachlichen und nicht-sprachlichen Verfahren ihrer Repräsentation bzw. Rekonstruktion. (Vgl. zum Begriff der Aporie F.-P. Burkard: „Aporie.“ (1999), S. 36.) 391 gangenheit, zum Ausdruck bringen. 170 Diese Aporien lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen: 1. das grundsätzliche Problem einer sprachlichen Repräsentation von Vergangenheit; 2. das epistemologische Problem im Sinne einer „Erkennbarkeit“ der ursprünglichen Vergangenheit in ihren überlieferten Quellen und schließlich 3. das Problem der Subjektivität des Historikers bzw. des Auto-/ Biographen. Die sich anschließenden Überlegungen sollen den sprach- und erkenntnisskeptischen Diskurs der Geschichtstheorie mit dem kritischen Diskurs über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sprachlicher und narrativer Rekonstitution vergangener Wirklichkeit in Les Géorgiques verknüpfen. 6.3.2.1 Das Problem der sprachlichen Referentialität Die postmodernen Geschichtstheoretiker vertreten im Gegensatz zu ihren positivistischen Vorgängern 171 die Ansicht, dass ein ontologischer Unterschied zwischen der ursprünglichen Realität und ihrer textuellen Überlieferung besteht. Wie D. Fulda postuliert, liefern bereits die Quellen selbst kein ‚Abbild’ vergangener Wirklichkeit: „Die Geschichte als Totalität aller Geschichten läßt sich textuell […] niemals einholen.“ Sie ist „nicht beobachtbar“, da jeder Mensch an ihr teilhat. 172 Um (vergangene) Realität erfahrbar werden zu lassen, muss sie semiotisch codiert werden; auf diese Weise wird „[…] eine schier unübersehbare, chaotische Flut von Phänomenen durchorganisiert und [diese nimmt dann] den Charakter differenziert wahrnehmbarer Ereignisse an, womit ein Verstehenshorizont geschaffen wird, der Prämisse für das Verstehen von Realität ist.“ 173 Mit „Durchorganisierung“ sind in der postmodernen Geschichtstheorie typischerweise narrative Verfahren von Selektion und Organisation der Realitätsfragmente gemeint; in diesem Sinne versteht sich auch H. Whites These der Ungleichheit von „a narrative account of real events“ und „a literal account thereof“: Indem vergangene Realität - bereits in ihrer Gestalt als textuelle Quellen - literarisiert und narrativisiert wird, erhält sie den Status eines „figurative account“, einer Allegorie. 174 170 Vgl. hierzu z.B. M. de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. (1991), S. 9; H. White: „Postmodernism, Textualism, and History.“ (1999), S. 179-181. Einen Überblick über die geschichtsphilosophische Diskussion der Narrativität von Geschichte bietet D. Carr: Time, Narrative, and History. (1986), S. 7ff. 171 Einen Überblick über die geschichtsphilosophischen Überzeugungen von Positivisten wie z.B. Ranke gibt J. Griffith: „Narrative Technique and the Meaning of History in Bénet and MacLeish.“ (1973), S. 3. 172 D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 31. 173 A. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. (1999), S. 38f. 174 H. White: „The question of narrative in contemporary historical theory. [1984].“ (1987), S. 48. Auch: H. White: „Der historische Text als literarisches Kunstwerk.“ (1994), S. 147. 392 So gilt für die Historiographie genauso wie seit Roman Ingarden schon für die Literatur, „[…] daß ein sprachliches Gebilde per definitionem nur ein schematisches, d.h. lückenhaftes, unvollständiges Abbild der dargestellten Wirklichkeit zu bieten vermag.“ 175 In Les Géorgiques führen die verschiedenen Historikerfiguren wiederholt Diskurse über die problematische Repräsentation vergangener und aktueller Realität durch Sprache. Es ist vor allem der ‚Nachfahr’, der in der retrospektiven Konfrontation mit den Ereignissen des Winters 1939/ 40 nach den richtigen Worten sucht, um die nur noch in seinen Erinnerungen präsente Realität in Worte zu fassen. Wie ein Leitmotiv durchzieht in diesem Zusammenhang das in Les Géorgiques stets präsente „comment dire“ den Text und zeugt auf diese Weise von dem Ringen des ‚Nachfahren’ um die angemessene Wortwahl zur Repräsentation seiner Vergangenheit: […] le groupe hétéroclite qui s’essoufflait à sa suite ou plutôt à sa poursuite, trébuchant dans l’herbe spongieuse, l’étrange cohorte, ou troupeau, de personnages à têtes de comptables ou de voyageurs de commerce […] : se hâtant maintenant en se dandinant, comme une troupe de canards dans le sillage d’un échassier, choisis (ou faillait-il dire : sélectionnés si tant est qu’il (le général) les eût choisis, qu’il ne les eût pas (comment dire ? ) simplement enregistrés […] sur recommandation de quelque cousin, de quelque ancienne maîtresse de l’allée des Acacias […]. (G, 127) 176 In der zitierten Textstelle sieht sich der ‚Nachfahr’ vor die Schwierigkeit gestellt, das unverständliche Verhalten des Generals anlässlich einer Truppeninspektion zu interpretieren. Er versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, wieso der General zu seiner Unterstützung auf so offensichtlich ungeeignete Leute zurückgegriffen hat. Der Zugang zur Vergangenheit ist dem ‚Nachfahren’ somit nicht allein aufgrund der zeitlichen Distanz zwischen dem Moment des Erlebens und dem Zeitpunkt der (schriftlichen) Rekonstruktion erschwert, sondern auch aufgrund seines eigenen begrenzten Wissens um die verborgenen Hintergründe der Ereignisse. Dem ‚Nachfahren’ als Autobiograph wird die Diskrepanz zwischen der vergangenen Realität und den Wörtern, die diese zu repräsentieren beanspruchen, insbesondere dann bewusst, wenn er den traumatischen Moment des Hinterhalts erinnert: „[…] cette suprême et dernière consécration: celle du feu, soudaine, violente, brève, juste le temps d’apprendre ce qu’on (les commandements réglementaires et les métaphores de poètes) leur avait caché, c’est-à-dire que ce que l’on appelait le feu était véritablement du feu, brûlait […]“ (G, 130). 175 F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 118. 176 Vgl. ebenso G, 115, 128, 150, 162, 196, 210. Die „ancienne maîtresse de l’allée des Acacias“ verweist auf die gealterte Odette aus Prousts Recherche. 393 In diesem Erinnerungsschock offenbart sich dem Protagonisten die Diskrepanz zwischen der Realität und der sie repräsentierenden Sprache: auf die alles vernichtende Erfahrung des Feuers haben ihn weder die Kommandos der militärischen Führung noch die Metaphern der Poeten angemessen vorbereitet - Sprache eignet sich folglich nicht zur mimetischen Repräsentation einer derart existentiellen Erfahrung. 177 Darüber hinaus wird in Simons Roman an verschiedenen Stellen der schleichende, sich im Laufe der Zeit vollziehende, Bedeutungsverlust von Wörtern thematisiert. So verliert der Familienname „Lacombe Saint- Michel“ des Generals mit dem Tod der letzten Namensträgerin - der Großmutter des ‚Nachfahren’ - die Funktion, eine alteingesessene Familie aus dem niedrigeren Landadel sowie das dazugehörige Familienschloss zu bezeichnen, und fungiert insbesondere in der Gegenwart des Erzählens nur noch als Name für einen Weinkeller bzw. zur Bezeichnung einer Schuld in Hypothekenbüchern; er ist zu einem Allerweltsnamen geworden. 178 Auf ähnliche Weise muss auch O. unter dem stalinistischen Terror während des Spanischen Bürgerkriegs die Erfahrung machen, dass Wörter wie „sécurité“ oder „légalité“ und „illégalité“ 179 völlig andere Sachverhalte in der Realität als bisher bezeichnen können: […]: toutefois il semblait s’avérer que ce mot (sécurité) devait posséder un double sens car c’était précisément celui-là que le chef de l’expédition avait articulé pour s’annoncer en pénétrant dans la pièce, l’affublant quoiqu’il ne fût pas écrit, seulement prononcé d’une majuscule, ce qui apparemment en changeait le sens, la sécurité avec un grand S se révélant le contraire de celle pourvue seulement d’une minuscule), […] (G, 268). Im Zusammenhang mit den verbrecherischen Übergriffen der stalinistischen Einheiten auf andere linke Gruppierungen verkehrt sich der durch das Wort „sécurité“ benannte Wirklichkeitsaspekt in sein Gegenteil: „sécurité“ meint nun nicht mehr länger ‚Sicherheit’ oder ‚Schutz’, sondern im Gegenteil ‚Bedrohung’ und ‚feindliche Übergriffe’. Daher sind Begriffe wie „légalité“ und „illégalité“, die in einem Rechtsstaat gesetzkonformes und 177 Ebenso G, 432: Dieselbe Erfahrung der Unaussprechlichkeit des Schreckens machen auch die beiden Brüder L.S.M. in ihrer vom Biographen imaginierten letzten Begegnung, die schweigend abläuft, da Worte nicht in der Lage wären, ihre Gefühle und Gedanken richtig auszudrücken. Und ebenso muss auch O. in Spanien feststellen, dass ihn die Lektüre von Büchern nicht auf die Schrecken des Bürgerkriegs vorbereiten konnte (G, 318, 337). A. C. Pugh wertet die in dieser Passage erkennbare Kritik an dem naiven Glauben einer sprachlichen Mimesis als „act of deconstructing the poetic metaphor“ (A.C. Pugh: „Facing the Matter of History: Les Géorgiques.“ (1985), S. 126.). 178 G, 198. Vgl. ebenso G, 144, 152. S. Schreckenberg führt in diesem Zusammenhang aus, dass das Verschwinden des adligen Familiennamens metonymisch für den Untergang eines ganzen Milieus steht. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 231f.) 179 G, 266. 394 kriminelles Verhalten voneinander unterscheiden, im Hinblick auf ihre frühere Funktion bedeutungslos geworden. 180 Am Ende müssen sowohl O. nach seiner Rückkehr aus Spanien als auch der General kurz vor seinem Tode die Erfahrung machen, dass Sprache nicht zur Repräsentation von Realität geeignet ist: O. stellt bei der autobiographischen Rekonstruktion der Ereignisse in Spanien fest, dass die Berichte der englischen Zeitungen nicht mit dem von ihm Erlebten übereinstimmen; 181 der General erkennt am Ende seines Lebens, dass trotz seiner unzähligen detaillierten Briefe die „intendante“ Batti seine Wünsche in Bezug auf die Gestaltung und Leitung seines Gutes nicht in die Wirklichkeit umgesetzt hat. 182 Während der General sprachoptimistisch daran glaubt, durch seine schriftlich-verbale Kommunikation mit der Verwalterin die Natur zu beherrschen und das reale Bild seines Gutes zu verändern, gelingt es Batti in ihren eigenen Briefen kaum, „[…] de convertir en mots des prairies, des fossés, de jeunes plants, […]“ (G, 461). Der Glaube an die performative Macht der Sprache bzw. der Schrift liegt allein beim General; der „intendante“ gelingt es im Laufe der Jahre nicht, die schriftlichen Anweisungen des Generals wunschgemäß umzusetzen, so dass dieser am Ende seines Lebens die Vergeblichkeit seines Bemühens, sein Land gleichsam ‚virtuell’ zu bestellen, erkennen muss (G, 474f.). 183 Der Roman diskutiert mit der Aufdeckung der Diskrepanz zwischen den sprachlichen Zeichen und der durch sie bezeichneten außersprachlichen Referenten die Möglichkeit der verbalen Repräsentation von Wirklichkeit. Dem durch den General verkörperten Glauben an die quasi-magische Kraft der Sprache wird am Beispiel der Mühen Battis bei der Umsetzung seiner Befehle die repräsentationsskeptische Position gegenübergestellt. 184 Die unzähligen Passagen in Les Géorgiques, welche die Erfahrungen der verschiedenen Figuren mit der problematisch gewordenen sprachlichen Repräsentation von außersprachlicher Realität darstellen, illustrieren das Scheitern des systematisch-rationalen auktorialen Diskurses der modernen Geschichtswissenschaft. Es wird deutlich, dass Sprache - und präsentiert sie sich scheinbar auch noch so neutral und objektiv wie der journalistische 180 Vgl. ebenso G, 319. 181 G, 316, v.a. 342f. 182 G, 461f., v.a. 474-477. 183 Vgl. zu den Briefen des Generals als „performatives Sprechen in einem weiteren Sinne“ auch S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 317; D.R. Ellison: „Narrative Levelling and Performative Pathos in Claude Simon’s Les Géorgiques.“ (1987), S. 312f. 184 Diese Konfrontation einer sprachoptimistischen und einer sprachskeptischen Position evoziert die Auseinandersetzung zwischen Georges und seinem Vater um die Zerstörung der Leipziger Bibliothek in La Route des Flandres. Vgl. Kap. 4.3.3.2 Die ‚Leere‘ der Wörter. 395 oder wissenschaftliche Diskurs - ein unzuverlässiges und sogar ungeeignetes Medium zur Darstellung vergangener Wirklichkeit ist. 185 6.3.2.2 Das epistemologische Problem: Quellenproblematik, Textraum, fremdmediale Speicherformen Ein weiterer Problemkomplex, den die postmoderne Geschichtstheorie erkannt hat und der in Les Géorgiques explizit thematisiert wird, betrifft die Erkennbarkeit von vergangener Wirklichkeit: Auf welche Weise ist das Vergangene den Menschen auch über eine große zeitliche Distanz zugänglich? Welche Probleme gehen mit den verschiedenen medialen Speicherformen von Vergangenheit einher? Es sind die Quellen, aus denen allein alles Wissen über die Vergangenheit gewonnen werden kann; sie sind der Ausgangspunkt historischer Erkenntnis. 186 Doch während die traditionelle Geschichtswissenschaft noch an eine Identität von Quelle und abgebildetem historischen Ereignis glaubte, zeigen sich postmoderne Historiker zunehmend skeptischer und der Quellenproblematik bewusst: Quellen zeigen stets nur einen fragmentarischen Ausschnitt vergangener Wirklichkeit; sie stellen immer schon Repräsentationen bzw. nur Spuren von Vergangenheit dar, jedoch nicht diese selbst. Gleichgültig in welcher Form historische Ereignisse überliefert werden, ob als Text- oder Bildquelle, es findet stets eine „Textualisierung der Vergangenheit“ statt, „[…] in welcher diese selektiert, kommentiert, modifiziert, d.h. in einen signifikanten Verweisungszusammenhang gebracht wird.“ 187 Wie J. Rüsen betont, stehen „Geschichten nicht so in den Quellen, daß sie aus ihnen allein (quellenkritisch) erhoben werden könnten[, sondern] [s]ie werden immer auch als Entwürfe an die Quellen herangetragen und mit Hilfe solcher Entwürfe, die als Bezugsrahmen einer historischen Interpretation der Quellenaussagen fungieren, erzählt.“ 188 Als Paradigma der Unzuverlässigkeit historischer Quellen lassen sich in erster Linie die vom General L.S.M. hinterlassenen Dokumente auffassen: Mit Ausnahme des Briefes, den der General an die Gendarmerie von Caylus anlässlich der Verhaftung seines Bruders geschrieben hat (G, 430), sowie des amtlichen Protokolls, welches die Verhaftung und Verurteilung von Jean-Marie L.S.M. dokumentiert, finden sich in den Papieren des Generals keine weiteren Anhaltspunkte über das Verhältnis der beiden Brüder bzw. über die Schuld des einen am Tod des anderen; Jean-Pierre L.S.M. nennt gar den Namen seines Bruders nach dessen Desertierung nicht mehr: 185 Vgl. hierzu auch S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 102. 186 K. Arnold: „Quellen.“ (2003), S. 251. 187 A. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. (1999), S. 38. 188 J. Rüsen: „Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft.“ (1987), S. 236. 396 […] ce hors-la-loi qui courait les bois comme un braconnier, ne possédait même pas de cheval, dont il ne devait rester plus tard aucune trace, pas un médaillon, pas une lettre, pas un papier témoignant qu’il avait été (sauf ces deux simples mots: mon frère, quand il s’agit de partager ses biens, et cette affiche, ces trois colonnes imprimées qui n’attestaient de son existence que par le jugement qui la lui enlevait, lui dont il était même défendu maintenant de prononcer le nom […] (G, 420). 189 Stattdessen wird der Historiograph, der sich mit der Geschichte des Generals und seiner Familie beschäftigt, mit einem typischen Quellenproblem konfrontiert: die schiere Materialfülle sowie ihre geringe Aussagekraft für eine Auflösung des Rätsels um die beiden Brüder. 190 Dieses Ungleichgewicht an Aufwand und Nutzen wird vom Onkel in einem Gespräch mit seinem Neffen mit der Technik verglichen, derer es im Theater hinter der Bühne bedarf, um den Auftritt von Tenor und Sopranistin perfekt erscheinen zu lassen: […] la voix de l’oncle Charles disant : « Ils [les papiers] sont à ta disposition si ça t’intéresse. […] C’est à la fois fastidieux et fascinant. Parce que pour le plus clair il s’agit de mouvements de troupes, de tableaux d’effectifs et d’inventaires de matériel. Comme dans tous les spectacles à grande mise en scène. Ou même intimistes. Des mois de fastidieuses répétitions et des tonnes de machineries à seule fin de permettre au ténor ou à l’héroïne tuberculeuse de lancer avec grâce dans une suprême apothéose le dernier et sublime contre-ut avant de s’affaler et mourir. Comme si l’Histoire était avant tout une affaire de comptables et de longues additions de chiffres dont le bilan se résume en quelques minutes de fracas et de meurtre. […] » (G, 445f.) In ihren Quellen präsentiert sich die Vergangenheit eben nicht als glorreiche ‚Histoire’, sondern vielmehr als eine Ansammlung unbedeutender Ereignisse und Zahlenkolonnen; erst im Verlaufe der Quelleninterpretation werden die disparat erscheinenden Ereignisse in einen Bedeutungszusammenhang gebracht. Doch bleibt bei diesem Prozess die Persönlichkeit des Historiographen keinesfalls unbeteiligt, wie ja auch der Onkel andeutet, als er auf die biographischen Ähnlichkeiten zwischen dem General und seinem ‚Nachfahren’ anspielt (G, 446) sowie auf die Rolle der Lebenserfahrung des Biographen bei der Analyse seines Objekts (G, 445). Neben ihrem Ausschnittcharakter besitzen historische Quellen jedoch häufig einen weiteren Problemaspekt: sie sind unzuverlässig, da sie in der Regel Zeugnis für den Diskurs der Machthaber sind. Diese Erfahrung muss - wie bereits beschrieben - beispielsweise der Spanienkämpfer O. nach seiner Rückkehr machen, wenn er in den englischen Zeitungen aus der Zeit seines Aufenthaltes in Spanien keinerlei Hinweis auf die von ihm erlebten 189 Vgl. ebenso G, 404. 190 Vgl. hierzu z.B. die Aufzählung der verschiedenen Textsorten, die der Onkel in dem lange Zeit verborgenen Wandschrank entdeckt (G, 439f.). 397 Schrecken findet (G, 342f.). Wie W.L. Bernecker in seiner Studie zum Spanischen Bürgerkrieg deutlich macht, führte der Spanische Bürgerkrieg in der britischen Gesellschaft zum ‚tiefsten Schisma’ (zitiert nach K.W. Watkins) in der modernen Geschichte des Landes: So wurde die franquistische Seite insbesondere aus wirtschaftlichen Überlegungen und Überzeugungen heraus von der Aristokratie, der Großbourgeoisie, der anglikanischen Kirchenhierarchie - mit Ausnahme des Bischofs von York - und dem einflussreichen Daily Telegraph unterstützt. Dagegen gehörten zu den Anhängern der Republikaner die Liberalen, die Labour Party, die Gewerkschaften, Intellektuelle und Kommunisten sowie die beiden Zeitungen The Manchester Guardian und News Chronicle. 191 In diesem Zusammenhang weisen die ‚Lücken’ in den von O. konsultierten Zeitungen auf die besondere ‚geschichtskonstruierende’ Praxis der Medien in dieser Epoche hin, Nachrichten, welche die eigene Partei und die eigene Ideologie in ein ungünstiges Licht gerückt hätten, besser zu verschweigen. 192 Neben der allgemeinen Quellenproblematik - Quellen als unzuverlässige ‚Spuren’ von Realität - nennt die neuere Geschichtstheorie auch die spezifische Textualität der Vergangenheitsüberlieferung als weiteren heiklen Aspekt der Historiographie: „[…] die Vergangenheit erreicht uns in Gestalt von Texten oder ‚textualisierten’ Botschaften - Memoiren, Berichten, veröffentlichten Schriften, Archivmaterial […].“ 193 So wird - wie L. Hutcheon betont - die soziale, historische und existentielle Realität der Vergangenheit zu einer „discursive reality“. 194 Die Methode des Historikers „[…] consists in investigating the documents in order to determine what is the true or most plausible story that can be told about the events of which they are evidence.“ 195 Der Historiker verfasst folglich einen erzählerischen Diskurs, der jedoch der in den Quellen bewahrten Vergangenheit (im Unterschied zum fiktionalen historischen Diskurs! ) nichts Neues hinzufügt, sondern vielmehr eine „representation” der vergangenen Ereignisse entwirft, die diesen ähnelt und die daher als „a true account” der Vergangenheit bewertet werden darf: „The story told in the narrative is a mimesis of the story 191 W.L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939. (2005), S. 83f. 192 Darüber hinaus hat die jüngere Geschichtsschreibung zum Spanischen Bürgerkrieg eine gezielte Desinformationsstrategie der in Spanien vertretenen ausländischen Medien nachgewiesen. Diese betraf insbesondere die ‚Soziale Revolution’ im Wirtschaftssystem der republikanisch gebliebenen Landesteile; über diese durften die Auslandskorrespondenten nicht berichten. (Ebd., S. 154.) 193 D. LaCapra: Geschichte und Kritik. (1987) S. 113. Vgl. ebenso A. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. (1999), S. 38. 194 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 24. 195 H. White: „The question of narrative in contemporary historical theory. [1984].“ (1987), S. 27. 398 lived in some region of historical reality, and insofar as it is an accurate imitation, it is to be considered a truthful account thereof.” 196 Auch in Les Géorgiques wird die Vergangenheit immer textuell bzw. allgemein sprachlich vermittelt in Form von Auto- und Biographien sowie von Memoiren: Wie bereits dargelegt wurde, erhält der ‚Nachfahr’ letztendlich nur durch seine Lektüre des Familienarchivs Aufschluss über die Ereignisse im Leben seiner Vorfahren; er selbst wiederum ist der implizite Verfasser der in Les Géorgiques vorliegenden Teile dieser Biographie. Auch sein eigenes Leben und insbesondere seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg bewältigt der ‚Nachfahr’ schreibend - vermutlich indem er einen Roman über diese Zeit und seine eigene Rolle darin verfasst hat (G, 51f.). Nicht zuletzt präsentiert sich auch O. als Schriftsteller seines eigenen Lebens: er verfasst im Anschluss an seine Rückkehr nach England einen Bericht über seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Neben diesen bereits besprochenen auto-/ biographischen und historiographischen Schreibversuchen werden jedoch noch weitere Texte auf markierte oder unmarkierte Weise in das Romangefüge integriert: Hierzu zählen Vergils Georgica, 197 Auszüge aus dem Libretto der Oper Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck (G, 36) sowie aus Jules Michelets Histoire de la Révolution française (G, 57, 61), aus der Biographie des Kardinals Manning von Lytton Strachey (G, 308f.) sowie aus Jean Racines Mithridate (G, 402). Weitere Anspielungen zielen u.a. auf die antike - lateinische - Literatur (G, 26, 193, 219, 230 u. 243, 369) und die Mythen der Antike (G, 58), auf die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels (G, 283), auf die Bibel (G, 404, 409), auf Jean Jacques Rousseaus Contrat social (G, 446), auf Voltaire (G, 454) sowie auf Marcel Prousts Recherche 198 . 196 H. White: „The question of narrative in contemporary historical theory. [1984].“ (1987), S. 27. 197 Eine ausführliche Analyse der intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Texten hat N. Piégay-Gros in ihrer Monographie zu Les Géorgiques vorgelegt (N. Piégay- Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 38-45). 198 In Les Géorgiques aufgegriffene bekannte Motive aus der Recherche sind z.B. die bereits aus La Route des Flandres bekannte und den Erzähler der Recherche an seine erste Begegnung mit Swanns und Odettes Tochter Gilberte erinnernde Weißdornhecke (G, 80), die auf die Vorliebe Odettes verweisenden japanischen (Papier-)Blumen (G, 462) sowie die allée des Acacias im Bois de Bologne, in der Odette als Mme Swann flaniert und ‚Hof hält’ (G, 121). 399 Mit S. Schreckenberg 199 lässt sich in diesem Zusammenhang von einem ‚Textraum’ sprechen; gemeint ist, dass sich die Themen des Romans weniger in einem chaotischen Handlungsraum entwickeln als in einem Raum, der sich aus vielen Texten konstituiert. 200 Dem Leser wird nicht das Leben der Figuren mehr oder weniger unmittelbar vor Augen geführt, sondern dieses scheint immer bereits in einen Text gegossen zu sein, sei es in einen autobiographischen oder einen biographischen, in eine historische Quelle oder eine historiographische Interpretation. Darüber hinaus suchen die verschiedenen Figuren zur Ausdeutung ihrer Biographie Hilfe in weiteren Texten; diese bilden die Folie, vor deren Hintergrund sie versuchen, das eigene Leben zu verstehen. In diesen vielfältigen ‚Repräsentationen von Repräsentationen von Realität’ weicht die ursprüngliche historische Wirklichkeit jedoch bis zur Ungreifbarkeit vor den Augen des Lesers zurück; diese wird nur in ihren Interpretationen und in ihren Ausschnitten erkennbar. Nicht zuletzt - wenn auch weniger häufig als noch in Romanen wie La Bataille de Pharsale oder Triptyque - findet sich auch ursprünglich nichttextuelles Quellenmaterial in Simons Roman. Im Gegensatz zu den schriftlichen Quellen sind fremdmediale 201 Quellen erst in jüngerer Zeit von der Geschichtswissenschaft als Zugänge zur Vergangenheit erschlossen worden. Das gilt insbesondere für die Bildquellen (z.B. Holzschnitte, Radierungen, Kupferstiche, Zeichnungen, Gemälde, aber auch Photographien), die als historische Quellen gegenüber Texten einen „eigenständigen Informationswert“ haben, jedoch keinesfalls als „wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Realität mißverstanden werden“ dürfen. 202 Vielmehr legen sie 199 S. Schreckenberg entwickelt den Begriff des ‚Textraumes’ anhand von C. Brittons These vom Simon’schen Text als einer „spatial rather than a temporal entity“ (C. Britton: „Introduction.“ (1993), S. 13.). Allerdings findet sich bei Britton diese Vorstellung von einem räumlichen Text vor allem im Kontext des für die Analyse der Simon’schen Romane zentralen Skripturalismus: Gemeint ist hier ein innerer Zusammenhalt des Textes, der weniger auf erzähllogischen Zusammenhängen beruht, als auf gewissen musikalischen Strukturen (Rhythmus, Assonanzen etc.) sowie auf der Materialität der Sprache (Metaphern, Metonymien etc.) (Ebd., S. 14). Auch C. Reitsma-La Brujeere verweist auf die Bedeutung der intertextuellen Bezüge bei der Konstitution von ‚Geschichte’ in Les Géorgiques (C. Reitsma La Brujeere: „Récit et métarécit, texte et intertexte dans Les Géorgiques de Claude Simon.“ (1984), S. 225; C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 241.). 200 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 53. 201 Mit ‚fremdmedialen Speicherformen’ sind grundsätzlich alle nicht-textuellen Quellen gemeint; hierzu zählen neben den Bildquellen auch Statuen und architektonische ‚Quellen’ wie die Schlossruine. 202 H. Talkenberger: „Historische Erkenntnis durch Bilder. Zur Methode und Praxis der Historischen Bildkunde.“ (2001), S. 83. 400 Zeugnis ab von der „Phantasieproduktion einer Gesellschaft, von dem Ringen um Bedeutungen und der Bildung von Bewusstsein.“ 203 Auch in Les Géorgiques werden nicht-textuelle Quellen immer dann problematisch, wenn sie als ‚Beleg’ für die Vergangenheit im Sinne des Ranke’schen „wie es eigentlich gewesen“ fungieren sollen. Dies gilt im Besonderen für die verschiedenen Repräsentationen des Generals und vor allem für seine Statue, die sich - wie ja bereits gezeigt wurde 204 - einer Interpretation durch den Biographen, den ‚Nachfahren’ des Generals, aufgrund ihrer Unauffindbarkeit entzieht, zumal auch seine Kindheitserinnerungen an diesen Kunstgegenstand unzuverlässig und durch Imaginationen beeinflusst sind. Es findet sich nur an einer Stelle im Roman eine Beschreibung der Statue, die vor allem auf die antikisierende Form der Ausführung eingeht und einige vage Vermutungen über den Charakter des Generals liefert (G, 196f.). Neben der Statue finden sich jedoch noch weitere bildhafte Repräsentationen des Generals L.S.M.: so z.B. eine Zeichnung Vicars von ihm und seiner zweiten Frau Adélaïde. 205 Auch diese Bildquelle erscheint im Roman nur vertextet in der detaillierten Beschreibung des Erzählers, welche jedoch allein den General zum Gegenstand hat und keine Interpretation des Bildes anstrebt. Der Leser erhält durch die fremdmedialen Quellen nur sehr indirekt Aufschluss über den Charakter und die gesellschaftliche und politische Situation des Generals in Italien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Schließlich gewinnt auch das aufgegebene Familienschloss eine besondere Funktion als historische Quelle, da der ‚Nachfahr’ versucht, dort die Beziehungen zwischen dem General und seinem Bruder bzw. zwischen ihm und seinen beiden Frauen zu entschlüsseln. Doch haben wir bereits gesehen, dass sich alle Bestandteile dieses besonderen ‚Erinnerungsortes’ einer historischen Interpretation entziehen - in den Räumen des Schlosses sind nahezu alle Hinweise auf die früheren Bewohner vernichtet -, und dass sich ebenso wenig das Grab der ersten Frau des Generals und die dort eingravierten Verse in den ursprünglichen Sinnzusammenhang bringen lassen. Einer Interpretation verschließt sich ebenfalls die Photographie aus dem Spanischen Bürgerkrieg, 206 deren Beschreibung an den Anfang des vierten 203 H. Talkenberger: „Historische Erkenntnis durch Bilder. Zur Methode und Praxis der Historischen Bildkunde.“ (2001), S. 94. 204 Vgl. oben Kap. 6.3.1.2 Der ‚Nachfahr‘ als Biograph des Generals L.S.M. 205 G, 54f. 206 C. Reitsma-La Brujeere hat darauf hingewiesen, dass dieses Photo oder seine Beschreibung nicht Gegenstand von Orwells Homage to Catalonia ist, sondern einem Buch von Pierre Broué und Emile Témime über den Spanischen Bürgerkrieg entnommen ist. (P. Broué und É. Témime: La Révolution et la Guerre d’Espagne. (1961), S. 217. Zitiert nach: C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude 401 Kapitels gestellt ist. Im Vordergrund steht ihre propagandistische Funktion: Das Bild will die Kampfbereitschaft und -tüchtigkeit der abgebildeten Personen ins rechte Licht setzen; dies geschieht durch die offensive Zurschaustellung der Waffen (G, 261f.) sowie durch den insgesamt martialischen Charakter des robust vernieteten Eisenbahnwaggons (G, 260). Darüber hinaus vermittelt insbesondere die allein aus einem Waggonfenster blickende Figur einen Eindruck gespannter Wachsamkeit und unterschwelliger Aggressivität (G, 262). Am Ende der Beschreibung verweist der Erzähler auf die künstliche Atmosphäre der Photographie. Der isoliert am Fenster stehende Soldat erscheint mit seinem „[…] visage de type méditerranéen, aigu et dur, aux traits réguliers, au nez droit, au regard invisible dans les taches d’ombre projetées par les sourcils […]“ (G, 262) sowie mit seinem konzentrierten, wilden und etwas theatralischen Gesichtsausdruck (G, ebd.) als Verkörperung des Klischees eines anarchistischen Milizionärs. Auf diese Weise deutet der Erzähler bereits die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit des Spanischen Bürgerkriegs und ihrer photographischen Repräsentation an: Denn im Gegensatz zu den scheinbar gut ausgestatteten und kampferprobten Figuren auf dem Photo sah die Realität der anarchistischen oder marxistischen Verteidiger der Republik ganz anders aus; die Probleme der Milizionäre bestanden insbesondere in ihrer „heroischen Disziplinlosigkeit“, ihrer militärischen Unerfahrenheit, in technischen Fehlern und chronischem Materialmangel. 207 Die im vierten Kapitel von Les Géorgiques beschriebene Photographie lässt sich folglich keinesfalls als Abbild einer bestimmten historischen Realität interpretieren, sondern stellt vielmehr eine propagandistische Inszenierung dar, die den Bildbetrachter von der letztendlich erfolgreichen Verteidigung der Republik durch die Milizionäre überzeugen sollte. Wie die verschiedenen Beispiele gezeigt haben, verschließen sich in Simons Roman die nicht-textuellen Quellen einer Interpretation der Vergangenheit, die das ‚Wahre’ aufdecken und Antworten auf die Frage nach dem ‚wie es eigentlich gewesen’ finden möchte. Vielmehr präsentieren sich auch fremdmediale Quellen wie z.B. Statuen und Bilder als unvollständig bzw. sie zeigen nur - nach dem Willen des oder der Dargestellten - eine bestimmte Facette der Vergangenheit. Auch diese Quellen präsentieren folglich kein ‚Abbild’ der Vergangenheit und fungieren daher nur bedingt als Stützen der historischen Erinnerung, 208 sondern liefern bestenfalls einen Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 65.) 207 W.L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939. (2005), S. 25-46. 208 Diese repräsentationsoptimistische These vertritt S. Kleinert bezüglich der Funktion der in Simons Texten beschriebenen und reflektierten Medien (S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historio- 402 Hinweis auf die Selbstwahrnehmung sowie auf die Selbstinszenierung der abgebildeten historischen Personen. 6.3.2.3 Die Subjektivität des Historikers bzw. des Auto-/ Biographen: Memoria und Lethe, Geschichtsphilosophien Ein weiterer Problembereich, der die Wahrnehmung vergangener Realität erschwert, liegt in der Person des Betrachters selbst. Der Historiker bzw. der Auto-/ Biograph verfügt niemals über einen objektiven Zugang zur Vergangenheit; im Gegenteil bedingen gerade seine eigenkulturelle Prägung, seine Welt- und Selbstwahrnehmung, sowie seine persönliche Haltung und Motivation stets auch die Weise, wie er Aussagen über vergangene Ereignisse macht: Not to have attitudes is not to be a human being, but historians are human beings, and cannot, accordingly, make perfectly objective statements about the past. Every historical statement, as a consequence of unexpungeable personal factors, is a distortion, and hence not quite true. So we cannot succeed in making statements about the past which are quite true. 209 In einem ähnlichen Sinne verweist Michel de Certeau auf die „implizite Philosophie“ des Historikers als ein Bezugssystem, das jede historische Interpretation von vornherein bedingt, das sich in die Analysearbeit einschleicht und sie heimlich organisiert und so auf die „Subjektivität“ des Autors verweist. 210 Historische Tatsachen sind daher ‚relativ’, da ihrer Beschreibung bereits verschiedene „Entscheidungen“ des Autors - z.B. bezüglich einer Selektion der historischen Ereignisse - vorausgehen; Geschichte erscheint folglich als Vielzahl von individuellen Philosophien - vor allem von als Historiker ‚verkleideten’ Philosophen. 211 In Les Géorgiques wird die spezifische Subjektivität des Historikers - und damit auch die des Autobiographen und Biographen - durch die folgenden Faktoren geprägt: So müssen die Figuren in Simons Roman, die als Bewahrer der Vergangenheit fungieren, sich häufig mit einer unzuverlässigen oder auch unvollständigen Erinnerung auseinandersetzen und die Vergangenheit im Widerstreit von individueller und kollektiver memoria und Lethe 212 - Erinnerung und Vergessen - rekonstruieren. Darüber hinaus sind graphique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 141.) 