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Von Frau von Staël zu D.H. Lawrence

2009
978-3-8233-7487-9
Gunter Narr Verlag 
Klaus Lang

Vielfältige Restriktionen und Zwänge dogmatisch-weltanschaulicher, vor allem soziokulturell-statussichernder Provenienz in der englischen Lebenswelt bilden den Problemhorizont, vor dem Autorinnen und Autoren (Frau v. Staël, Charles Dickens, George Eliot, George Gissing, E.M. Forster, D.H. Lawrence) das Ringen des Individuums um Befreiung und Selbst(er)findung thematisieren und inszenieren. Die Landschaft Italiens im kulturhistorischen Kontext von 1807 bis 1920 aus Englands Perspektive in hohem Maße Raum von Alterität, erweist sich als auffallend effizientes Medium zur Darstellung intrapsychischer Befindlichkeit sowie zur Aufzeichnung erwünschter bzw. erforderlicher innenweltlichen Veränderungen. Die diachrone Sicht auf literarische Landschaftsbilder zeigt eine Bedeutungsintensivierung des Darstellens und zugleich eine Sinnvertiefung des Dargestellten. Wesentliche Einsichten über das Individuum und Ich sowie wichtige Einblicke in den Entstehungsprozess selbstbestimmter Individualität im Verbund mit Leitlinien zu sinnvertiefender Lebensgestaltung werden als verschlüsselte Botschaften in Subtexten psychologisch plausibel und wirkungsproduktiv effizient in Bildern der Landschaft vermittelt. die Visualisierung innenweltlicher Konfliktszenarien lässt unter der manifesten Textoberfläche auf latenter Sinnebene Bilder des Sehnens und Verlangens, insbesondere die einer Faszination durch das Sinnliche und Wünsche des Begehrens sichtbar werden. Vor dem Hintergrund eines Verlustes an weltanschaulicher Gewissheit treten die bedeutsamen, das 19. und frühe 20. Jahrhundert in Europa kennzeichnenden paradigmatischen Verschiebungen des geistig-kulturellen Koordinatensystems zutage: Sie zeigen einen progressiven Richtungsverlauf weg von Kultur, Gesellschaft, Konformität und Fremdbestimmtheit hin zu Natur, Individuum, personaler Identität und Selbstkonzeption.

Gunter Narr Verlag Tübingen M a n n h e i m e r B e i t r ä g e z u r S p r a c h - u n d L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t Klaus Lang Von Frau von Staël zu D. H. Lawrence: Literarische Bilder von Natur- und Kulturlandschaften Italiens und ihre englandkritische Funktionalisierung in repräsentativen Romanen M A NNH E IM E R B E IT R Ä G E Z U R S P R AC H - U ND L IT E R AT U RW I S S E N S C H A F T herausgegeben von CHRISTINE BIERBACH · HANS-PETER ECKER · WERNER KALLMEYER SUSANNE KLEINERT · WILHELM KÜHLMANN · JOCHEN MECKE ULFRIED REICHARDT · MEINHARD WINKGENS Band 75 Umschlaggestaltung: Informationsdesign Bernd Zürker, 67146 Deidesheim; <bernd zuerker>@t-online.de Illustrationen: M.C. Escher „Bond of Union“, 1956 ©2008 The M.C. Escher Company-Holland. All rights reserved. www.mcescher.com Ernst Fries, Küste von Capri mit Blick auf die Faraglioni, 1829/ 30; mit freundl. Genehmigung der Staatl. Kunsthalle Karlsruhe; www.kunsthalle-karlsruhe.de Signet: Motiv vom Hals der Oinochoe des ,Mannheimer Malers‘ (Reissmuseum Mannheim, Mitte des 5. Jh. v. Chr.) Klaus Lang Von Frau von Staël zu D. H. Lawrence: Literarische Bilder von Natur- und Kulturlandschaften Italiens und ihre englandkritische Funktionalisierung in repräsentativen Romanen Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-3169 ISBN 978-3-8233-6487-0 Vorwort Gegenstand, Fragestellung und Zielrichtung der Untersuchung über literarische Bilder von Landschaften Italiens liegen innerhalb des Rahmens der literaturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte am Lehrstuhl Anglistik II der Universität Mannheim. Die Hinwendung des Blicks in einer, real wie übertragen, grenzüberschreitenden Perspektive auf einen räumlich und zeitlich abgesteckten Bereich der Geschichte des europäischen fiktionalen Reisens war in wissenschaftlicher Zielorientierung eine reizvolle Aufgabenstellung, deren Relevanz und Ergiebigkeit im Gang der Untersuchung zunehmend deutlich zu Tage trat. Grund dafür war unter anderem die im Thema verortete Notwendigkeit, durch diachron anzulegende Einzelanalysen einer Blickausweitung auf das geistes- und kulturgeschichtliche Umfeld zu folgen und durch eine interdisziplinär gebotene Herangehensweise gedankliche Fäden aus unterschiedlichen Feldern aufzugreifen, mit dem Analysebefund zu verknüpfen und zu themenbezogenen Aussagen zu bündeln. Mein besonderer Dank gilt an allererster Stelle dem Inhaber des Lehrstuhls Anglistik II der Universität Mannheim, Herrn Prof. Dr. Meinhard Winkgens, dem Betreuer dieser Dissertation, der durch ermutigende Denkanstöße und wertvolle, zielgenaue Hinweise wesentlich dazu beitrug, Anspruchshöhe und Ergebnisorientierung der Untersuchung zu ermöglichen. Darüber hinaus bin ich ihm als Erstgutachter, wie auch Frau Prof. Dr. Annegreth Horatschek, Lehrstuhlinhaberin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, als Zweitgutachterin für die Mühen des bewertenden Lesens zur Erstellung der Gutachten zu großem Dank verpflichtet. Auf ihre wohlwollende Beurteilung ist die Veröffentlichung der Dissertation in der Reihe Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft zurückzuführen. Zu danken habe ich, ohne namentliche Aufgliederung, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der von Prof. Dr. Winkgens geleiteten Oberseminare; ihr nachhaltiges Fachinteresse und ihre engagierten Diskussionsbeiträge waren Anregung und Ansporn zugleich. Hervorzuheben sind das ausgesprochen angenehme und konstruktiv-hilfsbereite Arbeitsklima, das die Atmosphäre am Lehrstuhl Anglistik II im Allgemeinen kennzeichnet, vor allem auch das intellektuelle Anspruchsniveau und die Pflege einer Kultur des gedanklich klaren und begrifflich präzisen Argumentierens. Für die Erstellung der Druckvorlage bedurfte es der kenntnisreichen und versierten Hilfe von Frau Silke Sager. Ohne ihre uneigennützige Bereitschaft, die gewünschte computerielle Formgebung des Gesamttextes zur Drucklegung sicherzustellen, wäre die Veröffentlichung wohl für einige Zeit Wunschprojektion geblieben. Ihr bin ich zu großem Dank verpflich- tet. Die grafische Verbindung von Ernst Fries und M.C. Escher in der Illustration auf dem Bucheinband in kompetenter und überzeugender Weise ist das Verdienst von Herrn Bernd Zürker. Last but not least möchte ich meiner Frau Laura für das Verständnis danken, das sie für die vielen Stunden meiner gedanklichen Alleingänge in selbst auferlegter Zurückgezogenheit aufgebracht hat. Meinen Töchtern, Christiane Lang und Dr. Bettina Lang, sage ich für ihre Bereitschaft zum Korrekturlesen der Druckvorlage herzlichen Dank. Oktober 2008 Klaus Lang Inhaltsverzeichnis Teil I 1 Einführung und theoretische Grundlegung ............................ 15 1.1 Bemerkungen zur Einführung ..........................................................15 1.1.1 Zur Wahl Italiens als Schauplatz fiktionalen Geschehens.....................15 1.1.2 Fiktionale Grenzüberschreitung und fremder Sinnhorizont ................21 1.1.3 Mechanismen der Wahrnehmung und Horizonthaftigkeit des Verstehens ...................................................................................................25 1.1.4 Begründung der Themenstellung.............................................................31 1.2 Konstitutive Elemente des literarischen Landschaftsbildes: Raum, Natur und Landschaft als Bedeutungsträger .....................35 1.2.1 Der Raum als Modus der menschlichen Existenz ..................................35 1.2.2 Das Phänomen der symbolischen Sinnbefrachtung des Raumes.........37 1.2.3 Konventionalisierte Raumwahrnehmung ...............................................41 1.2.4 Die Individualisierung der Wahrnehmung von Raum, Natur und Landschaft ...................................................................................................48 1.2.5 Natur als Gefühls- und Erlebnisraum......................................................52 1.3 Der Raum der Fremde und das Bild des Anderen ........................58 1.3.1 Bild und Image: Raum, Natur und Landschaft aus imagologischer Perspektive ..................................................................................................58 1.3.2 Klischee und Stereotyp: Zur Psychologie erstarrter Landschaftsbilder ............................................................................................................62 1.3.3 Distanz, Kontrast, Polarität: Zur Herausbildung von Identität und Alterität ........................................................................................................66 1.3.4 Das Funktionalisieren von Landschaft: Verbildlichte Außenwelt als Verbildlichung von Innenwelt ............................................................70 1.3.5 Raum, Natur und Landschaft in der Malerei..........................................74 1.3.6 Zur Konstituierung des literarischen Landschaftsbildes.......................78 1.4 Zielsetzung und methodisches Vorgehen ......................................82 1.4.1 Konkretisierung der Fragestellung...........................................................82 1.4.2 Zur Vorgehensweise der Arbeit................................................................84 1.4.3 Themenstellung und literaturwissenschaftlicher Forschungskontext..........................................................................................................88 Teil II 2 Die Entdeckung anderer Sinnkonfigurationen: Reisen in Europa und die Begegnung mit Landschaft ...................................................................................... 93 2.1 Europäische Reiserouten, Reiseformen, Reiseziele ......................93 2.1.1 Reisen in Europa vom Beginn der Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert ..93 2.1.2 Die klassische englische Italienreise: The Grand Tour ..........................99 2.1.3 Die Entdeckung der Landschaft Italiens................................................104 2.2 Englische Reisende und die Landschaft Italiens.........................108 2.2.1 Ästhetische Landschaftswahrnehmung in England im 18. Jahrhundert und die Landschaft Italiens ......................................................108 2.2.2 Natur und Landschaft Italiens aus Sicht der englischen Romantik ...113 2.2.3 Die Auffassung von Natur und Landschaft Italiens in viktorianischer Zeit............................................................................................118 Teil II I 3 Literarische Landschaftsbilder und ihre Funktionalisierung........................................................................................ 124 3.1 Frau von Staël: Corinne ou l'Italie..................................................124 3.1.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung ......................................................................................................124 3.1.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................129 3.1.2.1 Terracina bei Neapel: Arkadische Landschaft als Ort der Sehnsucht und der Hoffnung.....................................................................................129 3.1.2.2 Am Krater des Vesuvs: Zerstörte Natur als Versinnbildlichung von Gewissensnot und Schuld .......................................................................136 3.1.2.3 Der Mont Cenis: Winterliche Bergwelt als Spiegelbild von Herzenskälte und Gefühlserstarrung.....................................................142 3.1.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................148 3.1.3.1 Der Gegensatz von England und Italien als kulturell unterschiedlich codierte Räume ..................................................................................148 3.1.3.2 Landschaft als objektives Korrelat innenweltlicher Situationen ........154 3.1.3.3 Die argumentative Verankerung der Landschaftsbeschreibungen im Handlungskontext ..............................................................................157 3.1.3.4 Landschaft als Sinndeutungssystem weltanschaulicher Überzeugungen der Autorin ...................................................................161 3.1.4 Zusammenfassung ...................................................................................166 3.2 Charles Dickens: Little Dorrit .........................................................168 3.2.1 Diskursiv-biografischer Hintergund und thematische Zielrichtung .168 3.2.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................173 3.2.2.1 Die Landschaft am Großen Sankt Bernhard: Der Aufstieg zum Hospiz als Parabel des menschlichen Lebens .......................................173 3.2.2.2 Amy Dorrits Reise nach Venedig: Die Unwirklichkeit der Landschaft und der Rückzug in die Innenwelt .............................................180 3.2.2.3 William Dorrits Fahrt durch die Campagna: Idiosynkratische Landschaftswahrnehmung und progressiver Wirklichkeitsverlust ..187 3.2.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................194 3.2.3.1 Die schicksalsbedingten Begrenzungen des Lebens in England und in Italien .....................................................................................................194 3.2.3.2 Begrenzung und Gefängnis als zentrale Vorstellungsinhalte beim Erleben der Landschaft Italiens ..............................................................199 3.2.3.3 Der argumentative Hintergrund der Landschaftsbeschreibung: Gestörte Psyche und die Notwendigkeit einer moralisch-ethischen Werteorientierung ....................................................................................204 3.2.3.4 Landschaftsschilderungen als Dekonstruktion viktorianischer Glaubenssätze über Erfolg und Reichtum, Ansehen und Glück........210 3.2.4 Zusammenfassung ...................................................................................217 3.3 George Eliot: Middlemarch .............................................................219 3.3.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung ......................................................................................................219 3.3.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................223 3.3.2.1 Dorotheas Begegnung mit Rom: Verwirrende Fremdheit und Aufruhr der Gefühle ................................................................................223 3.3.2.2 Dorothea und Will Ladislaw in der Via Sistina: Das Dunkel der Unkenntnis und das Licht des Verstehens ............................................230 3.3.2.3 Der Besuch im Künstleratelier und der Abschied von Rom: Das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit ......................237 3.3.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................244 3.3.3.1 Kontrastierte Außenwelten: Überschaubare Ganzheit in Middlemarch und fragmentarische Zerstückelung in Rom ............................244 3.3.3.2 Wege zur Innenwelt: ‚Erinnerte Landschaft’, Lichtmetaphorik und Gespräche über Kunst ..............................................................................251 3.3.3.3 Bilder der Landschaft Italiens: Stimulanz zu geistiger Klärung und Reifung .......................................................................................................261 3.3.3.4 Die Verhäkelung von Natur, Kunst, Wissen, Ästhetik und Moral als Grundlage Eliot’scher Weltanschauung ..........................................268 3.3.4 Zusammenfassung ...................................................................................276 3.4 George Gissing: The Emancipated .................................................279 3.4.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung ......................................................................................................279 3.4.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................284 3.4.2.1 Der Weg durch die Altstadt Neapels, der Gang nach Pozzuoli und der Tag in Baia: Zauber und Versuchung der Landschaft des Südens ........................................................................................................284 3.4.2.2 Die Landschaft der Insel Capri: Authentische Ästhetik für Miriam Baske und surreale Traumkulisse für Cecily Doran ............................291 3.4.2.3 In den Ruinen der Tempel von Paestum: Ross Mallards Sieg über die ‚Hexe des Südens’ und Miriam Baskes Weg zu innerem Wandel .......................................................................................................300 3.4.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................307 3.4.3.1 Die Gegensätzlichkeit von England und Italien im Spiegel einer Vielfalt heterostereotyper Italienbilder..................................................307 3.4.3.2 Die Landschaft als Sonde in seelisches Tiefengeschehen und als Seismograph zur Sichtbarmachung des Unbewussten........................314 3.4.3.3 Die Begegnung mit Italien als langwieriger Prozess grundsätzlicher Klärung............................................................................................322 3.4.3.4 Gissing und Emanzipation: Eigenwilliges Emanzipationsverständnis und widersprüchliches Rollenbild der Frau ...................................328 3.4.4 Zusammenfassung ...................................................................................338 3.5 E.M. Forster: Where Angels Fear to Tread ....................................340 3.5.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung ......................................................................................................340 10 3.5.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................345 3.5.2.1 Philip Herritons Fahrt nach Monteriano: Ein weltfremdes Italienkonstrukt und Landschaft als Palimpsest verborgener Wahrheiten ................................................................................................345 3.5.2.2 Vermenschlichte Landschaft und Türme in der Toskana: Symbole der Alterität und Wege zur Horizonterweiterung ...............................353 3.5.2.3 Ein Opernabend in Monteriano: Zeit emotionaler Geborgenheit und Ort der Identität ................................................................................360 3.5.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................367 3.5.3.1 Englische Auto- und Heterostereotypen: Die Immobilität erstarrter Bilder und der Wandel durch Erfahrung und Kontingenz.................367 3.5.3.2 Individuelles Erleben der Landschaft Italiens als Schritte zur Selbstfindung.............................................................................................377 3.5.3.3 Desillusionierung und erneute Italienbegeisterung: Die Dekonstruktion des Konventionellen als Voraussetzung zur Konstruktion des Authentischen ............................................................384 3.5.3.4 Bilder der Landschaft Italiens als Zeichensystem Forster’scher Sinndeutung und Wegweisung ..............................................................391 3.5.4 Zusammenfassung ...................................................................................402 3.6 D.H. Lawrence: The Lost Girl..........................................................404 3.6.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung ......................................................................................................404 3.6.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung ................409 3.6.2.1 Der Weg zu Pancrazios Haus: Die Ursprünglichkeit der Natur als Herausforderung und großartiges Erlebnis ..........................................409 3.6.2.2 Die Winterlandschaft bei Pescocalascio: Die Dichotomie von Schönheit und Grausamkeit als Umschreibung authentischer Naturhaftigkeit..........................................................................................416 3.6.2.3 Vorfrühling in den Abruzzen: Die Diskrepanz zwischen abstoßenden Innenräumen und faszinierender Außenwelt ...............................424 3.6.3 Ergebnisse im Kontext .............................................................................432 3.6.3.1 Industrialisierte Landschaft in England und natürliche Landschaft in Italien als Ausdruck kontrastiver Lebenswelten..............................432 3.6.3.2 Innenweltliche Reaktionen auf das Erleben von Landschaft in England und Italien ..................................................................................440 3.6.3.3 Von den Midlands in die Abruzzen: Der Weg aus emotionaler Stagnation zu größerer individueller Authentizität.............................449 3.6.3.4 Die Berglandschaft der Abruzzen als Lawrences Raum der Offenbarung authentischer Sinnhaftigkeit ............................................460 11 3.6.4 Zusammenfassung ...................................................................................472 Teil IV 4 Zusammenschau der Ergebnisse.............................................. 474 4.1 Über die Gegenstände und Inhalte der Landschaftsbilder .......474 4.1.1 Zu den Gegenständen der Landschaftsbeschreibung..........................474 4.1.2 Zum Verhältnis zwischen Bildern von Natur- und Kulturlandschaften ......................................................................................................477 4.1.3 Veränderungen des Natur- und Kulturverständnisses .......................479 4.1.4 Übersicht I: Gegenstände und Inhalte....................................................483 4.2 Über die Funktionalisierung der literarischen Landschaftsbilder....................................................................................................485 4.2.1 Landschaftsbeschreibung als Visualisierung innenweltlicher Konflikte ....................................................................................................485 4.2.2 Die Funktionszuweisung an Landschaft: Inszenierung innenweltlicher Dramatik oder Strategie potenzieller Konfliktlösung? ......488 4.2.3 Zum Wandel der Funktionalisierung ....................................................491 4.2.4 Übersicht II: Funktionalisierung und Wandel ......................................496 4.3 Zur Verbildlichung der Außenwelt durch Bilder der Landschaft...........................................................................................498 4.3.1 Vom Ab-Bild zum Sinn-Bild....................................................................498 4.3.2 Zur Veränderung des Darstellungs- und Sinnpotenzials literarischer Landschaftsbilder: ‚Gewandelte Ikonizität’ .............................500 4.3.3 Befunde der Analyse als Ausdruck psychohistorischer Abläufe .......501 4.3.4 Der Wandel der Funktionalisierung als Beleg einer ‚ikonischen Wendung’? .................................................................................................503 4.3.5 Übersicht III: Entwicklungsgänge und Ikonizität.................................505 5 Literaturverzeichnis.................................................................... 507 5.1 Primärliteratur als Gegenstand der Untersuchung .....................507 5.2 Primärliteratur in engem Bezug zum Gegenstand der Untersuchung .....................................................................................507 5.3 Sonstige Primärliteratur ...................................................................507 5.4 Allgemeine Sekundärliteratur zur theoretischen Grundlegung ..................................................................................................508 5.5 Allgemeine Sekundärliteratur zu Geschichte des Reisens.................................................................................................514 5.6 Sekundärliteratur zu den sechs Autorinnen und Autoren und ihren Romanen als Gegenstand der Untersuchung .....................................................................................516 13 Abkürzungsverzeichnis Die in Klammern hinter den unten stehenden Texten genannten Zahlen geben die Erscheinungsjahre an, die Zahlen hinter den Namen der Autorinnen und Autoren ihre Lebensdaten. A Where Angels Fear to Tread (1905): E.M. Forster (1879-1970) AR Aaron’s Rod (1922): D.H. Lawrence (1885-1930) CI Corinne ou l’Italie (1807): Frau von Staël (1766-1817) E The Emancipated (1890 u. 1893, rev. Fass.): George Gissing (1857-1903) EP Etruscan Places (posthum, 1932): D.H. Lawrence IS By the Ionian Sea (1900): George Gissing LD Little Dorrit (1855-57): Charles Dickens (1812-1870) LG The Lost Girl (1920): D.H. Lawrence M Middlemarch (1871-72): George Eliot (1819-1890) PI Pictures from Italy (1845): Charles Dickens RV A Room with a View (1908): E.M. Forster SS Sea and Sardinia (1921): D.H. Lawrence TI Twilight in Italy (1916): D.H. Lawrence Die Seitenangaben zu Primärtexten in der vorliegenden Untersuchung beziehen sich auf die Ausgaben, die in der Bibliografie aufgeführt sind. Teil I 1 Einführung und theoretische Grundlegung 1.1 Bemerkungen zur Einführung 1.1.1 Zur Wahl Italiens als Schauplatz fiktionalen Geschehens Hinter der Wahl Italiens als Schauplatz eines fiktionalen Geschehens steht in der englischen Literatur eine kulturgeschichtlich lange Tradition, die ins Mittelalter zurückreicht. Naturgemäß unterlag das Italienbild einem erheblichen Wandel, bedingt durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen in Italien selbst, vor allem aber durch Schwankungen der Rezeption in England, die eine eigene, nationalkulturelle Entwicklung durchläuft und keinesfalls deckungsgleich mit tatsächlichen Verhältnissen und Abläufen in dem anderen Land ist. Damit einhergehend waren die Möglichkeiten und Motive, Italien aufzusuchen, von entscheidender Bedeutung. Diese neuzeitliche Geschichte des Reisens stellt in sich ein komplexes Phänomen interdependenter Faktoren dar (vgl. 2.1). Im europäischen Kontext war Italien in wechselnder Folge Zentrum der abendländischen Kirche, des Kontinents bedeutendster Finanz- und Handelsplatz, Ort der Wissenschaft und Kunst, Ausgangsplatz der Wiederentdeckung der Antike und des Humanismus, Stätte politischer Machtentfaltung und des Intrigantentums, dann des Niedergangs und Zerfalls, schließlich sichtbarer Beleg vergangener Größe, aber auch Ausdruck von Naturschönheit, von freierer und ursprünglicherer Lebensweise und einer intakteren Umwelt mit weniger Beschädigungen durch zivilisatorische Einflüsse. So gab es denn ganz unterschiedliche Anlässe für den angelsächsischen Reisenden, das mediterrane Land aufzusuchen: Die anfängliche Pilgerreise wurde abgelöst durch die Geschäftsreise, die Studien- und Gelehrtenreise, die Künstler- und Gesellschaftsreise, die in ihrer konventionalisierten Form in der Grand Tour des achtzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand, dann durch die Individualreise romantischen Zuschnitts, die Bildungs-, Bäder- und Genesungsreise des wohlhabenden Bürgertums und schließlich, als Folge des technologischen Fortschritts, die Gruppen- und Pauschalreisen des Massentourismus. Die bedeutenden Namen der englischen Literatur spiegeln, ungeachtet der zahlreichen Zeugnisse weniger bekannter Autorinnen und Autoren, Verlauf und Wandel des Italienbildes in England wider. Die Tradition reicht von Chaucer über Shakespeare, Marlowe, Milton, Bacon, Locke bis zu Addison, und sie rief bereits früh Kritiker einer ausufernden Mode der Italienreisen auf den Plan, so Roger Ascham mit The Scholemaster (1570) 15 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG und Bishop Joseph Hall mit seinem Traktat Quo Vadis? A Just Censure of Travel (1617) 1 . Goldsmith, Smollet und Sterne, das epochale Werk von Gibbon, die literarische Geburt des ’Gothic Italy’, die Italienbegeisterung von Keats und Byron versorgten die literarisch interessierte Leserschaft weiterhin mit Texten über Italien. Im ’Augustäischen’ Zeitalter wurde ’römische’ Architektur durch Palladio zum Vorbild in England, die Sammelleidenschaft für antike Objekte und für zeitgenössische Kunst über das klassische Italien erreichten einen Höhepunkt. Daneben existierte für den ’homo viator’ eine ausgedehnte Reiseliteratur, die von Berichten und Handbüchern über Reiseführer bis zu Memoiren für den privaten Gebrauch reichte und im Übrigen im 18. Jahrhundert die Belletristik zahlenmäßig übertraf. In diesen kulturhistorischen Kontext ist Frau von Staëls Roman Corinne ou l'Italie (1807) einzufügen, der einerseits in detailreicher Fülle dem Wissensbedürfnis einer gebildeten Leserschaft nach Information über Literatur, Kunst, Philosophie und den gesellschaftlichen Alltag im zeitgenössischen und antiken Italien entgegenkommt, und der andererseits mit dem Thema der romantisch-leidenschaftlichen Liebe, die unerfüllt bleibt und für die Protagonistin mit ihrem Tod in verzweifelter Resignation endet, dem literarischen Geschmack und dem Geist der Zeit Rechnung trägt. Für Corinne erweist sich die Differenz zwischen den unterschiedlich codierten Systemen in England und Italien als unüberbrückbar, und an dieser Einsicht zerbricht die vielseitige Schaffens- und bald auch die Lebenskraft der Heldin. Nach Aufhebung der Kontinentalsperre entfaltete das Bürgertum Englands eine intensive Reisetätigkeit. Dazu trugen die von Malern und Zeichnern wie Robert Cozens und Samuel Palmer erstellten Italienillustrationen, die damals sehr populären Lithografien von David Roberts über Spanien und den Vorderen Orient und Turners Impressionen aus Belgien, Deutschland, der Schweiz und vor allem aus Italien erheblich bei. Der wirtschaftliche Aufstieg des Landes führte ungeachtet aller sozialen Probleme des ersten Industriestaates der Geschichte zu bis dahin nicht gekanntem Wohlstand breiter Schichten. Der Ausbau von Straßen und die Entwicklung verbesserter Transportmittel, angestoßen durch McAdam, Watt und Stephenson, gaben dem Tourismus entscheidende Impulse. Die Reise zum Kontinent gelangte in den Interessenskreis des gut situierten Bürgertums, und so lässt Dickens in Little Dorrit (1855-57) den ‚Vater des Marshalsea’ nach langen Gefängnisjahren Freiheit, Wohlstand und Ansehen als ’gentleman’ in Italien genießen. Das Beispiel zeigt in aller Kürze, dass in Dickens’ Roman - dies gilt in gleichem Maße für die anderen Texte der Untersuchung, womit eines der Kriterien der Textauswahl genannt wäre - die Wahl Italiens als 1 Vgl. Antonio Brilli, Reisen in Italien - Die Kulturgeschichte der klassischen Italienreise vom 16. bis 19. Jahrhundert, Köln: DuMont Buchverlag, 1989, 33. 16 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG Schauplatz fiktionalen Geschehens mehr impliziert als die Fortführung der literarischen Konvention des Abenteuer-, Schelmen- oder Schauerromans, auch mehr als die Fortführung eines konventionalisierten Italieninteresses oder ein Eingehen auf zunehmende Reiselust. Zweifellos waren diese Einflüsse auf die damalige Rezeptionsbereitschaft vorhanden - Italien, “a noble country, inexpressibly attractive to me“, sagt Dickens (PI, 261) -, aber sein Text, wie auch die der anderen Autorinnen und Autoren in dieser Untersuchung, weist über derartige Beweggründe hinaus. William Dorrits Neubeginn seiner Existenz in dem anderen Land stellt nicht nur einen Wandel seiner äußeren Lebensverhältnisse zum Positiven dar, sondern seines gesellschaftlichen Status, seines Selbstverständnisses und damit seines Selbstbildes. In Middlemarch (1871-72) beschreibt George Eliot, wie Erfahrungen in Italien die Lebenswelt der Hauptfiguren nicht nur berühren, sondern in wichtige Phasen des Lebensverlaufs eingreifen und verändernd wirken. Als Dorothea Brooke, jung vermählt mit Dr. Casaubon, an seiner Seite zur Reise in den Süden aufbricht, wird die Begegnung mit der Geschichte und Kunst der Ewigen Stadt zunächst zum Kulturschock mit anschließender Nervenkrise, bevor Erkenntnisprozesse in Gang kommen. Rom ist nicht nur Hintergrund, sondern wichtiges Element in der Gesamtentwicklung der Protagonistin und des Romans. In der Kontrastierung von puritanischprovinzieller Enge und Kargheit in Middlemarch mit Roms überreicher Fülle kultureller, vor allem künstlerischer Zeugnisse hebt George Eliot die Italienreise der englischen Mittelschicht auf eine Bedeutungsebene, die thematisch an Frau von Staël anschließt. Dieser Aspekt tritt noch deutlicher in George Gissings Roman The Emancipated (1890) zu Tage, in dem die Heldin Miriam Baske in einem schrittweisen, durch die Schönheit der italienischen Landschaft ausgelösten inneren Wandel den symbolisch bezeichnenden Schritt vollzieht, ihr Versprechen zum Bau einer Kapelle in Bartles nicht einzuhalten und stattdessen ein öffentliches Bad zu finanzieren. Dieser Akt der Befreiung aus puritanischer Verklemmung erfolgt durch das Zurückweisen viktorianischer Körperfeindlichkeit im gedanklichen Bekenntnis zur Rolle des Leibes als Teil ganzheitlicher Identität. Miriams Persönlichkeitsbild wandelt sich von dem einer asketisch-frömmelnden und unempfänglichen Person in das einer aufgeschlossenen, geistig aktiven und ästhetisch sensibilisierten und vor allen Dingen, gemessen an Gissings melancholischer Grundeinstellung, glücklichen jungen Frau, die den Vorwurf der Prinzipienlosigkeit ihrer früheren Umwelt billigend in Kauf nimmt. Auch Lucy Honeychurch, E.M. Forsters Protagonistin in seiner zuerst konzipierten ’Italian novel’, A Room with a View (1908), macht die entscheidenden Alteritätserfahrungen nicht durch Kontakt mit den Menschen Italiens, sondern durch das elementare Erlebnis natürlicher Schönheit auf einer mit Veilchen übersäten Terrasse im Sonnenlicht der Toskana, wobei 17 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG George Emerson wie Gott Pan aus den Büschen hervortritt und sie küsst. Es ist dies der erste Haarriss in der glücklosen Verlobung Lucys mit dem hochgebildeten, aber gefühlsmäßig vertrockneten und arrogant-weltfremden Cecil Vyse - “The two civilizations had clashed“ (RV, 155) -, deren Ende Georges Vater mit seinem Plädoyer für eine Öffnung der Sinne befördert - “love is of the body; not the body, but of the body“(RV, 223) - und ihr so den Weg in eine glückliche Zukunft weist. Das Glück einer gelungenen Zweierbeziehung läßt Forster seinen Figuren in Where Angels Fear to Tread (1905) nicht zuteil werden. Die psychologisch subtile Handlungsgestaltung, die sich der Frage eines direkten Kontaktes mit den Menschen Italiens in Person des Gino Carella und der Vorstellung einer symbiotischen Verbindung englischer und italienischer Denk- und Lebensweisen zuwendet, wie die Heirat Lilias mit Gino belegen soll, entlarvt solche Überlegungen als Wunschdenken. Die Heirat scheitert, endet gar mit dem Tod der unglücklichen Lilia und dem ihres Kindes. Philip Herriton, der nach oberflächlicher Italienbegeisterung in tiefste Desillusionierung stürzt und dann doch wieder zum Italienbewunderer wird, gelangt trotz positiver Impulse nicht zur Spontaneität, seine endlich erwachte Liebe zu Caroline Abbott in die Tat umzusetzen und sie an sich zu binden. Beide kehren in ein für sie verändertes England zurück, in dem das Leben nicht so sein wird wie vorher, doch an die Stelle eines zukunftsgerichteten Neubeginns stellt der melancholische Romanschluss nur eine langfristig fermentierende Wirkung von Erinnerungen an Monteriano und die Toskana in Aussicht. Geht es in Eliots, Gissings und Forsters Italienromanen letztlich um eine Korrektur des englischen Autostereotyps in Verbindung mit Kritik an englischen Verhaltensweisen, Zwängen und Normierungen - alle Hauptakteure kehren in heimatliche Gefilde zurück -, so nutzt D. H. Lawrence in The Lost Girl (1920) die Polaritätstopoi von England und Italien hinsichtlich Identität und Alterität, Verharren und Erneuerung, Konformität und Aufbruch in viel kompromissloserer Weise. Im Vergleich zu Forster tritt die Frage einer geläuterten Form von ’Englishness’ zurück hinter den Wunsch nach Aufspüren des Ursprünglichen. In Lawrences Roman erscheint Italien nicht nur als Katalysator, Ferment oder Agens zur Erneuerung, sondern als Raum geoffenbarten Sinns, als noch fließende Quelle ganzheitlichen Erlebens. Bei der Suche nach Orientierung und Selbstfindung wird Alvina Houghton ausschließlich in Italiens Naturlandschaft fündig. Ihr Bruch mit dem Elternhaus und der Gesellschaft von Woodhouse, ihre unkonventionelle Berufswahl als Hebamme, das Zurückweisen von Dr. Mitchell als Ehemann, ihr Anschluss an eine Schaustellertruppe und die Heirat mit Ciccio erinnern partiell an Forsters Romanfiguren, jedoch in der Darstellung von Alvinas Sexualität als Ausdruck von Naturhaftigkeit und Authentizität geht Lawrence rigoros über die Forster’schen Frauengestalten hinaus. Was als platte Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit erscheint, 18 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG durch Alvinas Unterwürfigkeit in der sexuellen Beziehung zu Ciccio verstärkt wird und so Lawrence den Vorwurf der Misogynie und des männlichen Chauvinismus eintrug, ist aus seiner Sicht das Wiederauffinden einer verloren gegangenen Ursprünglichkeit. Für ihn ist Italien der Ort einer “redemptive connection to natural life and passions“. 2 Das Auffinden verschütteter Quellen des Erlebens ist im Übrigen das zentrale Thema in Twilight in Italy (1916), Sea and Sardinia (1921) und Etruscan Places (posthum, 1932), die, wie Gissings By the Ionian Sea (1900), Reisebücher sind, aber nicht Reiseführer für touristische Zwecke. In ihnen umkreist Lawrence in eigenwilligen Gedankenbahnen seine Vorliebe für alte Werteordnungen - so wie es Gissing für die Antike tut. So werden die Augen einer alten Bäuerin am Spinnrad in einer archaisch anmutenden Landschaft Symbole zeitloser Sinnhaftigkeit: “Her eyes were like the first morning of the world, so ageless.“(TI, 26) Betrachtungen über das Mittelalter, die Renaissance, die Menschen Italiens, die Verehrung des Phallus im südlichen Europa: Sie umschreiben das Unbehagen an einer ’mechanised society’, die im Streben nach wissenschaftlicher und sozialer Vervollkommnung die Quelle des schöpferischen Potenzials zerstört. Der Begriff ’twilight’ umschreibt bei ihm die Vereinigung von Licht und Dunkel, Verstand und Sinnlichkeit, wobei ’darkness’ das Unbewusste, Sinnliche umfasst, den „Erfahrungs- und Erkenntnisbereich des ’really real’“. 3 Analog dazu erkennt Lawrence in Sardinien, anders als in dem durch Wehleidigkeit und Materialismus verweichlichten Italien, wie er meint, noch Reste einer ursprünglichen Männlichkeit, die er dem überall um sich greifenden Geist von ”herd-equality mongrelism, and the wistful poisonous self-sacrificial cultural soul“(SS, 62) gegenüberstellt. Er feiert die klare Rollentrennung der Geschlechter, die für gefühligen Madonnenkult und ein idealisiertes Frauenbild keinen Raum lässt. Die offene Landschaft, die im Gegensatz zu Italien nicht ständig klassische und romantische Assoziationen evoziert, symbolisiert den Raum der Freiheit. Diese Freiheit ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Expansionsdrang der alten Römer, die in Lawrences Augen, von Machthunger und Geldgier getrieben, die Vernichtung der etruskischen Welt herbeiführten. Dort glaubte man, wie in allen alten Kulturen, an einen lebendigen, beseelten Kosmos, mit dem die Menschen sich eins fühlten und so zu uneingeschränkter Erlebnisfülle fähig waren. Lawrence deutet die zerstörerische Energie Roms als Hass auf die etruskische Lebensfreude, die in phallischen und vaginalen Symbolen vor den Gräbern von Cerveteri und den übermütig aus dem Meer springenden Delfinen auf den Grabwänden Tarquinias ihren Ausdruck findet. 2 Carol Siegel, Introduction, in: D.H. Lawrence, The Lost Girl, John Worten, Hrsg., London: Penguin Books, 1981, xix. 3 Annegreth Horatschek, Alterität und Stereotyp - Die Funktion des Fremden in den ’International Novels’ von E.M. Forster und D.H. Lawrence, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998, 70. 19 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Der Gang in den Tod ist eine von Festmahl und Tanz begleitete Fortführung der wundersamen Lebensreise, die aus seiner Sicht erst von den Völkern, die sich dem rational-abstrakten Denken verschrieben, durch Begriffe wie die Hölle, das Fegefeuer oder auch das Nichts mit Schrecken belegt wurde. Der reale Schrecken des Ersten Weltkriegs mit traumatisierender Wirkung bildet den Hintergrund zu Aaron’s Rod (1922). Der Protagonist Aaron Sisson bricht aus Bindungen wie Familie und Arbeitsplatz nach Italien aus und begibt sich in der subversiven Haltung eines pikaresken Helden auf die Suche nach äußerer und innerer Freiheit, geistiger Erneuerung und wahrer Identität. Er flüchtet vor der Aushöhlung des männlichen Selbstbildes durch den modernen, kulturbedingten Prozess einer Feminisierung, der fraglosen Akzeptanz der Frau in der westlichen Welt als Lebensquelle und -spenderin, “this great ignominious dogma of the sacred priority of women“.(AR, 159) Diesen verhängnisvollen ’love-urge’ sieht Random Lilly, Aarons Freund aus Londoner Tagen und geistiger Führer in Italien, auch in religiösen oder sonstigen esoterischen Heilslehren am Werk. In metaphorischen Bildern von Wachstum, Sprießen und Blühen zeigt er Aaron die Notwendigkeit, seine wie jedem Individuum eigene Einzigartigkeit durch den ’power-urge’ zu entwickeln, eine unbewusste, Leben spendende Kraft: ”We must either love, or rule.“(AR, 298) Für Lilly bzw. Lawrence heißt das unter anderem, dass sich die Frau, ihrer eigenen Identität willen, zwangsläufig, aber eben doch in freiem Entschluss, männlicher Führung unterordnen soll. Weshalb in den für diese Untersuchung ausgewählten sechs Romanen Italien als der andere, fremde Raum in Gestalt seiner Kultur- und Naturlandschaften zum Schauplatz der Handlung wird, ist eine Frage, die mit Blick auf die Aussageintentionen im Rahmen einer analytischen Betrachtung erörtert werden soll. Aus welchen Gründen verlegten Autorinnen und Autoren, die über die Befindlichkeit englischer bzw. britischstämmiger Romanfiguren schreiben, größere und sogar ganze Handlungsteile an einen Ort, der nicht England ist, aber auch nicht das näher liegende Nord- oder Mitteleuropa? In welcher Weise war für sie der andere Raum in Gestalt der Landschaft Italiens von Interesse? Welche relevanten Assoziationen und Bewusstseinsinhalte verbanden sie, bei der Darstellung des Denkens und Handelns ihrer Figuren, mit Italien, die sie anderenorts nicht oder nur unzulänglich aufzufinden glaubten? Mit dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist die Zielsetzung der Untersuchung in allgemeiner Form umschrieben. 20 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG 1.1.2 Fiktionale Grenzüberschreitung und fremder Sinnhorizont In dem Augenblick und an der Stelle, wo eine Grenze überschritten wird, bedeutet dies, einen vertrauten Sinnkontext zu verlassen und sich in einem neuen, anders gearteten wiederzufinden bzw. wieder zu finden. Das Überschreiten einer Grenze ist generell ein temporärer Verlust an Übersicht, an zweckorientierter Kontrolle und an Orientierung überhaupt, weil bekannte Bezugspunkte in ihrer scheinbar unverrückbaren Fixierung und damit in der Verlässlichkeit ihrer Leitfunktion zunächst nicht erkennbar sind. Lässt man sich von der sprachlichen Implikation eines prozessualen Geschehens im Akt des Sich-Wieder-Findens leiten, dann muss unterstellt werden, dass etwas verloren gewesen sein muss, das mehr umfasst als nur Kontrolle und Orientierung: Der fremde Sinnhorizont tangiert das Selbst und die Identität. Der Begriff der Grenze ist weit fassbar, und er ist keinesfalls, schon gar nicht im kulturgeschichtlichen Sinne, auf die Bedeutung als nationale oder politische Markierung reduzierbar. Der Begriff der ’frontier’ aus der amerikanischen Siedlungsgeschichte ist u.a. gerade durch die Vorstellung zeitlich-geografischer Veränderlichkeit geprägt. Die zahlreichen weiteren Differenzierungen der englischen Sprache lassen ein weites Feld an Bedeutungsvarianten sichtbar werden: border, boundary, bounds, limit, limitation, barrier, demarcation, margin, confines, contiguity, verge, brink u.a. bezeichnen jeweils nicht dasselbe. Gemeinsam ist aber allen Begriffsinhalten, dass jenseits einer wie auch immer gearteten Linie, die als Grenze verstanden wird, ein Anderes, ein Fremdes und Neues beginnt. Es kommt zu einer Erweiterung des Horizontes im konkreten, räumlich-örtlichen Sinne, die jedoch, was viel bedeutsamer ist, das Blickfeld freimacht für eine umfassendere Schau von Zusammenhängen, d.h. für die Wahrnehmung einer anderen Fixierung von Bezugspunkten, die die Vorstellung vom Selbst und damit das Selbstbild aus dem gewohnten Bezugszusammenhang lösen und im Zuge einer Neuorientierung in einen Prozess der Veränderung hineinziehen. Eine solche Veränderung im Sinne einer Ausweitung und Ergänzung zum Zweck der Einordnung in ein umfassenderes Bezugsgeflecht ist das, was den Kern, in Heideggers Diktion ‚ein Gegebenes’, wesenhaft und existenziell berührt, ihm sogar sein Wesen erst verleiht. „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“ 4 Bezogen auf das Subjekt bedeutet dies, dass die Erfahrung des Anderen durch einen fremden, erweiterten Sinnhorizont nicht nur hilfreich und nützlich, sondern im grundlegenden Sinne wesentlich ist. 4 Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, Pfullingen: Verlag G. Neske, 1994, 149. 21 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Das Herausbilden einer wahren Identität ist somit unverzichtbar auf das Vorhandensein gegenpoliger Andersartigkeit angewiesen. Diese Erkenntnis ergibt sich nicht nur aus philosophisch-logischer Betrachtung, sondern gehört zum modernen Grundbestand entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Erkenntnisse, wovon noch eingehender die Rede sein wird (vgl. 1.3.2). Wenn Autorinnen und Autoren das Thema der Initiation bzw. der Identitätsbildung und Identitätsfindung zum Thema narrativer Darstellung machen, dann ist es nahe liegend, über die Wahl bzw. die Verlegung des Schauplatzes den Rahmen für einen fremden Sinnhorizont erzählerisch und psychologisch auf plausible Weise zu erstellen. Die Wahl von Italien als Schauplatz der Handlung in Romanen über England im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfüllt das Erfordernis, die Möglichkeit zur glaubhaften Darstellung von Andersartigkeit als notwendige Folie für die Schilderung von Entwicklungsprozessen zu eröffnen. Trotz der gemeinsamen Wurzeln in der griechisch-römischen Antike und der mittelalterlich-christlichen Kirche, in der Renaissance, im Humanismus und in der Aufklärung haben beide europäischen Kulturräume doch markante Unterschiede in ihrer Entwicklung herausgebildet, die durch Auto- und Heterostereotypen meistenteils nachhaltig verstärkt werden. Landessprachliche und soziale, ökonomische und kulturelle, klimatische und geschichtliche Eigenarten treten, infolge der Erstellung stereotypisierter Muster, als Markierungen von Differenz noch stärker hervor als es nach sachlich-nüchterner Abwägung von Unterschieden gerechtfertigt wäre (vgl. 1.3.2). Italien als Lebensraum entspricht damit auf Grund historisch gewachsener, klimatisch gegebener und von jenseits seiner Grenzen hinzugedachter Charakteristika im oben angesprochenen Zeitraum den Vorstellungen vom Andersartigen und Fremden, und die Wahl als Schauplatz in narrativen Texten bot in vollem Umfang die Möglichkeit zur Darstellung eines fremden Sinnhorizontes in der fiktionalen Grenzüberschreitung. Damit ist die Frage nicht beantwortet, ob bzw. weshalb Landschaft, als Naturund/ oder Kulturlandschaft, diesem Erfordernis gerecht werden könnte. Es liegt nahe, zunächst an Menschen zu denken, um eine Differenz zwischen diesseits und jenseits einer Grenze zu markieren: In Lebensweisen und sozialen Strukturen, in Geschichte und Traditionen, in Glaubens- und Wertvorstellungen, in geistigen und künstlerischen Leistungen tritt zu Tage, was sich als kulturelle Identität von einer Alterität abhebt. Genügte es deshalb nicht, der Einfachheit oder gar der Klarheit halber, eine fiktionale Grenzüberschreitung und den daraus ableitbaren fremden Sinnhorizont in einer städtisch-gesellschaftlichen Sphäre anzusiedeln, wo er doch am offensichtlichsten zu Tage tritt? So einleuchtend der Gedanke erscheinen mag, er würde Entscheidendes außer Acht lassen - und dies sei als erster Grund genannt, weshalb Landschaft zur Umschreibung von Identität und Alterität tauglich ist: 22 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG Landschaft als Bestandteil der Umwelt und manifeste Form von Raum und Natur ist unerlässliche Komponente der Selbstkonzeption sowohl bei Individuen wie auch bei Gemeinschaften. Naturlandschaft, in die der Mensch seit frühester Zeit eingegriffen hat, um Kulturlandschaft daraus zu machen, wie auch diese selbst: Beide Formen liefern ihm seit altersher atavistische Zeichenstimuli zur Überlebenssicherung (vgl. 1.3.4: Jay Appletons Habitat-Theorie und Paul Shephards Theorie der sexuellen Symbolik als Folge einer unbewussten Anthropomorphisierung der Außenwelt), die mit hohem emotionalem Gehalt belegt sind und in die, offen oder versteckt, Ängste und Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte, Ansprüche und Begehren eingeschrieben sind. Als zweiter Grund mag gelten, dass Bilder von Landschaften in den Köpfen der Menschen zu Spiegelbildern der Projektionen ihrer Sinn- und Deutungsentwürfe über das Leben, die Existenz, die Welt und den Kosmos in den sublimierten Kulturformen der Kunst und Literatur, der Religion und Philosophie werden. Der Topos der idealen Landschaft im klassischen Griechenland, die Paradiesvorstellungen der drei großen Weltreligionen, Dantes Wanderung durch die drei Jenseitsreiche der Hölle, der Läuterung und des Paradieses in Die Göttliche Komödie oder die Vermenschlichung der Natur in der Dichtung und in den Romanen des 19. Jahrhunderts sind nur wenige Beispiele, um die Bedeutsamkeit der Verzahnung von Mensch und Natur, die bis zur „Seelenspiegelung in der Landschaft“ 5 reicht, aufzuzeigen (vgl. 1.2). Ein dritter Grund ist, dass Landschaft die in ihr auftretenden Menschen prägt. Geografische, klimatische, ökonomische und geschichtlichkulturelle Gegebenheiten der Natur- und der Kulturlandschaft sind entscheidende Faktoren zur Herausbildung personaler und gruppenspezifischer Identität: Dem ’spirit of place’, über einen Ort immer in Landschaft eingebunden, maßen Forster und vor allem Lawrence besondere Bedeutung bei. „Er [D.H. Lawrence] meint damit die Korrelierung von Natur und Kultur, von geographischer Landschaft, klimatischen Bedingungen, den Eigenheiten der Natur und den speziellen Eigenheiten eines Volkes, seinem ’national character’ [...]. Die mit dem ’spirit of place’ in der Tradition verschiedener Klimatheorien angezeigte Anthropomorphisierung der Natur und des Schauplatzes führt bei Lawrence und Forster dazu, dass der Kontrast von England und Italien in die übergreifende Polarität von Norden und Süden, Kälte und Wärme, ’consciousness’ und ’blood’, rationaler Intellektualität und instinktiver Lebensunmittelbarkeit eingerückt wird.“ 6 5 Uwe Dethloff, Hrsg., Literarische Landschaft - Naturauffassung und Naturbeschreibung zwischen 1750 und 1830, St. Ingbert: Universitätsverlag, 1995, 22. 6 Meinhard Winkgens, Die Funktionalisierung des Italienbildes in den Romanen Where Angels Fear to Tread von E.M. Forster und The Lost Girl von D.H. Lawrence, in: arcadia - Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 21, 1986, 46f. 23 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Rousseau, mit seiner harschen Gesellschaftskritik und seiner Forderung nach einer Rückbesinnung auf die Natur, das Bild einer heilen Welt der Bergbauern in ländlicher Abgeschiedenheit vor Augen, die dem schädlichen Einfluss der Zivilisation noch nicht erlegen seien. Klimatheorien sowie regionale und nationale Auto- und Heterostereotypen, die oft auch den Einbezug von Differenzkriterien wie Körperlichkeit, Rasse, Geschlechtlichkeit und Sexualität umfassen, rekurrieren in hohem Maße auf den prägenden Einfluss des den Menschen umgebenden Raumes und der Landschaft. Es spricht noch ein Viertes für die Plausibilität der Möglichkeit, Raum, Natur und Landschaft als unterscheidungsrelevantes Sinnsystem bei der Umschreibung von Alterität im Falle der fiktionalen Grenzüberschreitung anzusehen. Der Wunsch nach Erleben von Natur, d.h. nach ästhetischer Landschaftserfahrung, schafft im Subjekt eine Disposition, die in besonderer Weise die psychische Befindlichkeit berührt: Die Möglichkeit des Heraustretens aus dem gewohnten Rahmen des Alltäglichen, Erforderlichen und Notwendigen erschließt einen Freiraum, in dem sich das Wünschenswerte, Erhoffte und Ersehnte entfalten können. „Zur aktuellen Landschaftserfahrung kommt es, wenn wir in jenem realen Draußen zugleich in ein metaphorisches Draußen gelangen; wenn wir die Bindungen an die pragmatische Orientierung lockern, die unser normales Verhalten im Raum bestimmen; wenn wir uns nicht länger mit festgelegten Zielen in diesem Raum bewegen, sondern uns freihalten für die irreguläre Gegenwart des größeren Raumes selbst. Der Schritt in die Erfahrung von Landschaft [...] ist ein Sichöffnen für etwas [...]“. 7 Wenn also Erfahrung von Landschaft unter nicht zweckorientierter, sondern ästhetischer Prämisse ein Lockern von Bindungen ist, dann bedeutet das Hineintreten in sie einen Zustand erhöhter Erlebnisbereitschaft und sozusagen das Bereitstellen eines erhöhten Erlebnispotenzials seitens der Außenwelt selbst. So wird verständlich, dass Landschaft Resonanzboden und Projektionsfläche von Innenwelt wird (vgl. 1.2.4-5, 1.3.4) und fiktional produktiv umgesetzt werden kann: Literarische Landschaftsbilder könnten sich als ausgesprochen geeignetes Mittel erweisen, Sinnkonfigurationen von Alterität aufzuzeigen. 7 Martin Seel, Über den Raum und die Zeit ästhetischer Landschaften, in: Krause/ Schenk, Natur, Räume, Landschaften, 19. 24 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG 1.1.3 Mechanismen der Wahrnehmung und Horizonthaftigkeit des Verstehens Wenn von Grenzüberschreitung und Begegnung mit dem Fremden, von ’otherness’ und Alterität die Rede ist, stellen sich drei grundsätzliche Fragen: Wie nimmt man wahr? Wieviel versteht man? Wozu soll man verstehen wollen? Zu jeder dieser Fragen gibt es in den ausgewählten Romanen Antworten, die entweder ausformuliert sind, angedeutet werden oder vom Leser zu generieren sind, Antworten also, die ‚Lösungen’ beschreiben oder auf sie hinweisen und solche, die im Sinne der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers erst im Akt des Lesens entstehen. Eine Binsenweisheit ist, dass nur mit dem Instrumentarium wahrgenommen werden kann, das zur Verfügung steht, doch was ist das bei der Begegnung mit Alterität? Im antiken Griechenland war jeder, der nicht Griechisch konnte, ein Barbar, dem zusätzlich Ungebildetsein und Grausamkeit unterstellt wurde: „Jeder ist der Barbar des anderen, und um es zu werden, genügt es, eine Sprache zu sprechen, die dieser nicht kennt: In seinen Augen ist sie nur ein Kollern.“ 8 Im Mittelalter wurden bei hereinbrechender Nacht die Stadttore verschlossen, um dem Fremden als potenziellem Unheilsbringer oder Feind den Zutritt zu verwehren. Die Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern und Ihren Aigenschafften, eine Völkertafel des 18. Jahrhunderts, zeigt in skurril-grotesker Zuweisung von jeweils siebzehn Eigenschaften an die zehn vorgestellten Volksgruppen, wie schematisch und starr der Blick auf das Fremde und wie ausgeprägt das Verlangen nach Ab- und Aus-grenzung war. 9 „Dabei ritt eine ethnozentrische Tendenz zutage: Die vertraute Welt des Eigenen wird als Norm, das Fremdartige des anderen Volkes als komische oder verächtliche Deviation von dieser Norm verstanden […]. Es fällt auf, daß die Völkerbeschreibungen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit einen sehr starken Zug zur Schematisierung und Stereotypisierung aufweisen: Vergleiche werden fast immer zu monotonen Katalogen von kontrastierenden Eigenschaften; die typisierende Beschreibung führt unweigerlich zum Klischee und Stereotyp.“ 10 Das Spezifische der Wahrnehmung des Fremden und Anderen wird erkennbar: Es geht um die Ziehung von Grenzen, die zunächst ima- 8 Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1985, 227. 9 Bei der angesprochenen Völkertafel handelt es sich konkret um ein großformatiges Ölgemälde aus der Steiermark im frühen 18. Jahrhundert, das einen Vertreter je Volksgruppe nebst tabellarischen Texteinträgen zeigt, ausgestellt im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien (vgl. dazu ergänzend Fußnote 136). 10 Franz Karl Stanzel, Das Nationalitätenschema in der Literatur und seine Entstehung zu Beginn der Neuzeit, in: Blaicher, Erstarrtes Denken, 85f. 25 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG ginär sind und dann sehr real werden. Es kommt zu einer Zweiteilung des Wirklichen, in der Kontrast bzw. Bipolarität zum Unterscheidungsmerkmal wird. Kulturelle, ethnische, religiöse, ökonomische u.a. Vorstellungsinhalte werden begründend und verstärkend herangezogen. Zur Beschreibung dieses Zugriffs hat sich bildhaft die Vorstellung von Vervielfältigungsverfahren der Druckereitechnik durchgesetzt: Klischees und Stereotypen, im ursprünglichen Sinne Druckstöcke, also Matrizen und Schablonen, die die Wirklichkeit als Schema wiedergeben. Bei solcher Bildreproduktion nach feststehendem Muster kann von Mechanismen der Wahrnehmung gesprochen werden. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass Klischees und Stereotypen nicht Ergebnis persönlicher Erfahrung oder eines autoptischen Befundes sein müssen. Sie sind sogar überwiegend das Resultat von Texten, deren Bandbreite von den Epithetonlexika und Poetiken des 16. und 17. Jahrhunderts über Reiseführer und Berichte, Sprichwörter- und Zitatensammlungen, Geschichtswerke und Enzyklopädien bis zu Bühnenstücken und Romanen reicht; das gedruckte Wort verlieh den meistens nur kopierten Heterostereotypen scheinbare Autorität und konservierte sie. 11 So wurde das Entstehen einer Klimatheorie aus rechtsvergleichenden Texten des französischen Juristen Jean Bodin im 16. Jahrhundert zur Grundlage eines der hartnäckigsten Topoi der Völkerbeschreibung in Europa und dieser wiederum zu einem der zentralen Gegenstände der Imagologie (vgl. 1.3.1), nämlich „[…] alle europäischen Volker in zwei konträre Gruppen zu teilen. Seither ist der Gegensatz zwischen Nord und Süd zu einer der meistverwendeten Erklärungskategorien der europäischen Geistes-, Kunst- und Literaturgeschichte geworden.“ 12 Im Verlauf der Neuzeit sind stereotypisierende Denkweisen weder in Europa noch in anderen Teilen der Welt verschwunden, sondern als atavistische Wahrnehmungsmuster in unterschiedlichen kulturellen Kontexten weiterhin virulent. 13 Dies gilt für Bilder und Texte, auch fiktionale Texte, als Medium der Verbreitung. Im Blick auf die Themenstellung er- 11 Vgl. Franz Karl Stanzel, Der literarische Aspekt unserer Vorstellungen vom Charakter fremder Völker, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 111. Jg. 1974, Nr. 4, Wien, 67. 12 Ebd., 79. 13 „In der Sozialpsychologie behauptet die Distinktivitätstheorie, daß Menschen sich über das definieren, was sie in einem bestimmten Kontext voneinander unterscheidet [...]. Menschen definieren ihre Identität über das, was sie nicht sind. In dem Maße, wie Kommunikationsmittel, Handel und Reisen die Interaktionen zwischen Kulturen vervielfachen, legen Menschen ihrer kulturellen Identität zunehmend größere Bedeutung bei.“( Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen - Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (amerik. Orig.ausg.: The Clash of Civilizations), Hamburg: Spiegel-Verlag, 2006/ 07, 95f.) Dazu im selben Text: „Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Kulturen. Es ist unmöglich, die Entwicklung der Menschheit in anderen Begriffen zu denken.[…] Zu allen Zeiten waren Kulturen für die Menschen Gegenstand ihrer umfassendsten Identifikation.“(ebd., 51; s. auch Fußnote 750). 26 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG scheint ein näherer Blick auf deren Ursachen und Wirkungsweisen angebracht (vgl. 1.3.1-3). Dabei gilt zu beachten, dass „[…] die kulturell codierten Tiefenstrukturen der Wahrnehmungs- und Denkweise“ bei der Begegnung mit dem Fremden und Anderen, in Verbindung mit dem biologischgenetisch programmierten, bipolaren Zugriff des Subjekts auf die Umwelt (vgl. 1.1.2, 1.3.4), zu ‚Verzerrungen’ führen. 14 Angesichts der gegebenen Bedingtheit und Beschränkung in der Wahrnehmung des Fremden und Anderen stellt sich die Frage, in welchem Umfang ein annähernd ‚richtiges’ oder gar objektives Erfassen überhaupt stattfindet und wie weit es reicht. Ohne Zweifel ist, wie Meinhard Winkgens formuliert, von einer „elementaren Horizonthaftigkeit kulturgeschichtlichen Verstehens“ auszugehen, da im Sinne Gadamers „[…] die menschliche Vernunft als reale, geschichtliche Vernunft ihrer selbst nicht Herr ist, sondern stets auf die überlieferungsgeschichtlichen Gegebenheiten angewiesen bleibt, an denen sie sich betätigt“. 15 Auszugehen ist also von dem Sachverhalt, dass kulturelle Codierungen, die von jedem sozioökonomischen und geschichtlichen Umfeld systemimmanent erzeugt werden, bei den in diesem Umfeld verankerten Individuen zu einer Präformierung von Sichtweisen führen, was zwangsläufig in „der kulturelldiskursiven Vorstrukturierung ihres Verstehenshorizontes“ 16 resultiert. Seit Nietzsche gilt die Vorstellung von der Selbstmächtigkeit des Subjekts als Illusion, und das moderne Bewusstsein befindet sich in Begrenzungen angesiedelt. „Die Philosophie der Endlichkeit geht im Gegensatz zur idealistischen Subjektkonzeption der Reflexionsphilosophie, aber auch zum aufklärerisch argumentierenden rationalistischen Diskurs davon aus, daß das Subjekt die Welt nicht 'aus sich heraus' und frei erkennt, sondern daß seine Freiheit sowohl durch politische, soziale und ökonomische Strukturen als auch epistemologisch und psychologisch durch den kulturell vorgegebenen Sinnhorizont der symbolischen Ordnung mit spezifischen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Wertungsparadigmen wesentlich präformiert wird.“ 17 Die existenzialistische Vorstellung, in eine Welt hineingeworfen zu sein, schafft bildhaft den Rahmen dafür, dass Verstehen einerseits zwangsläufig horizonthaft ist und andererseits, wie Gadamer es nennt, von einem Vorverständnis geprägt ist. Es ist dieses Vorverständnis, „[…] das wir an jeden Text oder Kommunikationspartner herantragen und das unvermeid- 14 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 18f. 15 Meinhard Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence unter besonderer Berücksichtigung von The Lost Girl: Zur ästhetischen Produktivität nationaler Stereotypen, in: Blaicher, Erstarrtes Denken, 295 16 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 13. 17 Ebd., 15. 27 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG lich unsere erste Reaktion bestimmt. Und doch besteht der Akt des Verstehens im Bemühen, diesen kulturellen Vorurteilen entgegenzuwirken“. 18 Nach Gadamer sind unberechtigte von legitimen Vorurteilen zu unterscheiden, wie Befunde der Entwicklungspsychologie bestätigen: “We can and must make the distinction between pathological stereotyping and the stereotyping all of us need to do to preserve our illusion of control over the self and the world.“ 19 Notwendige, legitime Vorurteile sind „[…] die transzendental-hermeneutische Bedingung der Möglichkeit geschichtlichen Verstehens überhaupt“, und bei literarischen Gestaltungsprozessen können sie, selbst wenn eine Abgrenzung zu unberechtigten Vorurteilen im Einzelfall schwer fallen mag, sehr wohl ästhetisch produktiv sein. 20 Hermeneutischem Vorgehen liegt die Einsicht der Ergänzungsbedürftigkeit zu Grunde. Prozesse des Verstehens werden als nicht abschließbare Folge von Wechselbeziehungen aufgefasst, die das Bild eines kreisähnlichen oder vielmehr spiralförmigen Bewegungsablaufs aufweisen. Das Medium zur Ingangsetzung dieser Prozesse ist die Sprache. „Im kommunikativen Einlassen auf das Fremde verändert sich sein [des Menschen] Standpunkt und sein Horizont erweitert sich.[...] Im sogenannten hermeneutischen Zirkel gelangt er so zu einem tieferen Verständnis[...], wir können die Werke der Kunst wie auch unsere Existenz immer nur anders, nie aber endgültig verstehen.“ 21 Hans-Georg Gadamer spricht in Bezug auf den hermeneutischen Prozess von einer „Horizontverschmelzung“, „[…] als stets nur annäherungsweiser Konvergenz zwischen dem Horizont des Interpreten und dem des Textes“. 22 Zentrales Instrument ist die Sprache, die sowohl von Bedeutung geprägt ist als auch Bedeutung prägt. Der Weg ist der Dialog, durch den die Übersetzung aus der fremden Subjektivität in die eigene in Gang gesetzt wird, d.h. in Auseinandersetzung mit gleichermaßen ‚vorschematisierten Erfahrungen’ oder Präformierungen, die aber durchaus Neues beinhalten können. „Verstehen ist in diesem Sinne nicht eine empathetische, sondern eine epistemische Kategorie, die für das sprachliche Gelingen der Kommunikation notwendig ist.“ 23 Gadamers Wahrheitsbegriff hat nicht statischen, sondern prozessualen Charakter, womit eine gewaltsame Objektivierung eines Textes vermieden werden soll, in den stets eine fremde Subjektivität und somit ein anderer Horizont, der unter Umständen aus 18 Hubert Zapf, Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Literaturtheorie, München: Wilhelm. Fink Verlag, 1991, 173. 19 Sander L. Gilman, Difference and Pathology - Stereotypes of Sexuality, Race and Madness, Ithaca: Cornell University Press, 1985, 18. 20 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 295ff. 21 Peter Delius, Hrsg., Geschichte der Philosophie - Von der Antike bis Heute, Köln: Könemann Verlag, 2000, 103. 22 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 173. 23 Ebd., 172 28 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG einer anderen Epoche oder aus einem anderen kulturellen Kontext stammt, eingeschrieben ist. Jürgen Habermas unterscheidet zwischen einem hermeneutischen, ‚traditionsbestimmten Vorverständnis’ und einer tiefenhermeneutischen, codierten Tiefenstruktur, die selten, versteckt oder gar nicht in Wahrnehmungen des Bewusstseins zum Ausdruck kommt. Da für ihn der soziokulturelle Gesamtbereich das Denken und Sprechen des Einzelnen wie der Gruppen steuert, geht er von einem ‚verblendeten Sinnhorizont’ sowie von ‚Pseudokommunikation’ und ’Scheingesprächen’ aus; nur ‚kommunikative Vernunft’, d.h. der Wille zu aufrichtigem Gespräch kann Verstehen ermöglichen. 24 Michel Foucault wies auf die bedeutsam gewordene Polarität von Gesundheit und Krankheit, von Rationalität und Wahnsinn als Mechanismen der Wahrnehmung hin, und Erkenntnisse der Entwicklungs- und Verhaltenspsychologie bestätigen die Abgrenzung zwischen dem Gesunden und Kranken als wesentliche Unterscheidungskriterien zwischen dem Selbst und dem Anderen: “Every group has laws, taboos, and diagnoses distinguishing the ’healthy’ from the ’sick’. The very concept of pathology is a line drawn between the ’good’ and the ’bad’. [...] corruption of the self is projected onto others [...].“ 25 Verbinden sich binäre und manichäische Wahrnehmungsschemata (vgl. 1.3.2-3) bei der Rationalisierung moderner Gesellschaften mit legitimierten Machtpraktiken, wie sie, aus Michel Foucaults Sicht, in Gefängnissen, Krankenhäusern, Schulen, Kasernen und Fabriken zur Überwachung und Disziplinierung des menschlichen Körpers in Ausübung eines anonymen Willens zur Macht zu Tage treten, dann wird die Annahme selbstmächtiger Individualität zur Illusion und Utopie. Ein Verstehen von Texten müsste diesen anonymen Willen zur Macht bloßlegen, der überdies keinem teleologischen Geschichtsverständnis folge, sondern „nicht-notwendig und kontingent“ 26 sei, womit adäquaten Verstehensprozessen äußerst enge Grenzen gesetzt wären. Größeren, weil direkteren Einfluss auf die Literaturwissenschaft hatte Jacques Derridas Modell der Dekonstruktion. An die Stelle werkimmanenter, hermeneutischer, rezeptionsästhetischer und strukturalistischer Zugriffsverfahren, deren Textbegriff letztlich doch metaphysischideologisch begründet sei, tritt eine Dezentrierung und Entsubstantiierung des traditionellen Literaturbegriffs. Die Sprache ist nicht mehr, wie bei de Saussure, durch eine feste Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat 24 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 18ff. u. 23f. 25 Gilman, Difference and Pathology, 23. 26 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 26. Die ‚kritische Theorie’ der Frankfurter Schule geht, wie Foucault, von der Annahme manipulativer Strategien aus Politik, Wirtschaft und Medien aus, die durch Ideologiekritik des ‚falschen Bewusstseins’ als psychische Unterwerfung des modernen Menschen entlarvt werden könnten.(vgl. Delius, Geschichte der Philosophie, 108). 29 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG bestimmt, sondern Zeichensystem, dessen Bedeutung sich erst durch Bezug aufeinander entlang einer Signifikantenkette ergibt. Traditionelle Gewissheiten logozentrischer Sinnkonstruktionen werden Illusion, und es kommt zu einer „radikale[n] Umwertung der ererbten Werthierarchie von Geist und Körper, Struktur und Prozeß, Sprache und Schrift, Bewußtem und Unbewußtem, Logos und Eros, Mann und Frau. Diese werden nicht mehr als bloße Gegensatzpaare, als ‚binäre’ Oppositionen aufgefaßt, sondern als vielmehr aufeinander wirkende Kräfte [...]“. 27 Im Modell des Poststrukturalismus besitzt das Subjekt, wovon schon Nietzsche und Freud ausgingen, keine einheitliche Identität, da es ein Konglomerat von Selbstbildern in Gestalt von Masken sei, weshalb sich die Frage nach einer authentischen Individualität erübrige. Das Selbst ist „[…] bis in sein Innerstes hinein durch ein Spiel von Texten bestimmt. Das Subjekt wird zum 'multiple text', der keine innere Kohäsion und Einheit besitzt und aus divergenten Elementen jenes Universums der kulturellen Intertextualität zusammengesetzt ist, in dem sich das (fiktive) Selbst bewegt.“ 28 Es sei das europäisch-abendländische Primat der gesprochenen Sprache gewesen, das zum logozentrischen Irrtum fester Bedeutungszuweisung geführt habe. „Aus der jüdischen Mystik entlehnt er den Gedanken, daß die Welt von einer verlorenen Urschrift erschlossen werde, zu der alle realen Texte nur Kommentare darstellen; der wirkliche Sinn der Welt bleibe verborgen. Es ist dieses Verständnis der Welt, das Derrida zu einer enormen Wirkung in der [...] Literaturwissenschaft verhalf.“ 29 Damit allerdings wird jedes Gelingen von Kommunikation und von Verstehensvorgängen ein offener, nicht abschließbarer Prozess: Statt richtiger und falscher Interpretationen gibt es nur ’weak’ und ’strong readings’ ohne Anspruch auf Gültigkeit. Als realistisch-pragmatischer Ansatz für den Umgang mit Texten hat sich aus der Theoriediskussion der Gebrauch „dreier eng verwandter, methodisch grundlegender Denkfiguren“ herausgebildet: die Unterscheidung zwischen „manifestem Gehalt und latentem Sinn“ bzw. „explizit formuliertem Haupttext und implizit angedeutetem Subtext“ bzw. dem „kulturellen Überschreibungstext [und] ursprünglichen Naturtext“ (Palimpsest). 30 27 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 193. 28 Ebd., 195. 29 Delius, Geschichte der Philosophie, 111. 30 Meinhard Winkgens, Natur als Palimpsest: Der eingeschriebene Subtext in Charles Dickens’ David Copperfield, in: Groß/ Müller/ Winkgens, Das Natur/ Kultur-Paradigma, 38f. Winkgens spricht bei den drei Varianten von einer „[…] grundlegenden methodischen Denkfigur [im] Umgang mit literarischen Texten, die ich im Anschluß an eine Formulierung Paul Ricoeurs als ‚Hermeneutik des Verdachts’ charakterisieren möchte.[...] in letzter Konsequenz zielt die Hermeneutik des Verdachts auf das Wahrheitspostulat aufklärerischer Vernunft und ihren Anspruch, als autonome Subjektivität ihrer selbst 30 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG 1.1.4 Begründung der Themenstellung Die Absicht, die Funktionalisierung von Bildern von Natur- und Kulturlandschaften Italiens in Romanen über England im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu untersuchen, versteht sich als Versuch, zum Diskurs über fiktionale Wahrnehmung der Fremde, insbesondere Italiens, vor dem Hintergrund englischer Sinnkonfigurationen analytisch beizutragen. Ausgangspunkt dieses Forschungsanliegens, dem im Licht neuerer, interdisziplinärer Sichtweisen und Befunde erhöhte Relevanz zugewachsen ist, ist die Fragestellung, wie aus einem Zustand gesellschaftlich-kultureller Begrenztheit Fremdes und Anderes wahrgenommen wird und welche Folgen sich daraus für das Verständnis von Ich und Welt auf Seiten der Romanfiguren ergeben, die ihrerseits Reflektoren von Autorenbefindlichkeit sind und gleichzeitig Projektoren wie auch Projektionen der Vorstellungen einer impliziten Leserschaft. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken dabei Konzepte von Identität und Individualität, die Problematik der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern und sich verändernde Verständnisweisen von Körperlichkeit und Sinnlichkeit sowohl als Bestandteil ganzheitlicher Ich-Erstellung als auch als epistemologisches Instrument zur Errichtung plausibler Sinnkonstellationen. Italien, in mancherlei Hinsicht als Gegenpol zu mittel- und nordeuropäischen Sinnkonstellationen konzipiert, verkörpert einen Vorstellungskomplex, der seit Beginn der Neuzeit eine magische Anziehungskraft auf führende Köpfe im nördlichen Teil des Kontinents ausübte und vielfach als Mittel zur Positionsbestimmung gedient hat. Eine Begründung zur Themenstellung führt zunächst zur Frage, wie Raum, Natur und Landschaft in der fiktionalen Darstellung werk- und wirkungsästhetisch zu Bedeutung gelangten (vgl. 1.2). Im 18. Jahrhundert bildete sich ein neues Interesse der Autoren- und Leserschaft an der Landschaft heraus und nahm rasch zu: “Sometime after Voltaire, and the older ’literature of ideas’ he exemplifies, there emerged a newer ’literature of images’ which increasingly contained descriptions, notably the strikingly modern sort called landscape.“ 31 Verantwortlich dafür waren mehrere Gründe geistesgeschichtlichen Ursprungs. Zu denken ist an den neuzeitlichen Individuumsbegriff mit seiner Fundierung in einem Naturrecht als nicht hintergehbare Instanz, wobei der Naturbegriff in dem Maße an Bedeutung gewinnt, in dem der Glaube an ein von Gott gelenktes Dasein schwindet. Mit der rechtlich-politischen Etablierung des modernen Individuums geht eine Individualisierung der Wahrnehmung einher (vgl. 1.2.4), mächtig zu sein und als zentrierte Instanz aller gültigen, wahren Urteile zu fungieren.“(ebd., 39). 31 Doris Y. Kadish, The Literature of Images - Narrative Landsape from Julie to Jane Eyre, New Brunswick: Rutgers University Press, 1987, 1. 31 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG die das ‚Sehen’ von Landschaft nach und nach aus den Fesseln emblematischer Naturdeutung der klassisch-antiken Literatur und der heilsgeschichtlichen Naturdeutung im mittelalterlich-christlichen Sinne löst. Die Natur wird frei für neue Sinnzuweisungen: Sie wird Abbild, Gegenbild und Sinnbild für das vom Menschen Geschaffene, Gedachte, Erhoffte oder Befürchtete geraume Zeit, bevor die Psychologie zur systematischen Beschreibung der Innenwelt ansetzt und die Psychoanalyse das geeignete Vokabular bereitstellt. Natur mutiert zum Gefühls- und Erlebnisraum (vgl.1.2.4-5), wird seit der Romantik mehr oder minder auch Fluchtraum vor zivilisatorischer Unzulänglichkeit und Ort der Sehnsucht für verloren gegangene Ganzheitlichkeit. Ungeachtet der Tradition der Ekphrasis seit der Antike ist das literarische Landschaftsbild in der Autoren- und Lesergunst an eine vordere Stelle gerückt. ”Landscape is of special interest because it is one of the most distinctive descriptive forms to occur in the literature of images.“ 32 Augenfälliger noch wird die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf produzierender wie rezipierender Seite in der wesensverwandten Malerei, die im 19. Jahrhundert einen nicht mehr übertroffenen Höhepunkt erreicht (vgl.1.3.5). „Wie keine andere Gattung [in der Malerei] emanzipiert sich Landschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Die bewußt werdende Entfremdung von der Natur treibt und forciert ihre Darstellung hervor. Ja, Landschaft kann zur Gattung schlechthin werden, in der die Projektion aller Sehnsüchte und Hoffnungen, aber auch Befürchtungen in ästhetischer Form Ausdruck finden kann“. 33 Für den Roman hatte die Entwicklung mit Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und einer Darstellung von Natur begonnen, die sich nicht in pastoraler Idylle, dekorativer Emblematik oder ästhetisch sublimiertem Lokalkolorit erschöpfte, wie etwa in der ’Gothic novel’, sondern Resonanzboden gravierender seelischer Konflikte war. Es folgten Bernardin de Saint-Pierre mit Paul et Virginie (1788), Chateaubriand mit Atala (1801) und René (1802), Senancour mit Oberman (1804) und Madame de Staël mit Corinne ou l'Italie (1807), die alle mehr oder minder in der Nachfolge Rousseaus der fiktionalen Naturdarstellung ihren richtungsweisenden Charakter verliehen. 34 Der Weg führt zu dem, was Martin Seel prägnant als Kennzeichen der Landschaftsauffassung der Moderne beschrieben 32 A.a.O. 33 Werner Busch, Hrsg., Landschaftsmalerei, Berlin: Reimer Verlag, 1997, 11. 34 Bernardin de Saint-Pierre, Autor der Etudes de la nature (1784) galt als Schüler Rousseaus; Chateaubriand lässt in seinem Essai sur les révolutions (1797) eine Verehrung der Natur in Rousseaus Sinne sichtbar werden; Senancour führt in seinen Rêveries sur la nature primitive de l’homme (1799) Rousseaus Kulturpessimismus fort; Mme de Staël hatte bereits 1788 in den Lettres sur les écrits et le caractère de J.J. Rousseau dessen Ideen einer eingehenden Analyse unterzogen. 32 B EMERKUNGEN ZUR E INFÜHRUNG hat: “Landschaft ist von ästhetischer Natur umformte Lebenswirklichkeit des Menschen.“ 35 Diese Wirklichkeit ist nicht statisch und schon immer vorhanden, sondern abhängig von politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und anderen Faktoren. „Landschaft ist uns nicht einfach naturwüchsig vorgegeben, sie ist vielmehr gemacht, entstanden, sie ist das Produkt eines historischen Prozesses.“ 36 Dies gilt für die Vorstellung von Naturlandschaften als vom Menschen unberührt gedachte äußere Wirklichkeit wie auch für diejenige von Kulturlandschaften als vom Menschen umgestaltete Außenwelt, eine Unterscheidung, die überhaupt erst in der neuzeitlichen Landschaftswahrnehmung relevant wird. Wie sehr Landschaft die Einbildungskraft anspricht, zeigt sich daran: „Bis heute assoziiert das Wort Landschaft Bilder, von denen es kaum mehr Gegenden gibt [...]. Auf dem doppelten Boden des entfremdeten bürgerlichen Verhältnisses zur Außenwelt gediehen Illusion und Destruktion bis zum Exzeß kommerzieller Plünderung von Natur bei gleichzeitig organisierter Massenflucht in die letzten Paradiese unserer Zeit.“ 37 Diese „paradoxe gesellschaftliche Funktionalisierung“ 38 zwischen Illusion und Destruktion produziert gleichzeitig „[…] ein gesteigertes Bedürfnis, Natur in menschlichem Wahrnehmen und Erleben gemäßere Landschaften zu verwandeln“ 39 : Bilder von Landschaften sind offenkundig prägewirksame Bewusstseinsinhalte, die Lebenswirklichkeit nicht nur widerspiegeln, sondern bestimmen - im realen wie im fiktionalen Geschehen. Themenbezogen gerät die Landschaft Italiens in die Rolle einer alternativen Lebenswirklichkeit (vgl. 1.3). Wenn etwa in Bezug auf Forster und Lawrence „[…] die zwischenmenschliche Kommunikation durch den Dialog mit der Landschaft ergänzt [und sie] nach Leitsignalen befragt“ 40 wird, dann zeigt sich, im Vergleich zur fiktionalen Welt bei Dickens mit ihrem humanitären Anliegen beispielsweise, das Ausmaß des Bedeutungswandels in der Natur- und Landschaftsauffassung. Absicht muss es sein, die Texte als fiktional gestaltete Suche nach Lebenssinn in der Begegnung mit der Fremde und dem Anderen zu lesen. Die Konzipierung des Themas weist einen synchronen und einen diachronen Aspekt auf. Auf der synchronen Ebene soll versucht werden, aus einer begrenzten Anzahl von Landschaftsbeschreibungen durch Ana- 35 Seel, Ästhetik der Natur, 222. 36 Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten - Zur Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1981, 2. 37 Brigitte Wormbs, Über den Umgang mit Natur - Landschaft zwischen Illusion und Ideal, zit.n. Lobsien, Landschaft in Texten, 3. 38 Lobsien, Landschaft in Texten 2. 39 K. Ludwig Pfeiffer, Bedingungen und Bedürfnisse - Literarische Landschaften im England des 19. Jahrhunderts, in: Smuda, Landschaft, 178. 40 Gerhard Hoffmann, Raum, Situation erzählte Wirklichkeit, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1978, 637. 33 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG lyse und Interpretation exemplarisch die Funktion der Darstellung von Natur und Landschaft zu erhellen. Auf der diachronen Ebene, die den Zeitraum von 1807 bis 1920 umfasst, hat die Auswahl der Texte ebenfalls exemplarischen Charakter. Auf keinen Fall konnte es um den Anspruch gehen, eine irgendwie systematische Darstellung von italienischer Landschaft in Romanen über England geben zu wollen. Die ausgewählten Texte haben allerdings repräsentativen Charakter in dem Sinn, dass ihnen wirkungsgeschichtlich besondere Bedeutung zukommt (wie im Falle der Frau von Staël), dass sie aus bekannten Werken einer in der Literaturkritik und der Leserrezeption hoch eingeschätzten Autorin oder eines Autors stammen (wie dies bei Dickens und Eliot der Fall ist), dass sie in besonders beachtenswerter Weise die Suche nach sinnstiftenden Lebensentwürfen vor dem Hintergrund viktorianischer Einengungen und Verkümmerungen zum Thema machten (wie es Gissing und Forster taten) oder mit harscher Zivilisationskritik Einspruch erhoben gegen Fortschrittsglauben und vielfältige Nivellierung (was Lawrences Romane und Reiseberichte kennzeichnet). Was ist von einem Ergebnis der Untersuchung zu erwarten? Ein verändertes Reiseverhalten, das Verblassen traditioneller Reisemotive, doch wichtiger ist der ideologische Wandel: Änderungen der Mentalität, Zweifel und Sinnkrisen, die Lösungsversuche herausfordern. Landschaft kann sich sehr wohl als Seismograph tektonischer Verwerfungen der Ideengeschichte wie auch als Archimedischer Punkt in konflikthaftem Wandel erweisen; dies gilt umso mehr für die fremde Landschaft, da sie freier für kontrastive Sinnprojektionen als die heimische ist, die in höherem Maße durch codierte Wahrnehmungsinhalte besetzt ist. Es kann sich zeigen, dass das literarische Landschaftsbild, jenseits einer Rolle als Schauplatz, ’setting’, Lokalkolorit oder Teil der Folklore und auch jenseits einer isolierten Wertung als piktoral-ästhetisches Phänomen, mehr zeichenhafte Einschreibungen über Sinnbelegungen enthält als gemeinhin angenommen. ”Narrative landscape is [...] far more semiotically complex and elicits a far more complex process of reading than is commonly assumed by general readers or even by many literary critics.“ 41 Die Landschaft kann sich kontrastiv als erweiterter Bewusstseinsraum mit Lösungsmöglichkeiten erweisen. Geht es dabei in der Begegnung mit der Fremde und dem Anderen um Vorbilder, um zeitweilige Aufgabe von Identität, um Assimilation oder um Synthese? Gelingt die Wahrnehmung einer als defizitär empfundenen eigenen Lebenswirklichkeit über Bilder der fremden Landschaft in präziserer Form als etwa im Figurenentwurf, der Erzählhaltung oder der fiktionalen Handlungskonzeption? 41 Kadish, Literature of Images, 183. 34 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES L ITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES Die Vermutung liegt nahe, dass Landschaftsbilder freiere Räume für die Einbildungskraft darstellen und dem Autorenideal nahe kommende Vorstellungen artikulieren, da sie nicht direkt in den narrativen Fluss eingebunden sind: Sie könnten verdichtete und konturenschärfere Projektionen der Textaussage sein. 1.2 Konstitutive Elemente des literarischen Landschaftsbildes: Raum, Natur und Landschaft als Bedeutungsträger 1.2.1 Der Raum als Modus der menschlichen Existenz Platon begriff den Raum in seiner Mikro- und Makrostruktur als mathematisches Phänomen. Diese Sicht war das Ergebnis der Ableitung aller Materie aus den Elementar-Polyedern (Tetra-, Hexa-, Okta-, Dodeka- und Ikosaedern), die ihrerseits aus Dreiecken, Linien, und letztlich zählbaren Punkten bestehen. Diese geometrischen Urformen galten als Vorstufen der Elemente, deren Eigenart durch die Bauformen der mathematischen Körper zustande kam; aus den Elementen bildeten sich die Dinge der Welt. Im Vergleich zu seinem Reich der reinen Ideen, unzugänglich für Sinneserkenntnis, wie im Höhlengleichnis demonstriert, gehören Materie und Raum zum Nichtseienden. Für Platon blieben sie „[…] etwas Rätselhaftes, Dunkles und kaum Glaubliches“. 42 Auch Kant und Descartes verstanden den Raum nicht als abstrakten Begriff, der sich naheliegenderweise aus der Wahrnehmung räumlicher Gegenstände ergeben hätte. Für Descartes ist Raum identisch mit Materie, wenngleich er eine aller Erfahrung vorgängige Anschauung sei. Für Kant, der solche Anschauungen apriorisch bzw. ‚rein’ nennt, sind sie „[…] nicht durch Empfindungen zusammengebracht, sondern die Grundform aller äußeren Empfindung“. 43 Der Raum ist somit Bestandteil des menschlichen Daseins, aber jeder Empirie vorgelagert, eben eine ‚transzendentale Idealität und Einheit’ 44 bzw. eine apriorische Form der äußeren Anschauung. Alle Erklärungsmodelle von Mensch und Welt gingen bis dahin vom Raum als einer in sich ruhenden und geschlossenen Seinsform aus, die keinem Wandel unterlag und auch keinen bewirkte. Auch Kants Raumkonzept ist noch ohne Bezug zu einem situativ im Raum verankerten Subjekt und ohne dessen Interdependenz oder gar Interaktion mit dem Modus der menschlichen Existenz. 42 Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Freiburg: Verlag Herder, 1980, 11. Aufl., 145. 43 Delius, Geschichte der Philosophie, 71. 44 Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 3. E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Eine solche Sicht kommt jedoch deutlich in Heideggers Vorstellung von der existenziellen Dimension des Raumes zu Tage. Die Grundstrukturen der menschlichen Existenz, in seiner Terminologie die Existenzialien, unterscheiden sich völlig von der Seinsweise der Dinge. „Dasein ist immer In-der-Welt-Sein, das heißt, es schließt den Bezug zu einer vorgegebenen Umwelt ein; [...] es [das Dasein] ist in die Welt ‚geworfen’. Das in die Welt geworfene Dasein ist jedoch nicht auf ein bestimmtes So-Sein festgelegt. Es muß sich in jedem Augenblick und mit jeder Entscheidung erst zu dem machen, was es sein will.“ 45 „Dieser existenzielle Aspekt des Raumes und seine Verankerung in der ‚Lebenswelt’ (Husserl) ist seitdem für die Forschung ... leitend geblieben.“ 46 Einen entscheidenden Beitrag dazu lieferte die Phänomenologie mit ihren Theoremen zur Wahrnehmung. Husserl sah das Bewusstsein von Intention gesteuert und nicht lediglich als rezeptive Projektionsfläche. Intention bedeutet aber ein Gerichtetsein auf ein Ziel, das außerhalb in einem Raum liegt, zu dem das Bewusstsein in Bezug tritt. Merleau-Ponty verstand Wahrnehmung als aktiven Prozess der Welterschließung durch das Subjekt, das körperlich in die Welt eingreift. 47 „Wir sagten, der Raum sei existentiell; wir hätten auch sagen können, die Existenz sei räumlich, daß sie nämlich nach innerer Notwendigkeit sich einem ‚Außen’ öffnet, und zwar so wesentlich, daß wir von einem geistigen Raum und einer Welt der Bedeutungen und der sich in ihnen konstituierenden Denkgegenstände sprechen können.“ 48 Das Verständnis dieses Bezugs zwischen Mensch und Raum ist durch die philosophische Anthropologie mit ihrem Blick auf Mensch und Umwelt vertieft worden. Max Scheler sprach von des Menschen besonderer ‚Weltoffenheit’ und seiner Fähigkeit, zur Umwelt in Distanz zu treten; Helmut Plessner beschrieb mit seiner Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben - im ersten Falle als Ausdruck unmittelbarer Selbstaffektion bzw. Erlebensfähigkeit, im zweiten Falle als Instrument zielgerichteten Handelns - die enge Verzahnung des Menschen mit dem ihn umgebenden Raum. 49 Diese Konzeptualisierung einer Dichotomie der menschlichen Existenz mit den Komponenten Leib und Körper, in Kunst und Religion häufig thematisiert, ist ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung des Menschen vom Tier. Bedeutsam an der Vorstellung dieser Dualität ist die in den Raum greifende Potenzialität zum Handeln. „Dieser erweiterte Sinnaspekt der Raumhaftigkeit des Daseins ist insbesondere für den fiktionalen Raumentwurf wichtig [...]. Der Umstand, daß es ‚keine Leistung und 45 Delius, Geschichte der Philosophie, 99. 46 Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 4. 47 Vgl. Delius, Geschichte der Philosophie, 98. 48 Maurice Merleau-Ponty, zit.n. Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 5. 49 Vgl. Delius, Geschichte der Philosophie, 101f. 36 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES Schöpfung des Geistes [gibt], die nicht irgendwie auf die Welt des Raumes Bezug nähme’ und daß gleichzeitig der Raum ‚eine Kommunikation mit der Welt’ markiert, ‚die älter ist als alles Denken’ und die ‚der Reflexion undurchsichtig’ bleibt, prädestiniert den Raum zur Rolle eines primären Stimmungs- und Ausdrucksträgers und begründet im literarischen Werk seine Symbolfunktion bzw. besser die Vielfalt der Arten seiner Symbolfunktion.“ 50 Diese symbolische Sinnbefrachtung ist ein komplexes Phänomen, wie das folgende Kapitel zeigen soll. 1.2.2 Das Phänomen der symbolischen Sinnbefrachtung des Raumes Stets ist der den Menschen umgebende Raum von ihm mit Bedeutung belegt worden, dessen Sinngehalt durch den Bezug zu seinen Lebensumständen, seiner sozialen Gruppe und seiner kulturellen Tradition geschaffen wurde. „Der Raum zählt zu den Grunddimensionen menschlichen Lebens; [es ist sinnvoll, dass man] einen real existierenden von einem kognitiven Raum unterscheidet. Der kognitive Raum hat eine elementare Bedeutung für das räumliche Handeln in allen Kulturen, weil er sich aus einem symbolischen Text zusammensetzt, der der Identitätsbildung, der Identitätssicherung und der Abgrenzung gegenüber anderen dient. Daß der von Menschen angeeignete und gestaltete Raum ein Symbolsystem darstellt, dessen ‚Informationen’ von seinen Benutzern entschlüsselt werden müssen, hat zu der Vorstellung von der ‚Sprache des Raums’ beziehungsweise zu einer Zuordnung in ein nicht-verbales Kommunikationssystem geführt. Oder anders ausgedrückt: Menschen und Kulturen interpretieren und bewerten ihre räumliche Umwelt, sie entwerfen eine Raumordnung, d.h. ein Netzwerk räumlich-kultureller Identität.“ 51 Ausgangspunkt aus anthropologischer Sicht ist der Wunsch nach Sicherung von Lebens- und Überlebenschancen in einer Umwelt, die ohne solche Sinnzuweisungen schwer erschließbar und noch viel schwerer zu kontrollieren wäre. Bereits im frühen 18. Jahrhundert entwickelte Giovanni Battista Vico die erstaunlich aktuell anmutende Theorie, dass der Mensch im Vor- und Frühstadium einer Kultur „[…] Bilder und Symbole nicht aus höherer Weisheit schafft, sondern einfach als Werkzeuge zur Bewältigung einer Welt, die er nicht versteht.“ 52 Begreift man Verstehensvorgänge als Wunsch nach Kontrolle im weitesten Sinne, dann entspringen die von Philosophie und Religion bereitgestellten Erklärungsmodelle von Natur und 50 Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 5f. 51 Andreas Ramin, Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität - Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München: iudicium Verlag, 1994, 1f. 52 Ernst Hans Gombrich, Das symbolische Bild (engl. Orig.ausg., Symbolic Images, Oxford, 1972), Stuttgart: Verlag Klett-Cotta, 1986, 221. 37 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Welt einem Sicherheitsbedürfnis, das biologisch-genetischen Ursprungs ist (vgl. 1.1.3 u. 1.3.2-4). Es ist nicht verwunderlich, dass die kulturell sublimierten Formen menschlichen Tuns der symbolischen Sicht des Raumes zentrale Bedeutung zumessen. Philosophie, Mythologie und Religion, Kunst und Literatur und in komplexerer Weise auch Musik evozieren nicht nur Raumvorstellungen, sondern fungieren als Deutungssysteme. Verliert solch ein System seine Aussagekraft, dann ist Ersatz aus seelentherapeutischen Gründen dringend geboten. So löste der mit der Aufklärung einsetzende Bedeutungsverlust der Religion eine Suche nach sinnstiftenden Erklärungsmodellen des Transzendentalen aus. Es kam zur mystischen Verklärung der Natur in der Romantik und bei den amerikanischen Transzendentalisten, wobei der Raum als Unendlichkeitsprojektion eine große Rolle spielte, insgesamt eine Tendenz, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zugenommen hat: „Ohne Zweifel repräsentiert diese beharrliche Tendenz [die Suche nach Transzendenz] sowohl ein psychologisches als auch ein geistiges Bedürfnis. Besonders heute finden wir Erleichterung darin, uns von einer vom Menschen geschaffenen Welt abzuwenden, die uns mit ihrem materialistischen Wertsystem zu erdrücken scheint, und uns einer unberührten Welt zuzuwenden - wo es sie noch gibt -, die uns seelische Erneuerung verspricht.“ 53 Die Thematisierung solcher Erneuerungsprozesse in der Kunst durch verbale, bildnerische oder auch klangliche Landschaftsbilder ist eine spannungsvolle Entwicklung der europäischen Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Wie groß die Relevanz heute ist, zeigt sich daran, dass Bemühungen zur Bewahrung von Naturräumen sich keinesfalls in der Schaffung von Landschafts-, Naturparks und Reservaten erschöpfen, sondern weltanschaulich-politischen Status erreicht haben, verbunden mit dem Anspruch, gesellschaftliches Handeln und Politik allgemein vor diesem Hintergrund zu gestalten. Je nach Ausprägung des soziokulturellen Umfeldes kommt es ‚naturgemäß’ zu unterschiedlichen Deutungen von Umwelt als konkret gewordene Raumvorstellung: „Alle Kulturen betrachten, beschreiben und bezeichnen ihre Umwelten verschieden. Im Laufe der Geschichte haben bildende Künstler unterschiedliche Weisen gelehrt, die Natur zu sehen, und Schriftsteller haben unterschiedliche Weisen, über sie nachzudenken [...]. Im Grunde stellt die Kunst eine Art Feedback-System dar, durch das Menschen sich selber Botschaften über die Beschaffenheit der Realität übermitteln.“ 54 Künstler und Schriftsteller bedienen sich gedanklicher Vorgaben ihres Kulturraumes; sie müssen es tun, um einerseits Kommunikation zu ermöglichen und um andererseits eigene Akzentsetzung überhaupt 53 William H. Ittelson unter Mitwirkung von M. Prohansky, G. Rivlin, H. Winkel, Einführung in die Umweltpsychologie, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1977, 36. 54 Ebd., 33f. 38 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES erkennbar werden zu lassen. So war der mittelalterliche Künstler und Autor dem damaligen theozentrischen, symbolischen Weltbild verpflichtet, das durch den Dualismus von Mensch und Natur gekennzeichnet war. Die vorchristliche, animistische Sicht einer von Geistern und Göttern belebten Umwelt, die sich im Begriff der ’anima mundi’ bis zur Renaissance fortsetzte und noch in Ralph Waldo Emersons ‚Überseele’ fast konkret erscheint, hatte allerdings dem Primat des Logos in der christlichen Heilslehre zu weichen, die die Kraft des Wortes in der Nachfolge der Ideenlehre Platons ins Zentrum rückte. In den fernöstlichen Kulturen und der Entwicklung ihrer Malerei war im Übrigen diese anthropozentrierte Opposition von Mensch und Natur nicht gegeben (vgl. 1.3.5). Künstler und Dichter kultivierten eine „kosmische Sehweise. Der Mikrokosmos wird durch Berg und Fluß als Weltganzes erfahrbar“, und dieses „Einswerden mit der Natur“ zeigt sich in der Vorstellung, dass das „unsichtbar der Landschaft innewohnende Lebens- und Ordnungsprinzip“ ein übernatürliches Sein manifestiere und die natürliche Ordnung Spiegel und Ursprung unvergänglicher Werte sei: „Malen wird zum Erkenntnisprozeß.“. 55 Wenn chinesische Künstler das realistische Abbilden nicht als Ziel der Kunst ansahen, sondern einen ‚Abdruck des Herzens’ wollten, so hatten sie dafür freilich andere Gründe als die europäischen Künstler des Mittelalters: Erstere sahen Sinn und Zweck der Malerei „[…] nicht im Festhalten der optischen Erscheinung eines Gegenstandes, sondern im Erfassen seines ‚Lebensatems’ und in der bildnerischen Gestaltung“ 56 , d.h. in der Verbildlichung eines ganzheitlichen Konzepts von Mensch und Welt, während letztere die Darstellung einer von Gott geschaffenen und seinem Willen unterworfenen Weltordnung anstrebten. Logozentrismus und Askese des frühen Christentums stuften das Gefühl niedriger ein als den Verstand und standen einer intuitiven und von Gefühlskräften ausgehenden Naturbetrachtung ablehnend bis feindselig gegenüber. Diesem als feminin erachteten Zugang zu Erkenntnis wurde, ungeachtet einzelner Gegenströmungen, die Möglichkeit zuverlässiger Wahrheitsfindung abgesprochen. 57 Aus dieser logo- und anthropozentrischen Tradition des philosophisch-religiösen Denkens bildete das Mittelalter die Umwelt in Symbolen ab, deren Bedeutung sich dem damaligen Betrachter allerdings ohne weiteres erschloss: “We who are heirs to three centuries of science can hardly imagine a state of mind, in which all mate- 55 Lothar Ledderose, Im Schatten hoher Bäume - Malerei der Ming- und Qing-Dynastien (1368-1911) aus der Volksrepublik China, Baden-Baden: Ausstellungskatalog der Kunsthalle Baden-Baden und des Kunsthistorischen Instituts der Universität Heidelberg, 1985, 66 u. 166f. (s. auch Fußnote 184). 56 Ebd., 10, 19 u. passim. 57 Vgl. Ittelson, Umweltpsychologie, 42f. 39 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG rial objects were thought of as symbols of spiritual truths or episodes in sacred history.“ 58 Eines der bedeutendsten Symbole war der Garten, der in den Mythen der griechischen Antike und in den Religionen des vorderasiatischen Raumes eine zentrale Rolle spielt. Die Vorstellungen vom ‚Paradies’, ein Wort aus dem Persischen mit der Bedeutung ‚von Mauern umgebener Raum’, sowie der spätjüdische Name des Gartens ‚Eden’ zeigen markante Parallelen zwischen Christentum, jüdischer Religion und dem Islam. 59 Die Vorstellung des mittelalterlichen Paradiesgärtleins, als biblischer Topos durch die Kreuzfahrer verstärkt, war ein wichtiger Schritt zur ’landscape of symbols’, die die Buch- und Tafelmalerei sowie die Teppichkunst des Mittelalters beherrschte. 60 Jenseits der Mauern blieb die Natur fremd und beängstigend. In der germanischen Tradition war die Wildnis ein Ort der Furcht und des Schreckens, bevölkert von Hexen, Riesen, Gnomen und Dämonen, andererseits aber auch ein heiliger Ort ganzheitlicher Naturverbundenheit. Aus christlicher Sicht jedoch wurde die Wildnis zum Ort der Strafe, weil der Mensch dort seinen Mitmenschen und ihren gottgefälligen Werken fernstand. 61 Über die tatsächlichen Gefahren hinaus wurde der Wildnis eine symbolische Gefahr beigemessen, die in Schreckensfantasien zum Ausdruck kamen, wie sie höchst eindrucksvoll in Matthias Grünewalds ‚Die Versuchung des heiligen Antonius’ im Isenheimer Altar dargestellt sind. Sie sind psychologisch so erklärbar, dass das Unbekannte „Ausdruck für das Böse [ist], das in des Menschen eigener Natur liegt“ und nach außen projiziert wird. 62 Eine solche Assoziation wurde schon in vorchristlichheidnischer Zeit hergestellt: Grendel kommt aus einem finsteren Teich, um Unheil zu stiften, bevor ihn Beowulf besiegt, und Siegfried erlegt den Drachen am Ort seiner Missetaten im tiefen, dunklen Wald; in der griechischrömischen Mythologie richtete der Waldgott Pan zwischen Felsen und Bergen Unheil an 63 , der ‚wilde Mann’ des Mittelalters durchstreifte furcht- 58 Kenneth Clark, Landscape into Art, London: John Murray Ltd., 1976, 5. 59 Die jüdische Religion geht vom Kommen einer messianischen Zeit und einem ewigen Friedensreich aus. Im Koran wird das Paradies so dargestellt: ”But joyous on that day shall be the Inmates of Paradise, in their employ; In shades, on bridal couches reclining, they and their spouses: Therein shall they have fruits, and shall have whatever they require -’Peace! ’ shall be the word on the part of the merciful Lord “(Sura 36).The Koran, London: Everyman, 1909 (1971), 340, zit.n. Henss, Utopian Literature, 9. 60 Clark, Landscape into Art, 13ff. 61 Ittelson, Umweltpsychologie, 34. 62 Ebd., 47. 63 In frühen Kurzgeschichten und in A Room with a View hat E.M. Forster diesen antiken Bedeutungsgehalt des Pan aufleben lassen: Als irrationale Kraft dringt er in die beschauliche Routine britischer Reisender in Italien und Griechenland ein und stiftet Verwirrung und ‚panischen’ Schrecken. In der Antike verkörperte Pan Trieb, Instinkt, Sexualität: Forster instrumentalisierte ihn als Kontrastfolie zu spätviktorianischer Prüderie. 40 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES einflößend die deutschen Wälder, und „Die Sphinx wartete vor den Toren Thebens auf ihren Tribut an Menschenfleisch.“ 64 Mit zunehmender Bedeutung der Landschaft als Motiv der Malerei (vgl. 1.3.5) weitete sich das Symbolreservoir der dargestellten Räume und prägte, in gegenseitiger Verweisung zwischen schreibendem und bildendem Künstler, die westliche Art der Wahrnehmung von Umwelt: ”Landscape painting marks the stages in our conception of nature.“ 65 Das ‚Sehen’ des Raumes wird neben verbalen auch durch visuelle Konventionen geprägt, ein durch die Entwicklung der Landschaftsmalerei und die Zunahme der Bildmedien sich verstärkender Vorgang. 1.2.3 Konventionalisierte Raumwahrnehmung Am Anfang der Wahrnehmung von Welt durch das Subjekt stehen aus Sicht der Entwicklungspsychologie Bilder als ’representational system’ für das Andere. Sie umschreiben in der frühkindlichen Phase die Differenz zwischen Selbst und Welt: “The objects in our world are reduced to images.“ 66 Die bildproduktive Eigenschaft des Subjekts stellt sich als Folge der Individuation und der Identitätsbildung dar, und ein Spezifikum dieser Eigenschaft ist die Wahrnehmung nach bipolarem, manichäischem Muster. Modus und Schema dieser Wahrnehmung treffen auf Lebewesen und Objekte gleichermaßen zu. Eine zweite Quelle des Entstehens von Bildern im Subjekt ist dessen Platz in einem Sozialgefüge wie Familie, Stamm, Berufs-, Volksgruppe, Nation, Kulturkreis u.ä. mit zahlreichen Bindungen kommunikativer und interaktiver Art. Die vom individuellen Bewusstsein hervorgebrachten Bilder vom Selbst und der Welt spiegeln diese Bindungen wider. Das Entstehen von Wahrnehmungskonventionen vollzieht sich per definitionem beim Zusammenkommen von und in Übereinkunft mit kulturell bedingten Wahrnehmungsweisen, die Identität begründen. Die Rede ist von Kollektiverfahrungen aus den Aktivitäten von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, vor allem aber aus den bildmächtigen Bereichen der Mythologie und Religion, der Literatur und bildenden Kunst. Sie werden über Erziehung in institutionalisierter Form weitergegeben und vor allen Dingen über Texte unterschiedlicher Art verbreitet. Daraus entstehen Konventionen, auch solche für die Wahrnehmung von Raum, Natur und Umwelt, an denen bildende Künstler und Schriftsteller maßgeblich beteiligt sind bis zu dem Punkt, dass die Natur die Kunst nachahmt und aus der natürlichen, chaotischen Umwelt eine geordnete, bedeutungsvolle ent- 64 Ittelson, Umweltpsychologie, 47. 65 Clark, Landscape into Art, 1. 66 Gilman, Difference and Pathology, 19. 41 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG steht. 67 Aus Sicht des Ästhetizismus umschreibt Oscar Wilde die Illusion des Zugriffs eines selbstmächtigen Subjekts auf die Außenwelt so: “External nature imitates Art. The only effects that she can show us are effects that we have already seen through poetry, or in paintings.” 68 (vgl. 1.2.2). Von der Antike bis in die Neuzeit, seit der Naturdichtung und dem Epos, werden literarische Bilder von Natur und Landschaft hervorgebracht. Das Auftreten des Romans in seinen unterschiedlichen Spielarten ist für die ästhetische Raumwahrnehmung besonders bedeutsam, wofür es gattungsspezifische, kultur- und zeitgeschichtliche Gründe gibt, und trotz seines späten Erscheinens sind Konventionen der Wahrnehmung auch in den Roman eingeflossen. Auch die seit dem 19. Jahrhundert aufkommenden Medien der Daguerreotypie und der Fotografie, danach die des Films und des Fernsehens sind von Vorgaben geprägt: Die ‚Kommunikation’ zwischen dem Produzenten und dem Empfänger der Bilder, also dem Fotografen und dem Betrachter, kann nur gelingen, wenn beide Seiten auf vertraute Sehmuster zurückgreifen; andererseits steht der Bildproduzent im Moment der Bilderstellung selbst unter dem Einfluss vorgeformter Sehgewohnheiten. Im Cyberspace, einem Amalgam aus Realität und Fantasie, sind bisherige Raumbezüge samt deren Symbolgehalt freilich weitgehend bedeutungslos. 69 Konventionalisierte Sehgewohnheiten waren und sind jedoch in Wort und Bild von so prägendem Einfluss, dass ein Blick auf die wichtigsten von ihnen geboten erscheint. 70 Das Motiv des Gartens. Wie sehr die Literatur, im Verbund mit christlichjüdischen und islamischen Vorstellungen, die Wahrnehmung der europäischen Landschaft geprägt hat, zeigt der bildmächtige Topos des Gartens. Seit der Antike umschrieb er eine idealisierte Form der Naturbegegnung, und Gärten waren Abbilder „[…] weltanschaulicher Überzeugungen, die schon immer Einfluß auf die Gartengestaltung hatten, galten Gärten doch 67 Vgl. Ittelson in 1.2.2 bzgl. Fußnote 53f.. 68 Oscar Wilde, zit.n. Gilman, Difference and Pathology, 22. 69 William Gibson schreibt in Neuromancer (1984), dass “Spielern dort [vor Computern in Videoarkaden in Vancouver] eine Art Raum vorschwebe, zu dem sie eine weit innigere Beziehung unterhielten als zu dem, in dem sie sich zufällig und leider ihre Körper befanden, [dass] Cyberspace der letzte und unterhaltsamste aller Räume ist und sich der Aufenthalt in anderen kaum noch lohnt.“(William Gibson, Neuromancer, zit.n. Geoffrey Winthrop-Young, Müdes Fleisch im Cyberspace: Zur Bildung schlaraffizierter Medienräume, in: Krause/ Scheck, Natur, Räume, Landschaften, 273). 70 Wie massiv und lange konventionalisiertes Sehen die Künste bestimmte, belegt Lessings Einspruch durch seine Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten. Er wandte sich gegen das „[...] von dem griechischen Dichter Simeonides eingeführte Theorem, dass die Malerei eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei sei. Durch Horazens De arte poetica war dieser kunst- und dichtungstheoretische Satz in der Formel »Ut pictura poesis« zu einem in den Kunsttraktaten immer wieder zitierten Axiom geworden.“(Schneider, Geschichte der Ästhetik, 37f.). 42 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES als Ideal- und Wunschbilder der Welt.“ 71 Entsprechend vielfältig sind historisch die Gestaltungsprinzipien: Sie reichen von den Gärten der Semiramis und des Alkinoos über den Garten Eden, die mittelalterlichen Paradies-, Kloster- und Kräutergärtlein zu den architektonischen Gärten der Renaissance (Tivoli, Aranjuez und Fontainebleau) und den parkähnlichen Landschaftsgärten der Neuzeit (Versailles, Chiswick oder Wörlitz): Allen gemeinsam ist das Eingreifen in eine ungeordnete Natur und die Umgestaltung nach vorgefertigten Modellen. Das Paradiesmotiv. Das wirkungsmächtige Bild des Gartens ist als Paradiesmotiv in die Jenseitsvorstellungen der drei großen Weltreligionen des Vorderen Orients zentral eingeschrieben. Mit den Motiven der Überfülle an Nahrung, Wasser, Pflanzen und Früchten in ewigem Frühling bezeichnet es das Gegenteil eines kargen Naturraumes und eines durch Feindschaft geprägten Sozialgefüges. Das Paradies stellt einen in ein konkretes Naturbild gegossenen Ort eines endzeitlichen Glückszustandes dar als Gegenentwurf zu einer Welt des permanenten Mangels, des Streits und der Ungerechtigkeit. Garten bzw. Paradies sind mehr als Landschaften: Sie sind Ausdruck von Seelenzuständen und Erwartungshaltungen an eine transzendentale Seinsform, die gerade in der modernen Welt nichts an Relevanz verlieren. 72 Das Elysium. Unter den klischeehaften Landschaftsbildern von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hat das Elysium als Wunschort in einer Wunschzeit seinen festen Platz. In der griechischen Mythologie lag es am Westrand der Erde beim Okeanos, ein idealtypisches Gebiet, in dem auserwählte Helden wie Menelaos für immer ein sorgenfreies Leben führten. Es war ein Gefilde für die Unsterblichen, das bereits in Schriften Hesiods kurz nach Homer auftaucht. In der späteren antiken Mythologie waren die Elysischen Felder die Insel der Glückseligen am Rand des Hades, wo die Tugendhaften nach ihrem Tod in schöner Natur weilten, ohne sich ins Reich der Schatten unter der Erde begeben zu müssen. Das Goldene Zeitalter. Die Verbindung von idealer Naturschönheit mit Tugendhaftigkeit und ewigem Leben ist Bestandteil des Bildes vom Goldenen Zeitalter. Es beschreibt eine Wunschzeit in topografischer Klischeeszenerie: sanfte Hügel und Wiesen, Schatten spendende Bäume an Bächen 71 Frank Maier-Solgk und Andreas Greuter, Landschaftsgärten in Deutschland, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1997, 11. 72 „In der modernen Welt ist Religion eine zentrale, vielleicht sogar die zentrale Kraft, welche die Menschen mobilisiert und motiviert und mobilisiert.“ (Huntington, Kampf der Kulturen, 94). „Der [...] stärkste Grund für den weltweiten Aufschwung der Religion ist genau derjenige, der eigentlich den Tod der Religion bedeuten sollte: es ist die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Modernisierung [...]. [Es] lösen sich angestammte Identitäten auf, das Ich muß neu definiert, neue Identitäten müssen geschaffen werden. Fragen der Identität gewinnen Vorrang vor Fragen des Interesses. Die Menschen müssen sich fragen, Wer bin ich? Wohin gehöre ich? Die Religion bietet auf diese Fragen überzeugende Antworten.“(ebd., 148f.). 43 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG und Teichen, eine Überfülle an Blüten und Früchten in sonnigem Klima. Die ersten Menschen, berichtet wiederum Hesiod, waren Zeitgenossen des Kronos im ersten, dem goldenen der vier Zeitalter der Menschheit: “They lived like gods, free from worry and fatigue; old age did not afflict them; they rejoiced in continual festivity. [...] All the blessings of the world were theirs: the fruitful earth gave forth its treasures unbidden.” 73 Die von antiker Literatur generierten Idealvorstellungen von Natur begleiteten Europas Bildungsreisende in den Süden, und insbesondere die jungen englischen Adeligen auf der Grand Tour erschlossen sich Italiens Landschaft in solch konventionalisierten Bildern. Der locus amoenus. Das Klischeebild dieses Naturorts hat die Naturwahrnehmung Europas nachhaltig geprägt, doch eigenartigerweise hat man diesen Lustort, „[…] in seinem rhetorisch-poetischen Eigendasein bisher nicht erkannt [...]. Und doch bildet er von der Kaiserzeit bis zum 16. Jahrhundert das Hauptmotiv aller Naturschilderung.“ 74 In der römischen Pastoraldichtung ist die Landschaftsszenerie Staffage (Theokrit, Horaz, Vergil), und Darstellungen in Form der Ekphrasis mit scheinbar impressionistischer Fülle verdecken in Wahrheit einen standardisierten, schematisierten Zugriff auf die Natur 75 mit den Kennzeichen eines vorgegebenen Landschaftsinventars. 76 Die stereotypisierten Bildinhalte der Antike finden sich im Mittelalter wieder: Bach, Bäume, Schatten, Wiese, Vögel, Blumen und evtl. Baum- und Wassernymphen, wovon Liebeslyrik und Schäferdichtung, z.B. die Pastourelles in den Carmina Burana, Zeugnis ablegen. 77 Arkadien. Bereits um 300 v.Chr. schrieb Theokrit, Begründer der Bukolik, Gedichte über friedliche Hirten, Liebe und weibliche Schönheit. Auch Vergils Pastoralgedichte zeichnen ein Idealbild ländlichen Lebens zunächst in Sizilien, dann in Arkadien im Peloponnes, Heimat des Pan, und er „[…] stilisierte es zwischen Mythos und Realität zum Land des verklärten Alltags, zur Seelenlandschaft des Dichters, der dort im Einklang mit der Natur den Göttern nah ist“. 78 . Die standardisierte Naturszenerie der Bukolik war von kaum überschätzbarem Einfluss. 79 Daphnis und Cloe, die Hirtenroman- 73 Hesiod zit.n. The New Larousse Encyclopedia of Mythology, 93. 74 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 11. Aufl., 1993, 202. 75 Vgl. ebd., 202ff. 76 In Platons Phaidros spricht Sokrates von einem lieblichen Ort außerhalb der Stadtmauer, dessen Naturinventar nur aus einer Platane und einem Bach besteht. Für den Stadtmenschen Sokrates ist die Szenerie trotz ihrer Behaglichkeit Anlass zu einem ironischen Stadt-Land-Kontrast: Ein möglicher Hinweis darauf, dass schon damals der locus amoenus ein konventionalisiertes Bild war.(vgl. Kullmann, Vermenschlichte Natur, 30). 77 Vgl. Curtius, Europäische Literatur, 204. 78 Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, Francois Bondy et al., Hrsg., Dortmund: Harenberg Lexikon Verlag, 1989, Bd. 1, 200f. 79 Wie beim Garten- und Paradiesmotiv gibt es durch die Bukolik eine Verquickung literarischer und religiöser Denkmuster. Seit dem Mittelalter ist die pastorale Bildersprache wichtiger Aspekt christlich-neutestamentarischer Lehre: Christus ist der gute Hirte, 44 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES ze des Longus und Prototyp der Pastoralelegie über die Schilderung der Trauer der Natur über den Tod des Hirten Daphnis, bestraft von Aphrodite wegen seiner unerschütterlichen Liebe zur Nymphe Chloe, wurde Vorbild für Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre, und Goethe versah seine Italienische Reise programmatisch mit dem Untertitel: ‚Auch ich in Arkadien! ’ (ohne ambivalenten Sinnbezug, den die Inschrift “Et in arcadia ego“ auf Sarkophagen in zwei Gemälden Nicolas Poussins aufweist). Gerade in England führt ein mächtiger Strang pastoraler Tradition bis ins 19. Jahrhundert: Philip Sidney, Edmund Spenser, Marlowe, Ben Jonson, Shakespeare, Milton, Donne, Dryden, Pope, Thomson und Crabbe, um wichtige Namen zu nennen, nahmen Bezug auf Arkadien. ”For Blake the shepherd was still a symbol of an innocent and an unspoilt way of life; [...] Wordsworth was fully aware of the pastoral tradition,[...] in Book VIII of The Prelude Wordsworth evoked the whole history of the pastoral, contrasting the old idea of the shepherd’s ’smooth life’ with rough reality.” 