209 A.C. Danto: Analytical Philosophy of History. (1965), S. 31f. 210 M. de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. (1991), S. 74. 211 Ebd. 212 Das ist der Strom der Vergessenheit, aus dem die Seelen tranken, wenn sie in das Elysium eintraten; er verwischte die Erinnerung an alles Überstandene. (W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 312.) Vgl. hierzu auch H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005), S. 18. 403 die Historikerfiguren genau wie die ursprünglichen Verfasser historischer Quellen von bestimmten geschichtsphilosophischen Entwürfen beeinflusst, welche sowohl die hinterlassenen Dokumente selbst als auch die aus ihnen entwickelten Interpretationsansätze prägen. ‚Erinnerung’ und ‚Vergessen’ spielen eine zentrale Rolle in Les Géorgiques: wie bereits angedeutet wurde, kreisen die Gedanken der Figuren wiederholt um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Rekonstruktion bzw. einer mimetischen Repräsentation der Vergangenheit. Simons Roman schreibt sich auf diese Weise ein in den in der Literatur- und Kulturwissenschaft immer noch aktuellen Diskurs über das individuelle und kollektive Gedächtnis. 213 Wie A. Assmann betont, muss in der Beschäftigung mit dem Phänomen memoria 214 jedoch unterschieden werden zwischen memoria als ars bzw. ‚Verfahren’ und memoria als vis oder ‚Prozess’: 215 Während das Verfahren der „rhetorischen Memoria“ in Anlehnung an die antike Tradition der Mnemotechnik 216 eine „topologische Wissensorganisation“ (anhand von loci et imagines) betreibt und auf die Identität von eingelagertem und rückgeholtem Wissen abzielt, 217 strebt der nicht-vorsätzliche Prozess des Erinnerns eine Rekonstruktion von Wissen an und schließt daher einerseits immer auch eine „Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, 213 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 17. 214 Vgl. zur Geschichte des Begriffs und des Konzepts R. Herzog: „Zur Genealogie der Memoria.“ (1993). 215 Diese Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung (griech. mneme und anamnesis, lat. memoria und reminiscentia) geht bereits auf Aristoteles zurück. (H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005), S. 175.) An anderer Stelle definiert A. Assmann ‚Gedächtnis’ als „virtuelle Fähigkeit und organisches Substrat“ und ‚Erinnerung’ als „aktuelle[n] Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte.“ Sie begreift demnach ‚Gedächtnis’ und ‚Erinnerung’ nicht als „Begriffsopposition, [sondern] vielmehr als „Begriffspaar, als komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs“. (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 14.) 216 Als Erfinder der ars memoriae - der „Gedächtniskunst“ - gilt der griechische Dichter Simonides (6. Jh. v. Chr.); die Römer kodifizierten diese Kunst als eines der fünf Gebiete der Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio) und überlieferten sie an das Mittelalter und die Renaissance. (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 30; J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 29.) 217 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 27f. Ebenso H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005), S. 23. Vgl. zur Funktionsweise dieser Gedächtnis’technik’ F.A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. (1991), S. 12ff. 404 Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung“ sowie andererseits die Möglichkeit von Vergessen und Verdrängen ein. 218 Weiterhin ist zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis zu unterscheiden: Dem Gedächtnis als „reines Innenphänomen“, das im Gehirn des Individuums lokalisiert ist und von der Gehirnphysiologie, der Neurologie und der Psychologie untersucht wird, steht das von Maurice Halbwachs erstmalig beschriebene ‚kollektive Gedächtnis’ 219 gegenüber, das die Identität einer bestimmten Gruppe stiftet, indem die spezifische Differenz und Eigenart der eigenen Geschichte betont wird. 220 Einen speziellen Bereich des kollektiven oder sozialen Gedächtnisses stellt das von J. Assmann beschriebene‚ kulturelle Gedächtnis’ 221 dar, das der „Überlieferung des Sinns“ 222 dient: der Theorie vom kulturellen Gedächtnis liegt die These von „der unaufgebbaren Perspektivität bzw. Identitätsbezogenheit jeder sinnproduzierenden Form von Vergangenheitsbezug“ 223 zugrunde. Das kulturelle Gedächtnis zielt darauf ab, den in einer Gruppe zirkulierenden Sinn über lange zeitliche und/ oder räumliche Entfernungen zu transportieren; mit der Erfindung der Schrift wurde das zuvor kollektive Gedächtnis „externalisiert“ und damit kulturell. Das kollektive Wissen wurde nun nicht mehr mündlich oder in Form von Riten und Symbolen von einer Generation an die nächste tradiert, sondern konnte in unverän- 218 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 29. Assmann beleuchtet in ihrer Studie auch die unterschiedlichen Diskurstraditionen, die diese Unterscheidung der memoria begründet haben. Vgl. zur Selektion von früher Erlebtem durch das menschliche Gedächtnis und zum eigentlichen Vorgang des Erinnerns auch I. Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk [1970].“ (1998), S. 180f. 219 Auch: ‚soziales Gedächtnis’ (M. Halbwachs: Les Cadres sociaux de la mémoire. (1925), S. 52f., S. 199. Vgl. auch J. Assmann: „Gedächtnis.“ (2002), S. 97.) 220 J. Assmann: „Gedächtnis.“ (2002), S. 98. Halbwachs unterscheidet in diesem Sinne zwischen mémoire und histoire: Während erstere eine „[…] Gruppe ‚von innen’ sieht und bestrebt ist, ihr ein Bild ihrer Vergangenheit zu zeigen, in dem sie sich in allen Stadien wieder erkennen kann […]“ und deswegen Veränderungen ausblendet, lässt die ‚Geschichte’ allein das als historische Tatsachen gelten, was als Prozess oder Ereignis Veränderung anzeigt. Die Geschichte nivelliert also alle Differenzen und Eigenarten der eigenen Geschichte und „[…] reorganisiert ihre Fakten in einem vollkommen homogenen historischen Raum, in dem alles mit allem vergleichbar und v.a. alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam ist.“ (Ebd.) 221 J. Assmann definiert das ‚kulturelle Gedächtnis’ als „[…] Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.“ (J. Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.“ (1988), S. 9.) 222 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 21. 223 J. Assmann: „Gedächtnis.“ (2002), S. 100. 405 derter Form aufbewahrt und an in der Zukunft liegende bzw. räumlich entfernte Gruppen übergeben werden. 224 Gegenüber der breit angelegten Beschäftigung mit den verschiedenen Phänomenen von memoria ist der Forschungszweig, der das Vergessen zum Gegenstand hat, (noch) recht dünn, ohne dass bereits eine ‚Theorie des Vergessens’ ähnlich der ‚Theorie des Gedächtnisses’ vorliegen würde. 225 Auch im Rahmen einer Gedächtnis- oder Erinnerungstheorie wird - wie A. Assmann einleitend in ihrer Studie zu den Erinnerungsräumen deutlich gemacht hat 226 - das Vergessen nur am Rande gestreift: J. Assmann beschreibt in diesem Zusammenhang die Techniken der Machthaber, die ihnen unerwünschten Erinnerungen der Unterdrückten und Unterprivilegierten aus der Geschichtsüberlieferung zu streichen (Erinnerung als Widerstand). 227 A. Assmann umreißt hingegen die Wiederauferstehung der verschollenen nationalen Vergangenheit aus dem „Grab des Vergessens“ im Elizabethanischen England, das die Erfindung der Nationalgeschichte und die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses begründet. 228 Im Folgenden soll nun kurz skizziert werden, welche besondere Rolle ‚Erinnern’ und ‚Vergessen’ in Les Géorgiques einnehmen: Wer erinnert bzw. wer versucht zu vergessen? Wie und was wird erinnert bzw. vergessen? Grundsätzlich ist festzustellen, dass in Simons Roman Erinnerung immer als nahezu unkontrollierbare Kraft, als etwas Unwillentliches und Unzuverlässiges, gegenwärtig ist. 229 Diese Erfahrung macht zunächst der Erzähler-Protagonist selbst, als er sich an den von ihm verfassten Roman 230 erinnert, in welchem er seine 224 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 22f. 225 Es war U. Eco, der die Möglichkeit einer ars oblivionalis kategorisch ausschloss (A. Assmann: „Zur Metaphorik der Erinnerung.“ (1991).). Einen Ansatz zu einer ‚Poetik des Vergessens’ in der Literatur präsentiert H. Weinrichs Monographie zu „Lethe“, die den Wandel und die unterschiedlichen historischen Formen sowohl von Vergessen als auch des Gedächtnisses an literarischen Beispielen nachzeichnet. (H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005). R. Lohse versucht eine Bestimmung der „strukturellen Merkmale von Texten, die mit dem Vergessen verknüpft sind“; zu diesen zählt ein Übermaß an zu erinnernden Inhalten (R. Lohse: „Eine Ästhetik des Vergessens? Hubert Aquins Trou de mémoire.“ (2000), S. 208f.). 226 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 29f. 227 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 72f. 228 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 54. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Funktionsbestimmung von poetry in der westlichen Kultur durch M. Beaujour: diese „[…] serves as an antidote to cultural amnesia.“ (M. Beaujour: „Memory in Poetics.“ (1993), S. 9.) 229 Dies gilt insbesondere für die Kriegserinnerungen, die eine obsessive Kraft besitzen. 230 Allem Anschein nach - der Titel des Textes wird nicht genannt - handelt es sich hierbei um La Route des Flandres (vgl. G, 52). 406 Erlebnisse im Verlauf des französischen Rückzugs von der Front im Mai 1940 beschreibt: […] (il rapporte dans un roman les circonstances et la façon dont les choses se sont déroulées entre-temps : en tenant compte de l’affaiblissement de ses facultés de perception dû à la fatigue, au manque de sommeil, au bruit et au danger, des inévitables lacunes et déformations de la mémoire, on peut considérer ce récit comme une relation des faits aussi fidèle que possible : […] (G, 52). Hier enthüllt der Erzähler und Romanautor das grundsätzliche Problem einer jeden Erinnerung: Nicht nur sind die erinnerten Ereignisse allein schon aufgrund der inzwischen vergangenen Zeit lückenhaft und möglicherweise auch verformt, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit im Moment des Erlebens kann unter Umständen bereits verfälscht sein. Die Repräsentation von Vergangenheit durch das menschliche Gedächtnis ist demnach in zweierlei Hinsicht problematisch: zum einen aufgrund der unzuverlässigen Erinnerungskraft und zum anderen aufgrund der bereits subjektiven Wahrnehmung des Menschen. 231 Auf ähnliche Weise ist es dem ‚Nachfahren’ nahezu unmöglich, die verschiedenen Ereignisse während des nächtlichen Marsches im Schnee anlässlich der Quartierverlegung im Winter 1939/ 40 vollständig zu erinnern. Seine Wahrnehmung wird durch die ihn immer wieder übermannende Müdigkeit ebenso wie durch die schwierigen Witterungsverhältnisse (dichter Schneefall und Dunkelheit) beeinträchtigt (G, 96-99). Am Ende vermischen sich in seiner Erinnerung Realität und Imagination bis hin zur Ununterscheidbarkeit; eine Klärung des Realitätsstatus der verschiedenen Abschnitte wird unmöglich. Erzähltechnisch ist die Episode des nächtlichen Ritts gekennzeichnet durch einen Wechsel des Erzählfokus’ vom erzählenden ins erlebende Ich. Während die nachfolgenden Szenen, welche die Ereignisse im Winterquartier sowie an der Front zum Inhalt haben, im passé simple bzw. vor allem im imparfait dargestellt werden, erfolgt die Erzählung der Quartierverlegung im présent: Besonders während der Zuspitzung der Situation, als der Erzähler im nächtlichen Schneesturm jeden zeitlichen und räumlichen Bezug verliert, treten auch die participes présents zunehmend zugunsten konjugierter Verben in den Hintergrund. Die dargestellten Ereignisse präsentieren sich daher weniger als erinnert, sondern vielmehr als in actu vom Erzähler- Protagonisten erlebt. Wie die Wahrnehmung des ‚Nachfahren’ während des nächtlichen Ritts im Winter 1939/ 40 unter anderem von Müdigkeit behindert wird, unterstellt auch der unbekannte Erzähler dem Protagonisten O., dass dieser auf seiner Flucht vor den Häschern der gegnerischen Partei mit den Auswir- 231 Die Formen individueller Erinnerung waren bereits im Zusammenhang mit Simons La Route des Flandres unser Thema, vgl. Kap. 4 « Comment savoir ? » - Metafiktion und Erkenntnisskepsis in La Route des Flandres (1960). 407 kungen der Müdigkeit auf seine visuelle und auditive Wahrnehmung der Umgebung konfrontiert ist: er fühlt sich „[…] séparé de la place, des autobus, des bruits eux-mêmes, par une sorte de vitre, une pellicule de fatigue, comme de la cire ou de la paraffine qu’il peut sentir se craqueler sur son visage, coupante le long des rides, comme un moule, comme s’il était recouvert d’une seconde peau l’isolant de l’air frais du matin […]“ (G, 265). 232 Diese getrübte Wahrnehmung verleiht seiner Umgebung, dem Barcelona nach den Mai-Unruhen, einen irrealen Charakter; Wirklichkeit und Traum scheinen sich zu vermischen (G, 265). Diese spezielle - der Realität den Anschein von Unwirklichkeit verleihende - Art der Wahrnehmung bleibt O. auch im Anschluss an seine Rückkehr nach England erhalten: Der Kontrast zwischen der englischen und spanischen Landschaft, zwischen den englischen und spanischen Städten erscheint ihm so unglaublich, so unmöglich zu sein, dass er sowohl das in Spanien Erlebte als auch die wiedergefundene englische Atmosphäre nur schwerlich für die Realität hält (G, 310). Allein der Schmerz und die Narbe seiner Kriegsverwundung verbinden ihn mit der vergangenen Realität des Spanischen Bürgerkriegs (G, 314). In seiner erinnernden Rückschau auf die nur wenige Monate zurückliegenden Ereignisse in Spanien sieht sich O. nun mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Zum einen bleibt die seinerzeit durch Müdigkeit beeinträchtigte Wahrnehmung der Ereignisse anlässlich der Mai-Unruhen und seiner daraufhin erfolgenden Flucht nicht ohne Auswirkungen auf sein Erinnerungsvermögen. Zum anderen wird er mit den widersprüchlichen Versionen anderer Augenzeugen des Bürgerkriegs konfrontiert, die jedoch ebenso überzeugt wie er selbst von der Richtigkeit und ‚Wahrheit’ des von ihnen Erlebten sind (G, 333). Vor allem aber bringt ihn die Zensur der ausländischen liberalen Presse, welche die Ereignisse in Spanien während der Zeit seines dortigen Aufenthalts verschwiegen hat, dazu, seine eigene Geschichte in Frage zu stellen (G, 342f.). So unzuverlässig das individuelle Gedächtnis ist, so problematisch präsentiert sich jedoch auch das kollektive Gedächtnis in Les Géorgiques: Wie am Beispiel der Memoiren des Generals bereits illustriert wurde, schreibt sich auch dieser ein in den Diskurs der „Machthaber“, wenn er weniger von seiner individuellen Situation und seinen Gefühlen als von seiner Beteiligung an den wichtigen Entscheidungen und Ereignissen der Revolutionskriege und des Empire berichtet. Es wurde bereits deutlich, dass auch das Familiengedächtnis als Teil des kollektiven Gedächtnisses aufgrund des durch die Großmutter lange Zeit sanktionierten Zugangs zum Archiv des Vorfahren eine ungeeignete 232 Vgl. ebenso G, 296. 408 Quelle zur Erklärung der Vergangenheit darstellt. 233 Mit dem Tod der alten Dame reißt die Überlieferungstradition endgültig ab; 234 bereits ihr Schweigen über den an seinem eigenen Bruder schuldig gewordenen Vorfahren und seine im Nachhinein blamable Verstrickung in die Hinrichtung Louis’ XVI. hat das Ende dieser Tradition vorbereitet. 235 Ihre ‚Nachfahren’ - vor allem der Onkel - besitzen nur noch rudimentäres Wissen über die eigene Familiengeschichte und können die durch die schriftlichen Quellen angedeuteten Zusammenhänge kaum noch rekonstruieren. Die Ohnmacht des nachgeborenen Historikers angesichts der Unzugänglichkeit der Vergangenheit kristallisiert sich in der Figur des biographisch tätigen ‚Nachfahren’: Ihm gelingt es weder durch die Besichtigung sogenannter ‚Erinnerungs’- bzw. ‚Familien’- oder ‚Generationenorte’ noch durch die Lektüre und Analyse der zur Geschichte des Vorfahren überlieferten Quellen ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen und die in der kollektiven Erinnerung verschütteten Ereignisse zu rekonstruieren. Wie noch zu zeigen sein wird, wählt der ‚Nachfahr’ einen alternativen Zugang zur verborgenen kollektiven und familiären Vergangenheit, indem er die Imagination als wichtigen Bestandteil individueller Erinnerung an der Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte beteiligt. Dabei werden von ihm nicht nur Episoden aus dem Leben des Vorfahren und seines Bruders ‚ergänzt’, sondern er nutzt die Kraft der eigenen Phantasie auch zum Schreiben einer ‚Geschichte von unten’, einer Geschichte der ‚kleinen Leute’ aus dem 18. Jahrhundert, zu denen in gewisser Hinsicht der General selbst, sein Bruder und seine beiden Frauen zählen, vor allem aber seine Verwalterin Batti. Diese alternative Geschichte, die einen Kontrapunkt zu den auch in Les Géorgiques zitierten gesellschaftlich legitimierten Berichten der Geschichtslehrwerke über die Französische Revolution bildet, ist zu großen Teilen eine ‚Geschichte der Frauen’, welche nun jenseits ihrer bloßen Lebensdaten ein ‚Gesicht’ und einen ‚Körper’ bekommen. 236 233 Vgl. zur Bedeutung der Familie als Trägerin des kollektiven Gedächtnisses auch die Überlegungen von S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 215. 234 Interessanterweise wird die besondere Funktion der Großmutter als „Traditions- und Wissensbewahrerin“ durch „le même camée ovale où se détachait sur un fond parme comme une blancheur de linceul ou d’ossemements la draperie flottante, ectoplasmique et mousseuse de quelque tambourinaire pompéienne“ symbolisiert: dieses Schmuckstück wird von ihr „comme une relique profane transmise de génération en génération depuis peut-être avant l’Empire“ (G, 143) getragen und verdeutlicht auf diese Weise auch die traditionelle Rolle der Frauen als Erzählerinnen von Geschichten und Legenden, die das Familiengedächtnis und in einem weiten Sinne das kollektive Gedächtnis einer größeren sozialen Gruppe bewahren und tradieren. 235 G, 193, 197. 236 Vgl. hierzu auch R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 188. Auch: Die Ausführungen E. Wesselings zu neuen Themen im postmodernen historischen Ro- 409 Einen weiteren Problembereich, der die Subjektivität des Historikers bzw. des Auto-/ Biographen begründet und damit die ursprüngliche Vergangenheit möglicherweise verfälscht, stellen die verschiedenen Geschichtsphilosophien dar, die einen Einfluss auf das Schreiben von Geschichte ausüben. So spricht man bis hin zur marxistischen Geschichtsdeutung im 19. Jahrhundert vom „Zeitalter der ‚Geschichtsphilosophie’“ als einem „[…] universalen Versuch[s], die historische Welt in ihrem Wesen zu erklären [, …]“. 237 Diese sogenannte ‚teleologische Tendenz’ in der Geschichtswissenschaft zeichnet sich durch den Versuch der Historiker aus, „[…] in Ereignissen […] einen Sinn zu finden, in ihrem Ablauf eine Zielgerichtetheit zu erkennen.“ 238 Es lassen sich dabei drei Strömungen teleologischer Geschichtsauslegung unterscheiden: die christliche Geschichtsphilosophie, die von einer eschatologischen Geschichtsentwicklung überzeugt ist, 239 die Geschichtsphilosophie der Aufklärung mit ihrer Prämisse von der „perfectibilité indéfinie de l’homme“ 240 sowie die marxistische Geschichtsphilosophie, welche an die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft glaubt. 241 Die postmoderne Geschichtswissenschaft bzw. ‚Posthistoire’ hat sich jedoch seit den 1960er/ 1970er Jahren von den großen sinnsuchenden und -stiftenden „Meistererzählungen“ abgewandt: Posthistoire hat keinen Rückbezug auf Historie, sondern auf jene Art materieller und teleologischer Geschichtsphilosophie, welche die Essenz der Wirklichkeitsbestimmung der Vergangenheit in Sinn- und Sollensbestimmungen über die Zukunft umsetzte und dabei seit dem späten 19. Jh. in einen ideologischmythologisch umwölkten Voluntarismus verfiel. Diese Geschichte kommt im Posthistoire [sic] zu Ende und kritisiert zu Recht die Gültigkeit der Meistererzählungen, den Struktur gewordenen Progresszwang der ‚Megamaschine’ und den evolutionären Optimismus. 242 man (E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. viif.). 237 S. Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium. (2005), S. 25. Danach beginnt das auch heute noch andauernde ‚Zeitalter’ der ‚Geschichtstheorie’, die „[…] mit begrenzterem Anspruch nach dem Aufgabenbereich und dem methodischen Vorgehen der Geschichtswissenschaft fragt.“ (Ebd.) 238 I. Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk [1970].“ (1998). Aichinger weist die ‚teleologische Tendenz’ im Schreiben des Autobiographen nach. 239 P.M. Lützeler: „Fictionality in Historiography and the Novel.“ (1992), S. 37. 240 J.-A.-N.C. Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) suivi de Fragment sur l’Atlantide. Introduction, chronologie et bibliographie par Alain Pons. (1988), S. 293, S. 18. 241 C. Conrad und M. Kessel: „Geschichte ohne Zentrum. (Einleitung).“ (1994), S. 18. P.M. Lützeler: „Fictionality in Historiography and the Novel.“ (1992), S. 37. 242 L. Niethammer: „Posthistoire.“ (2002), S. 248. Vgl. auch C. Conrad und M. Kessel: „Geschichte ohne Zentrum. (Einleitung).“ (1994), S. 15-19. 410 Auch in Les Géorgiques sind einige Figuren von teleologischen Geschichtsauffassungen geprägt: So ruft der General L.S.M. seinen ‚concitoyens’ in seiner Rede anlässlich der Abstimmung über den Vollzug der Todesstrafe an Louis XVI. die Ziele der Französischen Revolution in Erinnerung: „[…] les beaux jours que vous préparez aux races futures; la liberté du monde entier sera votre récompense; les générations à venir vous tressent une couronne.“ (G, 201) Er spielt hier auf das Heilsversprechen der Französischen Aufklärung an, die Freiheit zukünftiger Generationen von absolutistischer und kirchlich-religiöser Unterdrückung zu sichern. 243 Der General postuliert die Ideale der Aufklärung nicht nur, sondern lebt sie auch in seinem beruflichen Leben, wenn er als General der Französischen Revolutionsarmeen versucht, den Einfluss der anderen europäischen absolutistischen Herrscher und ihrer Heere in den an Frankreich angrenzenden Ländern zu brechen. Allerdings muss der General im Laufe und vor allem gegen Ende seines Lebens feststellen, dass die Revolution ihre Ziele verfehlt bzw. verraten hat und schließlich von Napoleon Bonaparte zur Erreichung eigener egoistischer und militärischer Ziele missbraucht wird. Die Entfremdung zwischen dem General L.S.M. und den Revolutionsidealen beginnt spätestens mit dem Einsetzen der Terreur, als er mit dem blutigen Bild von Paris während der Befreiung seiner royalistischen zukünftigen Frau konfrontiert wird (G, 383). Am Ende seiner beruflichen Karriere ist der Bruch zwischen L.S.M. und den neuen kaiserlichen Machthabern nicht mehr rückgängig zu machen; dieser äußert sich sowohl in der fehlenden Wertschätzung durch Napoleon als auch in der scheinbar grundlosen Abwendung der hier personifizierten Geschichte - und damit implizit auch der Französischen Revolution und ihrer Protagonisten - nach dem Tod des Bruders (G, 435f.). Das Heilsversprechen der Revolution hat sich somit weder für den General persönlich, noch - zunächst! - für Frankreich und Europa politisch erfüllt. Ein der Geschichte inhärenter Sinn wird auch von O. anlässlich seines Spanien-Engagements postuliert: […] il (l’engagé volontaire) n’avait pas encore depuis trois mois l’impression de participer à une guerre, lui, l’ange ou l’archange exterminateur qui avait fait tant de chemin non pas seulement pour racheter des siècles de débauche et d’iniquité, comme il était écrit dans le Livre dont son enfance avait été nourrie, mais encore obéir à l’autre Bible dont, à son tour, son adolescence avait été nourrie, œuvre d’un autre Moïse, tout aussi barbu, quoique sans cornes et revêtu d’un complet-veston, issu toutefois du même vieux peuple que ses prédécesseurs, perfectionnant en quelque sorte le dieu exigeant, sévère et législateur qu’ils avaient façonné. (G, 283) Die im Zitat angesprochene marxistische Deutung der Geschichte zielt auf eine Befreiung der Völker von der Unterdrückung und Ausbeutung durch 243 Vgl. auch G, 235. 411 die herrschenden ‚Klassen’; O. sieht sich als Erzengel bzw. Todesengel im Kampf gegen die Ungerechtigkeit; eine Sichtweise, die er - dies ist die These des unbekannten Erzählers - im Laufe intensiven Studiums der Werke von Karl Marx erlangt und die ihn auf seinen Weg nach Spanien gebracht hat. An anderer Stelle in Les Géorgiques wird die Situation Spaniens mit der Frankreichs verglichen: Im Gegensatz zu Frankreich hat Spanien keine die Ideale der Aufklärung verfechtende Revolution erfahren; das Land ähnelt daher […] une sorte de fruit desséché et ridé, oublié par l’histoire et rejeté, repoussé par la géographie, comme un récipient, une espèce de cloaque où par l’effet de la pesanteur avait glissé, était venu s’amasser, s’accumuler ce que les autres pays avaient péniblement et peu à peu expulsé au cours des siècles, entassé là comme au fond d’une poche, d’un cul-de-sac, bloqué, malodorant et couvert de mouches. (G, 320). Hier klingt erneut das aufklärerische Motiv von einer moralischen, sozialen und wirtschaftlichen Verbesserung der conditio humana an - doch scheitert wie bereits im Falle der teleologischen Geschichtsauffassung des Generals L.S.M. auch O.s Hoffnung auf eine größere Gleichberechtigung und zunehmende Prosperität der Bewohner Spaniens. Das unrühmliche Ende der ‚Spanischen Revolution’ spiegelt sich en détail bereits im Zerfall der linken Parteien in Barcelona wieder, welche die Verfolgung der anarchistischen und trotzkistischen Gruppierungen durch die Stalinisten zur Folge hat (G, 348-352). Insbesondere aber in der Figur des ‚Nachfahren’, der zugleich auch der Erzähler weiter Teile des Romans ist, kumuliert die postmoderne Kritik an der positivistischen Überzeugung von einem „Sinn in der Geschichte“. Das Projekt des ‚Nachfahren’, durch die autobiographische Rekonstruktion seiner Kriegserlebnisse ihren auf den ersten Blick verborgenen Sinn freizulegen, ist zum Scheitern verurteilt. Wie die Analyse seines Schreibens deutlich gemacht hat, lassen sich weder die disparaten Erinnerungssequenzen zu einem kohärenten, bedeutungstragenden Ganzen verbinden, noch ist es dem ‚Nachfahren’ möglich, die versteckten Zusammenhänge aufzudecken. Vor allem aber erweisen sich seine Erinnerungen bedingt durch die äußeren Umstände der einstigen Wahrnehmung (Müdigkeit, beeinträchtigte Sicht) als trügerisch, hauptsächlich aber aufgrund der mangelnden Eignung von Sprache zur Repräsentation außersprachlicher Realität. Zuletzt scheint sich der Sinn seiner Erlebnisse im Krieg darauf zu beschränken, „[…] de leur apprendre à connaitre le monotone théâtre des tueries passées ou futures […]“ (G, 107). Der Krieg und die mit ihm verbundenen Handlungen erscheinen als scheinbar sinnfreie Rituale, die aber dennoch stets wieder auf ein Neues durchgeführt werden müssen, um der ‚Ordnung’ zu 412 genügen: „[…] pour que les phrases des manuels ou les mémoires des conquérants soient là aussi, à leur place assignée, […]“ (G, 107). Mit seiner Kritik an den Prämissen von einer neutralen bzw. objektiven, sprachlichen Repräsentation vergangener Wirklichkeit, die beim heutigen Stand der Geschichtswissenschaft und ihrer Theorie überholt scheinen, schreibt sich Simons Roman in den postmodernen Diskurs der Geschichtstheorie über die Aporien historischer Sinnstiftung ein. Am Beispiel der verschiedenen historiographisch tätigen Figuren dekonstruiert Simon gängige Prämissen von einer sprachlichen und schriftlichen Rekonstruktion der Vergangenheit gemäß Rankes „wie es eigentlich gewesen“: Geschichte - dies ist die Geschichtskonzeption des Romans - kann nie ein objektives Bild der Vergangenheit liefern, sondern „[…] toute histoire […] est une construction a posteriori.“ 244 6.4 Historisches Erzählen als Fiktion: Metafiktionale Diskurse über Fiktivität und Fiktionalität In Les Géorgiques entwickelt Simon - so meine These - in kritischer Auseinandersetzung mit den obsolet gewordenen realistischen Konventionen historischen Erzählens eine innovative Poetik des historischen Romans. Dabei steht nun nicht mehr die möglichst detailgetreue mimetische Repräsentation vergangener Realität im Vordergrund, sondern vielmehr ihre Rekonstruktion mit literarischen bzw. fiktionalen Mitteln unter Berücksichtigung der im vorangehenden Kapitel beschriebenen Aporien der Wirklichkeitsrepräsentation. Ansgar Nünning weist in seinem kritischen Kommentar zu Hayden Whites These von der „Fiktionalisierung der Historiographie“ 245 und der dadurch bedingten Einebnung des Gegensatzes zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung auf zwei fundamentale Unterschiede zwischen faktualem und fiktionalem historiographischem Erzählen hin: Nur in fiktionalen Texten finden sich ‚Fiktionalitätsindikatoren’, die den spezifischen Fiktionscharakter literarischer Texte signalisieren, und auch nur in diesen Texten werden bestimmte literarische Privilegien bei der Selektion und Vermittlung von Geschichte wirksam. 246 244 J.v. Apeldoorn: Pratiques de la description. (1982), S. 42. 245 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 361. Vgl. ebenso A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 153-205. 246 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 368. 413 Zu den sogenannten ‚textuellen Fiktionalitätsindikatoren’ zählen laut Nünning „[…] alle Angaben über Personen, Ort und Zeit, die nicht direkt referentialisierbar sind, sowie die Gesamtheit jener Darstellungsverfahren, die als spezifisch ‚literarisch’ gelten (wie rhetorische Figuren, Formen der Bewusstseinsdarstellung etc.) […]“. 247 Daneben unterscheidet Nünning verschiedene Verfahren bei der Selektion und Vermittlung der erzählten Geschichte, die nur in literarisch-fiktionalen, nicht aber in historiographisch-faktualen Texten anzutreffen sind; 248 diese verweisen entweder auf die Fiktivität der dargestellten Welt oder auf die Fiktionalität des Textes. So sind in historischen Romanen häufig neben historischen Personen, Orten, Zeiten und Ereignissen auch fiktive, nicht durch Quellen belegte, anzutreffen. Und nur fiktionalen Texten bleiben die Ausgestaltung mit rhetorischen Figuren, die Bewusstseinsbzw. Innenweltdarstellung von Dritten, das Nebeneinander von realen, fiktiven und metafiktionalen Elementen, die besondere Handlungs-, Zeit- und Raumstruktur, der intertextuelle Bezug auf fiktionale Textsorten, die Nicht-Identität von Autor und Erzähler, dafür aber die Personalunion von Erzähler und Figur, die Aufdeckung der Subjektivität des Erzählens sowie eine besondere Darstellung, Vermittlung und Funktionalisierung von Zeit und insbesondere Raum vorbehalten. 249 Im Folgenden sollen die verschiedenen, auf Fiktives und Fiktionales im Rekonstitutionsprozess abzielenden - impliziten und expliziten - metafiktionalen Verfahren im Mittelpunkt stehen: Auf welche Weise wird die Fiktivität von historischen Personen, Orten oder Ereignissen thematisch? Durch welche Erzählstrategien enthüllen sich Les Géorgiques als fiktionaler Text? Wird in diesen metafiktiven und metafiktionalen Kommentaren - nicht nur zum eigenen Werk, sondern zur Literatur allgemein - Simons alternative Poetik des historischen Romans erkennbar? 6.4.1 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen und Mythen Der nicht näher charakterisierte Erzähler in Les Géorgiques, bei dem es sich um den ‚Nachfahren’ des Generals handelt, versucht, die Geschichte seines Vorfahren und seiner Familie zu rekonstruieren, und greift dabei zum einen auf das überlieferte Archiv des Generals, zum anderen auf verschiedene künstlerische Darstellungen von dessen Person zurück. Wie bereits gezeigt werden konnte, bleiben diese Versuche aufgrund der schwierigen Quellenlage lückenhaft: wichtige Abschnitte im Leben des Generals bleiben 247 Ebd., S. 369. 248 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 369-377. 249 Ebd., S. 370-377. 414 im Dunkel der Geschichte. Im Gegensatz zu einem professionell arbeitenden Historiker greift der Erzähler in Simons Roman aber auch auf seine eigene Phantasie sowie auf mythische Überlieferungen zurück, um Antworten vor allem auf die Frage nach dem Anteil an Schuld zu finden, den der General am Schicksal seines eigenen Bruders trägt. Neben der Geschichte des Ahnen zeichnet der ‚Nachfahr’ - ebenfalls kraft seiner Imagination - das Leben der wichtigsten Frauen im Leben des Generals nach. Nicht allein Personen aus der Familie des Generals sondern auch gewisse Orte und Ereignisse erhalten in Les Géorgiques einen fiktiven Anstrich: So wird das Familienschloss und das Grab der ersten Frau unter Rückgriff auf die phantastische Motivik der gothic novel beschrieben. Dagegen zitiert die unwirkliche, gleichsam überzeitliche Situation des Winterbzw. Frühjahrslagers in Flandern vergangene, mythisierte Zeiten. Die revolutionären Stadtbilder von Paris und Barcelona verweisen wiederum in mancher Hinsicht auf die biblische „Offenbarung an Johannes“. Auf ähnliche Weise werden auch Teile der Französischen Revolution bzw. des spanischen Bürgerkriegs in Simons Roman in die Nähe vergangener, mythischer Zeiten gerückt und scheinen dadurch der Gegenwart des 18. bzw. 20. Jahrhunderts enthoben zu sein. Dies gilt auch für die Figuren des Generals und des ‚Nachfahren’, deren Lebensabschnitte Parallelen zum Orpheus-Mythos aufweisen, sowie für den Bruder des Generals, dessen ‚Heldengeburt’ im Tümpel während seiner Flucht vergleichbare Heldengeschichten in der antiken Mythologie bzw. das bekannte literarische Motiv des ‚einsamen Wolfes’ impliziert. 