80 Shelleys Adonais, Matthew Arnolds Thyrsis, der Parnass und die Präraffaeliten sind Belege für die anhaltende Faszination pastoraler Thematik bis zur Jahrhundertmitte und vereinzelt darüber hinaus, etwa bei Ezra Pound. Die Idylle. Der griechische Ursprung der Wortbedeutung als ‚Bildchen’ deutet an, dass die Idylle eine spezielle Sehweise nicht nur von Landschaft ist, sondern allgemein als Genrebild eine Szene der Geborgenheit und des ruhigen Glücks bezeichnet, obgleich die namensgebenden dreißig Eidyllia des Theokrit meist bukolische Gedichte sind. Das Idyllenmotiv beschreibt eine idealisierte Szene, häufig in Kontrast zu städtischer Betriebsamkeit oder Sittenlosigkeit, als Flucht in ländliche Einfachheit und Tugendhaftigkeit. In der Romantik diente die Idylle, in Fortführung des Pittoresken, zur Darstellung von Zeitkritik, wie auch in Tennysons Idylls of the King und Brownings Dramatic Idylls. 81 Der dunkle Wald und die Wildnis. Einer der mächtigsten Topoi der Naturwahrnehmung seit Beginn der europäischen Literatur ist der der Wildnis. Mit dem Raum vor der Stadt in der griechischen Antike, topografisch ambivalent als schilfbewachsene Ufer oder kahle Felsen, Höhlen oder Bergweiden imaginiert, assoziierte man das Animalisch-Ungezügelte, Unberechenbare und Furchteinflößende: Satyre oder Silene konnten als Wald- und Bergdämonen Hirten und Reisende durch plötzliches Erscheinen und tierähnliches Aussehen erschrecken. Als Teil des Gefolges des Dionysos und die Gläubigen sind seine Herde; das Bild des Schafhirten wurde in religiöser Überhöhung zum Paradigma selbstloser Hingabe. 80 J.A. Cudden, Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, London: Penguin Books, 1991, 690. 81 Wie die Idylle umschreibt die Anakreontik (Namensgeber ist Anakreon im 6. Jh.v.Chr.) keinen bestimmten Naturort, sondern lyrische Kleinformen über Liebe, Wein, heiteren Lebensgenuss mit häufig erotischem Hintergrund vor konventioneller Landschaftsstaffage (Pléiade, Ronsard; Watteau, Fragonard, Boucher). Die Tradition ging mit der Romantik zu Ende, hielt sich aber noch lange als Dekor in der Malerei und Fotografie. 45 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG der Bacchanten waren sie, wie auch Pan und die lüsternen, grobschlächtigen Kentauren, Gegenpole eines kultivierten Menschentums. In Nordeuropa wurde die Wildnis in heidnischer Zeit mit dem tiefen Wald, dem dunklen Tann und unwegsamen Forst identifiziert, ein von Göttern bevölkerter heiliger Naturraum, und jedem, der ihn zerstörte, drohte Schreckliches als Strafe. Diese Wahrnehmung des Waldes als Ort von Geheimnissen führte zur symbolischen Erhöhung als heilige Stätte, wohl in der Hoffnung, durch Ehrfurcht die Waldgötter milde zu stimmen. Andererseits verkörperte er auch die ungebändigte Kraft der Natur, die sich menschlichem Zugriff entzog: das nicht Kalkulierbare, Unbotmäßige und moralisch Verwerfliche. Von hier aus war es nur ein Schritt zur augenfälligen Assoziation der Wildnis mit dem Bösen. 82 Die fundamentale Ambivalenz in der Wahrnehmung der Wildnis kennzeichnet mediterrane und nordeuropäische Kulturen, aber auch christlich-jüdisches Naturverständnis. 83 In der Kosmogonie des Christentums ist die Welt „[…] ein Artefakt, das in Übereinstimmung mit einem göttlichen Plan konstruiert ist; deshalb hat es einen Zweck und eine Erklärung“. 84 Damit war der Weg der Forschung für die Naturwissenschaften und der Ausbeutung im Industriezeitalter offen, und die ungebändigte Natur war nicht mehr das Unbotmäßige, sondern wurde das Verfügbare (vgl. 3.6.3.4 bzgl. Fußnote 968). Die Trennung von Natur und Mensch, die fernöstlichen und auch indianischen Kulturen fremd ist (vgl. 1.2.2), ist die Folge einer logo- und anthropozentrischen Weltsicht mit dem Ziel, mittels Analyse und Empirie das ‚Uhrwerk Kosmos und Natur’ seiner teleologischen Bestimmung zuzuführen. Einwände dagegen reichen vom Erhabenen und Schönen bei Burke, vom Pittoresken bei Gilpin über den englischen Landschaftsgarten, die Romantik, den Historizismus bis ins 20. Jahrhundert, um in Naturparks und Reservaten unberührte Landschaft - oder zumindest nachgestellte Bilder davon - zu bewahren. Die Zwiespältigkeit bzw. Doppelbödigkeit europäisch-amerikanischer Naturwahrnehmung ist in den kommerzialisierten Klischeebildern von Wildnis und ihrer vielfältigen Vermarktung allerdings offenkundig. Die heutige Vorstellung von Wildnis oszilliert zwischen Verklärung als vielleicht letztem Ort einer holistischen Weltbetrachtung, Ort der Sehnsucht und ersatzreligiösen Sinnstiftung und einer utilitaristischen Einstellung in einer säkularisierten Welt. „Unsere Vorstellung von der Wildnis ist entweder durch die Überzeugung geprägt, daß man sie zähmen oder daß sie einen Ausweg aus der vom Menschen gemachten Welt dar- 82 Vgl. Ittelson, Umweltpsychologie, 46f. 83 In mittelhochdeutscher Epik und im altfranzösischen ’roman courtois’ konstatierte Andreas Ramin neun Funktionen des Waldes auf einer Skala von ‚positiv’ bis ‚negativ’, z.B. Ort des Schutzes, des Märchens, des ’Aventiure’, der Orientierungslosigkeit. (Ramin, Symbolische Raumorientierung, 78). 84 A.a.O. 46 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES stellen müsse.“ 85 Wissenschaft und Technologie, Produktions- und Konsumorientierung stehen als pragmatische Handlungsvorgaben in tief reichendem Widerstreit zu ganzheitlichem Erklärungsbedürfnis und Harmonieverlangen. Die Symbolische Landschaft. Landschaftswahrnehmung wird in der Moderne, mehr denn je zuvor, symbolisch aufgeladen, wobei drei Bedeutungsebenen unterscheidbar sind: 1. Darstellung, 2. Symbolgehalt, 3. Ausdruck: „Diese drei Funktionen können auch in einem bestimmten konkreten Bild vereinigt sein - ein Motiv auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch kann ein zerbrochenes Gefäß darstellen, die Sünde der Völlerei symbolisieren und etwa eine unbewußte sexuelle Phantasie des Künstlers ausdrücken, aber für uns bleiben diese drei Bedeutungen völlig getrennt.“ [Hervorhebung: E.H. Gombrich] 86 . Die symbolische Landschaft transzendiert die Objektwelt durch Bezug auf ein dahinter liegendes Bedeutungsgeflecht des kognitiven Raumes als Symbolsystem, das den Sinngehalt der verbalen oder bildlichen Darstellung konstituiert und dessen Implikationen durch Sichtweisen vor allem der Tiefenhermeneutik und der Psychoanalyse des Näheren erschließbar werden. Auf Grund der “symbolising faculty of the mediaeval mind“, bedingt durch die Allgegenwart und Geschlossenheit eines autoritativreligiösen Weltbildes, ist die mittelalterliche Landschaft in Wort und Bild das Musterbeispiel einer ’landscape of symbols’, die für alle Mitglieder der Gesellschaft ohne weiteres entzifferbar war. 87 Doch seit dem 12. Jahrhundert werden Naturphänomene zunehmend auch auf Menschen bezogen: „Die Deutung der Welt als ’liber et pictura’ wird durch den Einbezug des Betrachters individualisiert und subjektiviert [...]. Gerade die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten der Natur zeigt die zurückgehende Verbindlichkeit dieser Deutungen. Anders formuliert: Der schwindende Glaube an die Erkennbarkeit des göttlichen Kosmos führt zu einer größeren Flexibilität des Dichters bei der Ausgestaltung von Naturmotivik.“ 88 Diese Tendenz verstärkt sich durch die Etablierung ästhetischer Naturbetrachtung im 18. Jahrhundert (vgl. 1.2.4), obwohl Menschen und Kulturen stets ein Symbolsystem ihres kognitiven Raumes zwecks Interpretation und Bewertung ihrer Umwelt benötigen (vgl. 1.2.2). Ausgehend von der „[…] grundlegenden Tendenz des Menschen und seiner Sprache, unvertraute und abstrakte Vorstellungen auf vertraute räumliche Erfahrungsweisen zurückzuführen“, geraten archetypische Landschaftselemente wie Fluss, Meer, Berg, 85 Ittelson, Umweltpsychologie, 34. 86 Ernst H. Gombrich, Die Philosophie der Symbolik und ihr Einfluß auf die Kunst, in: ders., Das symbolische Bild, 152. 87 Clark, Landscape into Art, 5f. 88 Thomas Kullmann, Vermenschlichte Natur - Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1995, 45. 47 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Wald, Garten oder Höhle in die Rolle von „elementaren Natursymbole[n]“. 89 Die ‚Veräußerlichung der Natur’ in der Neuzeit führt zur impressionistischen Landschaft ohne Anspruch auf eine verbindlich-naturgemäße Wiedergabe. „Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Fehlen eines gemeinsamen Glaubens die gemeinsame Landschaft zerstört.“ 90 Landschaft wird zwar weiterhin, wie etwa bei Van Gogh, Gauguin und Cézanne erkennbar, symbolisiert, nur sind die Sinnzuweisungen „[…] eher persönlichen als sozialen Bedeutungen verpflichtet.“ 91 Die metaphorische Landschaft. In dieser Sonderform der symbolischen Landschaft wird Außenwelt gänzlich unter den Vorgaben literarischer oder künstlerischer Erfahrung gesehen. „Viele [...] Beispiele lassen sich finden: die englischen Midlands von D.H. Lawrence und Arnold Bennett; das Seengebiet von Wordsworth und das Dublin des Ulysses von James Joyce, von dem Joyce selbst sagte, daß die Stadt aus seinem Buch Straße für Straße wiederaufgebaut werden könne, wenn sie zerstört werden sollte. Und es ist wirklich, trotz aller Veränderungen, das Dublin von Joyce, das man heute besichtigt. Solche Schriftsteller schaffen metaphorische Landschaften [...], sozusagen ererbte Landschaften [als] Speicher für Gedächtnisinhalte und Bedeutungen aus einer früheren Zeit [...].“ 92 1.2.4 Die Individualisierung der Wahrnehmung von Raum, Natur und Landschaft Eine der Grundprämissen dieser Untersuchung ist, dass alle Wahrnehmung infolge kultureller Codierung einer Präformierung unterliegt und sich somit innerhalb von Grenzen eines Sinnhorizontes bewegt. Verstehen ist ein definitiv nicht abschließbares Bemühen um Grenzüberwindung eines unzulänglichen Vorverstehens und damit verknüpfter Vorurteile. Solch hermeneutisches Vorgehen geht beim Blick auf das Subjekt von der Begrenztheit oder gar punktuellen ‚Blindheit’ der Wahrnehmung aus. Auch der Individualisierung von Wahrnehmung liegt der Begriff eines nicht selbstmächtigen Subjekts zugrunde, - weil es so nicht existiert; es geht um ein schrittweises Überschreiten gegebener Grenzen, die als solche 89 Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 340. Das „Realismusdilemma der Viktorianer“ ergab sich aus der Forderung nach ’verisimilitude’ und gleichzeitig nach moralischer Bedeutung von Natur, das Ruskin als Theoretiker seiner Zeit „logisch nicht immer überzeugend“ lösen konnte. (Kullmann, Vermenschlichte Natur, 356f. ; vgl. auch 2.2.3) 90 Ittelson, Umweltpsychologie, 80 u. 72. 91 Ebd., 72. 92 Ebd., 35. 48 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES bestehen bleiben und das Faktum der ‚Verzerrungen’ 93 des Blickes nicht aus der Welt schaffen. Was Jean-François Lyotard mit Blick auf Derridas Theorem strikter intertextueller Abhängigkeit bei Kunstwerken sagte, lässt sich analog auf die Individualisierung von Wahrnehmung übertragen, zumal beide Phänomene wesenhaft eng miteinander verbunden sind. Lyotard sieht in der Kunst das verwirklicht, „[…] was über das Diskursive hinausgeht“: „Im Anschluß an Denkfiguren von Adorno und Benjamin versucht er [Lyotard], deutlich zu machen, daß die Kunst, obgleich sie sich zwangsläufig in der Sphäre der Zeichen bewegt, eigentlich immer auf etwas zielt, was diese Sphäre durchbricht und überschreitet. [...] es ist der Bruch und die Bresche, die sich plötzlich in der Ordnung des Symbolischen auftut, es ist der Riß im Gewebe der Intertextualität, es ist der Moment, in dem die nahtlose Verknüpfung der Zeichen versagt [...].“ 94 Individualisierung von Wahrnehmung lässt sich als ein Heraustreten aus dem Rahmen kulturell normierter Denkweisen hin auf einen erweiterten Horizont des Subjekts begreifen. Das entscheidende Ergebnis von Prozessen der Individualisierung ist, dass sich Autoren und bildende Künstler einen Freiraum öffnen und bei der Produktion und Rezeption von Texten bzw. Bildern nicht länger zwangsläufig von einer religiösen, literarischen oder anderweitig festgelegten Sinnzuweisung ausgehen. Erst wenn Landschaft in realer Gegebenheit dargestellt werden kann, kann sie auch individuell funktionalisiert werden. Je weiter der Prozess der Individualisierung von Wahrnehmung fortgeschritten ist und sich der Freiraum vergrößert hat, umso mehr Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich Autoren und Künstlern im Blick auf eine Funktionszuweisung. Der Grad kultureller Codiertheit ist wandelbar, so z.B. „[…] wandelt sich die literarische Bearbeitung von Landschaft im 18. Jahrhundert von einer emblematischen oder allegorisierenden Interpretation zu einer unverkürzten, durch keine vorgängigen hermeneutischen Interessen überformten Darstellung [...]“. 95 Das ändert grundsätzlich nichts an dem Fortbestehen einer „allgemeinen hermeneutischen Struktur der Wahrnehmung“ 96 , die jedem Sehen eingeschrieben ist und die die empfangenen Eindrücke überhaupt koordiniert und vernetzt; ohne sie bliebe eine literarische Landschaftsbeschreibung eine Anhäufung topografischer Details und ein Gemälde eine Leinwand mit Farbflecken. 97 Anders gesagt: Dass 93 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 18. 94 Karlheinz Lüdeking, Zwischen den Linien - Vermutungen zum aktuellen Frontverlauf im Bilderstreit, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 364. 95 Lobsien, Landschaft in Texten, 58. 96 Ebd., 75. 97 „[…] wie beim Lesen wird die Integration der einzelnen Seheindrücke, die wir beim Abtasten eines Bildes erhalten, von unseren Fähigkeiten abhängen, jede neue Ansicht in 49 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG ‚Leit-Bilder’ für die Landschaftswahrnehmung bestehen - etwa Lorrain und Rosa für das 18. Jahrhundert -, ist kein Widerspruch zur Aussage, dass eine Individualisierung stattfindet. Wahrnehmung wird hermeneutisch gelenkt und muss es sogar sein, aber das heißt nicht, dass sie nur durch feste Sinnzuweisung belegt bleiben muss. Ein kurzer Blick auf europäische Geistesgeschichte verdeutlicht, dass die Individualisierung der Wahrnehmung von Raum, Natur und Landschaft mit dem neuzeitlichen Individualisierungsprozess überhaupt einherging, der in der Renaissance begann, sich in unterschiedlichen Kulturbereichen unterschiedlich entwickelte und der bis in die Gegenwart andauert. Die Rückbesinnung auf die Antike im 15. Jahrhundert zeigte ein freieres Menschenbild, das im Humanismus und der Reformation, vor allem aber in der Kunst Ausdruck fand, so etwa in den Statuen Michelangelos, den Selbstbildnissen Dürers oder den Dramengestalten Shakespeares und Marlowes. Die staatsrechtliche Konstituierung des modernen Individuumsbegriffs ist das Verdienst John Lockes, dem das 18. Jahrhundert mit seinen maßgebenden politischen Fixierungen im Denken und bis in die Diktion verpflichtet ist. 98 Parallel zur Dekonstruktion politischer und klerikaler Autorität erfolgte die Abkehr von der Annahme eines autonomen metaphysischen Seinsbereichs. 99 In Kunst und Literatur, Philosophie und Religion erfolgt eine Hinwendung zu einer neuen autoritativen Instanz, die leitbildartig nicht nur Fundamente des Rechts, sondern auch Prozesse des Erkennens und Inhalte des Glaubens bestimmt: die Natur. Sie wird in den Rang einer nicht hintergehbaren Instanz erhoben mit eigener Seinslogik, die alles vom Menschen Tradierte überragt und deren Legitimation in intakter Ganzheitlichkeit in sich selbst ruht. Naturrecht, Naturreligion und ‚natürliche’ Erziehung umschreiben die Gegenpositionen zu ‚göttlichem eine ‚Geistige Karte’, eine kognitive Struktur einzutragen, welche die durch jede einzelne Blickwendung eingeholte Information in einer neuen Form speichert [...].“ (Gombrich et al., Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, zit.n. Lobsien, Landschaft in Texten, 76). 98 1689 legte John Locke das Fundament der Grund-, Bürger- und Menschenrechte: ”Man being born as has been proved, with a title to perfect freedom and uncontrolled enjoyment of the rights and privileges of the Law of Nature, equally with any other man, or number of men in the world, has by nature not only a power to preserve his property - that is his life, liberty, and estate, against the injuries and attempts of other men, but to judge of and punish the breaches of that law in others [...].”(John Locke, Two Treatises on Government, in: Brinton, The Portable Age of Reason Reader, 154). 99 Der wohl radikalste Vertreter dieser Position wendet sich an Menschen, „[…] die an eigenes Denken gewöhnt sind und Gefühl genug besitzen, um die unzähligen Leiden zu beklagen, die der Erde durch religiöse und politische Tyrannei zugefügt wurden. [...] Die Absicht [...] ist es also, den Menschen zur Natur zurückzuführen [...]“.(Holbach, System der Natur, 12f.) Bei Holbach „[…] hat sich ein mechanistischer Materialismus endgültig vom Rationalismus mit seiner Vorstellung von einer ursprünglichen Eigenständigkeit des Geistes getrennt und alle Theologie und Religion verabschiedet. Das kann man als vorläufigen Abschluß eines Emanzipationsprozesses der Philosophie (und Wissenschaften) sehen.“(Delius, Geschichte der Philosophie, 66). 50 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES Recht’ und Adelsprivilegien, Kirchendogma und Erlösungsbedürftigkeit, oppressiven Normen und ererbten Autoritäten. Dieser emanzipatorische Wandel verlief in Richtung auf größere Eigenständigkeit des Individuums. Der Prozess der Loslösung vom christlich-platonischen Weltbild bezog sich zunächst auf den Menschen, nicht auf Natur und die Landschaft, deren Darstellung beispielsweise noch Michelangelo kritischdistanziert gegenüberstand. 100 Einen neuartigen Zugriff auf Raum und Natur markiert die kraftvolle Bildersprache der Metaphysical Poets, allen voran John Donne in seiner Abneigung gegen Allegorien, Hirten- und Liebesdichtung im Stile Petrarcas. „Die Subjektivierung der Naturschilderung durch den persönlichen Blickwinkel, die sich ansatzweise schon bei Marvell und Vaughan fand, wird bei Milton zu einem kohärenten System. Mit Wolpers kann man von [...] der ‚Entwicklung des landschaftlichperspektivischen Sehens überhaupt’ sprechen.“ 101 Der gewonnene Freiraum wird allerdings noch nicht zur Psychologisierung der Natur genutzt, wozu angesichts eines fest gefügten religiösen Weltbildes für Milton keinerlei Anlass bestand. „Landschaftserfahrung und Landschaftsdarstellung sind in der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts nicht unmittelbar aufeinander beziehbar.[...] die poetische Bildlichkeit dieser vorklassizistischen Literatur ist eben doch weiterhin aus [...] Modellen gespeist. Der Blick auf Landschaft wird folglich immer noch verstellt [...]“; „Die Naturszenerie wird sogleich in ein Emblem formalisiert, sie wird zur Allegorie der Welt, des Staates [...]. Dem emblematisierenden Blick bietet sich die Naturszenerie genauso wie ein stilisierter und artifiziell präparierter Garten.“ 102 In James Thomsons The Seasons werden Naturphänomene zwar schon „zu Chiffren für menschliche Emotionen“, doch eine Funktionalisierung zur Darstellung psychischer Phänomene ist auch hier noch nicht sichtbar. Dennoch wird im 18. Jahrhundert die Landschaft, als Folge der intensiven Beschäftigung mit dem Naturbegriff in anderen Kulturbereichen, auch in der Literatur in eine wichtige Position eingerückt. Im englischen Landschaftsgarten und in Opposition zum formalisierten Barockgarten wird diese Entwicklung in neuartigen Naturbildern erkennbar, obgleich auch sie nach einem Konzept gestaltet sind. Jedoch: „Die neue Gartenkunst des Capability Brown löst sich von dem traditionellen Zwang zur 100 „[Es sagt] M. Angelo: ‚In Flandern malt man nämlich, um das äußere Auge durch Dinge zu bestechen, welche gefallen und denen man nichts Übles nachsagen kann, [...] so fehlt doch die rechte Kunst, das rechte Maß und das rechte Verhältnis, sowie Auswahl und klare Verteilung der Räume und schließlich selbst Nerv und Substanz [...]. Ein gutes Gemälde ist nämlich nichts anderes als ein Abglanz der Vollkommenheit der Werke Gottes und eine Nachahmung seines Malens.’“(de Hollanda, Vier Gespräche über Malerei (1538), zit.n.: Busch, Landschaftsmalerei, 81f.). 101 Kullmann, Vermenschlichte Natur, 67. 102 Lobsien, Landschaft in Texten, 33 u. 38. 51 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG bildungsgesättigten Semantisierung ihrer Komponenten und beginnt, mit dem individuellen Rezeptionsbewußtsein zu rechnen.“ 103 Die Individualisierung der Wahrnehmung in Literatur und bildender Kunst tat ihren entscheidenden Schritt nach vorne, als ab 1750 Kunsttheorien und das Entstehen einer Ästhetik als philosophischer Disziplin den Blick auf Natur und Landschaft von normativen Einengungen wesentlich befreiten. Hierher gehören Alexander Baumgartens unvollendete Aesthetica (1750 und 1758), Diderots Pensées sur l’interprétation de la nature (1752/ 54), Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755), Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757), Kants Beobachtungen über das Schöne und Erhabene (1764), Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), Archibald Alisons Essays on the Nature and Principles of Taste (1790), Kants epochale Ästhetik in Kritik der Urteilskraft (1790), William Gilpins Three Essays on Picturesque Beauty (1792) und Uvedale Prices Essay on the Picturesque (1794): Gemeinsame Tendenz dieser Texte ist die Subjektivierung der Naturauffassung und eine Individualisierung der Wahrnehmung. Zentrale Bedeutung kommt der Imagination als Fähigkeit individueller Wirklichkeitserfassung zu; Kant sieht die Einbildungskraft gar als „produktives Erkenntnisvermögen“. 104 In Ästhetikentwürfen ist sie die „Quelle und das Movens künstlerischen Schaffens“ und legt damit den Grundstein für den Geniebegriff der Romantik und die meisten avantgardistischen Kunsttheorien. 105 Mit „[…] der Etablierung des autonomen Individuums als zentraler ideologischer Kategorie“ 106 in der Romantik erreicht die Individualisierung der Wahrnehmung ihren vorläufigen Höhepunkt. 1.2.5 Natur als Gefühls- und Erlebnisraum Im Prozess der ‚Entdeckung’ der Natur als Gefühls- und Erlebnisraum lassen sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert mehrere Phasen unterscheiden. 1. Das Sehen von Landschaft ist bis ins klassizistische Zeitalter in die literarisch geprägten Sehgewohnheiten eines bukolischen und heroischen Landschaftsdekors eines Lorrain, Poussin, Dughet und Rosa eingebunden. Landschaft ist Rahmen und dekorative Kulisse für literarisch-künstlerisch vorgegebene Handlungs- und Sinnkonstellationen. Man reiste mit einem Bild der zu besuchenden Landschaft im Kopf: ”I must confess it was not one 103 Ebd., 57. 104 Schneider, Geschichte der Ästhetik, 50. 105 Vgl. ebd., 12f. 106 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 94. 52 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES of the last [sic] entertainments I met with in travelling, to examine the several descriptions (of classical authors) as it were on the spot, and to compare the natural face of the country with the landskips that the poets have given us of it...” 107 Treffend kommentierte Henry Fielding Addisons Reisebericht mit den Worten: ”Addison, a commentator of Classics rather than a writer of travels.” 108 2. Nach dem ersten Drittel bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich ein emanzipatorischer Prozess der Landschaftswahrnehmung. Bei Fortwirkung barocker ‚Vor-Bilder’ theatralischer Landschaftskulissen erhält Natur einen eigenständigeren, ontologischen Status; Landschaft wird Klangkörper und Resonanzboden individueller Emotionalität: ’Precipices, mountains, rumblings, Salvator Rosa - the pomp of our park and the meekness of our palace! Here we are, the lonely lords of glorious desolate prospects. I begin this letter among the clouds: [...]You will have a billet tumble to you from the stars when you least think of it; and that I should write it too! Lord, how potent that sounds! But I am to undergo many transmigrations[...].’ 109 Dieser Reisende nähert sich mit anerzogenen Sehgewohnheiten einer Landschaft, deren erstmalig empfundene emotionale Dimension die ihm bekannten Wahrnehmungskategorien sprengt und ihn in einen Zustand ungekannter Euphorie versetzt. Wie sehr ein Bekenntnis zu Emotionalität auch in den ‘philosophischen’ Diskurs um die Jahrhundertmitte einging, belegt Burkes Definition des Erhabenen: “Whatever is fitted in any sort to excite ideas of pain and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in any manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.” 110 Dies war gegen rationalistische Verstandesgläubigkeit gerichtet, denn “[…] if the Sublime in art is productive of delight, the Sublime in nature is a form of paralysis, a literally stunning invasion. ’No passion’, Burke writes ’so effectively robs the mind of all its powers of acting and reasoning as fear; the Sublime makes reasoning impossible [...]’. 111 Die erwünschte Gefühlswirkung von ’pleasure’ präzisierte Kant als ‚interesseloses Wohlgefallen’, das für ihn vorrangig in der Natur, nicht in der Kunst zu finden war. 112 Für Gilpin wird der Reisende zum ’aesthetic traveller’ und zum 107 Joseph Addison, Remarks on several Parts of Italy in the Years 1701, 1702, 1703, London (1705), zit.n. Hauser, Landschaftsschau, 24. 108 A.a.O. 109 Horace Walpole, Brief vom 28.9.1739 an Richard West, zit.n. Hauser, Landschaftsschau, 27. 110 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, Adam Phillips, Hrsg., Oxford: Oxford University Press, 1990, 36. 111 Ebd., Adam Phillips, Introduction, xxif. 112 Kant befasste sich wenige Jahre nach Burkes Schrift (1756) und dann ein Vierteljahrhundert später in der Kritik der reinen Urteilskraft (1781) mit dem Schönen und Erhabenen. Er bescheinigte demjenigen eine ‚schöne Seele’, der das Naturschöne dem Kunstschönen 53 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG ’man of taste’, der „der Imagination und Emotion eine neue Stellung“ einräumt. 113 Gilpin trat die Mode des Pittoresken los und traf damit einen Nerv der englischen Gesellschaft seiner Zeit, die aus Kulturverdrossenheit durch Stadtflucht in einer pittoresken Landschaft Harmonie und innere Ruhe suchte. Nicht ’regularity’ als klassizistisches Ideal, sondern ’irregularity’, ’ruggedness’ und ’roughness’, ’variety’ und ’contrast’ wurden Leitbegriffe seines neuen Naturerlebens. Es kommt zu ersten Formen des Massentourismus in das Lake District und das schottische Hochland; Zweck dieses ‚Emotionstourismus’ ist, sich in Stimmungen zu versetzen und diese in Selbstreflexion zu genießen. 114 Damit ist Natur endgültig zum Gefühls- und Erlebnisraum auch auf heimischem Boden geworden, ganz pragmatisch auch, um der Melancholie und dem ’spleen’ als typisch englischer Krankheit zu entgehen: “[…] die Natur [...] lenkt den Menschen von der Betrachtung des eigenen Ich und von der Selbstbemitleidung ab und heilt ihn von seinem spleen.“ 115 Aus dem vormals ’splenetic traveller’ wird ein ’sentimental traveller’. 116 Es ist aber nicht nur die Natur-, sondern auch die Kulturlandschaft, die Emotionen auslöst. Hatte Dürer die Melancholie als schicksalshafte Veranlagung des geistigen Menschen verstanden und dargestellt, so sind es im 18. Jahrhundert Friedhöfe und Ruinen, die im Verbund mit Wetter und Tageszeiten diesen Gemütszustand hervorrufen. „Es ist eine vage, fast schwerelose Traurigkeit, die mehr in der Imagination als im Herzen lokalisiert ist, vor allem deshalb, weil sie eines personalen Bezugs entbehrt.“ 117 Edward Youngs Night Thoughts und Thomas Grays Elegy Written in a Country Churchyard gehören zu den bekanntesten Texten der ’graveyard poets’, in denen das seit der Barockzeit virulente Motiv der Vergänglichkeit im symbolträchtigen Ort des Friedhofs beredten Ausdruck findet. Die Grenzen zwischen dem Melancholischen, dem Düsteren und Schaurigen sind jedoch fließend. Die ‚Schauerromantik’ als Folge des ’Gothic revival’ verlegt, zwecks Intensivierung der Gefühlsreaktionen, Schauplätze in vorziehe. (vgl. Schneider, Geschichte der Ästhetik, 50) Ergänzend gehört in diesen Kontext „[…] die bereits 1794 von Friedrich Schiller formulierte Forderung an den Landschaftsmaler […], die ‚landschaftliche Natur […] durch eine symbolische Operation in die menschliche zu verwandeln’ und so dem Anspruch an die ‚schöne Kunst’ gerecht zu werden, ‚Abdruck des Zustandes einer Seele’ (Karl Friedrich Schinkel) zu sein.“ (Hoffmann, Die Römische Campagna, in: Büttner/ Rott, Kennst du das Land, 220). 113 Ria Omasreiter, Travels through British Isles - Die Funktion des Reiseberichts im 18. Jahrhundert, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1982, 101. 114 Kullmann, Vermenschlichte Natur, 81. 115 Omasreiter, Travels Through the British Isles, 34. 116 Die erwachte Empfindsamkeit des Reisenden richtete sich freilich nicht auf soziale Probleme. Ländliche Armut wird als pittoresk und idyllisch-naturhaft genossen, und der ’man of taste’ glaubte an eine ’felix paupertas’; aus tradierter puritanischer Sicht war im Übrigen jeder Einzelne für sein Glück und Heil selbst verantwortlich (vgl. ebd., 129f.). 117 Ebd., 122. 54 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES zeitliche und räumliche Ferne: In vergangene Epochen, wilde Gebirgslandschaften und Verliese entlegener Burgen und Klöster, „[…] und das labyrinthartige Innere der Gebäude reproduziert Strukturen des Unbewußten“. 118 3. In der Romantik beginnt, trotz ständig thematisierter Naturnähe, ein Prozess des Sichentfernens von Natur und Landschaft und eine Verlagerung der literarisch-künstlerischen Aufmerksamkeit auf die Innenwelt. Naturnähe wie in Constables Bildern wird gemeinhin mit Romantik verbunden wie auch die Texte Wordsworths, aber ihre Inspiration erwächst mitnichten aus direktem Naturerleben: ”I have said that poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings: it takes its origin from emotion recollected in tranquillity: the emotion is contemplated till, by a species of reaction, the tranquillity gradually disappears, and emotion, kindred to that which was before the subject of contemplation, is gradually produced,and does itself actually exist in the mind.” 119 Allein die Wortwahl von ’contemplated’, ’reaction’ und ’produced’ belegt, dass eine Trennung in das Verhältnis von Natur und schreibendem Ich gedacht wird, die im Akt des Ästhetischen überwunden wird, doch bedarf es dazu der Disposition der Kreativität. 120 Die Verlagerung des Interesses des poetischen Ichs von der Außenauf die Innenwelt tritt noch deutlicher in John Keats’ Ode to a Nightingale zu Tage, wo der Autor in der Dunkelheit gar keine Natur erfährt, sondern Vorgängiges hineinprojiziert und sich schließlich völlig auf “my sole self“ zurückzieht. In dieser Subjektivität voller Selbstzweifel hat eine „Abspaltung des intellektuellen vom empirischen Ich, der inneren von der äußeren Welt“ stattgefunden; „Das Gedicht dekonstruiert sich also selbst, und mit ihm dekonstruiert sich das romantische Sinnmodell der Subjekt- Objekt-Identifikation.“ 121 Die scheinbare Idylle Natur erweist sich als ein Produkt der Einbildungskraft und wird Ausgangspunkt zur Exploration psychischer Vorgänge. 4. In viktorianischer Zeit kommt es einerseits zu einer „Entmythologisierung der Natur aus dem Geist des Positivismus“ 122 , was durch die Industrialisierung begünstigt wurde, andererseits zur ihrer Vergöttlichung, was aus expliziter Opposition zur Industrialisierung geschah. Jedoch als anfangs zentrale Gestalt im viktorianischen Spannungsfeld zwischen Fort- 118 Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, Bd. V, 2571. 119 William Wordsworth, Preface to Lyrical Ballads (1802), zit.n. Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 101. 120 Insofern ist Matthew Brennan zuzustimmen, wenn er sagt, “Kenneth Clark mistakenly thinks of Wordsworth as the Constable of verbal landscape“, weil bei Wordsworth eine Transzendierung der materiellen Natur stattfinde, wie im Übrigen auch bei Turner. (Brennan, Wordsworth, Turner, and the Romantic Landscape, 11; vgl. dazu Fußnote 336). 121 Hubert Zapf, Dekonstruktion als Herausforderung der Literaturwissenschaft: Das Beispiel der englischen Romantik, in: Anglia, Bd. 106, 1988, 372f. 122 Ernst Gerhard Güse, Einführung, in: Die Entdeckung des Lichts - Landschaftsmalerei in Frankreich von 1830 bis 1886, Saarbrücken: Saarland Museum, 2001, 12. 55 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG schritt und Beharren bezog Ruskin vehement Stellung gegen industrielle Hässlichkeit, Materialismus und Utilitarismus und für eine Besinnung auf die Werte der Kunst, der Natur und des Glaubens. Natur und Landschaft sind für ihn Manifestationen des Göttlichen, die sich nur durch demutsvolle Naturnähe erschließen, wie etwa in den beinahe fotorealistischen Bildern der Pre-Raffaelite Brotherhood. Natur wird idealisiert als sakrosanktes Refugium ganzheitlicher Sehnsüchte und als therapeutischer Ort plausibler Sinnkonstruktionen: “[…] in the early nineteenth century, when more orthodox and systematic beliefs were declining, faith in nature became a form of religion. This is the Wordsworthian doctrine which underlay much of the poetry and nearly all the painting of the century, and inspired its greatest work of criticism, ’Modern Painters’.” 123 Aus moralischer Überzeugung glorifizierte Ruskin die Natur als Inbegriff von Schönheit, Wahrheit und Reinheit, und bereitete zugleich den Weg zu ihrer profanen Erschließung durch seine akribischen Studien im Geist der Naturwissenschaften. Seine Kunsttheorien entsprachen durchaus dem Geschmack der Zeit: ”The truth of infinite value that he [Ruskin] teaches us is realism - the doctrine that all truth and beauty are to be obtained by a humble and faithful study of nature, and not by substituting vague forms, bred by imagination on the mists of feeling, in the place of definite, substantial reality.”(Hervorhebung: G. Eliot). 124 Mit dem Zurückweisen der Einbildungskraft als Produzentin nebulöser Gefühle und dem Eintreten für eine naturgetreue Wiedergabe von Realität im Namen der Wahrheit und Schönheit wurden Realismus und Naturalismus in der Landschaftsdarstellung theoretisch legitimiert. Damit hatte aber Ruskin unabsichtlich zur Entzauberung der Natur in der neuzeitlichen Welt beigetragen: Das Bild der äußeren Natur und die innere Einstellung zu ihr treten auseinander, und sie verselbständigen sich. 5. Am Beginn des 20. Jahrhunderts steht eine Ausweitung des Naturbegriffs - man könnte es auch eine Zerfaserung nennen. Über die Vorstellung von äußerer Natur hinaus beinhaltet er die durch die Naturwissenschaften generierten Bildwelten des Mikro- und Makrokosmos und die durch die Psychoanalyse evozierten Räume der Psyche, der Intrasubjektivität, des Unbewussten: Natur „[…] gewinnt eine unbekannte Totalität“ 125 . Sie ist nicht mehr auf Lokalität und Umwelt eingrenzbar, die ihrerseits den Anspruch einbüßen, alleiniger oder auch nur maßgeblicher Gefühls- und Erlebnisraum zu sein. In der modernen Lebenswirklichkeit verflüchtigen sich Idee und Aussagekraft der traditionellen Landschaft als Medium authentischer Erlebnisfähigkeit, und immer häufiger wird sie zum manipulierten Objekt ökologischer Bewahrungsstrategien oder kommerzialisierter Sehn- 123 Clark, Landscape into Art, 230. 124 George Eliot in einer Rezension des 3. Bandes von Modern Painters (1856), zit.n. Haight, The Portable Victorian Reader, XXXIX. 125 Gottfried Boehm, Das neue Bild der Natur, in: Smuda: Landschaft, 108. 56 K ONSTITUTIVE E LEMENTE DES LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDES suchtsfantasien der Tourismusindustrie. „Die Moderne hat offenbar die Ordnungszwänge des Lebens so verändert, daß sich ungestörte Beziehungen zu ‚Natur’- und ‚Kultur’-Landschaften nicht mehr aufrechterhalten lassen.“ 126 Die gedankliche Ablösung vom äußeren Bild der Natur führt zur Abstraktion, die epistemologisch ihre Legitimation daraus bezieht, dass der Betrachter den ausgewiesenen Leerraum mit eigener Sinnkonstruktion anfüllen muss. Die alleinige Quelle solch erforderlicher Sinnzulieferung ist das Selbst des Subjekts, das Ich und seine Psyche: Das scheinbare Nichts der als Abstraktion dargestellten Natur und Landschaft wird damit uneingeschränkt Abbildung intrapsychischer Befindlichkeit mit einer radikal individualisierten Zeichensymbolik. 127 126 K. Ludwig Pfeiffer, Bedingungen und Bedürfnisse - Literarische Landschaften im England des 19. Jahrhunderts, in: Smuda, Landschaft, 199. 127 Der historische Prozess der gedanklichen Ablösung vom äußeren Bild der Natur begann mit der Romantik - Caspar David Friedrichs ‚Mönch am Meer’ von 1808 zeigt eine „entgrenzte, entmaterialisierte Natur“ (Boehm, Bild der Natur, 90) -, setzte sich über den Impressionismus fort - in Monets Seerosenbildern wird der „offene Prozeß der Natur [zum] Bild der Natur ohne Landschaft und ohne Abbildlichkeit“(a.a.O.) - und führt zur Abstraktion der bildhaft-mimetischen Landschaft. Die Ausweitung des Natur- und Landschaftsbegriffs geht einher mit einem Prozess der Interessensverlagerung: „Die Schau der Natur als Landschaft weicht gänzlich dem Blick ins eigene, innere Selbst“(Hülsewig-Jonen, Die Landschaft - Begriff und Inhalt, 9). Symptomatisch für die Prozesse der Abstraktion der Außenwelt in der Moderne sind die „bilderlosen Landschaften“ in einer sinnentleerten Welt im Spätwerk Becketts, die den „Zustand des Wärmetodes oder der Entropie“ (Smuda, Landschaft, 7) heraufbeschwören und einen Vorgang des Verfalls und Verlusts im umfassenden Sinne symbolisieren: Nur noch schwarzer Himmel. Weiße Erde. Oder umgekehrt. Kein Himmel und keine Erde mehr. Vorbei mit oben und unten. Nichts als Schwarz und Weiß. Gleich wo, überall. Nur noch Schwarz. Leere. Nichts anderes. (Samuel Beckett, Schlecht gesehen, schlecht gesagt, zit.n. Smuda, Landschaft, 7). Das Szenarium einer Endzeit ist nur noch Ödnis und Leere. Es ist dies die totale Desintegration der Objektwelt, in der sogar unten und oben austauschbar sind in einem Raum ohne Gestalt und Konturen, in dem auch das Denken ziellos ist, da es keine Ziele gibt. In Becketts ‚bilderlosen Landschaften’ existiert kein Bild der Landschaft mehr und somit auch keine Relation zwischen Landschaft und Mensch. 57 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG 1.3 Der Raum der Fremde und das Bild des Anderen 1.3.1 Bild und Image: Raum, Natur und Landschaft aus imagologischer Perspektive Der Blick vergleichender Literaturbetrachtung war von Anfang an weniger auf die literarische Darstellung von Raum als Natur und Landschaft gerichtet als auf die der Menschen als Teil eines sozialen Gefüges nationalen oder ethnischen Ursprungs. Die Etablierung einer komparatistischen Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fußte in hohem Maße auf den Auffassungen Herders, Frau von Staëls und vieler Romantiker von der individuellen Eigenart der Völker als Kulturgemeinschaften. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verengte sich der Blick, vor allem in Deutschland und Frankreich, vielfach auf nationalpolitische Perspektiven, die einer fachlich angemessenen Arbeit z.T. erheblich im Wege standen. 128 «Images» weisen, im Begriffssystem Karl Poppers, „[…] alle Merkmale von Gegenständen der ‚Welt 3’ auf, d.h. sie sind Produkte des menschlichen Geistes, in Texten, Büchern usw. festgehalten [...]“, und für Michel Foucault sind sie Etappen oder Ergebnisse einer «formation discursive». 129 Literarische Bilder, im Sinne der Imagologie als Abbilder gedacht, sind also ihrem Wesen nach ‚Produkte des menschlichen Geistes’. Die Entideologisierung imagologischer Untersuchungen ist erfreulicherweise längst Realität und ”investigations have gone beyond a mere inventory of stereotypes and have touched upon the artistic and social functions of certain auto- und heterostereotypes in literary texts [...], a legitimate and rewarding task for the literary scholar”. 130 Dabei geht es nicht darum, ob ein Image oder auch Stereotyp ‚richtig’ oder ‚falsch’ ist, sondern um das Wie 128 In der bekannten Kontroverse zwischen Wellek und Austin auf der einen Seite und Guyard und Carré auf der anderen spitzte sich die Auseinandersetzung über Aufgaben und Ziele der Komparatistik so weit zu, dass Wellek die von Guyard und Carré empfohlene Forschung von «images» bzw. «mirages», also der verbalen Bilder von anderen Ländern bzw. der angeblich auf Irrtümern beruhenden ‚falschen’ Bilder von anderen Ländern, als überhaupt nicht zum Aufgabenbereich der Literaturwissenschaft gehörend bezeichnete. Der ‚amerikanische’ Standpunkt formulierte gegenüber dem ‚französischen’ die Befürchtung, dass Komparatistik mit Literaturwissenschaft nicht mehr zu tun haben könnte als Soziologie oder Völkerpsychologie. (vgl. Hugo Dyserinck, Zum Problem der «images» und «mirages» und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: Arcadia - Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 1, 1966, 109f.). 129 Hugo Dyserinck, Komparatistische Imagologie jenseits von ‚Werkimmanenz’ und ‚Werktransparenz’, Synthesis 9, 1982, 37. 130 Waldemar Zacharasiewicz, National Stereotypes in Literature in the English Language: A Review of Research, in: Real, The Yearbook of Research in English and American Literature, Berlin, 1982, vol 1, 75. D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN seines Funktionierens, u.a. um den „[…] Grad der Übereinstimmung hetero-imagotyp getroffener Aussagen mit einem vorab gegebenen kulturellen Modell der Image-Träger-Gruppe“, deren Bilder fast immer nationalsubjektiv, also ethnozentrisch geprägt sind. 131 Franz Karl Stanzel sieht die Entstehung von Bildern zur literarischen Länder- und Völkerbeschreibungen als einen Prozess der Präformation durch 1. Lektüre, 2. Selektion mitgebrachter Erwartungsperspektiven am fremden Ort und 3. Fiktionalisierung des Gesehenen nach der Rückkehr, wobei autoptische Erfahrungen das ursprüngliche Fremdbild häufig kaum verändern: Literarische Vorbilder als unterschwellige ‚Vor-Bilder’ erweisen sich oft als unerwartet erfahrungsresistent. Stanzel unterschied mehrere Topoi der Kontrastierung bei der Analyse des Anderen: ‚Land der Gegensätze’, ‚Polaritätstopos’, ‚Laster und Tugenden’. 132 Bei der Entstehung des Bildes vom Anderen im Polaritätstopos spielte der Raum der Fremde schon früh eine Rolle, und er „[…] erhielt seit Ausgang des 16. Jahrhunderts durch die sogenannte Klimatheorie [...] mächtige Verstärkung“, wobei Unterschiede der Umwelten als Deutungsmuster für anderes Aussehen und andere Wesensart benutzt wurden und in der Folgezeit „[…] zu einer der meistverwendeten Erklärungskategorien der europäischen Geistes-, Kunst- und Literaturgeschichte geworden“ sind. 133 Dabei geht es nicht um Raum als Natur und Landschaft, sondern als Ort klimatisch unterschiedlicher Lebensverhältnisse. Dass dem Raum der Fremde eine Eigenart zukommt und er Handeln und Denken der Menschen prägt, ist allerdings Gemeinplatz der europäischen Literatur seit ihrem Beginn. „Von der Antike bis in unser Jahrhundert hinein konnte der Charakter menschlicher Stämme und Völker als Auswirkung klimatischer und geographischer Gegebenheiten, als Auswirkungen des genius loci gedeutet werden.“ 134 Modifiziert wurde dieses aus der Antike kommende Erklärungsmodell einerseits durch christliches Denken, wonach Gott monotone Gleichheit vermeiden wollte, und andererseits durch das biologische Wissen des 19. Jahrhunderts, das genetische Einflüsse zur Erklärung heranzog. „Auf der Grundlage dieser Theorie des genius loci entwickelte sich fast zwangsläufig mit dem Entstehen der Nati- 131 Manfred Fischer, Literarische Imagologie am Scheideweg, in: Blaicher, Erstarrtes Denken, 15f. Für die komparatistische Imagologie geht es also darum, „[…] die jeweiligen Erscheinungsformen der images sowie ihr Zustandekommen und ihre Wirkung zu erfassen.“ (Dyserinck, Komparatistik, 131). 132 Vgl. Franz K. Stanzel, Der literarische Aspekt unserer Vorstellungen vom Charakter fremder Völker, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 111. Jg., Wien, 1974, Nr. 4, 74-81. 133 Ebd., 79. 134 Günther Blaicher, Zur Entstehung und Verbreitung nationaler Stereotypen in und über England, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1977, Heft 4, 552. 59 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG onalstaaten in Europa die Vorstellung eines konstanten, die Zeiten überdauernden Volksgeistes.“ 135 In diesen Vorstellungskategorien war Andersartigkeit zwangsläufig mit räumlicher Abgrenzung verbunden. Das Erstarren von Bildern des fremden Raumes als Lebenskontext der Menschen begann in ausgeprägter Form im 17. Jahrhundert, wie Stanzel nachgewiesen hat. Auf ungewollt skurril-groteske Weise dokumentiert eine Völkertafel im Wiener Museum für Volkskunde (vgl. 1.1.3, Fußnote 9), wie schablonenhaft und vorurteilsbeladen die damalige Sicht des Anderen und des Fremden war. 136 Keinerlei Anlass zu humorvoller Betrachtung gibt die Tatsache, dass erstarrte Bilder mit geografischem Hintergrund in der Vergangenheit auch mit moralischen Kategorien in Verbindung gebracht wurden. „Man stellte fest, daß die Hautfarbe der Menschen vom Abstand der jeweiligen Region zur Sonne abhängt, daß die Mehrzahl der Menschen der nördlichen Hemisphäre von weißer Hautfarbe waren, während mit zunehmender Nähe zum Äquator die Haut immer dunkler wurde. Dieser Kontrast weiß bzw. hell-dunkel wurde dem europäischen Schönheitsideal des Mittelalters entsprechend in einen Gegensatz ’fair-foul’ umgedeutet.“ 137 In diesen Kontext gehört auch das negative Autostereotyp des ’Italianate Englishman’, „des durch seine Italienreise verdorbenen Engländers“. 138 Starre Vorstellungsmuster über die Menschen im fremden Raum kennzeichnen eurozentrisches Denken überhaupt. Zentrale Begriffe wie Individualität, Selbstbestimmung und Selbstfindung haben ihren Ursprung in der Markierung einer Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen, die im antiken Griechenland die Trennungslinie zwischen Zivilisierten und Barbaren war, und man wähnte sich dabei im Einverständnis mit den Göttern. Bedeutsam ist die Folgewirkung: „Diese griechische Selbstbestimmung, die zum abendländischen Topos wird, findet ihren Eigenwert erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden und damit in der Abgrenzung von diesem Fremden.“ 139 (vgl. auch 1.1.2) Daraus folgt, dass die Vorstellung vom Anderen mit der Idee eines anderen Raumes und mit anderen Landschaften verknüpft wird. Letztere unterliegen, so könnte man es nennen, einer imagologischen Prägung als Folge einer Stereotypisierung durch ausgelöste Assoziationen. Mit popula- 135 Ebd., 554. 136 So wird in Bezug auf Sitten dem ‚Frantzoß’ unterstellt, er sei ‚Leichtsinnig’, der ’Wälisch’ (Italiener) ‚Hinderhaltig’, der ‚Unger’ (Ungar) ‚Untrey’, der ‚Muskawith’ (Russe) ‚Boßhaft’; die Zeit vertreibt sich der ‚Spanier’ ‚Mit Spillen’ (Spielen), der ‚Frantzoß’ ‚Mit Betrügen’, der ‚Teutsche’ ‚Mit Trincken’, der ‚Polack’ ‚Mit Zanken’ und der ‚Tirk oder Grich’ (Türke oder Grieche) ‚Mit Kränkeln’(zit. aus der Beschriftung der Völkertafel im Museum für Volkskunde, Wien; Ölgemäde, frühes 18. Jahrhundert, Steiermark). 137 Blaicher, Nationale Stereotypen, 564. 138 Ebd., 569. 139 Thomas Bleicher, Elemente einer komparatistischen Imagologie, Komparatistische Hefte 2, 1980, 14 60 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN risierten Landschaftsbildern, wie etwa der Schweizer Bergwelt, der Toskana, der Bucht von Neapel, der Camargue, dem Schwarzwald, dem Lake District oder auch dem Westen Amerikas, den Südseeinseln usw. verbinden sich jeweils auch Vorstellungen von Menschen mit bestimmten Verhaltensweisen und Charakterzügen. Kennzeichnende Aspekte der Landschaft werden in Verbindung mit den am fremden Ort weilenden Menschen zu abrufbaren Vorstellungsinhalten, die künstlerisch zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt und nutzbar gemacht werden können. In der Tourismus- und Werbeindustrie ist die Verwertung schablonenhafter Natur- und Landschaftsbilder im Verbund mit gängigen Assoziationen über die dortigen Menschen zentrale Vermarktungsstrategie. Landschaften werden zu abrufbaren Bildern, wenn soziokulturell vorgeformte Abbilder des Raumes sich verfestigen, wobei das Fremde, Andere jenseits der Grenze zu Hause ist. Damit ist im Sinne der Imagologie ein «image» entstanden, denn die Vorstellung des Fremden geht so zwangsläufig mit dem Erstellen eines Bildes einher, das durch den codierten Blick zum «image» wird. Auch das literarische Bild ist ein versprachlichtes, in Textform gebrachtes «image», das nicht realistische Wirklichskeitswiedergabe ist, sondern Ergebnis präformierter und diskursiv gesteuerter Wahrnehmungsmodi. Mit Blick auf das europäische Amerikabild schreibt Peter Boerner: „Keine Behandlung des Themas kann vollständig sein, ohne die Verwandtschaft von Bildern anderer Länder mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen zu erwähnen [...]. Dennoch scheint es mir zuviel verlangt zu sein, eine definitive Trennungslinie zwischen den Bildern anderer Länder und Stereotypen, Klischees und Vorurteilen andererseits ziehen zu wollen, insbesondere da die letzteren oft Teil der ersteren oder zumindest an ihrer Gestaltung beteiligt sind. Ähnlicherweise haben wir, da die Grenzen zwischen bewußten und unbewußten, offenen, verborgenen und überlagerten Bildern ständig im Fließen sind, fast keine Wahl als alle Abstufungen nationaler Bilder in unsere Beobachtungen einzubeziehen.“ 140 „Vor allem ist zu sagen, daß die Bilder anderer Länder hermeneutischen Wert haben“ 141 . Auszugehen ist also davon, dass dem literarischen Bild bzw. «image» ein Bedeutungsgehalt mit nur bedingtem Zugang zur tatsächlichen Realität der Fremde und der ihres Landschaftsraumes innewohnt. Wird es als künstlerische Gestaltungsmittel im fiktionalen Geschehen eingesetzt, kann es jedoch Erkenntnis- und Identitätsprozesse veranschaulichen. Damit werden sie ästhetisch produktiv und erwerben im Einzelfall, 140 Peter Boerner, Das Bild vom anderen Land als Gegenstand der literarischen Forschung, in: Alexander Ritter, Deutschlands literarisches Amerikabild, 32f. 141 Ebd., 33. 61 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG wie bei Lawrences The Lost Girl, trotz erstarrter Inhalte in Gestalt nationaler Stereotypen, ‚kulturelle Legitimität’. 142 1.3.2 Klischee und Stereotyp: Zur Psychologie erstarrter Landschaftsbilder Konventionalisierte Raumwahrnehmung der Umwelt erfolgt über feststehende Natur- und Landschaftsbilder (vgl. 1.2.3), die im Wahrnehmungsvollzug aus drei Quellen gespeist werden: 1. den Mechanismen der Wahrnehmung als Folge frühkindlicher Entwicklung; 2. den kulturbedingten Sehgewohnheiten des sozialen Umfeldes; 3. den individuell geprägten Wunsch- und Fantasievorstellungen als Ergebnis von Erinnerung und Imagination. Dies bedeutet, dass das Erfassen der Welt durch vorstrukturierte Bilder gleichen Musters (wie die Begriffe Klischee und Stereotyp aus der Vervielfältigungstechnik des Druckens sinnfällig aussagen) dem rationalen Zugriff des Subjekts weitgehend entzogen ist. Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass das frühkindliche Bewusstsein vom Selbst sich in ein ‚gutes’ und ‚schlechtes’ Selbst spaltet. Ersteres umschreibt das Stadium vollständiger Kontrolle über die Welt, als alle Wünsche des Kleinkindes erfüllt wurden, das zweite den des Kontrollverlustes als Folge von Wunschverweigerung durch die umgebende Welt, was erstmalig beim Neinsagen der Mutter erlebt wird und Ängste auslöst. “This split is but a single stage in the development of the normal personality. In it lies, however, the root of all stereotypical perception.” 143 Das Ich geht zum ‚schlechten’ Selbst auf Distanz und identifiziert es mit Bildern; so entstehen in der Tiefenstruktur durch manichäische Wahrnehmung zwei Lager, ”two camps, ’us’ and ’them’“. 144 Schon im frühen Entwicklungsprozess wird diese grobe Zweiteilung durch eine Vorstellung von Integration ersetzt, was allerdings Illusion ist, da das Denken in binären Vorstellungsmustern jeglicher Wahrnehmung von Welt unwiderruflich eingeschrieben bleibt. ”Stereotypes are a crude set of mental representations of the world. They are palimpsests on which the initial bipolar representations are still vaguely legible. They perpetuate a needed sense of difference between the ’self’ and the ’object’, which becomes the ’Other’”. 145 Für das gesunde Individuum ist nach Gilman das Denken in Stereotypen ein vorübergehender Mechanismus zur Angstbewältigung: Rationale und differenziertere Formen der Wahrnehmung überschreiten die simple, bipo- 142 Meinhard Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence unter besonderer Berücksichtigung von The Lost Girl: Zur ästhetischen Produktivität nationaler Stereotypen, in: Blaicher, Erstarrtes Denken, 296. 143 Gilman, Difference and Pathology, 17. 144 A.a.O. 145 A.a.O.. 62 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN lare Sehweise und tragen zu einer Ausprägung der Individualität bei; das pathologische Subjekt verfügt über diese Fähigkeit nicht und verharrt in einem Modus der Wahrnehmung strikter Differenzen und Gegensätzlichkeit. Das Bezeichnen und Benennen des Anderen - für Hans Jonas eine Wiederholung des Schöpfungsaktes durch „[…] die symbolische Verdoppelung der Welt durch Namen“ 146 - vollzieht sich anhand von Kategorien des Vertrauten. ”Indeed, the moment of creation of such categories is one of the moments when the vocabulary of stereotypes cristallizes. We learn to perceive in terms of historically determined sets of root-metaphors, and they serve as the categories through which we label and classify the Other.” 147 Bipolare Wahrnehmung und ihre Versprachlichung sind untrennbar mit dem soziokulturellen Umfeld des Individuums verknüpft. ”Every social group has a set vocabulary of images for this externalized Other. These images are the product of history and of a culture that perpetuates them. None is random; none is isolated from the historical context.” 148 Klischees und Stereotypen als starre Bilder sind also auch kulturell konditionierte Wahrnehmungsmuster der Welt, die das Individuum übernimmt, weitergibt und so am Kulturformungsprozess teilnimmt. Aus Sicht der Verhaltensforschung kann sich der Einzelne diesen Abläufen der Kommunikation und Teilnahme kaum oder nur sehr bedingt entziehen. Das bedeutet nicht, dass stereotype Vorstellungen grundsätzlich negativ zu bewerten sind. „Sie helfen dem Einzelnen, sich in einer vielgestaltigen Welt zu orientieren, Ordnung in das Chaos der auf es eindringenden Sinneseindrücke zu bringen und mit der Aufrechterhaltung dieser Ordnung Angstgefühle und Unsicherheit zu bewältigen; [sie] können [...] andererseits auch als Barriere zwischen Menschen und Völker treten: sie werden dann Vorurteile, die sich vor die Wirklichkeit stellen.“ 149 Dies gilt auch für Landschaften. Im Rahmen der Erörterung der symbolischen Sinnbefrachtung und der konventionalisierten Wahrnehmung des Raumes (vgl. 1.2.2-3) stellte sich indirekt bereits die Frage, ob das Sehen von Umwelt als Natur und Landschaft nicht auch ein in seiner Tiefenstruktur konditioniertes Sehen ist. ”By the time of Virgil and Horace we can identify types of landscape which are repetitively invoked to arouse sensations of pleasure or of fear... The Greek and Roman poets felt a powerful attraction to nature, but to a nature whose subjection was symbolized in the tamed landscape of garden, field and vineyard or the bucolic pastures of Arcadia. Of her wilder manifestations they remained afraid.“ 150 146 Hans Jonas, Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 122. 147 Gilman, Difference and Pathology, 22. 148 Ebd., 20. 149 Blaicher, Nationale Stereotypen, 549. 150 Appleton, Experience of Landscape, 1. 63 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Bei der Suche nach Gründen für das kontrastive Naturverständnis in erstarrten Landschafsbildern bieten sich drei Erklärungsmodelle an: 1. Die Entwicklungspsychologie hat aufgezeigt, dass sich im Unbewussten eine Einteilung des Fremden in ‚schlecht’ und ‚gut’ vollzieht mit der Folge, dass ’sensations of pleasure or of fear’ in Projektionen von Angst bzw. Wohlbefinden in Bezug auf das Unbekannte einmünden. Die Begegnung mit Raum, Natur und Landschaft ist von den gleichen bipolarmanichäischen Wahrnehmungsmustern geprägt wie die Begegnung mit Menschen. Die frühkindliche Furcht vor Kontrollverlust der Welt resultiert in einer Zweiteilung auch von Raum, Natur, und Landschaft, und in diesem Lichte sind die unterschiedlichen Spielarten äußerer Natur, von der Ideallandschaft bis zur Furcht einflößenden Wildnis, zu sehen, die von Anfang an das Verständnis vom umgebenden Raum in der europäischen Literatur prägen. 2. Aus Sicht der Verhaltenspsychologie und Evolutionsgeschichte wird die Bipolarität in der Landschaftswahrnehmung durch das Moment der Gefahr erzeugt, das jeder Begegnung mit dem neuen Raum innewohnt. Die Gefahr kann real oder auch nur fiktiv sein, löst aber stets spontan ein Schutzbedürfnis und den Wunsch nach Überlebenssicherung aus. Dieses Motiv bildet den Kern von Jay Appletons Habitat-Theorie, wonach Landschaftserfahrung nach dem Raster von ’prospect and refuge’ stattfindet. 151 Der erste Grundsatz jeder Bewegung in unbekanntem Terrain sei ’to see and not to be seen’. In einem weiter gefassten Sinn geht auch Paul Shephards ’theory of sexual symbolism’ oder ’Earth-Mother theory’ von einer Strategie der Lebenserhaltung als Prämisse ästhetischer Wahrnehmung aus, wenn er zu Grunde legt, dass die Vorstellungen von Phallus und Vagina die Landschaftswahrnehmung im konkreten topografischen Detail leiten: “[…] a subconscious anthropomorphism may be the real basis of the aesthetic appeal of landscape“. 152 Beide diskursrelevanten Theorien fußen auf einem binären Wahrnehmungscode, in dem ganz offensichtlich die ursprüngliche Differenz von ’Self’ und ’Other’ eingeschrieben ist. 3. Die Psychoanalyse legt die Annahme zugrunde, dass im Subjekt der Wunsch verborgen ist, das Defizitäre und Böse der eigenen Natur nach außen zu verlagern und damit symbolisch die ‚schlechten’ Eigenschaften vom ‚guten’ Selbst zu trennen. Wie bei den Fremdbzw. Feindbildern im sozialen Gefüge aufgrund von Ausgrenzungskriterien wie Rasse, Geschlecht, Religion, Nationalität, Beruf u.ä. existieren auch für die Landschaft negative Sinnaufladungen. Die entwicklungspsycholgisch, evolutionsgeschichtlich und psychoanalytisch begründbare bipolare Wahrnehmung von Umwelt zeigt das Ziel der Lebenssicherung im weiten Sinne als Prinzip von fundamentaler 151 Ebd., 70ff. 152 Ebd., 84. 64 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN Gültigkeit. In der Tat weisen Assoziationen und Symbole in Bezug auf Landschaft seit der frühen Antike gegensätzliche Bilder mit kontrastivem Gefühlsgehalt auf. Dem Garten und dem Paradies, dem Elysium, Arkadien und dem locus amoenus stehen der dunkle Wald und der finstere Tann, die Einöde und die Wildnis, der Sumpf und das Moor, die Wüste und das Meer, hohe Felsen und tiefe Schluchten, ungestüme Wasserfälle und dunkle Seen, unwegsame Ufer und kahle Bergkuppen gegenüber. In der Namensgebung landschaftlicher Orte sind Wortverbindungen mit ‚wild’, ‚Schrecken’, ‚Hexen’, ‚finster’ oder ‚böse’ besonders häufig anzutreffen. An nicht wenigen Stellen der europäischen Topografie finden sich Teufelsmoore und Teufelsschluchten, Hexen- und Heidenlöcher, Finster- und Höllentäler, Schreckhörner und Satansgipfel, Drachenfelsen und Galgenberge. Solche Kombinationen landschaftlicher Gegebenheiten mit dem Unheilvollen belegen, dass die Menschen einen Ort für das Böse wussten, der nicht in ihnen, sondern draußen, in der ‚wilden’ Natur, lag. Die ’Via Mala’ in der abweisenden, archaischen Gebirgswelt der Alpen galt als Inbegriff einer dem Menschen böse und feindlich gesinnten Natur. Wie im intersubjektiven Bereich werden also auch im Bezug zwischen Subjekt und Landschaft Klischees und Stereotypen gebildet, in denen sich die ursprüngliche Einschreibung von ‚gut’ und ‚schlecht’ widerspiegelt. Ein so entstehendes Gefüge von symbolisch aufgeladenen Wahrnehmungsinhalten auf der Grundlage erstarrter Bilder steuert das ‚Sehen’ von Landschaft. Ein unabhängiges, von wertenden Symbolbezügen freies, d.h. selbstmächtiges und autonomes ‚Sehen’ von Landschaft kann es nicht geben. Es müsste anderenfalls von einer völlig wertfreien Rezeption optischer Eindrücke auf der Netzhaut bei rein pragmatischer Zweckorientierung im Raum ausgegangen werden, wie dies möglicherweise auf niedere tierische Organismen zutrifft. Wertendes, ästhetisches Sehen ist Vorstufe des künstlerischen Sehens, das wiederum durch zahlreiche kulturelle Vorgaben, aber auch durch die Imagination bestimmt ist: „Künstlerisches Sehen ist gefiltertes, nach den ‚Regeln der Kunst’ (Sandrart) geschultes Auswählen und Sortieren, ein interessegeleitetes Wahrnehmen, das abhängig von Sozialisation, Wissen und ethischer Bewertung die schöpferische Tätigkeit vorbereitet.“ 153 Auch die verbale Landschaft als in Textform gebrachte ästhetische Naturwahrnehmung und insbesondere die literarische Landschaft als Naturbild in fiktionaler Gestaltung sind mit den Einschreibungen intra- und intersubjektiver Art versehen und von Interessen geleitet, wodurch die 153 Matthias Strugalla, Wahrnehmung und Zeichenprozess bei Heinrich Bürkel" in: Besch, Heinrich Bürkel, 38. 65 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Begrenzungen in der Wahrnehmung wie auch in der Darstellung von Natur und Landschaft gegeben sind 154 ; (vgl. dazu auch 1.3.6). 1.3.3 Distanz, Kontrast, Polarität: Zur Herausbildung von Identität und Alterität Die Feststellung, dass ein Ding Identität habe bedeutet, dass es mit sich gleich, mithin mit sich und in sich gleichwertig ist. Identität haben schließt ein Identisch-Sein mit etwas anderem außer mit sich selbst aus, da eine geteilte Identität, die in zwei oder mehr Dingen vorhanden wäre, kein Gleichsein mehr mit sich selbst beinhaltet. Anders gesagt: Mehrere Dinge können gleich sein - ohne eigene Identität -, aber sie können nicht dieselbe Identität haben. Dies bedeutet, dass sich Identität nur über die Existenz eines Anderen und dessen eigener Identität definieren kann (vgl. dazu 1.1.3, insbes. Fußnote 13). Diese Überlegungen entsprechen psychoanalytischen und sozialpsychologischen Befunden. Im Alter von wenigen Wochen bis etwa fünf Monaten entwickelt das Kleinkind einen Sinn für Differenz durch Gewahrwerden eines Mangels, einer „im Kastrationskomplex organisierte[n] Insuffizienz“. 155 Es kommt zur Spaltung des Selbst in ’gut’ und ‘schlecht’: ”[...] the bad self is distanced and identified with the mental representations of the ’bad’ object.” 156 Hier beginnt die Individuation und Identitätsbildung: Das Subjekt in seiner Identität konstituiert sich in dem Moment, wo der Mangel von ihm weg nach außen verlagert wird; durch Distanz und die Vorstellung von Differenz entstehen Kontrast und Bilder des Anderen. Damit ist nochmals einer der Grundsteine für Polarität der Wahrnehmung umschrieben und gleichzeitig für das Entstehen rigider Bilder (vgl. 1.3.2). Erfahrungs- und Bildungszuwachs können später im Leben dieses programmierte, präformierte Sehen in seinem schematischen, grobrastigen Zugriff auf die Realität verfeinern oder auch überdecken - in seiner Tiefenstruktur bleibt es jedoch dauerhaft im Subjekt erhalten. Polarisiertes Wahrnehmen kennzeichnet das Denken und Tun des Einzelnen wie auch sein Verhalten in der Gruppe, und das gilt selbst für Bereiche wie Wissenschaft, Kunst und Literatur, da jede Darstellung in Wort oder Bild die Tiefenstrukturen zur Wahrnehmung in sich trägt. ”All of these systems are inherently bipolar, generating pairs of anti-thetical signifiers (’the noble savage vs. the ignoble savage’). All reflect the deep 154 Künstlerisches Sehen heißt aber auch Begrenztheit transzendieren, das Vorbild der Mimesis ad acta zu legen und Verbindungen zwischen Außen- und Innenwelt aufzeigen (vgl. dazu Jean-François Lyotard in 1.2.4). 155 Jacques Lacan, Linie und Licht, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 72. 156 Gilman, Difference and Pathology, 17. 66 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN structure of the stereotype while responding to the social and political ideologies of the times. [...] novels, plays, and poetry are written to fulfil certain needs of specific groups within a given society. Within the closed world they create, stereotypes can be studied as an idealized definition of the different. The closed world of language [...] carries and is carried by the need to stereotype. For stereotypes, like commonplaces, carry entire realms of associations with them, associations that form a subtext within the world of fiction [...]. The fictional world as structured by the author is the world under control.” 157 Demnach strukturiert sich nicht nur das Wahrgenommene, sondern auch alles über ein Medium Dargestellte nach dem Prinzip der Bipolarität, was ebenso unvermeidlich wie notwendig ist. Aus sozialpsychologischer Sicht ist es überhaupt Sinn des Schreibens von Literatur, Erwartungshaltungen der Leser zu erfüllen, die naturgemäß bipolar sind. Andererseits stereotypisiert das Medium der Sprache semantisch und strukturell durch logozentrische Sinnkonstruktionen und binäre Oppositionen (vgl. 1.1.3) und verstärkt somit die schon vorhandenen Dispositionen im Subjekt zu polarisierendem Erfassen der Außenwelt. Literatur spiegelt also sowohl in ihrer Intention als auch in ihrer sprachlichen Verfasstheit die in der Tiefenstruktur des Individuums angelegten Kategorien der Begegnung mit der Welt. Dieses schematisierte, zweipolig manichäische Sehen geht freilich in der Literatur wie im Individuum mit Ganzheitsillusionen einher, denn die Welt soll sich als Sinnganzes erweisen - auch für den Autor selbst und sein Motiv zu schreiben. Dies erklärt, weshalb die imaginäre Linie zwischen dem Selbst und dem Anderen ständiger Veränderung unterworfen ist, “[…] so that the illusion of an absolute difference between self and Other is never troubled“. 158 Die Schemata der Wahrnehmung in ihrer kontrastiven bzw. gegenpoligen Struktur bleiben stets erhalten, ungeachtet bzw. gerade wegen der “fluidity of stereotypical concepts“ und des dahinter stehenden Wunsches nach Integration. 159 Diese Schemata des Erfassens von Welt im Subtext von Wort- und Bilddarstellungen können sogar als Beleg für deren Authentizität und ihren ganzheitlichen Sinn gelten. Der Reichtum an Assoziationen, der mit bipolarer Wahrnehmung einhergeht, wird durch die Wandelbarkeit der Inhalte starrer Bilder um ein Vielfaches vergrößert. Für den Romanautor ist dies zusätzlicher Anreiz, Topoi von Identität und Alterität zu thematisieren und durch Einbeziehen der latenten Sinnebene die Fantasie der Leserinnen und Leser zu mobilisieren. Zu ihrer Konstituierung bedarf die Identität eines Subjekts also der Distanz als gedanklicher, des Kontrastes und der Polarität als struktureller 157 Ebd., 27. 158 Ebd., 18. 159 Ebd., 26. 67 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG sowie der Alterität als inhaltlicher Voraussetzung. Letztere umschreibt das Andere nicht nur als Verschiedenartigkeit, sondern im Modus der Ergänzung. Die dialektische Relation von Haben und Nichthaben, Fülle und Mangel, Suffizienz und Insuffizienz spiegelt sich in den Bildern vom Selbst und dem Anderen: Sie verherrlichen oder setzen herab, sie idealisieren oder verunglimpfen. Möglich ist sogar eine Umkehrung im Laufe der Zeit. Was man im Anderen fürchtet, kann geheime Bewunderung auslösen: Das Starke oder Böse flößt Furcht ein, fasziniert aber auch aufgrund seiner Verschiedenartigkeit und generiert auf dem Wege mentaler Komplementierung die Illusion von Ganzheit. Jedes Selbst definiert sich über ein Konglomerat von Bildern seiner Identität, was Nietzsche schon feststellte, die den eigenen Körper, die Psyche und Erfahrungen sowie Einbindungen in soziale, religiöse, ethnische und anderweitige Kontexte zum Gegenstand haben. Ein Unbehagen am Selbstbild, das in hohem Maße soziokulturell geprägt ist bzw. sich an soziokulturellen Vorgaben orientiert, löst eine Suche mit dem Ziel aus, über eine Korrektur bzw. Ergänzung zu ‚wahrer’, ‚echter’ Identität mit sich selbst zu gelangen und zu einem Zustand innerer Übereinstimmung mit sich selbst zu finden. Die Selbstkritik kann z.T. aufwändige, kompensatorische Programme in Gang setzen: Bodybuilding und Fitnesspläne, Psycho- und Meditationskurse, Initiativen zur Berufs-, Karriere- und Statusverbesserung, Abenteuerreisen und Aussteigerkarrieren: In allen Fällen wird ein Bild von Alterität benötigt, um das anzustrebende ‚Bessere’ sichtbar zu machen - oder eventuell über das ‚Schlechtere’ das Selbstbild zu bestätigen. Die psychische Relevanz der Identitätsbildung erklärt die Dynamik von Prozessen der Sinnsuche. Dabei geht es stets um individuell bedeutsame Antworten auf Grundfragen von Selbst und Welt, die auch von philosophischen und religiösen Deutungssystemen gestellt werden: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun? Sinn ist dann gegeben, wenn dem Selbst für das Verständnis von sich Antworten parat stehen. Sie können selbst gesucht und gefunden oder auch ganz oder teilweise von außen übernommen werden, was dann u.U. auch konkret durch Zeichen oder Symbole kundgetan wird. Diese fungieren als sichtbare Manifestation von Identität, markieren einen Platz in einem Ordnungsgefüge und sind äußerer Beleg dafür, ‚Herr der Lage’ zu sein. Das Vorhandensein von sichtbaren oder verdeckten Identitätsmerkmalen macht sich im Übrigen die kriminalistische Praxis ganz konkret zwecks Identifizierung von Individuen zunutze. Der Eindruck eines etwaigen Kontrollverlustes über die Umwelt bedroht das mit sich Eins-Sein, gefährdet ein darauf beruhendes Stabilitäts- und Glücksgefühl und mobilisiert umgehend Abwehrkräfte durch verstärkte Wahrnehmungspolarisierung und erhöhte Bilderpräsenz: “[…] stereotyping is a universal means of coping with anxieties engendered by 68 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN our inability to control the world“. 160 Je größer die Ängste sind, umso machtvoller gerieren sich starre Bilder und verhärten eine rigide Wirklichkeitssicht. Dies gilt für Individuen wie auch für soziale, ethnische, religiöse oder politische Gruppen: Unterdrückung, Verfolgung und Krieg bis hin zur Ausrottung von Teilen von Bevölkerungen haben meist ihre Ursache in realen oder imaginierten Ängsten und sich verhärtender Stereotypisierung des ‚Schlechten’, das zur vermeintlichen Identitätssicherung bekämpft werden muss. Im Verbund mit militärischer Macht und technologischem Potenzial können die Auswirkungen verheerend sein, wie die Geschichte gerade der Neuzeit vielfach zeigt. Stereotype Bilder sind jedoch, wie schon erwähnt, wandelbar und damit auch Identität, denn „Projektionen zur eigenen Identität sind eng verknüpft mit Erfahrungen und Erlebnisweisen, die sich nach Freud als Niederschrift in das Register der Seele schreiben und angeeignet werden [durch] das Zusammenspielen einer intersubjektiven geteilten, präexistenten symbolischen Ordnung und den eigenen Identitätsentwürfen in gegenseitiger Verweisung und Relativierung“. 161 Wünsche zur eigenen Identität korrespondieren aufs engste mit Alterität. Eine nicht vorhandene Identität würde im Übrigen bedeuten, kein Ich, kein Selbst zu besitzen; eine nicht vorhandene Individualität bedeutet, in einem irgendwie gearteten Kollektiv seine Identität verloren zu haben - und damit auch das Bewusstsein vom Ich und Selbst. Voraussetzung von Identität ist also Individualität mit den psychischen Instanzen, nach Freud, des Ich, des Es und des Über-Ich, ein Kompositum aus kulturellen, biologischen und psychischen Vorgaben. Die Selbstkonzipierung oder Selbsterfindung des Individuums in Bildern zu seiner Identität erfolgt also in Interaktion mit der Umwelt: Erlebnisse bezeichnen einen Ist-Zustand und dienen gleichzeitig als Folie zur Beschreibung eines komplementären Soll-Zustandes, der in der Alterität angesiedelt ist. Identität und Alterität erscheinen wie die Teile der zerbrochenen Münze, die sich beim Zusammenfügen perfekt ergänzen und eine Ganzheit ergeben. Individualität ist dynamisch und erweist sich als Prozess „zwischen Fremdbestimmtheit und kreativer Aneignung des Fremden“; 162 Identität dagegen ist - vorübergehend - statisch und bezeichnet einen Zustand des Geprägtseins in Abgrenzung von Alterität. Für Romanautorinnen und -autoren, die sich mit Identitätsbildung, Selbsterkundung und Selbst(er)findung befassen, eröffnen sich durch die Opposition von Identität und Alterität gedanklich reizvolle Konstellationen, um intra- und interpsychische Konflikte ihrer Figuren sichtbar zu machen und psychologisch plausibel vorzutragen. 160 Ebd., 11f. 161 Joachim Küchenhoff, Der Leib als Statthalter des Individuums, in: Frank/ Haverkamp, Individualität, 171. 162 Ebd., 169. 69 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG 1.3.4 Das Funktionalisieren von Landschaft: Verbildlichte Außenwelt als Verbildlichung von Innenwelt „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“(’esse est percipi aut percipere’) schrieb George Berkeley 1709 in seiner New Theory of Vision, in der er sich gegen Descartes’ und auch Lockes Konzept abstrakter Vorstellungen und eines gleichermaßen als Abstraktum konzipierten allgemeinen Seienden wandte. „Nur die Perzeptionen des immateriellen Geistes sind wirklich“ 163 : Dieses Axiom machte seine Schrift zu einem der Grundlagentexte der Wahrnehmungspsychologie. Dem Gesichtssinn, verantwortlich für die Abbildung der Außenwelt, kommt unter den Formen sinnlicher Wahrnehmung besondere Bedeutung zu. Der Grund ist einerseits das spezifische Leistungsvermögen dieses Sinnesorgans hinsichtlich des Erschließens und Durchdringens der Umwelt, andererseits, wenn es auf Kontrolle und Beherrschen dieser Umwelt ankommt, sind die Fähigkeit des Sehens, das Auge und der Blick die entscheidenden Instrumente zu solchem Zugriff. Zahllos sind die kulturellen, sprachlichen und symbolischen Bezüge zur Macht des Auges und des Blickes: Sie reichen vom Bau von Aussichts- und Wachttürmen zu Burgen, Thronen, Kanzeln und Kathedern, vom ‚Auge des Gesetzes’ zum allgegenwärtigen ‚Auge Gottes’, vom emblematischen ‚Auge der göttlichen Vernunft’ der Freimaurer bis zum ‚bösen Blick’ der Hexen und dem Auge ’Big Brothers’ zwecks totaler Überwachung in George Orwells Nineteen Eighty-Four. Aus Sicht des philosophischen Strukturalismus hat Michel Foucault die Macht des Blickes kritisch analysiert. Wie Horkheimer und Adorno begreift er die „[…] Rationalisierung der modernen Gesellschaft als Entfaltung einer instrumentellen Rationalität, die sich nicht nur die äußere Natur, sondern auch die innere Natur des Menschen technisch unterwirft.[...] Es ist dieser durchbohrende Blick der Vernunft, der in den modernen Anstalten, den Gefängnissen, Schulen und Fabriken die Körper der Insassen diszipliniert.“ 164 Am Beispiel von Jeremy Benthams Panopticon, einem Gefängnisrundbau zur totalen Überwachung aller Gefangenen ohne Möglichkeit, Bewacher je zu sehen, zeigt er, wie institutionalisierte Machtausübung in einer bis zur Perfektion rationalisierten Gesellschaft angelegt sein kann: Macht ist anonym geworden und integraler Bestandteil der modern verwalteten, anthropozentrischen Welt (vgl. 1.1.3). Ein Kerngedanke von Konrad Lorenz in der Verhaltensforschung über die Interaktion von Lebewesen und Umwelt, das Prinzip von ’to see 163 Delius, Geschichte der Philosophie, 57. 164 Ebd., 108 u. 110. 70 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN without being seen’, ging in Jay Appletons Habitat-Theorie ein, die topografische Zeichenstimuli als atavistische Grundelemente ästhetischer Landschaftserfahrung begreift. 165 Landschaft ist für ihn ein Geflecht aus Bildern mit symbolischem Gehalt. Diesen Gedanken vertieft Merleau- Ponty, der bereit ist, „[…] dem Auge Selbständigkeit und produktiven Gestaltungsraum, eigenen Geist zuzuerkennen“. 166 Seit Einführung der Zentralperspektive in der Renaissance war das Sehen einer Geometrisierung unterworfen; sie erzeuge aber „[…] eine Kluft, die es in der Realität nicht gibt. Sie weist dem Wahrnehmenden einen fiktiven Punkt außerhalb der Welt zu und macht diese zu einem Objekt, das seiner Verfügungsgewalt scheinbar widerstandslos ausgeliefert ist. Das ist aber nur eine Phantasmagorie, denn in Wirklichkeit ist der Betrachter ein leibliches Wesen, er ist in der Welt und kann nur in der Welt existieren.“ 167 Merleau-Ponty bezeichnet diesen Zustand der leiblichen Präsenz inmitten der Welt als Teilhabe am ‚Fleisch bzw. Leib der Welt’ («la chair du monde»), an der Welt als sinnlicher Realität, der er attestiert, eine „[…] gelebte und leibhafte Reflexivität zu sein, in der sich Blick und Anblick überkreuzen“. 168 Mit der zentralen Stellung des Auges geht das Erfahren von Landschaft in Bildern einher. „Wie die Kunsterfahrung ist die ästhetische von der Natur eine in Bildern. Natur als erscheinendes Schönes wird nicht als Aktionsobjekt wahrgenommen.“ 169 Landschaft konstituiert sich im Subjekt als Ergebnis ästhetischer Naturerfahrung in Form einer Verbildlichung dieser Wirklichkeit. 170 „‚Wenn ich Worte schreiben will, so stehen mir im- 165 Appleton, Experience of Landscape, 69. In Tabellen gliedert Appleton Landschaftsphänomene nach ihrem pragmatischen Wert zur Überlebenssicherung. Seine Theorie eines binären Codes aus den Elementen ’prospect and refuge’ zur Wahrnehmung von Landschaft leistet bei der Deutung piktoraler und verbaler Landschaftsbilder wertvolle Hilfe: “The deficiency hazard if it is rarely explicit in the symbolism of landscape painting, is constantly implicit in the symbolism which proclaims the capitulation of want in the face of plenty. The cornfields and the vineyards, the browsing oxen and the bleating sheep, the gushing fountain and the limpid brook, the swain with the sheaves and the milkmaid with the pail, the flagon and the cornucopia, in short, all the provisions of a bountiful nature and their symbolic representations: these are the perpetual reminders that it is the function of a creature’s habitat to provide first and foremost for his alimentary needs, and that the environment of civilized man is still basically a habitat.”(ebd.,101). 166 Boehm, Wiederkehr der Bilder, in: ders., Was ist ein Bild? , 18. 167 Lüdeking, Zwischen den Linien, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 355. 168 Boehm, Wiederkehr der Bilder, 20. 169 Theodor W. Adorno, Ästhetische Schriften, zit.n. Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik - Zur Konstitution von Landschaft, in: ders., Landschaft, 48. 170 Neben dem Sehen gibt es andere Wahrnehmungsmodi. Eine Landschaft kann auch über den Geruch und/ oder das Gehör erschlossen werden, z.B. Küsten-, Stadt-, Industrielandschaften. Dennoch sind Auge und Bilder zentral für die Erfassung und Beherrschung von Umwelt, wie Winston Smith durch die Omnipräsenz des Blicks von Big Brother in Orwells Nineteen Eighty-Four leidvoll erfährt. 71 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG mer Bilder vor Augen’“, bekannte selbst Goethe in der ‚Italienischen Reise’ beim Versuch, seine Landschaftseindrücke vom gelobten Land niederzuschreiben. [...] Das Erinnern funktioniert wie das bildhafte Sehen: Es registriert signifikante Merkmale aus der Fülle der Erscheinungen, verdichtet sie im Ausschnitt zum statischen Bild.“ 171 Die kulturhistorische Begründung für diesen Sachverhalt ist: „Die Landschaft wird [durch Ästhetisierung] visualisiert, denn die Schau aktiviert von altersher den Gesichtssinn, der als Fernsinn und frontaler Sinn eine Überschau gewährt. Deshalb wandert Petrarca nicht einfach durch eine Landschaft, auch von Düften und Geräuschen, die ihn umgeben, wird nichts berichtet; was zählt, ist das Ziel der Wanderschaft: die Bergkuppe als Ort der Schau.“ 172 Der Bezug gilt Petrarcas oft zitierter Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1335, bei der ihm klar wird, „[…] daß die Besteigung des Berges, die er unternommen hatte, um sich im genießenden Anblick der großen Natur ringsum liebend Gott zu vergegenwärtigen, von Augustinus als ‚Vergessen des Selbst’ verworfen wird. [Er] wendet absteigend das ‚innere Auge’ allein noch dem eigenen Inneren zu.“ 173 Die Erschließung des geogenen Raumes mit dem leiblichen Auge bedeutet somit nichts anderes als dessen Übertragung in Bilder von Landschaft. Dieser Raum ist der „von Minkowsky so genannte gelebte Raum“ mit differenzierter Binnenstruktur - unterscheidbar sind der Stimmungs-, der Handlungs-, der Anschauungsraum -, aber stets gehört dieser Raum der Umwelt „[…] zum Fundus der Befindlichkeit, aus dem wir ständig schöpfen“. 174 An diesem Punkt erfolgt der Brückenschlag zwischen Außen- und Innenwelt. Der Ursprung für den Transfer ist “[…] our need to structure the world in familiar terms“. 175 Die Verschränkung von Außen und Innen vollzieht sich also mittels Bildern über das Medium Landschaft. Diese Bilder sind mehr als optische Reize, sie werden Träger von Befindlichkeit, von Gestimmtheit. Sie haben Zeichencharakter und Verweisfunktion, und sie konstituieren das Symbolsystem des kognitiven, ‚sprechen- Andererseits, Ikonoklasmus ist der gezielte, letztlich fast immer erfolglose Angriff auf die magische Kraft der Bilder vornehmlich in Zeiten politischer und religiöser Umbrüche, um einen ideologisch anderen Zugriff auf die Welt zu erzwingen: “[...]all those destroyers of images, those ’theoclasts’, those iconoclasts, those ’ideoclasts’ have also generated a fabulous population of new images, fresh icons, rejuvenated mediators: greater flows of media, more powerful ideas, stronger idols.“(Bruno Latour, What is Iconoclash? , in: ders. und Peter Weibel, Hrsg., Iconoclash, Karlsruhe: ZKM-Center for Art and Media and Cambridge, Mass.: Massachusetts Institute of Technology, 2002, 14f.). 171 Monika Wagner, Ansichten ohne Ende - oder das Ende der Ansicht? Wahrnehmungsumbrüche im Reisebild um 1830, in: Bausinger et al., Reisekultur, 326. 172 Bernhard Waldenfels, Gänge durch die Landschaft, in: Smuda, Landschaft, 30. 173 Joachim Ritter, Landschaft - Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster: Verlag Aschendorf, 1963, 9. 174 Ebd., 33f. 175 Gilman, Difference and Pathology, 22. 72 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN den’ Raumes im Rahmen der Identitätsbildung und Identitätssicherung (vgl. 1.2.2). Die verbildlichte Außenwelt resultiert in einer Verbildlichung der Innenwelt als Raum der Psyche. Diese Verbildlichung der Landschaft als äußere Wirklichkeit ist kein Akt der Mimesis. Nach Georg Simmel wird sie in einem „[…] ‚eigentümlichen Prozeß erst erzeugt’, in welchem unser Bewußtsein ein ‚neues Ganzes, Einheitliches’ setze [...]“ 176 . Diese Vorstellung von Landschaft als selbständiges Ganzes beinhaltet einen ontologischen Bedeutungszuwachs. Natur wird in den Rang einer Seinsgröße gehoben, die, in sich ruhend, als holistisches Modell bei der Suche nach Orientierung und Sinn dienen kann. Hinzu kommt: Im Naturausschnitt wird „[…] Bildkunst wie Dichtung die Funktion zugemutet, die ‚ganze’ Natur zu vergegenwärtigen. Das hat weder das Mittelalter noch die alte Welt gekannt.“ 177 Das Übertragen außenweltlicher Landschaftsbilder in die Innenwelt wird somit Sinnstiftung. Landschaft fungiert nun als Sinnmodell zum Nachweis universaler Gesetze (z.B. ‚Alles fließt’ oder ‚Die Natur ist ein Kreislauf’), vor allem aber als ‚Korrespondenz-’ und ‚Seelenlandschaft’ wird sie „[…] beseelte Stimmungslandschaft als Metapher für die seelische Verfassung des Subjekts, die auf die Natur übertragen wird. Konkrete Landschaft gerät zur Interaktion zwischen dem Ich und der Objektwelt, literarische Landschaft wird zum Prozeß des Erlebens von Natur.“(Hervorhebung: U. Dethloff) 178 Damit ist die Verbildlichung der Innenwelt durch eine verbildlichte Außenwelt umfassend vollzogen. 179 Die Transformation der von der Antike bis ins 18. Jahrhundert traditionell ornamentativen in eine moderne, semantisch differenzierte Landschaftssicht, womit eine Umschreibung seelischer Verfassung erst beginnen konnte, vollzog sich analog in der wesensverwandten Malerei, wie ein interdisziplinärer Blick zeigen kann. Von Interesse ist nicht nur, dass es gleichfalls zu einer Bedeutungsverschiebung weg von der Wiedergabe emblematischer Ausschnitte eines ganzheitlich gedachten kosmischen 176 Georg Simmel, Philosophie der Landschaft in Brücke und Tor (1957), zit.n. J. Ritter, Landschaft, 41f. 177 J. Ritter, Landschaft, 42. 178 Dethloff, Literarische Landschaften, 28f. 179 Die Geschichte des Denkens kann als das Vergessen jener Bilder gelesen werden, die Begriffe und Kategorien geworden sind (Nietzsche), und diese ‚verblichene Mythologie’ (Schelling) ist Ursache der Metaphernpflichtigkeit des Denkens’ heute (Hans Blumenberg).(vgl. Boehm, Wiederkehr der Bilder, 27). Seit dem 18. Jahrhundert sei deutlich geworden, im Gegensatz zu Rationalismus und Deduktion, „[…] wie sich (seit Kant, Kierkegaard, Nietzsche, Freud, Wittgenstein, Husserl, Heidegger u.a.) der Erkenntnisanspruch und die Erkenntnissicherheit der Philosophie zu verändern begannen und damit dem Bild (der Einbildungskraft, der unbewußten Imagination, der Metapher, der Rhetorik usf.) eine neue Rolle und Legitimität zuwuchs.“ (ebd., 12) 73 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Gefüges kam hin zu individualisierender Sinnzuweisung 180 , sondern dass gerade die englische Rezeption Italiens als Folge der Grand Tour stark unter dem Einfluss der Malerei stand, die Gewohnheiten verbalen und bildhaften Sehens der italienischen Landschaft in England nachhaltig formte (vgl. 2.1.2-3). 1.3.5 Raum, Natur und Landschaft in der Malerei In der Hierarchie des ptolemäischen Weltbildes, bildhaft in Die Göttliche Komödie mit Dantes Wanderung durch alle zehn Sphären eingearbeitet, gab es im europäischen Raumdenken von der Antike bis Kepler keine Geheimnisse zwischen Himmel und Hölle und somit kein Motiv für Entdeckungen. In der von Gott eingerichteten Ordnung hatte der Mensch seinen festen Platz. Das statische Gefüge von Kosmos und Gesellschaft, dessen Sinnhaftigkeit in der Erfüllung göttlicher Vorgaben bestand, bot keinen Anlass, etwas außerhalb des etablierten Heilswegs zu erkunden. Phänomenologisch hatte der Raum weder eine Dimension der Tiefe noch eine solche des Unbekannten, Fremden. So erklärt sich, weshalb die Landschaft im gesamten Mittelalter, auch bei Michelangelo, der sich abwertend über sie äußerte (vgl. 1.2.4, Fußnote 100), bis zum Klassizismus eine untergeordnete Rolle innehatte. Der Mensch in seinem religiösen und historischen Kontext war der vornehmste Gegenstand der Kunst, während Landschaft nicht als kunstwürdig galt, zumal auch die griechische und die römische Antike keine Vorbilder bzgl. Eigenständigkeit der Landschaft bereitstellten. In diesem Licht ist Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux bei Carpentras 1335 doppelt bedeutsam: Sie ist ein Überschreiten von Grenzen der bäuerlichen und auch der theologischen Lebenswelt der Zeit, aber auch wegweisender Akt einer erstmalig belegten ästhetischen Naturwahrnehmung. Er bestieg den Berg, um Landschaft zu genießen und legte damit den Grundstein für ein neues Naturverständnis 181 (vgl. 1.3.4). Erst hundert Jahre später wurde die erste tiefenräumliche und topografisch identifizierbare Landschaft gemalt: 182 Es war Der Fischzug Petri (1444) von Konrad 180 Den modernen Wandel zur Verbildlichung des Abstrakten hat Gottfried Boehm mit dem Begriff der ’iconic turn’ bzw. ‚ikonischen Wendung’ in Übertragung des von Rorty geprägten ’linguistic turn’ - vgl. Richard Rorty, Hrsg., The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method, Chicago, 1967 - belegt. (ebd., 13; vgl. dazu 4.3.2 u. 4.3.4). 181 „Landschaft wird [...] Natur erst für den, der in sie ‚hinausgeht’ (transcensus), um ‚draußen’ an der Natur selbst als an dem ‚Ganzen’, das in ihr und als sie gegenwärtig ist, in freier genießender Betrachtung teilzuhaben.“ (J. Ritter, Landschaft, 13). 182 Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus Die Gute und Schlechte Regierung (1340) enthält eine reichhaltige Darstellung von Stadt- und Naturlandschaften (Siena), jedoch mit vielen Symbolen und Allegorien; bei aller Schärfe der Beobachtung handelt es sich um reine Fantasielandschaften. 74 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN Witz mit der Szenerie des Genfer Sees, ehe Leonardo, Giorgione und Tizian in Venedig, Dürer und die Meister der Donauschule (Altdorfer, Huber, Hirschvogel, Cranach d.Ä.), „eine der Keimzellen der Landschaftsmalerei im 16. Jahrhundert“ 183 , die Landschaft nördlich der Alpen als eigenständigen Bildgegenstand entdeckten. 184 Am Beginn des historischen Prozesses der Landschaftswahrnehmung als ästhetisch-künstlerisches Phänomen stehen freilich mehrere Ursachen, so u.a. die Entdeckung der räumlichen Perspektive, die Renaissance als reale und übertragene Horizonterweiterung sowie das erwachende Selbstbewusstsein des Individuums. Symptomatisch für das neue Raumverständnis sind Leonardos Studien zum Bau von Flugmaschinen, deren Grenzen in der Mechanik der Zeit, nicht im Wagemut der Konzeption lagen. Ein neues Verhältnis zur Umwelt als erweitertem Raum markiert grundätzlich den Anfang neuzeitlichen Denkens. Mit der Loslösung von christlich-neuplatonischem Naturverständnis verlagerte sich die innovative Landschaftssicht von Italien nach Nordeuropa. „Die Niederländer gelten als Protagonisten der schonungslosen Wirklichkeitserfassung, die Franzosen als Vollender der idealen Form.[...] Entscheiden die Fakten oder ein vom Menschen entworfenes Maß - zwischen diesen beiden Alternativen bewegt sich die künstlerische Praxis der Landschaftsmalerei.“ 185 Claude Lorrain und Nicolas Poussin malten in Italien ideale und heroische Landschaften im Geist der französischen Klassik und prägten Europas Kunst bis ins 19. Jahrhundert: Poussin die Historienmalerei über David, Lorrain die atmosphärische Malweise über Watteau und Turner, während in Italien selbst Salvatore Rosa mit theatralischen Landschaften zu Ruhm gelangte. Eine andere Stilentwicklung jedoch nahm die niederländischflämische Kunst, in der die Landschaft zum großen Thema wurde. Realistisches Sehen ging einher mit fantasievollem Naturerfassen, und über Rembrandt und Rubens, die Brüder van de Velde, van Goyen, Hobbema u.a. erreichte die Landschaftsmalerei in Jacob van Ruisdael einen Höhepunkt. Seine Wiedergabe von Bäumen, Wolken und Himmel, von Licht und Farbnuancen wurde stilbildend und zukunftsweisend. Ein neues Verständnis von Raum, Natur und Landschaft entwickelten der Idealismus und die Romantik. Wurde Landschaft bis dahin als 183 Helmut Börsch-Supan, Die künstlerische Entdeckung der Landschaften Europas in der Epoche der Aufklärung und der Romantik, in: Weschenfelder/ Roeber, Wasser, Wolken, Licht, 14. 184 Zu jener Zeit war in der chinesischen Malerei Landschaft schon ein Hauptthema mit langer Tradition. Aus dem 3.-6. Jh.n.Chr. gibt es dazu maltheoretische Zeugnisse, und im 8. Jh. konzentrierten sich Maler bereits auf Landschaften, Blumen und Vögel, bevor im 11. Jh. eine reine Landschaft „»Abdruck des Herzens«, d.h. der sichtbar gewordene Niederschlag der Persönlichkeit“ wurde.(vgl. Ledderose, Im Schatten hoher Bäume, 10). 185 Sabine Schulz, Landschaft, in: Ebert-Schifferer, Von Lucas Cranach bis C.D. Friedrich, 163. 75 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Teil der Objektwelt verstanden, so verlagerte sich nun das Interesse auf eine innenweltliche Realität. Selbst die niederländischen Maler mit ihrem Gespür für Licht und Atmosphäre waren nicht den Schritt gegangen, den C.D. Friedrich mit Der Mönch am Meer (1808) ging: „Er entwickelt die Natur als Landschaft zum Bedeutungsträger und macht sie zur Chiffre.“ 186 Die sichtbare Objektwelt ist erkennbarer Bezüge zu anderen Gegenständen dieser Welt entkleidet, doch der Verlust traditioneller Funktionszuweisung macht die Landschaft auf diese Weise ‚frei’ für eine individuelle Sinnbefrachtung: Als Naturphänomene ihre tradierte Sinnzuweisung verlieren, werden sie individuell mit Sinn belegt. 187 Künstlerisch wies die Romantik, in Umsetzung von Schillers Forderung, „[…] die landschaftliche Natur (…) durch eine symbolische Operation in die menschliche zu verwandeln“(vgl. Fußnote 112), den Weg in die Moderne. „Die sinnstiftende Betrachtungsweise, wie sie sich in der Romantik aufs allerdeutlichste manifestiert, ist Grundvoraussetzung für das Verstehen moderner Kunst, insbesondere der ungegenständlichen Malerei. Ein abstraktes Bild erhält seinen Sinn erst durch eine sinngebende Betrachtungsweise. Das Kunstwerk erscheint als ‚Kommunikationspartner’, als Gegenüber. [In der Romantik] findet die Trennung von (Künstler-)Ich und Umwelt statt.[...] Der Künstler wird zum Deuter der Welt.“ 188 Damit wird auch die scheinbar so wirklichkeitsnahe Kunst des Realismus und Naturalismus, entgegen allem Anschein, zum verschlüsselten Hinweis auf hintergründige Realitätsdeutung: ”Realistic landscape, which the ignorant believe to be one of the easiest forms of painting, is actually one of the most inaccessible [...].“ 189 Von Constable bis zur Schule von Barbizon und Gauguin, von Turner bis zu den Impressionisten und van Gogh, “[…] nature became a form of religion“. 190 Landschaft als ästhetische Natur wurde nicht nur Sinnträger „[…] auf dem Weg zu den ‚privaten Mythologien und [...] den künstlichen Paradiesen’“ 191 , sondern Grundlage ästhetischen Verstehens überhaupt: “Although this faith in nature as a form of religion is no longer accepted so readily by critical minds, it still contributes a large part to that complex of memories and instincts which are awakened in the average man by the word ’beauty’.“ 192 In der Moderne veränderten die Naturwissenschaften das Raumverständnis grundlegend. Die Erschließung unbekannter makro- und mik- 186 Rainer Piepmeier, Das Ende der ästhetischen Kategorie ‚Landschaft’. Zu einem Aspekt neuzeitlichen Naturverhältnisses, in: Westfälische Forschungen, Schöller/ von Wallthor, 19. 187 vgl. Kullmann, Vermenschlichte Natur, 471. 188 Anna-Carola Krauße, Hrsg., Geschichte der Malerei von der Renaissance bis heute, Köln: Könemann Verlagsgesellschaft, 1995, 59. 189 Clark, Landscape into Art, 172. 190 Ebd., 230. 191 Piepmeier, Ende der ästhetischen Kategorie ‚Landschaft’, 19. 192 Clark, Landscape into Art, 230. 76 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN rokosmischer Welten durch die Physik und Chemie sowie seelischer Innenräume durch die Psychoanalyse hat zu einer Ausweitung wie auch Relativierung von Raum und Natur geführt: Landschaft als sichtbarer Naturausschnitt ist nicht mehr länger adäquate Wiedergabe der neuen Raum- und Naturvorstellung. Ein umfassenderer Naturbegriff ist nötig, da das Bewusstsein erweiterter Raumdimensionen mit dem traditionellen Landschaftsbild nicht mehr zu fassen ist. Parallel dazu mehren sich aber auch angesichts der industriell-technologischen Entwicklung Zweifel am konventionellen Natur- und Landschaftsverständnis bis zum Punkt eines gänzlichen Sinnverlustes. „So endet ‚Landschaft’ mit dem Ende der Hoffnung auf die problemlösende Kraft des Fortschritts, angesichts seiner nicht mehr kompensatorisch zu integrierenden Nebenfolgen.“ 193 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts gehen Kunstrichtungen wie Kubismus, Expressionismus, Surrealismus u.a. den von Cézanne eingeschlagenen Weg hin zu gegenstandsloser Kunst, die mit den Mitteln Form und Farbe eine größere als nur die direkt sichtbare Wirklichkeit darstellt. „Aus einer Malerei der Repräsentanz, welche die Wirklichkeit im Bild herstellt, wird eine Malerei der Differenz, welche die Wirklichkeit als das Unnahbare, als das Unbegrenzbare und Uneinholbare erfaßt.“ 194 Die Landschaftsmalerei erweist sich endgültig als ein Zeichensystem mit Verweischarakter, das seinen zentralen Gegenstand nur noch durch Assoziation konstituieren kann: Der Freiraum an Möglichkeiten von Sinnzuweisung ist unbegrenzbar geworden, ins Grenzenlose gewachsen. Begonnen hatte der Verzicht auf die bildlich komponierte Landschaft mit den im Freien gemalten Bildern Constables 195 und Turners; der Weg führte zu Théodore Rousseau, François Daubigny und der Schule von Barbizon und wurde von den französischen Realisten fortgesetzt; es wird „[…] nicht mehr der Gegenstand gemalt, sondern lediglich dessen Eindruck“ 196 , was im Impressionismus Programm wurde. „Der Realismus in der Malerei bedeutete das Ende des gestalteten Dingzusammenschlusses [und es] verselbständigte sich […] die bildhafte Ordnung. Insofern war der Realismus der Anfang der abstrakten Kunst.“ 197 In Monets Seerosenbildern (Les Nymphéas) „[…] dringt der Blick nunmehr in ein ‚Inneres’. In Spiegelungen dieser Art wird die Unterscheidung Außen/ Innen irrelevant.[...] Eine ‚wirkliche’ Natur hinter den Ver- 193 Piepmeier, Ende der ästhetischen Kategorie ‚Landschaft’, 36. 194 Erich Franz, Raumvorstellungen, in: Hülsewig-Jonen, Landschaft, 26. 195 „[…] ist mit Constable in der Tat der Beginn der Moderne in der Landschaftskunst erreicht. Die Malerei fußt zwar auf aus der Natur abgeleiteten Gesetzen, doch entwickelt sie ihre Sprache immer mehr aus sich selbst heraus. Das mag man autonom nennen.“ (Werner Busch, Autonome Landschaften? , in: Frings, Landschaften von Brueghel bis Kandinsky, 27). 196 Franz, Raumvorstellungen, 26. 197 A.a.O.. 77 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG änderungen anzunehmen, entpuppt sich als Illusion.“ 198 Der Abstraktionsprozess setzt sich bei Wassily Kandinsky, Paul Klee und Piet Mondrian, die zunächst noch Landschaften malten, fort und mündet in ein neues Bild von Natur ein. „Ein komplexeres und offeneres Bild der Natur entsteht, nachdem jene Sicht der Natur, für die das alte Landschaftsbild steht, ihre Plausibilität verloren hat.[...] Meine These lautet: Auch nach dem Ende der Landschaftsmalerei gibt es ein Bild der Natur,“ 199 aber ohne Bindung an Landschaft, denn „Auch der Mensch hat Natur, in seiner leiblichen Organisation, in seinen Sinnen.“ 200 . Mit Aufhebung der Identifikation von Natur mit Landschaft ist der Weg frei für experimentell-abstrakte Darstellung. 1.3.6 Zur Konstituierung des literarischen Landschaftsbildes Das literarische Landschaftsbild als Außenweltbeschreibung im fiktionalen Kontext fügt sich in der Vorstellung des Adressaten nach Übermittlung semantischer Signale zum Bildganzen zusammen. Voraussetzung auf dessen Seite sind Assoziationsvermögen und ein Vorstellungsfundus vorgängiger Landschaftseindrücke, auf Seiten des Senders die Fähigkeit und Intention, ein Bild von Landschaft unter Rückgriff auf diese Vorstellungsinhalte des Adressaten generieren zu wollen. Das literarische Landschaftsbild ist also kein Abbild von Tatsächlichem; es ist in mehrfacher Weise ein Produkt von Vorstellungsinhalten, das erst im rezipierenden Bewusstsein konstituiert wird. Schon bei der ästhetischen Erstbegegnung mit Landschaft entsteht Bildhaftes. „Als ästhetischer Gegenstand [...] bewahrt Landschaft immer den Charakter einer rezeptiven Bildlichkeit, sie ist kein reiner Vorstellungsgegenstand.“ 201 Präziser noch äußert sich Adorno: „Wie die Kunsterfahrung ist die ästhetische von Natur eine von Bildern. Natur als erscheinendes Schönes wird nicht als Aktionsobjekt wahrgenommen.“ 202 In Wirklichkeit geht es um das Verhältnis zwischen realer Außenwelt und „[…] den Bildern der Landschaft, die wir im Bewußtsein produzieren und welchen wir die vorfindbare Außenwelt gestaltend anpassen wollen“. 203 198 Boehm, Natur und Abstraktion, 32f. 199 Ebd., 29f. 200 Ebd., 35. 201 Smuda, Natur als ästhetischer Gegenstand, in: ders., Landschaft,53. 202 Adorno, Ästhetische Theorie, zit.n. Smuda, Landschaft, 48. 203 Pfeiffer, Literarische Landschaften, in: Smuda, Landschaft, 178. Der Bildbegriff ist im weiten wie auch im engeren Sinne vielschichtig. „Wer nach dem Bild fragt, fragt nach Bildern, einer unübersehbaren Vielzahl [...]. Welche Bilder sind gemeint: gemalte, gedachte, geträumte? Gemälde, Metaphern, Gesten? Spiegel, Echo, Mimikry? "(Boehm, Wiederkehr der Bilder, in: ders., Was ist ein Bild? , 11). Aus Sicht der Psychologie stehen am Anfang der Persönlichkeitsentwicklung “mental picture[s] of people and objects“, und sie sind “images as real world entities“ (Gilmann, 78 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN Literarische Landschaftsbilder sind also Bildprodukte auf der Grundlage vorgängiger ästhetischer Naturwahrnehmung. 204 Dabei gilt: „Ästhetische Wahrnehmung ist keine bloße Empfindung, sondern Aufmerksamkeit für ein Objekt oder eine Umgebung. Ihr ist nicht allein der Akt, sondern zugleich das Objekt der Wahrnehmung Selbstzweck.“ 205 Sie ist, im Gegensatz zum zweckgerichteten Handeln im Raum, selbstbezüglich und „[…] eröffnet eine besondere Zeit und einen besonderen Raum wahrnehmender Tätigkeit, die uns, auf sehr verschiedene Weise, in einen Zustand erfüllter Freiheit gegenüber unseren pragmatischen Orientierungen versetzt“. 206 Dieser „Zustand erfüllter Freiheit“ erklärt, weshalb ein wiederholtes ästhetisches Erleben nicht zu denselben Erlebnisinhalten führen muss, weder bei mehreren Personen am selben Ort noch bei einer Person zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Landschaft kann von mehreren Betrachtern ganz unterschiedlich wahrgenommen werden, wie auch derselbe Betrachter, bei wiederholter Begegnung, durchaus anders empfinden mag. Bei der Konstituierung des Landschaftsbildes sind Faktoren im Spiel, die in der Psyche des Individuums, seinem soziokulturellen Umfeld und in seiner Persönlichkeitsstrukur liegen. Sowohl die ästhetische Wahrnehmung von Landschaft als auch die gestaltende Umsetzung in ein Produkt der Wort-, Bild- oder Tonkunst spiegelt die Einschreibungen von personaler Identität wie auch deren Verankerung in der symbolischen Ordnung wider. In der künstlerischen Gestaltung gilt es, diese Ordnung zwecks Kommunikation einzuhalten und gleichzeitig aber auch zwecks individueller Formung punktuell zu überschreiten. Das literarische Landschaftsbild konstituiert sich somit, deutlicher und sozusagen markanter als die gängige ästhetische Landschaftswahrnehmung, aus drei Komponenten: Difference and Pathology, 15, 17), fortwährend sich formende Vorstellungsinhalte nichtverbaler Art. Sie summieren sich zu Erinnerungen, gesteuert „[…] durch das freie Reproduktionsvermögen der Einbildung, das die Bilder der Dinge in seiner Gewalt hat.[...] Imagination trennt das erinnerte Eidos vom Vorkommnis der individuellen Begegnung mit ihm und befreit so seinen Besitz vom Zufall des Raumes und der Zeit. Die so gewonnene Freiheit - den Dingen in der Imagination nachzusinnen - ist eine Freiheit der Distanz und der Herrschaft zugleich.“ (Jonas, Homo Pictor, in: Boehm: Was ist ein Bild? , 119f.). 204 Die Fragen sind ausgeklammert, woher Bilder überhaupt ihre Bedeutung für das Subjekt beziehen, was sie ‚sprechend’ macht, wie ihr Verhältnis zur Dominanz des Sprachlichen zu bestimmen ist. Diese Aspekte - es handelt sich um philosophischpsychologische Erörterungen zur Bildtheorie - überschreiten den Rahmen der Untersuchung. Unabhängig davon gilt: „[…] eine Wissenschaft vom Bild, konzipierbar zu einer allgemeinen Sprachwissenschaft, hat sich nicht entwickelt, müßig darüber zu spekulieren, ob sie wünschenswert wäre.“(Boehm, Wiederkehr der Bilder, 12). 205 Seel, Ästhetische Landschaften, 12. 206 Ebd., 16. 79 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG 1. der personalen: sie nimmt Bezug auf das Unbewusste, auf die intrapsychische Tiefenstruktur des Subjekts mit bipolar-manichäischen Einschreibungen; 2. der gesellschaftlichen: sie nimmt Bezug auf die Symbolische Ordnung, auf die Verankerung im soziokulturellen Umfeld und den interaktiven Erlebnisfundus; 3. der individuellen: sie nimmt Bezug auf die Fähigkeit der Imagination, gegebene Ordnungs- und Denkmuster in gedanklichen Entwürfen zu überschreiten. Alle drei Bereiche sind aufs engste miteinander verwoben und formen im konkreten Gestaltungsmoment das Landschaftsbild in einem dynamischen Interaktionsprozess. Die literarische Wiedergabe der Außenweltszenerie ist also das Ergebnis des Ineinandergreifens psychischer Konditionierung, soziokultureller Präformierung und mentaler Projektionen. Im Subtext jedes Landschaftsbildes sind somit individuell-personale wie auch kollektiv-interpersonale Identitätsmerkmale eingeschrieben, unabhängig davon, ob die Landschaftsszene stumm empfunden, mündlich oder schriftlich vermittelt oder künstlerisch gestaltet wird. Eine autonome Landschaft, sei es als sprachliches, gemaltes, fotografiertes oder anderweitig medial erstelltes Bild, kann es nach dem bisher Gesagten nicht geben. 207 Dies gilt überraschenderweise erst recht für gedachte oder geträumte Bilder, wo die individuellen Einschreibungen in das Subjekt sich mit weniger Bindungen und Einengungen durch äußere Gegebenheiten freier und zwangloser entfalten können. Auszugehen ist sogar davon, dass Bilder von Fantasie- und Traumlandschaften, ob gedacht oder medial umgesetzt, mehr als andere Bilder Vernetzungen des Bewussten mit dem Unbewussten, des Gewussten mit dem Erwünschten, des Befürchteten mit dem Erhofften sind. Bilder von Landschaften sind wandelbar nicht nur, weil sich Erlebnisinhalte ändern, sondern weil Landschaft selbst nicht statisch ist. In ihr ist immer Bewegung und darin liegt „[…] auch der Grund, dass Landschaftserfahrung immer wieder an denselben (z.B. Urlaubs-) Orten vollzogen werden kann: diese bieten sich niemals gleich dar; auch wer sich in 207 „[…] einen »rein« ästhetischen Gegenstand kann es nicht geben. Immer sind ihm Interessen eingeschrieben, er steht in diesem oder jenem Funktionszusammenhang, dient der Thematisierung von Überzeugungen.“ (Busch, Autonome Landschaften? , 16) Auch bei Dürers berühmten Aquarellen seiner ersten Italienreise, „[…] in denen man gemeinhin den Beginn der autonomen Landschaft sieht“, bei Pieter Brueghels Alpenzeichnungen und den holländischen Landschaftsmalern bis zu den Realisten im 19 Jahrhundert wird durch „[…] versteckte, innerbildliche Verweise darauf aufmerksam gemacht, daß eine bloße ästhetische Rezeption nicht hinreicht [...].“ (ebd., 17). Sogar bei den Impressionisten, wie etwa Monets Bildern der Kathedrale von Rouen, finden sich, bei aller Betonung des Augenblicks, Rückverweise auf bekannte Wahrnehmungsmuster: „[…] jedes Sehen ist gefärbt, bedient sich bestimmter Konventionen, wie auch jedes Darstellen.“(vgl. ebd., 23 u. 16). 80 D ER R AUM DER F REMDE UND DAS B ILD DES A NDEREN ihnen räumlich ‚auskennt’, kennt niemals alle Aspekte und erst recht nicht die phänomenalen Interaktionen alles dessen, was in diesen Räumen geschieht.“ 208 Zum anderen hängt die Wandelbarkeit des Landschaftsbildes vom Grad der Beteiligung der einzelnen Bereiche der Persönlichkeitsstruktur an der Bilderstellung ab. Ein Erfahrungszuwachs, etwa durch vertiefte Kenntnisse über Malerei oder Künstlerintentionen oder auch Eindrücke in der realen Natur, kann ein ursprüngliches Bild abwandeln. Man sieht dann dieselbe Landschaft ‚mit anderen Augen’. Die Konstituierung des Landschaftsbildes im individuellen Bewusstsein ist ein prozessuales Geschehen, kein mechanisches Abbilden statischer Gegebenheiten, bei dem das Ergebnis, wenn einmal ermittelt, unverrückbar bliebe: Im Bild der Landschaft liegt eine eigene, im Subjekt begründete Dynamik. Der Zweck jeden Bildes ist ein Sichtbarmachen der „[…] ‚Seinsvalenz des Bildes’, die überhaupt erst vergegenwärtigt, was das Dargestellte ist“(Gadamer). 209 Aus der Sicht Jacques Derridas ist ein Bild kein selbstgenügsames Ganzes, es gehört immer schon zu zahllosen Bildsequenzen, und seine Bedeutung wächst ihm aus anderen Bildern im intertextuellen Feld zu. Mit dieser Auffassung steht Derrida nicht allein. Im Rückgriff auf de Saussures Zeichentheorie sieht auch Roland Barthes die Fotografie als Zeichensystem, obwohl sie zunächst lediglich abbildet, ohne dem Anschein nach auf ein codiertes Repertoire Bezug zu nehmen. Aber in Kombination mit Bildern und Texten entwickeln sich neue Konnotationen. „So verweist die Photographie eines Einkaufsnetzes in der Werbung einer Teigwarenfirma auf vielfältige Stereotypen des Italienischen, auf die Tradition des Stillebens, auf den Fischzug Petri. Barthes zeigt [...], wie eine banale Photographie Resonanzen in verschiedenen semantischen Feldern erzeugt, wie sie in das Gewebe zahlloser Codes eingebettet ist, wie sie sich immer neuen Lektüren anbietet.“ 210 So radikal poststrukturalistische Theorieansätze bei Michel Foucault und Jacques Derrida mit ihrem Ziel einer Dezentrierung und Befreiung von logozentrischen Bedeutungsansprüchen sich ausnehmen: Sie gewinnen viel an Plausibilität angesichts der Bilderflut und deren Instrumentalisierung in Medien und Werbung. Sie intensivieren den Grundgedanken, dass es allein im Subjekt verortete Bilder der Außenwelt und ein aus der Selbstmächtigkeit seiner Identität generiertes, autonomes Landschaftsbild nicht gibt. Die Auffassung vom subtilen Zusammenspiel dreier intrasubjektiver Bereiche relativiert auch die Vorstellung eines autonomen Selbst, was bereits Nietzsche und Freud formuliert und die Strukturalisten nachhaltig vertreten hatten: „Den Glauben des modernen Subjekts, Herr seiner selbst zu sein, entlarvt der Strukturalismus als blanke Illusion, sei es mit Mitteln 208 Seel, Ästhetische Landschaften, 19. 209 Boehm, Wiederkehr der Bilder, 33. 210 Lüdeking, Zwischen den Linien, 358. 81 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG der Ethnologie (Claude Lévi-Strauss), der Psychoanalyse (Jacques Lacan), des Marxismus (Louis Althusser) oder der Literaturtheorie (Roland Barthes)“ 211 . Sie folgt aber nicht dem Axiom dekonstruktiven Denkens, dass es Identität gar nicht gebe, sondern nur Differenzen entlang einer Signifikantenkette. Lyotard wies den Weg aus einer verfestigten Position poststrukturalen Denkens, indem er die künstlerische Darstellung als Akt der Überschreitung des intertextuellen Geflechts auffasste, „der Bruch und die Bresche [...] in der Ordnung des Symbolischen, [...] der Riß im Gewebe der Intertextualität“ 212 , und damit die Möglichkeit individuellen, identitätsgesteuerten Handelns einräumte. 1.4 Zielsetzung und methodisches Vorgehen 1.4.1 Konkretisierung der Fragestellung Vordergründig sind literarische Landschaftsbilder Beschreibung einer Lokalität und Wiedergabe der ‚Faktenaußenwelt’ (Arnold Gehlen) zur geografischen Orientierung und versehen mit topografischer Information. Zweck der Untersuchung ist jedoch weder eine Suche nach Realitätsnähe, Detailtreue oder Informationsdichte noch eine Beschreibung des Raumes als Schauplatz, ’setting’, Lokalkolorit oder Ort der Folklore. Diese Aspekte sind nicht Gegenstand und Ziel der Untersuchung. Es geht vielmehr darum, verdeckte Bedeutungsebenen zu erschließen, d.h. den Sinn und Zweck der Verwendung literarischer Bilder im Wirkungszusammenhang des fiktionalen Textgefüges, also ihre Aufgabe und Wirkungsweise, näher darzulegen. Dabei ist mit ins Kalkül zu nehmen, dass Autorinnen und Autoren in die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse eingebunden sind, dass auch sie Träger kulturgeschichtlicher Tradition sind, und dass es sich bei ihnen überdies um Individuen mit hoher Reflexionsbereitschaft handelt, die mit künstlerischen Ausdrucksmitteln und innovativem Gestaltungswillen Entwürfe individueller und kollektiver Lebenswelten vorlegen. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich drei Zielbereiche ab, innerhalb deren Grenzen der Untersuchungsgegenstand anzusiedeln ist: a) die semantische Umschreibung von England und Italien als dichotomische Projektionen von Sinngebung und Lebensgestaltung; b) die analytische Betrachtung der werk- und wirkungsästhetischen Rolle der Landschaftsbeschreibung; 211 Delius, Geschichte der Philosophie, 110. 212 Lüdeking, Zwischen den Linien, 364. 82 Z IELSETZUNG UND METHODISCHES V ORGEHEN c) die interpretatorische Darlegung der Landschaftsschilderung als soziokulturelles und weltanschauliches Deutungssystem. Die Wahl des nichtheimischen Schauplatzes, so die durchgängige Annahme, ist eine zweckorientierte Entscheidung zur Verdeutlichung von Aspekten wie Selbst- und Fremdbild sowie Umdenkungs- und Erneuerungsprozessen, die aus Autorensicht wünschenswert bzw. erforderlich sind. Die Darlegung der Funktionalisierung von Landschaftsbildern der Fremde geht demnach von folgenden Fragestellungen aus: 1. Gibt es Kontrastzuweisungen zwischen England und Italien über die räumliche Opposition hinaus? Welche kontrastiven Bedeutungsbelegungen sind in der Wahl und der Ausgestaltung der fremden Landschaftsschauplätze vorzufinden? Konkret gefragt: Worin manifestieren sich Gegensätze zwischen England und Italien über die klimatisch-topografischen Unterschiede hinaus? 2. Sind Landschaftsdarstellungen objektives Korrelat seelischer Vorgänge und leisten sie Hilfestellung bei Erfahrens-, Formulierungs- und Verstehensvorgängen, d.h. gibt es eine Interferenz zwischen fremder Landschaft und individueller Psyche durch Projektion von außen nach innen und umgekehrt? Konkret gefragt: Stellt die Landschaft eine Beschreibung von Innenwelt im Sinne eines ‚externalisierten Seelenraumes’ (Horst Breuer) dar? Welche Zustände innenweltlicher Befindlichkeit werden durch Landschaftsschilderung dargelegt? 3. Wie sind die Landschaftsbeschreibungen argumentativ in das Textganze eingebunden, d.h. welche Verbindungen sind erkennbar zwischen der Kontinuität und Plausibilität des Handlungsgeschehens und der Landschaftsbeschreibung? Konkret gefragt: Unterstützt die Landschaftsbeschreibung die Aussageintention des Textes? Wird die Figuren- und Handlungskonzeption durch den Einschub von Landschaftsdarstellung gestützt? 