6.4.1.1 Die Romanfiguren zwischen Imagination und Wirklichkeit: die gegensätzlichen Brüder Jean-Pierre und Jean-Marie L.S.M., die drei Frauenfiguren Marie-Anne/ Marianne - Adélaïde - Batti Die Beziehung der beiden ungleichen Brüder und ihre unterschiedlichen Charaktere stellen wohl das zentrale Thema des Romans dar: Immer wieder kreisen die Gedanken des Erzählers um die für die Familienidentität so wichtige Schuldfrage - hat der ältere Bruder von der Verhaftung des jüngeren und von seiner Bedrohung durch die Todesstrafe gewusst und dennoch nichts unternommen, um ihn zu retten? Interessanterweise sind die beiden Brüder nicht nur in ihrem Charakter und in ihrer politischen Meinung völlig unterschiedlich - der ältere ist beherrscht und überzeugter Revolutionär, der jüngere ein Heißsporn und glühender Royalist -, sondern auch die Quellenlage lässt sie völlig anders aus der Vergangenheit hervortreten: Während das Leben des Revolutionsgenerals verhältnismäßig gut durch seine in Les Géorgiques zitierten Selbstzeugnisse sowie in den Lebensbeschreibungen durch Dritte dokumentiert ist, scheinen nahezu alle Texte, die das Leben des jüngeren Bruders erhellen könnten, verschwunden zu sein. Der ‚Nachfahr’ entdeckt in den ihm 415 von seinem Onkel übergebenen Dokumenten nur einen Brief des Generals an die Gendarmerie von Caylus (G, 429f.) - diese hatte den Bruder verhaftet -, sowie das Urteil im Prozess des fahnenflüchtigen Bruders. Aufgrund der prekären Quellenlage überrascht nicht der hohe Anteil an Imaginationen, die der Erzähler zur Rekonstruktion der Person und des Lebens Jean-Maries einsetzt; umso erstaunlicher ist es jedoch, dass er auch bei dem Versuch, den Charakter des Generals anschaulicher zu zeichnen, auf seine Phantasie zurückgreift. Bei den imaginierten Episoden handelt es sich zum einen um die Erinnerungen des ‚Nachfahren’ an die im dunklen Salon seiner Kindheit schwach fluoreszierende Büste des Generals, zum anderen um Ereignisse aus dem Privatleben des Generals, zu denen kein Quellenmaterial vorhanden ist wie z.B. seine jeweils erste Begegnung mit seinen beiden Ehefrauen, die letzte Begegnung mit seinem Bruder und sein letztes Lebensjahr auf dem Gut. 250 In seiner Jugend gewinnt die Büste des Generals für den ‚Nachfahren’ die besondere Funktion, der einzige Zugang zu der geheimnisvollen Person seines Ahnen zu sein, da ja das Schweigegebot der Großmutter über die Familiengeschichte immer noch gilt und erst später von Onkel Charles durchbrochen wird. 251 Die Imagination des Jungen wird ausgelöst durch den Anblick der im Dunkel langsam verblassenden, nur noch schwach leuchtenden Büste. 252 Erzähltechnisch wird hier die begrenzte Einsicht des Jungen in die größeren Zusammenhänge überlagert durch das Wissen des später als Erwachsener schreibenden ‚Nachfahren’ um den Verkauf der Büste und ihren daraus resultierenden Verlust bzw. ihr dadurch bedingtes ‚Umherirren’ durch die verschiedensten Salons und Häuser. Auch der Vergleich der Büste mit antiken Götterstatuen, die bei der Zerstörung eines Tempels in den neuen geschafft wurden, stammt vom erwachsenen und ‚wissenden’ Erzähler (G, 243). Erst der Rückbezug des Vergleichs mit den antiken Götterstatuen auf den im Laufe seines Lebens ebenfalls von einem Ort zum nächsten irren- 250 Hier v.a. G, 365-369, 370f., 372f., 374f., 376-378, 379f. 251 Für den erwachsenen Nachfahren wird die Büste selbst zum Phantom, da sie ja nach dem (vermutlich unrechtmäßigen) Verkauf durch den insolventen Immobilienmakler nicht mehr auffindbar ist. 252 Die Bedeutung von Kunstwerken als Auslöser der Imagination bzw. der Fiktion in Simons Werk wurde verschiedentlich von der Forschung untersucht: So wertet beispielsweise C. DuVerlie diese als „pre-texts“ (C. DuVerlie: „Pictures for Writing: Premises for a Graphopictology. Transl. by Elizabeth Bails.“ (1981), S. 203.), während D. Sherzer das insbesondere auch für Les Géorgiques typische Wechseln zwischen den verschiedensten Zeichencodes als „rewritings intersémiologiques“ beschreibt, dessen Funktion darin besteht, die performative Kraft der Sprache bzw. ihre Fabulierkraft zu betonen, ihre Macht, Individuen, Objekte oder Situation zu evozieren. (D. Sherzer: „Les Géorgiques: Langage et fiction.“ (1987), S. 77) 416 den General wird wieder aus der Sicht des Jungen erzählt: Dabei findet eine Überblendung statt zwischen der in den Quellen überlieferten Biographie des Generals und seiner Nachbildung in Gestalt einer Büste. Die fiktive Identität des Generals, wie sie von der Büste durch ihr Aussehen, ihren Gesichtsausdruck und ihre Kleidung repräsentiert wird, durchdringt nun sein aus den Quellen rekonstruierbares Leben: Er antichambriert nicht, sondern wird „entreposé“, „porté“ (G, 244), er wird „expédié de nouveau“, „tiré au grand galop par les infatigables et apocalyptiques attelages de percherons […] retenu en place par ses harnais, son attirail de cordes, de poulies et de treuils“ (G, 245). Mag auch diese Imagination ihren Ursprung in der Phantasie des Erzählers als kleinem Jungen haben, wird sie von ihm als Erwachsener funktionalisiert, um die Passivität des Generals, sein Ausgeliefertsein an die Anweisungen, Befehle und Ideen seiner Vorgesetzten zu unterstreichen: „[…] renvoyé d’une extrémité à l’autre de cette carte aux couleurs suaves, rose, amande, jonquille […]“ (G, 245). 253 Im letzten Teil der Imagination scheint sich die Statue, die mittlerweile in der Vorstellung des Jungen den Platz des ‚realen’ Generals vollständig eingenommen hat, zu beleben: „... l’immobile visage de marbre ne tressaillant même pas, les immobiles lèvres de marbre s’écartant à peine (le marbre peut-être seulement un peu plus pâle), la voix en marbre elle-même disant: « Strasbourg! », puis presque aussitôt, très vite, encore plus en marbre: « Bien. Strasbourg. », […]“ (G, 248). 254 Diese paradoxe Metalepse zwischen den ontologischen Ebenen ‚Fakt’ 255 und ‚Fiktion’, zwischen innerfiktionaler historischer Realität und fiktiver Figurenidentität - letztere wird durch ihren Artefakt-Status als Standbild noch hervorgehoben - unterstreicht den irrealen, imaginären Charakter der Szene, die so nicht in den Quellen überliefert ist. Der Erzähler ergänzt hier die historische Realität um seine eigenen Imaginationen, um auf diese Weise das Dunkel um die Schuld des Generals an dem Tode seines Bruders zu erhellen. Umfangreicher und ebenso wenig durch Quellen gestützt sind die Imaginationen des Erzählers bei der Rekonstruktion zentraler Ereignisse aus dem Leben des jüngeren Bruders Jean-Marie L.S.M. 256 Dieser erhält erst auf den letzten Seiten des Romans einen Körper: Während er bis dahin in der 253 In dieser Textstelle steht die militärische Karte mit ihren in unterschiedlichen Farben gezeichneten Regionen und Ländern in einer metonymischen Beziehung zur realen Geographie. 254 Es handelt sich hierbei um das für die Familiengeschichte so bedeutsame Ereignis der Versetzung des Generals nach Strassburg: an den Ort, in welchem sein Bruder bis zu seiner Desertierung 1792 stationiert war. 255 Der Quellenbeleg für die Versetzung findet sich im Anschluss an die imaginierte Szene in Form des intertextuellen Zitats eines Briefes, den der General an den Strassburger Bataillonschef Legros geschrieben hat (G, 250f.). 256 Vgl. zur Rolle der Imagination des Erzählers bei der Rekonstruktion von Teilen der Vita des Bruders: R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 177. 417 Handlung weitestgehend abwesend war und nur vereinzelt in zitierten Dokumenten als ‚Bezeichneter’ bzw. als Objekt auftauchte, gewinnt er nun eine Identität als Handelnder. Doch zunächst bleibt er in der pathetischen Phantasie („Et ce frère! …“ - G, 404) des Erzählers immer noch […] ce fantôme, rien qu’une charogne maintenant, comme celle qui gisait sous les peupliers dans le fond du vallon, cette partie de lui-même qui, pour lui, avait déjà commencé à pourrir de son vivant, à dater du moment où il l’avait arrachée, retranchée de lui par un acte d’atroce mutilation, comme on arrache un œil, se coupe un membre gangrené, ou pour obéir à quelque commandement biblique, refusant non seulement de le connaître mais expulsant jusqu’à son souvenir, ne prononçant, n’écrivant jamais ce nom (Jean-Marie) qui était en quelque sorte le complément du sien (Jean-Pierre) […] (G, 404f.). Hier wird die Macht des Generals als Sieger über den Bruder sowohl im Hinblick auf die Ereignisgeschichte - die Revolution hat über die Monarchie der Bourbonen (zunächst) gesiegt - als auch im Hinblick auf die Familiengeschichte deutlich: Als älterer Bruder und damit als Familienoberhaupt verfügt der General über die Möglichkeiten, andere, ihm missliebige Familienmitglieder aus der Chronik der Familie und damit aus ihrer Geschichte, ja sogar aus dem Sprachgebrauch zu streichen. 257 Die Folgen spürt noch der ‚Nachfahr’ beim Versuch, das Leben des jüngeren Bruders zu rekonstruieren: Er steht einem Phantom gegenüber, er kann auf keine aussagekräftigen Quellen zurückgreifen, um auch nur annähernd den Charakter Jean-Maries oder wichtige Ereignisse in seinem Leben zu beschreiben; Jean-Marie wird immer nur ein Schemen vor dem historischen Hintergrund seiner Zeit bleiben. Doch bedient sich der Erzähler schon bald seiner Imagination, um diesem Phantom einen Leib und einen Charakter zu verleihen: […] et lui, le cadet, le Chevalier (si tant est que ces mots eussent encore un sens pour désigner un vieux loup aux abois, efflanqué, au visage d’où toute la jeunesse, tout souvenir même de jeunesse sinon peut-être ce regard toujours indompté s’était depuis longtemps effacé, ce hors-la-loi, qui courait les bois comme un braconnier, ne possédait même pas de cheval, dont il ne devait rester plus tard aucune trace, pas un médaillon, pas une lettre, pas un papier témoignant qu’il avait été (sauf ces deux simples mots: mon frère, quand il s’agit de partager ses biens, et cette affiche, ces trois colonnes imprimées qui n’attestaient de son existence que par le jugement qui la lui enlevait), lui dont il était même défendu maintenant de prononcer le nom (sauf peut-être, quelquefois, les femmes entre elles, à la veillée, à voix basse) […] (G, 420). 257 Vgl. G, 405: „[…] le désignant alors non par son prénom, ces syllabes, cet assemblage de sons familiers qui en faisaient comme son propre double, mais disant seulement « mon frère », et cela non pas seulement dans ses rapports avec des tiers, non seulement dans sa propre famille, avec sa mère ou ses sœurs […], mais même avec Batti, […]“. 418 Hier mischen sich erstmals Fakt und Fiktion - das Wissen des Erzählers um den geringen bzw. gänzlich fehlenden Besitz des jüngeren Bruders stammt aus dem überlieferten Brief des Generals an seine Mutter und/ oder Schwestern, in dem er Anordnungen gibt, was mit dem Besitz Jean-Maries nach dessen Tod zu geschehen habe. Hingegen sind alle Beschreibungen seines Äußeren nicht durch Quellen belegt, da nicht einmal ein Gemälde oder ein Medaillon erhalten ist, das ein Portrait Jean-Maries zeigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Erinnerung an den jüngeren Bruder, mag sie vom General auch zensiert sein bis hin zu ihrer völligen Austilgung, quasi im „Untergrund“ weiterlebt: Es sind die Frauen der Familie - womöglich auch Batti - die das Andenken an den jüngeren, attraktiven Mann im Geheimen bewahren. Hier erweisen sich die historisch Unterlegenen einmal mehr als Tradierer von Unterkapiteln der ‚offiziellen’ Geschichte. Im Anschluss an die zitierte Textstelle, die zumindest noch in Teilen quellengestützt ist, übernimmt die Phantasie des Erzählers vollends die Führung: Schon die Rückkehr des so lange Zeit 258 verschollenen Bruders auf das Gut gestaltet sich phantastisch: „[…] et tout à coup là, revenu, comme surgi du néant, de ce vague au-delà […]“ (G, 420). Der Erzähler erzählt die von ihm imaginierte Rückkehr des fahnenflüchtigen Bruders aus der begrenzten Sicht Battis, für die später auch die Namen der Orte, an denen sich der jüngere Bruder laut seines Urteils aufgehalten haben soll, ohne Bedeutung bleiben, da sie zeit ihres Lebens keinen anderen Ort als das Gut kennenlernt. 259 An die Imagination der überraschenden Rückkehr des jüngeren Bruders auf den Familiensitz schließt sich eine ebenfalls vom Erzähler erfundene Begegnung zwischen dem Bruder und Batti an. Auch hier beschränkt sich der Erzähler weiterhin auf den begrenzten Wissenshorizont Battis, die mit ihrem Gesprächspartner kaum ein Gespräch über politische Fragen geführt haben dürfte, sondern sich mit ihm wohl vor allem über elementare Dinge wie Nahrung oder Unterkunft unterhalten hat (G, 421). Der Erzähler lässt auch die Geschichte der Flucht im Dunkeln; er bietet zwar verschiedene Alternativen an, von denen die eine ihren literarisch geprägten Ursprung nicht verhehlen kann, entscheidet sich zuletzt aber für die plausibelste Version: die Flucht als Ein-Mann-Unternehmen, der jüngere Bruder allein auf sich gestellt auf seinem dreihundert Kilometer langen Weg vom Osten Frankreichs bis in den Südwesten (G, 421f.). Diese ausführliche Ima- 258 Vermutlich kehrt er 1798 auf das Gut zurück: „[…] (pendant ces six années où il se cachait le jour dans des greniers, […]“ (G, 433). 259 Möglicherweise bildet das Dokument über die Verhaftung und das Todesurteil auch die Basis für ein imaginiertes Gespräch zwischen Batti und Jean-Marie, in welchem letzterer wohl die Orte, an denen er sich in den vergangenen Jahren aufgehalten hat, angedeutet haben mag. 419 gination des Erzählers zeichnet sich erzähltechnisch dadurch aus, dass schon bald die eingeschränkte Perspektive Battis zurücktritt und der unbekannte Erzähler die Vermittlung des Geschehens übernimmt. Dabei treten Hinweise auf den innerfiktional bloß imaginären Charakter der Handlung völlig in den Hintergrund, der Erzähler präsentiert sich als selbstsicherer auktorialer Erzähler, der keinen Zweifel an der Wahrheit des von ihm Erzählten lässt (G, 424-426). Erst am Ende der imaginierten Episode über die Flucht des jüngeren Bruders, als der Erzähler über die so unterschiedliche Entwicklung der beiden Brüder nachdenkt, finden sich wieder abtönende Modalpartikel wie „peut-être“ (G, 426, 428) bzw. „soit..., soit...“ (426). Einen Anschein von Glaubwürdigkeit und Realität erhält die Episode um die Flucht des Bruders auch noch durch die (ebenfalls imaginierte) Erzählung eines wichtigen Ereignisses während dieser Flucht: Aus der Sicht des Bruders, der hier als Reflektorfigur erscheint, wird seine Begegnung mit dem Tode berichtet, als er in ein Schlammloch gerät und beinahe hinabgezogen wird. Auch hier fehlt jeder Hinweis auf den erfundenen Status der Geschichte, vielmehr erzeugen die detaillierten Naturbeschreibungen einen eindrücklichen effet de réel und entwerfen darüber hinaus ein plausibles Bild vom Charakter des jüngeren Bruders (G, 422-424, 426-428). 260 Dieser Realitätseffekt wird in Les Géorgiques nun nicht mehr wie noch in Triptyque 261 metaleptisch gebrochen, sondern fungiert im Zeichen einer Authentizitätsillusion, die den Leser von der Plausibilität bzw. der ‚Wahrhaftigkeit’ der nur imaginierten Szene überzeugen soll. Das eingangs angedeutete Grunddilemma, mit dem sich der Erzähler bei der Rekonstruktion der Biographie Jean-Maries konfrontiert sieht, ist die Unterschiedlichkeit der beiden Brüder: Wie konnte es dazu kommen, dass der jüngere Bruder ganz im Gegensatz zu dem mit den Idealen der Revolution konform agierenden älteren Jean-Pierre L.S.M. so eigensinnig gehandelt hat - ein Festhalten am Überkommenen, das ihn zuletzt das Leben gekostet hat? Der imaginierten Episode um die Konfrontation mit dem Tode auf der Waldlichtung kommt in diesem Zusammenhang die besondere Funktion zu, 260 Unter Berufung auf C. Reitsma-La Brujeere, die auf das Zitat der ‚Sumpf-Textstelle’ in L’Acacia (A, 353) hinweist (C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 213), vertritt S. Schreckenberg die These, dass Simon auf der Grundlage eigener Erinnerungen an seine Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager die Episode um den jüngeren Bruder imaginiert, die eigene Autobiographie also fiktionalisiert hat. Meines Erachtens ist diese Interpretation problematisch, da ja kein Hinweis über den Realitätsstatus der Episode in der Biographie Simons vorliegt (auch L’Acacia ist ein roman und keine Autobiographie! ) - es sollte daher von dem fiktiven Status der Sumpf-Episode sowohl in Les Géorgiques als auch später in L’Acacia ausgegangen werden. 261 In diesem Roman entpuppen sich Naturbeschreibungen immer als Beschreibungen von Filmen, Plakaten, Postkarten etc. 420 eine Erklärung für das ansonsten nicht plausible Verhalten des Bruders bei seiner Verhaftung und seinem Prozess anzubieten. Im Gegensatz zu dieser eher ‚versteckten’ Imagination präsentiert sich die Episode um die letzte Begegnung 262 zwischen den beiden Brüdern wieder offen als ‚erfunden’: „Et alors peut-être cette rencontre: […]“ (G, 430). Der General kommt wie immer völlig überraschend auf das Gut, auf dem sich seit unbestimmter Zeit sein Bruder versteckt hält; er ist auf der Durchreise von Genua nach Paris und hat den Umweg über das im Südwesten Frankreichs gelegene Gut vorgeblich nur deshalb gemacht, um seinen neuen Zuchthengst wohlbehalten zu übergeben. Falls er bis dahin nichts von der illegalen Anwesenheit seines Bruders gewusst haben sollte, wird ihm - so vermutet der Erzähler („probablement“; G, 431) - ein Blick in Battis Gesicht auf Anhieb alles verraten haben. Der Erzähler schreitet nur tastend in seiner Erzählung voran; jede Aussage schwächt er sogleich durch Modalpartikel wie „sans doute“ und „peut-être“ ab (G, 431). Darüber hinaus gibt er offen sein Nicht-Wissen zu und bezieht den Leser in die Analyse der jeweiligen Ereignisalternativen ein, wie die Frage nach den möglichen Worten zwischen den beiden Brüdern zeigt: Et quoi? Quels mots, quelles paroles entre eux deux, entre le hors-la-loi et celui qui était la loi même, l’avait rédigée, ou sinon rédigée votée, proclamée, fait appliquer, distinguant maintenant dans le noir, même plus caché par le tronc de l’arbre, en avant de l’épais laurier, ce loup aux abois: pas de paroles (et non par prudence, non que l’un ou l’autre craignît d’éveiller un valet ou une servante […], mais parce que tant l’un que l’autre connaissaient à présent trop de choses, avaient vu couler trop de sang pour penser encore à chercher des mots): le silence donc, après le bref murmure, la brève reconnaissance, […] (G, 432). Auch hier findet sich wieder die paradoxe Überblendung zwischen scheinbarer Realität und Fiktion: Während die vorhergehenden Modalpartikel die Episode eindeutig als erfunden präsentieren, wirkt die Beschreibung der Umgebung nun eher unterstützend auf die Erzeugung einer Realitätsillusion. Im weiteren Verlauf der Textstelle wird deutlich, dass für den Erzähler weniger das Sagen oder Tun der Figuren im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Frage nach dem tieferen Verhältnis der Brüder: Dabei äußert sich die Sympathie des Erzählers für den rebellischen outsider in seiner empathischen Einfühlung in dessen Leben und Gefühle (G, 433). Wiederum finden sich kaum noch Hinweise auf die Fiktivität der Situation, stattdessen erscheint der Erzähler als auktoriale Instanz, die sich erneut ihres Erzählens und der von ihr berichteten Ereignisse sicher ist (G, 432-434). Erst am Schluss der Episode häufen sich erneut Modalpartikel wie u.a. „peut-être“, wenn der Erzähler die „intendante“ imaginiert, die von Hun- 262 G, 430-435. 421 degebell aufgeweckt am Fenster erscheint und aus deren Sicht nun das sich bald abzeichnende Ende dieser letzten Begegnung zwischen den Brüdern erzählt wird (G, 434). Zuletzt überwiegt wieder scheinbar die Unsicherheit des Erzählers, doch scheint diese hier erneut durch den begrenzten Wissenshorizont der Reflektorfigur Batti bedingt zu sein: „[…] - et combien de temps? et à la fin quoi? peut-être les deux silhouettes un instant confondues (une étreinte? ), trois, quatre, cinq secondes peut-être (comment savoir à travers la nuit, les larmes? ), […]“ (G, 435). Dieses Spiel mit den verschiedenen Fokussierungen - der Wechsel zwischen der scheinbar allwissenden Erzähler- und der begrenzten Figurenperspektive - lässt den Leser schließlich im Ungewissen darüber, welche Teile der Handlung nun fiktiv sind und warum. Liegt die Ursache in Battis durch die Tränen und die nächtliche Dunkelheit getrübte Sinneswahrnehmung oder in dem fehlenden Wissen des Erzählers? Der Vergleich der unterschiedlichen narrativen Konstruktion der beiden Brüder L.S.M. hat gezeigt, in welchem Maße der Erzähler auf seine Imagination - auch im Verbund mit nicht-textuellen Quellen wie der Büste - zurückgreift, um die Geschichte des Generals und die Ereignisse um die Verhaftung und die Verurteilung des jüngeren Bruders zu erhellen und zu plausibilisieren. Noch lückenhafter als für den General und für seinen Bruder präsentiert sich das dem Erzähler zur Verfügung stehende Quellenmaterial für eine Rekonstruktion des Lebens der drei zentralen Frauenfiguren im Leben des Generals: seine erste, früh - möglicherweise im Kindbett - verstorbene Frau Marie-Anne bzw. Marianne, seine zweite, royalistische Frau Adélaïde und schließlich seine Verwalterin Batti. 263 Alle drei Frauen lassen die Quellen nur schemenhaft vor dem historischen Hintergrund auftreten; die erste protestantische Ehefrau tritt allein in der Inschrift 264 auf ihrem Grabstein sowie in zwei Briefen des Generals in Erscheinung: den ersten schreibt er möglicherweise an seinen Vater anlässlich seiner Verlobung mit der Holländerin (G, 39) und im zweiten beklagt 263 Die biographischen Hinweise zum Leben des Generals bei A. Dry umfassen auch einige Bemerkungen zu seinen beiden Ehefrauen; so wurde der Name der ersten Frau - „Marie Anne d’Hasselaër“ - tatsächlich nahezu unverändert von Simon übernommen, während er den Namen der zweiten Frau - „Marie Micoud, veuve de A. Donnet“ - leicht modifiziert hat. Darüber hinaus hat er das Todesdatum der ersten Frau vorverlegt, die reale Marie Anne starb erst sieben Jahre nach der Geburt des Sohnes. Auch das Grab und der Grabstein sind historisch und wurden 1811 vom General L.S.M. errichtet. (A. Dry: Soldats ambassadeurs sous le Directoire. An IV-an VIII. Band II: La mission de Clarke en Italie, Canclaux et Lacombe Saint-Michel à Naples, Bernadotte à Vienne. (1906), S. 265ff.) 264 G, 163-165. 422 er noch zwanzig Jahre später den unerträglichen Verlust, den ihr früher Tod ihm bedeutet hat (G, 76). Die zweite Frau des Generals wird im Grunde als Person nur in den Akten des Prozesses anlässlich der Erbstreitigkeiten zwischen ihr und dem Sohn aus erster Ehe greifbar 265 sowie in dem indirekten Zitat eines an Napoleon gerichteten Bittschreibens (G, 455). Von der „intendante“ Batti sind in Simons Roman interessanterweise keine Briefe erhalten, so dass ihre ‚historische‘ Existenz nur durch die Briefe des Generals bezeugt wird, in denen er Aufgaben überträgt, Anweisungen gibt und Vorwürfe erhebt, sowie durch die Akten aus dem Erbstreit. 266 Die in den genannten Dokumenten enthaltenen spärlichen Informationen über die drei historischen Figuren dienen dem Erzähler nun als Ausgangspunkt für eine Entfaltung der möglichen Charakterzüge und für eine Beschreibung zentraler, wahrscheinlicher Ereignisse kraft seiner Imagination. Im Falle der ersten Frau, Marie-Anne/ Marianne Hassel...r 267 , handelt es sich dabei vor allem um die romantische Szene der ersten Begegnung in der Oper von Besançon, welche vom Erzähler mit seinen eigenen Kindheitserinnerungen an eine gemeinsam mit seiner Großmutter besuchte Oper überblendet wird; bei dem aufgeführten Werk handelt es sich in beiden Fällen um Glucks Orfeo ed Euridice. 268 Eine weitere Imagination des Erzählers setzt sich auf makabre Weise mit dem Verwesungszustand ihres Körpers Jahre nach ihrem Tod auseinander und betont so die unabwendbare Endlichkeit jeden Lebens. 269 Als sei die zweite Frau des Generals - Adélaïde Micoux (G, 382, 400) - schon historisch ein faszinierenderer Charakter als die erste Ehefrau gewesen, sind die Imaginationen des Erzählers zu ihrer Person weitschweifiger und ‚bunter’: Bereits die erste Figurenbeschreibung des Erzählers setzt sich mit ihrer ‚Rettung’ bzw. vielmehr mit ihrem ‚Raub’ durch den General inmitten der blutigsten Terreur sowie mit der zwei Jahre später erfolgten Heirat auseinander. 270 Die Rettung der überzeugten Royalistin durch den General - ihr ist es noch in der Nacht des 10. August 1792 gelungen, in der Nationalversammlung zum verhafteten Louis XVI. vorzudringen - er- 265 G, 382f., 400-403, 409-411, 414-419, 452-454. 266 Vgl. z.B. G, 59f., 166f., 185-189, 216-218, 240f., 464-472, 474-477. 267 Vgl. G, 39, 163, 380. 268 Vgl. G, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 36, 39f., 49f. (Die eindeutig dem 18. Jh. entstammenden Szenen sind hervorgehoben). 269 G, 380f. Gegen Ende des Romans beschreibt der Erzähler vermittels seiner Einbildungskraft aus der Sicht der „intendante“ die erste Ankunft der Holländerin auf dem Gut, ihr erstes Zusammentreffen mit Batti sowie ihr gemeinsames Leben auf dem Gut in der Abwesenheit des Generals bis zu ihrem Tod im Jahre 1790 (G, 407-409). 270 G, 381f., 383-392, v.a. 388-392. 423 scheint umso unbegreiflicher, als dieser, obwohl selbst überzeugter Republikaner, zu diesem Zeitpunkt eine etwas prekäre Stellung als Secrétaire der Convention nationale hat, die er dennoch dazu nutzt, um Freunde und Bekannte oder auch Verwandte von den Listen mit den Verdächtigen streichen zu lassen. 271 Im Zentrum der Imagination des Erzählers über die Flucht des Generals mit seiner befreiten „future Omphale“, 272 „Julie“ 273 bzw. „Briséis“ 274 steht die erste intime Begegnung zwischen den beiden, die noch in der Kutsche stattfindet. Der Erzähler betont den erfundenen Status seiner Erzählung durch das Anbieten von Alternativen („[…] le cabriolet à la capote baissée (la berline? la chaise de poste? ) […]“ - G, 389) und durch die modalisierende Abschwächung des Behaupteten durch Partikel wie „peut-être“ und Konjunktionen wie „ou“ (G, 389f.). Auch die imaginierte Hochzeit des Generals mit Adélaïde auf einem Feldzug im Norden des Landes („l’air salin“, „la mer couleur d’huître“; G, 390), welche wohl laut dem Erzähler vorliegenden Dokumenten von vier höheren Offizieren bezeugt wurde, wird durch die eben genannten Modalpartikel und Konjunktionen abgeschwächt und der erfundene Status aufgedeckt (G, 391f.). Doch muss betont werden, dass vor allem die detaillierten und sehr realitätsnahen Beschreibungen des Meeres, des strandnahen Landes ebenso wie die der Hochzeitsszene gegen diesen metafiktionalen Effekt arbeiten: Dem Leser scheinen die vom Erzähler beschriebenen Szenen gut vorstellbar und plausibel zu sein und erst das Auftauchen der das Beschriebene paradoxerweise in Zweifel ziehenden modalisierenden Partikel enthüllen die Fiktivität der jeweiligen Szene. Der weitere Verlauf der Ehe bis zum Tode des Generals wird nur in einer kurzen Szene angedeutet: Das Ehepaar hat sich im nachrevolutionären Paris, das sich nun unter Napoleonischer Herrschaft befindet, etabliert und auseinander gelebt. Der General ist durch seine militärischen Einsätze häufig abwesend, während seine Frau Adélaïde einen salon in der rue du Hasard - „au nom choisi, semblait-il, par le destin lui-même“ - führt (G, 271 G, 387f. 272 Omphale wurde in der griechischen Sage nach dem Tode ihres Gatten Timolos griechische Königin von Lydien und kaufte auf Veranlassung des Zeus von Hermes den Herakles als Sklaven, tauschte mit diesem die Kleidung und ließ ihn ein Jahr lang in weiblicher Kleidung Frauenarbeit verrichten. Omphale wurde sprichwörtlich für das Hörigkeitsverhältnis eines Mannes gegenüber einer Frau (‚Pantoffelheld’) (G.J. Bellinger: Lexikon der Mythologie. 3100 Stichwörter zu den Mythen aller Völker von den Anfangen bis zur Gegenwart. (1996), S. 361.). 273 Hier wird der Bezug auf einen Intertext nicht deutlich; vermutlich handelt es sich um die „Julia“ aus Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet (1597). 274 Briseis ist in der griechischen Mythologie die schöne Sklavin des Achilles, um deren willen der Streit zwischen ihm und Agamemnon entstand. (W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 113.) 424 399). Die tiefe Kluft, die sich zwischen den beiden Ehegatten aufgetan hat, wird in der Beschreibung des unaufgeräumten, dem Ort eines Gelages ähnlichen Raumes aus der Sicht des Generals verdeutlicht: der Erzähler imaginiert die Gedanken des Generals angesichts des nutznießerischen Charakters seiner Frau. In dem unaufgeräumten, chaotischen Raum scheint er „lui-même - ou son destin, ou l’Histoire, la futilité, la fatalité“ zu sehen. (G, 400). Der Erzähler vermutet, dass der General L.S.M. in diesem dekadenten und oberflächlichen Stillleben, das sein eigenes Haus für ihn darstellt, das bleibende Ergebnis der von ihm zeit seines Lebens mit all seiner Energie und Lebenskraft unterstützten Revolution sieht. Die mit soviel Optimismus und Engagement begonnene Revolution, die doch die Verbesserung des Schicksals der Menschen zum Ziel hatte, ist an der Korrumpierbarkeit und an dem Profitstreben ihrer Akteure gescheitert; damit hat auch sein eigenes Leben, das ganz im Dienst der Republik stand, seinen Sinn verloren. Die Krone wird diesem äußeren Verrat durch das Verhalten seiner eigenen Frau nach seinem Tod aufgesetzt: Zur Zeit der Restauration schreibt Adélaïde an Louis XVIII. einen Brief mit der Bitte um seine Unterstützung „en le suppliant d’oublier la prévention attachée au nom qu’elle porte.“ (G, 33) Die letzte Imagination des Erzählers beschäftigt sich mit dem Verhalten Adélaïdes angesichts ihres dem Tode nahen Mannes bzw. nach seinem Tod anlässlich der Prozesse um sein Erbe. Die Ausführungen des Erzählers scheinen weitestgehend durch Quellen belegt zu sein, die jedoch im Romantext ausgespart sind: In den letzten Jahren vor dem Tod des Generals hat ihn seine Frau Adélaïde völlig sich selbst und der Pflege durch Batti überlassen; sie tritt mit ihrem Mann nur noch in Kontakt, wenn sie Geld für ihr ausschweifendes Leben benötigt (G, 455). Nach seinem Tod stürzt sie sich in einen Jahre andauernden Prozess gegen seinen Sohn aus erster Ehe, um auch nicht des allergeringsten Anteils ihres rechtmäßigen Erbes beraubt zu werden (G, 451). Für den Erzähler bleibt das Verhalten des Generals, seine ungebrochene Großzügigkeit gegenüber seiner treulosen und verräterischen zweiten Frau, völlig unverständlich. Dieser Mangel an Wissen und Verständnis bewegen ihn, mögliche Ursachen dieser unglaublichen Großzügigkeit zu imaginieren: „[…] quoi? bonhomie, lassitude? mansuétude de géant? , ou l’emprise qu’elle avait peut-être encore sur lui? , le souvenir de cette beauté qui l’avait subjugué au point de le pousser à se compromettre, risquer son crédit, sa vie même, pour la tirer de prison […]“ (G, 455). Auch die Frau selbst bleibt dem Erzähler fern: ihre Kühnheit, zwei Mal inmitten der beginnenden Terreur zu dem festgenommenen König zu gelangen und ihm zunächst ein billet des Grafen von Clermont-Tonnerre und schließlich sogar Geld zu übergeben, damit ihm doch noch die Flucht gelingt (G, 33, 437, 456). Die Faszination des Erzählers zeigt sich auch in der 425 Imagination ihres Äußeren, ihrer offen zur Schau gestellten Sinnlichkeit möglicherweise auch über den Tod des Generals hinaus (G, 456). Schließlich kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass jenseits aller kontroversen politischen Überzeugungen und auch jenseits einer anfänglichen körperlichen Anziehungskraft „cette sorte de franc-maçonnerie de l’audace, du courage“ das Bindeglied zwischen den beiden so ungleichen Ehegatten gewesen sein muss (G, 455f.). Im Vergleich zu den beiden Ehefrauen des Generals ist dem Erzähler von dessen „intendante“ Batti aus den überlieferten Dokumenten 275 nur bekannt, dass sie während seiner oftmals jahrelangen Abwesenheit das Gut nach dessen Vorstellungen und Plänen verwaltet hat und dass sie laut den Prozessakten, welche die Erbstreitigkeiten nach dem Tode des Generals dokumentieren, an der Unterschlagung von Erbgut zugunsten des Sohnes aus erster Ehe beteiligt war. 276 Somit besitzen alle Aussagen des Erzählers zum Leben und zur Person Battis, die über ihre durch Quellen belegbare Tätigkeit als Verwalterin und ihre durch das Protokoll nachweisbare Beteiligung an den Erbstreitigkeiten hinausgehen, grundsätzlich einen in der Welt des Romans fiktiven Status. Dies gilt gleich zu Beginn des fünften Kapitels für die Imagination des letzten Lebensjahres, das der General, umsorgt von Batti, auf der Terrasse seines Gutes verbringt. Der fiktive Status Battis wird bereits an dieser Stelle in ihrer Charakterisierung als „silhouette“ (G, 367), „se détachant en noir dans l’encadrement de la porte“ (G, 379), angedeutet. Auch der wiederholte Vergleich ihrer Person mit „une de ces créatures mythiques, de ces divinités ancillaires chargées d’accompagner les ombres, les aider à traverser ce dernier intervalle […]“ (G, 380) 277 betont den imaginären und fiktiven Status der alten Frau, über deren Aufenthaltsort und Funktion in den letzten Lebensjahren des Generals die Quellen keinen Aufschluss zu geben vermögen. 278 Eine zentrale Stelle in der imaginativen Rekonstruktion der Figur Batti nimmt die pathetische Beschreibung („A Batti! A elle! “; G, 405) ihrer Kindheit und Jugend Seite an Seite mit den beiden Brüdern L.S.M. durch den Erzähler ein: ihr gemeinsames Aufwachsen als Milchgeschwister, ihr späterer, wahrscheinlicher Missbrauch durch beide Brüder, ihre Spiele und ihr 275 Es findet sich in Les Géorgiques kein Zitat eines Briefes von Batti; allein am Romanende imaginiert der Erzähler sie beim Abfassen ihrer monatlichen Berichte an den General: „[…] les feuillets couverts de son écriture maladroite, appliquée, et où elle s’efforçait pathétiquement, le visage crispé, de convertir en mots des prairies, des fossés, de jeunes plants, des poulains, des labours, des bois, des heures de marche, des chemins, […].“ (G, 461) 276 G, 409-411, 414-416. 277 Vgl. ebenso S. 459f. 278 Vgl. auch die modale Abtönung („peut-être“) der Abendszene (G, 380). 426 Unterricht ebenfalls zusammen mit den beiden Jungen. 279 In dieser Beschreibung finden sich allmählich Hinweise auf ihren imaginativen Status; der Erzähler stellt sich bestimmte Ereignisse wie z.B. die spätere Rückkehr der beiden Brüder auf das Gut und die Folgen dieser Rückkehr für Batti nur vor, wie die Episode um die Ankunft der ersten Frau auf dem Hof zeigt: „[le géant] la nommant à son tour (peut-être d’une façon un peu différente, disant par exemple: « Et voilà Batti... » - ou peut-être même pas, peut-être, simplement: « Léon, François, Louis, Albert, Batti... »).“ (G, 407) Auch die Darstellungen der späteren Jahre nach der Heirat des Generals mit der Holländerin und ihrem Tod sind, wie die Modalpartikel „peutêtre“ und „sans-doute“ zeigen, nur imaginiert. 