4. Sind Bezugnahmen auf Landschaft Ausdruck der Weltsicht der Autorinnen und Autoren? Welche Rolle weisen sie Landschaft als Sinndeutungs- und Sinnleitsystem zur Lebensgestaltung zu? 83 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Konkret gefragt: Dient Landschaft der Darstellung gesellschaftlichmoralischer und weltanschaulich-philosophischer Grundeinstellungen? Gliederung und Zielrichtung dieser vier Fragenbereiche sind formal und inhaltlich, jeweils nach der Analyse von drei Landschaftsbildern bei den sechs Autorinnen und Autoren, jedem der Teile der Untersuchung zugrunde gelegt, die mit dem Titel „Die Ergebnisse im Kontext“ überschrieben sind. 1.4.2 Zur Vorgehensweise der Arbeit Grundprämisse der Untersuchung ist die Tatsache der Präformierung der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns durch kulturelle Prägefaktoren innerhalb eines Bereichs der Zusammengehörigkeit, dessen Geschlossenheit durch Differenzkriterien ganz unterschiedlicher Art gekennzeichnet sein kann: Hautfarbe, Geschlecht, Rasse, Sexualität, Religion, Pathologie, Klimazonen, Bildungsstand, Nation, Ideologie, Sprache, Besitztum, technologischen Fortschritt u.a. Das Zusammentreffen von einem oder mehrerer dieser Merkmale generiert, im Verbund mit genetischen Vorgaben und individuellem Erlebnisbestand, die Identität des Individuums. Da Phänomene kultureller Präformierung die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten wie auch zu ethnischen Gruppierungen einschließen, geht eine Grenzüberschreitung stets mit Konflikten einher, die die eigene Identität tangieren: Anziehung, Bewunderung und Faszination bzw. Abstoßung, Ablehnung und Hass sind Reaktionen, die diese Konfliktsituationen kennzeichnen (vgl. 1.1.2, 1.3.1, 1.3.3); nur in Fällen, in denen keine Beeinträchtigung der eigenen Identität befürchtet wird, gehen sie in Gleichgültigkeit auf. Bei der Darstellung von Grenzerfahrungen als Konfliktpotenziale, produktionsästhetisch eine ebenso reizvolle wie anspruchsvolle Aufgabe, ist zu bedenken, dass die Autorinnen und Autoren bei der narrativ-ästhetischen Umsetzung selbst aus der begrenzten Perspektive ihrer codierten Welt agieren. Dieser Sachverhalt lässt es geboten erscheinen, bei der Texterschließung ein Vorgehen zu wählen, das unter Zugrundelegung der „Horizonthaftigkeit des eigenen, europäisch codierten Blickes“ den Prinzipien einer ‚Philosophie der Endlichkeit’ Rechnung trägt. 213 Ein solcher Weg ist die Hermeneutik im Sinne Gadamers, die sich, im Bewusstsein stets präsenten Vorverständnisses, durch zirkelbzw. spiralförmige Annäherung - unter Berücksichtigung der Existenz legitimer wie auch unberechtigter 213 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 15ff. 84 Z IELSETZUNG UND METHODISCHES V ORGEHEN Vorurteile - um ein adäquates Textverständnis bemüht, d.h. um eine „[…] ’Horizontverschmelzung’ als stets nur annäherungsweiser Konvergenz zwischen dem Horizont des Interpreten und des Textes“. 214 Besondere Bedeutung aufgrund ihrer konkreten Relevanz kommt dabei der von Meinhard Winkgens in Anschluss an Paul Ricoeur formulierten ‚Hermeneutik des Verdachts’ zu, wobei „drei Varianten einer grundlegenden methodischen Denkfigur“ einen fruchtbringenden Zugriff auf literarische Texte in Aussicht stellen: Es handelt sich um 1. die Unterscheidung zwischen manifestem Gehalt und latentem Sinn, 2. „Die analoge Differenz von explizit formuliertem Haupttext und implizit angedeutetem Subtext“, und 3. „Die metaphorische Darstellung einer verdeckten Wirklichkeit als Palimpsest, die freilich im kulturellen Überschreibungstext noch den ursprünglichen Naturtext momenthaft durchscheinen läßt.“ 215 Der europäisch-abendländischen Wahrnehmung von Fremdheit und Anderssein sind Differenzmarkierungen eingeschrieben, die seit Europas ‚Entdeckung’ der Welt bis ins 20. Jahrhundert Grundlage eines Überlegenheits- und Machtanspruchs und einer Ausformung imperialistischkolonialer Politikziele waren. Diese Wahrnehmung kennzeichnet eine dichotomische Struktur gegenpoliger Begriffsbündel, die der sprachlichgedanklichen und der bildhaften Konkretisierung abendländischer Wahrnehmungsabläufe eingeschrieben sind. Solche Begriffsbündel stellen sich in reduzierter Form als Gegensatzpaare dar, wie etwa Geist - Körper, Seele - Körperlichkeit, Gesundheit - Krankheit, Mann - Frau, Logos - Eros, Licht - Dunkel, Kultur - Natur, Ordnung - Chaos, Verstand - Gefühl, Vernunft - Sinnlichkeit u.v.a. Jedes dieser Schlüsselwörter kann für sich als Kern eines semantischen Feldes reizvolle Möglichkeiten literarischer Gestaltung eröffnen, z.B. durch indirekte oder implizite, suggestive oder assoziative Beschreibung. Die Tatsache einer kulturbedingten Verhaftetheit aller Texte, auch und gerade der literarischen, bis hin zur Doppelbödigkeit ist Grund genug, den dargestellten hermeneutischen Verstehenszugang zu wählen; „[…] in letzter Konsequenz zielt die Hermeneutik des Verdachts auf das Wahrheitspostulat aufklärerischer Vernunft und ihren Anspruch, als autonome Subjektivität ihrer selbst mächtig zu sein und als zentrierte Instanz aller gültigen, wahren Urteile zu fungieren.“ 216 Die zentrale Einsicht ist diese: „Kein Akt des Verstehens kann die Grenzen der konkreten historischen Existenz übersteigen,[...] Interpretation wird zum existenziellen Statement, das sich niemals wirklich aus der Subjektivität des Sprechers und aus seinem historischen Standort befreien kann und so ein konstitutives Element der ‚Blindheit’ enthält.“ 217 214 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 173. 215 Winkgens, Natur als Palimpsest, 38f. 216 Ebd., 39. 217 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 169. 85 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Eine ‚Hermeneutik des Verdachts’ bedeutet nicht, einen Text unter allen Umständen gegen den Strich etablierter Literaturkritik lesen zu müssen, wie Meinhard Winkgens am Beispiel von David Copperfield nachgewiesen hat, wo der Roman selbst in zahlreichen Anhaltspunkten nahelegt, den „[…] latenten Sinn auszuwerten und gegen die offizielle Botschaft des manifesten Gehalts zu kehren“; es scheint nachgerade so zu sein, dass sich Dickens als impliziter Autor „[…] ’hinter dem Rücken’ des Ich-Erzählers über eine komplexere und ambivalentere Deutung verständigt“. 218 Ein eklatantes, inzwischen oft zitiertes Beispiel des Auseinanderklaffens von manifestem Gehalt und latentem Sinn ist Joseph Conrads Heart of Darkness. Im Anschluss an Chinua Achebes Kritik suchte man, „[…unter Einbeziehung von tiefenhermeneutisch angelegten Modellen aus der Psychoanalyse, der Ideologiekritik und der Diskursanalyse nach Zeichen für einen Subtext“ und förderte Conrad als Verfasser eines Gegentextes zu Tage, „der den hierarchischen Diskursregeln der imperialistisch-eurozentrischen Auto- und Heterostereotype gehorcht“. 219 Mit diesen Darlegungen könnte die Frage des methodischen Vorgehens als hinreichend beantwortet gelten, wäre nicht im fachwissenschaftlichen Diskurs der Begriff des ’pictorial reading’ mit dem Anspruch auf diskursive Beachtung aufgetaucht. Hinzu kommt, dass dieser Weg der Texterschließung zumindest zeitweise fachwissenschaftliche Aktivitäten erheblich mitgeprägt hat: ”A common way, from Balzac’s day down to the present time, has been to read a descriptive passage by focussing on certain features that the description has in common with a visual work of art - to read it, in short, in the somewhat narrow and superficial way in which many view a painting or a photograph. This ’pictorial’ way of reading has indeed been so common that, despite its inadequacies, it continues even today to prevail as one of the main ways to read narrative descriptions.” 220 Doris Y. Kadish unterscheidet ein ’pictorial reading’ von einem ‘relational reading’, wobei sie beide für unerlässlich, das letztere aber eindeutig für ergiebiger hält. ”The pictorial reading - as practised in the ’explication de texte’ and other similar formalistic stylistic devices - only accounts partially and superficially, however, for the multifarious meanings that landscape can be discovered to possess and produce in the novel. Thus despite the undeniable need to read landscape pictorially, there is an equally urgent need to go beyond a pictorial reading to develop a fuller, enriched and ’completed’ reading. I shall identify such a reading as a ’relational reading’”; zugunsten eines ‘pictorial reading’ spreche das Interesse an dem “pictorial, imagistic effect” aufgrund von Farbe und Licht, und dies erfordere “a close attentive reading in which the reader plays an active, pictur- 218 Winkgens, Natur als Palimpsest, 57f. 219 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 42f. 220 Kadish, Literature of Images, 3. 86 Z IELSETZUNG UND METHODISCHES V ORGEHEN ing role”. 221 Kadish führt allerdings nicht aus, worin der Vorzug einer bildproduktiven Leserreaktion bestehen könnte. Das Lesen einer Landschaftsbeschreibung wie ein Gemälde oder eine Fotografie kann in einer ’active, picturing role’, sozusagen als ’Homo pictor’, sicherlich 'interesseloses Wohlgefallen' herbeiführen: „Das Bildmachen wiederholt jedesmal den schöpferischen Akt, der im Residuum des Namens verborgen ist: das symbolische Noch-einmal-Machen der Welt.“ 222 Ein ’relational reading’ ist aber unerlässlich, wenn es um kontextuelle Zusammenhänge geht. Eine isolierte Betrachtung von Textstellen eignet sich bestenfalls zum Herausarbeiten von ’meaning’, nicht aber von ’significance’, bezieht man sich auf “[…] E.D. Hirsch and the distinction he makes between meaning and significance in ’The Aims of Interpretation’. Hirsch states that whereas an element can have meaning or content in isolation, significance only arises when that element’s use or function in relation to other elements is considered. Understanding an element in itself is possible, but explaining requires going farther and viewing it relationally.” 223 Gegenstand der Untersuchung sind Landschaftsbilder nicht auf Grund der ästhetischen Wirkung ihrer Bildhaftigkeit, des ’pictorial, imagistic effect’ 224 , obwohl sie diese Eigenschaft besitzen, sondern als Bestandteile eines Textzusammenhangs, um dessen Erhellung es geht. Bei der Texterschließung in Bezug auf Aussageintentionen und weltanschauliche Positionierung ist auf Kohärenz zu achten, nicht auf isolierte Wirkung. Ein ’pictorial reading’ kann im Einzelfall von Interesse und ergiebig sein, muss im Regelfall jedoch hinter einem ’relational reading’ zurückstehen. Das analytische und deutend-verstehende Augenmerk ist nicht auf stilistischästhetische Aspekte beschränkt, sondern auch und vor allem auf ein tiefenhermeneutisches Vorgehen gerichtet, wobei interdisziplinäre Sichtweisen und Erklärungsmodelle, insbesondere solche auf psychologischer, psychoanalytischer, philosophischer und kunsthistorischer Grundlage, im spezifischen Einzelfall sinnerschließend und sinnvertiefend sein können. Absicht und Ziel in Teil I war es, die theoretische Grundlegung für eine derart orientierte analytische Betrachtung bereitzustellen. Ergänzend geht es in Teil II darum, durch einen Blick auf die europäische Reisetradition, unter besonderer Berücksichtigung der englischen Italienreisen, dem Phänomen des literarischen Bildes der italienischen Landschaft aus der Sicht Englands nachzugehen. Auf diese Weise soll auch eine kulturgeschichtlich fundierte Grundlage für die Erörterung einer Funktionalisierung der Landschaftsbilder in dem zentralen Teil III geschaffen werden. 221 Ebd., 3f. 222 Jonas, Homo Pictor, 123. 223 Kadish, Literature of Images, 186. 224 Ebd., 4. 87 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG 1.4.3 Themenstellung und literaturwissenschaftlicher Forschungskontext Es gibt eingehende Untersuchungen darüber, in welchen Zeiträumen, in welchem Umfang und mit welchem Ziel Italien mit den Besonderheiten seiner geschichtlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, klimatischen und landschaftlichen Ausprägungen Gegenstand der Darstellung in der englischen und amerikanischen Literatur gewesen ist. 1934 veröffentlichte Roderick Marshall Italy in English Literature - 1755 - 1815 und nahm Bezug auf über 700 Texte, der eine Bibliografie mit über 3000 Titeln für die Zeit von 1642 bis 1900 folgen sollte. In Italy and the English Romantics untersuchte C.P. Brand 1957 die Beweggründe für die ungewöhnliche Faszination, die Italien auf alle Hauptvertreter der englischen Romantik - Wordsworth, Coleridge, Byron, Keats, Shelley - ausübte. 1980 erschien Kenneth Churchills Italy and English Literature - 1764-1930, dessen Fragestellungen zu den “[…] feelings for the endless fascination of Italy and its perennial imaginative necessity to the northerner“ aktuelle Diskurslinien widerspiegeln: Wie kam es zur totalen Umkehr der Bewertung des antiken Rom von Gibbon bis Lawrence, und ist zwischen den beiden Extremen eine in sich schlüssige Entwicklung literarischer Einstellungen Englands erkennbar? Entwickeln sich Autorinnen und Autoren aus einer literarischen Tradition bzw. inwieweit tragen sie dazu bei? 225 Die Neuansätze der Imagologie innerhalb der Komparatistik nach dem Zweiten Weltkrieg, Hugo Dyserincks ‚Aachener Programm’ und die bekannte Kontroverse zwischen François Guyard und René Wellek setzten neue Impulse bei der literaturwissenschaftlichen Betrachtung anderer Länder im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft (vgl. 1.3.1). Einen wegweisenden Beitrag zu Analyse und Verständnis der Abläufe bei der literarischen Beschreibung anderer Länder und Völker lieferte Franz Karl Stanzel, indem er unter Einbezug der Sozialpsychologie Grundlegendes zur historischen Entwicklung europäischer Fremdbilder und zur Schematisierung der Sichtweisen sagte. Dies war ein Schritt zur Abkehr von der bis in die 60er Jahre vorherrschenden Einstellung, „[…] Vorurteile und die damit verbundenen Phänomene des Stereotyps und des Klischees 225 Vgl. Kenneth Churchill, Italy and English Literature, - 1764-1930, London: The Mac- Millan Press Ltd, 1980, Preface, vii. Neben den oben genannten Verfassern verweist Churchill in seinem biografischen Anhang - ”[...] a comprehensive bibliography is clearly out of the question” - auf weitere ”general studies of particular value”: P.R. Baker, The Fortunate Pilgrims - Americans in Italy - 1800-1860, Cambridge, Mass., 1964; V.W. Brooks, The Dream of Arcadia: American Writers and American Artists in Italy - 1760- 1915, London, 1959; J.R. Hale, England and the Italian Renaissance: The Growth of Interest in its History and Art, London, 1954; C. von Klenze, The Interpretation of Italy during the Last Two Centuries, Chicago, 1907. 88 Z IELSETZUNG UND METHODISCHES V ORGEHEN als irrelevant für die Beschreibung literarischer Werke“ abzutun 226 bzw. «images» und «mirages» aus einer verengenden imagologischen Perspektive auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchen zu müssen, um sie dann im Sinne aufklärerisch-völkerverbindender Zielsetzungen ‚richtig’ zu stellen. Hans-Georg Gadamers Neubewertung des Vorurteilsbegriffs, rezeptionsästhetische Sichtweisen und der Einbezug interdisziplinärer Forschungsergebnisse, wie etwa die der Philosophie, der Psychoanalyse, der Psychologie, der Soziologie und der Ethnologie, haben zu einer Ausweitung theoretischer Blickrichtungen und methodischer Ansätze geführt, die bei der Untersuchung von Fremd- und Selbstbildern in der Literaturwissenschaft einen Paradigmenwechsel bewirkten. Als folgenreich erwiesen sich die Annahmen der Rezeptionstheorie (Robert Jauß, Wolfgang Iser) über den fiktionalen Text: Seine Unbestimmtheit oder ’indeterminacy’ befreit ihn aus ontologischer Isoliertheit, versetzt ihn in ein Spannungsverhältnis von Gesagtem und Nichtgesagtem und etabliert die Text-Leser- Interaktion sowohl als kommunikativen wie auch als autoreflexiven Prozess und als Ergebnis eines ständigen ’feedback’ 227 , der die scheinbare Gewissheit textueller Signifikanten, so auch die von Klischees und Stereotypen als Träger ideologischer Botschaften, in Frage stellt. In dem von Günther Blaicher herausgegebenen Band Erstarrtes Denken mit zahlreichen Einzelstudien zur Klischee-, Stereotypen- und Vorurteilsforschung, unter anderem von Manfred Fischer, Bernd Six, Franz Karl Stanzel und Paul Goetsch, hat Meinhard Winkgens das Zurücktreten der referentiellen Funktion nationaler «images» „[…] hinter die ästhetische Funktionalisierung [...] in Lawrences Roman The Lost Girl mustergültig dargelegt“. 228 Erstarrte Bilder des Fremden und Anderen als Folge kulturell codierten Wahrnehmens und Denkens präformieren andererseits Individualität und Identität. Vor dem Hintergrund tiefenhermeneutischer, ideologiekritischer und diskursanalytischer Zugriffe auf Texte stellt Annegret Horatschek in ihrer umfassenden Studie Alterität und Stereotyp - Die Funktion des Fremden in den International Novels von E.M. Forster und D.H. Lawrence (1998) die Frage, inwieweit Freiheit und Kreativität infolge ihrer Einbindung in ein Geflecht „gesellschaftlich tradierter, kulturell codierter und diskursiv vernetzter Vorurteile, die bis in die Struktur des Unbewußten hinein“-reichen, überhaupt möglich sind oder ob es, mit Bezug auf Forster und Lawrence, aufgrund „[…] der geographischen und perspektivischen Oszillation zwischen dem heimischen England und dem Ausland [...] zu einer semantischen ‚Verflüssigung’ von Zuschreibungen konventioneller Auto- und Hetereostereotype“ 229 kommt. 226 Günther Blaicher, Bedingungen literarischer Stereotypisierung, in: ders., Erstarrtes Denken, 9. 227 Vgl. Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 182ff. 228 Blaicher, Literarische Stereotypisierung, 9. 229 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 74f. 89 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG Wie bereits gezeigt, sind die Phänomene des Raumes und der Umwelt für Prozesse der Identitätsfindung von prägendem Einfluss. Sie wurden in der Literaturwissenschaft bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Klimatheorien und eines ’genius loci’ bzw. ’spirit of place’ wahrgenommen, dann aber in interdisziplinärer Sicht auch im Kontext von philosophischen, umwelt-, verhaltens-, sozial-, völker- und literaturpsychologischen, anthropologischen und ethnologischen Studien. Noch 1957 allerdings stellte Herman Meyer fest, dass bei „[…] der Interpretation des Wortkunstwerks [...] bisher die Frage nach der Raumgestaltung nur eine bescheidene Rolle gespielt hat“. 230 Raum tritt in der erzählenden Literatur vorzugsweise als Landschaft in Erscheinung, die als Natur erkennbar wird „[…] für den, der in sie ‚hinausgeht’ (transcensus), um ‚draußen’ an der Natur selbst als an dem ‚Ganzen’ [...] teilzuhaben“. 231 Eine solche Blickrichtung deckt allerdings nur teilweise das literarische Interesse an Raum und Landschaft ab. Es lassen sich in der literaturwissenschaftlichen Landschafts- und Raumforschung „in stark vereinfachter Form“ vier Leitbegriffe zur Darstellung des Forschungsverlaufs nennen: 1. Naturgefühl, 2. Landschaftskulisse, 3. Handlungsschauplatz, 4. erlebter Raum, wobei letzterer den von Robert Petsch verwendeten Begriff des Raumes als ‚Sinn- und Wertträger’ aufgreift. 232 Hier wird die gedankliche Verbindung zu T.S. Eliots Postulat eines ’objective correlative’ zur Darstellung von Gefühlen durch sinnengeleitete Erfahrung sichtbar: “[…] when the external facts, which must terminate in sensory experience, are given, the emotion is immediately evoked“; dies sei, so Eliot, “[…] the only way of expressing emotion in the form of art“. 233 Bezogen auf die äußere Natur kommt es zum „Antönen an Seele und Gemüt“ 234 , zum Phänomen der Vermenschlichung der Natur 235 , was Friedrich Schiller zum Postulat erhob (vgl. Fußnote 112), zur „Seelenspiegelung in der Landschaft“ als „Korrespondenznatur“ und „Landschaft der Seele“ infolge einer „subjektiven Durchseelung der Landschaft“ 236 , die „Abdruck des Zustands der Seele“ (Friedrich Schinkel), also „externalisierter Seelenraum“ (Horst Breuer) wird. Die Themenstellung dieser Untersuchung basiert auf der Vorstellung von Landschaft als erlebtem Raum und als Sinn- und Wertträger mit dem Ziel, Wechselwirkungen zwischen Außen- und Innenwelt nachzugehen und deren erzählstrategische Bedeu- 230 Herman Meyer, Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst, in: Alexander Ritter, Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, 210. 231 J. Ritter, Landschaft, 13. 232 Vgl. A. Ritter, Landschaft und Raum, 4 u.9. 233 T.S. Eliot, zit.n. Cuddon, Dictionary of Literary Terms, 647. 234 Seel, Ästhetik der Natur, 98. 235 Kullmann, Vermenschlichte Natur. 236 Dethloff, Literarische Landschaft, 22 u.29. 90 Z IELSETZUNG UND METHODISCHES V ORGEHEN tungsbelegung in einem abgesteckten historischen Zeitrahmen aufzuzeigen. Seit den 70er Jahren liegen vermehrt für die Themenstellung der Arbeit bedenkenswerte Untersuchungen aus interdisziplinärer Perspektive vor. 1975 erschien Jay Appletons Studie The Experience of Landscape, in der aus Sicht der Verhaltenspsychologie aufschlussreiche Befunde und interessante Theorien zur Landschaftswahrnehmung dargelegt werden. In Neuauflage wurde 1976 Kenneth Clarks Landscape into Art veröffentlicht, eine eingehende Analyse der europäischen Natur- und Landschaftsauffassung auf kunsthistorischem Hintergrund. Die Einführung Umweltpsychologie einer Gruppe amerikanischer Autoren (W.H. Ittelson et al.; Originalausgabe: An Introduction to Environmental Psychology, 1974) aus dem Jahr 1977 beleuchtet u.a. den historischen und den sozialen Aspekt von Einstellungen gegenüber Natur und Landschaft. 1985 veröffentlichte Sander L. Gilman Difference and Pathology mit erhellenden Befunden der Entwicklungspsychologie zu Fragen über Identität und Alterität, Auto- und Heterostereotyp. Grundlegendes zum Beziehungsgeflecht zwischen Außen- und Innenwelt und zur ‚Geschichtlichkeit des Seelenlebens’ findet sich in Horst Breuers Historische Literaturpsychologie von 1989 mit repräsentativen Interpretationsbeispielen. Die 1986 erschienene, von Manfred Smuda herausgegebene Zusammenstellung von Einzelstudien unter dem Titel Landschaft enthält Beiträge aus philosophischer, literaturhistorischer, kunsttheoretischer und kunstgeschichtlicher Perspektive. Ähnliches gilt für die von Burkhardt Krause und Ulrich Schenk 1996 publizierte Zusammenstellung von Beiträgen zum 2. Kingstoner Symposium unter dem Titel Natur, Landschaft, Räume, in der auch Aspekte des virtuellen Raumes in der computeriellen Wahrnehmung Berücksichtigung finden. Als genuin literaturwissenschaftlichen Beitrag zum Forschungsfeld Außenwelt und Landschaft veröffentlichte Gerhard Hoffmann 1978 seine detailreiche Untersuchung über den Raum und seine Rolle im Roman, wobei er Begrifflichkeit und Analyseansätze systematisiert. In diesen Forschungskontext gehört auch Landschaft in Texten von Eckhard Lobsien (1981), der den Vorgang der literarischen Beschreibung von Landschaft einer historischen und phänomenologischen Analyse unterzieht. Ein engerer Bezug zur Themenstellung der Arbeit ist in der Dissertation von Anne Margret Rusam gegeben, Literarische Landschaft - Naturbeschreibung zwischen Aufklärung und Moderne (1992), in der sie bei Chateaubriand, Nodier, Senancourt und Lamartine den Übergang von einer Nachahmungsästhetik mimetischer Naturdarstellung zu einer ‚Ästhetik der Poesis’ nachweist; als Ergebnis zeigt sich „[…] eine neue Funktionalisierung der Natur, sie wird zum Ideogramm des Subjekts“, aber auch „ein Durchgangsstadium für die Kunst“, was letztlich in ihrer „Austreibung aus der Ästhetik“ durch die Avantgarde des 20. Jahrhundert endet: „Die Kunst [...] ‚erschafft’ erst ei- 91 E INFÜHRUNG UND THEORETISCHE G RUNDLEGUNG gentlich die Natur“. 237 Andreas Ramin geht in seiner Dissertation Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität (1993) der Frage nach, wie sich in literarischen Texten die Suche nach Identität in der Abgrenzung von Eigen- und Fremdraum im europäischen historischen Kontext darstellt. Der von Uwe Dethloff herausgegebene Band mit Aufsätzen, Literarische Landschaft: Naturauffassung und Naturbeschreibung zwischen 1750 und 1830 (1995), zeigt vor allem am Beispiel der französischen Romantik die Transponierung des Naturereignisses in einen seelischen Prozess, die über Baudelaire und Rimbaud zur „Naturfeindschaft der Ästhetik der Moderne“ führt 238 . Bei Entwürfen zur eigenen Identität, was als zentrales Anliegen der Hauptfiguren der sechs Romane dieser Untersuchung anzusehen ist, spielen Raum, Natur und Landschaft eine bedeutsame Rolle. Hintergrundfolie aller Texte ist die dichotomische Verfasstheit der menschlichen Lebenssituation zwischen Natur und Kultur, zwischen körperlich-leiblicher Eigenständigkeit und soziokulturellen Vorgaben, zwischen dem Verlangen nach personalem Freiraum und der gesellschaftlichen Notwendigkeit zu sozialer Diszipliniertheit. In The Semantics of Desire von 1984 geht Philip M. Weinstein der produktionsästhetischen Umsetzung, konkret der narrativen Darstellung dieser Suche nach Freiraum, bei Protagonisten englischer Romane nach; das zugrunde liegende, existenzielle Spannungsverhältnis beschreibt er so: “To be in a body is to experience desire and to be inscribed in the natural world of time and space. To have a mind is to inherit attitudes towards desire because one is inscribed in the cultural world of sanctions and prohibitions. Since no one creates either his own body or his mind, all embodied thinking subjects - all protagonists - achieve their freedom in the measure that they come to terms with these matrical systems of nature and culture.” 239 Dieser Balanceakt bzw. diese Gratwanderung zwischen den Bedürfnissen leibgebundener Natürlichkeit und den Ansprüchen gesellschaftsbedingter Kultur ist der zentrale Konfliktstoff der sechs Romane dieser Untersuchung. Der Topos dieses Antagonismus zwischen Natur und Kultur ist die zentrale Themenstellung der von Konrad Groß, Kurt Müller und Meinhard Winkgens 1994 herausgegebenen Festschrift für Paul Goetsch, Das Natur/ Kultur-Paradigma in der englischsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (1994) mit zahlreichen Einzelstudien - ein Beleg für die Aktualität der Fragestellung aus Sicht der literaturwissenschaftlichen Forschung. 237 Anna Margret Rusam, Literarische Landschaft - Naturbeschreibung zwischen Aufklärung und Moderne, Wilhelmsfeld: Gottfried Egert Verlag, 1992, 113ff. 238 Dethloff, Literarische Landschaft, 9. 239 Philip M. Weinstein, The Semantics of Desire - Changing Models of Identity from Dickens to Joyce, Princeton: Princeton University Press, 1984, 3. 92 Teil II 2 Die Entdeckung anderer Sinnkonfigurationen: Reisen in Europa und die Begegnung mit Landschaft 2.1 Europäische Reiserouten, Reiseformen, Reiseziele 2.1.1 Reisen in Europa vom Beginn der Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert Es sind die Pilger des Spätmittelalters und die Kaufleute der Renaissance, die am Beginn der neuzeitlichen europäischen Reisetradition stehen. Ihre Reisewege folgten festgelegten Routen, an deren Ende stets ein eindeutiges Ziel stand, etwa Rom oder Santiago di Compostela, Genua, Florenz oder Venedig. Die religiösen bzw. wirtschaftlichen Zielsetzungen bestimmten den Zweck der Reise: Es ging um geistig-seelische Erneuerung bei den Pilgern und Wallfahrern, um den Kauf und Tausch von Waren bei den Kaufleuten. Der Weg zu den Zielorten war oft von Schwierigkeiten und mancherlei Neuartigem gekennzeichnet, das aber, abgesehen von einigen, meist antiken ’Mirabilia’, außerhalb des Interessensbereiches der Reisenden lag. Die Eintragungen in den überlieferten Handbüchern konzentrieren sich bei beiden Gruppen auf Angaben zu Wegstrecken, Kosten und Herbergen. Daran war aus Sicht der Zeit nichts Ungewöhnliches, denn die „[…] Geschichte des Reisens im abendländischen Raum wird von Anfang an dadurch bestimmt, daß es den fundamentalen ethischen Prinzipien der griechischen Philosophie und der christlichen Religion entgegenstand; denn diese bauen auf dem Begriff der Vernunft und auf der menschlichen Logoshaftigkeit auf, durch den allein der Mensch zum Bewußtsein von Tod und Gott gelangt. Demgegenüber ist das Reisen ein unvernünftiges Verlangen, ein phantasieerschaffendes und -gelenktes Produkt der Sehnsucht [...].“ 240 Schon für Seneca trug das Reisen nicht zur Selbsterkenntnis bei und hatte somit keinen Lebenswert; die Bibel lehnt das Reisen, außer zu Heilszwecken, grundsätzlich ab, und für Pascal diente es zu sehr der Zerstreuung, nicht der „Ausbildung des Gedankens“. 241 So verwundert es nicht, dass selbst die fahrenden Scholaren nach oft jahrelangen Studienaufenthalten an Europas Universitäten fast nie die 240 Hans-Joachim Possin, Reisen und Literatur: Das Thema des Reisens in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer Verlag, 1972, 236. 241 Vgl. ebd., 243. R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT Sprache des Landes lernten und sich kaum für dessen Kultur oder seine Bewohner interessierten. Sogar für den universalen und vielgereisten Erasmus von Rotterdam, der jahrelang in mehreren Ländern tätig war, blieben diese Aspekte des Reisens ohne Belang. Dennoch „[…] war die Faszination groß, die vom Reisenden ausging, ganz gleich, aus welchem Grund er sich auf den Weg machte. Von Anfang verkörperte er [...] den mythischen Wesenskern des Okzidents [...], [die] Idee der Reise als wandlungsfähiger Metapher der Existenz schlechthin.“ 242 Ob Odyssee oder Gralsreise, die Fahrten mittelalterlicher Helden oder spanischer Schelmen, fromme Wallfahrten Bunyan’scher Pilger oder ironische Reisesatiren bei Cervantes und Swift, stets ging von dem fremden Raum eine magische Anziehung aus, dessen Nichtkenntnis dem Daheimgebliebenen als gravierendes Defizit seiner Lebenswelt und seines Selbstbildes vorkam. So befasst sich denn die Literatur des Reisens über Jahrhunderte hinweg mit diesem zentralen Thema der Selbsterkundung und der Selbsterkenntnis. Einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte des Reisens lieferte Michel de Montaigne, der dem von den Humanisten gepriesenen Buchwissen in seinen Essais, „das persönlichste Buch der Weltliteratur“ (Hugo Friedrich), das Bild der Lebensreise gegenüberstellte. Das Ziel dieser Art des Reisens waren weder das Sammeln von Kenntnissen noch Kontemplation oder religiöse Selbstbefragung, sondern, unter dem Motto «Que saisje? », das eigene Ich und dessen Reaktion auf die Welt. Das Entstehen des Nationalstaates in England und Frankreich sowie des Empirismus und des Rationalismus führten zur Neuorientierung an Europas Hochschulen und änderten das Reiseverhalten im 17. Jahrhundert. Italiens Universitäten verloren an Interesse, und an die Stelle des langjährigen Studienaufenthaltes trat die Rundreise als ’tour’ zu den wichtigen Orten 243 , deren Kenntnis den neuen Forderungen der Zeit Rechnung trug: Es waren dies Folgen des Gebots der Nützlichkeit und der Bereitschaft zur intellektuellen Neugier. Durch ’observation’ und ’enquiry’ sollten die jungen Reisenden, gemäss Bacons Essay on Travel (1625), ihre Erziehung abrunden, und der programmatische Titel seiner Schrift The Advancement of Learning (1605) wies die Richtung. Nach Rückkehr konnten Kenntnisse und Kontakte nutzbringend in den Dienst des Staates oder des Landesherrn gestellt werden. Der Absolutismus förderte solch pragmatische Orientierung. Der künftige Diplomat und Baumeister, Kaufmann und Offizier, Finanzfachmann und Gelehrte sollte durch Wissen dem Staat dienen. Neben die Humanisten und Gelehrten, deren Reisen seit der Renaissance in der ‚Gelehr- 242 Brilli, Reisen in Italien,16. 243 „Neben den Begriffen ’travel’ und ’journey’, die weitgehend synonym verwendet wurden, trat jener der ’tour’, das heißt der ‚Rundfahrt’ durch den Kontinent und insbesondere durch Italien, wobei der Ausgangs- und Endpunkt zumeist dieselbe Stadt war“. (ebd., 30). 94 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE tenrepublik’ den Gedankenaustausch pflegten, trat nun eine neue Gruppe: „Für den Adel gewinnt der Fürstendienst in der zeremoniellen Sphäre des Hofes, im diplomatisch-juristischen Zweig der Verwaltung und bald auch im Heerwesen zunehmend an Bedeutung.“ 244 Dies war der Anlass zur Entstehung der Kavalierstour im 17. Jahrhundert, die Abschluss der adeligen Erziehung und zugleich Einführung in Denken und Handeln der europäischen Aristokratie war zwecks ‚Formierung’, d.h. „Eingewöhnung, Einpassung, Einverleibung und Einschleifung standesgemäßer Lebensart und Umgangsformen“, wobei der französische Hof Leitbild war. 245 „Hierzu eignete sich die kostspielige, altes Herkommen, gegenwärtigen Machtreichtum und künftigen Herrschaftsanspruch demonstrierende Auslandsreise in besonderer Weise.“ 246 In der Regel reisten die jungen Adeligen, einer Bacon’schen Forderung entsprechend, in Begleitung eines meist sprach- und landeskundigen älteren Tutors. Der Vorbereitung der Reise dienten apodemische Handbücher oder Apodemiken, 247 die sich mit der ‚Kunst des Reisens’ beschäftigten, kaum Angaben über Sehenswürdigkeiten enthielten, dafür umso mehr philosophisch-moralische Erörterungen über den Nutzen des Reisens in lateinischer Sprache 248 . So wurde 1749, zwölf Jahre nach Gründung der Universität Göttingen, „[…] eine ganz spezielle Erfahrungswissenschaft zuerst gelehrt [...]: die ‚Kunst, seine Reisen wohl einzurichten’“. 249 Mit zunehmender Reisehäufigkeit wandelten sich die Apodemiken zu Reisehandbüchern und Reiseführern, die im Baedeker im 19. Jahrhundert, dem ‚roten Buch’, ihren Höhepunkt fanden. Die Reisen des Adels umfassten neben den Initiationsreisen auch Fürsten-, Prinzen- und Hofreisen, oft in diplomatischer Mission, aber die traditionelle Kavalierstour war nach 1740 praktisch ohne Bedeutung, da sich mit dem aufgeklärten Absolutismus Staatsverständnis und Regierungspraxis veränderten. Das Bürgertum emanzipierte sich im Geist der neuen Zeit, und ein wichtiges Instrument zu neuem Selbstverständnis 244 Winfried Siebers, Ungleiche Lehrfahrten - Kavaliere und Gelehrte, in: Bausinger et al., Reisekultur, 47. 245 Ebd., 48. 246 Ebd., 47f. 247 Eine ‚Apodemik’ - eine humanistische Wortschöpfung aus dem Griechischen mit der Bedeutung ‚das Haus verlassen, verreisen’ - ist kein Baedeker der frühen Neuzeit, sondern der gelehrten Literatur zuzurechnen: „Ziel und Absicht der Apodemiken war - zumindest in der theoretischen Konzeption - ‚das Reisen zu einer Art von Wissenschaft, zu einer Schule zu erheben, worin so viele, vornehmlich aus höheren Ständen sich Kenntnisse [aneignen] könnten, die sie, aus Büchern mühsam zu schöpfen, schwerlich jemahls geneigt seyn dürften“. (Ludewig Wilhelm Gilbert, Handbuch für Reisende durch Deutschland, Leipzig, 1791-95, Bd. I, XII, zit.n. Uli Kutter, Der Reisende ist dem Philosophen, was der Arzt dem Apotheker. Über Apodemiken und Reisehandbücher, in: Bausinger et al., Reisekultur, 38). 248 Kutter, Über Apodemiken, 39. 249 Cornelius Neutsch, Die Kunst, seine Reisen wohl einzurichten. Gelehrte und Enzyklopädisten, in: Bausinger et al., Reisekultur, 147. 95 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT gegenüber dem Adel war das Reisen. „Reisen wurde von den Aufklärern als ein wichtiges, wenn nicht gar, wie der ursprüngliche Wortsinn von Erfahrung es nahelegt, als das einzige Mittel angesehen, den traditionell vorgegebenen Erfahrungsraum und damit den Erwartungshorizont zu erweitern [...]. Reisen war für die Gebildeten das Mittel der Aufklärung schlechthin.“ 250 Um 1750 war Reisen bereits verbürgerlicht, wenngleich schon aus finanziellen Gründen nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung auf Inlands- oder gar Auslandsreise gehen konnte. Aus dem Geist der Zeit entstanden neue Reiseanlässe: Die bereits erwähnte Gelehrtenreise mutierte zur enzyklopädischen Reise. Sie war dem Ideal der universalen Gelehrsamkeit verhaftet, das kompilatorisch zusammentrug, was auch immer in das Blickfeld des Reisenden gelangte: Tabellen, Daten und Statistiken über Gewerbe und Manufakturen, Essgewohnheiten und Krankheiten, Erziehung und Heerwesen, Verwaltung und Finanzen, Literatur und Kunst. Gegen Ende des Jahrhunderts war der wachsende Wissensstrom vom Einzelnen nicht mehr zu bewältigen. 251 Diese Art zu reisen war obsolet geworden und die Zeit reif, die Wissensfülle zu gliedern. Was im Namen der Historie gesammelt worden war, wurde der Beginn selbständiger Disziplinen wie Anthropologie, Geografie, Geschichte, Staatslehre, Kunsttheorie usw. Die Zeit universaler Gelehrsamkeit war zu Ende, und wissenschaftliche Reisen wurden Forschungsreisen. Keinesfalls veraltet war aber die Bildungsreise der Aufklärung. „Bildung wurde zum Leitbegriff des Ideals geistiger Individualität, freier Gesellschaft sowie vernünftiger Selbstbestimmung. Die Gebildeten waren diejenigen, die aufgrund des Bildungsprozesses mündig geworden waren“. 252 Mit ihnen als Adressaten der Ideale bürgerlicher Emanzipation ging ein Paradigmenwechsel in der Auffassung vom Reisen einher hin zu einer Individualisierung (vgl. 1.2.4) und zur Entdeckung der Natur (vgl. 1.2.5). Hatten alle Reisen bis dahin einen das Subjekt transzendierenden Bezug, so gibt es nun Reisen, deren einziger Zweck die Förderung des Individuums ist. Die Pilger-, Kaufmanns- und Scholarenreise, die Kavalierstour einschließlich der Fürsten-, Prinzen- und Hofreise, die Gelehrten- und die enzyklopädische Reise: Sie alle waren im Dienst und Vollzug einer Aufgabenstellung unternommen worden, bei der persönliche Motive 250 Hans-Erich Bödeker, Reisen - Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft, in: Griep/ Jäger, Reisen im 18. Jahrhundert, 95. 251 Ein anschauliches Beispiel ist der Berliner Buchhändler Friedrich Nicolai. Er unternahm eine dreimonatige Reise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, die zu einer dreizehn Jahre dauernden Niederschrift in zwölf Bänden auf 5000 Seiten führte und doch Fragment blieb, da der Reiseverlauf durch die Schweiz fehlt. Zeitkritische Stimmen vermerkten, dass Nicolai zwar eine Reise, aber keine Erfahrungen gemacht und im Grunde Berlin und seine Studierstube nie verlassen habe (vgl. Neutsch, Gelehrte und Enzyklopädisten, 151f.) 252 Bödeker, Reisen und Aufklärungsgesellschaft, 93. 96 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE zweitrangig waren, was selbst für die Pilgerreise gilt, die zwar individuellen Heilsgewinn verspricht, aber ihren Sinn aus dem Kollektiv der Gläubigen bezieht. Bei der aufklärerischen Bildungsreise jedoch, mehr noch bei der empfindsamen und der romantischen Reise, geht es um individuelle Welterkundung. In der englischen Literatur ist um 1750 die „[…]Verschiebung des Gewichts von der reinen Faktensammlung auf das subjektive Erlebnis“ deutlich auszumachen. 253 Hatte Addison 1705 in seinen Remarks on Several Parts of Italy Italien noch ausschließlich als Land der römischen Antike im Spiegel des klassischen Schrifttums bereist - „An über 140 Stellen übernahm Addison diese schon von den Dichtern ästhetisierten Landschaften“, d.h. „Die Literatur stiftete so die Bedeutung der Orte“ -, so häuften sich in der Reiseliteratur zunehmend Beispiele für eine „[…] subjektive, sinnlichästhetische Aneignung gegenwärtiger Realität“. 254 Goethes Italienische Reise von 1786-88 und „[…] sein - gesprächsweise formuliertes - Aperçu, man reise ‚ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen’“ 255 , offenbaren den epochalen Bewusstseinswandel, im Vergleich mit Johann Caspars, seines Vaters, Italienreise 1740. „Für den Vater bedeutet der Vesuv nicht nur ein naturwissenschaftliches Experimentierobjekt, sondern auch ein moralisches Mahnmal dem Sohn hingegen, der den Paradies/ Hölle-Topos an anderer Stelle nur noch anzitiert, erscheint der Vulkan als ein sinnlich reizvolles Naturschauspiel. In dieser Differenz manifestiert sich ein historischer Wandel der Apperzeptionsweisen, der es erlaubt, zwei Kulturepochen voneinander zu unterscheiden.“ 256 Die Trennlinie scheidet die gesellschaftlich orientierte, normative aufklärerische Reise durch Italien unter dem Primat der Nützlichkeit von der individuell zugeschnittenen, romantischen, ästhetisch offenen Reise in Italien zwecks persönlicher Erfahrung, und letztere bezog die Natur als Raum mit eigenständige Seinsstatus mit ein. 257 Die romantische Reise als Realitätsflucht und Sinnsuche zugleich dehnt die Grenzen des Reisens geografisch und gedanklich aus. Die Schweiz, Spanien und der Orient werden Orte vermeintlicher Ursprünglichkeit: Landschaft mutiert zu einem Zeichensystem, das individuell gedeutet und mit Sinn aufgeladen wird. Damit gehört auch die sentimentale oder empfindsame Reise, eine literarische Modeerscheinung, die Richardson mit Clarissa Harlowe (1748) und Sterne mit A Sentimental Journey through 253 Ingrid Kuczinsky, Zum Aufkommen der individuellen Wirklichkeitssicht in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Jäger, Europäisches Reisen, 35. 254 ebd., 42 u.45. 255 Peter Boerner, Man reist ja nicht, um anzukommen, oder: Goethe als Reisender und Bleibender, in: Jäger, Europäisches Reisen, 91. 256 Albert Meier, Als Moralist durch Italien - Johann Caspar Goethes ’Viaggio per l'Italia fatto nel MDCCXL’, in: Jäger, Europäisches Reisen, 82f. 257 Vgl. ebd., 85. 97 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT France and Italy by Mr Yorick (1768) losgetreten hatten, der Vergangenheit an. Eisenbahn und Dampfschiff waren nicht nur schneller als Postkutsche und Segelschiff, sondern veränderten nachhaltig Wahrnehmung und Verhalten beim Reisen überhaupt. „Die Nivellierung der Landschaft, schon bei der Trassenführung im Ideal der mathematischen Ebene angestrebt, [erzeugte] einen frustrierten, gelangweilten Blick. Der Wahrnehmungsapparat vermochte die vorbeihuschende Bilderflut nicht einzufangen. Dem Schauen entzog sich die Landschaft.“ 258 Mit effizienterer Raumdurchquerung „[…] drängte sich die reine Reisezeit in den Vordergrund der Empfindungen“, die nun, wie Flaubert, Eichendorff, Heine oder Ruskin bekunden, als stumpfsinnig empfunden wird. 259 Der Verlust an Raumgefühl geht einher mit einem Verlust an individueller Erfahrung, und die Reise wird zur Ansammlung von Sehenswürdigkeiten. „Die Möglichkeit, etwas Neues und Fremdes [...] zu erfahren, wurde durch Industrialisierung und Reglementierung des Reisens vernichtet. Der Massentourismus mit seinen programmierten und präparierten Reiseerlebnissen kündigt sich an.“ 260 Mit Baedeker und Murray erschienen Reiseführer mit klassifizierenden Empfehlungen. 1855 fand die erste Gruppenreise nach Paris statt, ein Jahr später eine Rundreise auf dem Kontinent: Der Organisator war Thomas Cook, der „[…] Mann, der durch seinen Unternehmungsgeist das Schicksal der romantischen Italienreisen besiegelte [...]“. 261 Mit dem Massentourismus erstarren die fremden Landschaften zu reproduzierbaren Klischees auf Postkarten, Fotos und Filmen, in Prospekten und Katalogen. Der Zweck des Reisens im Sinne Montaignes oder Goethes verliert völlig an Wert, „[…] und je attraktiver die Fremde wird, desto rascher geraten Bilder von ihr auf den Markt, die unser Gedächtnis besetzen und von dort aus während der Reise auftauchen, um sich vor die Fremde zu stellen - sie zu verstellen“. 262 Reisen mit verbalen oder piktoralen ‚Vor-Bildern’ im Kopf ist keine Erscheinung der Moderne - Addison übernahm, wie schon erwähnt, an 140 Stellen Landschaftsbilder der Antike in seinen Italienbericht -, aber neu ist die technisch, räumlich und zeitlich unbegrenzte Verfügbarkeit der Bilder. Kontinuierliche Bilderpräsenz und intensiviertes Reiseverhalten verstärken sich: „In einem tiefgreifenden Wandel der ‚Weltkultur’ hat sich gleichzeitig das Erlebnispotenzial gewandelt.[...] Die westliche Welt hat sich zu einer ‚Erlebnisgesellschaft’ entwickelt, in der auch der Zeit- und 258 Dieter Vorsteher, Bildungsreisen unter Dampf, in: Bausinger et al., Reisekultur, 308 259 Vgl. ebd., 310. 260 Ebd., 311. 261 Brilli, Reisen in Italien, 94. 262 Gert Sautermeister, Reisen über die Epochenschwelle: Von der Spätaufklärung zum Biedermeier, in: Griep/ Jäger, Reisen im 18. Jahrhundert, 287. 98 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE Freizeitbegriff eine neue gesellschaftliche Wertigkeit erlangt. Das Reisen droht von der ‚Domäne Urlaub’ überzeichnet zu werden, welche die Wunschbilder des Reisens zu Klischees und romantisierenden Abziehbildern des Fremden pervertieren[sic].“ 263 2.1.2 Die klassische englische Italienreise: The Grand Tour Zum Verständnis des Zwecks und der Motive englischer Italienreisen im 19. Jahrhundert ist, unter den zahlreichen Reiseanlässen seit Beginn der Neuzeit, keiner von annähernd ähnlich großer Bedeutung gewesen wie die Bildungsreise englischer junger Adeliger im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert: The Grand Tour. 264 Der Grund liegt in der gesellschaftlichen und kulturellen Wirkung, die von dieser Art der Reise ausging, „[…] jene besondere Institution, die am Ende des 17. Jahrhunderts die Bezeichnung Grand Tour erhält. Es handelt sich um eines der interessantesten Phänomene der europäischen Kultur der Neuzeit, in dem sich das Vergängliche und Dauerhafte, Oberflächlichkeit und Freude an genauer Beobachtung, Neugier und Abenteuerlust mischen.“ 265 Nachdem die Pilgerreise nach Rom durch den Act of Supremacy 1534 maßgeblich an Bedeutung verloren hatte, waren es vorzugsweise Künstler und Gelehrte, Architekten und Kaufleute, die Italien aufsuchten, was sich allein in den Texten Shakespeares augenfällig widerspiegelt. Aber auch Abenteurer waren unter den Reisenden: Der erste englische pikareske Roman, The Unfortunate Traveller (1594) von Thomas Nashe beschreibt die dramatische Erlebnisse eines jungen Engländers in Frankreich und Italien. Sozioökonomische Entwicklungen führten zu Veränderungen der englischen Reisetätigkeit nach Italien. Der unter den Tudors entstehende und sich unter den Stuarts fortentwickelnde Nationalstaat bedurfte tüchtiger Fachleute, um im Wettbewerb mit kontinentalen Machtzentren - Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Norditalien - bestehen zu können. Die englischen Ambitionen in Übersee von der Neuen Welt bis Afrika und Indien verstärkten den Erfolgsdruck, zumal England als Rivale der bestehenden Kolonialmächte neu auf den Plan trat. Die insulare Lage erwies sich geografisch als günstig, wie die Machtverschiebung von Südnach Westeuropa im 16. Jahrhundert zeigt, aber die Beschaffung aktueller 263 Klaus Kufeld, Die Erfindung des Reisens - Versuch gegen das Missverstehen des Fremden, Wien: Edition Splitter, 2005, 19. 264 „Rein philologisch gesehen, scheint [der Begriff] zuerst in der Ausgabe von 1698 des Italienbuches von Richard Lassels aufzutauchen.“(Brilli, Reisen in Italien, 48). Es handelt sich dabei um die französische Übersetzung von Richard Lassels An Italian Voyage (1635) bzw. Voyage or Compleat Journey through Italy (1670). 265 Antonio Brilli, Als Reisen eine Kunst war: Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ’Grand Tour’, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1997, 15. 99 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT Kenntnisse in der Militärtechnik und Finanzverwaltung, im Schiffs- und Festungsbau, in Transport und Handel war nur über den Kontakt mit dem Festland möglich. Im Gegensatz zur Welt der Gelehrten konnte das nur unzureichend über Bücher oder Berichte geschehen; als effizientester Weg blieb die persönliche Erkundung vor Ort, womit ein wesentliches Reisemotiv für aufstrebende junge Adelige umschrieben ist. „Der Graf von Essex spricht [...] ganz im Sinne der Königin, wenn er feststellt, daß ‚der Zweck des Reisens darin besteht, handfeste Kenntnisse zu erlangen und nützliche Erfahrungen zu machen, um so als guter Diener ihrer Majestät zurückzukommen’.“ 266 Aus diesem Grund war die Grand Tour anfangs keinesfalls auf Italien beschränkt, sondern führte durch die Niederlande, Teile Deutschlands und Österreichs, durch Frankreich und Italien: “British tourists were individuals seeking different objectives and following different routes. The young man keen on a future military career who attended Prussian manoeuvres, his counterpart who studied the glaciers in the Alps is as worthy of attention as his counterpart admiring the contents of the Uffizi. Any consideration of the routes tourists followed indicates that a stress on variety is justified.” 267 Italien allerdings mit Venedig, Florenz, Rom und Neapel als Hauptziele übertraf an Beliebtheit alle anderen Reiseziele. Ein entscheidender Anstoß für englische Reiselust kam auch aus einem Neuansatz des philosophischen Denkens in England. 1605 hatte Bacon in The Advancement of Learning die Bedingungen des Wissens und Wege zu seiner Verbesserung erörtert. Im Novum Organum (1620) ersetzte er die deduktive Logik durch die Prinzipien der Beobachtung und des Experiments: Entscheidend sei das Sammeln von Beispielen und Fakten als Voraussetzung für einen gesicherten Wissensbestand. Mit dem empirischen Denken war die theoretische Grundlage für eine als Rundreise konzipierte Erkundungsfahrt durch Europas blühende Politik- und Wirtschaftszentren gelegt, denn deren Erfolgen musste ein richtiges methodisches Vorgehen zugrunde liegen, und dies war Grund genug, sie als Lernobjekt anzusehen, was Bacon schon 1612 in seinem Essay On Travel thematisiert hatte. Der langjährige Studienaufenthalt an italienischen und französischen Universitäten in der Tradition der Scholaren verlor damit seine Bedeutung. Natürlich war die Grand Tour, der auf dem Kontinent die Kavaliersreise entsprach, auch eine Einführung in die Lebensart des europäischen Adels. „Adeliges Reisen im Zeitalter des Absolutismus ist im wesentlichen das Reisen der jugendlichen Stammhalter alteingesessener und grundbesitzender Adelsgeschlechter gewesen. Die Kavalierstour galt gemeinhin als Abschluss der adeligen Erziehung und als Einführung in die 266 Ebd., 12. 267 Jeremy Black, The British Abroad - The Grand Tour in the Eighteenth Century, London: Sutton Publishing Ltd, 1992, 5. 100 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE Welt der europäischen Aristokratie.“ 268 Ebenso wichtig waren aber auch Wissenserwerb und das Knüpfen sozialer Kontakte: “The British Grand Tour also acted as a powerful ’invisible academy’ for professional careers.“ 269 Ein überzeugendes Beispiel ist die Laufbahn des Pfarrersohnes Joseph Addison, der nach fünfjährigem Reisen durch Europa und langem Italienaufenthalt 1705 seine Remarks on Several Parts of Italy veröffentlichte und so den Grundstein seiner publizistischen und politischen Laufbahn legte. Die Aufklärung setzte in England aufgrund der Stärkung der Rechte des Bürgertums, formuliert durch John Locke und niedergelegt im Habeas Corpus Act und der Bill of Rights, früher ein als anderswo. Öfter als im Rest Europas wurden qualifizierte Bürgerliche, wenn sie nicht schon als Architekten, Künstler, Naturforscher oder Literaten Mitglied der Reisegruppe eines jungen Adeligen waren und als dessen Tutor oder ’bear leader’ fungierten, zu längerem Studienaufenthalt von einem adeligen Förderer ins Ausland geschickt. Aufschlussreich ist die Einstellung, mit der englische Reisende den Kontinent betraten. „Emotionen und Unduldsamkeit gegenüber dem Andersartigen, verbunden mit nationaler Egozentrik, bestimmen weitgehend das Erscheinungsbild der Gattung. [...] Am prägnantesten formulierte Robert (Viscount) Molesworth jene ideologischen Schemata [...] als wichtigster Theoretiker der ’Grand Tour’: ’An Englishman should be shewn the misery of the enslaved Parts of the World, to make him in love with the happiness of his own Country’.” 270 Zum patriotischen Topos geriet die Vorstellung von England als Wiege und Ort der Freiheit und des Wohlstands. „Am eindrucksvollsten gab Addison der politischen Zielrichtung englischer Reiseliteratur in seinem Gedicht ’A Letter from Italy’ (1703) Ausdruck. Unter stilisierender Herausarbeitung des Kontrastes zwischen dem antiken und modernen Italien wird England [...] als Hort der Freiheit gepriesen und als wahre Nachfolgerin des klassischen Rom eingestuft.“ 271 Das „Bewußtsein der Überlegenheit des englischen Modells“ hielt bis zur Jahrhundertmitte an, bevor konziliantere Töne eine Entideologisierung ankündigen. 272 Unter der großen Zahl der Grand Tourists, die meist zwischen sechzehn und zweiundzwanzig Jahren waren, interessierten sich freilich manche weit mehr für Frauen, Wein und Glücksspiel als für Italiens Kul- 268 Siebers, Ungleiche Lehrfahrten, in: Bausinger et al., Reisekultur, 48. 269 Andrew Wilton und Ilaria Bignamini, Hrsg., Grand Tour - The Lure of Italy in the Eighteenth Century, London: Tate Gallery Publishing Ltd, 1996, 31. 270 Heinz-Joachim Müllenbrock, Die politischen Implikationen der ’Grand Tour’ - Aspekte eines spezifisch englischen Beitrags zur europäischen Reiseliteratur der Aufklärung, in: Arcadia 17, 1982, 114f. 271 Ebd., 117. 272 Vgl. ebd., 118. 101 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT tur. «L’argent que les Anglois dépensent à Rome et l’usage d’y faire un voyage, qui fait partie de leur éducation, ne profitent guères à la plupart d’entre eux... J’en vois tels qui partiront de Rome sans avoir vu que des Anglois et sans scavoir où est le Colisée.» 273 Es gab adelige Damen, die mit der Grand Tour eine illegitime Geburt verheimlichten, es gab Reisende mit Daueraufenthalt im Süden aus politischen, finanziellen oder strafrechtlichen Gründen, z.B. Oppositionelle, Bankrotteure, Homosexuelle, und es gab auch Sonderlinge wie George Hutchinson, the Presbyterian weaver from Ireland, who came to Rome ’by God’s command’ in order ’to preach mightily against statues, pictures, umbrellas, bag-whigs, and hoop petticoats’.” 274 Während es die kontinentale Kavalierstour nach 1740 kaum noch gab, erfreute sich die Grand Tour ungebrochener Beliebtheit: ”The growth of the Grand Tour was remarkable throughout the eighteenth century, but from 1764 to 1796 it was spectacular: those three decades were the golden age of the British Grand Tour with respect to the number of travellers, tourist portraits and excavation and export licences released in Rome in favour of British citizens.” 275 Die Erklärung dieses Phänomens liegt in dem seit Addison in England virulenten Politik- und Geschichtsverständnis, das England in Bezug zur Antike und dem römischen Reich brachte. Hatte bereits die Architektur Andrea Palladios, vor allem die Villa Rotonda in Vicenza, vielen britischen Adeligen im 17. Jahrhundert als Beispiel klassischer Größe gedient, so erschien das England der ’Augustäischen’ Epoche als Äquivalent des antiken Rom. Beim Blick auf die römischen Autoren und Politiker empfand man sich als deren “rightful and magnificent heirs. The master-works of Italian art and architecture were at best little more than curiosities, [...] what mattered in Italy was the grandeur it had lost, and not the artistic and natural wealth it still possessed.” 276 Addison war in Italien des antiken Roms wegen, nicht um das Land kennenzulernen. Die Faszination durch die Antike übertraf alle anderen Vorzüge Italiens. Die Wiederentdeckung Herculaneums und Pompejis 1738 bzw. 1748 und Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) trugen zur Schwerpunktverlagerung von Florenz, Venedig, Rom und Neapel auch nach Paestum, Agrigent, Selinunt und Magna Graecia bei. Es kam zu einem Greek Revival, einem „[…] komplexen geistesgeschichtlichen Umschichtungsprozeß, [und beteiligt waren] auch englische Gentlemen, die des gefälligen palladianischen Klassizismus ihrer Landsitze überdrüssig zu 273 Charles de Brosses, Lettres familières (letter XL), zit.n. Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 26. 274 John Ingamells, Discovering Italy: Travellers in the Eighteenth Century, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 32. 275 Ilaria Bignamini, The Grand Tour - Open Issues, in: Wilton/ Bignamini; Grand Tour, 33. 276 Churchill, Italy and English Literature, 1f. 102 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE werden und nach den griechischen Ursprüngen des guten Geschmacks zu fragen begannen.“ 277 Griechenland intensivierte die Kunstbegeisterung und Sammelleidenschaft britischer Reisender, deren Kaufkraft Besorgnis auslöste: Italienische Behörden fürchteten um das nationale Erbe und erließen Exportbeschränkungen. Die Grand Tour war wie in keinem anderen Land eine feste Einrichtung. Die Zahl britischer Reisenden übertraf bei weitem die aus irgendeinem anderen Teil des Kontinents, obwohl die Italienreise des 18. Jahrhunderts ein gesamteuropäisches Ereignis war: “The Tour was always essentially cosmopolitan.[...] From de Brosses to Addison, from Berkeley to Goethe, from Claude to Hackert, from Inigo Jones to the brothers Adam, the memory of the classics was like a shared religion [...]. An ideal ’portrait gallery’, as it were, of the cities and scenery of Italy formed a part, then, of the collective consciousness of a Europe of savants, whose ranks were joined by some of the foremost painters [...].” 