280 Dagegen treten die metafiktionalen Hinweise auf den imaginierten, fiktiven Status des Erzählten in der Beschreibung der Rückkehr des jüngeren, fahnenflüchtigen Bruders zurück. Die Detailfülle der Darstellung, die der Szene der Rückkehr einen beinahe bildhaften Charakter verleiht, lässt sie vor den Augen des Lesers äußerst lebendig entstehen. 281 Erst in der Episode um die letzte Begegnung und den Abschied der beiden Brüder wird erneut der fiktive Charakter der Szene betont - „(et Batti peut-être réveillée elle aussi, […])“ (G, 434) - bis hin zur ihrer möglicherweise durch Tränen getrübten Wahrnehmung (G, 435). Am Ende des Romans lässt die Imagination des Erzählers Batti in einem versöhnlicheren Licht erscheinen: Weniger als Betrügerin und Kriminelle, zu der sie laut den Prozessakten geworden ist, oder als Hüterin der Toten (G, 459), denn als Ersatzmutter und Beschützerin des Sohns Eugène: Ou plutôt non. L’inverse. C’est-à-dire c’était elle qui l’avait reçu en héritage. On lui avait pris les deux autres, on lui avait arraché celui-là dix ans plus tôt pour l’envoyer au loin, dans ce vague au-delà sans dimensions ni formes bien définies […] où allaient se perdre ceux qui s’y aventuraient, revenaient, au mieux, changés par quelque magicienne en bêtes sauvages ou rejetés sous forme de rebuts, usés, vidés, à bout de forces, tout juste bons à traîner quelques mois dans un fauteuil avant de s’effondrer tout à coup et mourir. Mais celui-là au moins lui était rendu. Et pas encore détruit : non pas poursuivi, traqué, ce cachant, prêt au meurtre, mais respecté, prospère, et non pas à demi impotent, agonisant, mais frais rose, intact. (G, 460) Der Erzähler imaginiert am Ende Batti als Anstifterin Eugènes, die für die Söhne der Familie eigentlich standesgemäße militärische Karriere, welche den von ihr geliebten Männern jedoch nur Unglück gebracht hat, aufzugeben und stattdessen einen zivilen Beruf zu ergreifen. Es scheint ihm plausibel, dass Batti in dieser Handlungsweise eine Kompensation für die von ihr umsonst geopferten Jahre sieht: 279 G, 405f. 280 G, 408f., 411-413. 281 G, 414f., 419-420, 421. 427 […]: peut-être, avec son teint de jeune fille, sa fadeur, lui apparut-il comme incarnant un insolent démenti au destin, une triomphale revanche, la récompense des années passées non seulement à compter et recompter les sacs de grain ou les barriques, vérifier les clôtures, regarnir les haies, surveiller les coupes de bois, mais encore à attendre, silencieuse, solitaire, se desséchant peu à peu, veillant farouchement sur ces bêtes, ces prés, ce dépôt ou plutôt ce fardeau dont elle allait enfin pouvoir se décharger en le lui remettant pour avoir, enfin, le droit de mourir elle-même, de se reposer, […] (G, 460f.). Auf der Suche nach den Ursachen für bestimmte Ereignisse in der Familiengeschichte - in diesem Fall der unerwartete Verzicht des Sohnes auf die militärische Karriere - konstruiert der Erzähler mangels aussagekräftiger und überhaupt vorhandener Quellenbelege kraft seiner Imagination Zusammenhänge, die ihm plausibel erscheinen. So wie das nicht durch Quellen belegte, vom Erzähler erfundene letzte Zusammentreffen der beiden Brüder auf dem Gut die Erklärung für die überraschende Versetzung (und die damit verbundene Abstufung) des Generals nach Strasbourg liefert, wird nun eine emotionale Verbindung zwischen der Verwalterin und dem Sohn ihres Milchbruders und möglicherweise Jugendfreundes angenommen. Die letzte Szene mit Batti zeigt sie als gealterte Frau, die von der harten, jahrelangen Arbeit gebeugt und ausgezehrt ist, die aber dennoch gewissenhaft ihre Aufgaben erfüllt und an jedem Abend den Tag in ihrem „cahier“ abrechnet und im zweiwöchentlichen Rhythmus Bericht an ihren Herrn erstattet (G, 462f.). Interessanterweise fehlt hier jeder Hinweis auf die Phantasie des Erzählers, der Batti - von der ja kein Portrait existiert - als Romanfigur erst größtenteils konstruiert. Das Fehlen jeglicher metafiktionaler Hinweise auf die Fiktivität der Figur einerseits und andererseits die einer Offenlegung des erfundenen Status zuwiderlaufende Detailfülle und Ausführlichkeit der Beschreibung sorgen eher für einen gegenteiligen Effekt: die in großen Teilen fiktive Figur Batti wird auf diese Weise quasi historisch, sie wird ‚vollstellbar’, ihr Aussehen und ihre Tätigkeit erscheinen im Kontext ihrer Beziehung zum General plausibel zu sein. Am Beispiel der im Leben des Generals L.S.M. wichtigen Frauenfiguren zeigt sich die Technik des Erzählers, die wenigen überlieferten historischen Fakten mittels seiner Imagination um fiktive Elemente anzureichern, um auf diese Weise Verbindungen zwischen den disparaten, nicht durch Quellen belegten Ereignissen zu konstruieren. Auf diese Weise versucht er, ‚weiße Flecken’ in der Biographie des Generals wie auch in der seiner Familie insgesamt im Sinne einer narrativen Logik zu füllen, ohne jedoch den erfundenen Status dieser Ereignisse oder Zusammenhänge zu verbergen. Es gelingt ihm dabei - wie R. Sarkonak ausführt -, „a poignant memorial to the female - unwritten and hidden - side of history“ zu schreiben und 428 darüber hinaus auch zwei Verlierern der Geschichte ein Denkmal zu errichten: Batti und Jean-Marie. 282 Wie die Analyse der fünf zentralen Figuren gezeigt hat, fungieren Modalpartikel wie „peut-être“ oder „sans doute“ im Sinne eines metafiktionalen Kommentars, der den mutmaßenden Status und damit die Fiktivität zahlreicher Elemente der Romanfiguren offenlegt. 6.4.1.2 Die Semantisierung von Orten: das Schloss, das Winterlager, Barcelona und Paris Im Gegensatz zu der expliziten Thematisierung des größtenteils fiktiven Status der Romanfiguren, erfolgt die Offenlegung der Fiktivität gewisser Orte in Les Géorgiques eher implizit im Rahmen einer Inszenierung. Wie zu zeigen sein wird, werden für die Handlung wichtige Plätze wie das Familienschloss und das Grab der ersten Frau, aber auch das Winterlager des ‚Nachfahren’ im Zweiten Weltkrieg und die beiden ‚revolutionären’ Städte Paris und Barcelona semantisch aufgeladen und erhalten auf diese Weise eine weitere, verborgene Bedeutungsebene, welche auf andere fiktionale Subtexte oder Mythen verweist. Zugleich werden sie aus der historischen Realität herausgehoben, da sich auf unwahrscheinliche Weise irreale Elemente an diesen Orten sammeln. Das Familienschloss 283 wird in der schicksalhaften Nacht der letzten Begegnung zwischen den beiden Brüdern zum verfluchten Ort, von dem aus der - gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche - Abstieg der Familie L.S.M. seinen Anfang nimmt und zugleich die phantastische Familienlegende entsteht. Auch hier ist es wiederum der Erzähler, der nicht durch Quellen belegte Ereignisse imaginiert und auf diese Weise neue Zusammenhänge konstruiert: […]: et peut-être donc pas d’étreinte, même pas cet éphémère moment de faiblesse, même pas une parole ; seulement le rire moqueur, cruel, répercuté en échos dans la nuit silencieuse, allant réveiller en sursaut cette mère qui, par la suite, allait quitter le château, se réfugier chez l’une de ses filles, maudire le premier fruit de son ventre, concentrant sur lui sa vindicte de chair amputée de sa chair, refusant de le voir pendant des années, n’ayant de contact avec lui pour leurs affaires qu’à travers des intermédiaires, Batti ou des notaires, ne se réconciliant qu’à la veille de sa mort avec celui qu’elle considérait comme un assassin… (G, 438). 282 R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 188. 283 Das Schloss war bereits in Kap. 6.3.1.2 Der ‚Nachfahr‘ als Biograph des Generals L.S.M. Gegenstand einer detaillierten Analyse, daher soll an dieser Stelle nur kurz beleuchtet werden, inwiefern es zum Entstehungsort der phantastischen Familienlegende wird. 429 Der ganzen - nur in der Vorstellung des Erzählers existierenden - Episode haftet etwas Gespenstisches an: in der Dunkelheit wird das Lachen des rebellischen jüngeren Bruders gleichsam zum körperlosen Lachen eines Phantoms bzw. eines bösen Geistes. Dieses weckt nun in der schicksalhaften Nacht ausgerechnet die Mutter der beiden ungleichen Männer; sie wird später das Schloss als den Ort, an dem die Entzweiung zwischen ihren beiden Söhnen ihren Höhepunkt und zugleich ihr Finale erreicht hat, verlassen und in der Folge ihren älteren, womöglich nur auf seinen Vorteil bedachten Sohn verfluchen, dem sie seine schuldhafte Untätigkeit vorwirft, die zum Tode des jüngeren Bruders geführt hat. 284 Das grausame, spöttische Lachen taucht zusammen mit der nächtlichen Atmosphäre und der proleptischen Anspielung auf den Fluch der Mutter das Schloss in eine gespenstische, gruselige Atmosphäre, die auf andere fiktionale Texte wie z.B. die gothic novel des 19. Jahrhunderts verweist. Darüber hinaus zitiert das Motiv der beiden feindlichen Brüder jüdischchristliche Mythen wie z.B. die alttestamentarische Geschichte von Kain und Abel, in der Gott den Brudermörder Kain ebenfalls mit einem Fluch belegt. 285 Die Erzählung von der letzten Begegnung und dem Abschied der beiden Brüder wird durch den offensichtlich fabulierenden Erzähler - es finden sich keine Quellenzitate, die diese letzte Begegnung der beiden Brüder und auch den Fluch der Mutter selbst belegen würden - mit verschiedenen mythischen und fiktionalen Elementen angereichert; dadurch erhält die Episode zunehmend einen fiktiven Charakter. Im zweiten Kapitel des Romans, das den Erlebnissen des ‚Nachfahren’ im Winterlager der Jahreswende 1939/ 40 und den Vorbereitungen seiner Schwadron auf den Kriegseintritt gegen Nazi-Deutschland gewidmet ist, finden sich kaum explizite Hinweise auf den konkreten historischen Kon- 284 Dieser Fluch wirkt noch in der dritten Generation - der Generation der vieille dame - nach: Auch die Generation der alten Dame bemüht sich noch, das Andenken an den schuldig gewordenen Ahnen dadurch auszulöschen, dass sie das Familienschloss verkaufen und das Land, dessen Bewohner von der Schmach wissen, verlassen (G, 448). 285 1. Mose/ Genesis 4, 11-12: „»[…] Du stehst von nun an unter einem Fluch. Wenn du den Acker bebauen willst, wird er dir den Ertrag verweigern, Du hast ihn mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb mußt du das fruchtbare Land verlassen und als heimatloser Flüchtling umherirren.«“ Allerdings ist es in der biblischen Geschichte der Brudermörder selbst, der sein Land verlassen muss, während bei Simon der mutmaßliche Mörder in seinem Schloss bleiben kann und stattdessen die Familie gezwungen ist, die Heimat zu verlassen. Vgl. zu der Bedeutung des Motivs der feindlichen Brüder im Zusammenhang mit dem nicht-abrufbaren Familiengedächtnis S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 239f. 430 text. 286 Die Episode bleibt vielmehr insgesamt in einem nur vage umrissenen, gleichsam der Zeit und auch der bekannten Umgebung enthobenen Raum angesiedelt: Das Phänomen der im völligen Stillstand aufgelösten Zeit wird in Verbindung mit dem unverändert herrschenden Winter beschrieben; die lange Dauer der Kälteperiode lässt bei den Soldaten, repräsentiert durch den Erzähler, den Eindruck entstehen „[…] que l’hiver ne dût pas avoir de fin, qu’il avait toujours été là, serait encore là lorsque les barres sur les jours des calendriers arriveraient à mai ou à juillet, que le printemps et l’été faisaient partie de ces choses abolies une fois pour toutes […]“ (G, 105). Auch das archaische Ereignis des Scheiterhaufens, das den Erzähler an ein autodafé - an eine Ketzer- oder Bücherverbrennung - erinnert, stellt einen Rückschritt der menschlichen Zivilisation in präzivilisatorische Epochen dar: 287 „[…] comme s’ils (les hommes de corvée) se vengeaient, comme un défi, comme s’ils voulaient compenser par une sorte d’autodafé dément ce qu’avait de démentiel le froid lui-même, projetés, comme hors de l’Histoire, ou livrés à quelque chose qui se situait au-delà de toute mesure […] : l’état (temps, espace, froid) où devait être le monde à l’époque des cavernes, des mammouths, de bisons [sic], et autres bêtes gigantesques chassés par des hommes gigantesques pour prendre leurs fourrures, boire leur sang chaud, au sein de gigantesques et inépuisables forêts.“ (G, 119) Neben diesem Verlust der Zeitkoordinaten konstatiert der Erzähler auch einen Verlust des Raumes, der sich in verschiedenen Vergleichen der verschneiten Landschaft und des bis dahin anscheinend unbekannten Ausmaßes der Kälte mit kosmischen Bedingungen äußert: Nachdem die Soldaten im Februar durch einen Güterzug in die Nähe der zukünftigen Front gebracht worden und aus dem Zug in die kalte, schneebedeckte Landschaft gestiegen sind, fühlen sie sich wie „[…] brutalement jetés, déposés comme à la surface d’une planète morte, dépeuplée et glacée.“ (G, 85) Doch ähnelt nicht nur die vom Schnee wie von einem Leichentuch bedeckte Landschaft in ihrer Monotonie einem fremden, lebensfeindlichen Planeten, auch die Kälte selbst erreicht ungeahnte, gleichsam kosmische Ausmaße: „[…] (il [le froid] atteignit une intensité terrifiante, devint quelque chose de pour ainsi dire cosmique : implacable, vivant, c’est-à-dire comme une sorte de force sauvage aussi, […] » (G, 102). 288 286 Hierzu zählen z.B. die Beschreibung des plötzlich auftauchenden, zivilen Personenzuges (G, 85f.) sowie die Imaginationen des Erzählers bezüglich der (im Hintergrund des (Vor-)Krieges) die Fäden in den Händen haltenden Politikern (G, 103, 105f., 136f.). 287 G, 117-124. 288 Vgl. ebenfalls G, 104 („espace intersidéral“), 118 („le froid sidéral et céruléen“). 431 Dieser Eindruck eines Verlustes der Raum-/ Zeitkoordinaten, welcher durch die wiederholten Vergleiche mit prähistorischen oder ‚unhistorischen’ Epochen und extraterrestrischen Orten erzeugt wird, wird im weiteren Verlauf des Textes zusätzlich verstärkt durch die Anspielungen auf die Irrealität der Ereignisse und vor allem auf die fiktive Züge annehmende Figur des Generals. Die sich im Text an die Episode des nächtlichen Ritts im Schnee anschließende Darstellung der Schwadron im Winterlager zeichnet sich von Anfang an durch eine mittelalterliche, wenn nicht sogar phantastische Atmosphäre aus: die schweren Arbeitspferde aus der Gegend, die den Soldaten teilweise zur Verfügung stehen, werden mit den Kriegsrossen des Mittelalters verglichen (G, 100f.): sie ähneln „des animaux à la fierté héraldique, doux, pensifs, fabuleux et sauvages.“ (G, 101). 289 Zusätzlich verleiht auch der kältebedingte Raureif im Sonnenlicht der Landschaft einen irrealen Charakter 290 und nicht zuletzt trägt die ironische Beschreibung der Niederlage Frankreichs durch den Erzähler unwirkliche Züge: die chaotische Situation des Rückzugs vor dem Vorstoß der Deutschen wird aus der Sicht der Generalität beschrieben, die gleichsam aus der Vogelperspektive ihrer militärischen Karten die panisch umherirrenden Truppenteile beobachten. Auf diese Weise gleicht die traumatische Niederlage, die Vernichtung des französischen Heeres durch deutsche Panzer, Flugzeuge und Heckenschützen, eher einer aufgescheuchten Herde Tiere in einem Gehege als einem tragischen Kriegsereignis. 291 Allerdings trägt besonders die geheimnisvolle Figur des Generals mythische Züge und macht es dem Erzähler schwer, an die Realität des von ihm Erlebten zu glauben. Erst im letzten Drittel des Kapitels erscheint der Vorgesetzte in der Episode des ‚Scheiterhaufens’: ein Trupp aus fünf Männern wird abkommandiert, in einem Waldstück in der Nähe des Lagers Holz zu schlagen, um Barrikaden zu befestigen, 292 als plötzlich auf einem Pfad der General auf seinem Rotfuchs, gefolgt von seiner Ordonnanz, auf die Lichtung reitet (G, 120f.). Dabei erwecken sowohl der General selbst als auch z.T. sein Pferd einen mumienhaften Eindruck: „[…] sans un atome de graisse, sec sinon même desséché, avec ses joues glabres et parcheminées, cartonneuses aurait-on dit, comme s’il avait été extrait pour la circonstance (la guerre) intact, ivoirin et momifié, de quelque tombeau pharaonique ou conservé peut-être dans le froid […]“ (G, 121). Doch erscheint der General nicht nur als Figur aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, er trägt auch ahistorische, 289 Ebenso G, 134. Vgl. auch den „chef de poste“ des Quartiers, der ebenfalls dem Mittelalter entsprungen zu sein scheint (G, 114). 290 G, 109, 118, 120. 291 G, 128f. 292 G, 118-120, 122. 432 mythische Züge - „Surgissant donc des halliers couvert de givre comme un messager du royaume des morts, élyséen, méditatif et princier […]“ (G, 123) - und verweist so auf seine bevorstehende Funktion als ‚Opferpriester’ der Schwadron. Auch die beiden Jockeys, die dem General als Befehlsübermittler dienen, ähneln eher Affen oder Mardern als Menschen und verstärken somit den irrealen Charakter der Figuren, „[…] semblables à une apparition, à la fois terrifiants et burlesques, engendrés par le froid, la guerre ou le génie morbide de quelque graveur fantastique convoquant sur la blancheur du papier la dentelle épineuse des arbres nus, les éclats froids des armes, et des personnages allégoriques de légende ou de cauchemar.“ (G, 123f.) Das Besondere dieser unerwarteten Begegnung mit dem General liegt darin, dass dieser im normalen Alltag der Schwadron unerreichbar zu sein schien: die Hierarchie jenseits des den einfachen Soldaten direkt vorgesetzten Kolonels wird von ihnen nur schemenhaft als eine komplizierte Organisation wahrgenommen (G, 124). Dem General selbst haftet immer etwas undefinierbar ‚Mythisches’ an; laut dem Erzähler ist dies der Effekt seines scheinbar wie Elfenbein polierten, unverweslichen Äußeren oder seines stets eine Art „ennui“, „désenchantement“ bzw. „autorité lassée“ ausstrahlenden Habitus (G, 125). Erst in der Begegnung am Scheiterhaufen erscheint der General dem Erzähler gleichsam in übersteigerter Form als ‚Zombie’, als „personnage irréel engendré par une apocalypse de froid“ (G, 124). Rückblickend und um die bevorstehenden Ereignisse wissend - die vollständige Aufreibung der französischen Truppen in Flandern und der darauf erfolgende Selbstmord des Generals - interpretiert der Erzähler diese zur Schau gestellte Leblosigkeit des Generals und sein Desinteresse an seiner Umgebung als Zeichen dafür, dass er tief in Gedanken versunken weniger über die beste Kampfstrategie nachdenkt als über „[…] la meilleure manière de diriger vers sa tempe le canon d’un pistolet de façon à se faire convenablement sauter la cervelle sans courir le risque de rester aveugle en vie[.]“ (G, 122) Die bereits verschiedentlich angedeutete Fiktivisierung der erzählten Ereignisse besteht nun einerseits in ihrer Enthobenheit aus einem konkreten zeitlich-räumlichen Gefüge, die vor allem durch die verheerende Wirkung des Winters, seines Schnees und seiner Kälte auf die Landschaft und die Wahrnehmung der Soldaten sowie auf ihren körperlichen Zustand bewirkt wird. Auf diese Weise wird der Raum des Winterlagers semantisch aufgeladen als eine gleichsam zu Eis erstarrte Vorhölle, die bereits eine Auswirkung des unmittelbar bevorstehenden Krieges ist: scheinbar hat die politische Entscheidung auf den höchsten Ebenen des Staates - die Entscheidung nämlich, Deutschland den Krieg zu erklären - zu einem Stillstand der Jahreszeiten und zu einem unendlich andauernden Winter ge- 433 führt, der die Menschen (vor allem die Soldaten) dazu zwingt, in vorzivilisatorische Epochen der Menschheitsgeschichte zurückzufallen. 293 Andererseits deutet der Erzähler seine Erlebnisse während des Winterlagers - die nächtliche Verlegung in die Nähe der Front inmitten eines Schneesturms, die katastrophale Unterbringung im Winterquartier sowie das archaische Erlebnis des Scheiterhaufens - als rituelle Vorbereitung der Soldaten auf das unmittelbar bevorstehende Frühlingsopfer: Mais le temps n’était pas encore venu. Sans doute fallait-il que d’abord ils (les hommes, les cavaliers) passent (comme au cours de ces initiations rituelles que pratiquent des ordres ou des confréries secrètes) par la série des épreuves qu’avait consacrées une longue coutume (la pluie en automne, le froid ensuite, l’ennui) avant d’en arriver au printemps, à cette suprême et dernière consécration : celle du feu, soudaine, violente, brève, […] (G, 130). Auch in diesem Sinne werden die Ereignisse dem konkreten historischen Kontext der unmittelbaren Vorkriegszeit im Winter 1939/ 40 enthoben und erhalten stattdessen einen mythischen, außerzeitlichen und damit zunehmend fiktiven Charakter. Konkreter lassen sich frühere Ereignisse im Winterlager - das alle zwei Wochen stattfindende kollektive Duschen, das Verbrennen der jungen Bäume auf dem Scheiterhaufen im Wald - als Vorbereitung der Soldaten auf ihr Schicksal bzw. als seine Antizipation deuten. Das Duschen ähnelt in diesem Sinnzusammenhang den archaischen Reinigungsritualen, denen sich in prähistorischer Zeit die Opfer vor ihrem Opfertode zu unterziehen hatten. Die Verbrennung vor allem junger Bäume durch die Soldaten auf dem Scheiterhaufen spielt bereits auf die ‚Opferung’ der ebenfalls noch jungen Männer in den unmittelbar bevorstehenden Gefechten an. Auf diese Weise zielt der Erzähler darauf, eine Erklärung für die ihm als sinnlos erscheinenden Befehle und Handlungen während des Winterlagers und natürlich für die sinnlose Niederlage gegen die Deutschen im Mai 1940 zu finden. Doch gelten für die verschiedenen Ereignisse des Winters und Frühlings 1940 nicht mehr die Sinnzusammenhänge klassischer Mythen, in denen Opferung und Tod vor allem als ‚Frühlingsopfer’ den Gesellschaften in zweifacher Hinsicht einen Neuanfang ermöglichten: Überwindung einer Krise und Stärkung bzw. Neugründung der Gemeinschaft. 294 Vielmehr erscheint das Frühlingsopfer der jungen Soldaten als ‚sinnlos’, da es nichts an dem ohnehin vorhersehbaren Ereignisverlauf ändert: Frankreichs Nie- 293 Vgl. hierzu G, 105, 119. 294 Vgl. hierzu und zu den Diskursen mythischer Sinnstiftung, die zur gleichen Zeit wie die Weltkriegshandlung in Frankreich an Einfluss gewannen und auf die sich Les Géorgiques möglicherweise in kritischer Distanz beziehen, S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 117ff. 434 derlage war aufgrund der militärischen Unterlegenheit gegenüber Deutschland von vornherein besiegelt. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die Mythologisierung der Ereignisse sowie die Auflösung des konkreten zeit-räumlichen Kontextes den beschriebenen Episoden einen zunehmend irrealen Anschein verleihen und auf diese Weise ihre Fiktivität betonen. Auch im Falle der Städte Paris und Barcelona während der Französischen Revolution bzw. des Spanischen Bürgerkriegs wird ‚Raum’ semantisch aufgeladen; in diesem Fall durch einen Vergleich mit der Bibel, genauer mit der „Offenbarung an Johannes“, welche die den Menschen am Ende aller Zeitalter bevorstehende Apokalypse schildert. Bereits früh findet sich der erste Hinweis auf die ein apokalyptisches Ausmaß annehmenden Ereignisse während der Revolutionszeit und vor allem während der Zeit der Terreur von März 1793 bis Juli 1794: Der General L.S.M. als Mitglied der Exekutive der Revolution ähnelt selbst den apokalyptischen Reitern, 295 wenn er sich „par les infatigables et apocalyptiques attelages de percherons“ (G, 245) durch das Land ziehen lässt. Doch mehr noch als der Vergleich mit den vier Reitern, die im Auftrag Gottes die frevelhaften Menschen töten sollen, sind es die Beschreibungen der Stadt während der Terreur, die an die Schrecken des von Johannes prophezeiten Weltuntergangs erinnern: Die Stadt dünstet „une odeur de cadavre“ (G, 383) aus, sie ähnelt „une sorte de champ clos, de pourrissoir où dans une puanteur de sang croupi s’affrontaient maintenant, s’entretuaient ou plutôt achevaient de s’entretuer […] les derniers représentants de ce qui avait autrefois constitué comme un club, un cercle fermé […]“ (G, 384). Es hat den Anschein, als sei Paris - „ce pourrissoir, l’étouffant labyrinthe de pierres, de ruelles, de palais vides, de prisons“ (G, 390) - von einem „pestilentiel couvercle aux relents de sang croupi et de cadavres mal chaulés“ (G, 390) bedeckt. 296 Paris erscheint in Les Géorgiques als Ort des Weltuntergangs, der nahezu die gleichen blutigen und schrecklichen Züge trägt wie der in der „Offenbarung an Johannes“ beschriebene. Ähnlich wie der Ort des Winterlagers scheint die Stadt durch diese Semantisierung als ‚Ort der Apokalypse’ ihrem fest umrissenen historischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhun- 295 „Die Offenbarung an Johannes“ 6, 1-7. In: Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments mit den Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/ Apokryphen). (1982) 296 In dieser Darstellung eines blutgetränkten und nach verwesenden Kadavern riechenden Pariser Stadtbildes findet sich ebenfalls eine Parallele zur biblischen „Offenbarung an Johannes“, in der die Wirkung der ersten Posaune beschrieben wird: „Darauf machten sich die sieben Engel bereit, die sieben Posaunen zu blasen. Der erste Engel blies seine Posaune. Hagel und Feuer, mit Blut gemischt, fiel auf die Erde.“ („Die Offenbarung an Johannes“ 8, 6f.) 435 derts enthoben zu sein und tritt nun ein in einen mythischen, außerhalb der physikalischen Zeit liegenden Zusammenhang. Ausführlicher wird das Stadtbild Barcelonas beschrieben, das sich bei O.s Ankunft noch von den feudalen Zuständen der Vorkriegszeit geprägt zeigt: Et au flanc de la poche, étalée entre ses collines et la mer, cette ville ou plutôt cette étendue boursouflée, jaunâtre, au nom lui-même semblable à une boursouflure, ballonné, ventru, se déroulant (glissant) à partir de la double bouffissure initiale en sinueuses convulsions de boucles et de jambages : comme une monstrueuse prolifération qui aurait gagné de proche en proche autour de son noyau nécrosé, la vieille cité gothique, épineuse, de ce gris presque noir des tissus morts, au ruelles étroites, à l’haleine moisie de cadavre, cernée, étouffée, par une de ces agglomérations en quelque sorte coloniales, de ces mégapoles bâties en pays conquis, ou plutôt soumis, […] (G, 320). Wie schon im Fall von Paris so erinnert auch das Stadtbild Barcelonas mit seinen fauligen Ausdünstungen an einen Kadaver. Dieser Vergleich bereitet die nachfolgende Metapher vor, die das Stadtbild zu einem riesigen, in seinem Inneren wuchernden Krebs in Beziehung setzt: […] l’énorme et monstrueux cancer gisant là, comme baignant dans sa sueur, suintant été comme hiver d’une perpétuelle humidité, secrétant comme une espèce d’invisible pus, d’invisible et innommable déjection de cadavre (ceci donc: les obsédantes affiches des cliniques antivénériennes, […] les cris aigus des enfants se répercutant sous les arcades d’une place royale et morte, […], l’obsédante et tiède odeur d’huile rance, […], les vitrines garnies de préservatifs couleurs de muqueuses, les boutiques vernissées, vert olive ou gris bleu, comme des urinoirs, […], les affiches roses contre la syphilis, […] les affiches couleur de soufre contre la blennorragie, […], les visages cireux et grisâtres des vieilles prostituées aux fausses dents d’acier chromé, aux pommettes tachées de carmin […] (G, 321f.) In ihrer moralischen Verkommenheit und ihrem Schmutz ähnelt die Stadt der in der „Offenbarung an Johannes“ beschriebenen „großen Hure Babylon“: Einer der sieben Engel, die die sieben Schalen trugen, kam zu mir und sagte: ‚Tritt her! Ich werde dir zeigen, wie die große Hure bestraft wird, die Stadt, die an vielen Wasserarmen erbaut ist. Die Könige der Erde haben sich mit ihr eingelassen. Alle Menschen sind betrunken geworden, weil sie sich am Wein ihrer Unzucht berauscht haben.’ 297 Auch hier zitiert die negativ gefärbte Beschreibung Barcelonas das biblische Vorbild des moralisch verkommenen, unzüchtigen Roms, das unter dem Deckmantel Babylons kritisiert wird; diese Anspielungen einerseits auf eine im Dunkeln der Zeit verschwindende Vergangenheit (Rom, Babylon) und andererseits auf einen in unbekannter Zukunft liegenden Weltun- 297 „Die Offenbarung an Johannes“ 17, 1f. 436 tergang setzen das Barcelona der Vorkriegszeit und der frühen Kriegszeit 1936/ 37 in einen größeren mythischen Zusammenhang. Der Charakter der Stadt, ihre allgegenwärtige Sittenlosigkeit und ihr schmutzstarrendes Äußeres, scheinen gleichsam zum ‚ewigen’ Bild einer Großstadt dazuzugehören: Es scheint keine Entwicklung hin zum Besseren möglich zu sein; die Unterschiede zwischen Babylon, Rom und Barcelona sind minimal. So wie schon das Stadtbild von Paris verlässt auch das von O. wahrgenommene Barcelona durch die Zeitlosigkeit der Verkommenheit den historischen Kontext des 20. Jahrhunderts und wird stattdessen zu einer Metapher für den allgemeinen, überzeitlichen Untergang von Moral und Ordnung. Die Semantisierung des städtischen Raumes bzw. des Stadtbildes im Sinne eines apokalyptischen Weltendes rückt die Stadt in die Nähe der christlich-jüdischen Mythologie: Barcelona wird auf diese Weise zu einem Ort, der neben weiterhin erkennbaren historischen Merkmalen (z.B. die ramblas, das Lichtspielhaus, die Cafés etc.) zunehmend fiktive Züge trägt und dessen Künstlichkeit implizit metafiktional offen gelegt wird. 6.4.1.3 Die Mythisierung von Ereignissen: Abstiege in die Unterwelt (Jean-Pierre L.S.M. und der ‚Nachfahr‘), die Geburt eines Helden im Tümpel (Jean-Marie L.S.M.) Neben der beschriebenen Mythisierung und damit der Semantisierung von Orten finden sich in Les Géorgiques auch Beispiele für eine Verknüpfung bestimmter Ereignisse mit klassischen Mythen. So werden zum einen zwei Figuren mit dem von Gluck vertonten Orpheus-Mythos in Verbindung gebracht: Jean-Pierre L.S.M., der Revolutionsgeneral, verliert früh seine Frau im Kindbett und verwindet diesen Verlust nie; es bleibt ihm jedoch auch Orpheus’ Glück verwehrt, die geliebte Frau wie in der Oper wieder zum Leben zu erwecken. Der ‚Nachfahr’ selbst scheint eine derartige Liebe nicht zu erfahren, doch fungiert er als Spiegelbild des Generals, da er zu bestimmten Zeiten seines Lebens vergleichbare Erfahrungen wie sein Ahn macht. Auch das Schicksal des Bruders Jean-Marie L.S.M. spielt auf klassische Heldenmythen an, insbesondere in der Schlüsselszene, als er nach seiner Selbsterrettung vor dem Tod durch Ertrinken im Schlammloch das ganze Ausmaß seiner Kraft und seiner absoluten Unabhängigkeit erfährt. Das Schicksal des Revolutionsgenerals Jean-Pierre L.S.M. wird von seinem Biographen und ‚Nachfahren’ so erzählt, dass sich viele Parallelen zu dem fiktionalen Intertext des Orpheus-Mythos finden lassen. Darüber hinaus spielt der Mythos und seine Vertextung durch den Librettisten Raniero de’ Calzabigi bzw. seine Vertonung durch Christoph Willibald Gluck sowohl im Leben des Generals als auch in dem seines ‚Nachfahren’ eine Rolle: beide begegnen dem Stoff des Mythos in einer Oper-Aufführung, der Ge- 437 neral in der Oper von Besançon und der ‚Nachfahr’ vermutlich in der Oper von Perpignan. 298 Daneben finden sich aber auch eine Reihe impliziter Parallelen zwischen dem Schicksal des Orpheus und dem der beiden Protagonisten in Simons Roman: Der General selbst verliert seine erste Frau früh durch ihren Tod im Kindbett; im Gegensatz zum Orpheus der Oper kann er ihr jedoch nicht in die Unterwelt folgen, um sie zurückzuholen. Stattdessen errichtet er ihr ein Grab mit der folgenden Inschrift: „Marie Anne Hassel..., / Aux beaux jours de la Grèce, / Dans Sparte aurait été citée avec orgueil, / Elle eut en tout pays, soit bergère ou princesse, / Fixé tous les regards et reçu même accueil, / Elle vint au Callepe et voici son cercueil ! “ (G, 163- 165). Diese Anklage eines ungerechten, da viel zu frühen Todes der geliebten Frau erinnert ebenso wie das Zitat aus einem seiner Briefe - „[…] Que me font à moi une fortune et des honneurs dont le plus grand prix eût été de les partager avec cette femme adorée ensevelie dans le néant depuis si longtemps et dont le souvenir après vingt ans me déchire le cœur.“ (G, 76) - an das bekannte Klagelied des Orpheus’: „«Che farò senza Euridice? / Dove andrò senza il mio ben ? […]»“ 299 Auch der Ort, an dem sich die jeweiligen Trauergefühle kristallisieren - im Falle des Generals das etwas abgeschieden gelegene Mausoleum auf seinem Gut und in der Oper das laut dem Libretto auf einer kleinen Erhöhung inmitten eines Zypressen- und Lorbeerwaldes gelegene Grabmal - weisen gewisse Parallelen auf: Die Abgeschiedenheit des Grabmals, die Einsamkeit des trauernden Geliebten und der Geist der Toten, der wohl immer noch das eigene Grab umweht. 300 Darüber hinaus ist das Epitaph der ersten Frau im antikisierenden Stil errichtet und spielt daher ebenfalls auf den antiken Orpheus-Mythos an (G, 167f.). Auch im Leben des ‚Nachfahren’ spielt die Oper von Gluck eine Rolle: Zum einen hat er eine Aufführung von Orfeo ed Euridice in seiner Jugend zusammen mit seiner Großmutter im städtischen Theater gesehen. 301 Viele Jahre später hört der ‚Nachfahr’ während seines Einsatzes als Kavallerist an der deutsch-französischen Front in Flandern ebenfalls Auszüge aus der Oper: „Comme parvenant à travers des épaisseurs de temps et d’espace la voix fragile d’un ténor chante Che farò senza Euridice? Dove andrò senza il mio ben? Euri…, […]” (G, 39). Dieser Textstelle kommt in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Bedeutung - die eines carrefour - zu: Einerseits verbindet sie den ‚Nachfahren’ 298 G, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 36, 39f. 49f. Vgl. insbesondere die Beschreibungen des Bühnenbildes, das eine Grottenlandschaft - den Hades - darstellen soll. Auch in den Georgica Vergils wird der Orpheus-Mythos im vierten Kapitel zitiert (Vergilius Maro, Publius: „Landleben“ (1995), S. 199-209.) 299 Calzabigi, Raniero de’: „Orfeo ed Euridice“ (1995), S. 58. 300 G, S. 161f., 169; Calzabigi, Raniero de’: „Orfeo ed Euridice“(1995), S. 22 und 24. 301 G, 27, 49f. 438 mit seinem Ahn, dem General, da sie beide die Oper gesehen und gehört haben und sich auch beide in einer ähnlichen Situation befinden bzw. befunden haben. So hat der General die Hölle des Krieges unzählige Male erlebt; die Erfahrung dieses Schreckens steht dem ‚Nachfahren’ nun unmittelbar bevor. Der in Les Géorgiques zitierte Orpheus-Mythos fungiert folglich nicht nur als Motiv einer ewigen, alle Hindernisse überwindenden Liebe, sondern auch als Motiv eines Abstiegs in die Unterwelt, in die Hölle, die ja der ‚Nachfahr’ im Kontakt mit dem feindlichen Feuer am eigenen Leib erleben wird. 302 Diese ‚Hölle’ kann jedoch - wie im Falle des Generals - auch in der Seele oder im Herzen ihren Ort haben; dies gilt auch für Orpheus: „Ho con me l’inferno mio / me lo sento in mezzo al cor.