278 England hatte seit dem 16. Jahrhundert einen besonderen Bezug zu Italien, und Karl I. trug eine spektakuläre Sammlung italienischer Malerei zusammen, obwohl er das Land nie gesehen hatte. Zahlungskräftige britische Reisende setzten wirtschaftliche Schwerpunkte und gaben der Malerei und dem Kunstmarkt nachhaltige Impulse: ”The eighteenth-century Grand Tour can be described as an ’invisible’ or ’virtual’ academy which offered services to various cultural sectors and which had consequences of the utmost importance for the production, marketing, collecting and appreciation of the arts.” 279 Die Darstellung der Landschaft Italiens durch gefeierte und noch heute geschätzte Maler wurde durch den Geschmack der Grand Tourists und ihrem Einfluss auf Thematik und Stil der Künstler geformt. “It was the remarkable quality of the Claudes and the Poussins, the Rosas and Dughets [...] that gave a distinctive character not only to the collections and landscapers of this country, but to a tradition of aesthetic creation and taste that has lasted until our times. Thus the narrow obsession with the past that characterised the culture of the Grand Tourists, and the difficulties that they encountered in trying to satisfy it, led to consequences which are unlikely to be regretted.” 280 Häufig griffen die Reisenden selbst zu Pinsel und Farben: „Der grandtourist, der diesen Namen verdient, zeichnete und aquarellierte unterwegs selbst (für das 18. Jahrhundert sei an Goethe, für das nachfolgende 277 Ernst Osterkamp, Auf dem Weg in die Idealität - Altertumskundliche Reisen zur Zeit des Greek Revival, in: Bausinger et al., Reisekultur, 189. 278 Cesare De Seta, Grand Tour - The Lure of Italy in the Eighteenth Century, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 15. 279 Bignamini, Open Issues, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 31. 280 Francis Haskell, Preface, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 12. 103 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT an Ruskin erinnert) oder er ließ sich von fähigen Landschaftsmalern begleiten.“ 281 Durch das Verhalten der Grand Tourists entwickelte sich in Italien selbst ein Bewusstsein für die eigenen künstlerischen Leistungen. Bestehende Sammlungen wurden ausgebaut, bevor die größte, das Vatikanische Museum, eingerichtet wurde: ”This museum [...] soon became the finest of its kind in the world - and it is tempting to look upon its creation as the most beneficial consequence of the Grand Tour.” 282 Der folgenreichste Anstoß für Englands Malerei und Literatur dürfte freilich die Entdeckung der Landschaft Italiens gewesen sein. 2.1.3 Die Entdeckung der Landschaft Italiens Die Feststellung, dass die Landschaft Italiens um die Mitte des 17. Jahrhunderts im Norden Europas durch die Malerei von Claude Lorrain, Nicolas Poussin, Gaspard Dughet und Salvatore Rosa und auch die der ’Bamboccianti’ 283 , unterstützt durch das Interesse der Grand Tourists, ‚entdeckt’ worden sei, muss mit der Einschränkung versehen werden, dass es sich um ein spezifisches, begrenztes Sehen von Landschaft handelt. Dies trifft zwar für die Naturwahrnehmung jeder Epoche zu, da es ein autonomes Sehen nicht gibt (vgl. 1.3.2-3), gilt aber in besonderer Weise für die Maler im Italien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Sie sahen, bei aller Sensibilität für Stimmung, Licht und Atmosphäre, Landschaft mit dem durch Literatur und Mythologie präformierten Blick. Ihre arkadischen und bukolischen, heroischen und theatralischen Landschaften waren nur unter Einbezug dieses kulturell tradierten Hintergrundes in ihrer Aussageintention lesbar. Es waren letztendlich literarische, partiell sogar metaphorische Landschaften, deren Wurzeln in die Antike reichten. Vieles spricht für die Annahme, dass dieser Sachverhalt die Folge eines Rückkoppelungsprozesses war: Die in England geschätzten Maler der italienischen Landschaft trafen und bedienten den Geschmack der Grand Tourists, die Addisons Remarks on Several Parts of Italy von 1705 bestens kannten, ein Text, der „[…] die Italienansicht englischer Reisender des 18. Jahrhunderts prägte.“ 284 Allein seiner Rezeption wegen stellt er „[…] unzweifelhaft einen Höhepunkt in der englischen Bildungs-Reise- 281 Brilli, Als Reisen eine Kunst war, 60. 282 Haskell, Preface, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 11. 283 Die ’Bamboccianti’ malten - ihre ’Schule’ war die ’Bambocciata’ (ital. ‚Spaß’) -, nach flämischen Vorbildern das ‚einfache’, derbe Leben, Bilder der Bauern in malerischer Kleidung vor Ruinen in meist mildem, goldfarbenem Licht (vgl. Read, Dictionary of Art and Artists, 28). 284 Ingrid Kuczinsky, Zum Aufkommen der individualisierten Wirklichkeitssicht in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Jäger, Europäisches Reisen, 41. 104 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE beschreibung dar“ 285 , wobei der Autor, wie bereits erwähnt, an über 140 Stellen die von klassischen Autoren ästhetisierten Landschaften schlichtweg übernahm. 286 „Für den Leser machten die in der Antike produzierten Bilder auch die gegenwärtige Landschaft Italiens aus.“ 287 Die Umsetzung dieser literarischen Landschaftsbilder in die Malerei war das Verdienst und begründete den Erfolg von Lorrain, Poussin und Rosa. ”This triumvirate endowed landscape with three distinct qualities: Claude evolved an idyllic calm, characterised above all by subtle diffused sunlight, and exquisitely poised compositions in which features of Campagna scenery were arranged as backdrops for pastoral, mythological or biblical episodes. To this epitome of the Beautiful, Salvator contributed a contrasting Sublime view of nature, with jagged rocks, roaring torrents and lightning-blasted trees [...]. Poussin, on the other hand, demonstrated the intellectual or ’learned’ approach to nature [...]. In the hands of these painters Italy was seen to be a land of ideal forms harmoniously disposed [...].” 288 Die Theoriebildung des 18. Jahrhunderts, zu der Baumgarten, Burke, Diderot, Winckelmann, Kant, Lessing, Alison, Gilpin und auch Lancelot ’Capability’ Brown (vgl. auch 1.2.4) beitrugen, strebte Individualisierung an, unterstützte aber insgesamt doch den Fortbestand idealtypischer Landschaftsbilder, was dem empirisch-aufklärerischen Zeitgeist entsprach. Voltaire glaubte, dass das Reich der Kultur unterschiedlicher sei als das der Natur, die überall Einheit verbreite. 289 Es waren diese Einheit und Einheitlichkeit, die die Landschaftsdarstellung zeigen sollte, nicht charakteristische Unterschiedlichkeit und Einmaligkeit. Die Auffassung, dass die Vielfalt der Erscheinungen induktiv in allgemein gültige Gesetze gefasst werden könne, ist auch Kernbestand des Naturrechts, das über Locke, Hume und Montesquieu in die politische Theoriebildung einging. Der Grundgedanke war, dass der Vielheit kulturellen Verhaltens ein gemeinsames Wesensschema zugrunde liege; gedanklich war es von hier aus nur ein kleiner Schritt zur Konzipierung universaler Gesetze - und Rechte. „Dieser ethischen Einstellung entspricht eine analoge, ästhetische Neigung zu einem empirischen Ideal der Vermittlung zwischen Gleichförmigkeit und Verschiedenheit [...]. Eine umfassende Grammatik der Wahrnehmung [...] und des kognitiven Zugangs zu den Dingen leitet den besonders aufmerksamen Reisenden, konditioniert und strukturiert seine Sichtweise. Diese Grammatik, durch die er die Welt nicht so wahrnimmt, wie sie eigentlich ist, [spiegelt] nur seine kulturell geprägte 285 Possin, Reisen und Literatur, 20. 286 Kuczinsky, Individualisiertes Reisen, 42. 287 a.a.O. 288 Andrew Wilton, Dreaming of Italy, in: Wilton/ Bignamini, Grand Tour, 39f. 289 Vgl. Brilli, Als Reisen eine Kunst war, 35. 105 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT Auswahl [...].“ 290 Im Prozess gegenseitiger Verweisung zwischen Künstlern, Reisenden, Zeitgeist und Antike wird die Landschaft Italiens, selbst von Goethe, idealtypisch gesehen. Ansätze zu individualisierender Sicht gibt es in England schon bei Burke, denn im Gegensatz zu klassizistischen Normierungen wird das Erhabene und Schöne aus der individuellen Empfindung und eigenleiblichen Erfahrung erklärt 291 ; (vgl. dazu 1.2.5). In Deutschland hatte Alexander Gottlieb Baumgarten, Namensgeber der neuen Disziplin, den Weg gewiesen: „Seit sich die Ästhetik als philosophische Disziplin konstituierte, wich der normative Anspruch der Schönheitstheorien, an deren Stelle sie trat, immer mehr einer Akzeptanz der Vorstellungen und Imperative, die von den Künstlern selbst ausgingen.“ 292 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es dafür auch Belege in der Reiseliteratur. In An Enquiry into the Ancient State of Palmyra (1753) macht der Homer-Forscher Robert Wood „[…] die Einfühlung und damit auch eine Ästhetisierung zum Programm seines Reiseerlebnisses.[...] Im Prozeß der Einfühlung stellte das Individuum eine Synthese von Literatur und Landschaft her, in die es sich selbst mit Verstand, Gefühl und Sinnen einbezog. Wie ganzheitlich Wood dieses Erlebnis der Einfühlung empfand, zeigt sich daran, dass er es nicht für kommunizierbar hielt.“ 293 Es kam zu veränderten Perspektiven in der Sicht auch von Literatur, Geschichte und Gegenwart. Robert Wood lehnte Popes allegorische Interpretation von Homers Epen ab und sah sie dagegen als mimetisches Abbild historischer Abläufe. Die Charaktere aus der Ilias und Odyssee setzte er mit den Menschen in der realen Landschaft um Troja in Beziehung, um durch ‚Einfühlung’ „[…] die Vergangenheit in sinnlicher und damit auch ästhetisierender Anschauung zu verlebendigen.“ 294 Ähnliches hatte zuvor Lady Mary Wortley Montagu, die Gattin des britischen Botschafters in der Türkei, mit ihren Embassy Letters (1717-172) unternommen, als sie beim Anblick türkischer Männer an König Priamos, im Falle der Damen mit ihren Mägden an Andromache und Helena dachte. 295 Ein bedeutsamer Wandel des Blicks der Grand Tourists auf die italienische Landschaft bahnte sich zunächst in einem Teilbereich an: den 290 A.a.O.. Selbst Goethe schrieb: „Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig.” (Joh.W. Goethe, Künstlerische Behandlung landschaftlicher Gegenstände, in: Joh.W.v.Goethe, Werke, 22 Bde., Berlin, 1960-1978, 457, zit.n. Büttner/ Rott, Kennst du das Land, 84). 291 ”[...] pain and fear consist in an unnatural tension of the nerves.”(Burke, Philosophical Enquiry, 119). ”A mode of terror, or of pain, is always the cause of the sublime.”(ebd., 124). 292 Schneider, Geschichte der Ästhetik, 11f. 293 Kuczinsky, Individualisierte Wirklichkeitssicht, 42f. 294 Ebd., 44. 295 Ingrid Kuczinsky sieht Lady Marys Briefe als „[…] das früheste Zeugnis für die Beschreibung des subjektiven Erlebnisses fremder Wirklichkeit.“(ebd., 45). 106 E UROPÄISCHE R EISEROUTEN , R EISEFORMEN , R EISEZIELE antiken Ruinen. Galten sie lange als beliebtes Objekt der Gleichsetzung des alten Rom mit dem England des 18. Jahrhunderts, so gibt es um 1750 erste Belege für kontemplativ-melancholische Stimmungen mit den Motiven der Vergänglichkeit und des Verfalls: In The Ruins of Rome (1740) beispielsweise sinniert John Dyer an einem einsamen Ort über Luxus und Niedergang. 296 Viel bedeutender wurde in diesem Kontext jedoch das grafische Werk Giovanni Battista Piranesis. 297 In schwelgerisch barocker Technik zeigt er die grandiose Wucht antiker Bauten und monumentaler Innenräume, düsterer Gewölbe und höhlenartiger Gefängnisse - Bilder meist geprägt von Zerfall und albtraumhafter Atmosphäre. ”Rome had threatened to become merely irrelevant or boring; now it was exciting again.“ 298 Piranesi genoss europaweites Ansehen. Goethe reiste nach Italien unter dem Eindruck seiner Radierungen, doch nirgendwo wurde er so bekannt wie in England. Er prägte von nun an das Bild vom antiken Rom, gab der neoklassizistischen Architektur Anstöße und legte den Grundstein für eine romantische Italiensicht. ”Influenced by the landscape painting of Claude Lorraine [sic], his own work helped to establish the patterns of the Italian Romantic landscape.“ 299 Seine häufig von bizarrer Vegetation, zerzausten Bäumen und üppigem Blattwerk umgebenen Bauten weisen zurück auf Rosa und zugleich voraus auf die Romantik. Piranesis Einfluss schlug sich sogar in der englischen Literatur nieder. Kenneth Churchill setzt das Erscheinungsjahr von Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764) mit dem Beginn des ’Gothic Italy’ gleich: ”[...] the whole conception of the scenic effects in the novel is redolent of Piranesi.” 300 Walpole trat eine schriftstellerische Mode durch ein publikumswirksames Italienbild los, das angeblich (wie die Heterostereotypen des elisabethanischen Theaters) von Intrigen und Gewalt, Heuchelei und Inzest, der Inquisition, den Juden und Machiavelli geprägt war, wobei unheilvolle Naturszenarien und düstere Landschaften als Hintergrund fungierten. Die spezifisch englische ‚Entdeckung’ der Landschaft Italiens gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das Zusammentreffen von Piranesis Werk mit der Theorie des Pittoresken, die in keinem anderen Land die Bedeutung und Wirkung wie im Ursprungsland England erreichte (vgl. folgendes Kapitel). In Deutschland vollzog sich mit Goethe der Paradigmenwechsel der Italienreisen (vgl. 2.1.1). Ging es seinem Vater Johann Caspar 1740 vor- 296 Churchill, Italy and Literature, 4f. 297 Es handelt sich um folgende Serien: Prima Parte di Architetture e Prospettive (1743), Capricci di Carceri (1745), Le Vedute di Roma (1748-74), Carceri d'Invenzione (17508), Opere varie di Architetture (1750), Le Antichità Romane (1756), insgesamt 2000 Tafeln in 29 Bänden, die einen “kolossalen Begriff” (Goethe, Italienische Reise, 725) vermittelten. 298 Michael Kitson, The Age of the Baroque, London: Paul Hamlyn Ltd, 1967, 158. 299 Read, Art and Artists, 260. 300 Churchill, Italy in Literature, 5. 107 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT rangig um „[…] eine moralische Deutung von Sehenswürdigkeiten, [...] konzentrierte sich der Sohn auf seiner Italienreise (1786-88) auf die ‚Kultivierung der Persönlichkeit des Reisenden’, auf ein individuelleres Erleben des Landes.[...] Damit wurde [...] die Konfrontation mit dem Unbekannten [...] zur Selbsterfahrung.“ 301 Nicht unerwähnt bleiben soll eine Art, Italiens Landschaft zu entdecken, die heutzutage, rund 200 Jahre später, als Extremurlaub für Abenteuertouristen gelten könnte. Johann Gottfried Seume, Gelehrter, Schriftsteller und Soldat, unternahm seinen Spaziergang nach Syrakus (1802), um, wie er sagte, Theokrit zu studieren, aber auch, um nach einer gescheiterten Beziehung wieder zu sich selbst zu finden: „[…] die Wanderung durch den Tiefschnee der Alpen und durch das politisch aufgewühlte, für Fußreisen extrem unsichere Italien nach Sizilien hat ein Element des bewußt riskierten Todes, und das heißt: des knapp vermiedenen Selbstmords. Seume setzte sich aufs Spiel und fühlte dann offenbar, sich und sein Selbstwertgefühl wieder gewonnen zu haben: er war wieder ‚ein Kerl’.“ 302 2.2 Englische Reisende und die Landschaft Italiens 2.2.1 Ästhetische Landschaftswahrnehmung in England im 18. Jahrhundert und die Landschaft Italiens Die italienische Landschaftswahrnehmung der Reisenden der Grand Tour war, wie aufgezeigt, an Literatur und Malerei orientiert. Den Zweck einer Italienreise - die Landschaften in England, Schottland oder Wales lagen noch außerhalb des Interessenhorizontes - sah man im Aufsuchen der Stätten der klassischen Antike. Mit ihren arkadischen und heroischen Landschaften wiederum trafen Lorrain, Dughet, Poussin und Rosa den Geschmack der Grand Tourists bzw. kamen ihm entgegen: Die Reisenden suchten und erkannten in den Bildern die Szenarien antiker Texte (vgl. 2.1.3). Die Genrebilder der ’Bamboccianti’ ergänzten die Themenpalette, denn deren Darstellung des ländlichen Lebens lag eine gleichartige Landschaftsschau zugrunde, in der lediglich die Personenstaffage aktualisiert war (vgl. Fußnote 283). Im Hintergrund dieser Landschaftssicht stand der Mythos vom Goldenen Zeitalter, eines friedlichen Zusammenlebens aller Kreaturen in einer idealen Natur, wo der Mensch ohne Mühe von den Früchten der Erde lebt. Vergil hatte in seinen Eklogen dieses Bild landschaftlicher Idyllen 301 Andreas Strobl, Die Kunst auf Reisen, in: Bertuleit/ Strobl, Fernweh und Reiselust, 128. 302 Jörg Drews, „Ach, Galathea, Du Schöne, warum verwirfst Du mein Flehen? “ - Seume in Sizilien oder: Besudelung und Sturz zweier Götterbilder, in: Jäger, Europäisches Reisen, 116f. 108 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS gezeichnet, das als Paradiesmotiv aber bereits in der Odyssee und in seiner Sonderform als locus amoenus bei Platon zu finden ist. 303 Dieser Topos des lieblichen, Lust spendenden Naturortes ist „[...] von der Kaiserzeit bis zum 16. Jahrhundert das Hauptmotiv aller Naturschilderung, in der Schäferpoesie, der Vagantenlyrik, den Carmina Burana und den Beschreibungen des Wilden Waldes im Ritterroman.“ 304 Vergils pastorale Idyllen formten Vorstellungen vom mittelalterlichen Paradiesgärtlein, von Naturszenen in Dantes Die Göttliche Komödie und von Hirtenlandschaften der Renaissance, so bei Bellini, Giorgione und Tizian, und im 17. Jahrhundert griff Annibale Caracci diese Tradition auf, die Lorrain, Dughet, Poussin und Rosa fortführten. Die ideale Landschaft im 17. Jahrhundert war eine Komposition naturnaher Ansichten aus der Campagna bei Rom mit tradierten Bildelementen aus der Literatur. ”The foreground would consist of a more or less flat plain, often with a stream running through it. To one side and generally rising the whole height of the picture, there would be a tree or group of trees with spreading foliage, seen partly in shadow and silhouetted against the sky. On or towards the other side and set further back in space there would be a second group of smaller trees, balancing the first, often near some rising ground surmounted by a classical building. The distance would consist of further flat ground, possibly with a winding river, and on the horizon, a flat line of hills or a view of the sea. Two other essential ingredients were figures, often drawn from some story in the Bible or classical mythology, and an all-pervading light.” 305 Ein Abdriften in Monotonie wurde vermieden, da die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten sehr hoch war. Vor allem Lorrains Sinn für Atmosphäre beim Malen von Sonnenauf- und -untergängen gab seinen Landschaften die Qualität von “ravishing beauty, freshness and variety“ 306 und formte die Vorstellung englischer Reisender von Italien und von Landschaft überhaupt bis ins 19. Jahrhundert. 307 Man sah nicht nur, sondern suchte, zum Teil mit kuriosen Hilfsmitteln, die Landschaft so, wie Lorrain sie malte. „Reisende wie Maler 303 Bei Vergil handelt es sich um die Aeneis, in der Odyssee geht es um die Beschreibung der Insel Kalypso und die der Gärten des Alkinoos, bei Platon um den Dialog Phaidros. (vgl. Kullmann, Vermenschlichte Natur, 28ff.) 304 Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 206ff. 305 Kitson, Age of the Baroque, 74. 306 Clark, Landscape into Art, 124. 307 ”Samuel Palmer (1805-1881) remains the last painter of Virgilian landscape.”(ebd.,143). “Insbesondere die idealisierten Campagnalandschaften Claude Lorrains waren im 18. Jahrhundert der zentrale Bezugspunkt für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegend. Er transformierte diese in eine angenehme arkadische Landschaft mit Wiesen und üppig belaubten Bäumen im Vordergrund. Auf zahlreichen Werken erkennt man die berühmte Milvische Brücke, den »Ponte Molle« [..] oder die Silhouette des Soracte, des Hausbergs der Römer.”(Büttner/ Rott, Kennst du das Land, 212). 109 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT bedienten sich gleichermaßen des Landschaftsspiegels aus konvexem Glas, um die Landschaft einzufangen. Das sog. ‚Claude-Glas’ erhöhte durch das Prinzip der Begrenzung und Flächigkeit (statt der Weite und Räumlichkeit, die das Auge vermittelt) den ästhetischen Genuß.“ 308 Wichtig war nicht die Eigenart einer Landschaft, sondern das Gemeinsame und Einheitliche im Geist des Klassizismus, des Rationalismus und der aufklärerischen ‚Ästhetik der Gleichförmigkeit’. Offenkundig ist dies in der Reiseliteratur im 18. Jahrhundert, damals im Übrigen die am populärste Form literarischer Produktion: „Vielfalt, Neuheit und Originalität sind als Eigenschaften eines Reisebuches nur dann Qualitätsmerkmale, wenn sie beim Leser zur Entdeckung und Bestärkung ihres Gegenteils führten.“ 309 Englische Italienreisende begriffen die Alpen nicht als faszinierende Naturlandschaft, sondern als öde Wildnis und lästiges Hindernis, das man möglichst schnell über- und durchquerte. Burkes Untersuchung über das Erhabene und Schöne bewegt sich zwar kategorial im Rahmen einer normativen Ästhetik, wenn er ’beauty’ mit ’regularity’ verbindet, aber weitere Assoziationen - ’smoothness’, ’light and delicate’, ’pleasure’ - weisen auf individualisiertes Sehen hin. ”And since it [beauty] is no creature of our reason, since it strikes us without any reference to use, and even where no use at all can be discerned, since the order and method of nature is generally very different from our measures and proportions, we must conclude that beauty is, for the greater part, some quality of bodies, acting mechanically upon the human mind by the intervention of the senses.” 310 Noch deutlicher wird der Sinnenanteil und damit das Individuelle, wenn er das Erhabene mit ’vastness’, ’rugged’, ’dark and gloomy’, ’solid and massive’ umschreibt (vgl. auch 1.2.5). Damit war die Abkehr von dem bis ins 18. Jahrhundert maßgebenden antik-mittelalterlichen ordo-Gedanken verbunden, 311 der die Grundlage normativer Schönheitstheorien vor dem Hintergrund kosmologischer Vollkommenheit darstellte. Um 1750 war der Diskurs zur ästhetischen Landschaftswahrnehmung in England weiter vorangeschritten als in anderen Ländern (vgl. 1.2.4 u. 2.1.2). 312 John Lockes Denkansatz, dass jedes Naturgeschöpf sich 308 Omasreiter, Travels through the British Isles, 142f. 309 Brilli, Als Reisen eine Kunst war, 38. 310 Burke, An Enquiry, 102. 311 Er war gekennzeichnet durch den Glauben an Zahlenmagie als „[…] Instrument zur Beherrschung gesellschaftlicher Prozesse“, findet sich in der Architekturtheorie als Proportionenlehre schon bei Vitruv und im Bild der Sphärenharmonie als Ausdruck von Schönheit und göttlicher Vollkommenheit (vgl. Schneider, Geschichte der Ästhetik, 8ff). 312 Die Glorreiche Revolution 1689 und John Lockes fundamentaler natur- und staatsrechtlicher Text, The Second Treatise of Civil Government 1690, legte den Grundstein einer bürgerlichen Emanzipation, während anderenorts weithin der französische Absolutismus bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Vorbild galt. England hingegen wurde gar zur Lehrmeisterin oppositioneller Intellektueller des Ancien Régime (Montesquieu, Voltaire, Diderot, Helvétius, Holbach). 110 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS am besten entfalte, wenn es nicht behindert werde, fiel auf fruchtbaren Boden bei seinem Schüler Shaftesbury. „Der empirischen Erfahrung als Lockes einziger Erkenntnisquelle wird von Shaftesbury die spontane Intuition des Subjekts übergeordnet.“ 313 In seiner Schrift The Moralist (1709) umschreibt er vor Burke einen Naturbegriff, der das Idyllische wie auch das Grenzenlose und Wilde umfasst. Publizistisch griff Addison diesen Ideenkomplex auf, als er in The Tatler die Unnatürlichkeit der französischen Gärten kritisierte und damit erste Schritte in Richtung des Landschaftsgartens machte, der in William Kent, vor allem aber in Lancelot ’Capability’ Brown seine Ausgestaltung fand. Mit den auf die Natur angewandten Ideen der politischen Aufklärung, von Shaftesbury, Addison und Pope allgemein formuliert, von James Thomson in The Seasons (1730) bereits auf die Naturdarstellung bezogen, entwickelte sich in England eine Vorstellung von Landschaft , die „[…] mit dem Sieg von Capability Brown über le Nôtre, den ‚grausamen Verderber, der die seufzende Erde zerstückelte’ (Joseph Heely), als die typisch englische [sich] durchzusetzen bestimmt war“. 314 Der Bruch mit der Gartenkonzeption von Versailles und Vaux-le- Vicomte und die Hinwendung zur (geplanten) ‚natürlichen’ Landschaft mit Bäumen, Hügeln und Seen, Wiesen und Bächen nahm einiges von Rousseaus Naturkonzept vorweg, war trotz allem aber noch im Erbe der klassischen Antike verhaftet. Vergil war im englischen Denken des 18. Jahrhunderts stets präsent, und sein Lob des Landlebens - ’beatus ille qui procul negotiis’ (Epode 2,1) war das meistzitierte Gedicht des 17. und 18. Jahrhunderts 315 - im Gegensatz zu den gefährlichen Unwägbarkeiten der römischen Metropole kam der Gesinnung des englischen Landadels, der gentry und den country squires (im Gegensatz zum alteingesessenen Hochadel), mit ihrem Interesse an praktischen Fragen der Landwirtschaft ausgesprochen entgegen. So enthalten die Landschaftsgärten, bei aller Freiheit der gärtnerischen Gestaltung, oft Hinweise auf die klassische Antike in Form von Statuen, Urnen, kleinen Tempeln, Säulen und Grotten; stellenweise wurden sie „[…] zu Freilichtkirchen stilisiert, deren Ikonographie nostalgische Assoziationen an die mediterrane Kulturlandschaft weckte: an Vergils Latium, die Hadriansvilla mit ihren gebauten Reminiszenzen, an Roms Pantheon, den Sybillentempel von Tivoli, an die Topoi des Golfs von Neapel [...]“. 316 Ganz in diesem Sinne entstanden die Gärten von Kew, Stowe, Blenheim Palace, Warwick Castle und vor allem der von 313 Rudolf Sühnel, Der englische Landschaftsgarten in Wörlitz als Gesamtkunstwerk der Aufklärung, in: Bechtoldt/ Weiss, Weltbild Wörlitz - Entwurf einer Kulturlandschaft, 71. 314 Ed., 76. 315 A.a.O. 316 Ebd., 77. 111 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT Wörlitz in Sachsen-Anhalt, in dem sich sogar ein begehbarer, Feuer speiender Vesuv befindet. 317 Für die englische Landschaftswahrnehmung erwies sich ein weiterer Theoretiker von eminenter Bedeutung: Es war John Gilpin mit seinen Three Essays: On Picturesque Beauty, On Picturesque Travel, On Sketching Landscape (ab 1770). Er hielt Burkes Kategorisierung in Erhabenes und Schönes für ergänzungsbedürftig, weil ihm bei seinen Reisen an den Ufern des Wye, in Wales und im Lake District die Eigenart der Natur nicht erfasst schien: “[…] ’roughness’ und ’ruggedness’ [...] werden die konstituierenden Elemente des Pittoresken.[...] Noch in anderer Hinsicht steht Gilpin in bewußter Opposition zu Burke.[...] Gilpin [hat] den Menschen nicht auf seine physiologischen Reflexe reduziert, sondern in seiner Ganzheit erfasst und der Imagination und Emotion eine neue Stellung eingeräumt.“ 318 Neben das Vernunft- und Nützlichkeitsdenken, durch die Royal Society stets gefördert, traten neue Kategorien, die auf Wordsworth und Coleridge hinweisen. Gilpins Reisender ist ein ’aesthetic traveller’ und ’man of taste’, der Vergnügen am Pittoresken hat. „Kein anderer psychologischer und ästhetischer Begriff ist im 18. Jahrhundert so häufig diskutiert worden wie der Geschmacksbegriff.[...] Die Geschmacksbildung wird allen Menschen angeraten und die Natur als die beste Schule des Geschmacks empfohlen. ’Taste’ ist nun ein Gegengewicht zu ’reason’[...].“ 319 Das Pittoreske, von Uvedale Price in seinem Essay on the Picturesque (1798) über Gärten systematisiert, wurde „eine nationale Leidenschaft“. 320 Bald war es dritte Kategorie neben dem Schönen und dem Erhabenen, wurde schließlich dessen Korrektiv. Das durch das Pittoreske entdeckte Rauhe und Unebenmäßige, in der Landschaft das Felsig-Kantige, in Gesichtern das Unregelmäßig-Markante, war psychologisch die Gegenreaktion auf Harmonie und Idylle der mit dem Claude-Glas eingefangenen Landschaft: “[…] as an object of picturesque beauty, we admire more the wornout carthorse, the goat or the ass, whose harder lines, and rougher coats, exhibit more graces to the pencil.“ 321 Der stadt- und zivilisationsmüde ’splenetic traveller’ machte nun entweder eine Bäderreise oder eine ’home travel’ in das bislang unbekannte Britannien. Reiste er auf dem Kontinent, dann suchte er die nach Price 317 Der Park in Wörlitz des anglophilen and antikenbegeisterten Fürsten Franz von Anhalt-Dessau - Weltkulturerbe der UNESCO - ist das Paradebeispiel eines englischen Landschaftsgartens. Auf England- und Italienreisen, auch bei Rousseau in Paris, holten sich Fürst Franz und sein Architekt Erdmannsdorf entscheidende Anregungen. Die Umgestaltung der Elblandschaft im Sinne Brown’scher Gartenkunst war ein Zeichen gegen den französischen Garten, der Bau klassizistischer, palladianischer Bauten ein Zeichen gegen Barock und Rokoko. 318 Omasreiter, Travels through the British Isles, 101. 319 Ebd., 102. 320 Ebd., 36. 321 William Gilpin, Three Essays, zit.n. Omasreiter, Travels through the British Isles, 108 112 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS kategorial wichtigen visuellen Eindrücke, u.a. „{[…] die Ruinen von Gebäuden als Zeichen des Bruchs mit der formalen Vollendung und der Symmetrie; die gotische Architektur; die willkürlichen Anordnungen von Schuppen, Hütten und Mühlen; aufgewühlte Wasserspiegel; knorrige und moosbedeckte Bäume; Böcklein, Hirsche und Esel (anstelle der Schafe und Pferde aus der Tradition der Schäfermalerei); Zigeuner, Bettler, Dörfler und adelige Personen, ‚vorausgesetzt sie sind fortgeschrittenen Alters und im Exil.’“ 322 Die enorme Akzeptanz des Pittoresken brachte die Gefahr erstarrten Sehens mit sich und forderte Kritik und Parodie heraus. In The Tour of Dr. Syntax in Search of the Picturesque (1812) macht sich ein weltfremder Geistlicher, der sich mit Pathos von seiner Frau verabschiedet, auf die Suche nach pittoresken Landschaften. Dr. Syntax, unschwer als Gilpin zu identifizieren, folgt penibel den Regeln pittoresker Landschaftsschau und teilt die Natur in Vorder-, Mittel- und Hintergrund mit entsprechender Personenstaffage ein, worüber sich Elizabeth und Darcy in Jane Austens Pride and Prejudice noch amüsieren. Trotz aller Kritik ging von der Ästhetik des Pittoresken erhebliche Wirkung aus. „Da die neue Ästhetik nicht nur formalistische Prinzipien aufstellte, sondern zu einer Aufwertung der Imagination führte und zudem mit der Naturentdeckung und der Entdeckung der romantischen Vergangenheit in Schottland zusammenfiel, hat sie die unterschiedlichsten Geister anregen und sich bis weit ins 19. Jahrhundert halten können.“ 323 Der Weg zur kunsttheoretischen Position Wordsworths und Coleridges war gewiesen. 2.2.2 Natur und Landschaft Italiens aus Sicht der englischen Romantik Es hatte vereinzelt vor der Mitte des 18. Jahrhunderts beeindruckende Naturbeschreibungen gegeben. 1739 schrieb Horace Walpole aus den Savoyer Alpen an seinen Freund Richard West: Precipices, mountains, rumblings, Salvator Rosa [...] (Zwei Tage später von Aix): But the road, West, the road! Winding round a prodigious mountain, and surrounded with others, all shagged with hanging woods, obscured with pines, or lost in clouds! Below, a torrent breaking through cliffs, and tumbling through fragments of rocks! Sheets of cascades forcing their silverspeed down channeled precipices, and hasting into the roughened river at the bottom! Now and then an old foot-bridge, with a broken nail, a leaning cross, a cottage, or the ruin of a hermitage! This 322 Brilli, Als Reisen eine Kunst war, 61. 323 Omasreiter, Travels through the British Isles, 143. 113 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT sounds too bombast [sic] and too romantic to one that has not seen it, too cold for one that has. 324 Der mitreisende Thomas Gray schilderte seiner Mutter die Gebirgslandschaft in dieser Weise: On one hand [sic] is the rock with woods of pine-tree hanging overhead; on the other a monstrous precipice, almost perpendicular, at the bottom of which rolls a torrent, that seems tumbling among the fragments of stone that have fallen from on high, and sometimes precipitating itself down vast descents with a noise like thunder... concurs to form one of the most solemn, the most romantic and the most astonishing scenes I have ever beheld: add to this the strange views made by the crags and cliffs on the other hand; the cascades that in many places throw themselves from the very summit down into the vale, and the river below [...]. 325 Einige Wochen später in Turin fasst Gray zusammen: [...] those works of nature have astonished me beyond expression... Not a precipice, not a cliff, not a torrent but is pregnant with religion and poetry. There are certain scenes that would awe an atheist into belief, without the help of other argument.... 326 Beide Landschaftsbilder unterstreichen in überschwänglicher Theatralik den Bezug zu Salvatore Rosa und dessen barockem Hang zu überdimensionierten Proportionen, gewaltiger Fülle und dramatischer Bewegung. Bei aller Intensität der Sinneseindrücke steht die Wirkung der Natur im Vordergrund: Es geht um den Eindruck des Grandiosen und Gewaltigen, des Großartigen und Ungewöhnlichen in einer Landschaft, die den Menschen in zwergenhafter Miniaturisierung vorführt. Beide jungen Autoren überwinden aber auch die manieristische Landschaftssicht Rosas, indem sie das Verhältnis von Mensch und Natur neu sehen: Es geht nicht um den Wunsch nach deren Kontrolle und Zähmung, wie dies für das Barock und den französischen Garten kennzeichnend war, sondern um Hochachtung und Ehrfurcht vor einem göttlichen Kosmos, der sich in den kulturellen Systemen von Religion und Dichtung offenbart. Bei aller Lebendigkeit der Beschreibung, die beide Reisenden nach eigenem Bekunden an die Grenze der Kommunizierbarkeit führt, stellen sie sich durch ihren namentlichen Bezug auf Rosa doch noch in die literarisch-künstlerische Tradition ihrer Zeit, die Bilder der Landschaft mit kulturell konstruierter Sinnhaftigkeit versieht. Pittoreskes Sehen wies den Weg in eine prinzipiell neue Richtung, denn Gilpin veränderte den Stellenwert der Landschaft im Bewusstsein der Reisenden. Offenkundig ist, dass „[…] die pittoreske Ästhetik die Sinne 324 Horace Walpole, Brief an Richard West vom 30. Sept. 1739, zit.n. Hauser, Entwicklung der Landschaftsschau, 27. 325 Thomas Gray, Brief an seine Mutter vom 13. Okt. 1739, zit.n. Hauser, Entwicklung der Landschaftsschau, 28. 326 Ebd., 29. 114 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS geschärft und eine neue Sensibilität geweckt hatte.[...] Wirkungen des Wetters und der Jahreszeiten, das Zusammenspiel von Flora und Fauna, die Kontraste von Bergen und Seen [werden] zu einem mitreißenden und begeisternden spectaculum.“ 327 Veränderungen in der Atmosphäre, das Wechselspiel der Wolken, Nebelschwaden und sogar Regenschauer werden in ihrem optischen Reiz entdeckt. In einer Beschreibung des Lake Districts setzt Wordsworth diese schon damals wenig populären Wetterfaktoren bewusst in Opposition zum ewig blauen Himmel der mediterranen Landschaft: Days of unsettled weather, with partial showers, are very frequent; but the showers, darkening or brightening, as they fly from hill to hill, are not less graceful to the eye than finely interwoven passages of gay and sad music touching the ear... clouds cleaving to their stations, or lifting up suddenly their heads from behind rocky barriers, or hurrying out of sight with the speed of the sharpest edge - will often tempt an inhabitant to congratulate himself on belonging to a country of mists and clouds and storms and makes him think of the blank sky of Egypt and of the cerulean vacancy of Italy, as unanimated and even sad spectacle. 328 Das Naturerlebnis wird zur Erfahrung des Einfachen und des Einmaligen, des Individuellen und Augenblicklichen. Das seit den Tagen der Grand Tourists bis heute virulente Klischee der südlichen Landschaft mit dem intensiven Blau des Mittelmeerhimmels gerät in den kritischen Blick individualisierender, romantischer Landschaftsschau und wird zugunsten eines authentischeren Erlebens dekonstruiert. Die englische Natur in ephemerem Erscheinungsbild und schwankender Stimmungshaftigkeit als Gegensatz zu statischer Gleichförmigkeit und bedrückender Leere der Mittelmeerlandschaft ist ein Paradigmenwechsel von der Landschaft mit kulturell konstruiertem Sinn zur Landschaft der Romantik mit persönlichen Einschreibungen. Der Antagonismus von Gesellschaft und Natur, ideengeschichtlich aus der Ablehnung des mechanistischen Denkens des Rationalismus und der Zweckorientierung des Empirismus und Utilitarismus herleitbar und von Rousseau wirkungsvoll propagiert, wurde Leitsatz romantischen Denkens. Abgelehnt wurde auch die ‚Ästhetik der Gleichförmigkeit’ mit ihrer aufklärerischen Perspektivik zum Auffinden des Allgemeingültigen. Politisch-gesellschaftlich führte der Weg zur neuen Sicht des Indivuums, aber die Romantik war nicht bereit, diese Entwicklung in all ihren realen Konsequenzen mitzuvollziehen; sie profitierte von der Emanzipation der Aufklärung, distanzierte sich aber von den Folgewirkungen. Methodik und Ziel der Naturwissenschaften, Industrialisierung, Kapitalismus, Landflucht und die Entstehung eines Proletariats liefen diametral dem organizisti- 327 Omasreiter, Travels through the British Isles, 116f. 328 William Wordsworth, A Guide through the District of the Lakes in the North of England, zit.n. Omasreiter, Travels Through the British Isles, a.a.O. 115 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT schen Verständnis der Romantik von Mensch und Natur entgegen. „Die Emotionen sind ein natürliches Sensorium für diese dem analytischen Verstand nicht unmittelbar zugängliche organische Einheit von Welt. Und von hier aus wertet die Romantik nicht nur die Natur gegen die Gesellschaft, das Subjekt gegen das Objekt, sondern auch das Gefühl gegen den Intellekt, die Imagination gegen die Realität, das Spirituelle gegen das Utilitaristische auf.[...] Der als unzulänglich erkannte, nur kausal-analytische und mechanische Zugang zu menschlichen Phänomenen wird erweitert durch eine holistische, ’kybernetische’ Sicht der gegenseitigen Reaktionen […].“ 329 Angesichts der sozioökonomischen Übel der Zeit erschienen Natur und Landschaft nicht mehr nur als Gegenpol, sondern als Fluchtraum und potenzieller Heilsort. Im konkreten wie auch im künstlerisch-literarischen Sinne wiesen Byron, Shelley und Keats der Natur Italiens diese Funktion zu. Mit Erfassen der Natur über den Weg der Emotion in der Vorromantik 330 verlagert sich das Interesse von der Kulturlandschaft, der die Aufmerksamkeit der Grand Tourists, der aufgeklärten, enzyklopädischen und empfindsamen Reisenden galt, auf die Naturlandschaft als Trägerin von Sinnzuweisungen zum Ausgleich gesellschaftlicher Defizite. Die feine Linie des Horizonts, die Äols- oder Windharfe, die nur in der freien Natur ihren vollen Klang entfaltet, Wanderlust und Fernweh stehen symbolhaft für Ganzheitserlebnisse, die die industriell-verstädterte Zivilisation nicht mehr bietet. Die Sehnsucht nach dem Unberührten führt zu neu entdeckten Naturlandschaften; was mit dem Lake District, Wales und Schottland begann, setzt sich fort in den Alpen, den Pyrenäen, Sizilien und Spanien. Man entdeckt die Folklore und die Integrität ‚einfacher’ Menschen in ‚natürlicher’ Umwelt. Diesen Eindruck eines glücklichen Lebens konnte auch der Blick in die Vergangenheit vermitteln: Der Ossiankult, die ’Gothic novel’, Byrons Childe Harold’s Pilgrimage, die historischen Romane Walter Scotts, die Nazarener und Präraffaeliten sind Beispiele konkreter Sehnsuchtsprojektionen. „Das Ende der ästhetischen Kategorie ‚Landschaft’ zeigt sich, als sie als höchster Bedeutungsträger und Bewahrer ansonsten vergangener Traditionen umfassend postuliert wird. In der Krise des Zerfalls aller Ganzheit verbürgenden Deutungssysteme soll Landschaft Träger dieser Ganzheit sein, wird aber selbst zum abstrakten System.“ 331 Nach Thomas Kullmann schwindet seit Miltons Paradise Lost die Vorstellung vom ‚Buch der Natur’, dem man Botschaften entnehmen könne, und setzt sich über Shaftesbury, 329 Zapf, Anglo-amerikanische Literaturtheorie, 95. 330 Am Ufer des Wye notiert Gilpin: ”But the greatest pleasure [we get] when some grand scene strikes us beyond the power of thought. Every mental operation is suspended for the first moment. We rather feel than survey the scene.”(John Gilpin, zit.n. Hauser, Entwicklung der Landschaftsschau, 36). 331 Piepmeier, Ästhetische Kategorie ‚Landschaft’, 21f. 116 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS Thomson, Rousseau und Kant fort zugunsten einer subjektiven Landschaftsdeutung. „Die Natur vermittelt zwar noch Bedeutung, aber auf immer weniger unmittelbare Weise. Dieser Schwund an Unmittelbarkeit ermöglicht es Autoren von Erzähltexten, Naturschilderungen über die Verwendung standardisierter Topoi hinaus zu funktionalisieren.[...] Die extremste Form des ‚Rückzugs der Natur aus der Vermittlung von Sinn’ findet sich in der Lyrik Wordsworths [...]. Andere romantische Dichter wie Coleridge und Novalis konstatieren dann den vollständigen Verlust von Natur, die von sich aus etwas zum Ausdruck bringe. Die romantische Dichtung ist entgegen verbreiteter Ansicht durch diese ‚Naturferne’ geprägt.“ 332 In der Tat war der Natureindruck bei Wordsworth keineswegs spontan, sondern in der Rückschau “[..] emotion recollected in tranquility“. Coleridge zeigte bei seiner Deutschlandreise mit Wordsworth 1828 kaum Interesse an der Landschaft, die vornehmlich Resonanzboden seines Pantheismus war, der sich für ihn, wie auch für Keats, aber nicht in der Begrenztheit landschaftlicher Szenerie, sondern im Topos des Meeres widerspiegelte. 333 Auch Byrons Verhältnis zu unmittelbarem Naturerleben blieb distanziert. Sein Tagebuch aus dem Berner Oberland zeigt zwar seine Faszination über das Farbenspiel des Staubbachfalls und die Wolkentürme auf der Wengernalp, so wie auch Shelley vom Mont Blanc beeindruckt war, aber vier Tage später schreibt Byron an einen Freund: “I have seen the finest parts of Switzerland... for the beauties of which I refer you to the guidebook.“ 334 Das Interesse wendet sich dem Meer und dem Hochgebirge zu, die beide entgrenzt sind und Licht und Atmosphäre widerspiegeln, so wie es die abstrahierenden Bilder Turners - „einer der genialsten Künstler der Romantik“ 335 - in seiner Spätphase tun, in denen atmosphärische Massen in kreisender Bewegung und gleißendem, mystischem Licht alle Konturen von Landschaft auflösen. Turner vollzieht in der Malerei den Abstraktionsprozess in der Landschaftswahrnehmung, den die Literatur vorgegeben hatte. Diese Loslösung vom Gegenständlichen bedeutet die Verlagerung der äußeren Landschaft in die Innenwelt, in der sie rekonstruiert werden kann. Wordsworths Lyrik und Turners Gemälde zeigen in der Trennung von Ersterleben und nachvollziehendem Schaffensakt erstaunliche Parallelen, obwohl sich beide nie trafen. 336 Für die Wahrnehmung der italieni- 332 Kullmann, Vermenschlichte Natur, 472f. 333 Vgl. Hauser, Entwicklung der Landschaftsschau, 74-81. 334 Lord Byron, zit. nach Hauser, Entwicklung der Landschaftsschau, 87. 335 Manfred Fath, Vorwort, in: Powell, William Turner in Deutschland, 7. 336 Es ist ein gängiger Topos, dass Constable der Naturauffassung Wordsworths am besten Ausdruck verliehen habe. 1983 bezeichnete ihn TIME als ’the Wordsworth of landscape’, NEWSWEEK nannte seine Bilder ’the embodiment of Wordsworth’s pastoral poetry’, und Kenneth Clark konstatiert, dass ”Constable alone was a conscious exponent of the poet’s beliefs” und ”a Wordsworthian attitude to nature lies at the root of Consta- 117 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT schen Landschaft wurde Turner, ungeachtet der z.T. aggressiven Ablehnung seines Spätwerks, unvergleichlich bedeutsamer als Wordsworth oder Constable, der Suffolk so gut wie nie verließ. Turner unternahm vier Italienreisen (1819, 1828, 1835, 1840), und bereits die erste „[…] bildete einen Wendepunkt in seinem Leben. Als Vierundzwanzigjähriger hatte er das Licht gefunden, das er immer gesucht hatte, das überwältigende orange Sonnenlicht des Mittelmeerraumes.“ 337 Die große Zahl von Skizzen und Aquarellen - allein 1500 auf der ersten Reise - von Rom, der Campagna, dem Vesuv, der Bucht von Neapel und vor allem von Venedig zeigen ein von Licht übergossenes Land in krassem Gegensatz zum industrialisierten England. Turners Faszination durch das Licht und Ruskins Faszination von Turner sollten eine bedeutsame Rolle im Diskurs über Natur, Landschaft und über Italien in der kommenden viktorianischen Zeit spielen. 2.2.3 Die Auffassung von Natur und Landschaft Italiens in viktorianischer Zeit Selbst um 1830, nach dem Höhepunkt der englischen Romantik mit dem Tod von Byron, Keats und Shelley, ist, als Folge der Popularität der Grand Tour und der Sammelleidenschaft der Grand Tourists, die Bilderwelt der Ideallandschaften eines Lorrain, Poussin, Dughet und Rosa in der britischen Öffentlichkeit immer noch präsent: Robert Cozens steht mit seinen Aquarellen in dieser Tradition, ebenso Samuel Palmer. 338 Mentalitätsgeschichtlich war dieses Naturkonzept freilich epigonenhaft: ”Since the Renaissance I do not suppose that many people had believed very seriously in the facts of a Golden Age or the perfection of a pastoral life; but these had remained, within the scope of the imagination, concrete enough to produce art and poetry. By 1850 Malthus and Darwin had made them ble’s greatness” (Clark, Landscape into Art, 151 u. 154). Matthew Brennan widerspricht dieser Sicht. Es gebe “an apocalyptic Wordsworth“, dessen frühe Alpenerlebnisse Bilder des Schreckens und des Verlorenseins enthielten (’Negative Sublime’), die auch bei Turner sichtbar seien. Dessen Darstellung von Licht und Sonne sei das kompensatorische ’Positive Sublime’. Diese unvermutete Verbindung zwischen Maler und Dichter sei, so Brennan, durch den frühen Verlust der Mutter - in Wordsworths Fall durch Tod, in Turners Fall durch Geisteskrankheit - erklärbar und äußere sich in Schreckensvisionen der Natur, die den Mutterverlust reinszenieren. Das ’Negative Sublime’ stelle die Trennung zur realen, phänomenalen Welt dar, indem es sie auflöse und nach innen verlagere. Constable hatte kein vergleichbares Kindheitstrauma und fühlte folglich “no inner need to paint infinite horizons where the eye and the mind could escape.“ (Brennan, Wordsworth, Turner, and Romantic Landscape - A Study of the Traditions of the Picturesque and the Sublime, 122f.). 337 John Walker, Joseph Mallord William Turner, Köln: DuMont Verlag, 1978, 25. 338 Clark, Landscape into Art, 143 (vgl. auch Fußnote 307). 118 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS into moonshine. And with this annihilation of an ideal past there vanished the concept of ideal landscape.” 339 Mit der Industrialisierung begann der massive Eingriff in die Landschaft als sichtbare Natur und mit dem Aufstieg der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen eine neue Epoche. Technische Machbarkeit und industrieller Gestaltungswille waren nun Leitlinien eines Denkens, das sich diametral von der innenweltlich orientierten Sicht der Romantik abhob. Es ertönte der Ruf nach Ordnung und Disziplin aus der Notwendigkeit zu sozialpolitischem Handeln, das sich u.a. in den Reformgesetzen niederschlug. Der ständige Kenntniszuwachs in den Geistes- und Erfahrungswissenschaften wurde als offensichtlicher Beleg für die Richtigkeit induktiv-empirischen Vorgehens aus positivistischer Weltsicht gewertet. Der Evolutionsgedanke galt nach Darwins The Origin of Species (1859) als epochale Erkenntnis, und Herbert Spencer, der wahre Urheber der Formel von ’the survival of the fittest’, übertrug beides auf alle Wissenszweige und die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund gab es für eine ideale Landschaft keinen Platz mehr. Doch aus dem Geist der Romantik wurde ein bemerkenswerter Versuch unternommen, sich den Folgen dieser Einsicht entgegenzustellen. Die 1848 von William H. Hunt, John E. Millais und Dante G. Rossetti gegründete Pre-Raphaelite Brotherhood (PRB), die in einigen Zielen den Nazarenern um Friedrich Overbeck folgten, stellten Landschaft in akribischer Maltechnik dar. Klare Linien und ein hoch entwickeltes Gespür für Licht und reine Farbe kennzeichnen ihren Stil, der als Protest gegen die akademische Malerei einen durchaus neuen Ansatz in der englischen Kunst bot. Aber auf Grund eng geführter narrativer, häufig biblischer Themen stieß die PRB von Anfang an auf begrenztes Interesse und blieb letztlich eine Randerscheinung. Nichtsdestoweniger liegt der entscheidende Beitrag der englischen zur europäischen Kunst auf dem Gebiet der Landschaftsmalerei, und er vollzog sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei dieses Jahrhundert überhaupt den Höhepunkt der westlichen Landschaftsmalerei erreicht. Dieser Sachverhalt ist untrennbar mit den Namen Constables und Turners verbunden, und letzterer mit dem Ruskins. Hatte Gainsborough noch die Auffassung vertreten, dass keine Landschaft außerhalb Italiens des Malens wert sei, so vollzog sich in England mit den beiden Künstlern ein paradigmatischer Wandel. Constable, zunächst unter dem Einfluss Ruisdaels, Lorrains und Thomas Girtins, entdeckte den spezifischen Reiz des heimischen Suffolk im Wechsel des Wetters, der Wolken und des Lichts. Seine frische, von traditionellen Zwängen freie Malweise war eine fundamental andere Sicht der Natur als die der Traditionalisten, die noch dem Pittoresken nahestanden. 339 Ebd., 143f. 119 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT Mit der Ausstellung des heute als Nationalikone verehrten Bildes ’The Hay Wain’ in Paris 1824 begann seine Anerkennung in Frankreich und begründete seinen Einfluss auf Delacroix, Rousseau und Corot bis hin zur Schule von Barbizon und, seiner Skizzen und Studien wegen, auch auf die Impressionisten. Constable war überzeugter Pantheist, und er wie auch Wordsworth waren ”[...] united by their rapture in all created things. ’I never saw’, said Constable, ’an ugly thing in my life.’” 340 Die Naturnähe ihrer verbalen und gemalten Landschaften, die Betonung des Schlichten und Alltäglichen ist jedoch nicht seelenlose Naturnachahmung, sondern Ausdruck einer metaphysisch begründeten Sinnkonstellation. Die Detailfülle in Constables Landschaften unterliegt dieser einheitsstiftenden, einer tieferen Wahrheit verpflichteten Naturidee, was ihn von den Malern des Realismus und Naturalismus und deren oft “painful banality“ 341 trennt. Diese Naturverehrung war Akzeptanz eines göttlichen Schöpfungswillens und befriedigte eine Sehnsucht nach Ganzheit. Dies ist der Grundtenor von Ruskins Einstellung, der er in seinen kultur- und sozialkritischen Schriften mit puritanischem Eifer Ausdruck verlieh. Nach Erscheinen seines dritten von fünf Bänden der Modern Painters (1856) dominierte Ruskin, nach Veröffentlichung von The Seven Lamps of Architecture , The Stones of Venice und The Nature of Gothic, nicht unumstritten, aber ideenreich den kunstkritischen Diskurs der Zeit. Getragen von einem breiten Wissen und einem unerschütterlichen Glauben an sein ästhetisches Urteil wandte er sich gegen die Kunst der Renaissance und das 17. Jahrhundert, gegen Pope und Byron, Keats und Shelley, um in Scott und Turner die Apologeten eines wahren Naturverständnisses zu erblicken. Entschieden sprach er sich gegen die ’pathetic fallacy’ aus, die fehlgeleitete Vermenschlichung von Naturphänomenen durch ungezügelte Fantasie sei 342 ; gute Literatur gebe im Gegensatz zur ’base literature’ nur das rein Tatsächliche wieder, und im Übrigen sei Natur Ort der Inspiration und Ursprung von Erkenntnis und heiliger Wahrheit: “[…] the natureworship will be found to bring with it such a sense of the presence and the power of a Great Spirit as no mere reasoning can either induce or controvert; and where the nature-worship is innocently pursued [...] - it becomes the channel of certain sacred truths [...].” 343 Der Glaubensschwäche seiner Zeit, ”this darkness of heart” 344 , der mit Ausnahme von Wordsworth und Mrs Browning fast alle Denker und Schriftsteller verfallen seien, setzt Ruskin die Liebe zur Natur als seelisch 340 Ebd., 153. 341 Ebd., 148. 342 John Ruskin, Modern Painters, vol III, London: George Allen, 1904, chapter XII (201- 219), 205 u. passim 343 Ebd., 378. 344 Ebd., 322. 120 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS heilende Kraft entgegen: ”[...] the love of nature [...] is precisely the most healthy element which distinctively belongs to us; [...] and lights arise, which, for the first time in man’s history, will reveal to him [...] the true relation between him and his Maker.” 345 Er attestiert Scott, “the power of landscape“ begriffen zu haben, was begrenzt auch auf Dickens in David Copperfield zutreffe, wenn er im Tal von Chamonix Seelenqualen in Frieden und Rache in Mitleid umwandele. 346 Für Ruskin war Landschaftsmalerei “a noble and useful art“, deren Bedeutung zu-, die der Dichtung abnehmen werde, da Gefühle besser durch Worte, Schönheit aber besser durch Malerei ausgedrückt werden könne (vgl. dazu 3.3.3.4, insbes. bzgl. Fußnoten 591 u. 623); im Bereich der Erziehung sei gar das Zeichnen wichtiger als das Schreiben, da ersteres das richtige Sehen fördere, 347 - für Ruskin sind Augen Grundvoraussetzung für Verstehen. Sein Eintreten, entgegen der Zeitströmung, für so unterschiedliche Sehweisen von Landschaft wie bei Turner und den Präraffaeliten erklärt sich aus seiner ästhetischen Überzeugung, die sowohl von der Romantik als auch vom Idealismus seines Freundes Carlyle geprägt war. Turners Bilder, so seine Argumentation, wiesen symbolhaft auf Höheres, beruhten aber auf akurater Beobachtung, und die minutiös gemalten Bilder der Präraffaeliten enthielten jenseits aller Realistik eine moralische Symbolik, seien symbolischer Realismus: „In both cases, he celebrated above all the value of what he called ’truth’“. 348 Die Faszination des Zeitalters durch das Faktisch-Reale, auf den ersten Blick bei den Präraffaeliten, nicht aber bei Turner sichtbar, überhöhte er durch die moralische Kategorie des Wahren. Unter dem Diktum “All great art is praise“, was gotische Dome und Maler des Mittelalters belegten, vereinte er die beiden optisch so unterschiedlichen Malweisen. Neben Wahrheit war Schönheit ein zentraler Begriff seines Denkens, und sie offenbare sich in der Natur, die damit zum Gegenpol des “frightful and monstrous present“ 349 wird. Der Mensch ist für Ruskin von der Sehnsucht nach Schönheit durchdrungen, und die Suche nach ihr treibe ihn in unberührte Landschaften. 350 Es geht um ästhetischen, aber auch mora- 345 Ebd., 379f. 346 In diesem Kontext attestierte Ruskin sich selbst einen ”pure landscape-instinct” (ebd., 368): ”[...] this gift of taking pleasure in landscape I assuredly possess in a greater degree than most men: it having been the ruling passion of my life, and the reason for the choice of this field of labour.”(ebd., 365) Der Ursprung sei in seiner Kindheit zu suchen: ”[...] the joy of nature seemed to me to come of a sort of heart-hunger, satisfied with the presence of a Great and Holy Spirit.”(ebd., 368). 347 Ebd., 376f. 348 Robert Hewison, Introduction, in: Hewison/ Warrell/ Wildman, Ruskin, Turner and the Pre-Raphaelites, 23. 349 Ruskin, Modern Painters, 369. 350 Ebd., 324. 121 R EISEN IN E UROPA UND B EGEGNUNG MIT DER L ANDSCHAFT lisch-ethischen Gewinn: “[…] we have to note in the landscape-instinct [...] its total inconsistency with all evil passions [...] hatred, envy, anxiety and moroseness”; 351 Voraussetzung sei wahrheitsgemäßes Sehen, der erkennende Blick. Sein Glaube an ’mimetic truth’ war aber nicht Selbstzweck, wie sein Angriff auf die ehrwürdige Old Water Colour Society 1857 zeigt, der er Banalität vorwarf, sondern Erfassen des Wahren: ”To see clearly is poetry, prophecy, and religion - all in one.“ 352 Kunstpraktische, ästhetische, epistemologische, ethische, religiöse und sozioökonomische Perspektiven werden in ganzheitlichem Bemühen miteinander verwoben 353 : “[…] in this century Ruskin has become recognised as a ’pioneer in interdisciplinary thinking’” 354 . Die Vorstellung von Natur als göttliche Offenbarung, wie sie Wordsworth, Constable und Ruskin auszeichnen, bezog sich auf den Topos Landschaft generell, nicht speziell auf Italien. Turners Motiv für seine vier Italienreisen war weniger religiösen als ästhetischen Ursprungs: „Gegen Ende seines Lebens geriet Turner völlig in den Bann Venedigs und seiner Schönheit.“ 355 Ausschlaggebend waren Licht und Farben, die Spiegelungen der Lagune in diffuser Beleuchtung, die ihn zu grandiosen Aquarellen und Ölgemälden der Stadt inspirierten. Überhaupt wandelte sich die Idee des 18. Jahrhunderts vom degenerierten Italien, dessen Nachfolge England angetreten habe. Robert Brownings Gedicht The Englishman in Italy ”[...] marks a crucial stage in the development of English attitude towards Italy. [There is] a shift of taste [...] from the classical to the medieval and the Renaissance; and [...] the modern traveller is likely to enthuse over the sun, the sea, the mountains and the food and wine of Italy, all of which to the eighteenth century were not merely uninteresting, but positive disincentives to going to Italy.” 356 In Elizabeth Brownings Versroman Aurora Leigh (1856) erscheint Italien, wie bei Frau von Staëls Corinne ou l’Italie (1807), als Land natürlicher Schönheit, geistiger Offenheit für Kunst und Literatur im Ge- 351 Ebd., 371f. 352 Ebd., 333. 353 Ruskins eigenes künstlerisches Tun stand lebenslang im Spannungsverhältnis zwischen faktischer und symbolischer Wahrheit, aber “[…] in the end Ruskin was unable to achieve the ultimate synthesis that he was seeking, and that finally broke him.