“ 303 Für den General wird die Erinnerung an die geliebte erste Frau zur peinigenden Qual und das Leben ohne sie für lange Zeit zur Hölle auf Erden. Die verschiedenen intertextuellen Rekurrenzen auf den antiken Orpheus-Mythos verleihen sowohl dem Leiden des Revolutionsgenerals als auch dem seines ‚Nachfahren’ eine gewisse mythische, überzeitliche Konnotation. Insbesondere die leidenschaftliche, nur kurze Zeit erfüllte Liebe zu seiner ersten holländischen Frau rückt den General in die Nähe eines antiken, tragischen Helden und lässt sein Schicksal irreal werden: das lange Hadern mit seinem Schicksal, die elegische Totenklage für seine erste Frau, sein Glaube an ihre Präsenz als ‚Geist’ im Moment der größten Not (G, 49), ihr Grab, das große Ähnlichkeit mit dem Grabmal der Euridice im Orpheus-Mythos aufweist - all diese Elemente lassen den General und Teile seiner Biographie als ahistorisch, fiktiv im Sinne von ‚nicht-real’ erscheinen, als moderne Verkörperung des Orpheus-Mythos. Im Falle des ‚Nachfahren’ ist es hingegen sein Kontakt mit der existentiellen Hölle des Krieges, die zwar weniger explizit, aber dennoch überzeitliche, mythische Züge aufweist. Schließlich weist das ebenfalls antike Mythen zitierende Schicksal des jüngeren Bruders Jean-Marie L.S.M. Kennzeichen einer gewissen Fiktivisierung auf. Zwar sind sich die beiden Brüder äußerlich im Grunde ähnlich wie Zwillinge und unterscheiden sich in nur wenigen Details: […] les deux colosses, l’un monumental, placide, l’autre qui par l’addition de ce second prénom de femme était en quelque sorte mâle et femelle à la fois, comme un double en creux du premier, doué en sens inverse de cette même opiniâtreté, de cette même obstination qui avait conduit le premier à travers des années d’orages, de remous, mais (cette obstination, cette persévérance têtue) comme soumise chez lui à quelque chose de fantasque, de capricieux : une insolence, une désinvolture, une superbe […] (G, 432). 302 G, 130. 303 Calzabigi, Raniero de’: „Orfeo ed Euridice“ (1995), S. 38. 439 Doch kommt das Ausmaß ihrer Ungleichheit erst nach ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen vollends zum Ausdruck: In den entbehrungsreichen Jahren seiner Flucht hat sich der jüngere Bruder zum „loup“, zur „bête sauvage“ entwickelt: „[…] émacie, les joues couvertes de barbe, tandis qu’il émergeait des buissons, jetant de furtifs regards à droite et à gauche, […]“ (G, 413). 304 Im Gegensatz zum ‚monumentalen’, das Renommee seiner erreichten Position ausstrahlenden General erscheint sein Bruder durch die Unabhängigkeit seiner Überzeugungen und seines Lebens als „[…] sauvage, altier, avec dans son regard pire que de la haine ou du mépris: le défi, la moquerie, la commisération peut-être pour cet aîné, ce double à peine plus âgé que lui […]“ (G, 433). Am Ende ihres gemeinsamen Lebens zeigt sich schließlich der jüngere Bruder dem älteren überlegen, nachdem er lange Zeit nicht nur im Hinblick auf sein Alter, sondern auch in Bezug auf seine royalistischen Überzeugungen und seinen politischen Einfluss dem General unterlegen war. In einer zentralen Textstelle des Romans wird das Schlüsselerlebnis des Bruders auf seiner Flucht, das zu seiner Verwandlung in einen „vieux loup aux abois“ (G, 420) führt, geschildert: 305 Er gerät eines Tages auf einer Lichtung im Wald in ein Moor, in welchem er umso stärker versinkt, je mehr er sich gegen dieses Versinken wehrt (G, 422f.). Erst als es ihm gelingt, seine Panik zu überwinden, sich an seiner Umgebung und am Stand der Sonne zu orientieren, kommt ihm die rettende Idee in den Sinn: „[…] jusqu’à ce qu’enfin l’idée lui vint de se coucher, se laisser aller […]“ (G, 424). Daraufhin kann er, nachdem er sich leicht auf die Seite gelegt hat, eines nach dem anderen seine Gliedmaßen aus dem Sumpf befreien und langsam aus dem Sumpf kriechen (G, 424). Bei dieser Selbsterrettung macht der Bruder einerseits innerlich eine Metamorphose durch: […] entreprenant de ramper (même plus une bête - du moins celles que l’on peut voir courir ou nager: quelque chose comme un de ces organismes à michemin entre le poisson, le reptile et le mammifère qui à l’aube du monde avant la séparation des terres et des eaux, se traînaient dans la vase en s’aidant de choses elles aussi à mi-chemin entre deux noms : déjà plus des nageoires et pas encore des membres), […] (G, 424). Voraussetzung für seine Rettung ist, dass Jean-Marie L.S.M. seine menschliche Identität hinter sich lässt; er muss zu einem Zwitterwesen aus Mensch und Tier werden, das den ersten Lebewesen auf der Erde ähnelt, die nicht 304 Vgl. auch die folgende Beschreibung des Bruders: G, 420f. 305 Im Hinblick auf die Erzähltechnik ist anzumerken, dass in der Schilderung der Ereignisse der auktoriale Erzähler in den Hintergrund tritt und die Episode unmittelbar aus dem Blickwinkel des Bruders, der als Reflektorfigur im Sinne Stanzels fungiert, geschildert wird. 440 mehr mit zum Schwimmen bestimmten Gliedmaßen, aber auch noch nicht mit jenen zur Fortbewegung an Land ausgestattet waren. Andererseits wird der jüngere Bruder in dieser Situation, in seinem Kampf um das Überleben, mit der gleichgültigen Natur konfrontiert: Während er noch im Sumpfloch verharrt und panisch auf eine Möglichkeit seiner Rettung sinnt, nimmt er gleichzeitig die Schönheit der Waldlichtung im Sonnenlicht, die Harmonie der Natur wahr: „[…] regardant par-dessus son épaule les arbres (c’étaient des pins), les sabres du soleil qui traversaient les feuillages, deux papillons blancs qui se poursuivaient, voletant, audessus de la clairière, passant alternativement de l’ombre au soleil, tantôt bleutés, tantôt citronnés, et quelque part le chant d’un oiseau […]“ (G, 423). Nach seiner Rettung muss er zu seinem ungläubigen Erstaunen feststellen, dass - obwohl sich für ihn die Welt soeben existentiell gewandelt hat - die Natur noch immer dieselbe ist wie zuvor: […] contemplant l’innocente et perfide clairière sur laquelle les ombres des arbres commençaient à s’allonger, les deux mêmes papillons blancs qui continuaient à monter et descendre dans le soleil et les libellules étincelantes, horizontales, suspendues immobiles sur leurs ailes de métal, changeant subitement de palier, de nouveau immobiles dans l’air immobile, […] (G, 424). Am Ende dieser Erfahrung steht seine Versöhnung mit der gleichgültigen Natur, die auch ihn beinahe das Leben gekostet hätte: „[…] et lui sentant monter en lui, l’emplir, comme une espèce de joie sauvage, de triomphe, de paix - […]“ (G, 424). Dies ist der Moment seiner Verwandlung in ein Tier im Sinne eines furchtlosen Individuums, das Teil einer Welt ist, die im Einklang mit den elementaren Gesetzen von Leben und Tod existiert; er überwindet hier seine menschliche Angst vor dem Lebensende und beginnt, nur noch im Hier und Jetzt zu existieren. Verdeutlicht wird diese fundamentale Veränderung seines individuellen Charakters bzw. seiner menschlichen Identität in der im Anschluss erzählten Episode um seine Begegnung mit dem Jungen und seiner Mutter, für deren Erzählungen von Tod und Gewalt er bereits weder Interesse noch Mitgefühl zeigt (G, 424- 426): […] son attention donc seulement concentrée (tandis qu’entre deux rasades il ponctuait de grognements distraits le lamento pleurard de la femme) sur cette chose bizarre qui s’était peu à peu installée en lui au fil des jours et le possédait maintenant tout entier : cet enivrant sentiment d’insouciance, de triomphe, d’invulnérabilité, de violence à l’état pur, d’absolue liberté, cette espèce d’état de grâce auquel accèdent ceux qui se sont délibérément installés dans l’illégalité ou la folie […] (G, 426). Der jüngere Bruder zeigt nur noch nach außen hin menschliches Verhalten, im Inneren ist er von derselben Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal erfüllt wie die Natur selbst. Diese Indifferenz lässt ihn jedoch zugleich auch 441 triumphieren und sich unverwundbar fühlen - er ist nun frei wie ein Tier und ebenso skrupellos gegenüber dem Einsatz von Gewalt. Dieses Einswerden mit der Natur um den Preis der Erfahrung von Gewalt und Tod und absoluter Freiheit wird in Les Géorgiques wie auch in den anderen Romanen Simons positiv bewertet: ‚Natur’ konnotiert bei Simon zwar Gewalt, aber immer auch „paix“ (G, 427), ‚Gleichmaß’ 306 und ‚Schönheit’ 307 . Vor allem aber impliziert ‚Natur’ bei Simon die ewige Wiederkehr des Neubeginns, wie das Beispiel der sich paarenden Libellen zeigt: „[…] (et quelque part sous les anneaux, les corselets […], quelque chose de modifié, quelque chose de nouveau, d’infiniment petit, d’infiniment fragile, qui déjà commençait à se nourrir, se former, grossir…)“ (G, 428). Diese Erzählung von der ‚Geburt’ des unerschrockenen, absolut freien Helden, des „loup aux abois“, spielt auf verschiedene fiktionale Intertexte, vor allem auf antike Mythen und Heldensagen an, in denen der Held in existentieller Todesnähe seine besondere Kraft entdeckt und entwickelt. 308 Darüber hinaus fungiert die Episode als Allegorie, insofern sie eine doppelte Bedeutung hat: 309 Neben der Geschichte um die Errettung des Bruders aus dem Sumpfloch und seine daraus resultierende innere Wandlung erzählt sie auch die Geschichte von einer möglichen Beziehung des Menschen zur Natur. In der positiven Darstellung der Natur und ihrer zentralen Phänomene vertritt der Text die These, dass das Glück des Menschen in seiner Nähe zur Natur, in seinem Einswerden in und mit ihr bestehen könnte. Der Text fordert hier dazu auf, zentrale Elemente der conditio humana wie Geburt und Tod als unvermeidbar zu begreifen; zugleich wird als Möglichkeit eines Umgangs mit diesen existenziellen Grunderfahrungen ihre bedingungslose Akzeptanz empfohlen und der Preis für eine derartige Entscheidung in Aussicht gestellt: Triumph (über die Angst) und das Gefühl von Freiheit. Die Episode um die Errettung des jüngeren Bruders Jean-Marie aus einem Sumpfloch während seiner Flucht wird mit verschiedenen fiktionalen Intertexten verwebt. Die Allegorisierung der Episode hebt sein individuelles Schicksal aus einem konkreten zeit-räumlichen Kontext heraus und 306 Vgl. die ewige Wiederkehr des Sonnenlichts: „[…] les sabres de soleil seulement un peu plus inclinés maintenant (demain, à la même heure, ils seraient de nouveau là, pareillement inclinés, et le jour d’après, et l’année d’après, et les années et les années suivantes) […]“ (G, 427f.). 307 Vgl. die Beschreibung der beiden Libellen als „précieux bijou“ als „délicat chefd’œuvre d’orfèvrerie“ (G, 428). 308 Vgl. z.B. die Herkulessage, in der dem acht Monate alten (! ) Herkules von der eifersüchtigen Juno ein Paar gewaltiger Schlangen geschickt werden, um ihn in der Wiege zu töten, die er aber mit seinen Händen ergreift und erwürgt. (W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 237.) 309 Vgl. zum hier verwendeten Begriff der Allegorie G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. (2004), S. 33ff. 442 verleihen ihm eine überzeitliche, quasi mythische Bedeutung. Noch viel stärker als diese Mythisierung zielt jedoch der imaginative Charakter der Geschichte innerhalb der Welt des Romans auf die Fiktivisierung der Figur und ihrer Erlebnisse ab: Es werden in Les Géorgiques keine ‚Quellen’ für dieses Ereignis genannt, daher ist der Erzähler und Biograph des Generals - der ‚Nachfahr’ im 20. Jahrhundert - als Verfasser und Urheber dieser Geschichte anzunehmen, auch wenn sich keine expliziten Hinweise auf den erfundenen Status finden lassen. 310 6.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität Neben der bereits analysierten metafiktiven Kommentierung von Fiktivität in Les Géorgiques, welche die Romanfiguren und die Ereignisse aus einem konkreten historischen Kontext herausheben und sie stattdessen als ‚nichtreal’ bzw. als ‚erfunden’ offenlegen, wird auch die Fiktionalität der Handlung metafiktional kommentiert bzw. im ‚showing-Modus’ präsentiert. Im Rahmen der Textsorte ‚historischer Roman’, zu welcher Simons Werk zählt, fungiert diese Bloßlegung von Fiktionalität dahingehend, dass der Text seinen (scheinbaren bzw. fingierten) faktualen Status einer historiographischen bzw. biographischen Studie verliert und seinen fiktionalen Charakter offenbart. Die metafiktionale Thematisierung von Fiktionalität wird dahingehend wirksam, dass Fakten im Sinne historischer Ereignisse im fiktionalen Modus dargestellt werden; dies gilt ebenso für den „roman“ des ‚Nachfahren’ über seine Kriegserlebnisse in Flandern wie für den in gewisser Hinsicht ebenfalls fiktionalen Essay des Spanienkämpfers O. Darüber hinaus wird Fiktionalität in Les Géorgiques auf implizite, verdeckte, Weise inszeniert: Zum einen wenn Motive und Erzählverfahren anderer fiktionaler Textgattungen Einzug in den Roman halten und zum anderen wenn das Erzählen die eigene Fiktionalität offenlegt, dieses also nicht die Erzeugung einer Authentizitätsfiktion zum Ziel hat, sondern die Aufdeckung erzählerischer Subjektivität. 310 Der einzige Abschnitt, der explizit den Status einer Vermutung des Erzählers besitzt, beschäftigt sich mit dem ambivalenten Charakter des Bruders: „[…] cette espèce d’état de grâce auquel accèdent ceux qui se sont délibérément installés dans l’illégalité ou la folie (et peut-être était-il, incarnait-il, à la fois l’une et l’autre, soit qu’une sorte de déraison, d’inclination congénitale à la rébellion, à la transgression, l’ait poussé à violer la loi, soit l’inverse), […]“ (G, 426; Hervorhebungen S.Z.). 443 6.4.2.1 Die Fiktionalisierung des Faktischen: der ‚roman‘ des Kavalleristen, der Bericht des Spanienkämpfers O. In Les Géorgiques wird von historischen Ereignissen nicht in Form eines scheinbar neutralen, objektiven historiographischen Berichts Rechenschaft abgelegt, sondern das Historische bzw. Faktische wird in eine fiktionale Erzählung eingekleidet. 311 Der ‚Nachfahr’ des Revolutionsgenerals nimmt im 20. Jahrhundert selbst an kriegerischen Handlungen teil: Er gehört zu einer Kavallerieschwadron, deren Aufgabe es ist, den Vormarsch der Deutschen durch Flandern aufzuhalten, und die dabei auf deutsche Panzer, Fallschirmjäger und Heckenschützen trifft. Als Form seiner Darstellung wählt der ‚Nachfahr’ - wie in Les Géorgiques bald deutlich wird - nicht die allein auf historischen Tatsachen und auf einer sachlichen Darstellung beruhende, faktuale historiographische Erzählung, sondern er schreibt einen „roman“ über seine Erlebnisse, mithin eine fiktionale Erzählung: […] (il rapporte dans un roman les circonstances et la façon dont les choses se sont déroulées entre-temps : en tenant compte de l’affaiblissement de ses facultés de perception dû à la fatigue, au manque de sommeil, au bruit et au danger, des inévitables lacunes et déformations de la mémoire, on peut considérer ce récit comme une relation des faits aussi fidèle que possible : […]) (G, 52). Von Bedeutung ist hier die Diskrepanz zwischen der Wahl der fiktionalen Textsorte ‚Roman’ und dem Anspruch des Verfassers, die historischen Ereignisse so genau, so ‚treu’ - „fidèle“ - wie möglich zu berichten. Es stellt sich die Frage, warum der Erzähler seinen Bericht dann vorsichtshalber „roman“ genannt hat - die Antwort findet sich womöglich in dem Hinweis auf seine damalige aufgrund von Müdigkeit, Schlafmangel, Lärm und Gefahr eingeschränkte Wahrnehmung sowie auf die unvermeidbaren Gedächtnislücken, die sich infolge des zeitlichen Abstands zu den damaligen Ereignissen häufen. 312 Allein die Textsorte ‚Roman’ scheint dem Verfasser die geeignete Ästhetik zu bieten, seine subjektiven Erinnerungen an die Ereignisse in Flandern adäquat zu repräsentieren. Dennoch sieht er sich vor die Schwierigkeit gestellt, vergangene Wirklichkeit so in einen Text umzuformen, dass sie auch für Unbeteiligte und vor allem ‚Unerfahrene’ nachvollziehbar und 311 Vgl. auch F.K. Stanzel, der als zentrales Ziel des literarischen Geschichtenerzählers die Erzeugung der Illusion beschreibt, Fiktion als Faktisches erscheinen zu lassen. (F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 114.) 312 Die thematisierte Unsicherheit der (erinnerten) Wahrnehmung greift die Erkenntnisthematik in La Route des Flandres auf, vgl. Kap. 4.3.3 Problematisierung der Repräsentationsfunktion von Sinneswahrnehmungen, Sprache sowie Schrift- und Bildzeichen. 444 nacherlebbar wird; diese Problematik wird thematisiert in Form eines metapoetischen Kommentars: […] La lumière est d’une qualité perlée et blondit peu à peu. Les ombres commencent à raccourcir lorsque éclatent les premiers coups de feu. Des chevaux se cabrent ou s’écroulent et la tête de l’escadron qui s’était engagée sur la droite dans un chemin de traverse reflue en désordre vers la croisée des chemins où elle se heurte aux cavaliers du dernier peloton attaqués par-derrière et arrivant au galop. Ils comprennent alors qu’ils sont tombés dans une embuscade et qu’ils vont presque tous mourir. Aussitôt après avoir écrit cette phrase il se rend compte qu’elle est à peu près incompréhensible pour qui ne s’est pas trouvé dans une situation semblable et il relève sa main. […] (G, 47) Der Erzähler beschreibt hier die zentrale, traumatische Episode seiner Kriegserfahrung im Mai 1940: Beim Ritt in einen schmalen Hohlweg wird die Schwadron von deutschen Heckenschützen überrascht und fast völlig ausgelöscht. In Simons wichtigstem Text über die damaligen Ereignisse - dem 1960 erschienenen Roman La Route des Flandres - nimmt die detaillierte Schilderung des Hinterhalts und des durch ihn ausgelösten Chaos’ aus zurückweichenden und nachdrängenden Reitern und Pferden einen breiten Raum ein. 313 Der Text von Les Géorgiques scheint hier den fiktionalen Vorgängertext intratextuell 314 zu zitieren, doch werden - wie S. Schreckenberg durch eine vergleichende Analyse beider Texte bewiesen hat - in Simons jüngerem Roman die Szenen ohne inhaltliche Veränderungen stilistisch und erzählperspektivisch radikal umgestaltet. 315 Darüber hinaus ist die zitierte Textstelle als Beispiel für eine metafiktional fungierende Metalepse interessant. Während der Erzähler zuvor keinerlei Hinweise auf eine autobiographische Schreibsituation geliefert hat, die dargestellte Handlung daher gleichsam in actu vor den Augen des Lesers ablief, wird diese Illusion an dieser Stelle nun zerstört und ihr binnenfiktionaler Status als ‚Text’, mithin als verbale bzw. textuelle Repräsentation, und später sogar noch als ‚Fiktion’ enthüllt. Es kommt dabei zu einem narrativen Kurzschluss zum einen zwischen der extra- und der intradiegetischen Ebene, zwischen der Ebene der Erzählung der Ereignisse und der Handlung selbst, da der Erzähler überraschend die Existenz einer extradiegetischen Ebene hier erst offenbart. 316 Zum anderen findet an dieser 313 RF, 145-151. 314 Damit sind Zitate eines Autors aus seinem eigenen Werk gemeint. 315 Sie erscheint nun weniger subjektiv durch das Bewusstsein einer Reflektorfigur gebrochen, sondern vielmehr im auktorialen Modus eines souveränen Erzählers vermittelt. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 87-90.) 316 Neben der genannten Funktion wird der metaleptische Bruch zwischen den beiden innerfiktionalen Ebenen auch als Zeichen für einen radikalen Zweifel an der Macht der Erzählung, Erfahrung jenseits von Allgemeinplätzen zu kommunizieren, inter- 445 Stelle auch eine paradoxe Überschreitung der ontologischen Ebenen ‚binnenfiktional real’ der Handlung um den Kavalleristen und ‚binnenfiktional fiktiv’ des vom Kavalleristen verfassten Romans statt. In Les Géorgiques werden seine früheren Erlebnisse in Flandern während des Zweiten Weltkriegs durch den Erzähler und ‚Nachfahren’ nicht in Gestalt eines sachlichen, objektiven historiographischen Berichts präsentiert, sondern sie werden von ihm in einem Roman, also in einem fiktionalen Text, verarbeitet. Die fiktionale Textsorte bietet dem Erzähler - wie er in der zitierten Textstelle metapoetisch andeutet - größere Freiheit bei der Gestaltung seines Berichts, da sie ihm die adäquaten erzähltechnischen Mittel bietet, seine lückenhaften Erinnerungen und die Unzulänglichkeit seiner damaligen Sinneswahrnehmung zu repräsentieren. Diese metafiktional fungierende Enthüllung einer extradiegetischen Schreibsituation bleibt nicht ohne Wirkung auf die Illusion einer (scheinbar) unvermittelten Darstellung vergangener Wirklichkeit: Die historischen Ereignisse zeigen sich nicht mehr unmittelbar in ihrem Verlauf vor den Augen des Lesers, sondern sind bereits zum Gegenstand eines anderen - fiktionalen! - Texts geworden, der in Les Géorgiques zitiert bzw. dessen Entstehungsprozess hier erzählt wird. Wirklichkeit wird also nicht - scheinbar - unvermittelt präsentiert, sondern ist bereits eine textuelle und fiktionale Repräsentation. In der Forschung werden unterschiedliche Auffassungen von der Bedeutung dieser „Veräußerlichung des Gedächtnisses“ 317 vertreten: Während Th. Klinkert die Umwandlung des noch in La Route des Flandres erfahrbaren ‚Gedächtnisraumes’ 318 - die traumatischen Erlebnisse werden in Form eines Gedächtnisstroms präsentiert - in einen Textraum als „Verlust an psychischer Innerlichkeit und singulärer Identität“ 319 betrachtet, betont S. Schreckenberg die besonderen Möglichkeiten, welche die gewählte Form auch und gerade für das Subjekt bereitstellt, sich selbst ebenso wie die Vergangenheit intertextuell zu konstituieren. 320 Erinnerung und Identität werden in seiner Interpretation zu ‚Material’, „[…] welches nur in Texten, pretiert. (Vgl. A.C. Pugh: „Facing the Matter of History: Les Géorgiques.“ (1985), S. 117.) 317 T. Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. (1996), S. 234, 242. 318 Ebd., S. 8, definiert ‚Gedächtnisraum’ in Anlehnung an R. Lachmann: „Texte dieser Art - gemeint sind moderne, intertextuell aufgeladene Texte - situieren sich also aufgrund ihrer intertextuellen Bezüge zu anderen Texten im ‚Gedächtnistheater der Kultur’ als einem Außenraum und integrieren zugleich die von ihnen zitierten anderen Texte in den Innenraum der von ihnen errichteten Gedächtnisarchitektur.“ 319 T. Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. (1996), S. 242. 320 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 96. 446 d.h. immer schon vermittelt und sprachlich überformt zugänglich ist, allerdings auch immer wieder in Texten produktiv verarbeitet und gestaltet werden kann.“ 321 Neben der von den beiden Autoren anvisierten psychologischen Funktion der gewandelten Erzählsituation interessiert im Zusammenhang unserer Thematik insbesondere die metafiktionale Funktion, die aus der Offenlegung des fiktionalen Rahmens, in welchem die erinnerte Episode präsentiert wird, resultiert. Die geschilderte Handlung verliert mit ihrer Einbettung in einen literarischen bzw. fiktionalen Text an Authentizität, ihr potentiell fiktiver Charakter rückt in den Vordergrund. 322 Grundsätzlich ist es die Wahl der fiktionalen Textsorte roman, die dem Erzähler die größtmögliche Freiheit in der Darstellung der von ihm erlebten Ereignisse gibt: diese kann zum einen in der Wahl einer extrem subjektiven Erzählsituation liegen, wie es im realen Roman La Route des Flandres durch die Illusion eines Gedächtnisstroms, der scheinbar die Erinnerungen und Assoziationen eines Ich-Erzählers bzw. einer Reflektorfigur in Form eines inneren Monologs präsentiert, geschehen ist. Zum anderen ist aber auch die Wahl einer scheinbar neutralen Erzählsituation möglich, die mit einem größeren Wissen über die Handlung und ihren Fortgang sowie mit einer größeren Distanz zu der Vergangenheit verbunden ist, wie die Umformung der noch in La Route des Flandres wahrnehmbaren Ichbzw. der personalen Erzählsituation in die auktoriale Erzählsituation 323 in Les Géorgiques verdeutlicht. Ähnlich wie der ‚Nachfahr’ die Fakten seiner Erlebnisse im Frühjahr 1940 fiktionalisiert, handelt es sich auch bei dem Bericht des Spanienkämpfers O. weniger um die historiographische Abhandlung eines Zeitzeugen, als um eine fiktionale Erzählung zentraler Ereignisse aus der Zeit seines Aufenthalts in Spanien. Grundsätzlich muss bei der Interpretation dieser Erzählung bedacht werden, dass sie dem Leser nicht im ursprünglichen Wortlaut zugänglich ist, sondern nur in der interpretativen Verarbeitung durch den unbekannten Erzähler, der deshalb auch die Macht besitzt, den ursprünglichen Text zu verändern, zu kürzen oder auch zu ‚fiktionalisie- 321 Ebd., S. 96. 322 Vgl. hierzu auch S. Schreckenberg, der das aus der intratextuellen Gegenüberstellung von La Route des Flandres und Les Géorgiques resultierende metafiktionale Potential auch in der Aufdeckung der „Instabilität und ‚Gemachtheit’ der Texte“ sieht. (Ebd., S. 92.) 323 Vgl. die vom Erzähler zusammengefassten Ereignisse während des Hinterhalts: Diese werden aus der Perspektive eines gleichsam über der Handlung ‚schwebenden’ Erzählers dargestellt, der zudem noch Einblick in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren hat. Die Ereignisse werden chronologisch berichtet; es fehlen die für La Route des Flandres so typischen Digressionen und Vergleiche (G, 44f., 45-47, 51-53). 447 ren’, um seiner Kritik an der Poetik des ehemaligen Journalisten O. Ausdruck zu verleihen. 324 Einen impliziten Hinweis auf den möglicherweise fiktionalen Status der Erzählung - im Gegensatz zum roman des ‚Nachfahren’ wird in dem Zusammenhang mit O.s Text die betreffende Textsorte nicht genannt - liefern die intertextuellen Anspielungen auf (andere) fiktionale Texte, wie der von O. im Schützengraben an der aragonesischen Front gelesene Kriminalroman (G, 284) sowie verschiedene Werke aus der fiktionalen Penguin-Reihe (G, 302). Diese Hinweise legen implizit den Schluss nahe, dass auch der eigene Text des Erzählers O. fiktional ist, die ursprüngliche Wirklichkeit also literarisch-fiktional überformt wurde. 325 Nur an einer Stelle findet sich ein expliziter Kommentar des unbekannten Erzählers zum teilweise fiktionalen Status von O.s Bericht, wenn er über die multiplen Identitäten der Geheimpolizisten in Barcelona schreibt: […] de sorte que son aventure (ou plutôt l’aventure qu’il (O.) essayait maintenant de raconter) ressemblait à un de ces romans dont le narrateur qui menait l’enquête serait non pas l’assassin, comme dans certaines versions sophistiquées, mais le mort lui-même, noyant le lecteur dans une profusion de détails oiseux dont l’accumulation lui sert à dissimuler le maillon caché de la chaîne, l’information manquante, l’Histoire elle-même se chargeant du reste, surpassant par sa facétieuse perversité ces auteurs qui se divertissent à plonger le lecteur dans la confusion en attribuant plusieurs noms au même personnage ou, inversement, le même nom à des protagonistes divers […] (G, 340). O.s Erzählungen von den Polizisten in Barcelona, die sich mehrerer Namen und Pässe bedienen, um ungehindert ihren schmutzigen Geschäften nachgehen zu können, glaubt der Erzähler nicht; er unterstellt O., dass er schon längst nicht mehr seine eigenen Erlebnisse berichtet, sondern ein fiktives Abenteuer beschreibt, und untermauert diese These mit dem Verweis auf gewisse fiktionale Texte, d.h. gewisse (Kriminal-)Romane, in welchen die Handlung vom Toten selbst erzählt wird, der mit Hilfe unwahrscheinlich detaillierter Beschreibungen und Erklärungen die Tatsache seines bereits eingetretenen Todes zu vertuschen sucht. Trotz seiner Skepsis hält der Erzähler es aber im besonderen Fall Spaniens zur Zeit des Bürgerkriegs für möglich, dass die Geschichte selbst aufgrund ihrer „facétieuse perversité“, ihrer „terrifiante démesure“ und ihres „incrédible et pesant humour“ (G, 340) einer bestimmten historischen Person mit einem bestimmten unveränderlichen Aussehen die verschiedensten Namen zuweist, „[…] comme si au lieu de noms on leur avait attribué de simples combinaisons de lettres, 324 Der Erzähler stellt sogar die Textualität in Frage, indem er O.s Erzählung als mündliche Rede erscheinen lässt. 325 Ähnlich argumentieren auch C. Reitsma La Brujeere: „Récit et métarécit, texte et intertexte dans Les Géorgiques de Claude Simon.“ (1984), S. 229; C. Britton: „Diversity of Discourse in Claude Simon’s Les Géorgiques.“ (1984), S. 434. 448 quelquefois avec de légères variantes, d’autres fois sans aucun rapport, posées sur quelque chose (pas des individus, des êtres distincts: quelque chose) de vaguement fictif, sans existence véritable, […].“ (G, 341) Doch wird durch diese Multiplikation der Identitäten aus der ursprünglich historischen, realen Person etwas ‚Fiktives’; es finden sich - auch wenn an dieser Stelle die „Histoire“ als Urheberin der Fiktivisierung historischer Personen genannt wird - in dem vierten Kapitel genügend Hinweise auf O.s eigenen zweifelhaften Umgang mit der historischen Wahrheit: dazu zählt die Darstellung des ominösen „premier personnage“, der O. bei seiner Ankunft in der Kaserne zu Beginn seines Spanienaufenthaltes begegnet: […] cette apparition sortie tout droit, aurait-on dit, d’un roman de quelque Fenimore Cooper, tout à coup matérialisé devant lui à son arrivée à la caserne, la veille de son engagement, comme l’incarnation de son idéal et de ses rêves en même temps qu’il préfigurait les événements futurs: un symbole, une de ces figures allégoriques que l’on peut voir sur les couvertures de livres ou les affiches de propagande, ou ornant les monuments commémoratifs, revêtus et entourés d’attributs, d’objets eux-mêmes symboliques et chargés de significations: […] (G, 332). Die von O. in seinem Bericht beschriebene Figur scheint aus mehreren Gründen unmöglich ‚real’ sein zu können: Sie weist große Ähnlichkeit mit den symbolhaften, bestimmte Ideale verkörpernden Romanfiguren Fenimore Coopers auf und ist überladen mit allegorischen Bedeutungen. So verkörpert sie für O. das Ideal des linken Revolutionärs und präfiguriert bereits die zukünftigen katastrophalen, chaotischen Ereignisse. Insgesamt scheint die Figur des Milizionärs weniger eine reale Person zu sein als ein Symbol für die anarchistischen Ideale der Spanischen Revolution. Schließlich unterstellt der Erzähler O. ganz offen, diese Figur aus Gründen der Selbstliebe erfunden zu haben: […] le personnage prophétiquement allégorique (à moins qu’il ne le fabriquât plus tard au cours de son récit: non pas exactement fabriqué de toutes pièces il dut réellement le rencontrer, ou du moins un de ses semblables (en fait ils étaient à peu près tous taillés sur le même modèle) -, mais décrit de façon à préserver son amour-propre, tant à ses yeux qu’à ceux de son public, laissant entendre qu’il avait pas été dupe, n’était pas aussi naïf […]. (G, 333) Wie der Erzähler vermutet, hat O. den symbolhaften Milizionär auf typisch literarische Weise aus historischen und fiktiven Elementen zusammengesetzt, um auf diese Weise sein eigenes Ansehen zu schonen und nicht in den Verdacht zu geraten, naiv auf eine Täuschung, auf eine Vorspiegelung falscher Tatsachen bezüglich der Kampfkraft der linken Milizionärstruppen hereingefallen zu sein. 326 326 Vgl. den Lastwagen und den Amerikaner beim Ausbruch der Unruhen in Barcelona (G, 355, 357). Einen ähnlich theatralischen und fiktiven Charakter besitzt in O.s Be- 449 Auch wenn sich in O.s Originalbericht kein Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur fiktionalen Textsorte finden mag, legt der ihn vermittelnde unbekannte Erzähler seinen fiktionalen Status wiederholt offen. Seine metafiktional fungierende Kritik an O.s Poetik richtet sich gegen dessen freizügigen Umgang mit den historischen Tatsachen, die er nach Belieben verschweigt 327 oder ergänzt bzw. ausschmückt, beim gleichzeitigen Wahren scheinbarer erzählerischer Neutralität und Objektivität. Durch die vorgebliche Objektivität des Berichts verliert dieser seinen Wert als ‚authentisches’ historisches Dokument; er beschreibt weniger, wie sich die Ereignisse in Barcelona und an der Aragonesischen Front für O. ‚wirklich’ dargestellt haben, sondern vielmehr, wie diese nachträglich von ihm bewertet werden. Die gezielte Fiktionalisierung seiner eigenen historischen Erlebnisse eröffnet ihm auf diese Weise die Möglichkeit, sein Gesicht zu wahren bzw. Konflikten mit Andersdenkenden auszuweichen. 328 6.4.2.2 Intertextuelle Fluchten ‚ohne Ausweg‘ auf eine extratextuelle Realität: Motive der gothic novel (Grab und Schloss), die Dekonstruktion des realistisch-historischen Romans Neben den beschriebenen expliziten Verfahren der metafiktionalen Offenlegung von Fiktionalität finden sich in Les Géorgiques auch verschiedene implizite, verdeckte Varianten. So werden einerseits Motive einer bestimmten fiktionalen Textsorte - z.B. der aus der englischen Literatur bekannten gothic novel - auf Teile der histoire in Simons Roman übertragen. Andererseits greift der Text gewisse Erzählverfahren aus überkommenen Untergattungen des historischen Romans wie dem realistischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts auf. Beide Verfahren eint die gemeinsame metafiktionale Funktion, durch die Einbettung von Elementen aus fiktionalen Vorgängertexten die eigene Fiktionalität offenzulegen. Die sogenannte gothic novel stellt die englische Variante des ‚Schauerromans’ dar, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als eigene Gattung hervortrat und sich im Zuge der europäischen Vor- und Frühromantik mit der Bezeichnung gothic bewusst von den klassizistischen Literaturströmungen des 18. Jahrhunderts absetzte. Zu den Elementen einer gothic novel gehören häufig wilde und phantastische Landschaften, historisches oder pseudohistorisches Kolorit, malerische Architektur, Ruinen, Klöster, richt „le théâtral défilé“ der Milizionäre durch Barcelona (G, 336) sowie die immer wieder scheinbar aus dem Nichts auftauchenden und auch dorthin wieder verschwindenden Gegenstände und Personen. 327 Vgl. z.B. G, 328f. 328 G, 333. So kritisiert auch N. Piégay-Gros an O.s Essay die fehlende Berücksichtigung „[…] de l’irréductible écart qui sépare le raconté du vécu […]“ (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 56.). 450 Verliese, Gewölbe etc., unerklärliche Verbrechen, tyrannische Männer- und ätherische Frauenfiguren, Begegnungen mit unheimlichen und übernatürlichen Gestalten, oft Sendboten einer verborgenen Macht, Nacht-, Verfolgungs- und Beschwörungsszenen, Visionen und Träume. Darüber hinaus ist oftmals eine kunstvoll verzögerte Handlungsführung mit Spannungs- und Überraschungseffekten typisch für die Gattung. 329 Wie bereits angedeutet wurde, ist die Episode um den Besuch des ‚Nachfahren’ auf dem zerfallenen früheren Familienlandsitz nach Motiven des englischen Schauerromans gestaltet. Gleich zu Beginn der langen Digression 330 steht die Beschreibung der Schlossruine; vom ursprünglichen Gebäudekomplex stehen nur noch die „tours décapitées“ 331 und der „corps de bâtiment principal“ (G, 144). 332 Das Schloss erscheint als Ursprungsort - als Urheber? - einer „sorte de fatalité, comme si quelque esprit, quelque malédiction attachée au lieu et porteuse de désolation continuait à s’exercer après avoir fait s’écrouler les toitures, l’arc italien de la grande porte, s’acharnait sans fin à ronger, corroder et détruire […]“ (G, 145). 333 Die eingangs vorbereitete unheimliche Atmosphäre erhält nun Nahrung durch den noch hypothetischen Hinweis auf einen schicksalhaften Fluch als Urheber der Zerstörungen nicht nur am Schloss sondern auch an seiner Umgebung und an all den Gegenständen, die sich in seiner Nähe befinden (vgl. z.B. den Traktor). 334 329 R. Schönhaar: „Gothic novel.“ (1990), S. 183-84. Eine der bekanntesten gothic novels ist Mary Shelleys Frankenstein (1818). 330 Diese setzt mit der Beschreibung des aktuellen Zustands des Schlosses aus der Sicht des zunächst noch ungenannten „visiteur“ ein (S. 144), der sich später als der ‚Nachfahr’ des Generals und als Enkel der alten Dame erweist, und endet mit einem letzten Blick auf die nunmehr verfallene Terrasse, auf der sich der letzte männliche Träger des Familiennamens einst fotografieren ließ (S. 171f.). 331 Die „tours décapitées“ verweisen auf einen Teil der Schuld des Generals: seinen Entschluss, für die Enthauptung Louis XVI. zu stimmen. 332 Vgl. den völlig veränderten Charakter des Schlosses aus anderer Perspektive: „[…] le château (de là où ils [le visiteur et l’homme-babouin] se trouvaient, gris sur gris dans le ciel qui se déchirait, s’élevant solitaire sur la crête cachant le hameau, il apparaissait tout autre, déchiqueté, emphatique et théâtral comme une silhouette découpée dans une tôle) […]“ (G, 168). 333 In diesem Zusammenhang interpretiert M. Thouillot: „Claude Simon et l’autofiction: D’un Acacia à l’autre.“ (2004), S. 125, das Schloss als „totem démembré“. 334 In eine ähnliche Richtung weist der Vergleich des Schlosses mit einem „iceberg“: Ein Eisberg zeichnet sich einerseits durch die Tatsache aus, dass sich der größte Teil seiner Masse verborgen unter der Wasseroberfläche befindet, sowie andererseits durch die potentielle Gefahr, die er für Schiffe und ihre Besatzungen darstellt. Auf das Schloss übertragen deutet der Vergleich auf die im Verborgenen liegende, Unheil verheißende Kraft, die für die Zerstörungen am Schloss sowie für den Niedergang der einstmals prosperierenden Familie verantwortlich ist, sowie allgemein auf die Gefahr, die vom Schloss ausgeht. 451 Bald wird auch der erste Erklärungsversuch für diesen (angeblichen) Fluch präsentiert, der durch die Beschreibung der „tours décapitées“ bereits angedeutet wurde: es ist das Rachegespenst des enthaupteten Königs Louis XVI., das nicht vom Schloss des Generals als Wohnort seines ‚Richters’ ablassen kann, ungeachtet der inzwischen verstrichenen Jahre und der inzwischen gewechselten Besitzer: […] comme si, de même que les tours démantelées, l’aile effondrée et les restes décrépis de la façade assaillie de mauvaises herbes et d’orties, il [le tracteur] n’était là que pour témoigner de l’inapaisable vindicte dans laquelle, indifférent au temps, aux êtres, aux ventes successives et au progrès mécanique, le fantôme acéphale d’un roi décapité confondait dans sa fureur vengeresse sans distinction d’années, de lustres, de décennies, de personnes ni de propriétaires la demeure ancestrale de son juge et l’esprit même de ce siècle encyclopédique, inventif et sacrilège coupable, en même temps que de sa mort, d’avoir engendré la lignée des puantes machines dont une des ultimes incarnations était venue s’échouer là sous l’espèce métallique, huileuse et impotente d’un tracteur Ferguson. (G, 145f.) Der verrottete Traktor erscheint in diesem Aussagezusammenhang als Metapher für den General und seine Familie selbst: Ebenso wenig wie der ‚Fluch’ des Königs Unterschiede zwischen dem eigentlichen Täter und seinen Nachkommen zu machen scheint, sondern die ganze Familie des Generals in ‚Sippenhaft’ nimmt, bleibt auch der Traktor nicht verschont als jüngstes Ergebnis einer langen Reihe technischer Entwicklungen: diese haben ihren Anfang in eben jenem 18. Jahrhundert genommen, das neben dem technisch-mechanischen Fortschritt auch die Kühnheit - das Sakrileg - des Volkes geboren hat, den eigenen König zu ermorden. Doch stellt sich bald heraus, dass es sich bei der Schuld an der Hinrichtung des Königs nicht um das eigentliche Verbrechen des Generals zu handeln scheint: Car il y avait quelque chose de caché là. Quelque chose sur quoi il s’était refermé, qui l’avait à la fois comme foudroyé et maintenu debout, comme un tombeau, un gardien mutilé, pour quoi il témoignait et payait : non pas le simple crime d’avoir coupé la tête d’un monarque […] ni le reniement par son avantdernier possesseur de la caste à laquelle il appartenait, mais quelque chose (comment l’appeler : l’événement, la tragédie, le secret ? : on n’en parlait jamais dans la famille) qui l’avait secouée (la famille) jusque dans ses entrailles et après quoi il (le château) avait été condamné lui aussi, abandonné à la mort […] (G, 150). Die paradoxe Beharrungskraft des Schlosses - einerseits seine fundamentale Zerstörung und andererseits sein Weiterbestehen - kann nicht auf so vergleichsweise ‚leichte’ Verbrechen wie das Votum für die Hinrichtung eines Königs oder den Verzicht auf den Adelstitel zurückzuführen sein. In der Eröffnung einer weiteren, weitaus größeren Schuld des Generals, die zudem noch unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit verborgen 452 ist, vergrößert sich ganz im Sinne der gothic novel die Spannung, mit der auf die Enthüllung dieses Geheimnisses gewartet wird. Zugleich verstärkt sich auch die unheimliche Atmosphäre: die unwahrscheinliche Ruhe in der unmittelbaren Nähe des Schlosses wird nun mit der Ruhe auf Friedhöfen verglichen. Überdies nehmen jetzt auch die überall pickenden und gackernden Hühner mythische Züge an: sie erscheinen als Verkörperung eines „oiseau funèbre“ (G, 151) und damit als Verkünder von Fluch und Unheil. Dem Besucher scheint die unheilvolle Stimmung des Schlosses und seiner Umgebung nicht verborgen zu bleiben: „géné, effrayé presque“ betrachtet er die verfallene Fassade und den funktionsuntüchtigen Traktor. In diesem Moment taucht eine ebenfalls aus dem Schauerroman bekannte Figur auf: „un être bizarre“ (G, 152), möglicherweise „le gardien“ (G, 152). 335 Der Mann bzw. Junge ähnelt einem Bären bzw. einer mechanischen Puppe, da er zugleich Aggressivität ausstrahlt und Mitleid erregt (G, 152). Doch überwiegt schließlich in den Augen des Besuchers sein affenähnliches Verhalten bzw. seine einem Affen ähnliche Mimik: der junge Mann wird zum „homme-babouin“ (G, 152). Er scheint geistig behindert zu sein, zumindest ist es dem ‚Nachfahren’ kaum möglich, ein zusammenhängendes Gespräch mit ihm zu führen bzw. sinnvolle Informationen von ihm zu erhalten (G, 153). Auch der sich scheinbar plötzlich vollziehende Ortswechsel des Besuchers - er findet sich überraschend im Innern des Schlosses wieder, ohne sich jedoch erinnern zu können, wie er an diesen Ort gelangt ist (G, 155) - verweist auf den Schauerroman bzw. auf seine häufig phantastischen und traumhaften Elemente. Auf diese Weise steigert sich die seit dem Beginn der Episode angedeutete irreale Atmosphäre, die nun vom ‚Nachfahren’ selbst wahrgenommen wird: „les choses, les personnages toujours dans cette atmosphère d’irréalité, d’incohérence“ (G, 155). Im Inneren des Schlosses, vermutlich in der Küche, wird der Besucher erneut mit einer geheimnisvollen Person konfrontiert: Es handelt sich dabei um eine alte Frau - wohl die Großmutter des „homme-babouin“ - die jedoch in ihrem Alter bereits alles Menschliche verloren zu haben scheint und nur noch als „une chose“, als ein Paket aus Knochen, Bändern und 335 Auch der „personnage noiraud“, der sich plötzlich unter dem Traktor hervorschiebt, scheint dem Personal einer gothic novel zu entstammen: Seine Funktion ist dem Besucher nicht auf den ersten Blick ersichtlich, darüber hinaus bleibt ihm das von diesem Gesagte unverständlich. Erst zuletzt löst die Aufschrift ‚Dépannage’ auf dem Lieferwagen des mysteriösen Mannes das Rätsel um seine Identität: es handelt sich bei ihm um einen Mechaniker, der den Traktor reparieren sollte (G, 153-155). Dennoch vergrößert das Auftauchen des Mannes den Eindruck des Besuchers, sich inmitten einer Fiktion zu befinden: „(le visiteur éprouvant l’impression d’une farce, d’un de ces truquages de cinéma ou de music-hall, quand une scène déserte se peuple, s’anime tout à coup, comme par magie […])“ (G, 153). 453 Sehnen, als parodistische Version bzw. als „parodique avatar“ eines Menschen in Erscheinung tritt (G, 158). Auch ihr Verhalten bleibt dem ‚Nachfahren’ völlig unverständlich: Sie erhebt sich aus ihrem Sessel, um eine Reihe von Versen zu zitieren, deren Sinn und Inhalt ihm jedoch verborgen bleiben (G, 159). Erst im Nachhinein erkennt er, dass es sich dabei um die Inschrift auf dem Grabstein der ersten Frau handelt (G, 163). Ein weiteres Motiv des Schauerromans, das in der Episode um den Besuch des ‚Nachfahren’ auf dem Gut auftaucht, ist das Grab, dessen umgebende Atmosphäre von Vergänglichkeit und Trostlosigkeit geprägt ist: Die Natur scheint in einem Stadium der Verwesung begriffen zu sein (G, 161); der plötzlich einsetzende Regen unterteilt die bis dahin scheinbar ohne Anfang und Ende verlaufende Zeit in kurze Intervalle und gemahnt so an die Vergänglichkeit aller Dinge (G, 162); die in der Nähe des Grabes herrschende Stille erinnert ebenso wie zuvor die Stille in der unmittelbaren Umgebung des Schlosses an die typische ‚Friedhofsruhe’ (G, 161f.). Über allem liegt „[…] un subtil et délétère parfum non de mort, d’agonie, de putréfaction : plutôt (comment dire ? ) de transmutation […]“: Die Erde bzw. der Schlamm nehmen das zuvor von ihnen Produzierte erneut auf und ernähren sich auf diese Weise (G, 162). Diese Beschreibung des ewigen Kreislaufs der Natur - von Leben und Sterben und Wiedergeburt - verweist implizit auf die in ihrem Grab ruhende (und verwesende) erste Frau des Generals, die durch ihren Tod unwiderruflich in diesen Kreislauf eingefügt ist. 336 Das Grabmal selbst gerät insofern zum Symbol für diesen Kreislauf aus Leben und Tod, als der Stein von den Flechten und damit von der Natur überwuchert zu werden scheint und langsam in seinen bedeutungsfreien, glatten Ausgangszustand zurückverwandelt wird (G, 164). Der „hommebabouin“ übernimmt schließlich die Aufgabe, die Inschrift von den Flechten zu befreien und sie vorzutragen; dabei gerät der Vortrag weniger zu einem sachlichen Vorlesen als zu einer fieberhaften, empathischen Beschwörung der Verstorbenen und der Liebe des Generals zu seiner ersten Frau, die jedoch ungehört und folgenlos im immer noch gleichgültig fallenden Regen verhallt. 337 336 Vgl. G, 380f. Hier findet sich der zentrale Unterschied zwischen der Darstellung des Orpheus-Mythos in Les Géorgiques und in der Opernfassung von Gluck: während in der Urform des Mythos und in seiner Umformung durch Claude Simon Euridyke bzw. die verstorbene Frau des Generals in der Unterwelt bzw. im Grab bleiben müssen, wird ihr in der Oper die Rückkehr ins Leben geschenkt. 337 G, 162-165. Vgl. den Vortrag des letzten Wortes durch den „gardien“: „[…] le doigt carré rampant lentement d’un point de suspension à l’autre, puis filant rapidement, violemment, jusqu’au dernier mot, la voix devenue maintenant furieuse, chargée d’un réel désespoir, d’une réelle détresse, disant […] …ET VOICI SON CERCUEIL ! , la pluie qui tombait drue maintenant […]“ (G, 165). Th. Klinkert weist überdies darauf hin, dass der Besuch des Grabes und die Entzifferung der Inschrift als mise en 454 Zuletzt muss der ‚Nachfahr’ erfahren, dass das Grab seines Ahnen Jean- Pierre L.S.M. - das Hauptmotiv für seinen Besuch - auf schon unwahrscheinliche Weise nicht mehr erhalten, sondern kürzlich durchgeführten Straßenbauarbeiten zum Opfer gefallen ist: […] le visiteur ahuri, à mi-chemin comme un peu plus tôt entre la stupeur et le rire, pensant: « Ce n’est pas vrai. Ce n’est pas possible ! », comme si la chose était à la fois trop injuste et trop parfaite, comme si tout (la tombe violée, les ossements dispersés ou jetés sans ménagement par les mâchoires d’un bulldozer rugissant, pêle-mêle avec ceux des anciens serfs et des anciens serviteurs à la fosse commune), comme si tout, donc, avait été ordonné, décidé, programmé par une puissance non pas moqueuse, facétieuse, mais logique, rationnelle, pour parfaire au-delà de la mort, de la putréfaction, un destin hors série, à la fois violent, sacrilège, indocile, ou plutôt indomptable (pensant : « Mais pas seulement cela : quelque chose d’autre encore, quelque chose de plus acharné, de plus puissant que le fantôme d’un roi décapité, plus puissant même que celui d’une jeune morte, la huguenote […]) (G, 168f.). So schließt sich zuletzt der Kreis wiederum mit der Anspielung auf eine im Verborgenen wirkende logische, rationale Macht - den Fluch -, die nun eindeutig nicht mehr als das rachedurstige Gespenst eines enthaupteten Königs oder einer vernachlässigten Ehefrau definiert wird, sondern als etwas weitaus Mächtigeres, Hartnäckigeres, das nur darauf zielt, noch jenseits des Todes ein außergewöhnliches Schicksal zu erfüllen. Der General erscheint hier als Jemand, der ein kapitales Verbrechen begangen hat, das nicht verjährt und das die gesamte Familie mitschuldig macht. Alle Ereignisse nach seinem Tod scheinen allein dem Zweck zu dienen, ihn selbst und seine Nachfahren auch über sein eigenes Leben hinaus für die von ihm begangene Tat zu strafen. Doch gelangt der Spannungsbogen, der mit dem Beginn der Episode um den Besuch des ‚Nachfahren’ auf dem Besitz seines Ahnen aufgebaut wurde, noch nicht an sein Ende: das Geheimnis um die mysteriöse Schuld des Generals wird auch jetzt noch nicht gelüftet. Bis zur Entdeckung des verborgenen Wandschranks und seines Inhalts durch Onkel Charles wird noch viel Lesezeit vergehen, auch wenn der ‚Nachfahr’ selbst bei seinem Besuch auf dem Gut bereits von der mutmaßlichen Verantwortung des Generals für den Tod seines Bruders gewusst haben muss. 338 abyme de l’énonciation zu interpretieren sei, da in Teilen die „[…] Äußerungssituation [des Textes] und [sein] Erzählprojekt […]“ abgebildet werden. (T. Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. (1996), S. 230f.) 338 Vgl. G, 445f.: Laut Charles’ Bemerkung ist der ‚Nachfahr’ nun nicht mehr der Junge, der er noch bei der Entdeckung des Briefes, den der General an die Gendarmerie von Caylus geschrieben hatte, war (G, 429f.); er hat zwischenzeitlich als Kavallerist am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. 455 Die Episode um den Schlossbesuch des ‚Nachfahren’ ist folglich von mehreren Motiven der gothic novel bzw. des Schauerromans geprägt, die den beschriebenen irrealen Charakter, den die eigenen Erlebnisse bereits zum Zeitpunkt seines Besuchs für den ‚Nachfahren’ besaßen, in Form einer impliziten Metafiktion unterstreichen. Dabei infiziert die Fiktionalität der fremden Textsorte ‚Schauerroman’ den eigenen Text: Zu Beginn lässt sich die Handlung um den Besuch auf dem Schloss bzw. beim Grab der ersten Frau als realen Besuch einer Historikerfigur interpretieren, die versucht, wichtige Ereignisse der Familiengeschichte durch die Konfrontation mit zentralen Gedächtnisorten zu rekonstruieren. Doch bewirkt die Kontamination mit den beschriebenen Motiven der gothic novel, die explizit fiktionale Elemente in einer innerfiktional scheinbar realen Episode präsentieren, dass auch die Episode um den Besuch des ‚Nachfahren’ fiktionale Züge erhält. So wird einerseits der eigene Text durch die Überdeterminierung mit fremden fiktionalen Elementen metafiktional parodiert und dadurch andererseits auch der Inszenierungscharakter des Unheimlichen aufgedeckt. Eine andere fiktionale Textgattung, die Einzug in Simons Roman Les Géorgiques gehalten hat, ist der realistische historische Roman des 19. Jahrhunderts im Stile von Balzac; dieser dient zum einen als Leitfaden für den Erzähler der Weltkriegshandlung bei seinem Versuch, seine Erlebnisse in eine erzähllogische Ordnung zu bringen, und zum anderen als Gegenpol für die Entwicklung eines eigenen Typus’ historischen Erzählens. Realistische historische Romane zeichnen sich in der Beschreibung A. Nünnings dadurch aus, dass sie „ein weitgehend fiktives Geschehen in einem raum-zeitlich präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu“ schildern. 339 Dabei werden oftmals mimetische und konventionelle Erzählformen miteinander verbunden, um eine sinnhafte, kausal verknüpfte, teleologische und spannende Geschichte chronologisch darzustellen. 340 Charakteristisch für diesen Typus des historischen Romans ist ferner „das Bemühen, sich imaginativ in die Vergangenheit hineinzuversetzen, diese plastisch zu verlebendigen und heraufzubeschwören.“ 341 Wie bereits gezeigt wurde, versucht der ‚Nachfahr’ als Erzähler seiner Erlebnisse während des Winterlagers 1939/ 40, die ihm verborgen bleibende Bedeutung dieser Erlebnisse nachträglich einerseits durch die Selektion bestimmter Episoden und andererseits durch die chronologische Strukturierung der verschiedenen Handlungsabschnitte in einen logischen, sinn- 339 A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 27. 340 Ebd. 341 Ebd. 456 haften Zusammenhang zu bringen. Dies geschieht insbesondere anlässlich der Erzählung der Ereignisse um die Quartierverlegung im Winter, die in der Auflösung der Schwadron inmitten eines nächtlichen Schneefalls gipfelt. 342 Der erste Abschnitt der Handlung zeigt sich geprägt durch die Beschreibung äußerer Faktoren wie die immense Kälte und ihre Folgen, 343 der von den Soldaten vom Zug aus wahrgenommenen Landschaft, 344 der Gedanken und Gefühle des Perspektivzentrums - des Erzählers und ‚Nachfahren’ -, 345 aber auch der Verwandlung der anfänglichen Kameradschaft zwischen den Soldaten in zunehmende Einsamkeit und Vereinzelung. 346 Wiederholt finden sich Hinweise auf die Schwierigkeiten der Soldaten, einen Sinn in einzelnen Aktionen zu erkennen: So bleibt der Grund für die Rangiermanöver des Zuges im Dunkeln; die Soldaten kennen oftmals auch den Namen der Städte nicht, die sie durchfahren bzw. in denen sie Halt machen (G, 80). Schon bald gerät das eigentliche Ziel des Erzählers, das er mit seinem Bericht verfolgt, in den Blick: eine Erklärung für die Verzweiflung, die Panik und schließlich die Auflösung zu finden, die zuletzt die Schwadron beim Ritt durch die verschneite Nacht ergreift (G, 82). Dabei lässt er als mögliche Ursache weder die außerordentliche Kälte noch die Art der Quartierverlegung selbst gelten - beides könne unmöglich die normalen Kräfte der Soldaten überfordert haben (G, 82f.). Im Anschluss an diesen kategorischen Ausschluss zweier Möglichkeiten nennt der Erzähler andere Ereignisse bzw. Zusammenhänge, die als Ursache für die finale Katastrophe eine Rolle gespielt haben mögen: das überraschende Ende der Zugfahrt am Spätnachmittag inmitten einer trostlosen, völlig verschneiten Landschaft (G, 83-85), die unvorhergesehene Begegnung mit dem zivilen Personenzug, die den Soldaten ihr Ausgeschlossensein von der ‚nicht-kriegerischen’ Welt umso mehr ins Bewusstsein rückt (G, 85-87). Schließlich bleibt auch die zunehmende Härte der militärischen Vorgesetzten, ihre „attitude de refus et d’inaccessibilité“ (G, 88) nicht ohne Folgen für die weitere Entwicklung der Moral der Soldaten; diese gipfelt in der gleichgültigen Truppenabnahme durch den „gigantesque capitaine“ (G, 88). 347 342 G, 79-100. Da die Episode bereits an anderer Stelle einer eingehenden Analyse unterzogen wurde (Vgl. oben Kap. 6.3.1.1 Der ‚Nachfahr‘ als Autobiograph seiner Kriegserlebnisse), soll hier nur kurz das Augenmerk auf die historische Sinnstiftung mittels realistischer Erzählverfahren gelegt werden. 343 G, 79. 344 G, 79, 80. 345 G, 80. 346 G, 80ff. 347 G, 87-90. 457 Nach dem Aufbruch der Schwadron ereignen sich zwei weitere - in der Rückschau fatale - Ereignisse: zum einen bricht die Nacht an und schränkt auf diese Weise das Gesichtsfeld der Soldaten weiter ein. Auch scheint die Landschaft im grauen Halbdunkel noch einförmiger und einsamer zu sein und das Vorwärtskommen von Mensch und Tier wird schwieriger, bis sich die Abstände zwischen den einzelnen Reitern immer mehr zu vergrößern scheinen (G, 90-93). Zum anderen setzt plötzlich und unerwartet der Schneefall ein, wodurch der subjektive Eindruck von Kälte sich noch verstärkt und der stetige Kontakt des Gesichts mit den fallenden Schneeflocken bei den Soldaten gewisse Katastrophenbilder evoziert (G, 93f.). Der Stil des Erzählers ist anfangs geprägt von einer gewissen Sicherheit über das von ihm Berichtete; diese Souveränität zeigt sich insbesondere in den kausalen Satzverknüpfungen, 348 aber auch in den relativ knappen Aussagesätzen. 349 Erst als er beginnt, nach möglichen Ursachen und verborgenen Zusammenhängen für die unerklärlichen Ereignisse zu suchen, wird sein Erzählstil tastender und vager; dies setzt bereits mit der Regieanweisung des Erzählers ein, die an das Balzac’sche auktoriale Erzählen erinnert: „Ici il est peut-être nécessaire d’ouvrir une parenthèse pour tenter d’expliquer ce qui surviendra par la suite, c’est-à-dire le désespoir qui va s’emparer d’eux, la panique, la débandade que rien apparemment ne semble suffisant à justifier: […]“ (G, 82). 350 Von nun an wird der Erzähler zunehmend unsicherer nicht nur über den Status seiner (erinnerten) Wahrnehmungen, 351 sondern auch über die verborgenen Ursachen für die Katastrophe. So zieht er zunächst die mögliche Fehlplanung der Quartierverlegung als Anlass für die bevorstehende Auflösung der Schwadron in Betracht, nur um sie kurz darauf wieder auszuschließen (G, 82f.). 352 Zuletzt unternimmt der Erzähler schließlich den Versuch, die verschiedenen Abschnitte, die sich im Ereignisverlauf bis hin zur völligen Auflösung der Schwadron unterscheiden lassen, in einen geordneten, chronologischen und kausalen Zusammenhang zu bringen: „[…] l’affaire donc (ou le phénomène) pouvant être décomposée en trois phases, soit: les prémis- 348 Vgl. G, 79: „A cause du froid, ils ont complètement tiré les portes coulissantes du wagon.“ 349 Vgl. v.a. die Charakterisierung der Beziehungen zwischen den einzelnen sozialen Schichten innerhalb der Schwadron (G, 80f.). 350 Der Text entwirft hier eine pastiche des Balzac’schen Romans und distanziert sich in der Ironisierung seiner Erzählstrategien von diesem. 351 Vgl. z.B. die Schilderung des „sous-officier“, der versucht, die Schwadron im Dunkel der Nacht weiterhin zusammenzuhalten. (G, 91f.) 352 Vgl. ebenso die Mutmaßung des Erzählers, die Situation wäre nach der Begegnung mit dem Personenzug zweifellos noch durch den Ausschank warmer Getränke oder Rum zu retten gewesen (gleichsam als Teilhabe der Soldaten am zivilen, ‚normalen’ Leben) (G, 87f.). 458 ses de la désagrégation, la mencace de désagrégation (les premiers craquements), enfin la désagrégation elle-même, entérinée comme fait accompli, irréversible, […]“ (G, 95). Wie bereits ausführlich beschrieben wurde, verliert der Erzähler nun die Herrschaft über sein Erzählen, wobei paradoxerweise dieser Kontrollverlust parallel mit einer scheinbar gelungenen rhetorischen - kausalen und chronologischen - Strukturierung des Erzählten einhergeht. 353 Die drei Phasen werden von dem Erzähler nicht deutlich genug voneinander unterschieden; während er zur ersten Phase noch relativ nachvollziehbar das Erreichen des Zielorts, das endgültige Verlassen des Zuges, die unvermittelte Begegnung der Soldaten mit dem zivilen Leben in Gestalt des Personenzugs sowie das unerklärliche und unprofessionelle Gebaren des Capitaine zählt (G, 95f.), bleibt die zweite Phase schon merkwürdig vage charakterisiert: es wird nur ihre ungefähre Dauer angegeben (die ersten drei Stunden des Marsches) und die Tatsache, dass die Müdigkeit, welche die Moral der Soldaten zuletzt völlig untergraben wird, bereits am Werk ist. Als generelles Charakteristikum dieser Phase beschreibt der Erzähler das Vorherrschen von „information, contrôle, commandement“ (G, 96). In der Beschreibung der dritten Phase gibt der Erzähler nun sein selbstverordnetes Darstellungsprinzip - die Nennung von Ereignissen und die Beschreibung ihrer Folgen - auf: Stattdessen betont er, dass „[l]a troisième phase (celle de la désagrégation elle-même dont le signal sembla être donné par l’apparition de la neige - ou plutôt, dans le noir, l’attouchement des flocons silencieux, ouatés, fondant doucement sur les visages) ne peut être décrite que de façon fragmentaire à l’image du phénomène de fragmentation lui-même.“ (G, 96f.) Schon in der Begründung zeigt sich der von nun an vorherrschende hypothetische Charakter der Darstellung: Bereits über die entscheidende Ursache der „désagrégation“ ist der Erzähler nicht sicher - handelt es sich dabei bereits um das Erscheinen des Schnees oder erst um die Empfindung der schmelzenden Schneeflocken auf den Gesichtern der Soldaten? Wenn im weiteren Verlauf der Beschreibung zunächst noch der Eindruck von Kausalität und Kohärenz des Erzählten aufrechtgehalten wird (die Identifizierung des zentralen Ereignisses: der Capitaine wartet bei seinem nächsten Halt nicht auf die letzten Nachzügler, bevor er schon wieder weiterreiten lässt (G, 97)), beginnt die eingangs prophezeite Fragmentierung doch unmittelbar im Anschluss mit der Verengung der Perspektive von der globalen Sicht der Soldaten zur begrenzten Sicht einer einzelnen Figur, des Erzählers (G, 97). In dem Maße, wie sich die Wahrnehmung des Perspektivträgers aufgrund des zunehmend dichter werdenden Schnees immer mehr begrenzt und gleichsam individualisiert bzw. subjektivisiert, wird auch seine Unsicherheit über seine Sinnesempfindungen - seien sie visuel- 353 Vgl. G, 95-100. 459 ler oder akustischer Natur - immer größer. Er ist sich nun nicht mehr sicher, ob er schläft oder wacht, ob er ein- und dieselbe Episode bereits erlebt hat oder ob er sich überhaupt noch bewegt (G, 98f.). Nach dieser Phase der absoluten Unsicherheit über seine erinnerten Wahrnehmungen, die an der Wiederholung des Modalpartikels „peut-être“ deutlich wird, erlangt der Erzähler seine ursprüngliche Gewissheit über sein Erzählen erst bei der Ankunft am Zielort - einer Scheune - zurück: Er beschränkt sich nunmehr auf die Beschreibung und Aufzählung seiner einzelnen Handlungen, das Einstellen seines Pferdes in die Scheune und dessen Versorgung, das Hinaufsteigen zum Heuboden und das sofortige Einschlafen (G, 99). Am Ende der Episode um die nächtliche Quartierverlegung scheint der Erzähler das zu Beginn von ihm formulierte Ziel vergessen zu haben: Er unterlässt eine abschließende Analyse der Ergebnisse seines Erzählens und beschränkt sich allein darauf, die Umgebung der Scheune, wie er sie am Morgen nach dem Marsch wahrnimmt, zu beschreiben. Der Erzähler scheitert hier mit seinem Versuch, durch eine chronologische und kausale Strukturierung des von ihm Erlebten in Anlehnung an den realistischen historischen Roman eine Erklärung für die ihm unverständlichen Ereignisse zu finden. Auch wenn sein realistisches Erzählprojekt zunächst zu gelingen scheint, kann er sich doch am Ende nicht gegen den immer noch übermächtigen Eindruck seiner Erinnerungen wehren. Wie bei einem Dammbruch spülen die Erinnerungsfragmente seine zunächst noch gelingenden kausalen und chronologischen Verknüpfungen der Ereignisse fort, bis er sich am Ende seines Erzählens allein auf ‚Gewissheiten’ beschränkt: seine unmittelbaren Sinneseindrücke bei der Ankunft in der Scheune und am nächsten Morgen im Freien. So fehlt zuletzt eine definitive Erklärung für das Vorgefallene: Wie konnte es letztendlich zu der Auflösung kommen? Gab es möglicherweise noch weitere Gründe als das Versagen der militärischen Kommandoebene, die problematischen Witterungsverhältnisse und die großen körperlichen Strapazen der Männer? Die Häufung dieser Unbestimmtheitsstellen in den Ausführungen des Erzählers führen dazu, dass das eingangs von ihm formulierte Projekt eines möglichst realistischen historischen Erzählens scheitert. Stattdessen erweist sich seine Darstellung als geprägt von Subjektivität, die den anfangs postulierten objektiven Realitätsstatus der Handlung untergräbt. Zudem bleibt auch die Anlehnung an ein fremdes fiktionales Textmodell nicht ohne Folgen für den eigenen Text: Der implizit metafiktionale Bezug auf den realistischen historischen Roman, wie er von der Forschung insbesondere in der ironischen Anspielung auf die auktoriale Erzählweise Balzacs gesehen wird, 354 führt dazu, dass auch der zitierte Textausschnitt aus Les Géorgiques seinen scheinbar faktualen Charakter als autobiographi- 354 Vgl. z.B. N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 38. 460 schen Bericht des ‚Nachfahren’ verliert; er wird dadurch zunehmend fiktionalisiert. In dieser Hinsicht dient das verworfene Erzählmodell des realistischen historischen Romans in einem zweiten Schritt dem Erzähler als Folie für die Entwicklung einer eigenen Poetik historischen Erzählens, die den fragmentarischen Charakter der Wahrnehmung und ihrer Erinnerung in die Darstellung mit einbezieht und das subjektive Erzählen als einzigen adäquaten und wahrscheinlichen Erzählmodus postuliert. 6.4.2.3 Die Dekonstruktion der Objektivitätsillusion und die Problematik historischen Erzählens: unreliability, Unbestimmtheitsstellen Wie bereits angedeutet wurde, entwickelt Simon in Les Géorgiques in der Auseinandersetzung mit traditionellen Formen des realistischen Romans eine neue Poetik fiktionalen, historischen Schreibens, die sich einer mehr oder minder ausgeprägten Subjektivität verschreibt. Damit steht der von Simon entwickelte Typus des historischen Romans in einem Gegensatz zu realistischen Gattungsausprägungen vor allem des 19. Jahrhunderts, deren Ziel die Erzeugung einer sogenannten ‚Objektivitätsillusion’ war: Der Erzähler tritt als zuverlässige, historiographisch arbeitende Instanz auf, er bürgt mit seinem Namen und mit seiner Funktion für die Glaubwürdigkeit des Erzählten. Dagegen sind die verschiedenen Erzähler in Simons Roman mit der Subjektivität ihrer Wahrnehmung, ihrer Erinnerungen und ihrer Interpretation der Vergangenheit konfrontiert. Wahrscheinliche Ereignisse, die jedoch nicht durch Quellen belegt sind, werden von ihnen imaginativ ergänzt, auch wählen sie aus einer unbekannten Fülle von vergangenheitsbezogenen Dokumenten diejenigen Texte aus, die am ehesten ihrem Erzählziel dienen; Missliebiges oder nicht zur Erzählintention Passendes wird verschwiegen. Nicht zuletzt scheuen sie auch nicht vor persönlich gefärbten Wertungen bestimmter Ereignisse zurück und entfernen sich auf diese Weise noch weiter vom Ideal des neutralen, sachlich Bericht erstattenden Historikers. Die Erzähler in Les Géorgiques werden auf diese Weise zu sogenannten unreliable narrators, zu unzuverlässigen Erzählern, die im Gegensatz zum Historiographen bzw. zum traditionellen realistischen Erzähler keine Gewähr mehr für die Wahrheit des von ihnen Erzählten übernehmen. Neben dieser eher beabsichtigten Form subjektiven Erzählens finden sich in dem Roman auch gewisse ‚Unbestimmtheitsstellen’, die nicht unbedingt auf die erklärte Täuschungsabsicht der jeweiligen Erzählerfigur zurückzuführen sind, die sich aber dennoch erzähllogisch nicht auflösen lassen. Hierzu zählen die paradoxen metaleptischen ‚Belebungen’ bzw. Narrativisierungen von Kunstwerken wie z.B. der Büste des Generals, aber 461 auch die extremen Fragmentierungen des ersten und fünften Kapitels des Romans. Wie bereits verschiedentlich deutlich wurde, setzen die Erzählinstanzen in Les Géorgiques bei der Rekonstruktion der Vergangenheit ihre Imagination ein, um entweder Ereignisse, die wahrscheinlich stattgefunden haben, aber nicht durch Quellen belegt sind, zu ergänzen, oder um allgemeine Zusammenhänge zwischen historischen Fakten zu konstruieren. Es ist vor allem der ‚Nachfahr’ des Generals L.S.M., der in seiner Doppelfunktion als Autobiograph seiner eigenen Kriegserlebnisse sowie als Biograph seiner Familiengeschichte bzw. der Lebensgeschichte des Generals einerseits Zugang zu Quellen hat, andererseits aber auch viele nichtüberlieferte Ereignisse imaginativ ergänzt. In der Auseinandersetzung mit seinen eigenen traumatischen Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs ist der ‚Nachfahr’ vor allem mit der Unzuverlässigkeit nicht nur der eigenen Erinnerung, sondern bereits der Wahrnehmung zum Zeitpunkt des Erlebens konfrontiert. Es finden sich wiederholt Hinweise auf Halluzinationen, die er aufgrund der extremen Erfahrungen von Angst, Müdigkeit bzw. körperlichen Strapazen erlebt: Désemparé il erre à pied dans la campagne peu à peu envahie par le crépuscule. Il est sujet à des hallucinations. Il entend croître un bruit de clochettes et se jette à l’abri d’une haie. Dans la lumière indistincte de la nuit tombante il voit passer sur le chemin un cavalier coiffé d’un casque rond derrière lequel flotte au vent un long voile de mariée. Le cavalier a une tête de mort aux orbites vides. Le trot du cheval secoue les clochettes qui font entendre un bruit argentin décroissant rapidement. Il se relève et contemple avec incrédulité le chemin vide. […] (G, 66) Die Erzählung des ‚Nachfahren’ zeigt sich hier durchsetzt von innerfiktional realen und fiktiven Elementen; es bleibt unklar, ob er tatsächlich einen Reiter auf dem Weg gesehen hat, dessen Erscheinungsbild von seiner überreizten Phantasie verändert wurde, oder ob er sich dies nur eingebildet hat. Der Erzähler scheint sich während der traumatischen Ereignisse an der flandrischen Front ständig im Zustand einer „demi-conscience“ (G, 178) zu befinden: Er kann seine Sinneseindrücke nicht mehr der Realität zuordnen und wird sich auch zusehends über die Wahrhaftigkeit seines Schmerzempfindens unsicher. So ist er überzeugt, schwer verletzt zu sein, obwohl er nicht den geringsten Schmerz spürt (G, 178). Noch mehr als bei der Rekonstruktion seiner eigenen Vergangenheit greift der Erzähler - wie bereits gezeigt - bei der Evozierung der Vergangenheit seines Vorfahren, des Revolutionsgenerals L.S.M., auf die kreative Kraft seiner Imagination zurück. Finden sich zunächst nur vereinzelte Hinweise auf den bloß vermuteten, erfundenen Status von Aussagen zum Leben des Generals, überwiegen diese im letzten Kapitel des Romans. 