“(Hewison, The Beautiful and the True, in: Hewison/ Warrell/ Wildman, Ruskin, Turner and the Pre-Raphaelites, 18) Seine beeindruckenden Zeichnungen und Aquarelle von Gebäuden und Landschaften in obsessiver Detailtreue, Ausdruck seines “fundamental belief in art as mimetic truth“ (Stephen Wildman, Ruskin’s Drawings, in: Hewison/ Warrell/ Wildman, Ruskin, Turner and the Pre-Raphaelites, 187), werden heute rezeptionsästhetisch als Ergebnis mangelnder kreativer Gestaltungskraft gelesen: “[…] what he lacked […], as an artist, was purpose and imagination.“( ebd., 147). 354 Hewison, The Beautiful and the True, in: Hewison/ Warrell/ Wildman, Ruskin, Turner and the Pre-Raphaelites 13. 355 Walker, Turner, 134. 356 Churchill, Italy and Literature, 94. 122 E NGLISCHE R EISENDE UND DIE L ANDSCHAFT I TALIENS gensatz zu “that crippling constriction of English life“. 357 Italiens Landschaft wird als noch ursprünglich und naturhaft empfunden, während in England alles reguliert sei: “[...] in England all the fields are gardens, nature is ‘Tamed/ And grown domestic like a barn-door fowl’, ‘And if you seek for any wilderness/ You find, at best, a Park’”. 358 Thomas Trollope, Anthonys Bruder, schrieb zwischen 1850 und 1881 zwanzig Bücher über Italien und betrachtete sie als ”[...] representative of the growing interest, in the midcentury, in the more out of the way parts of the Italian countryside and Italian history”. 359 Diese Seite Italiens wird in den Reisebüchern bei Gissing (By the Ionian Sea) und Lawrence (Twilight in Italy, Sea and Sardinia, Etruscan Places) sowie in Forsters und Lawrences Italienromanen zentraler Gegenstand werden. In der Evolution der Landschaftsidee hat sich damit ein fundamentaler Wandel vollzogen. Der englische Blick auf die Landschaft Englands und vor allem auf die Italiens, dem bis zum 18. Jahrhundert und z.T. lange darüber hinaus, aufgrund der Reise- und Sammlertätigkeit der Grand Tourists und seiner an Addisons Italienreise geschulten Sehgewohnheiten, die Wahrnehmung Vergil’scher Bukolik und barocker Theaterszenerien (Lorrain, Rosa, Piranesi) bzw. dann auch des Gilpin’schen Pittoresken eingeschrieben waren, durchläuft eine Loslösung von Fixierungen auf Kultur, Gesellschaft und Tradition hin zu einer Auffassung, die Natur als Inbegriff des Wahren und Schönen, des Guten und Edlen, des Ursprünglichen und Einmaligen, des Großartigen und Göttlichen begreift. Die wertende Einschätzung in der Rangordnung von Kultur und Natur wird im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten regelrecht umgekehrt. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert ist für den englischen Blick aus dem industrialisierten Norden das Bild der friedvoll-arkadischen oder barocktheatralischen italienischen Landschaft durch das einer unberührtursprünglichen Naturszenerie mit dem Nimbus transzendentaler Authentizität ersetzt. 357 Ebd., 102. 358 Aus Aurora Leigh, zit. n. Churchill, Italy and Literature, 102. 359 Churchill, Italy and Literature, 135. 123 Teil III 3 Literarische Landschaftsbilder und ihre Funktionalisierung 3.1 Frau von Staël: Corinne ou l'Italie 3.1.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung Obwohl die in ganz Europa virulente Frankreichmanie zu Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte 360 und die junge Anne Louise Germaine, Tochter des väterlicherseits deutschstämmigen Finanzministers Jacques Necker und spätere Baronne de Staël- Holstein (1766-1817) im Salon ihrer Mutter in diesem Klima in Paris aufwuchs, waren es nicht nur die französischen Enzyklopädisten mit ihrer „geistigen Anglophilie der Zeit“, die ihr Interesse an anderen Ländern und Kulturen bestimmten, sondern eine genuine kosmopolitische Überzeugung von deren prinzipiellen Gleichberechtigung; sie empfindet den Frankozentrismus als obsolet. 361 “Zu denjenigen, die zweifellos bei der Entstehung der Komparatistik in höchstem Maße stimulierend gewirkt haben, gehören Herder und Madame de Staël.“ 362 Ihre anfängliche Begeisterung für die Revolution, genährt von der skeptischen Distanz zum Frankozentrismus des Ancien Régime, schlug bald in Ablehnung um, je weniger sich wahre politische und geistige Liberalität verwirklichten. Ihrer Flucht nach Coppet im Kanton Waadt am Genfer See 1792 folgte drei Jahre später die Rückkehr nach Paris und die Eröffnung eines Salons, der bald geistig-gesellschaftlicher Mittelpunkt wurde. 360 „Die Universalität der französischen Sprache, die Rivarol 1784 [...] in einer von der Berliner Akademie preisgekrönten Abhandlung ebenso darlegt wie ihre unüberbietbare Klarheit («ce qui n'est pas clair, n'est pas francais»), und derjenige der französischen Kultur sind unbestritten [...].“(Grimm, Französische Literaturgeschichte, 190). 361 Vgl. ebd., 191 u. 237. 362 Dyserinck, Komparatistik, 19. In der Folge ihrer Studien über Rousseau - Lettres sur les écrits et le caractère de J.-J. Rousseau (1788) - richtete sich ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf komparatistische Fragestellungen der Literatur im engeren Sinne, sondern deren geographisch-klimatische, sozioökonomische und kulturhistorische Bedingtheit - De l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations (1796), De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) -, wodurch sie sich u.a. nicht nur als Wegbereiterin der französischen Romantik ausweist, sondern als Begründerin der modernen Literatursoziologie (vgl. Wolfgang Koppen, Madame de Staël, in: Lange, Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, 54). 124 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Napoleon, dessen egozentrierten Despotismus sie politisch und dessen „domestizierten Klassizismus“ 363 , «le style Empire», sie künstlerischliterarisch missbilligte, veranlasste 1803 ihre Verbannung aus Paris und erneute Flucht nach Coppet, wo daraufhin „[…] das geistige Europa ihr Gast war“ 364 . Bespitzelt von der Geheimpolizei und als politisch gefährlich eingestuft - „Napoleon, dem Talleyrand Corinne nachts im Militärlager vorzulesen hatte, erklärte den Roman für staatsgefährdend“ 365 - folgten fluchtartige Reisen nach Deutschland, St. Petersburg, Schweden und England. Das Buch galt „[…] als Verkörperung der tragischen Größe des italienischen Volkes, darüber hinaus aber auch als Sinnbild unerfüllter Freiheitsträume im zeitgenössischen Frankreich“ 366 . Das Land betrat sie erstmalig wieder nach der Restauration. Was sich als dramatischer Verlauf ihrer Lebenssituation darstellt, erwies sich geistesgeschichtlich-literarisch, insbesondere aus deutscher Sicht, als fruchtbringend. In Weimar und Berlin traf sie Goethe, Schiller, Wieland, Fichte und die Brüder Schlegel; August Wilhelm Schlegel begleitete sie 1804 als Erzieher ihrer Kinder nach Coppet, war des öfteren Begleiter ihrer Reisen und literarischer Berater bis zu ihrem Tod 1817. Ihr Hauptwerk De l'Allemagne, das Napoleon bei seinem Erscheinen 1810 vernichten ließ, provozierte ein Bücherverbot, weil es politisch-kulturelle und patriarchalisch-nationale Machtstrukuren in Frage stellte: „[…] ihr Ziel ist der mündige Bürger, der für alle Formen autoritärer Machtanmaßung unempfänglich ist“ 367 . Mit ihrer geistigen Aufgeschlossenheit und kosmopolitischen Einstellung im Verbund mit literatursoziologischer Perspektivik wendet sie sich gegen das Supremat klassischer Regeln und klassizistischer Vorbilder, die für die französische Literatur vor der Romantik bestimmend waren. Emotionalität und Individualität sind die für sie neuen Leitlinien des gesellschaftspolitischen und künstlerischen Denkens, die auch in Frankreich eine Epoche geistig-literarischer Umorientierung einleiten. Frau von Staëls großbürgerlich-liberale Position hat wenig mit demokratisch-gleichmacherischer Gesinnung zu tun. Ihre Sympathie gilt dem zurückgesetzten Individuum, für dessen Emanzipation und geistigemotionale Eigenständigkeit sie eintritt. So findet sie sich an Rousseaus Seite und seiner Natursicht sowie auf Seiten der englischen und vor allem deutschen Romantik, der sie eine inspirierende Kraft aus dem Erbe christlicher Tradition zubilligt, während sie die französische als epigonenhaft und 363 Grimm, Französische Literaturgeschichte, 236. 364 v. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur - Autoren, Bd. 2, 1435. 365 Klaus Heitmann, Hrsg. u. Mitverf., Neues Handbuch der Literaturwissenschaft - Europäische Romantik II, Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1982, Bd. XV, 123. 366 Fritz Peter Kirsch, Epochen des französischen Romans, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, 131. 367 Grimm, Französische Literaturgeschichte, 236. 125 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG erstarrt empfindet. „Wollte der um didaktische Reduktion bemühte Literaturhistoriker die Entwicklung der Naturdarstellung in der französischen Literatur von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert in pointierter Form skizzieren, so könnte er von folgendem dreiphasigen Periodisierungsmodell ausgehen: Bis an die Schwelle des 18. Jahrhunderts dominieren in den Naturbeschreibungen noch die aus der Antike übernommenen Landschaftswunschbilder und pastoralen Landschaften, ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts reflektieren Landschaftsdarstellungen progressiv die ästhetische Naturerfahrung eines empfindsamen Subjekts, das heißt die literarische Landschaft konnotiert das Naturerlebnis des Betrachters und wird zur Korrespondenzlandschaft; und seit Baudelaire setzt dann eine [...] Auflösung der romantischen Einheit von Natur und Selbst ein [...], das Artifizielle, Anorganische und Kunstschöne werden aufgewertet.“ 368 Die vor allem in Frankreich gepflegte Vorstellung einer «belle nature» mit ihrem ’locus amoenus’ aus der Bukolik und Georgik der Antike hatte mit Aufkommen der Physikotheologie, die in ihrer Theodizee die Zweckmäßigkeit der Natur - und damit auch die Weisheit des Schöpfers - herauskehrte, an Relevanz verloren; nun wird die Kategorie des Naturschönen durch die des Wilden, Unbezähmbaren und Furchterregenden erweitert. 369 Edmund Burke wird 1756, Kant 1790 in einem “powerfully serious Analytic of the Sublime“ 370 das Neuartige dieser Naturkonzeption philosophisch festschreiben. Die literarische Bewältigung des veränderten Naturgefühls erfolgt in der französischen Erzählprosa ab 1760 vor allem bei Rousseau in Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761), bei Bernardin de Saint-Pierre in Paul et Virginie (1787), insbesondere bei Chateaubriand in Atala (1801) und René (1802) sowie bei Senancour in Oberman (1804), „[…] wobei Rousseau der erste große Autor in Frankreich [ist], der dem Naturerleben und der Landschaftsdarstellung in seinem Briefroman eine narrative Schlüsselrolle zuweist.“ 371 Seine literarischen Landschaftsbilder sind jedoch noch nicht in erster Linie ‚Korrespondenznatur’, ‚Seelenspiegelung’, ‚subjektive Durch- 368 Uwe Dethloff, Naturerlebnis und Landschaftsdarstellung im französischen Roman der Frühromantik, in: ders., Hrsg., Literarische Landschaft, 15. 369 Vgl. ebd., 18ff. 370 Adam Phillips, Introduction, in: Burke, A Philosophical Enquiry, ix. 371 Dethloff, Naturerlebnis und Landschaftsdarstellung, 21. „Bei Rousseau wird Natur nicht nur wie in der «poésie descriptive» eines Saint-Lambert oder Jacques Delille wahrgenommen, inventarisiert und in Form von Szenen, Tableaus oder «spectacles» theatralisiert, sondern in spezifischer Weise empfindsam erlebt. Dabei gerät die Naturschilderung nicht primär zu einer Korrespondenznatur im Sinne einer subjektiven Durchseelung der Landschaft, welche die Seele des Menschen bis zur Entzückung und Entrückung anrührt und zum Echo innerer Befindlichkeit wird. Diese Form der Seelenspiegelung in der Landschaft und der Übertragung der Dynamik der Seele auf das Naturbild [kennzeichnet] die deutsche Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang.“(ebd., 21f.). 126 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE seelung der Landschaft’ und ’Übertragung der Dynamik der Seele auf das Naturbild’ (Uwe Dethloff), also ‚externalisierter Seelenraum’ (Horst Breuer) und ‚Seelenlandschaft’ (Winfried Engler): „Bei Rousseau gestaltet sich das ‚Antönen an Seele und Gemüt’ durch die Landschaft [Martin Seel] in einer Form, die auf seinem normativen Naturbegriff und auf der historisch begründeten Opposition von «nature» und «civilisation» fußt.“ 372 Die Rousseau’schen Theoreme zu Natur, Mensch und Gesellschaft mit ihren nachhaltigen Folgewirkungen auf Politik, Staatslehre, Religion, Ethik, Erziehung und Literatur sind gedankliche Konstrukte und gründen auf einer abstrakt überhöhten Opposition von idealisierter Natur und abgewerteter Gesellschaft. Frau von Staël, obgleich Bewundrerin Rousseaus, rückt Delphine (1802) und Corinne ou l’Italie(1807) gedanklich und narrativ in eine andere Ausgangsposition ein, die sie bereits in ihrem Essai sur les fictions (1796) darlegt. „Sie definiert ihn [den Roman] gleichzeitig als eine Form psychologischer Analyse und als eine Gattung von gesellschaftlichem Nutzen. Er ermöglicht, was im alltäglichen Leben nur ausnahmsweise gelingt, nämlich den Zugang zu den Gefühlen der Mitmenschen [...].“ 373 Rousseaus theorielastige, auf abstrahierender Abgrenzung beruhende Haltung wird in ihrem Fall durch eine wesentlich pragmatischere, emotiv-empathische Einstellung ersetzt und durch die Vorteile einer im positiven Sinne spezifisch weiblichen Sichtweise ergänzt. „In beiden Fällen [Delphine und Corinne] geht es um die Anpassungsprobleme einer Frau, die ihrer Umwelt an Kreativität, Sensibilität und Intelligenz überlegen ist, aber - dem Druck sozialer Normen ausgeliefert - auf ihre Selbstverwirklichung in der Liebesleidenschaft verzichtet, um andere Formen sozialer Anerkennung - etwa als Künstlerin - zu finden.“ 374 Corinne ou l'Italie ist das Musterbeispiel eines Ich-Romans, wobei der Konflikt der hochbegabten anglo-italienischen Dichterin Corinne zwischen erfüllender Selbstfindung im Süden und seelenlosem Konformismus im Norden nicht nur als unlösbar präsentiert, sondern in seiner Wirkung auf das soziale Umfeld der Protagonisten als destruktiv vorgeführt wird. Die Autorin rückt Italien und England in die Rolle symbolischer Räume ein und behandelt sie als Verkörperungen soziokultureller Oppositionen, die rational den Charakter von Antagonismen haben und emotional den pathogenen Ort eklatanter Verwerfungen in der Psyche der Menschen darstellen. 372 Ebd., 22. 373 Grimm, Französische Literaturgeschichte, 239. 374 Ebd., 240f. „Diesen unlösbaren Konflikt zwischen dem Anspruch des Individuums auf Selbstverwirklichung und dem Anpassungszwang der bestehenden Verhältnisse thematisiert vor allem jener Romantyp, der später die Bezeichnung ’roman personnel’(’Ich-Roman’) tragen wird.“(ebd., 240). 127 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die Natur in Gestalt der sichtbaren Landschaft spielt in den beiden Handlungsräumen Italien und England insofern eine bedeutsame Rolle, als mit ihrer Hilfe die dem Text zugrunde liegende polarisierte, punktuell fast manichäisch anmutende Weltsicht demonstriert und verdeutlicht werden kann. Liebreizende, lichtdurchflutete italienische Szenerien wie in Terracina stehen in auffallendem Kontrast zur ständig herausgekehrten Düsternis und Monotonie der Natur in Northumberland und Schottland. Falls die Landschaft des Südens einmal erschreckende oder abweisende Züge annimmt, wie die Schauplätze am Vesuv und auf dem Mont Cenis, dann ist sie entweder Opfer destruktiv-bösartiger Kräfte aus dem Erdinnern oder einer zutiefst gestörten Harmonie zwischen Natur und Mensch. In diesem Kontext wird deutlich, welchen Stellenwert Landschaft überhaupt in Frau von Staëls Weltbild einnimmt. Für sie sind Natur und Landschaft, ganz gleich, in welcher Gestalt sie dem Menschen gegenübertreten, dem Primat des Kulturellen untergeordnet. Sie sind nicht aus sich heraus Quelle der Inspiration wie in der Hoch- und Spätromantik oder gar autonomer Ort der Sinnstiftung, wie es bei D.H. Lawrence der Fall sein wird, sondern Resonanzboden, Projektions- und Folienwand, Reflektor und Spiegelfläche innenweltlicher Vorgänge, die in ihrem dramatischen Verlauf in der Außenwelt ihre parallele Entsprechung finden. Frau von Staëls narratives Natur- und Landschaftskonzept ist von ähnlich statisch-normativem Zuschnitt wie bei Rousseau. Für beide sind Kultur und Natur zwei eigenständige Sphären, und nur durch eine von beiden findet der Mensch zu seiner wesenhaften Bestimmung: Es ist dies die Natur bei Rousseau, jedoch die Kultur bei Frau von Staël. Dieser bedeutende Unterschied wird in narrativer Umsetzung in Corinne ou l’Italie in der Weise sichtbar, dass die thematische Zielsetzung nicht der Verifikation einer These zur Welt- und Gesellschaftsdeutung gilt, wie es bei Rousseau der Fall ist, sondern der psychosozialen Exploration individueller Bewusstseinslagen und Befindlichkeiten. Die Funktion ihrer verbalen Landschaftsbilder ist es, intrapsychische Situationen abzubilden bzw. zu reproduzieren, Innenwelt zu visualisieren und verstehbar zu machen. In Corinne ou l'Italie ist die Intention der Autorin also auf „die psychologisch analysierende Darstellung einer tragischen Liebe“ 375 gerichtet, wobei drei Aspekte ihrer Erzählkunst sichtbar werden: 1. Das Bemühen um charakterliche Tiefenschärfe ihrer Figuren; 2. Die Betonung von Individualität als Kern der narrativen Inszenierung; 3. Die Visualisierung innenweltlicher Konflikte durch einen ‚externalisierten Seelenraum’ als erzähltechnisch und literaturpsychologisch bedeutsamen historischen Schritt in die Moderne. Der intellektuelle und auch künstlerische Ehrgeiz Frau von Staëls reichte weit über die Grenzen des Schreibens eines Liebesromans hinaus: “[…] what Mme de Staël puts at issue is no simple amour but the 375 Kindlers Neues Literaturlexikon, München: Kindler Verlag, 1991, Bd. XV, 862. 128 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE total transformation of cultural attitudes (and perhaps civilization itself) by the the romance of the woman of genius“. 376 3.1.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.1.2.1 Terracina bei Neapel: Arkadische Landschaft als Ort der Sehnsucht und der Hoffnung Die erste detaillierte Landschaftsdarstellung findet sich ziemlich genau in der Mitte des Romans. Es handelt sich um die Beschreibung der Gegend nördlich von Neapel, um das am Golf von Gaëta gelegene Terracina in der Provinz Latium, das antike Anxur zur Zeit der Volsker bis zur römischen Eroberung 329 v.Chr. Der eigentliche Süden sei nicht Rom, sondern beginne hier, so der Text, und «c’est là qu'il accueille les voyageurs avec toute sa magnificence».(CI, 285) Der Grund dafür sei nicht die reizvolle Lage, sondern Reichtum und Fremdheit der Vegetation und ihre Wirkungsmacht: Toute la montagne qui domine Terracine est couverte d’orangers et de citronniers qui embaument l’air d’une manière délicieuse. Rien ne ressemble, dans nos climats, au parfum méridional des citronniers en pleine terre: il produit sur l’imagination presque le même effet qu’une musique mélodieuse; il donne une disposition poétique, excite le talent et l’enivre de la nature. Les aloës, les cactus à larges feuilles que vous rencontrez à chaque pas, ont une physiognomie particulière, qui rappelle ce que l’on sait des redoutables productions de l’Afrique. Ces plantes causent une sorte d’effroi: elles ont l'air d’appartenir à une nature violente et dominatrice. Tout l’aspect du pays est étranger: on se sent dans un autre monde, dans un monde qu'on n’a connu que par les descriptions des poètes de l’antiquité, qui ont tout à la fois, dans leurs peintures, tant d’imagination et d’exactitude.(CI, 286) Der die Stadt beherrschende Berg erscheint wie mit Orangen- und Zitronenbäumen bedeckt, deren Duft den Besucher inspiriert, ihm regelrecht den Weg zur Kunst öffnet und ihn für eine vermenschlichte Natur begeistert. Die fremdartigen Aloepflanzen aus den Gebirgen und Steppen Afrikas mit ihren Dornenspitzen und oft Furcht einflößenden Gestalt zeugen zwar von einer gewalttätig-herrschsüchtigen Natur, so der Text, aber narrativ vervollständigen sie durch Kontrastierung die Reichhaltigkeit dieser dem Menschen und seiner Kultur gegenüberstehenden Außenwelt. Dass sich der Eindruck der Fremdartigkeit der Landschaft in fantasievollen und zugleich präzisen ‚Gemälden’ der antiken Autoren wiederfinde, ist erster 376 Ellen Moers, Performing Heroinism: The Myth of Corinne, in: Buckley, The Worlds of Victorian Fiction, 328f. 129 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Hinweis darauf, dass diese Außenweltschilderung gezielt an Bilder konventionalisierter Raumwahrnehmung zwecks narrativer Funktionalisierung anknüpft. Erzählerische Absicht ist es, den Eindruck eines Elysiums hervorzurufen, wozu die Fortführung der Beschreibung nachhaltig beiträgt: En entrant à Terracine, les enfants jetèrent dans la voiture de Corinne une immense quantité de fleurs qu’ils cueillaient au bord du chemin, qu’ils allaient chercher sur la montagne, et qu’ils répandaient au hasard, tant ils se confiaient dans la prodigalité de la nature! Les chariots qui rapportaient la moisson des champs étaient ornés tous les jours avec des guirlandes de roses, et quelquefois les enfants entouraient leur coupe de fleurs: car l’imagination du peuple même devient poétique sous un beau ciel.(CI, 286) Mit Rosen geschmückte Erntewagen und lebhafte Kinder, die im Vertrauen auf den Überfluss der Natur, Unmengen Blumen in Corinnes Wagen werfen, sich damit die Haare bekränzen und sie wahllos auf den Wegen verstreuen, intensivieren den Eindruck eines Wunschortes in einer Wunschzeit durch Assoziation mit mythologischen Gefilden der Glückseligen. Wenn gar die heimkehrenden Bauern und ihre Kinder als ‚Volk’ ihren Sinn für Poesie entdecken, ist dem Idealbild eines friedvollen Arkadiens und einer perfekten Idylle nichts hinzuzufügen. Die Meeresbrandung allerdings scheint die Harmonie zu stören: On voyait, on entendait à côté de ces riants tableaux, la mer dont les vagues se brisaient avec fureur. Ce n’était point l’orage qui l’agitait, mais les rochers, obstacle habituel, qui s’opposait à ses flots, et dont sa grandeur était irritée: E non udite ancor come risuona Il roco ed alto fremito marino? Et n’entendez-vous pas encore comme retentit le frémissement rauque et profond de la mer? Ce mouvement sans but, cette force sans but qui se renouvelle pendant l’éternité, sans que nous puissions connaître ni sa cause ni sa fin, nous attire sur le rivage où ce grand spectacle s’offre à nos regards; et l’on éprouve comme un besoin mêlé de terreur de s’approcher des vagues et d’étourdir sa pensée par leur tumulte.(CI 286f.) Mit ungestümer Kraft und lärmendem Getöse, seit ewigen Zeiten und ohne erkennbares Ziel, breche sich das Meer an den Felsen und liefere dem Zuschauer ein grandioses Schauspiel, erfülle ihn mit Schrecken und betäube seine Sinne. Produziert der Hinweis auf «le frémissement rauque et profond» zunächst die befremdliche Konnotation mit einem gewaltigen Tier in freier Wildbahn, etwa einem Nashorn, dann wird, an der Oberfläche des Haupttextes, die vorgetragene Idee, dass ‚man’ ein mit Schrecken vermengtes Bedürfnis habe, sich den Wogen zu nähern und seine Gedanken betäuben zu lassen, vollends zum Rätsel angesichts der zuvor geschilderten Idylle; es wird hier ein Subtext erkennbar, der zur Deutung aufruft. 130 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Zuvor ist es angebracht, das Landschaftsbild von Terracina in seiner piktoralen Gestaltung zu komplettieren, wodurch die Meeresszene in einen übergreifenden Kontext eingerückt wird: Vers le soir tout se calma.[...] Les rossignols venaient se reposer plus volontiers sur les arbustes qui portaient les roses. Ainsi les chants les plus purs se réunissaient aux odeurs les plus suaves; tous les charmes de la nature s’attiraient mutuellement [...]. Pendant la nuit, des mouches luisantes se montraient dans les airs; on eût dit que la montagne étincelait, et que la terre brûlante laissait échapper quelqes unes de ses flammes. Ces mouches volaient à travers les arbres, se reposaient quelquefois sur les feuilles, et le vent balançait ces petites étoiles et variait de mille manières leurs lumières incertaines. Le sable aussi contenait un grand nombre de petites pierres ferrugineuses qui brillaient de toutes parts; c’était la terre de feu conservant encore dans son sein les traces du soleil, dont les derniers rayons venaient de l’échauffer.(CI, 287f.) Vorherrschend ist also, als der Abend hereinbricht, wiederum der Eindruck von Friedfertigkeit und Harmonie. Nachtigallen ruhen sich auf Rosenbüschen aus, Glühwürmchen wirken im milden Nachtwind wie kleine Sterne in den Blättern der Bäume und bringen aus der Ferne den Berg zum Funkeln. Selbst Steine, da sie eisenhaltig sind, beginnen in der Dunkelheit zu leuchten, indem sie, feuriger Erde gleich, die letzten Sonnenstrahlen einzufangen scheinen. Kennzeichnend für das Naturbild insgesamt ist einerseits die Vielfalt, andererseits die Gegensätzlichkeit der Sinneseindrücke. Auffallend ist der Reichtum des Farbenspiels, das von pastellfarbenen Blumen wie den Rosen, dem dunklen Grün der Kakteen und den tiefen Braun- und Blautönen der Felsen und des Meeres bis zum lichten Gelb der nächtlichen Insekten und dem feurigen Rot der Erde reicht. Der Farbenreichtum ist nicht statisch, sondern gewinnt durch den Einbezug vieler Bewegungsabläufe - heimkehrende Erntewagen, spielende Kinder, tosendes Meer, schwärmende Insekten - an Intensität, Dynamik und Ausdruckskraft, ein geradezu verführerisches Szenarium für ein ’pictorial reading’, das freilich, worauf Doris Y. Kadish zu Recht verwies, nur eine oberflächliche Bedeutungsschicht freilegen kann (vgl. 1.4.2). Dies gilt auch auf auditiver Ebene für die Wellen, die sich an den Felsen brechen: Wie Gewitterdonner und begleitet vom dunklen, tiefen Meeresgrollen stürmen sie Angst einflößend zur Küste. In offenkundigem Kontrast dazu stehen die Nachtigallen zur Abendstunde mit ihren «chants les plus purs»(CI, 287), womit sowohl die große Bandbreite der hörbaren Eindrücke als auch ihre Unterschiedlichkeit hervortritt. An drei Stellen wird auf olfaktische Wahrnehmung der Natur Bezug genommen, wobei «parfums» und den «odeurs les plus suaves»(CI, 287) dieselbe Wirkung auf die Fantasie wie melodiöser Musik zugeschrieben wird: Sie betören die 131 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Sinne. Selbst der Tastsinn ist in das Naturbild einbezogen: Die weiche Erde Ausoniens sei ungeeignet für den Bau von Burgen gewesen, mit denen die Länder des Nordens wie mit Igelstacheln übersät seien, und Corinne und Oswald haben das Gefühl, so der Text, in dieser Landschaft bei jedem Schritt auf einem Blumenteppich mit neuem Blütenduft zu gehen. Es sind ausgesprochen gegensätzliche emotionale Reaktionen, die als Wirkung der Landschaft auf den Betrachter konstatiert werden: Frohsinn und Angst, Schaffenslust und Schrecken, Glücksempfinden und Melancholie, aber gerade dem auch zu Grunde liegenden Kontrast von Ruhe und Bewegung wird eine problemlösende Kraft zugesprochen: «Il y a tout à la fois dans cette nature une vie et un repos qui satisfait en entier les voeux divers de l'existence».(CI, 288) ‚Die unterschiedlichen Wünsche des Begehrens und Verlangens im Leben gänzlich zufriedenzustellen’: Damit ist die Grundstimmung der Textstelle und des ganzen Romans in seiner Konfliktkonstellation bezeichnet. Es geht um ein Spannungsverhältnis in der seelischen Verfasstheit der beiden Protagonisten und um die Suche nach kompensatorischer Ergänzung, um auf diese Weise zu ganzheitlicher Sinnfindung zu gelangen. Corinne, künstlerisch hochbegabt, geistig aufgeschlossen und agil, findet in einem kongenialen Freundeskreis in Rom den adäquaten Rückhalt, macht das Kapitol mit einer ‚Improvisation’, einem vor großem Publikum vorgetragenen Lobgesang unter dem Titel «La Gloire et le Bonheur de l' Italie», zur Bühne ihrer öffentlichen Selbstinszenierung. Für ihre Freunde wie für die römische Bevölkerung verkörpert sie mit ihrer Begeisterung und Begabung, ihrer extrovertierten Lebensweise und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fremden das Bild des Landes, das Kunst und Natur, aber auch volksnahe Frömmigkeit und liebenswerten Charme, miteinander verbindet: «[…] regardez-la, c'est l'image de notre belle Italie»(CI, 57), sagt Prinz Castel-Forte, der treueste Freund bis in die Stunde ihres Todes. Gleichwohl fühlt sich Corinne, die wie ihre antike Namenspatronin gefeierte und mit allen Vorzügen ausgestattete junge italienische Dichterin, zu Oswald hingezogen, aber von Anfang an stellt sich dessen rigides, geradezu alttestamentarisch anmutendes Pflichtverständnis gegenüber dem letzten Willen seines verstorbenen Vaters und gegenüber dem gesellschaftlich-moralischen Wertekodex seines Landes als gewaltiges Hindernis in den Weg einer Verbindung. Andererseits betritt Oswald Lord Nelvil bei der Begegnung mit Corinne in Rom eine völlig neue Welt sinnenhaften Erlebens, in der Kunst, Geschichte, Natur und Religion in Einklang miteinander stehen. Auch nach der späteren Heirat mit Lucile Edgermont wird Oswald die Erinnerung an diese andere Welt kultureller Aufgeschlossenheit und gelingender Formen der Zwischenmenschlichkeit nicht mehr loslassen. Corinne jedoch wird den Versuch, den Spannungsbogen zwischen geistig-kultureller Vitalität und gesellschaftlich-moralischen Zwän- 132 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE gen in sich zu ertragen, mit dem Verlust ihrer Kreativität und schließlich mit ihrem Tod bezahlen. Die Signale der Landschaft um Terracina deuten antizipatorisch auf die Unvereinbarkeit zweier kulturell unterschiedlich codierter Welten hin. Vorherrschend ist zunächst der Eindruck des Überflusses, «la surabondance des sensations»(CI, 288), «la prodigalité de la nature»(CI, 286): Die beladenen, mit Rosen geschmückten Erntewagen, die riesigen Blumenmengen in Corinnes Gefährt, die tausendfach variierenden Lichter der Glühwürmchen und die unzähligen, im Sand funkelnden Steine sind Zeugnis dafür, dass diese Natur dem Menschen freundlich gesinnt ist, dass sie ihm persönlich Gutes tun will. Man spürt «[…] une si grande amitié de la nature pour vous que rien n’altère les sensations agréables qu’elle vous cause».(CI, 287) Es stellt sich in der milden Luft ein Gefühl vollkommenen Wohlbefindens ein, «un bien-être si parfait»(CI, 287), das sich in Worten nicht mehr fassen lässt: «[..] ce qui est surtout ravissant et inexprimable, c’est la douceur de l’air qu’on respire».(CI, 287) Die mehrfach verwendeten Vokabeln ’délices’ und ’douceurs’ umschreiben den Zustand der Verzauberung und der trunkenen Freude, in dem selbst die einfachen Menschen ihre kreative Fantasie entdecken, «[…] car l'imagination du peuple même devient poétique».(CI, 286) Es sind dies elysische Bilder der Glückseligkeit, «ces riants tableaux»(CI, 286), in denen die Gefühle der Menschen nach außen strömen, anstatt sich in ihrem Innern aufzustauen. «On se sent dans un autre monde»(CI, 286), in einer Welt ungetrübten Glücks, in der nationale Vorurteile und gesellschaftliche Zwänge, religiöse Vorgaben und kulturelle Schranken bedeutungslos sind. Diese Welt schlägt auch Oswald in ihren Bann und veranlasst ihn zu einer, für seine Verhältnisse erstaunlichen Reaktion: Er drückt Corinne an seine Brust. Diese ‚spontane’ Geste erhellt als symbolische Handlung die Funktion des Naturbildes: Es geht um ein Überwinden von Gegensätzen, die sowohl innerhalb der Individuen als auch zwischen ihnen bestehen. Das konflikthafte Verhältnis von Bewegung und Ruhe, Aufbruch und Beharren, geistiger Agilität und Immobilität kennzeichnet die kontrastive Persönlichkeitsstruktur von Corinne und von Oswald. Ausschlaggebend für ihre außenweltliche Situation ist aber weniger ihre Individualität als ihre Einbindung: Sie sind Produkte ihrer jeweiligen Gesellschaft und deren soziohistorischen Traditionen. Die zentrale Frage des Romans ist, ob es ein Aufbrechen dieser Konditionierung geben kann. Das Landschaftsbild von Terracina zeigt, dass, anders als Corinne es in England erlebte, ein positives Verhältnis zwischen Natur und dem Menschen möglich ist, wenn eine einseitige Fixierung nur auf die Ansprüche der Gesellschaft unterbleibt: «Tous les rapports de l’homme dans nos climats [dans le nord] sont avec la société. La nature, dans le pays chauds, met en relation avec les objets extérieurs [...]».(CI, 287) Trotz der kontrastiven Auffassung von Natur und Landschaft in Italien und England besteht in der Idyl- 133 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG le Terracinas, jenseits der vordergründigen Differenz, die Vision einer erhofften Synthese als Zukunftsentwurf. Die gefahrvolle Anreise durch die Pontinischen Sümpfe, bei der Oswald die Pferde lenkt, weckt Assoziationen an Christians Weg durch den ’Slough of Despond’ in Bunyans Pilgrim’s Progress oder auch an Dantes Gang durch die Höllenkreise zum ‚Berg der Läuterung’ in der Divina Commedia, bevor die ’Celestial City’ bzw. das Paradies erreicht sind, so wie Terracina, «cette campagne heureuse [...] séparée du reste de l’Europe».(CI, 285) Die Anspielung auf die Insel der Glückseligen, das Elysium und das Paradies ist offenkundiger Ausdruck von Sehnsucht und Hoffnung: Terracina ist der in ein konkretes Naturbild gegossene Ort eines endzeitlichen Glückszustandes (vgl. 1.2.3) - womit die erhoffte Synthese aber endgültig als Utopie entlarvt wird. An diesem Punkt ist der Umschlag des Naturbildes mit seiner traditionellen Emblematik ins Fantastische und das Zutagetreten einer latenten Sinnschicht anzusetzen. Das Landschaftsbild als gespiegelte Wahrnehmung der Protagonistin kann in seiner nahe liegenden Symbolik für gelingende Harmonie als Wunschprojektion gelesen werden. Die vollen Erntewagen stehen für Überfluss, die Blumengirlanden für erwachte Liebe, die Nachtigallen für Treue, die übermütigen Kinder für Spontaneität und Natürlichkeit, die Glühwürmchen für Schönheit und Friedfertigkeit in dieser Welt. Es hat den Anschein, als ob die Natur ihr Füllhorn über der Landschaft ausgegossen hätte. Wenn das Motiv des Überflusses symbolisch auf das ’deficiency hazard’ und einen tatsächlichen oder befürchteten Mangel hinweist (vgl. 1.3.4, Fußnote 165), dann handelt es sich auf einer latenten Sinnebene um massive Kritik an der sterilen Kunstfeindlichkeit der angelsächsichen Welt mit ihrem seelenlosem Arbeitsethos, während in Terracina selbst Bauern zu Poeten werden. Wenn schließlich der Berg funkelt, die Erde brennt und die Steine leuchten, dann nimmt das Naturbild eine unirdisch-traumhafte Qualität an, die es in den Bereich des Fantastischen rückt. Die dargestellte Welt aller aufgelösten Gegensätze in arkadischem Glück und friedvoller Harmonie hat den Charakter eines Traumgebildes, einer Vision. Der Eindruck des Utopisch-Visionären wird durch die befremdlich distanzierte Haltung der Figuren verstärkt, die keinerlei Reaktion auf das Gesehene erkennen lassen. Durchgehend gebraucht die Erzählinstanz das indefinite Pronomen in der dritten Person Singular, um die für Corinnes und Oswalds Zukunft so bedeutsamen Erlebnisse mit Blick auf ein gemeinsames Lebensglück zu formulieren: «on dirait», «on pressent», «on sait», «on se sent», aber jedes kommunikative Eingehen auf das Wahrgenommene unterbleibt: Das Landschaftsbild von Terracina ist erzählstrategisch als utopisches Traumbild angelegt. In der gegensätzlich konzeptualisierten Idee einer Lebensgestaltung entweder im Norden oder im Süden sieht sich der Erzähler in die des Nordens eingefügt, wo die Gesellschaft den Menschen umfassend einordne, während die Natur im Süden ihn für die Welt öffne, womit er ganz 134 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE offen sympathisiert. Italiens Landschaft hat für ihn ästhetisch wie symbolisch Leitbildcharakter im Gegensatz zur Leere englisch-schottischer Naturphysiognomie. Dabei wird der Leser in einen fiktiven Dialog einbezogen - «nous puissions connaître», «nos regards» - und angesprochen - «votre attention», «vous éprouvez», «pour vous» -, doch zu den Figuren, von denen nur erzählt wird, dass sie ankamen und dann spazieren gingen, wird eine auffallend große Distanz gewahrt. Es kommt nicht zu einem Sehen der Realität der aktuellen Szenerie seitens der beiden Personen, und es gibt keinen Akt der leiblichen Präsenz des Auges im Sinne Merleau-Pontys, keine Teilhabe an dem gerade in dieser Landschaft so üppigen ‚Leib der Welt’ (vgl. 1.3.4): Derjenige, der sieht, ist allein der Erzähler - aus ferner Warte. Diese beschriebene Landschaft ist keine visualisierte intrapsychische Konfliktdarstellung, sondern idealtypische Glücks- und Harmonieprojektion nach literarischem Vorbild der Antike, ein vom Text direkt angesprochener Sachverhalt, wenn die Rede ist von den «descriptions des poètes de l’antiquité». Es geht nicht um Darstellung individuellen Erlebens in realer Szenerie, sondern um die Illustration soziokultureller Differenz innerhalb Europas an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Produktionsgenetisch ist das Landschaftsbild einerseits dem Klassizismus verhaftet, wie die Textverweise auf die Antike belegen: Geschichte, römisches Erbe, klassische Literatur und Kunst sind die Fixpunkte, zwischen denen das Landschaftsbild angesiedelt ist. In dieser Eigenschaft fungiert es als Image und ‚literarische Form der Wirklichkeitserkenntnis’ (Thomas Bleicher). Andererseits stellt sich erzählstrategisch, gerade aufgrund der Klischeehaftigkeit der Bildinhalte, die erhoffte Symbiose der verschiedenartigen soziokulturellen Umwelten, verkörpert in Corinne und Oswald, als Aporie dar. Es kommt nicht zum erwarteten Heiratsantrag Oswalds, und «Corinne ne pensait point aux dangers qui auraient pu l’alarmer».(CI, 288) Mit dem seit der Antike vorgegebenen Symbolgehalt manifestiert sich die idealisierte Landschaft von Terracina und durch sie die Sehnsucht und Hoffnung der Protagonistin nach Zusammenschluss als Konstrukt einer Illusion. Aus psychoanalytischer Sicht wird dieser Eindruck verstärkt, wenn die Brandung vermenschlicht und mit Emotionalität ausgestattet wird: Sie stürze sich auf die Küste «avec fureur», «sa grandeur était irritée»(CI, 288f.), erhält Züge jenseits rationaler Kontrolle: «ce mouvement sans but, cette force sans objet qui se renouvelle pendant l’éternité».(CI, 287) Diese ungestüme Wellenbewegung ruft Assoziationen an biorhythmische Vorgänge im menschlichen Körper auf, die rational nicht steuerbar sind. Nach dem Argumentationsduktus der Textoberfläche von der friedvollen Ideallandschaft müsste eigentlich ein Erschrecken und Abwehr die Folge sein. Erstaunlicherweise berichtet aber der Erzähler, dass ‚wir’, also auch die Leser, von dieser Form ursprünglicher Gewalt angezogen seien - «Ce mouvement [...] nous attire», dass wir sogar ein ambivalentes Bedürfnis danach 135 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG verspürten - «on éprouve comme un besoin mêlé de terreur» - , um dann, in kaum verhohlener Absicht, die verstandesmäßige Kontrolle über unsere Sinne zu verlieren - «étourdir sa pensée»(CI, 287). Was hier im Subtext angedeutet wird, weist palimpsestisch auf eine sichtbar werdende Urschrift über die Natürlichkeit von Sexualität hin. Die verschlüsselte Botschaft an die Liebenden ist, in dieser lauen Sommernacht repressive Schamschranken zu überwinden, den Gordischen Knoten der Vorurteile und Rücksichtnahmen, der sie gefangen hält, zu zerschlagen und sexuell spontan zu agieren. Oswald hätte, gerade im psychosozialen Kontext der Epoche mit ihren männerdominanten Verhaltensvorgaben, die Initiative ergreifen müssen, um sich und Corinne zum psychischen - und physischen - Durchbruch zu verhelfen. Aber alles, wozu ihn seine codierte Welt und verkrampfte Emotionalität befähigen, ist die laue Reaktion der bereits erwähnten Umarmung. Ein Heiratsantrag erfolgt nicht, aber anstatt nun die Gefahr dieses vertanen Moments zu begreifen, ist Corinne in grenzenlos naiver Verliebtheit bereit, Oswald diese Unterlassung als Triumph über sich selbst auszulegen, der ihr sogar, wie sie meint, zur Ehre gereiche: «elle était bien aise qu’il triomphât de lui-même et l’honorât par ce sacrifice».(CI, 288) Diese Textstelle ist antizipatorisch als Hinweis zu deuten, dass Corinne als Opfer unterdrückter Natürlichkeit und neurotischer Affektdisziplinierung zur tragischen Figur werden wird. 3.1.2.2 Am Krater des Vesuvs: Zerstörte Natur als Versinnbildlichung von Gewissensnot und Schuld Die gesamte Handlungskonstellation des Romans verlöre an Spannung und die Darstellung der Motivlagen der beiden Hauptpersonen an Glaubwürdigkeit, wenn dem in der Landschaft von Terracina zum Ausdruck gebrachten Sehnen Corinnes nach umfassender Liebe nicht ein gleich starkes Hindernis auf Seiten Oswalds gegenüberstünde. Anders gesagt: Oswalds Unschlüssigkeit, Corinnes Erwartungen entgegenzukommen und sie durch einen Heiratsantrag zu erfüllen, müsste anderenfalls als grob unsensibles oder dümmlich egoistisches Verhalten gedeutet werden, die ihn in die Rolle eines Banausen oder prinzipienlosen Lebemannes versetzten und damit, aus Sicht der Autorin und der Leser, als ernst zu nehmenden Charakter diskreditierten. Aus Gründen der erzählerischen Plausibilität und mit Blick auf das Grundanliegen des Romans, Möglichkeiten der Entfaltung von Individualität aufzuzeigen, ist es erforderlich, ein psychologisch fundiertes Gleichgewicht der Motivlagen in beiden Figuren herzustellen: Im Falle Oswalds sind dies Schuldgefühle und eine sich daraus ergebende Gewissensnot. Die Ursache dafür war ein Frankreichaufenthalt mit der höchst unerfreulichen Beziehung zu Madame d’Arbigny, die mit Tricks und Lü- 136 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE gen versuchte, Oswalds Frau zu werden. Diese Frau, so gesteht er Corinne, habe ihn für immer die Ruhe seines Herzens und Gewissens gekostet. Schlimmer aber noch war, dass er nach seiner Rückkehr aus Frankreich vom Tod seines Vaters erfährt, der in tiefster Besorgnis um den Ansehensverlust der Familie verstarb. Ein Brief des Toten an seinen Sohn mit moralischen Vorwürfen und Aufrufen zur Pflichterfüllung tut ein Übriges, neben Trauer tiefste Schuldgefühle in Oswald entstehen zu lassen, die darin gipfeln, möglicherweise gar für den vorzeitigen Tod des alten Herrn verantwortlich zu sein. Voller Verzweiflung noch bei der nachträglichen Schilderung der Ereignisse wünscht er, die Erde möge sich öffnen und ihn im Totenreich aufnehmen: «Corinne! Corinne! Rassurez votre malheureux ami, ou laissez-moi couché sur cette terre, qui s'entr’ouvrira peut-être à mes cris, et me laissera pénétrer jusqu’au séjour des morts».(CI, 336) Nach diesem Schlusssatz in Kapitel XII folgt das Naturbild des Vesuvgipfels in XIII. Beim Aufstieg betreten Corinne und Oswald ein Gebiet, in dem die Natur keine Beziehung mehr zum Menschen habe, seine Herrschaft und Tyrannei über sie zu Ende sei, denn sie sei tot, zur Strecke gebracht durch eine rücksichtslos grausame Gegnerin, die Lava: [...] la nature n’est plus dans ces lieux en relation avec l’homme: Il ne peut plus s’en croire le dominateur: elle échappe à son tyran par la mort. Le feu du torrent est d’une couleur funèbre; néanmoins quand il brûle les vignes et les arbres, on en voit sortir une flamme claire et brillante, mais la lave même est sombre, tel qu’on se présente un fleuve de l’enfer et elle roule lentement comme un sable noir de jour et rouge la nuit. On entend, quand elle approche, un petit bruit d’étincelles qui fait d’autant plus de peur qu’il est léger, et que la ruse semble se joindre à la force: le tigre royal arrive ainsi secrètement à pas comptés. Cette lave avance sans jamais se hâter et sans perdre un instant; si elle rencontre un mur élevé, un édifice quelconque qui s’oppose à son passage, elle s’arrête, elle amoncèle devant l’obstacle ses torrents noirs et bitumineux, et l’ensevelit enfin sous ses vagues brûlantes.[...] Le vent se fait entendre et se fait voir par des tourbillons de flamme dans le gouffre d’où sort la lave. On a peur de ce qui se passe au sein de la terre, et l’on sent que d’étranges fureurs la font trembler sous nos pas.(CI, 337) Der zentrale Gegenstand der Beschreibung ist die aus dem Kraterschlund hervorquillende und den Berg hinabgleitende Lava, deren Phänomenalität der Text in einem beeindruckend-dramatischen verbalen Bild aus Farbeindrücken und Bewegungsabläufen bündelt. Diese Lava, dieser ‚Höllenfluss’, der sich in irreal-grotesker Farbigkeit tagsüber als schwarzer, nachts als roter Strom seinen Weg bahnt, wird nicht als Teil der Natur empfunden und hat nichts mit ihr zu tun, denn sie kommt aus den Tiefen des Erdinnern, und sie bewegt sich ohne jede Rücksicht auf Pflanzen, Tiere oder Menschen, unbarmherzig, gnadenlos, zerstörerisch. Der Ursprung der Lava liegt tief im Inneren des Kraters, aus dem sie in Wirbeln aus Flammen 137 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG hervorströmt. Verursacht durch Teer und Schwefel bietet sich den Augen ein absonderliches Schauspiel farblicher Misstöne: Ein fahles Grün, ein braunes Gelb, ein düsteres Rot «[…] forment comme une dissonance pour les yeux, et tourmentent la vue, comme l’ouïe serait déchirée par ces sons aigus que faisaient entendre les sorcières quand elles appelaient, de nuit, la lune sur terre».(CI, 338) Dieser Anblick liegt jenseits dem bekannter Erfahrungsräume - im Reich des Bösen: «les couleurs ont quelque chose d'infernal»(CI, 338), wie nicht nur visuelle, sondern auch fiktive auditive Eindrücke belegen: Glaubt doch der Besucher der Szenerie, die stechend schrillen Schreie der Hexen zu hören, wenn sie des Nachts den Mond auf die Erde rufen. Als narrativ einzig brauchbarer direkter Vergleich zur Charakterisierung der Lava gilt offensichtlich der mit dem auf tödlichem Beutezug befindlichen ebenso listig-verschlagenen wie kraftvoll-unüberwindlichen Königstiger. Heimlich, mit berechnenden Schritten, nähert sich das grausame, gewalttätige Tier todbringend mit scheinbarer Leichtigkeit seinen Opfern, die sich durch langsame Bewegungen getäuscht, oft in trügerischer Hoffnung wiegen, bevor sie für ihren Leichtsinn bestraft werden. Es wäre verfehlt, dem Text mit seinem Bild des jagenden Tigers in nächtlicher Wildnis eine modernistische Naturvorstellung intakt-animalischer Ursprünglichkeit unterlegen zu wollen, denn dieser Tiger bringt den Tod, und die Wildnis ist in Europas konventionalisierter Raumwahrnehmung seit altersher symbolischer Ort des Unheimlichen und Bedrohlichen, des Verwerflichen und Bösen (vgl. 1.2.3). An diesem Punkt wird erstmalig deutlich, dass der manifesten Oberfläche der Landschaftsbeschreibung über ausströmende Lava und eine zerschundene Natur auf latenter Bedeutungsebene eine symbolische Sinnschicht eingeschrieben ist, die die verheerenden Verwüstungen des destruktiven Ausflusses von Schuldgefühlen aus einem unheimlichen Zentrum des ‚seelischen Tiefengeschehens’ visualisiert. Diese äußere Kraterlandschaft ist Reflektor und Spiegelfläche deprimierender Verwüstungen in der Psycholandschaft des Helden, der mit geradezu unglaublicher emotionaler Dürftigkeit, massiv unterdrückter Spontaneität und manipulativ gestörter Natürlichkeit einer der begehrenswertesten Frauen Italiens gegenübertritt, die ihn überdies bis an die Grenze der Selbstaufopferung liebt, ohne dass er die Gelegenheit zur Erwiderung ihrer Liebe ergreift. In der betörenden Sommernacht von Terracina, in der arkadischen Idylle einer traumhaft schönen Natur, verpasst er als erwünschter Liebhaber sämtliche Chancen zum Vollzug eines Liebesaktes, den ihm eine wohl gesonnene Natur in Gestalt der rhythmischen Bewegungen der Meereswellen visuell und auditiv geradezu suggestiv beschwörend nahelegt. In schemenhafter Symbolik wird in der Landschaftsschilderung der Grund für das klägliche Versagen Oswalds sichtbar: Der tote Vater des Helden mit seinem oppressiven Familien-, Traditions- und Pflichtverständnis ist Ursache und Ausgangspunkt der Schuldgefühle des Sohnes, womit der Text die 138 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE englisch-schottische Lebenswelt mit ihrer lückenlosen Gängelung und rücksichtslosen Unterdrückung des Individuums in die Nähe des physisch Unheimlichen und moralisch Verwerflichen und Bösen rückt. Faszination und Magie des Ortes liegen darin, dass er in der Erinnerung lebhafteste Bilder der Hölle als Verkörperung des Bösen aufruft: «tout ce qui entoure le volcan rappelle l’enfer, et les descriptions des poètes sont sans doute empruntées de ces lieux».(CI, 339 Hier begreife man, so der Text, wie die Menschen beginnen konnten, an das Böse und Unheilvolle zu glauben, das die Absichten der Schöpfung durchkreuze und die Natur wie auch den Menschen zu Grausamkeit befähige. Diese Landschaft sei Wüste, «un désert», was der Erzähler am Romananfang auch von der baumlosen Campagna sagt, aber dort erneuere die Kraft der Vegetation die Pflanzen (vgl. CI, 130), wie überhaupt in Italien die Natur den Menschen inspiriere, da sie enger mit ihm in Beziehung stehe als anderswo und der Schöpfer sich ihrer als Sprache bediene: «[…] la nature en Italie fait plus rêver que partout ailleurs. On dirait qu’elle est ici plus en relation avec l’homme, et que le créateur s’en sert comme d’un langage entre la créature et lui».(CI, 141) Am Krater des Vesuvs aber scheint er seine Hand von der Natur zurückgezogen zu haben, und der Mensch in seiner Anmaßung ihr gegenüber als Herrscher und Tyrann ist seiner Plattform beraubt. Nicht er verbreitet dieses Mal Furcht, sondern diese Landschaft erfüllt ihn mit Schrecken und Angst - und mit albtraumhaften Assoziationen, die sein Inneres offenlegen. Dieser urweltliche Ort visualisiert die archetypische Dichotomie der menschlichen Existenz in Gestalt von Olymp, Himmel und Paradies bzw. Hades, Hölle und Fegefeuer. In Übereinstimmung mit religiösdogmatischen Denkvorgaben des 18. Jahrhunderts (und Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie: vgl. 1.3.2) folgt der Text dem Schema einer grobrastigen Zweiteilung der menschlichen Existenz nach manichäischen Begriffsoppositionen: «ciel», «bonté», «Providence», «céleste regard», «divinité», «le souflle bienfaisant du créateur» im Gegensatz zu «enfer», «infernal», «génie malfaisant», «bords infernaux», «étranges fureurs». Differenziert werden die Gefühlsreaktionen bei den Gedanken an das Reich des Bösen benannt: «on a peur», «cet aspect d’enfer tout affreux», «effroi», «supplices», «je ne sens que du trouble et de l'effroi», «souffrance». Farbsymbolik intensiviert die Kluft zwischen Gut und Böse, wobei ‚düster’ und ‚schwarz’ das Unheilvolle, Böse und Todbringende umschreiben. Der Lavastrom ist tagsüber schwarz und selbst das Rot im Krater ist dunkel wie auch die Nacht, in der Hexen ihr Unwesen treiben. Die Farbdissonanzen an diesem Ort und der durch sie verursachte physische Schmerz sind Hinweis auf die Störung einer von einer transzendentalen Macht eingerichteten Harmonie. Eine gottgefällige Ordnung ist in dieser Landschaft aus den Fugen, und Corinne und Oswald erleben den Vulkanausbruch nicht als ungewöhnliches Naturschauspiel, sondern als Zeichen einer tief reichenden kosmischen Störung (vgl. die Reaktionen von Goethe 139 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Vater u. Sohn in 2.1.1): Der symbolische Bezug der gestörten äußeren Ordnung führt unmissverständlich zur gestörten inneren Ordnung in der Psyche des Helden mit seinen auferlegten Schuldgefühlen, zu seiner versehrten Seelenlandschaft mit der toten Vegetation abgestorbener Gefühle, die ihn hindern, ein natürliches Beziehungsgeflecht zu der jungen Frau aus Italien aufzubauen und überhaupt Lebensfreude zu empfinden. Narratives Ziel des Textes ist es, mit Hilfe des Naturbildes dem Eindruck schuldhaften Fehlverhaltens Oswalds in der Idylle von Terracina gegenzusteuern und seine Statur als ebenbürtiger Partner Corinnes aufrechtzuerhalten. Einen vetieften Eindruck vom Ausmaß psychischer Schäden durch Gewissensqualen gibt Oswalds Frage beim symbolträchtigen Blick in den brodelnden Vulkanschlund, ob denn der Todesengel von hier seinen Flug aufnehme. Was in dieser Formulierung anklingt, ist der Gedanke der Strafbarkeit seines Handelns gegenüber seinem Vater. Die Vorstellung vom Todesengel als Vollstrecker göttlicher Beschlüsse impliziert, dass es Oswald sein könnte, der die göttliche Ordnung in verwerflicher Weise gebrochen hat. Dieser von ihm selbst geäußerte Gedanke ist Indiz quälender moralischer Selbstverstrickung. Im Neuen Testament ist der Erzengel Michael Kämpfer gegen das Böse, der Schuldige auch mit dem Schwert vor den göttlichen Richterthron bringt. Tod und Verdammnis könnten die Folge sein, aber schlimmer als die Schrecken der Hölle, so Oswald, seien «les remords du cœur», die moralischen Selbstvorwürfe, die Gewissenspein durch Selbstbeschuldigung. Dieses Leid könnte nur der tote Vater selbst beseitigen, was jedoch unmöglich sei, und so befällt ihn Verzweiflung: «Jamais! Jamais! Ah, Corinne, quelle parole de fer et de feu! »(CI, 338). Die Verwendung von Ellipse, Ausruf, Alliteration und Wiederholung, die markante Rhythmik im Wechsel ein- und zweisilbiger Wörter und vor allem die Metapher in ihrer drastischen Bildhaftigkeit und dem hohen Gefühlsgehalt des Oxymorons (parole-fer), der im zweiten Glied durch Verdoppelung noch intensiviert wird (fer-feu), erzeugen eine ungewöhnlich nachhaltige Wirkung, die den Eindruck von Gewissensnot anschaulich und eindringlich formuliert. Er wird verstärkt durch Oswalds Beschreibung seiner seelischen Pein: «Les supplices inventés par les rêves de la souffrance» (CI, 338). Der Gebrauch des Plurals für die zu erduldende Qual - «supplices» - und die albtraumartigen Zustände - «rêves» als Folge des Leidens betonen Kontinuität wie auch das Krankhaft-Fiebrige und Halluzinatorische in seiner Psyche. In einer Serie von drei Bildern ausweglosen Leidens aus Legenden der Antike erreicht die Darstellung der Seelenqualen ihren Höhepunkt: «la roue qui tourne sans cesse, l’eau qui fuit dès qu’on veut s’en approcher, les pierres qui retombent à mesure qu’on les soulève [...]».(CI, 338) Die Anspielungen auf das sich unbarmherzig drehende Schicksalsrad, auf die Qualen des Tantalos und des Sisyphos unterstreichen die Ausweglosigkeit des Leidens wie auch die Vergeblichkeit des Hoffens auf Erlösung, und doch seien diese 140 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Vergleiche nur schwache Abbilder von Oswalds hoffnungslos-verzweifelter Lage: «[…]une faible image pour exprimer cette terrible pensée, l'impossible et l'irréparable! ».(CI, 338) Im Gegensatz zur Landschaft von Terracina ist der auktoriale Erzählfluss bei der Darstellung des Vesuvkraters durch zwei Beiträge in direkter Rede unterbrochen. Da Dialoge stets auch bekenntnishaften Charakter haben, intensivieren sie die Authentizität des Gesagten. Im ersten Beitrag artikuliert Oswald seinen beschriebenen Seelenzustand, im zweiten bestätigt Corinne den Schreckensgehalt des Ortes und vertieft so seine Symbolik, gibt aber Oswald auch ein vielsagendes Zeichen zum Aufbruch. Ihr Vorschlag zum Weggang aus dieser irrealen Natur und Totenwelt, zu der auch Oswalds Vater gehört, weist ihrem Partner real und symbolisch die Rückkehr zum Leben: «[…] redescendons vers les vivants [...].Ce n’est sûrement pas ici le séjour des bons, allons-nous-en».(CI, 339) Corinne wird zur Wegweiserin und Hoffnungsträgerin für Oswald. Die Botschaft lautet in verschlüsselter Form: Es ist nötig, sich aus dem düsteren Reich der Selbstvorwürfe, deren Ursache ein Toter ist, zu lösen, zumal der Sohn vom toten Vater keinen ‚Freispruch’ für vermeintlich schuldhaftes Verhalten erhalten kann und seine Lage somit irreparabel ist. Corinne reicht ihm sinnbildlich die Hand und lädt ihn zum gemeinsamen Weg fort von diesem Ort des Bösen ein, zumal sie Oswalds Selbstvorwürfe nicht teilt; sie akzeptiert sie als Faktum seiner Problemlage, wertet sie aber als unangemessen, als leztlich falsch. Das Kern des tragischen Konfliktes im Roman ist, dass Oswald diese Botschaft, wie auch ähnliche in anderen Situationen, hört, aber nicht versteht bzw. nicht die Kraft hat, sie in eine Tat, hier in den formellen Lebensbund mit Corinne, umzusetzen. Vom Vesuv steigt er mit ihr in die Ebene hinab, symbolisch in eine Offenheit und Teilhabe am Leben, aber es kommt zu keiner Erklärung über einen gemeinsamen Lebensweg. Kurze Zeit später stellt er vielmehr eine Heirat tatsächlich unter den Vorbehalt, er müsse erst erfahren, ob sein verstorbener Vater, sieben Jahre zuvor, Einwände dagegen gehabt haben könnte: «[…] il faut pourtant que je connaisse les raisons que mon père peut avoir eues pour s’opposer, il y a sept ans, à notre union».(CI, 394) Ohne Führung im wörtlichen und übertragenen Sinne - «[…] leurs guides eux-mêmes s’étaient retirés dans l’éloignement [...]»