462 Die erste längere Imagination des Erzählers, die möglicherweise noch in seiner Kindheit stattgefunden hat, zeigt sich von der erinnerten Büste des Generals inspiriert: Diese wird im Halbdunkel des Salons scheinbar lebendig; der Enkel „sieht“, wie der General als Büste durch Europa zum nächsten Schauplatz einer Schlacht getragen wird. 355 Überdies rekonstruiert der Biograph allem Anschein nach Episoden aus dem Leben seines Ahnen - wie für die erste und vermutlich die letzte Begegnung mit seiner zweiten Frau 356 -, für die sich in den Quellen keine Belege finden lassen. Ausgehend von den spärlichen Informationen der Prozessakten und der Briefe imaginiert er die letzten Monate im Leben des Generals 357 sowie die möglicherweise letzte, folgenreiche Begegnung mit seinem fahnenflüchtigen Bruder Jean-Marie. 358 Wie schon im Falle der autobiographischen Erinnerungen des Erzählers zeigt sich sein Bericht über das Leben seines Ahnen durchsetzt mit fiktiven Elementen. Der Erzähler verlässt damit den Weg der historiographischen, objektiven Darbietung von Fakten und wählt stattdessen einen subjektiven Zugang zur Vergangenheit, die Raum für seine persönlichen Vorstellungen darüber lässt, was historisch und psychologisch plausibel ist. Dies gilt auch für den Spanienkämpfer, der im Anschluss an seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg über das Gesehene möglichst neutral Zeugnis ablegen will. Wie gleich zu Beginn des Kapitels deutlich wird, hat auch O. mit denselben Auswirkungen von Schlafentzug zu kämpfen wie der ‚Nachfahr’ im Zweiten Weltkrieg: Er fühlt - laut Aussage des unbekannten Erzählers - „une pellicule de fatigue, comme de la cire ou de la paraffine“ (G, 265) ähnlich einer zweiten Haut auf seinem Gesicht, die ihn von der Realität trennt. Auch er konstatiert bei sich „cette demi-conscience et cet abrutissement“ (G, 296), in die ihn die extreme Müdigkeit seines Körpers und seines Geistes, die Beeinträchtigung seiner Intelligenz und seiner Sinnesorgane gestürzt haben. Darüber hinaus lassen auch die verwickelten Zusammenhänge während der Ereignisse in Barcelona, die undurchschaubaren Parteibildungen auf Seiten der Linken den Erzähler zunehmend an der Realität - an dem, dessen man sicher sein kann - zweifeln (G, 295). Auch wenn diese Probleme bei der Wahrnehmung der Realität und ihrer späteren Repräsentation in der Erinnerung O.s Bericht bezüglich seiner Authentizität und Objektivität anfechtbar werden lassen, werden diese Zusammenhänge von ihm selbst nicht thematisiert. Es ist der diesen Bericht kritisch vermittelnde, unbekannte Erzähler, der Kritik an O.s Vorgehensweise übt. 355 G, 243-247, 248-250. 356 G, 388-392, 399f. 357 G, 372f. 358 Vor allem G, 430-435. 463 Die Subjektivität der verschiedenen Autobzw. Biographen zeigt sich nicht nur in ihrer imaginativen Anreicherung der häufig spärlich durch Quellen belegten historischen Fakten, sondern auch in ihrem souveränen und eigenmächtigen Umgang mit den geschichtlichen Ereignissen. Sie entscheiden über die Auswahl und die Reihenfolge des Erzählten, vor allem aber lassen sie zentrale Episoden oder Zusammenhänge unerwähnt. Ein extremes Beispiel für die scheinbar willkürliche Aneinanderreihung ‚nackter’ historischer Fakten stellt das erste Kapitel des Romans dar, in dem bestimmte Ereignisfragmente aus dem Leben des ‚Nachfahren’, des Generals sowie O.s unverbunden nebeneinander stehen. Ein genauerer Blick auf die Parallelen zwischen den evozierten Episoden enthüllt aber auch hier das für Simons Texte typische Erzählverfahren, scheinbar disparate Handlungsstränge über als ‚Weichen’ fungierende Wörter - sogenannte mots-carrefour - aufeinander zu beziehen. 359 Auch das zweite Kapitel unterliegt keiner erkennbaren chronologischen Ordnung: Während zu Beginn die Verlegung der Kavallerieschwadron an die Front im Februar des Jahres 1940 geschildert wird, 360 erfolgt erst danach der Bericht über die Ereignisse aus der Vorkriegszeit während des Winterlagers in einem von dichten Wäldern umgebenen Tal. 361 Das dritte Kapitel präsentiert wiederum mehrere histoires, die nur im Ansatz in chronologischer Reihenfolge erzählt werden: Es werden einerseits die Kindheits- und Jugenderinnerungen des ‚Nachfahren’ erzählt; dieser Bericht erfolgt zunächst bis zum Tod der alten Dame und der einsamen Kindheit des ‚Nachfahren’ im nunmehr halbleeren Stadthaus chronologisch, 362 um dann jedoch analeptisch Ereignisse zu Lebzeiten der Großmutter aufzugreifen wie ihre Besuche mit den Enkelkindern im Theater oder die gemeinsame Teilnahme an der Osterprozession. 363 Im Anschluss erfolgt erneut eine Prolepse in die Zeit nach dem Tod der alten Dame, als der inzwischen ältere Junge seinem Onkel beim Klavierspiel zuhört und vom Geheimnis um den Ahnen erfährt. 364 359 Zur Veranschaulichung seien nur einige Beispiele genannt: Sowohl der Ahn als auch 150 Jahre später sein Nachfahr sind gezwungen, während des Krieges in der freien Natur, möglicherweise nur in ihre Mäntel gehüllt, zu schlafen (G, 38); das Klingen der Glocken am Hals der Kühe auf dem Gut zu Lebzeiten des Generals findet seine Fortsetzung in der Beschreibung eines Glockenturms, der zu einer Kirche im Barcelona der Spanienhandlung gehört (G, 51); das „mosaïque de polygones“ (G, 51) der Kiesel, die der Nachfahr während des Hinterhalts nach seinem Sturz vom Pferd wahrnimmt, wird gespiegelt in den „toiles scintillantes et polygonales“ der Spinnennetze, die im Herbst auf dem Gut erscheinen (möglicherweise im 18. Jh.) (G, 53f.). 360 G, 79-100. 361 G, 100-139. 362 G, 143f., 172-176, 178f., 181-185, 191-200, 202-209, 211-215. 363 G, 219-229. 364 G, 229-231, 233f., 242f., 250, 251, 252-256. 464 Ein weiterer Handlungsstrang hat Erlebnisse des inzwischen erwachsenen ‚Nachfahren’ zum Inhalt; hierzu zählen einerseits sein Besuch auf dem Gut und beim überschuldeten Immobilienhändler 365 und andererseits die von ihm durchlebten Ereignisse während des zweiten Weltkriegs. Letztere werden ebenfalls nur zum Teil chronologisch präsentiert: am Anfang steht der Ritt an die Front bzw. zur Maas und die deutsche Bombardierung, 366 es folgt die Erzählung einer Episode aus dem Kriegsgefangenlager in Sachsen, in das der ‚Nachfahr’ nach der französischen Niederlage deportiert wird, 367 in Form einer Proust’schen „mémoire involontaire“ assoziiert der ‚Nachfahr’ bei der Erinnerung seines Kinobesuchs analeptisch einen Bombenangriff an der Front. 368 Die Fortsetzung der Erzählung hat nun den überstürzten Rückzug der Schwadron vor den Richtung Maas vorrückenden Deutschen zum Gegenstand. 369 Diese drei zentralen Handlungsstränge sind durchsetzt mit intertextuellen Zitaten aus dem Archiv des Ahnen bzw. aus der real existierenden Sekundärliteratur zu seiner Biographie sowie mit Reflexionen des Erzählers und ‚Nachfahren’ über seine Begegnungen mit dem Tod während der religiösen Prozessionen seiner Kindheit, seines kurzen Besuchs im Spanien des Bürgerkriegs sowie während des Zweiten Weltkriegs. 370 Das vierte Kapitel von Les Géorgiques hat O.s Bericht über seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg zum Gegenstand; ein unbekannter Erzähler präsentiert und kommentiert den nicht direkt zitierten Primärtext. Seine Präsentation gliedert sich in fünf Sektionen; 371 diese sind nicht chronologisch angelegt, sondern unterscheiden sich in ihrer spezifischen, didaktischen Funktion. Während die ersten vier Sektionen 1. eine allgemeine Einführung in das Thema in Form einer Bildinterpretation; 2. die Erlebnisse O.s während seines Lebens im Untergrund in Barcelona im Juni 1937; 3. das bis auf wenige Ausnahmen eintönige Milizionärsdasein an der aragonesischen Front ungefähr von Januar bis März 1937 sowie 4. die Ereignisse im Umfeld der Straßenkämpfe im Mai 1937 in Barcelona zum Gegenstand haben, präsentiert die fünfte Sektion eine kritische Analyse von O.s Bericht durch den Erzähler. Die ersten vier Sektionen sind in ihrem Innern noch weitestgehend chronologisch geordnet; hingegen beginnt die fünfte Sektion mit der erneuten Rückkehr O.s an die aragonesische Front im Anschluss an einen kurzen Aufenthalt in Barcelona im Mai 1937. 372 365 Diese werden allem Anschein nach chronologisch präsentiert: G, 144-172, 235-238, 241-242. 366 G, 176-178, 201-202. 367 G, 209-211. 368 G, 215f. 369 G, 231-234, 239f., 247f. 370 G, 225-227. 371 G, 259-262, 263-280, 280-293, 293-308, 308-362. 372 G, 309. 465 Gegen Ende Juni 1937 muss er jedoch bereits wieder nach Barcelona zurückkehren, da er an der Front durch eine Kugel verwundet wurde. 373 Von nun an übernimmt der unbekannte Erzähler sichtbar die Kontrolle über sein Material, er wählt die geeigneten Abschnitte aus O.s Bericht aus, die ihm als Ausgangspunkt für eine Textkritik dienen können: die Zeit nach seiner Rückkehr nach England, 374 seine Ankunft in Barcelona im Dezember 1936 und seine Motive für seine Abfahrt nach Spanien 375 sowie erneut seine Ankunft in Barcelona. 376 An dieser Stelle folgt im Text ein längerer Kommentar des Erzählers zu O.s Motiven für die Abfassung seines Berichts sowie zu seiner Methodik. 377 Erst am Ende kehrt der unbekannte Erzähler wieder länger zu O.s Originaltext zurück und fasst die Straßenkämpfe in Barcelona sowie O.s Situation in England nach seiner Rückkehr zusammen. 378 Das fünfte und letzte Kapitel hat schließlich wiederum drei Handlungsstränge zum Inhalt: Zum einen Ereignisse aus dem Leben des Generals L.S.M., die entweder als scheinbar quellenbasierter Bericht des Erzählers 379 oder offen als seine Erfindung präsentiert werden. 380 Diese Haupthandlung wird unterbrochen von der Erinnerung an Ereignisse aus dem Leben des ‚Nachfahren’ wie seine militärische Ausbildung in einer Garnison im Osten Frankreichs im Winter 1939/ 40, 381 an die sich langsam vollziehende Entdeckung des Archivs des Generals und des dort enthaltenen belastenden Quellenmaterials 382 sowie von der Beschreibung einer keiner bestimmten historischen Epoche zuzuordnenden Abendstimmung auf dem Gut. 383 Daneben wird vom Erzähler wiederholt aus dem Archiv des Generals zitiert wie z.B. aus verschiedenen Prozessakten und Briefen. Auch in diesem Kapitel ist die Strukturierung des Materials wiederum den Bedürfnissen der Erzählerfigur unterworfen: Diese arrangiert die verschiedenen - realen und fiktiven - Ereignisfragmente dahingehend, dass der Spannungsbogen um die schuldbeladene Beziehung zwischen den beiden Brüdern bis zuletzt gewahrt bleibt. Zugleich offenbart sich auch die Tragik des Generals L.S.M.: Am Ende entgleitet ihm die Kontrolle über sein Leben; er wird zum ungerechten, larmoyanten Greis, der unbedeutende 373 G, 309. 374 G, 310-315. 375 G, 315-323. 376 G, 323-326. 377 G, 326-355. 378 G, 355-362. 379 G, 365-369, 370f., 376-378, 379f. 380 G, 383-396, 398f., 399f., 403-409, 411-414, 419f., 421-429, 430-438, 473f. 381 G, 369f. 382 G, 429f., 438-451. 383 G, 378-380. 466 Nachlässigkeiten seiner ihm jahrelang treu ergebenen „intendante“ Batti als ‚Verrat’ brandmarkt. 384 Neben diesem selbstbestimmten Umgang der Erzähler mit der Chronologie der Ereignisse tendieren sie auch dazu, zentrale Episoden oder Zusammenhänge elliptisch zu verschweigen oder erst nachträglich zu präsentieren. So spielt der Erzähler als Biograph seines Ahnen zwar wiederholt mehrdeutig auf das ‚Geheimnis’ um seinen Ahnen an, lüftet dieses jedoch erst nach mehr als der Hälfte des Romans. 385 Ebenso beanstandet der unbekannte Kritiker von O.s Bericht dessen zahlreiche Auslassungen, die ihre Ursache möglicherweise in O.s Angst vor berechtigter Kritik oder in dessen nicht ganz loyaler Haltung seinen ehemaligen Kameraden gegenüber haben. 386 So verschweigt O. insbesondere die genauen Ursachen der Straßenkämpfe in Barcelona - diese lagen im Verrat der stalinistischen an den anderen linken Gruppen begründet - und stellt den Ausbruch dieser Kämpfe als völlig unerwartet, überraschend und unerklärlich dar, 387 obwohl der Erzähler selbst von frühen, deutlichen Anzeichen der bevorstehenden Eskalation weiß. 388 Ferner finden sich auch persönliche Werturteile der Erzähler als weitere Zeichen einer Subjektivierung des Erzählens in Les Géorgiques. Der ‚Nachfahr’ kritisiert am Ende seiner biographischen Rekonstruktion das ungerechte Verhalten seines Ahnen gegenüber Batti: „[…] jusqu’à ce que les monotones rangées de signes tracés à l’encre couleur rouille ne répètent plus que d’amères récriminations, un monotone ressassement de griefs, de reproches, et à la fin, s’exhalant, s’étirant, interminable, désolée, morne, une plainte : « […] » (G, 474). Insbesondere der nicht näher bestimmte Vermittler des Berichts von O. bewertet wiederholt kritisch dessen Poetik und Erkenntnisziel: Er wirft ihm seine vorgebliche Gleichgültigkeit, seine scheinbare Distanz zu den Ereignissen vor, die Nähe zur „sécheresse d’un simple compte rendu“, die seine Erzählung ohne die wenigen schmückenden Bilder und Details besessen hätte (G, 314). In den Augen des Erzählers besteht O.s größtes Vergehen darin, den Eindruck von ‚Mitleidenschaft’ vermeiden zu wollen: „[…] (il recourt à des phrases courtes, il évite dans la mesure du possible les adjectifs de valeur et d’une façon générale tout ce qui pourrait ressembler à une interprétation partisane ou tendancieuse des événements, comme s’il n’y avait pas été étroitement mêlé mais en avait été un témoin sans passion, seulement soucieux d’information).“ (G, 314) 384 Vgl. v.a. G, 474-477. 385 G, 255f. 386 G, 328 und 352f. 387 G, 303f., 355-361. 388 G, 336f., 341f. 467 Im Gegensatz zu O. praktiziert der unbekannte Erzähler die von ihm selbst geforderte Poetik: Er bezieht Stellung gegenüber der Haltung O.s, äußert seine eigene Meinung, wertet und bewertet, präsentiert entgegengesetzte Ansichten und Interpretationen. Dieses Verhalten verbindet ihn mit dem ‚Nachfahren’, der sich als Autobiograph von vornherein für eine subjektive Präsentation seiner persönlichen Erfahrungen und seiner Sichtweise der historischen Ereignisse entschieden hat. Auch als Biograph seiner eigenen Familie entwickelt er eine Meinung zu der Persönlichkeit seines Ahnen; diesem Konzept ordnet er in seiner Erzählung die historischen Tatsachen unter bzw. er erfindet sie neu. Wie gezeigt werden konnte, steht die erzählerische Subjektivität 389 in Les Géorgiques ganz im Dienste einer Positionsbeziehung gegenüber der Vergangenheit: Im Unterschied zur traditionellen Historiographie vertreten die Erzähler in Simons Roman übereinstimmend die Auffassung, dass Vergangenheit nur individuell rekonstruierbar ist. Ein objektives Erinnern ist unmöglich, sei es, weil bereits die einstige Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt war, oder sei es, weil auch das Erinnern selbst ein hochgradig selektiver, teilweise zensierender Prozess ist. Der einzige Ausweg aus dieser paradoxen Situation - Geschichte ist immer nur fragmentarisch und subjektiv rekonstruierbar - liegt darin, diese Subjektivität und vor allem die damit verbundene Bedeutung der Imagination metafiktional zu thematisieren und zu inszenieren, um so den Ausschnittcharakter der repräsentierten fiktiven Wirklichkeit immer wieder offenzulegen. Während die im vorangehenden Kapitel beschriebenen Verfahren sich auf das Wirken der Erzählerfiguren zurückführen lassen, finden sich in Simons Roman auch Verfahren, die ebenfalls auf die Subjektivität und damit implizit auch auf die Fiktionalität des Erzählens verweisen. Im Gegensatz zu den bereits genannten Verfahren lassen sich erzählerische Paradoxien wie der metaleptische Wechsel zwischen ontologisch verschiedenen Ebenen oder die extreme Fragmentierung bestimmter Teile des Romans nur schwer erzähllogisch - d.h. im Sinne der erzählerischen Intention einer narrativen Instanz bzw. im Sinne des inneren kausalen Zusammenhangs der Geschichte - auflösen. In Les Géorgiques finden sich im Gegensatz zu früheren Romanen Simons wie La Bataille de Pharsale und Triptyque nur wenige paradoxe Kurzschlüsse zwischen binnenfiktionalen Ebenen. Zu diesen zählt insbesondere die ‚Belebung’ der statischen Marmorbüste des Ahnen in der kindlichen Phantasie des Erzählers, die wohl nicht nur durch die tendenziell unheimliche Atmosphäre im halbdunklen Salon seines Elternhauses bewirkt wird, 389 Vgl. hierzu auch C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 170. 468 sondern auch durch die ihm bis dahin bekannten Charakterzüge des Generals: Erscheint dieser in den Familienlegenden doch als geheimnisumwittert und verschwiegen und musste sich auf Befehl seiner Vorgesetzten durch ganz Europa schicken lassen. 390 Am Ende des Romans verwandelt sich der imaginierte General in der Phantasie des nunmehr gealterten ‚Nachfahren’ wieder zurück in die Marmorbüste, als die er seinen Ahnen in seiner Jugend kennen gelernt hat: „[…] Et définitivement seul alors, planté là, […] : la clarté blafarde de la nuit sculptant comme dans du marbre déjà, effaçant les couleurs, creusant les reliefs, glacée, la monumentale statue toujours tournée vers l’endroit où avec un rire bref venait de s’évanouir avec son double une partie de luimême […]“ (G, 435). Die statische Szene im Stil „de ces images d’Epinal“ (G, 392) wird narrativisiert; 391 sie liefert dem Erzähler einen Anlass, den General L.S.M. inmitten seiner Kollegen bei der Kriegsführung und Verwaltungstätigkeit zu imaginieren: […] et alors, derrière une porte gardée par un factionnaire en armes, ceci : une de ces scènes, de ces images d’Epinal naïvement coloriées de rouge et de bleu, comme ces tableaux aux personnages grandeur nature et costumes d’époque que l’on peut voir dans les musées de cire où les fournées de visiteurs contemplent avec horreur un enfant amaigri, entouré de rats, assis sur le bas-flanc d’un cachot, […], puis, avec admiration, un salon aux tentures décorées d’abeilles […], et entre les deux (entre la sombre cellule et le salon richement décoré) une pièce aux murs, aux tables couvertes de cartes […], les personnages non pas de cire, figés, mais bougeant, parlant, le faible murmure de ces voix calmes, posées, d’hommes habitués à commander et à être obéis sans avoir à hausser le ton […], l’un des occupants de la pièce, peut-être lui (son dos massif courbé au-dessus d’une table, sa crinière en désordre encadrant le masque de proconsul), […] (G, 392ff.). Auch diese Metalepse zwischen den ontologischen Ebenen der innerfiktionalen Realität und ihrer fiktiven Repräsentation lässt sich nicht eindeutig als Imagination einer Erzählerfigur bestimmen; vielmehr bleibt sie isoliert vom übrigen Kontext. Möglicherweise stellt sie einen Versuch des Erzählers dar, die Vergangenheit durch die ekphrastische Beschreibung von Bildern oder Gemälden sprachlich zu rekonstruieren. Aufgrund ihres relativ seltenen Vorkommens in Les Géorgiques und ihres fehlenden Bezugs auf 390 G, 244-247, 248-250. 391 Damit sind die im 19. Jahrhundert in der französischen Stadt Epinal angefertigten ‚Bilderbogen’ gemeint; das sind Druckblätter mit Bildfolgen (inhaltlich zusammengehörenden Reihen) samt kurzen gereimten Texten, die auf Jahrmärkten und bei Kirchenfesten verkauft wurden. Sie waren zur Erbauung, Belehrung, Belustigung, zur Verbreitung von Nachrichten, auch als Mittel im religiösen und politischen Streit bestimmt und können als Vorfahren der modernen Comics gesehen werden. (Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 2: ATF-BLIS. (1967), S. 717.) 469 eine Erzählerfigur fungieren diese paradoxen Kurzschlüsse zwischen fiktiven und realen Ebenen in der fiktionalen Umgebung des Romans aber als Fremdkörper, die sich erzähllogisch nicht erklären lassen. Die in Simons Roman beschriebenen Gemälde, Statuen oder Photographien erfüllen jedoch alle den Zweck, die Erzählung bzw. die Imagination der Erzählinstanz zu stimulieren und Fakt und Fiktion miteinander zu verbinden. Ähnlich verhält es sich mit den extremen Fragmentierungen des ersten Kapitels von Les Géorgiques. Insbesondere in der ersten Sektion des Romans scheint der Text die bloße Aufzählung von Ereignissen im Jahreslauf in den mittelalterlichen Annalen imitieren zu wollen, doch fehlt die eindeutige Zuordnung von Begebenheiten zu bestimmten Jahren. Wesentlich ist jedoch, dass die fragmentierte Präsentation der Ereignisse nicht die erzählerischen Interessen einer Erzählerfigur widerspiegelt; diese ist hier noch nicht klar erkennbar. Stattdessen hat es den Anschein, als spiele der Text im ersten Kapitel mit den Konventionen der traditionellen Geschichtsschreibung, die sich ebenfalls auf Fakten und die Jahresangaben beschränkt. Allerdings entwickelt sich im Gegensatz zur historiographischen Rekonstitution vergangener Wirklichkeit entlang zentraler Ereignisse und bestimmter Jahre hier keine klar erkennbare Bedeutung, kein ‚Sinn’ der Vergangenheit. Die verschiedenen Ereignisse und historischen Personen stehen erzählerisch unmotiviert nebeneinander, sie ergeben kein kohärentes, logisches Ganzes. Wie bereits im Zusammenhang mit der Aufdeckung erzählerischer Subjektivität in Les Géorgiques gezeigt werden konnte, zielen auch die verschiedenen Metalepsen zwischen binnenfiktionalen Ebenen sowie die extreme Fragmentierung des Erzählten nicht auf die neutrale, objektive Repräsentation vergangener Wirklichkeit. Vielmehr gilt es einerseits zu zeigen, dass rekonstruierte Geschichte sich aus Fiktionen - in einem weiteren Sinne auch Fiktionen der bildenden Kunst - speist, und andererseits, dass der hinter jeder Rekonstruktion oder Repräsentation von Geschichte verborgene Erzähler Herr seiner Darstellung ist und diese auf willkürliche Weise - auch ‚sinnfrei’ - manipulieren kann. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass in Les Géorgiques ein expliziter und impliziter metafiktionaler bzw. metafiktiver Diskurs über die Fiktionalität des Textes und die Fiktivität der in ihm entworfenen Welt geführt wird. Simon übt auf diese Weise - auch persiflierende - Kritik an verwandten fiktionalen und faktualen Gattungen wie historiographischen, auto-/ biographischen und literarischen narrativen Repräsentationen vergangener Wirklichkeit. Zugleich entwirft er ein eigenes Modell historischen Erzählens, das die Imagination und die Subjektivität des Erzählens als zentrale Kräfte bei der Rekonstruktion der Geschichte in den Mittelpunkt stellt. 470 6.5 Schluss und Ausblick: ‚Historiographische Metafiktion’ als eine alternative Poetik historischen Erzählens In seiner ausführlichen Studie zum historischen Roman vertritt A. Nünning zu Beginn die These, dass die betreffenden Texte „[…] mit ihren erzählerischen Gestaltungsmitteln eigenständige fiktionale Manifestationsformen gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins darstellen und selbst neue Vorstellungen von Geschichte erzeugen können.“ 392 Insbesondere zeitgenössische Vertreter des historischen Romans begreifen narrativ-fiktionale Geschichtsdarstellung nicht mehr wie ihre realistischen Vorläufer im Sinne einer inhaltlichen Nachahmung bzw. Mimesis, sondern vielmehr als schöpferische Neuschaffung vergangener Wirklichkeit - als Poiesis. Der Gedanke einer schöpferischen (Re-)Konstruktion von Realität findet sich auch in dem Prolog, der Simons Roman vorangestellt ist. Dieser präsentiert die Beschreibung einer Gemäldeskizze, die einem vorbereitenden Entwurf Jacques-Louis Davids für das spätere Gemälde Le Serment du Jeu de Paume ähnelt: 393 Abgebildet sind zwei unbekleidete Männer; der ältere an einem Schreibtisch sitzend, der jüngere vor ihm stehend. Durch ihre vielfältigen Anspielungen auf Elemente des Romans kann diese Ekphrasis als metanarrative Allegorie des in Simons Text entwickelten poetischen Programms interpretiert werden. So finden sich neben einigen inhaltlichen Parallelen 394 vor allem verschiedene Anspielungen auf die in Les Géorgiques anzutreffenden formalen und narrativen Verfahren der Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit. Bereits die Darstellung des Gemäldes im Text verweist auf fiktionsgenerierende, narrativisierende Beschreibungen von Bildern, Photographien oder Statuen auch in diesem Roman; dabei wird der reale oder fiktive Status des jeweiligen Kunstwerks nicht immer eindeutig geklärt, wie ja auch die im 392 A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 9. 393 Vgl. die Gemäldereproduktionen im Anhang. 394 So weisen die beiden Männer eine gewisse Ähnlichkeit mit dem General L.S.M. und möglicherweise auch mit seinem Nachfahren auf; die „trois rangées de fenêtres“ einer durch die Fenster sichtbaren gegenüberliegenden Fassade (G, 13) sowie „les trois hautes fenêtres“ (G, 16) selbst verweisen auf die drei Protagonisten des Romans und die jeweiligen Handlungsstränge, die an einem der „panneaux“ hängende geographische Karte spielt auf die im Roman häufig beschriebenen militärischen Karten in der Umgebung des Generals aber auch in der seines Nachfahren im Zweiten Weltkrieg an (G, 14); die Vergleiche der Ausführung der Skizze mit antiken Vorbildern impliziert die Bedeutung insbesondere der römischen Klassik für die Handlung in Les Géorgiques (G, 12). In einer metapoetischen Äußerung interpretiert Simon die im Prolog dargestellte Szene als den Moment, in welchem Jean-Pierre L.S.M. die Nachricht vom Tode seines Bruders erhält (C. Simon: „Interview with Simon: Autobiography, the novel, politics. [Pugh, Anthony Cheal].“ (1985), S. 7.). 471 Prolog beschriebene Studie nicht unbedingt ein Vorbild in der außertextuellen Wirklichkeit haben muss. So wie sich die auf der Leinwand abgebildete Szene im Laufe ihrer Deskription ‚belebt’ und damit zum Ausgangspunkt einer imaginierten bzw. hypothetischen Fiktion wird (G, 17), dienen auch im Roman Kunstwerke wie die Statue des Generals als Stimulus der fiktionalen Handlung. Zentral ist darüber hinaus der Verweis auf die besondere Rolle der „imagination“ bei der (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit: wie architektonische Entwürfe keine fertigen Gebäude präsentieren, sondern nur imaginierte, autoreferentielle Kombinationen aus bestimmten Formen, zeigt auch die Skizze noch nicht das fertige Gemälde bzw. eine Realität jenseits der Abbildung, sondern einen vorläufigen, imaginativen Entwurf (G, 12). Diese kritische Ablehnung des naiven Glaubens an eine Repräsentationsfunktion der Kunst wird vom Text expliziert: „[…] en géométrie descriptive il est convenu que deux droites qui se croisent signifient - et non pas représentent - l’existence d’un plan […]“ (G, 13) - jede verbale oder mediale Darstellung von Wirklichkeit meint nicht ihre mimetische Repräsentation, sondern allein ihre modellhafte Nachbildung. Schließlich verweist die Analyse der Ausführung der Skizze durch den Künstler auf die spezifische Beschreibungspoetik des Romans: So wie jener versucht hat, „[…] suivant une sélection personnelle des valeurs […], à nettement différencier les divers éléments selon leur importance croissante dans son esprit comme en témoignent les factures particulières dans lesquelles il les a traités, […]“ (G, 14), folgt auch die Auswahl der in Les Géorgiques beschriebenen Objekte oftmals nicht ihrer Bedeutung für den discours oder die histoire, sondern aufgrund von im Verborgenen liegenden - semantischen oder syntaktischen - Qualitäten. Eine weitere Parallele zwischen dem Prolog und dem Roman als Ganzem sind ihre jeweiligen metanarrativen bzw. metapoetischen Funktionen: Der das Gemälde beschreibende und analysierende Erzähler betont, dass das Verständnis eines derart komplexen Zeichensystems „[…] n’est possible qu’en fonction d’un code d’écriture admis d’avance par chacune des deux parties, le dessinateur et le spectateur.“ So wie dem Betrachter des Gemäldes bekannt ist, dass die nur angedeuteten Details auf reale Wände verweisen, ohne diese jedoch zu repräsentieren, legt auch der Roman dem Leser sein poetisches Programm zur literarischen Vergangenheitskonstruktion dank verschiedener metanarrativer bzw. metafiktionaler Kommentare offen; diese fungieren als die Rezeption leitende ‚Codes’. Wie die vorangegangenen Analysen gezeigt haben, entwickelt der Text dieses Programm schrittweise: So werden zunächst die Spuren traditioneller historiographischer bzw. auto-/ biographischer Diskurse in Les Géorgiques nachvollzogen und auf ihren Erfolg und Misserfolg bei der angestrebten Repräsentation von Realität untersucht. Dabei zeigt sich, dass es den 472 verschiedenen historiographisch tätigen Protagonisten nicht gelingt, die eigene oder fremde vergangene Wirklichkeit verbal abzubilden; auch sie scheitern an den von der (post)modernen Geschichtstheorie formulierten Aporien im Hinblick auf die Referenzfunktion von Sprache, auf die retrospektive Repräsentation von Vergangenheit sowie auf die unvermeidbare Subjektivität eines jeden Historikers. In einem zweiten Schritt legt der Roman das eigene historische Erzählen metafiktional als Fiktion offen: die Fiktivität - gemeint ist die Erfundenheit bzw. Nicht-Referenz einiger Personen, Orte und Ereignisse - sowie die Fiktionalität des Textes - sein nicht-faktualer Status - werden explizit thematisiert oder implizit inszeniert. Die metafiktive Offenlegung der Fiktivität von Teilen des Textes wird insbesondere durch die vergangenheitskonstruierende Kraft der Imagination offenbart; daneben fungieren auch die Semantisierung von Orten und die Mythisierung von Ereignissen dahingehend, dass sie der histoire einen fiktiven, nicht-realen Anschein verleihen und diese aus einer scheinbar fest umrissenen historischen Realität herausheben. Dagegen wird die Fiktionalität des Textes insbesondere durch die Kontamination des scheinbar faktualen Textes mit fiktionalen Elementen offenbart sowie durch die Aufdeckung der narrativen und subjektiven Vermittlung der scheinbar neutral und objektiv konstituierten Vergangenheit. Mit seinem zentralen Thema ‚Geschichte’ und der metapoetologischen Reflexion einer adäquaten narrativ-fiktionalen Repräsentation vergangener Wirklichkeit präsentiert sich Simons Roman Les Géorgiques als typischer Vertreter der von A. Nünning erstmals umfassend definierten historiographic metafiction: 395 Diese innovativen Vertreter des historischen Romans 395 A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 30f., und A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 282ff. Vgl. ebenso M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 101. Einen Vergleich der Erzählverfahren selbst-reflexiver historischer Romane mit modernen historiographischen Texten unternimmt V.J. Budig: The Self-Reflexive Historical Novel: Alejo Carpentier and Claude Simon. (1989), S. 496. Auch von der Forschung zu Les Géorgiques wurde das innovative Potential des Romans im Hinblick auf die Gattung des historischen Romans wahrgenommen. So konstatiert C. Reitsma-La Brujeere, dass Simons Roman nicht der klassischen Definition des historischen Romans entspricht, sondern aufgrund seiner Autoreflexivität, seines intertextuellen Dialogs mit dem Diskurs über Geschichte sowie seiner Enthüllung der Rolle der Imagination eher einem neuen Typus zugerechnet werden muß (C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 238ff.). Auch S. Schreckenberg verweist auf den kritischen Umgang mit den Konventionen historischen Erzählens bei Simon und nennt in diesem Zusammenhang die Aufdeckung der kreativen Form narrativer Sinnstiftung. Allerdings scheint Schreckenberg - obwohl er in seiner Arbeit die historische Sinnstiftung in Les Géorgiques analysiert! - den aktuellen, auch narratologischen Diskurs 473 zeichnen sich einerseits durch die metahistoriographische Problematisierung von epistemologischen und methodischen Fragen der Historiographie sowie andererseits durch die metafiktionale Reflexion über die imaginative Rekonstruktion von Geschichte und damit über die eigene Fiktion aus. über neue Entwicklungen im historischen Roman (v.a. die Studien A. Nünnings) nicht rezipiert zu haben, so dass ihm die eigentliche metafiktionale und metahistoriographische Implikation des Textes verborgen bleiben muss (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 41). Das gleiche gilt für S. Kleinert, die den Gegenstandsbereich der historiographic metafiction fälschlich auf die Reflexion vor allem von epistemologischen und psychologischen Problemen der Erinnerung beschränkt (S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historiographique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 138.). 475 7 Zusammenfassung: eine Typologie der Metafiktion im Werk Claude Simons Am Anfang der vorliegenden Arbeit stand die Frage nach der Art und Weise, wie sich Simon in seinem Werk kritisch einerseits mit der insbesondere vom Realismus postulierten Referenz der Literatur auf die außertextuelle Wirklichkeit und andererseits mit ihren besonderen Repräsentationsmöglichkeiten auseinandersetzt. Die Mikroanalysen der drei ausgewählten Romane haben gezeigt, dass sein Werk in hohem Maße durch die metafiktionale und metanarrative Reflexion der eigenen Referenzfunktion sowie der eigenen fiktional-narrativen Textkonstitutionsverfahren geprägt ist; diese autoreferentielle Beschäftigung mit Aspekten, die mit dem besonderen Verhältnis von Text und ‚Welt’ zusammenhängen, ist - dies ist das Fazit der vorangehenden Kapitel - eine der wichtigsten Konstanten in seinem literarischen Schaffen. Verleiht diese stets präsente Thematik seinem Gesamtwerk auch einen relativ homogenen Anstrich, so lassen sich doch auf der Ebene der einzelnen Texte ganz unterschiedliche Schwerpunktsetzungen unterscheiden. Unser frühester Text, Simons La Route des Flandres von 1960, steht noch ganz unter dem Einfluss der phänomenologischen Philosophie M. Merleau-Pontys und reflektiert kritisch die Möglichkeit einer erinnernden Repräsentation einst wahrgenommener Wirklichkeit. Zugleich finden sich hier die ersten Hinweise auf den fundamentalen Zweifel an der Referenz der Literatur auf eine äußere, vergangene, Realität. Simons skeptische Haltung gegenüber dem naiven Glauben an die Referenzfunktion der Kunst und an ihre Fähigkeit zur ‚totalen’ Repräsentation von Wirklichkeit manifestiert sich auch in seinem poetischen Projekt einer erinnernden Konstruktion vergangener Erfahrungen: die wiederholt in seinen Texten formulierte These von der Fiktionalität menschlicher Erinnerung steht dabei im Einklang mit aktuellen psychologischen Gedächtnis- und Wahrnehmungstheorien der menschlichen Imaginationskraft, welche die Unschärfen einer Grenzziehung zwischen ‚Fakt’ und ‚Vorstellung’ unterstreichen. Auch der nächste von uns untersuchte Roman, Triptyque aus dem Jahr 1973, zeigt sich beeinflusst durch zeitgenössische theoretische Fragestellungen wie insbesondere J. Ricardous Überlegungen zu einer skripturalistischen Texttheorie. In den Fokus der autoreflexiven Kritik geraten nun Aspekte, die mit den spezifischen Repräsentationsmöglichkeiten von so unterschiedlichen Medien wie der Literatur, der bildenden Kunst oder der Cineastik zusammenhängen. Auch hier nimmt Simon einen repräsentationsskeptischen Standpunkt ein, der poetisch in der Dekonstruktion der traditionellen histoire gipfelt: die mehrfachen metaleptischen Verletzungen 476 ontologischer Grenzen innerhalb der Fiktion verwischen die scheinbar klaren Unterschiede zwischen innerfiktionaler ‚Realität’ und ‚Irrealität’; der Text erzählt nicht länger eine kohärente, in sich konsistente Geschichte, sondern entwertet diese durch auffällige Banalität sowie durch die elliptische Aussparung zentraler Ereignisse. Zugleich erfährt auf der Ebene des discours auch das Erzählen massive Eingriffe durch die Abwesenheit einer anthropomorphen Erzählinstanz sowie durch multiple Anachronien und Fragmentierungen. Der chronologisch letzte Roman unseres Textkorpus, Les Géorgiques aus dem Jahr 1981, knüpft in mehrfacher Hinsicht an die zwanzig Jahre ältere Route des Flandres an. Die Kontinuität von Simons Poetik zeigt sich zwar am deutlichsten in der Rückkehr des berühmten Leitmotivs „Comment savoir? “, doch finden sich auch im Hinblick auf die Themenstruktur Parallelen: Erneut steht die Frage nach einer möglichen sprachlichen Repräsentation vergangener Wirklichkeit im Mittelpunkt der poetischen Reflexion, doch wird dieses Thema nun nicht mehr auf der Ebene der individuellen Erinnerung früherer Wahrnehmungen verhandelt, sondern auf der des kollektiven Gedächtnisses und seiner spezifischen Speichermöglichkeiten. In seinem Text untersucht Simon insbesondere die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von narrativ-faktualen und narrativ-fiktionalen Repräsentationen von Wirklichkeit in Form historiographischer bzw. auto-/ biographischer Texte und historischer Romane. Mit diesen Themen schreibt sich Les Géorgiques ein in die innerhalb der Geschichtstheorie immer noch aktuelle Diskussion über die ‚Fiktionalität’ bzw. ‚Narrativität’ des historiographischen Diskurses. Simon vertritt in diesem Kontext die Ansicht, dass sich Texte - fiktionale oder faktuale - nur begrenzt auf eine außertextuelle Wirklichkeit beziehen und diese kaum adäquat repräsentieren können. Am Beispiel verschiedener ‚Historikerfiguren’ inszeniert Simon in Les Géorgiques die Aporien einer jeden historiographischen Wirklichkeitskonstitution; diese haben insbesondere in der problematischen Quellenlage sowie in der unvermeidlichen Subjektivität eines jeden Historikers ihren Ursprung. Doch wird zugleich auch der historiographische Diskurs selbst sowohl in seinen faktualen als auch in seinen fiktionalen Ausprägungen in Les Géorgiques dekonstruiert: scheinbar faktuale Texte offenbaren ihren fiktionalen Status oder präsentieren sich als ein andere Fiktionen aufnehmendes Medium. Wie schon in La Route des Flandres entwirft Simon auch in Les Géorgiques ein Gegenmodell historischen Erzählens, das die imaginative ‚Auffüllung’ der Lücken in der historischen Überlieferung zulässt und zugleich die eigenen Repräsentationsformen in Frage stellt. Diese fundamentale Skepsis gegenüber dem naiven Referenzanspruch der Literatur und gegenüber ihren spezifischen Möglichkeiten zur Wirklichkeitsrepräsentation, die nicht nur unsere Texte sondern sein Werk als 477 Ganzes wie ein roter Faden durchzieht, wird von Simon schon früh metapoetologisch formuliert: „Ce que l’on constitue c’est un texte et ce texte ne correspond qu’à une seule chose : à ce qui se passe dans l’écrivain au moment où il écrit ; on ne décrit pas des choses qui préexistent à l’écriture mais ce qui se passe au prise [sic] de l’écriture.“ 1 Die hier vernehmbare Absage an die Referenz des Textes auf eine äußere Wirklichkeit mag pointiert erscheinen, sie prägt aber ebenso Simons Werk wie sein Ringen um die adäquate Repräsentation dieser inneren Welt im Moment des Schreibens. In diesem Kontext präfiguriert der als Art poétique fungierende Anfang seines frühen Romans Le vent (1957) bereits die erkenntnisskeptische und repräsentationskritische Poetik seiner späteren Texte: […] n’ayant eu [le notaire] des événements […], comme chacun, comme leurs propres héros, leurs propres acteurs, que cette connaissance fragmentaire, incomplète, faite d’une addition de brèves images, elles-mêmes incomplètement appréhendées par la vision, de paroles, elles-mêmes mal saisies, de sensations, elles-mêmes mal définies, et tout cela vague, plein de trous, de vides, auxquels l’imagination et une approximative logique s’efforçaient de remédier par une suite de hasardeuses déductions - hasardeuses mais non pas forcément fausses, car ou tout n’est que hasard et alors les mille et une versions, les mille et un visages d’une histoire sont aussi ou plutôt sont, constituent cette histoire, puisque telle elle est, fut, reste dans la conscience de ceux qui la vécurent, la souffrirent, l’endurèrent, s’en amusèrent, ou bien la réalité est douée d’une vie propre, superbe, indépendante de nos perceptions et par conséquent de notre connaissance et surtout de notre appétit de logique - et alors essayer de la trouver, de la découvrir, de la débusquer, peut-être est-ce aussi vain, aussi décevant que ces jeux d’enfants, ces poupées gigognes d’Europe Centrale emboîtées les unes dans les autres, chacune contenant, révélant une plus petite, jusqu’à quelque chose d’infime, de minuscule, insignifiant : rien du tout ; et maintenant, maintenant que tout est fini tenter de rapporter, de reconstituer ce qui s’est passé, c’est un peu comme si on essayait de recoller les débris dispersés, incomplets, d’un miroir, s’efforçant maladroitement de les réajuster, n’obtenant qu’un résultat incohérent, dérisoire, idiot, où peut-être seul notre esprit, ou plutôt notre orgeuil, nous enjoint sous peine de folie et en dépit de toute évidence de trouver à tout prix une suite logique de causes et d’effets là où tout ce que la raison parvient à voir, c’est cette errance […] (V, 9f.) In einer Annäherung an radikalkonstruktivistische Wirklichkeitskonzepte begreift Simon hier ‚Realität’ als nur durch individuelle Wahrnehmungen beschreibbar; die Kenntnis der Vergangenheit - hier: „l’histoire“ - beschränkt sich auf Bruchstücke früherer Erfahrungen, die wegen der Unvollkommenheit unserer Sinne fragmentarisch bleiben müssen und zudem im Laufe des Erinnerungsprozesses um Imaginäres ergänzt werden. Die eigentliche Realität bleibt nach Simons Auffassung unabhängig von unse- 1 C. Simon: „Interview [Bettina Knapp].“ (1969), S. 182. 478 ren Wahrnehmungen; sie kann nicht durch die Sinne erfasst oder nach Maßstäben der Logik beschrieben werden. Ebensowenig wie eine vollkommene referentielle Relation zwischen unseren Sinneswahrnehmungen und der Wirklichkeit besteht, lässt sich diese auch nicht adäquat - sprachlich - repräsentieren, da sich die dispersen Fragmente niemals in einen kausal-logischen, narrativen, Zusammenhang bringen lassen. Unsere Textanalysen haben gezeigt, dass Simon sich in seinem Werk immer wieder neu mit den Problemen der literarischen Referenz und der fiktional-narrativen Wirklichkeitsrepräsentation auseinandersetzt. So thematisieren einerseits die vielfältigen metafiktionalen Kommentare den problematischen Bezug seiner Texte auf eine äußere Realität und legen den Anteil des Fiktiven bzw. des Fiktionalen an der scheinbar realistischen Abbildung von Wirklichkeit offen. Andererseits reflektieren seine Texte in Form von metanarrativen Kommentaren nicht nur das eigene Erzählen, sondern auch die Verfahren narrativ-fiktionaler Wirklichkeitskonstruktion insgesamt und entwerfen darüber hinaus eine neue Poetik des historischen Romans. Die wichtigsten in seinen Texten nachgewiesenen metafiktionalen Erzählstrategien lassen sich nun wie folgt nach ihrem Erscheinungsort und ihrer Vermittlungsform kategorisieren und typologisieren: Sie finden sich einerseits auf der Ebene der erzählten Geschichte bzw. des erzählerischen Diskurses und können andererseits explizit in Form zitierfähiger Kommentare von Figuren und Erzählern sowie implizit als Vertextungsstrategien beschrieben werden. 479 Abbildung 21: Typologie der Metafiktion in Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques Die Graphik bietet einen Überblick über die Varianten metafiktionalen Erzählens in den untersuchten Texten Claude Simons; ‚Metafiktion’ wird hier im Einklang mit dem eingangs neu entwickelten, narratologischen Modell metafiktionalen Erzählens begriffen als Kommentar zur Fiktion einerseits auf der Ebene der erzählten Geschichte und andererseits auf der Ebene der narrativen Vermittlung. Die metafiktionalen Diskurse zielen auf konkrete narrative Analysekategorien; zu diesen zählen im Falle der Metafiktivität die Kategorien der fiktiven Personen, Orte, Ereignisse und Zeit sowie die der Wahrscheinlichkeit und der Struktur der Geschichte. Im Hinblick auf das Vorliegen von Metafiktionalität sind die Kategorien des Erzählers und der Textsorte von denen der Diskursstruktur und des jeweiligen Repräsentationstyps zu unterscheiden. Im Folgenden sollen überblicksartig die wichtigsten Ergebnisse unserer Textanalysen zusammengefasst und der jeweilige Befund der Metafiktion in den drei Romanen vergleichend gegenübergestellt werden. Eine wichtige, über die Jahre seines literarischen Schaffens unverändert bleibende, Konstante in Simons Erzählen ist die explizit metafiktive Offenlegung des imaginativen Anteils bei jeder Rekonstitution von (vergangener) Wirklichkeit. Das durch die Fiktionalität der Erinnerung bedingte Problem der Nicht-Referentialisierbarkeit von Personen, Ereignissen oder auch • Übersemantisierungen • Mythisierungen • Metalepsen • Paradoxe Narrativisierung von Deskriptionen • Dekonstruktion der Geschichte (Banalität, hypertrophe Deskriptionen, Ellipsen) • Fremddetermination (Motive, mots-carrefour) • Symbolisierungen • Übersemantisierungen Implizit (Unwahrscheinlichkeit, Struktur der Geschichte) • Imaginationen • Imaginationen • Modalisationen • Konstruktion von ‚Realität‘ durch die bildende Kunst (Cineastik, Malerei, Photographie) • Imaginationen, Träume • Bewusstseinstrübungen • Lichtverhältnisse • Konstruktion von ‚Realität‘ durch Sprache und Malerei • ‚Nicht-Wissen‘ Explizit (Personen, Raum, Zeit, Ereignisse) G T RF • Dekonstruktion des Erzählerprinzips • Fiktionale Intertextualität • Dekonstruktion des (realistisch-) historischen Erzählens (‚Unbestimmtheitsstellen‘, Anachronien) • Dekonstruktion des Erzählerprinzips • Dekonstruktion des (linearen) Erzählens durch Fragmentarisierungen und Anachronien • Dekonstruktion des Erzählerprinzips • Parodierendes Spiel mit Gattungskonventionen • Fiktionale Intertextualität • Fiktionale Intermedialität Implizit (Struktur des Diskurses, narrativ-fiktionale/ narrativ-faktuale Repräsentation) • Roman des Kavalleristen • Unreliability der Erzählerfiguren • Camera-eye-Perspektive • Erzählen statt ‚Erinnern‘ • Dialogische Konstruktion von ‚Realität‘ aus multiplen Diskursen Explizit (Erzähler, Textsorte) G T RF Metafiktivität = Diskurs über Fiktion auf der Ebene der erzählten Geschichte Metafiktionalität = Diskurs über Fiktion auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung Text Vermittlung Text Vermittlung 480 Orten wird zunächst in La Route des Flandres am Beispiel der individuellen Erinnerung früherer Wahrnehmungen vorgeführt, in Triptyque schließlich mit dem Thema der medialen Repräsentation von Realität verknüpft und zuletzt in Les Géorgiques im Zusammenhang mit kollektiven Formen des Gedächtnisses wie insbesondere der Historiographie behandelt. In La Route des Flandres wird darüber hinaus in Form von expliziten, metafiktiven Kommentaren die begrenzte bzw. problematische Wahrnehmung der äußeren Realität durch die Sinne diskutiert: Der Text vertritt die These, dass jeder Versuch, retrospektiv Klarheit über die eigene Vergangenheit zu gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei; nicht nur ist die einstige Wahrnehmung lückenhaft und z.B. durch Müdigkeit, Alkoholgenuss oder emotionale Schockzustände negativ beeinflusst, auch das Gedächtnis ist ein unvollkommenes Speicherinstrument und anfällig für Vergessen und imaginative Ausschmückungen. In La Route des Flandres werden in diesem Kontext zum einen die Sinneswahrnehmungen problematisiert und die Fiktivität der Erinnerungsbilder enthüllt, zum anderen wird vom Protagonisten Georges ein explizit metafiktiver Diskurs über die Grenzen seiner Erkenntnis bzw. seines ‚Wissens’ geführt. Er versucht wiederholt, Ereignisse, von denen er sicher weiß, dass sie stattgefunden haben, von jenen abzugrenzen, dessen ontologischer Status ungeklärt bleibt. Dabei muss er auch feststellen, dass weder Schriftnoch Bildzeichen in der Lage sind, ein adäquates, objektives Bild der einstigen Wirklichkeit zu zeichnen, sondern dass sie Realität vielmehr konstruieren bzw. fiktionalisieren. Dieser metapoetische Diskurs über die problematische Repräsentation des Realen durch Sprache, Schrift und Kunst verbindet La Route des Flandres mit dem späteren Roman Triptyque, in welchem noch umfassender als in dem Vorgängertext die verschiedenen Repräsentationsformen von Wirklichkeit kritisch beleuchtet werden. Der Text zieht das Fazit, dass keine Kunstform, nicht einmal scheinbar ‚realistische’ wie Photographie oder Cineastik, imstande sind, ein authentisches Abbild der Realität zu liefern. Stattdessen wird das ‚Reale’ erst im Verlauf des jeweiligen Schaffensprozesses konstruiert und auf diese Weise immer ‚nur’ ein Modell präexistenter Wirklichkeit entworfen. Im Gegensatz zu den explizit-metafiktiven Thematisierungen von Fiktivität inszenieren die implizit-metafiktiven Varianten die Unwahrscheinlichkeit der erzählten Geschichte und lassen ihre Struktur auffällig werden; auf diese Weise wird der fiktive Status der erzählten Wirklichkeit enthüllt. Typische Angriffe auf die Wahrscheinlichkeit der Geschichte sind sowohl in La Route des Flandres als auch in Les Géorgiques die auffälligen Übersemantisierungen auf der Figuren-, Orts- und Ereignisebene, wenn z.B. das Ardennendorf eine zusätzliche Bedeutung als verwunschener, märchenhafter Ort erhält oder das Winterlager in Les Géorgiques im Sinne eines Opferrituals auf den bevorstehenden Tod der Soldaten im Flanderndebakel an- 481 spielt. Diese ‚Überladung’ der Geschichte mit zusätzlicher, unwahrscheinlicher und z.T. sogar phantastischer Bedeutung enthüllt indirekt in Form eines metafiktiven ‚showing’ ihre Fiktivität im Sinne ihrer Nicht-Referenz auf wirklich Stattgefundenes. Ferner finden sich in La Route des Flandres typischerweise Symbolisierungen auf der Figurenebene, wenn z.B. die verschiedenen Frauenfiguren die Pole idealisierter Weiblichkeit im Sinne von Unschuld und Lasterhaftigkeit verkörpern. Dagegen werden in Les Géorgiques Teile der fiktiven Welt nach mythischen Vorbildern konstruiert und ihr irrealer Status innerhalb der Fiktion implizit metafiktiv thematisch: Während die Biographie des Revolutionsgenerals L.S.M. den antiken Orpheus-Mythos zitiert, spielt die Flucht seines Bruders auf klassische Heldenepen an. Diese Rekurse auf Mythos und Epos sollen weniger bestehende Parallelen der ‚realen’ Biographie mit den fiktiven Vorbildern unterstreichen, als vielmehr die biographischen Fragmente in einen logischen Zusammenhang bringen und ein Erklärungsmodell für das kaum mehr retrospektiv zu rekonstruierende Leben anbieten. In Triptyque hingegen wird die Nicht-Referenz der Geschichte auf der Ebene ihrer Struktur greifbar, insbesondere wenn die multiplen Metalepsen, die eine unauflösbare Kontamination der Ebenen innerfiktional-real und innerfiktional-fiktiv bedingen, die erzählte Welt zuletzt als Gegenstand verschiedener medialer Repräsentationsformen wie Film, Photographie, Gemälde, Werbebild oder Postkarte enthüllen. Zu diesem Eindruck fundamentaler Irrealität tragen auch die paradoxen Beschreibungen von Bildern bei: so werden statische Szenen plötzlich narrativisiert oder aber Teile der Handlung verwandeln sich beinahe unmerklich in die ‚unbelebte’ Szene eines Gemäldes. Weitere Angriffe auf die Struktur der Geschichte in Triptyque, die ebenfalls metafiktiv ihre Fiktivität offenlegen, sind die Banalität der erzählten Ereignisse, die umfangreichen, handlungsverdrängenden Beschreibungen von scheinbar unbedeutenden Elementen der histoire sowie die elliptische Verschleierung zentraler Handlungsteile wie z.B. der Tod des kleinen Mädchens. Doch besitzen auch die auffälligen Fremddeterminationen der Geschichte ein implizit-metafiktives Potential, wenn Motive und die für den Nouveau Roman typischen mots-carrefour eine Verbindung zwischen dispersen Elementen der Handlung herstellen und auf diese Weise eine an der Textoberfläche verborgene Bedeutung generieren. Die Geschichte erscheint durch die beschriebenen, metafiktiv fungierenden Phänomene auf der Handlungsebene als fremddeterminiert; primäres Ziel ist nicht die Abbildung einer präexistenten Wirklichkeit, sondern vielmehr die Erschaffung einer textinternen, fiktiven Realität. Neben den beschriebenen Verfahren, welche explizit oder implizit metafiktiv auf die Fiktivität der erzählten Welt zielen, finden sich in den drei 482 von uns untersuchten Texten auch verschiedene metafiktionale Verfahren, welche die Fiktionalität des narrativen Diskurses offen legen und die ebenfalls nach ihrer Vermittlungsform unterschieden werden können: in ihrer expliziten Form zielen sie auf den Erzähler und die jeweilige Textsorte und in ihrer impliziten Form auf die Struktur des narrativen Diskurses sowie auf seine spezifischen Repräsentationsverfahren. Gemeinsam ist den beiden Varianten der Metafiktion jedoch, dass sie den fingiert-faktualen narrativen Diskurs dekonstruieren. So wird in La Route des Flandres der vom Text scheinbar präsentierte, den Bewusstseinsstrom des Protagonisten transportierende, autonome innere Monolog als relativ konventioneller Erzählvorgang enthüllt: Georges erzählt eher, als dass er sich unvermittelt erinnert. Doch ist es nicht allein die Erzählinstanz Georges, welche die fiktive Welt des Romans narrativ vermittelt, sondern innerfiktionale Realität wird in diesem Text oftmals dialogisch, im Wechsel aus Rede und Gegenrede, konstruiert; diese widersprechen einander und lassen die einstige Wirklichkeit zuletzt nicht mehr greifbar werden. In Triptyque wiederum ist die anthropomorphe Erzählerfigur vollends verschwunden, die fiktive Wirklichkeit scheint durch ein Kameraauge vermittelt zu sein, das allein die äußeren Vorgänge aufzeichnet, jedoch über keine Kenntnis von der Innenwelt der Figuren verfügt. In besonderer Weise spielt der jüngste Roman unseres Korpus, Les Géorgiques, mit der eigenen Zugehörigkeit zur Gattung des historischen Romans und reflektiert kunstvoll den ambivalenten Status dieser Texte zwischen faktual und fiktional. So wird der auf den ersten Blick authentische, nicht schriftlich fixierte Bericht des Kavalleristen über seine Erlebnisse an der flandrischen Front im Zweiten Weltkrieg plötzlich zu einem roman, den er bereits vor einiger Zeit über seine traumatischen Erfahrungen verfasst hat und der einige Parallelen zu Simons realem Text La Route des Flandres aufweist. Doch auch die anderen Erzählerfiguren, die jeweils verschiedene Typen des Historikers verkörpern, oszillieren mit ihrem Bericht zwischen Fakt und Fiktion und verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus wird in allen von uns untersuchten Romanen das realistische Erzählerprinzip auf implizit metafiktionale Weise dekonstruiert und seine besondere Fiktionalität offengelegt. So vervielfältigen sich in La Route des Flandres die Erzählinstanzen, bis zuletzt die Frage nach der innerfiktionalen ‚realen’ Existenz des jeweiligen Erzählers nicht mehr zu beantworten ist. Auch in Triptyque wird das realistische Konzept des auktorialen Erzählers, der von einer übergeordneten Warte aus seine Figuren beobachtet und ihr Tun kommentiert, demontiert, wenn die Handlung scheinbar von einem unbelebten Camera-eye von außen ‚aufgezeichnet’ wird. Hingegen stehen in Les Géorgiques die verschiedenen Facetten des historischen Erzählers im Mittelpunkt der Kritik: insbesondere sein Anspruch, vergan- 483 gene Wirklichkeit objektiv und authentisch zu repräsentieren, wird als unerfüllbar entlarvt. Stattdessen sehen sich die jeweiligen ‚Typen’ des Historikers in diesem Text stets mit den Aporien der Vergangenheitsrepräsentation konfrontiert und scheitern zuletzt mit ihrem Projekt einer Abbildung der historischen Realität im Sinne von Rankes ‚wie es gewesen’. Neben dem Erzählerprinzip wird in Triptyque und Les Géorgiques darüber hinaus auch das lineare, kausal-logische Erzählen der (fingiert-)faktualen Textsorten mit implizit metafiktionalem Impetus dekonstruiert. In dem älteren Text sind es insbesondere die massiven Fragmentierungen des discours und die wiederholten Anachronien, welche die erzählte Geschichte kaum mehr in einen logischen Zusammenhang bringen lassen. Auch in Les Géorgiques finden sich verschiedene Anachronien des Erzählens, die ebenfalls kaum auflösbar sind, doch wird die Kausalität und Logik des fingiertfaktualen Erzählens noch stärker durch mehrere Unbestimmtheitsstellen im discours beeinträchtigt. Diese paradoxen Überschreitungen der Grenze zwischen innerfiktionaler Realität und innerfiktionaler Fiktion - ein Beispiel ist die ‚Belebung’ der Büste des Generals L.S.M. - lassen sich erzähllogisch nicht auflösen und sind ein typisches Stilmittel avantgardistischer fiktionaler Texte. Darüber hinaus fungieren in La Route des Flandres und in Les Géorgiques auch der intertextuelle und intermediale Bezug auf andere (fiktionale) Texte und Medien als implizite Metafiktion. Diese verdeckten Varianten legen die Konstruktionsweise des Textes oder seiner Teile nach dem Vorbild fremder fiktionaler Gattungen oder Medien offen; so finden sich Themen, Motive und weitere Handlungselemente aus Märchen, Mythos oder Schauerroman bzw. aus anderen Medien wie der Malerei, dem Film oder der Oper. Zentral für diesen Typus der Metafiktion ist, dass ein fremder fiktionaler Text oder ein anderes fiktionales Medium als Modell für die jeweilige Handlung fungiert und auf diese Weise ihre Fiktionalität implizit metafiktional offenlegt. Nicht zuletzt wird insbesondere in La Route des Flandres parodierend mit den Gattungskonventionen fiktionaler Erzähltexte gespielt, wenn die typische Kommunikationssituation dieser Textsorte auf paradoxe Weise vervielfacht und zugleich die narrative Vermitteltheit des zunächst scheinbar unvermittelt präsentierten Gedächtnisstroms enthüllt wird. Zentral für Simons Poetik ist demnach - dies hat der Überblick über die Varianten der Metafiktion in den von uns untersuchten Texten eindrucksvoll gezeigt - die autoreferentielle Auseinandersetzung mit den grundlegenden literaturtheoretischen Fragen der literarischen Referenz und der fiktional-narrativen Repräsentation: Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen dem literarischen Kunstwerk und der äußeren Realität? Wie repräsentiert das fiktionale Erzählen diese Wirklichkeit und wie können die narrativen Textkonstitutionsverfahren durch die spezifischen Repräsenta- 484 tionsmöglichkeiten anderer Kunstformen ergänzt werden? Dies sind die zentralen Themen, die Claude Simon in seinem Werk metafiktional und metanarrativ exploriert und auf die er zeitlebens mit seiner Poetik eine Antwort gesucht hat: À un critique qui lui demande quelle phrase il aimerait que l’on retienne de lui, Simon répond : « Peut-être celle qui vient à la fin de La Route des Flandres: „Comment était-ce ? Comment savoir ? “ […] On pourrait la mettre en exergue à tous mes livres. C’est en partie pour répondre à cette question que j’écris. » 2 2 Interview mit C. Simon: „‘La guerre est toujours là.’ [André Clavel].“ (1989), S. 87, zitiert nach A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. X. 485 8 Bibliographie 8.1 Texte von Claude Simon La Corde raide. Paris: Sagittaire, 1947. Le Vent. Tentative de restitution d’un rétable baroque. Paris: Minuit, 1957. L’Herbe. Paris: Minuit, 1958. (= Collection « double » ; 9) La Route des Flandres. Paris: Minuit, 1960. (= Collection « double » ; 8) Le Palace. Paris: Minuit, 1962. La Bataille de Pharsale. Paris: Minuit, 1969. Triptyque. Paris: Minuit, 1973. Les Géorgiques. Paris: Minuit, 1981. L’Acacia. Paris: Minuit, 1989. Le Jardin des Plantes. Paris: Minuit, 1997. Le Tramway. Paris: Minuit, 2001. Œuvres. Éd. établie par Alastair B. Duncan, avec la collaboration de Jean H. Duffy. Paris: Gallimard, 2006. 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Wolf) .......... 77 Abbildung 6: Formen der impliziten Metafiktion (nach W. Wolf) ......... 85 Abbildung 7: Sprachhandlungsstruktur faktualer und fiktionaler Schrift-Erzähl-Texte ............................................................. 113 Abbildung 8: Definitionen und Typologisierungen von ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ (nach F. Zipfel) ..................................... 117 Abbildung 9: Fiktionssignale (nach F. Zipfel) .......................................... 124 Abbildung 10: Narratologisches Modell der Metafiktivität und Metafiktionalität ................................................................... 134 Abbildung 11: Übersicht über die Erzählebenen in La Route des Flandres und die dort jeweils auftretenden Erzählertypen........................................................................ 226 Abbildung 12: Spiegelung des Erzählakts nach L. Dällenbach ............... 233 Abbildung 13: Der narrative Akt in La Route des Flandres ........................ 234 Abbildung 14: Intermediale Vermittlung der Fiktionen in Triptyque ..... 256 Abbildung 15: Reziproke Einbettung der Fiktionen in Triptyque ............ 263 Abbildung 16: Multiple Metalepsen in Triptyque (S. 125-132) ................. 270 Abbildung 17: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Côte d’Azur-Fiktion’ ........................................................... 301 Abbildung 18: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Stadt-Fiktion’........................................................................ 302 Abbildung 19: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Dorf-Fiktion’......................................................................... 303 Abbildung 20: Zeichnerische Umsetzung der geometrischen Aufgabe in Triptyque ............................................................ 314 Abbildung 21: Typologie der Metafiktion in Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques .............. 479 512 Sachregister (Aufgeführt sind vor allem Begriffe, deren Fundstellen sich nicht aus dem Inhaltsverzeichnis ergeben) Apokalypse 216-17, 434 Argumentation 80, 84, 130 Authentizitätsfiktion Siehe Illusion: Authentizitätsillusion Autobiographie 90, 121, 132, 349, 471 Autofiktion 115 fingierte Autobiographie 53, 115 Autokritik 54, 57, 86, 224, 323 Autoreferentialität 37, 85-87, 94, 471 Autoreferenz 21 Selbstreferentialität 38 Selbstreferenz 37 Autoreflexivität 40 Selbstreflexivität 39, 88 autoreprésentation 67 Bewusstseinsstrom Siehe Gedächtnisstrom Biographie 471 fiktionale Biographie 53, 116 Chronologie 119, 386, 455, 457, 463-65 Anachronie 281 Analepse 119, 281, 463-64 Prolepse 119, 288, 294, 335, 429, 463 Depersonalisation 229 Deskription 80, 84, 133, 259, 267, 280, 282, 286, 319, 324, 471 Animation 160 description créatrice 85 Ekphrasis 45, 468-70 fiktionsgenerierende D. 273, 276, 279, 293, 326, 470 hypertrophe D. 284, 325 Narrativisierung 132, 160, 460, 470 Digressionen 80, 133 Dissoziation 91, 164, 166, 229, 242 effet de réel 262, 419 Ekphrasis Siehe Deskription Ellipsen 133 Epistemologie 17, 22, 90-91, 391, 472 Erinnerung 90, 137-38, 143-45, 165, 185, 221, 243, 351, 357, 387- 90, 402-3, 405, 415, 418, 445, 459-62, 465, 467 Erinnerungsbild 157, 163 Erinnerungsort 358, 366, 372, 376-78, 380, 400, 408 Erinnerungsschock 393 Erkenntnisskepsis 168, 187-88, 241, 280, 331, 391 Erzähler 133 anonymer E. 225, 227 auktorialer E. 220, 227, 283 autobiographischer E. 225 Camera-eye-Perspektive 71, 83, 133, 248, 253, 283, 325 Ich-Erzähler 219-21 peripherer E. 221 personaler E. 225 Polyphonie der Erzählerstimmen 224 quasi-autobiographischer E. 222 unreliable narrator 83, 91, 98, 101, 133 Familienort Siehe Erinnerung: Erinnerungsort Fortschrittsoptimismus 339 513 Fortschrittsskepsis 336, 342 Fragmentierung 15, 72, 245, 364, 384, 458-59, 467-69 Gedächtnis 90 Gedächtnisbild 155, 196, 209 Gedächtnisraum 445 individuelles G. 403-4, 407-8 kollektives G. 162, 184, 377, 407 kulturelles G. 152, 404 Gedächtnisort Siehe Erinnerung: Erinnerungsort Gedächtnisstrom 178, 184, 186, 188, 204, 208, 218-20, 227, 233- 36, 242, 445 Gedächtnistheorie 88-89 générateurs 29, 72, 79, 93, 161, 279, 318, 321, 326 Generationenort Siehe Erinnerung: Erinnerungsort Geschichtsskepsis Siehe Fortschrittsskepsis Geschichtstheorie 391, 395, 397, 471 gothic novel 429 Halluzination 232, 461 Historiographie 87-90, 442, 444- 46, 460-62, 467, 469, 471-72 historischer Roman 89, 442, 469 Hybridisierung 154, 205, 276 Hypertrophie des Erzählens 133, 218, 225 Illusion ästhetische I. 25, 57, 59, 61 Authentizitätsillusion 382, 419 Illusionsstörung 59, 86 Objektivitätsillusion 460 Imagination 89-90, 92, 131, 143, 161, 167-68, 184, 188-99, 201, 203, 208-11, 215, 221, 224, 238- 41, 245, 277-78, 290, 306, 318, 351, 365, 369-70, 373, 380-82, 386-87, 393, 400, 408, 413-29, 441, 460-62, 467-72 innerer Monolog 122, 219 autonomer innerer M. 17, 115, 132, 135, 225, 234, 236 Intermedialität 45, 132, 179, 184, 185, 201, 218, 255, 270, 306-7, 311, 318, 326, 369, 399, 400 Musikalisierung 45 Intertextualität 45, 80, 185, 194, 202, 218, 224, 243, 380-81, 385, 398, 436, 438, 441-42, 445, 464 metafiktionale I. 79 Intratextualität 444, 446 klassische Tragödie 218 Konstruktivismus 88 radikaler K. 56 Leerstellen 289 linguistic turn 23, 90, 347, 349 Märchen 81, 212-13, 215, 218, 242 Memoiren 381-84, 390, 398, 407 Metadiskurs 46, 60 meta-epistemologischer Roman 138 Metafiktion 45-46, 85, 93, 95 anti-mimetische M. 93 autobiographische M. 90 biographische M. 92 historiographische M. 472 metafictional turn 23 Metahistoriographie 20 Metalepse 18, 72, 85, 96, 132, 161, 245, 252, 264-65, 269-72, 280, 283, 287, 289, 292-93, 305, 310- 11, 317, 325, 359, 361, 369, 416, 444, 460, 467-68 Möbius-Band-ähnliche Struktur 82, 132 narrativer Kurzschluss 81 Meta-Literatur 46 Metamedialität 45 Metanarration 45-46, 85, 93, 185, 218-19, 224, 232, 242, 269, 359, 470-71 Metapoetik 299, 443, 471 Metasprache 45-46, 55, 60, 66, 93, 169, 211, 361 Metatextualität 45-46, 66 Mikrohistorie 384 Mimesis 179, 262, 343, 346, 365, 393, 403, 412, 471 514 mise en abyme 44, 66, 79, 85, 178, 185, 218, 232, 235, 341 Modalisation 220, 222, 362, 365 Abtönungspartikel 71, 169, 193, 420, 423-28, 458 Moderne 21, 64 moderner Roman 15 mots-carrefour 93, 306, 316, 463 Mythologisierung 213, 215 Mythos 212, 215-18, 242 Ontologie 53, 61, 72, 81, 91-92, 131, 161, 188-89, 203-4, 210, 232, 246, 252-54, 263, 271, 280, 287, 290, 300, 307, 310-11, 391, 416, 444, 467 Palimpsest 307, 309 Parodie 54, 69, 79, 133 participes présents 221, 234, 406 Performanz 394, 415 Phänomenologie 17, 149, 162, 241 Phantastik 195 Poiesis 470 Postmoderne 37, 59, 64-65, 86, 88, 93, 125 postmoderner historischer Roman 88-89 postmoderner Roman 325 Pronomenwechsel 229 Raum-/ Zeitkoordinaten 430 Realismus 70, 92 reflexiver Realismus 149, 162 realistischer Roman 15, 286, 304, 306 Realitätsfiktion 317 Referentialität 61, 77, 94, 176, 351, 471 Nichtreferentialisierbarkeit 102 Referenz 105-9, 172, 178-79, 188, 246, 270, 272, 280, 293, 296, 306, 326, 350, 471 Reflektorfigur 219, 228, 232, 364- 65, 419-20, 439 Repräsentation 90, 160, 171, 176, 179, 183-84, 202, 225, 243, 247, 277, 254-84, 290, 292, 296-311, 316, 325-26, 331, 343, 360, 391- 92, 394-95, 399, 401, 406, 411, 444-45, 462, 468-71 Semantisierung 207, 214, 428, 434- 36, 472 Sinnestäuschung 164-66, 182 Spätmoderne 37, 59, 87 Sprachkritik 170-74, 176 Sprachoptimismus 386, 389, 394 Sprachskepsis 169, 250, 331, 391- 94, 411 Subjektivität 146, 184-85, 349, 352, 391, 402, 442, 459-60, 462, 466- 67, 469, 471 tableau 204, 209 Textraum 399, 445 Traum 131 Überblendungstechnik 309 Übersemantisierung 131 Unbestimmtheitsstellen 133, 289, 300, 459-60 verba cogitandi 220, 227, 234-35 verba dicendi 227, 381 Vergessen 144, 373-76, 403-5 Wahrnehmung 137-38 Zeit Ellipse 119 objektive vs. subjektive Zeit 300 515 Anhang: Gemälde und Nachweise Francis Bacon: Triptych inspired by T.S. Eliot’s Poem Sweeney Agonistes. 1967. Oil and pastel on canvas, each panel 78 x 58 in./ 198 x 147,5 cm. Hirshhorn Museum & Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington, D.C. Gift of the Joseph H. Hirshhorn Foundation, 1972. Photographer: Lee Stalsworth. © The Estate of Francis Bacon / VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Paul Delvaux: Vue de la gare du Quartier Léopold. 1922. Huile sur toile, 125 x 120 cm. © Fond. P. Delvaux S. Idesbald, Belgien / VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Paul Delvaux: Petite place de gare. 1963. Huile sur toile, 110 x 140 cm. © Fond. P. Delvaux S. Idesbald, Belgien / VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Jean Dubuffet: La vie de famille. 1963. Öl auf Leinwand, 150 x 195 cm Musée des Arts Décoratifs, Paris. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Jacques-Louis David: Le Serment du Jeu de Paume à Versailles le 20 juin 1789 (détail d’un dessin préparatoire). Fond. d’architecture de Charles Moreau, Versailles, châteaux de Versailles et de Trianon. © Photo RMN. 516 Francis Bacon: Triptych inspired by T.S. Eliot’s Poem Sweeney Agonistes. 1967. 517 Paul Delvaux: Vue de la gare du Quartier Léopold. 1922. 518 Paul Delvaux: Petite place de gare. 1963. 519 Jean Dubuffet: La vie de famille. 1963. 520 Jacques-Louis David: Le Serment du Jeu de Paume à Versailles le 20 juin 1789 (détail d’un dessin préparatoire).