(CI, 338) - versteht er weder die Zeichen der Landschaft auf dem Berggipfel noch die zu dessen Füßen. Aus der Ebene läuten Glocken herauf - «[…] peut-être célébraientelles la mort, peut-être annonçaient-elles la naissance»(CI, 339) -, die symbolisch ambivalent Oswalds Option für Tod oder Leben, für ein Verharren im Schattenreich der Schuldgefühle oder für eine Befreiung aus diesem Zwangsgeflecht bedeuten. Aber auch in diesem Augenblick begreift er die Hinweise auf Auferstehung, Wiedergeburt und Neubeginn nicht als Zeichen für seine seelische Erneuerung. Argumentativ führt der Text damit 141 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG den Nachweis der Hartnäckigkeit der gesellschaftlich-kulturellen Beharrungskräfte der angelsächsischen Welt, narrativ erstellt er den Spannungsbogen bis zum Romanende. Die Landschaft am Fuß des Vesuvs und auch die auf dem Berggipfel sind symbolische Landschaften. Der Berg ist Symbol des Ausblicks und der Herrschaft wie auch der Nähe zu Himmel oder Hölle; das Feuer ist zerstörende, aber auch die vom Bösen reinigende Kraft; grüne Weinberge und Bäume sind Zeichen von Vegetation und Leben; der Tag und Nacht aktive Lavastrom ist Analogon zur destruktiven Wirkung bohrender Schuldgefühle im seelischen Tiefenbereich; der Kraterboden ist die Visualisierung der Hölle als Ursprung und Ort des Bösen; die Farbdissonanzen der lavaüberfluteten Felsen sind Hinweis auf gestörte Harmonie und Ordnung; die Glocken sind Erinnerung an Tod und Auferstehung; Sprachbilder mit antiken und christlichen Symbolen sind Verdeutlichung innenweltlichen Leids. All diese Bestandteile der Landschaft transzendieren das sichtbare Landschaftsinventar als Objektwelt und weisen auf ein dahinter liegendes, sinnvertiefendes Bezugsgeflecht hin, das der Sichtbarmachung psychischer Tiefenräume sowie dem Aufzeigen unüberbrückbarer Konflikte bei der Begegnung unterschiedlich codierter Kulturräume dient. 3.1.2.3 Der Mont Cenis: Winterliche Bergwelt als Spiegelbild von Herzenskälte und Gefühlserstarrung Der Mont Cenis (ital. Monte Cenisio), neben dem Simplonpass und dem Kleinen und Großen St. Bernhard der wichtigste Übergang der Westalpen, im 18. Jahrhundert Teil des Herzogtums Savoyen und damit des Königreichs Sardinien, fiel 1860 an Frankreich. Ungeachtet der wechselvollen Geschichte ist der Mont Cenis auch zur Zeit Frau von Staëls ein bevorzugtes Eingangstor englischer Reisender nach Italien. Diese letzte Naturschilderung im Roman unter den annähernd zwei Dutzend Landschaftsbildern, die Stadtlandschaften inbegriffen, ist die umfangreichste von allen und somit von besonderer Aussagerelevanz. Sie befindet sich im vorletzten Romanteil, betitelt mit «Le retour d’Oswald en Italie» und beschreibt, wie Oswald, mehrere Jahre nach seiner ersten Italienreise und der Begegnung mit Corinne - dazwischen liegt seine Heirat mit Lucile Edgermont, ein vierjähriger Militäreinsatz in Übersee, die Geburt seiner Tochter Juliette - aus Krankheitsgründen eine zweite Italienreise unternimmt. Aus Rücksichtnahme auf Lucile geht es nicht darum, alte Bande neu zu knüpfen, aber wenn Oswald hätte sterben müssen, dann hätte er es, so der Text, am liebsten in Italien getan, vorausgesetzt, er hätte Corinne nochmals sehen können und sie hätte ihm verziehen (vgl. CI, 547). Der Text befasst sich mit Oswalds psychischer Befindlichkeit einschließlich seiner Erwartungshaltung, insbesondere aber mit der seiner 142 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Frau Lucile, Corinnes um zehn Jahre jüngere Halbschwester, die, ausschließlich in England erzogen, die traditionell konservativen Wertvorstellungen ihrer Gesellschaftsschicht internalisiert hat und geradezu verkörpert. Seit früher Jugend war sie, anfangs bewundernd, dann zunehmend in ein von geheimen Zweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen erfülltes Spannungsverhältnis zu ihrer künstlerisch so aktiven und erfolgreichen älteren Schwester in Italien geraten. Im Verlauf der Überquerung des Mont Cenis wird die junge Familie erstmalig mit der eisigen Bergwelt der Hochalpen konfrontiert: Comme ils avançaient vers le Mont Cenis, toute la nature semblait prendre un caractère plus terrible; la neige tombait en abondance sur la terre déjà couverte de neige: on eût dit qu’on entrait dans l’enfer de glace si bien décrit par le Dante. Toutes les productions de la terre n’offraient plus qu’un aspect monotone, depuis le fond des précipices jusqu’au sommet des montagnes; une même couleur faisait disparaître toutes les variétés de la végétation; les rivières coulaient encore au pied des monts, mais les sapins, devenus tout blancs, se répétaient dans les eaux commes des spectres d’arbres.[...] Ils aperçurent] une file habillés de noir qui portaient un cercueil vers une église. Ces prêtres, les seuls êtres vivants qui parussent au milieu de cette campagne froide et déserte, avaient une marche lente [...]. Le deuil de la nature et de l’homme, de la végétation et de la vie; ces deux couleurs, ce blanc et ce noir, qui seuls frappaient les regards et se faisaient ressortir l’une par l’autre, remplissaient l’âme d’effroi.(CI, 549 f.) Es herrschen völlige Stille und totales Schweigen. Die Farbpalette der visuellen Eindrücke ist auf die Nichtfarben weiß und schwarz reduziert. Das einzige Lebenszeichen ist eine Reihe in schwarze Kutten gekleideter Mönche mit einem Sarg, die sich langsamen Schrittes zu einer Kirche begeben, in Gedanken, so der Text, beim Tod. Die gewohnte Vielfalt der Natur sei von den Schluchten bis zu den Berggipfeln zur Monotonie reduziert, und die verschneiten Tannen spiegelten sich wie Gespenster in stehendem Wasser. Es sei, als ob alles Trauer trüge: Lucile und Oswald betrachten die Naturszenerie in vielsagendem Schweigen. Dieses Schweigen, auffällig im Vergleich zur Landschaft am Vesuvkrater, kennzeichnet nicht nur die eisige Landschaft am Mont Cenis, sondern umschreibt in handfester Symbolik den Augenblickszustand in der Beziehung zwischen Lucile und Oswald und die Situation in ihrer Ehe überhaupt. Lucile, gänzlich reiseunerfahren und von Natur aus ängstlich, hatte dem Italienaufenthalt ohnehin nur in der Annahme zugestimmt, durch ständige Anwesenheit des Kindes und dessen fürsorgliche Betreuung könne sie von Oswald Zeichen wahrer Liebe erhalten. In quälenden, sie psychisch erschöpfenden Selbstzweifeln stellt sie die Richtigkeit ihrer Zustimung zu dieser Reise, aber auch ihr ganzes Verhalten, ständig in Frage. Es sind gerade ihr uneingeschränkt guter Wille und ihr wohlmeinendes Bestreben in allen Dingen, die einerseits zu erhöhter Empfindsam- 143 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG keit, andererseits zu qualvoller Gewissensbefragung führen: Begriffe wie «scrupules», «interrogations secrètes», «inquiétudes de la conscience» (CI, 549) beleuchten einen Zustand tiefster Verunsicherung. Zur Beruhigung ihrer aufgewühlten Innenwelt flüchtet sie sich in lange Gebete. Die faktische Dürftigkeit landschaftlicher Bildinhalte auf der einen Seite und der eindeutige Symbolgehalt der wenigen verbleibenden auf der anderen dient dazu, durch die Beschreibung der Kargheit in der Natur die emotionale Beziehungsarmut zwischen Lucile und Oswald zu illustrieren. Es ist eine melancholische Traurigkeit und scheinbar grundlose Mutlosigkeit, die Lucile beim Erleben dieser Natur wie auch beim Blick auf die Zukunft empfindet. «Quel triste présage! »(CI, 550), so fasst sie in einer Mischung aus Resignation und fatalistischer Schwermut ihr Befinden zusammen. Sie spricht mit leiser Stimme allein vor sich hin, was kennzeichnend für das eheliche Kommunikationsklima ist. Von Oswald, während der Reise ständig in gedanklichem Vergleich mit der beglückenden Begegnung mit Corinne bei seinem ersten Italienaufenthalt befasst, wird berichtet, dass auch ihn düstere Traurigkeit erfasst habe. Verschlossen und in sich gekehrt projiziert er sie in die Zukunft, und auch er deutet Zeichen der Landschaft als schlechtes Omen: «Hélas! pensa-t-il en lui-même, ce n’est pas sous de tels auspices que je fis avec Corinne le voyage d’Italie; qu’est-elle devenue maintenant? Et tous ces objets lugubres qui m’environnent m’annoncent-ils ce que je vais souffrir? »(CI, 550) Die eingeschränkten Natureindrücke am Mont Cenis stehen in krassem Gegensatz zur Vielfalt der Eindrücke in Oswalds Erinnerung und weisen als unheilvolle Vorzeichen symbolisch auf kommendes Leid hin. Die Reglosigkeit der Landschaft wird durchbrochen, als der Text die tatsächliche Passüberquerung schildert. Am Morgen des Aufbruchs versammeln sich die Träger um Lucile, um sie über das Nahen eines Schneesturms zu unterrichten. Oswald, in Gedanken mit Bildern der Erinnerung und der Erwartung an Italien beschäftigt, mockiert sich über das Reden von Gefahren, was Lucile veranlasst, in einer Mischung aus Stolz und Trotz dem sofortigen Abmarsch zuzustimmen. Kurz darauf erhebt sich ein heftiger Schneesturm, der den Reisenden jegliche Sicht nimmt. Wie ein Leichentuch, so der Text, lege sich eine weiße Wolke über die Landschaft, um bald danach den ganzen Horizont zu verdunkeln. Als im fernen Hospiz die Sturmglocken läuten, verbreiten sie mehr ein Gefühl des Schreckens als das erreichbarer Hilfe. Lucile hofft im Stillen, dass Oswald die Passüberquerung unterbrechen und dort die Nacht mit seiner Familie verbringen werde, aber, ahnungslos bezüglich der Ängste und Wünsche seiner Frau, gibt er das Zeichen zum Weitergehen und Abstieg. Beim Anblick des steil abfallenden, auf beiden Seiten mit Schluchten gesäumten Weges erfasst Lucile panische Angst um ihre kleine Tochter. Als ein starker Wind selbst den einheimischen Trägern und Führern Schrecken einjagt, 144 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE übergibt Lucile ihr Kind an Oswald mit der flehentlichen Bitte, wenigstens Juliette zu retten. In diesem Augenblick stellt Oswald die gänzlich abwegige Frage, ob denn irgend etwas zu befürchten sei: «Comment sauver, répéta lord Nelvil, est-il question de danger? ».(CI, 552) Die Verständnislosigkeit der Frage unter den gegebenen Umständen markiert den Höhepunkt der Beziehungsarmut in der Ehe Oswalds mit Lucile: Gefühle werden nicht artikuliert, es herrscht Kommunikationslosigkeit, «silence». Das Schweigen der Bergwelt und die Eiseskälte, die gespenstische Starre der Tannen und die monochrome Einöde, der Trauerzug der Mönche mit Sarg und die Unwetterwolken als Leichentuch: All diese Zeichen der symbolischen Landschaft weisen auf eine innere Erstarrung und ein Absterben von Oswalds Fähigkeit hin, über den Rahmen seiner codierten Lebenswelt hinaus, innerhalb deren Grenzen er die Rolle als Beschützer den Regeln der Konvention entsprechend spielt, Mindestanforderungen an Verständnis und Empathie zu genügen. Es entgeht ihm völlig, dass seine Frau seit der Ankunft am Berg in ständiger Furcht ist, was selbst die Einheimischen veranlasst, ihr Trost zuzusprechen. Als sie ihm in Todesangst Juliette reicht, regen sich in ihm weder Mitgefühl noch Erbarmen, sondern Unmut und Vorwürfe an Lucile, gepaart mit Selbstmitleid und völlig unberechtigtem Zorn gegen die Träger: [...] se retournant vers les porteurs il s’écria: Malheureux, que ne disiezvous ... - Ils m’en avaient avertie, interrompit Lucile ... - Et vous me l’avez caché, dit lord Nelvil, qu’ai-je fait pour mériter ce cruel silence? (CI, 552) Oswalds Empfindungslosigkeit und seelische Verhärtung, die zu diesem Zeitpunkt punktuell Züge des Autistischen angenommen hat, war in der Landschaftsszene in Terracina nicht sichtbar und befand sich in der am Vesuv noch in ihren Anfängen. Sein darauf folgender langjähriger Aufenthalt in der angelsächsischen Welt, so das Fazit der Romanereignisse, hat sie massiv verstärkt und die positiven Impulse aus Italien zur Zeit der ersten Reise in dieses Land nach und nach verschüttet. Die Reisegruppe erreicht schließlich unbeschadet ihr Ziel mit Blick auf die Ebenen des Piemont, aber für Oswalds Frau waren es nicht seine Fürsorge und emotionale Zuwendung, die ihr in der Stunde innerer Not halfen: «[…] le ciel, protecteur de Lucile, fit paraître un rayon qui perça les nuages, apaisa la tempête».(CI, 553) Den Schutz gegen äußere Gefahren gewährleistete Oswald sicher und effizient; für eine Bedrohung durch nur imaginierte Gefahren, die sich in Luciles Psyche jedoch zu gewaltigen Hindernissen aufbauen, fühlt er sich weder zuständig noch ist er bereit, ihnen überhaupt Beachtung zu schenken. Auf der lexikalischen Ebene des Textausschnitts (CI, 549/ 6-553/ 7) tritt ein semantisches Feld auffallend in den Vordergrund, das dem Sachfeld ‚Gefahr und Bedrohung’ zuzuordnen ist mit Bezug zur äußeren Objektwelt wie auch zur seelischen Innenwelt. Mehr als zwanzig Belege beschreiben wiederholend und variierend den Zustand von Angst: «épouvan- 145 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG tée», «craintes»(3), «périls», «très timorée», «terrible»(2), «effroi»(2), «terreur»(2), «anxiétés»(2), «danger», «menacer», «peur», «dangereuse», «effrayant», «redouter», «horrible», «craindre»(2), «inquiétudes»(2). Von diesen Belegen bezieht sich ein einziger auf Oswald und alle anderen auf Lucile, wobei es in Oswalds Fall um Juliette, nicht um ihn selbst geht. Die Diskrepanz ist so auffällig, dass eine nähere Betrachtung geboten erscheint. Unbestritten birgt eine Passüberquerung im Winter mit einem Kind ein Gefahrenpotenzial in sich. Darüber hinaus hat der Mont Cenis eine Wächterfunktion zur Abwehr allzu vieler Eindringlinge in das gelobte Land des Wohlergehens und des Überflusses: «[…] un monstre immobile, gardien des vallées qui conduisent à la terre promise».(CI, 550) Der implizite Symbolgehalt lässt mehrfache Deutung zu. Lucile fürchtet das Heraustreten aus ihrer engen Sphäre in eine neue Freiheit, der sie sich nicht gewachsen fühlt; der Berg grenzt ihre Welt ab und schützt gleichzeitig die andere, freiere Welt dahinter vor verständnislosen Eindringlingen. Darüber hinaus gibt es in Lucile neben konkreten Ängsten - es ist ihre erste Reise - die panikartige Furcht vor einem möglichen Treffen mit ihrer Halbschwester, die die Vorzüge Italiens in ihrer strahlenden Persönlichkeit nachgerade bündelt; im Vergleich mit Corinne kann sie nur hoffnungslos unterliegen. Der Berg in seiner archetypischen Symbolik lässt überdies die psychischen Defizite der Eheleute noch deutlicher hervortreten. Es hätte der Überwindung der emotionalen Kälte ihres Zusammenlebens bedurft und eines Sich-Öffnens für Impulse, wie sie aus dem gelobten Land Italien kommen, aber sowohl Oswald als auch Lucile reagieren gänzlich unangemessen: Er stellt übertriebenen männlichen Mut zur Schau, sie überzogene weibliche Angst. Sie agieren beispielhaft wie Marionetten konventionalisierter heimischer Geschlechterrollen, die nicht nur von einem Verlust an Emotionalität und Empathie, sondern auch an Individualität und eigenbestimmtem Handeln geprägt sind. Wie klischeehaft die Rollenbilder sind, zeigt der Text mehrfach. Bei Oswalds erster Italienreise rettet er in Ancona bei einer Feuersbrunst durch riskanten Einsatz sechs Menschen das Leben und wird zum Helden, doch er flieht, als man ihm danken will, Hals über Kopf, im Bewusstsein, nur seine männliche Pflicht getan zu haben (CI, 40-46). Bei der ersten Begegnung mit Oswald erscheint die sechzehnjährige Lucile als engelsgleiche Lichtgestalt - «la pureté céleste» (CI, 450,454), «le tableau de l'innocence»(CI, 453), «cette figure vraiment angélique»(CI, 450) -, die Bescheidenheit und Demut mustergültig verbindet. Doch Oswald steht unter dem erdrückenden Einfluss selbst eines toten Vaters, Lucile unter dem einer autoritären Mutter mit obsessiven Moralvorstellungen, und so erweisen sich beide als unfrei, als menschliche Konstrukte gesellschaftlicher Erwartungshaltungen. Der manifeste Gehalt der Landschaftsszene besagt, dass das Ehepaar Nelvil die Herausforderungen der Natur besteht und gut in Italien ankommt; der latente Sinn im Subtext jedoch legt bloß, dass sie Opfer fehlori- 146 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE entierter Erziehung sind und man sie der Fähigkeit zu geistig-seelischer Eigenständigkeit und zur selbst geformter Identität beraubt hat. Zuweilen werden die Anlagen zu dieser Fähigkeit sichtbar. Als Oswald beim gefährlichen Abstieg Mutter und Kind vor einem Sturz in die Tiefe bewahrt, kommen Lucile Tränen der Rührung. Und ein ähnliches Gefühl erfasst ihn beim Anblick der erschöpften Lucile mit dem Kind in ihren Armen am Feuer einer Hütte: Dans ce moment la mère et la fille étaient charmantes: Oswald les regarda toutes les deux avec tendresse; mais encore une fois le silence suspendit un entretien qui peut-être aurait conduit à une explication heureuse.(CI, 553) Reflexartig reagiert Oswald auf das aus den bildenden Künsten wohl bekannte Klischeebild fürsorglicher Mütterlichkeit, doch er tut es ohne tiefere Empfindung, jedenfalls nicht so tief, dass sie das Schweigen der Eheleute hätte durchbrechen können. Unter der scheinbar intakten Fassade der familiären Idylle zeigen sich tief reichende Verwerfungen. Die Natur, so scheint es, will noch ein Übriges tun, um die zwischenmenschliche Brüchigkeit aufzuzeigen. In der Lombardei, kurz nach der Passüberquerung, werden die Reisenden durch mit unheilvollem Grollen in die Täler stürzende Gebirgsfluten aufgehalten: [...] ce spectacle rappelait bien plutôt les descriptions poétiques des rives du Styx [...]. Lucile craignait pour sa fille le froid rigoureux qu’il faisait, et la mena dans une cabane de pêcheur où le feu était allumé au milieu de la chambre comme en Russie. - Où est donc votre belle Italie? dit Lucile en souriant à lord Nelvil.(CI, 558) Mit dem Mittel der Ironie versucht Lucile ihrer Angstprojektionen in Bezug auf Italien und Corinne Herr zu werden, ihre Identität zu festigen und zugleich Oswalds Italienbild, in dessen Mittelpunkt natürlich Corinne steht, zu erschüttern. Sowohl für Oswald wie für Lucile erweist sich Italien als eine mit starken Gefühlen besetzte Projektion, die ihre Psyche und ihr Selbst zutiefst tangiert, aufwühlt und verunsichert. Am Romanende wird Corinne tödliches Opfer der nicht kongruenzfähigen Lebensräume Englands und Italiens, und Lucile erweist sich als ein von Angstpsychosen und schweren seelischen Wunden gezeichnetes, mitleiderregendes Geschöpf. Ihre in gegebener Situation verständlichen Angstzustände summieren sich zu permanenten Panikattacken, die pathologisch als Hysterie oder Neurosen gelten können und auf ein veritables inneres Krankheitsbild als Folge unbewältigter Konflikte hinweisen. Psychoanalytisch deutete Freud die Angst als Furcht vor Triebverzicht, einen Gedanken, den der Text im Motiv des Nicht-Geliebtwerdens spiegelt: Lucile reist nach Italien, um von Oswald Zeichen seiner Liebe zu erhalten, unterdrückt andererseits sehnliche Wünsche wie den nach Übernachtung im Hospiz während des Schneesturms, weil sie sich nicht geliebt fühlt: «Lucile avait tort de ne pas exprimer ses craintes [...]; mais quand on aime et qu'on 147 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ne se croit pas aimé, on se blesse de tout, et chaque instant de la vie est une douleur et presque une humiliation».(CI, 552) Durch ihre Hypersensibilität wird Lucile als seelisch dauerhaft Verletzte bzw., wohl zutreffender, als krankhaft Geschädigte sichtbar, deren gesellschaftlich aufoktroyierter Individualitäts- und Identitätsverlust nicht durch ausgelebte Emotionalität in der Ehe kompensiert werden. Oswalds maskulines Rollenverständnis versetzt ihn in die scheinbar bessere Position, aber am Mont Cenis wird die erschreckende Hohlheit der Fassade sichtbar, die er getreu der heimischen Konvention seiner Umwelt präsentiert. 3.1.3 Ergebnisse im Kontext 3.1.3.1 Der Gegensatz von England und Italien als kulturell unterschiedlich codierte Räume Der im Roman thematisierte Grundkonflikt besteht zwischen dem Zwang zu gesellschaftlicher Einordnung und Anpassung auf der einen Seite und dem Wunsch nach größerem Freiraum zur Entfaltung individueller Fähigkeiten und zur Entwicklung eines persönlichen Gestaltungsspielraumes auf der anderen. Der Konflikt baut sich im fiktionalen Geschehen deshalb auf, weil zwei Personen aus soziokulturell unterschiedlich codierten Räumen, England und Italien, aufeinander treffen, Zuneigung und Liebe für einander empfinden, aber aufgrund ihrer kulturellen Präformierung und der Vorgaben ihrer Gesellschaften nicht aus den Begrenzungen heraustreten können, die um sie errichtet sind. Bei aller persönlichen und charakterlichen Integrität der Beteiligten erweisen sich die Verankerungen, aber auch die Wesensunterschiede ihrer Lebenswelten als derart stark, dass weder ein symbiotisches noch ein zumindest harmonisches Zusammengehen gelingt. Äußerlich sichtbare Differenzen in Bezug auf die Lebensumstände und die Lebensweise werden von der Autorin im Blick auf den impliziten Leser als offenkundig angenommen. Mit Blick auf die externen Rahmenbedingungen wird England als Land mit bedeutsamer wirtschaftlicher und militärischer Macht dargestellt, als Ort politischer Liberalität und strenger religiöser Moralprinzipien, die die Gesellschaft einen und stärken. Italien dagegen ist das Land politischer und wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit, aufgesplittert in Regionen mit ganz unterschiedlichen Lebensgewohnheiten, in denen sich die Bevölkerung, in Ermangelung eines Gefühls nationalen Selbstbewusstseins, dem ‚orthodoxen Despotismus’(vgl. CI, 269) der katholischen Kirche, aber auch der unbeschwerten Lebensfreude hingibt. Es ist auch das Land natürlicher Schönheiten, grandioser Altertümer, der bildenden Künste, der Musik und Literatur, der Kirchen und sehenswerten 148 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Städte, in dem die Natur und das Klima eine segensreiche Verbindung eingegangen sind. 377 So reist Oswald Lord Nelvil, auf der Suche nach Genesung als reicher britischer Tourist durch Italien, auf seiner ersten Reise mit der angloitalienischen Dichterin Corinne, auf der zweiten mit seiner englischen Frau Lucile, der keinerlei Begegnung mit Land und Leuten sucht. Abgesehen von den wenigen, durch die Bekanntschaft mit Corinne sich zwangsläufig ergebenden Kontakten mit Italienern seiner Gesellschaftsschicht, gibt es keine Berührung mit ihm und den Menschen des Landes, und er sucht sie auch nicht, es sei denn, sie werden als Führer oder Träger benötigt. Als ihm die Bevölkerung in Ancona für seinen selbstlosen Einsatz bei einem Stadtbrand danken möchte, ergreift er zu Pferd die Flucht mit den bezeichnenden Worten an seinen Begleiter: «Tirez-moi d’ici».(CI, 46) Die beiden unterschiedlichen Kulturräume von England und Italien werden im Roman mit Charakter- und Wesenszügen der Menschen in Verbindung gebracht, die, durchaus in Übereinstimmung mit der Tradition klimatheoretischer Erklärungsmodelle und daraus abgeleiteter erstarrter, stereotyper Vorstellungskomplexe (vgl. 1.3.1), häufig in schroffem Gegensatz zueinander stehen. Die unter der Oberfläche spürbaren Unterschiede betreffen Werteorientierung und Lebensgestaltung. Es ist die scharf markierte Opposition von Pflicht und Gefühl, die als Leitmotiv den ganzen Text durchzieht. In ihrer fundamentalen Divergenz umfasst sie alle wichtigen Lebensbereiche: Die Gesellschaft und ihre sozialen Regeln, die Religion und ihre sinnstiftende Funktion, die Künste als Betätigungsfeld von Geist und Fantasie, die zwischenmenschlichen Beziehungen als Weg harmonischen Zusammenlebens, das Schicksal des Einzelnen in seiner Gestaltung von persönlichem Freiraum und Glück. Die Autorin inszeniert Oswalds Begegnung mit Italien als “[...] a shock to his soul and to his cultural prejudices. All Oswald’s British respectability, dignity, impassivity, and taciturnity: all his essentially religious deference to the sacred idols of the home - privacy, discretion, solitude, patriotism, paternal ancestry - are shaken by a three-fold experience: Italy, its climate and culture; applause by the masses of spiritual rather than military genius; and the woman of genius.” 378 England und Schottland erscheinen beim Blick auf die Gestaltung das Zusammenleben, auf die Entwicklung individueller Begabung und die Entfaltung einer eigenen Identität einschließlich der Heranbildung einer kommunikativen Kompetenz als defizitär, ergänzungsbedürftig und nachgerade rückständig. Die angelsächsische Lebenswelt ist gekennzeichnet durch Leitprinzipien wie Ordnung und Disziplin, politischwirtschaftlichen Erfolg und militärische Effizienz, moralische Strenge und 377 «Corinne n’est pas aveugle aux défauts et aux vices de l’Italie, mais elle veut l’aider à se relever et à se réformer en évoquant sa grandeur passée et ce qu’elle pourrait redevenir.»(Balayé, Préface, Corinne ou l’Italie, 22). 378 Moers, Performing Heroinism: The Myth of Corinne, 328. 149 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG politischen Zusammenhalt auf der einen Seite, aber auch durch Kaltherzigkeit und emotionale Leere, durch kommunikative Kargheit und zwischenmenschliche Verarmung auf der anderen. All diese negativen Eigenschaften und noch eine Reihe anderer sind in Lady Edgermont, Corinnes Stiefmutter in Northumberland, gebündelt: Sie machen der Protagonistin, vor dem Hintergrund ihrer Erziehung in Italien, die Jahre der Adoleszenz in der englisch-schottischen Umwelt durch permanente Einschränkungen, Demütigungen, tiefste persönliche Kränkungen und psychische Verletzungen zur Hölle. Dies geschieht bei ihrem ersten Englandaufenthalt als Sechzehnbis Einundzwanzigjährige. Nach dem Tod ihrer italienischen Mutter, als sie zehn bzw. nach dem Tod ihrer Tante in Rom, als sie sechzehn war, sorgte ihr Vater Lord Nelvil für ihren Lebensunterhalt auf seinem Schloss in Northumberland. Corinne empfindet die englische Landschaft als Spiegel einer Gesellschaft, die jede Regung der Fantasie erstickt und jeder Form von Kunst und auch spontaner Lebensfreude feindlich gegenübersteht: [...] l’air si suave de mon pays [l’Italie] était remplacé par les brouillards; les fruits mûrissaient à peine, je ne voyais point de vignes, les fleurs croissaient languissament à long intervalle l’une de l’autre; les sapins couvraient les montagnes toute l’année, comme un noir vêtement: un édifice antique, un tableau seulement, un beau tableau aurait relevé mon âme; mais je l’aurais vainement cherché à trente milles à la ronde. Tout était terne, tout était morne autour de moi [...].(CI, 378) Die nicht reifenden Früchte und der schwarze Mantel der Tannen sind augenfällige Symbole dafür, dass sich Corinnes Interessen und Begabung nicht entfalten können und zum Absterben verurteilt sind: «[…] je sentais mon talent refroidir [...], le vide m’empêchait de respirer».(CI, 371) Einsamkeit und Frustration steigern sich zu physischem Schmerz, in dem die Natur, ganz im Gegensatz zu Italien, als feindlich wahrgenommen wird: Le temps était humide et froid; je ne pouvais presque jamais sortir sans éprouver une sensation douloureuse; il y avait dans la nature quelque chose d’hostile, qui me faisait regretter amèrement sa bienfaisance et sa douceur en Italie.(CI, 367) Bei Corinnes zweitem Aufenthalt in Britannien, als sie Oswald wegen ausbleibender Post zunächst nach London nachreist und dann zu seinem Schloss in Schottland, um ihm seinen Verlobungsring zurück- und ihn damit ‚freizugeben’, beobachtet sie aus einem Versteck im Park ein Fest im Schlossinneren. Auch hier steht symbolisch die Leere und die Dürre der Landschaft, das fahle Mondlicht und die sterile Monotonie des Parks für die kunst- und fantasiefeindliche Einstellung der Bewohner 379 und die 379 «L'idée de l’art pour l’art apparaît nettement dans le roman contre l’utilitarisme et la morale puritaine; pour Corinne la contemplation du beau dans l’art peut contribuer au perfectionnement moral de l’individu. C'est ici qu’interviennent les leçons allemandes: on parle de l’art à travers Lessing, Winckelmann, Kant, Schiller, les Schlegel, encore mal 150 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE jegliche Spontaneität, Freude und Kreativität des Individuums unterdrückende Atmosphäre der angelsächsischen Lebenswelt: [...] les rochers arides et couverts de bruyère [...], le pâle reflet de la lune éclairait seul les campagnes désertes de l’autre rive. On eût dit que dans ces lieux, comme dans la tragédie de Hamlet, les ombres erraient autour du palais où se donnaient les festins.(CI, 499) In dieser düster-beklemmenden Atmosphäre, in der die ruhelosen Geister aus Hamlet zu Hause zu sein scheinen, flammen Gedanken an Selbstmord in der unglücklichen Heldin auf, deren gequälte Psyche in Autoaggression als paradoxem Ausweg auf die vermeintlich totale Empfindungslosigkeit des geliebten Oswald reagiert. Sie verwirft dann aber doch den Gedanken, da es ja nicht um Rache gehen könne, die man im Tod sucht, sondern um Ruhe, die sie dann doch nicht fände. Auf der semantischen Ebene bestätigen und vertiefen die drei Landschaftsbilder den leitmotivischen Gegensatz von Pflicht und Gefühl durch Spiegelung der Dramatik innenweltlicher Zustände: «[…] les paysages suggèrent ou expriment une réalité intérieure». 380 Die arkadische Landschaft von Terracina als utopisches Traumbild von Sehnsucht und Hoffnung ist, bei Einbezug der Sinnschicht des Subtextes, der Versuch, die in der Realität des fiktionalen Geschehens bestehenden Gegensätze von Wunsch und Verweigerung bzw. Verlangen und Verzicht gedanklich zu überbrücken. Was Oswald auf Grund seiner soziokulturellen Herkunft fehlt sind Begeisterungsfähigkeit, Spontaneität, Offenheit für das Ungewöhnliche des Augenblicks, Sinn für ästhetisches Empfinden, Natürlichkeit im Umgang mit Emotionen, Lebensfreude, Genussfähigkeit, Handeln aus freier Selbstbestimmung. Die eindeutigen Signale der Landschaft zum Erreichen von Harmonie und Glück durch ein Sicheinlassen auf natürliche Gefühlsreaktionen in einer lauen Sommernacht, was auch spontane Körperlichkeit und die Sinne betäubende Sexualität umfassen sollte, enden in der in der gegebenen Situation lächerlich-hilflosen Geste einer Umarmung, bevor er, anstatt der ‚Natur’ und den Sinnen freien Lauf zu lassen, in grübelndes Hin- und Herlaufen verfällt. Die Natur wird jedoch als wichtiger Bezugspunkt angesehen: «La nature est toujours considérée dans sa relation avec l’homme; elle est tantôt l’image de l’âme et de la vie humaine, tantôt une puissance mystérieuse qui exerce une influence sur nos destinés». 381 Diese Beziehung ist im Regelfall positiv besetzt, stellt doch die Vereinigung von Mensch und Natur, «la connus en France. D’où une vision esthétique nouvelle qui frappa les trop rares lecteurs avertis.» (Balayé, Préface, Corinne ou l’Italie, 15). 380 Béatrice Le Gall, Le Paysage chez Madame de Staël, Revue d'Histoire Littéraire de la France, 1966, No 1, 41. 381 Maija Lehtonen, Le Fleuve du Temps et le Fleuve de l'Enfer : L’enfer, Neuphilologische Mitteilungen, 1967, 396. 151 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG fusion entre l’homme et l’inanimé» 382 , die Voraussetzung zum Verstehen der menschlichen Seele dar. Und «Corinne était un miracle de la nature»(CI, 166): Oswald vermag dies zu erkennen und das, was Italien ihm durch Corinne bietet - die Rückgewinnung elementarer Emotionalität -, aber er ist außerstande, seine Zugehörigkeit zu den ‚eisernen Seelen’ seiner heimischen Umwelt, «ces âmes de fer»(CI, 464), abzustreifen: «Oswald [...] est comme muré dans les sombres pensées qui ne permettent pas à ses dons de s’épanouir». 383 Nur der Denkweise in einer derart vermauerten Welt kann der verklemmte Gedanke entspringen, die Missbilligung Corinnes durch England sei mehr zu fürchten als die irgend eines anderen Landes (vgl. CI, 171). Hier geht es um Konventionen und Normen, die in Form ungeschriebener Gesetze jeden Einzelnen rigoros in die Pflicht nehmen und im Falle des Abweichens mit sozialer Ausgrenzung bestrafen. «Oswald intériorise la toute-puissance de l’opinion dans la société anglaise, support et contrepartie de la liberté politique, liberté qui implique une stricte clôture des femmes, l’appauvrissement systématique de leurs capacités. Il ne voit dans la femme italienne qu’un désir immoral de liberté anarchique [...]. Tel est le prix de la grandeur anglaise, qui exige le sacrifice des femmes et la mutilation des désirs dans l’uniformisation des conduites réglées par la division des sexes.» 384 Für Frauen bedeutet dies rückhaltlose Akzeptanz der Hausfrauen- und Mutterrolle und fraglose Unterordnung unter die Position des Mannes, der die Familie repräsentiert und für sie handelt. Das zwangsläufige Ergebnis ist nicht nur der Verzicht auf Eigenständigkeit, sondern auch auf Entwicklung eigener Fähigkeiten und Interessen; Begeisterungsfähigkeit, Talent, Geist und Fantasie sind Anlagen und Neigungen, die nicht zu fördern, sondern geradezu zu unterdrücken sind. So ist die Forderung von Corinnes Stiefmutter, sich als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Ausreise nach Italien für tot erklären zu lassen, ein Akt unfreiwilliger Symbolik seitens der alten Dame, dem Corinne leichten Herzens zustimmen kann, umschreibt er doch drastisch ihre wahre Empfindung über ein freudlos-sinnentleertes Leben in England. Die Landschaftsszene am Krater des Vesuvs macht deutlich, wie sehr Männer in der englischen Gesellschaft, obgleich mit größeren Freiräumen ausgestattet, ebenfalls vom Geflecht der Normen umfangen sind. Das Ausmaß an Schuld, das sich Oswald in Bezug auf seinen verstorbenen 382 Le Gall, Le Paysage chez Madame de Staël, 50. «On y verra le point d’aboutissement normal à la fois de lectures germaniques et d’une évolution personelle telle que nous l’avons suivie jusqu’à Corinne. ’Il faut’, confie Mme de Staël, ‘pour concevoir la vraie grandeur de la poésie lyrique (...) considérer l'univers entier comme un symbole des émotions de l'âme.’»(a.a.O.). 383 Balayé, Préface, Corinne ou l’Italie, 23. 384 Jean-Pierre de Beaumarchais und Daniel Conty, Dictionnaire des oeuvres littéraires de la langue francaise, Paris, 1994, 4 Bde.; Bd. 1, 446. 152 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Vater zuweist und das sich in apokalyptischen Bildern bevorstehender Höllenqualen und schicksalshaft ausweglosen Leids widerspiegelt, lässt im Rückschluss Aussagen darüber zu, wie konsequent und erbarmungslos diese Normen aus Sicht der Autorin wirken. Es ist das gesellschaftlich diktierte, patriarchalisch-puritanische, von alttestamentarischer Strenge gekennzeichnete Verhältnis von Vater und Sohn, das Oswald, beim Anblick des aus dem Erdinnern quellenden dunkelroten Lavastromes als Symbol eines unkontrollierbaren Amalgams aus Schuldgefühlen und unterdrücktem Verlangen nach Sexualität, in orientierungslose Depressivität treibt. Wenn die Kirchenglocken aus der Ebene von Tod oder Auferstehung künden, dann umschreiben sie mit der radikalen Option der Botschaft die Dimension der Gewissensnot, in die sich Oswald hineingestellt sieht. «Oswald est, d’une manière névrotique, prisonnier du souvenir de son père [...]. Le malheur d’Oswald vient de ce qu’il s’identifie avec lui; il a perdu la faculté de jouir de la vie comme un jeune homme». 385 Es sind die Regeln von Gehorsam und Disziplin, Pflicht- und Prinzipientreue, Familiensinn und Strenggläubigkeit, die selbst aus einem Grab heraus die Grenzen von Oswalds Welt markieren. Diese anerzogenen Eigenschaften als verbindlicher Wertekodex, ergänzt durch die der Einsatzbereitschaft und des Mutes, treten in der Landschaftsszene am Mont Cenis in ihrer positiven, vor allem aber in ihrer negativen Wirkung zu Tage. Oswalds rührender Fürsorge für das Wohl seiner Familie in der winterlichen Natur steht die problematische Situation seiner Ehe mit Lucile gegenüber, die, wie der Subtext offenlegt, unter einen gestörten Psyche leidet. Die Ehe, von beiden Elternhäusern aus Gründen des Sozialprestiges über Luciles Kopf hinweg vereinbart, hatte das eindeutige Ziel, eine Heirat Oswalds mit Corinne zu verhindern, weil letztere mit ihren unorthodoxen, fremdartigen Formen der Lebensgestaltung einer Frau den Konventionen in Britannien nicht entsprochen hätte. Was sie denkt - «Chaque femme comme chaque homme ne doit-elle pas se frayer une route d’après son caractère et ses talents? ».(CI, 366) -, ist im Verständnis ihrer englischen Stiefmutter pure Rebellion. Corinnes Vorstellung von der Rolle der Frau, von der Notwendigkeit, ihren Geist und Fantasie durch Künste und Wissenschaften zu fördern und so auch den Weg zu natürlicher Emotionalität und Entfaltung von Individualität zu finden, steht in diametralem Gegensatz zu Zielvorgaben der englisch-schottischen Gesellschaft. 386 Das lebende Abbild dieser Idealvorstellung ist Lucile in ihrer jugendlichen Schönheit und Bescheidenheit, Demut und engelsgleichen Un- 385 Lehtonen, Le fleuve du temps et le Fleuve de l’Enfer: Le temps, 228. 386 „[…] in seiner Rezension des Romans in ’Le Publiciste’ vom 14. Mai 18o7 hat schon Benjamin Constant den romantischen Fortschritt der Frau gegenüber dem Mann treffend erkannt, wenn er feststellt, daß Nelvil nach einem aktiven und nützlichen Leben strebe und, sich ungewollt gegen Corinne und von Corinne absetzend, die Kunst als nutzlose Zierde erachte.“ ( Heitmann, Europäische Romantik II, Bd. XV, 123). 153 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG schuld, die auf jedermann rührend und einnehmend wirken und sie geradezu als Prototyp einer geglückten psychokulturellen Präformierung und damit einhergehenden Erwartungshaltung in ihrem sozialen Umfeld ausweisen. Aber sie ist, beim Blick hinter die anmutige Fassade, das beklagenswerte und traurig stimmende Opfer dieser Angepasstheit, da Gehorsam, Unterordnung und Verzicht auf Selbstentfaltung ihr von einer Mutter anerzogen wurden, die obsessiv auf Einhaltung von Konventionen pocht. Der Subtext des Naturbildes offenbart Lucile als verletzte, sogar zutiefst geschädigte junge Frau, deren Angstpsychosen Ausdruck eines pathologischen Zustandes als Folge dieser Erziehung sind. Ihre Ehe mit Oswald, äußerlich das Musterbeispiel konventionellen Familienglücks, ist gekennzeichnet durch Unverständnis und Gefühlsarmut, Kommunikationslosigkeit und psychisch bedingtes Schweigen auf beiden Seiten. 3.1.3.2 Landschaft als objektives Korrelat innenweltlicher Situationen Die narrative Gestaltung des Landschaftsbildes von Terracina ist Ergebnis eines auktorialen Erzählflusses ohne Dialog oder Monolog, ohne Darstellung einer Reaktion der Figuren oder Kommentierung ihres Verhaltens. Der erzählerische Ablauf wird durch ein Zitat mit der Frage unterbrochen, ob ‚wir’ - Leser und Erzähler - das tiefe Grollen des Meeres noch nicht vernähmen 387 . Die Leser erfahren nicht, ob Oswald und Corinne es vernommen haben: Sie sind wie wandelnde Statisten in eine Natur platziert, deren Bild allein aus allwissender Erzählperspektive generiert wird. Diese Landschaft fungiert in der Weise als Korrelat von Innenwelt, als sie Konfliktsituationen, bei denen intensive Emotionen im Spiele sind, visualisiert. Ihre verbalen Bilder haben abbildend-illustrative Funktion, und sie wirken wie eine Projektionsbzw. Folienwand, wie ein Reflektor bzw. eine Spiegelfläche. „Die Romanorte als Seelenlandschaft konnotieren jeweils Grade ihrer Gestimmtheit“ 388 , denn «Les paysages de Corinne reflètent [...] la situation psychologique des personnages.» 389 Innenweltliche Sehnsüchte und Problemkonstellationen spiegeln sich in ihrem dramatischen Kern in der äußeren Landschaft. Frau von Sta l «[...] avait [...] adopté les idées romantiques allemandes sur les ’correspondances’ entre l’univers et l’âme humaine». 390 So ist das Naturbild von Terracina als Projektion eines Wunsches Vernetzung des Bewussten mit dem Unbewussten, um im Licht antiker und klassizistischer Ideallandschaften die Vision einer 387 «Et n’entendez-vous pas encore comme retentit le frémissement rauque et profond de la mer? »(Le Tasse, La Jérusalem délivrée, chant XIV, stance 32; zit.n. Balayé, Corinne ou l’Italie, 287 u. Notes, 621); s. auch 3.1.2.1. 388 Engler, Geschichte des französischen Romans, 189. 389 Lehtonen, Le fleuve du temps: L’enfer, 407f. 390 Ebd., 235. 154 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Symbiose von England und Italien aufzuzeigen. In der arkadischidyllischen Atmosphäre elysischer Gefilde in einem Goldenen Zeitalter (vgl. 1.2.3), in dem blumenbekränzte Kinder um überquellende Erntewagen tanzen, in dem selbst die Bauersleute poetisch werden, wo die reinsten Gesänge der Nachtigallen und die süßesten Düfte der Blumen sich mit unvergleichlich milder Luft vereinen, wandeln Corinne und Oswald weltentrückt in einer irrealen Traumlandschaft. Gerade durch die Wahl dieses spezifischen Landschaftsdekors wird die Realisierungsmöglichkeit einer Verschmelzung oder wenigstens einer Symbiose zwischen italienischen und englischen Lebenswelten negiert und als Aporie entlarvt. Die Traumlandschaft als Irrealität offenbart im Subtext eine an beide Hauptpersonen gerichtete Botschaft über ein Sicheinlassen auf die Natürlichkeit der Gefühle unter Einschluss des körperliches Begehrens und sinnlichen Erlebens, aber sie entschlüsseln den Sinn der Botschaft nicht. Oswald weiß das Signal der dynamisch-rhythmischen, die Sinne betäubenden, generativen Kraft der Wellen als Symbol sich vollziehender Sexualität nicht zu deuten und verharrt in lähmender Umklammerung seiner sterilen Lebenswelt, während Corinne in der Wunschsphäre idealisierender Illusion verweilt. Damit ist, etwa in der Romanmitte, das tragische Scheitern ihrer Liebe antizipiert. Das Landschaftsbild am Vesuvkrater wird zu zwei Dritteln vom allwissenden Erzähler, zu einem Drittel in zwei jeweils längeren Redebeiträgen Oswalds und Corinnes präsentiert. Die Wortwahl und Bildersprache des deskriptiven Teils setzen sich bruchlos in den Redebeiträgen fort, wobei Ausdruckskraft und Gefühlsgehalt der sprachlichen Bilder beim Umschreiben von Oswalds Seelenkonflikt aufgrund seiner Schuldgefühle und depressiven Gewissenspein an Intensität zunehmen. In diesem Naturbild leistet die Außenwelt erkennbar Hilfestellung bei Erfahrens-, Formulierungs- und Verstehensvorgängen im innenweltlichen Bereich. Die inneren Konflikte treten durch direkten Bezug zur Landschaft nicht nur zu Tage, sondern werden in ihrer Brisanz als seelenzerstörerische Kräfte vorgeführt, wobei die Aspekte der misshandelten, verwüsteten Natur von den Romanfiguren selbst auf Oswalds psychische Situation übertragen werden. Im Sinne der Korrespondenzthese fungiert Landschaft in abbildender Funktion als objektives Korrelat von Innenwelt. In der Funktion eines Resonanzbodens, einer Projektions- oder Folienwand, eines Reflektors oder einer Spiegelfläche mutiert sie für die Romanfiguren zum Gefühls- und Erlebnisraum, zur ‚Seelenlandschaft’ aufgrund einer ‚Seelenspiegelung in der Landschaft’, und sie wird ’externalisierter Seelenraum’ (vgl. 3.1.1). Dabei kommt es zur Internalisierung bzw. Verinnerlichung der Landschaft (’intériorisation du paysage’: Le Gall), denn, so Frau von Staël 155 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG selbst, man müsse das gesamte Universum als Symbol der Gefühlswelt ansehen, wolle man wirklich große Lyrik hervorbringen 391 . So wird die Lava im Begriffssystem des Textes in ihrer destruktiven Eigenschaft nicht lediglich als Teil der Natur gesehen, sondern symbolhaft als Ausfluss irrationaler Kräfte aus dem unten liegenden Erdinnern, die die Natur bzw. die gesunde Seele zerstören. Lava und Kraterschlund sind Visualisierungen des Paradies/ Hölle-Topos und ‚moralisches Mahnmal’, das für Johann Caspar Goethes Landschaftswahrnehmung noch relevant, für den Sohn aber bereits durch den Genuss des faszinierenden Naturschauspiels ersetzt worden war (vgl. 2.1.1 bzgl. Fußnote 256). Frau von Staël wahrt in ihrer tradierten Landschaftsschau im Sinne von Goethes Vater die argumentative Kontinuität des Romans, wonach die Vorstellungen von Natur und Natürlichkeit durchgehend moralisch positiv besetzt sind. Damit ist der Weg frei zur Analogie mit der innenweltlichen Situation Oswalds, dessen ursprünglich intakte innere Gewissenslandschaft durch den destruktiven und unaufhaltsamen Strom von Schuldgefühlen zur abschreckenden Einöde geworden ist, in der Natürlichkeit des Fühlens und angemessene Zwischenmenschlichkeit so gut wie abgestorben sind. Oswald erscheint nicht nur als Täter im Vollzug unbarmherziger Gesellschaftszwänge, sondern zugleich als Opfer gleichgearteter psychosozialer Repression: «Oswald [...] est comme muré dans les sombres pensées qui ne permettent pas à ses dons de s’épanouir. Corinne si lumineuse qu’elle puisse être, ne parvient pas à le délivrer.» 392 In psychologisch überzeugender Weise liefert so das Landschaftsbild vom Vesuv die Rechtfertigungsbasis für Oswalds Verweigerung bzw. Versagen in der Idylle von Terracina. Corinnes Angebot der Hilfe - «quittons le désert, redescendons vers les vivants»(CI, 339) - beschreibt in eindringlicher Metaphorik von Leben und Tod die Dramatik der Situation in direktem Rückgriff auf die erlebte Außenwelt. Im Naturbild am Mont Cenis ist es wiederum die auktoriale Erzählinstanz, die die deskriptive und narrative Darstellung der Landschaft vollauf übernimmt. Lediglich am Ende der Textstelle befindet sich ein kurzer Dialogteil, als die in Todesängsten schwebende Lucile ihre Tochter zur Rettung an Oswald übergibt, worauf seine verständnislose Frage folgt, ob denn Gefahr gegeben sei. Auch in diesem dritten Naturbild ist der Symbolgehalt offensichtlich, und es kommt wiederum zur «intériorisation du paysage»; «l’univers entier [est] comme un symbole des émotions de l’âme. La grandeur de ce ’roman-poème’ qu’est Corinne, provenait justement de cette adéquation parfaite du cadre extérieur à la trame psychologique.» 393 Allerdings fungiert der Symbolgehalt in diesem Fall weder zur Erstellung 391 Vgl. «Madame de Staël, De l'Allemagne, t.II, p.118; t.IV, p.246, et t.V, p.180», zit.n. Le Gall, Le paysage chez Mme de Staël, 50. 392 Balayé, Préface, Corinne ou l’Italie, 23. 393 Le Gall, Le Paysage chez Madame de Staël, 50. 156 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE einer idealisierten Wunschprojektion noch zur Sichtbarmachung schmerzlicher Gewissensnöte, sondern zur Zustandsbeschreibung von Befindlichkeiten: Es geht um die psychische Verfassung von Oswald und Lucile und um das Psychoklima in ihrer Ehe. Die Monotonie und Kälte in der Natur sowie die Zeichen von Trauer und Tod in der Landschaft umschreiben die seelische Verfassung der beiden Personen. In ihnen ist, als Folge der Einhaltung rigider Gesellschaftsnormen, die Fähigkeit zu natürlicher Emotionalität erstickt worden. Oswald erweist sich fraglos als psychisch geschädigt, wenn er in Ignorierung gegebener Gefahren, die selbst einheimische Bergführer schrecken, in autistisch anmutender Ahnungslosigkeit auf der Überquerung des vereisten Passes besteht. Was wie bewundernswerte Unerschrockenheit aussieht, ist in Wirklichkeit erheblicher Realitätsverlust infolge introvertierter Selbstbezogenheit. Lucile, auf der anderen Seite, ist von Anfang an das Opfer ständiger Angstattacken, die sowohl von ihrer Dauer als auch von ihrer Intensität her überzogen und unangemessen sind. Sie leidet an einer Neurose bzw. Psychose bei der Begegnung mit einer fremden Wirklichkeit, sei es eine gegebene wie am Mont Cenis oder eine erwartete wie in Italien mit Corinne, die sie in Momenten der gedanklichen Vorausschau in panische Angstzustände versetzt. Unter diesen Vorzeichen ist es glaubwürdig und plausibel, dass Oswalds und Luciles Ehe von Missverständnissen, nicht willentlich zugefügten Verletzungen, gegenseitigem Unverständnis, Kommunikationslosigkeit und bewusstem Schweigen gekennzeichnet ist, obwohl beide Partner guten Willens sind und die Bedingungen der gesellschaftlichen Konventionen für eine glückliche Ehe von Beginn an erfüllen. Der Roman erweist sich nicht nur als zeit- und kulturkritischer Beitrag, wovon noch zu sprechen sein wird, sondern auch als subtile psychologische Studie, wozu die Landschaftsbilder die Grundlage abgeben. 3.1.3.3 Die argumentative Verankerung der Landschaftsbeschreibungen im Handlungskontext Im Zuge der Thematisierung des Nord-Südkonfliktes am Beispiel von England und Italien bietet der Roman eine Überfülle an Information über das zuletzt genannte Land. Annähernd die gesamte erste Hälfte des Textes ist der kenntnisreichen Darlegung von Hintergrundwissen zu Rom und zur italienischen Kultur gewidmet. Die Leser erfahren, unter Nennung einer Fülle konkreter Namen und Werke, Ausführliches über römische antike und neuere Baudenkmäler, über Kirchen, Museen, Paläste, über italienische Malerei, Skulptur, Literatur und Musik sowie über Religion, Volksfeste, Brauchtum und Charaktereigenschaften der Menschen der Ewigen Stadt. Eingebettet in diesen Kontext erscheint die Gestalt Corinnes „als 157 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Verkörperung der tragischen Größe des italienischen Volkes“. 394 Der psychologisierende Handlungsverlauf beginnt erst in der zweiten Romanhälfte. ”One of the oddest things about Corinne is that it is a guidebook to Italy just as much as a guide to the woman of genius. And Mme de Staël called the novel Corinne, ou l'Italie to signify its double usefulness.” 395 Landschaftsbeschreibungen sind in der ersten Texthälfte bezüglich Zahl und Umfang nur spärlich vorhanden, und in der Regel fungieren sie nicht als Naturbilder, sondern sind Bestandteil des kulturhistorischen Panoramas. Von den insgesamt fünf Bezugnahmen auf Natur- und Kulturlandschaften Italiens - in der zweiten Texthälfte gibt es deren fünfzehn - verweisen drei auf Gartenanlagen (Gärten in Rom, Corinnes Garten in Tivoli, der Klostergarten San Giovanni in Rom), eine auf eine Landschaft auf einem Gemälde in Corinnes Haus und nur die letzte auf eine Naturszenerie im eigentlichen Sinne, die Campagna, jedoch ohne bedeutungsrelevante Verbindung zum Handlungskonflikt. Dieser Sachverhalt ändert sich in der zweiten Romanhälfte mit der Darstellung des Zusammenstoßes und der letztendlichen Unvereinbarkeit der unterschiedlich gewachsenen Kulturräume Englands und Italiens. Landschaftsbeschreibungen dienen hier zwar immer noch, in der Tradition der Apodemiken und Reisehandbücher des 18. Jahrhunderts, der philosophisch-moralischen Erbauung und Wissensvermittlung unter geografischen und topografischen Gesichtspunkten. Dies gilt insbesondere für die Stadtlandschaften von Rom, Neapel und Pompeji, Florenz und Venedig, 396 aber auch für Szenarien wie die Pontinischen Sümpfe, den Vesuv, die Grotte von Pausilippo, das Kap Miseno, den Apennin, die Lombardei und die Toskana sowie die Bergwelt um den Mont Cenis und die anschließenden Gebirgstäler. Es entsteht so ein instruktives Gesamtbild natürlicher Gegebenheiten Italiens, wie es für den Grand Tourist bei seiner Reise nützlich sein konnte. Im zweiten Romanteil ist Landschaft aber immer von darüber hinausgehender Bedeutung, indem ihr in Bezug auf den intrapsychischen Befindlichkeitsstand der Hauptakteure eine erhellende und erklärende Funktion zugewiesen ist: «Chaque fois qu’est peint le monde extérieur, c’est avec l’intention de créer une atmosphère et de dégager une signification de l’inanimé». 397 Das Landschaftsbild von Terracina zu Beginn der zweiten Romanhälfte umschreibt, sowohl durch seine erzählerische Gestaltung - es gibt 394 Kirsch, Epochen des französischen Romans, 131. 395 Moers, Performing Heroinism, 336. 396 «Mme de Sta l a su extraire le caractère propre à chaque région d’Italie et y a ajouté une valeur proprement psychologique en référence à l’intrigue romanesque. Rome, la ville où Oswald connaît cette double révélation de Corinne et de l’Antiquité, Naples, la ville de l'amour fou, Venise, la ville mélancolique des incertitudes, Florence, funèbre.»(Le Gall, Le Paysage chez Madame de Staël, 48f.). 397 Ebd., 48. 158 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE keinen Dialog und keine Reaktion der Figuren auf das Wahrgenommene - als auch durch seine auf klassische Vorbilder zurückgehende Symbolik, narrativ zunächst einen Idealzustand. 398 Jedoch : «Dans l’ensemble, les paysages, les objets extérieurs prennent facilement, pour l’auteur de Corinne, un sens symbolique.» 399 Oswald und Corinne als wandelnde Statisten in arkadisch-elysischen Gefilden sind die erzählerische Umsetzung einer fiktionalen Vision in einer Landschaft, die diesen Idealzustand durch Symbole des Überflusses, der Harmonie und der Glückseligkeit des Goldenen Zeitalters versinnbildlicht. Ihre argumentative Funktion zu Beginn der zweiten Romanhälfte mit ihrer psychologisierenden Zentrierung auf die Kontrastierung von England und Italien, wobei, keinesfalls zufällig, Zahl und Umfang der Landschaftsbeschreibungen ansteigt, ist es, den Gefühls- und Erlebniszustand im Falle einer geglückten Symbiose aufzuzeigen, falls sie unter den Prämissen Italiens, d.h. unter den von der italienischen Natur ausgesandten Zeichen und Symbolen, zustande kommen könnte. Die im Subtext erkennbare Bedeutungsschicht bzgl. der notwendigen Voraussetzungen - es bedürfte seitens Oswalds eines Sicheinlassens auf elementare und spontane Gefühle unter Einschluss sexuellen Begehrens - lässt Zweifel sichtbar werden, dass eine solche Synthese gelingen wird. Dies bewahrheitet sich bereits in der unmittelbar folgenden Szene, als Oswalds einzige Reaktion auf die auffordernd-stimulierenden Botschaften des Naturbildes die laue Umarmung Corinnes ist, während sie die Zeichen der Natur korrekt deutet, die jedoch leider Ungemach und Scheitern ihrer Liebe voraussagen: La lune que je contemplais s’est couverte d’un nuage, et l’aspect de ce nuage était funeste. J’ai toujours trouvé que le ciel avait une impression, tantôt paternelle, tantôt irrité, et je vous le dis, Oswald, ce soir il condamnait notre amour.(CI, 289) Argumentativ beschreibt das Landschaftsbild von Terracina also eine Zielprojektion, die sich als letztendlich nicht erreichbar erweist. Die Kraterlandschaft des Vesuvs steht in einem kontrastiven Verhältnis zu dieser Ideallandschaft in der Weise, dass sie die Argumentationsbasis für Oswalds befremdliches Verhalten schafft, nämlich sein auf den ersten Blick gänzlich unverständliches Zögern, sich mit Corinne im Moment glückhafter Umstände spontan und körperlich zu verbinden. Das Bild der zerstörten Natur stellt für die Leser in seiner Symbolhaftigkeit das Gegengewicht zur Attraktivität der arkadischen Landschaft von Terracina dar. Deren Lieblichkeit und Faszination, die vor dem Hintergrund klassischer literarischer Vor-Bilder als rundum erstrebenswert erscheinen, werden konterkariert durch die Macht spätmittelalterlich anmutender Schreckensbilder von Gewissensqualen und kommendem Leid. Psychologisch 398 «Mme de Sta l n’ignore ni Salvator Rosa ni Piranèse. Pourtant ses sources demeurent littéraires au premier chef [...]».(ebd., 42). 399 Lehtonen, Le fleuve du temps: Le temps, 235. 159 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG wird Oswalds Unschlüssigkeit zu handeln dadurch gerechtfertigt, dass der Text über Naturphänomene den Eindruck von der Präsenz einer apokalyptischen Bilderwelt Grünewald’schen Zuschnitts in Oswalds Innerem vermittelt. Frau von Staël «[…] finit par transformer l’enfer en une réalité psychologique» 400 : Die Darstellung der Hölle als intrapsychische Wirklichkeit gehört zu den überzeugendsten Aspekten dieses Romans aus psychohistorischer, charakteranalytischer und erzähltechnischer Sicht. Die Ursachen dieses Zustands sind, wie die Leser inzwischen wissen, die gesellschaftlichen Zwänge Englands und Schottlands, womit es der Autorin gelingt, sie als machtvolle, rücksichtslos in Schicksale eingreifende Realität darzustellen. Das dritte Landschaftsbild vom Mont Cenis ist, in der argumentativen Abfolge angloitalienischer Kontrastierung durch Naturszenen, die Präsentation von Ergebnissen mittels psychischer Zustandsbeschreibung. Eine glückhafte Verbindung der beiden Lebenswelten hat nicht stattgefunden. Alle drei Beteiligten, Oswald, Lucile und auch Corinne, wie die Handlung bald danach im verheerenden Ergebnis deutlich machen wird, zeigen Symptome gravierender innerer Verletzungen oder sogar Schädigungen, die in Corinnes Fall zu ihrem psychischen Zusammenbruch - dem Verlust ihrer Kreativität - und ihrem physischen Ende führen. «Tel est le prix de la grandeur anglaise, qui exige le sacrifice des femmes et la mutilation des désirs dans l’uniformisation rigoureuse des conduites réglées par la division des sexes.» 401 Allerdings ist auch Oswald, worauf schon hingewiesen wurde, nicht nur Täter, sondern auch Opfer gesellschaftlicher Machtstrukturen. Die Symbolik der Landschaft der vereisten Bergwelt lässt eine mehrschichtige Deutung zu: 1. als Umschreibung des Fehlschlags, Italiens und Englands Lebenswirklichkeit zusammenzuführen; 2. als Situationsbeschreibung der emotionalen Kargheit der von England und Schottland hervorgebrachten Lebenswelten, die generell seelische Verarmung bedeuten; 3. als Veranschaulichung individueller intrapsychischer Verkümmerung in den beiden Protagonisten; 4. als Visualisierung des tristen und öden Psychoklimas in Oswalds und Luciles Ehe, die unter den Vorgaben der heimischen Konventionen geschlossen wurde. Wie die Einbeziehung des Subtextes ergab, werden insbesondere die Frauen mit Anzeichen psychischer Schädigungen in eine Opferrolle gedrängt. Das feminine, aber auch das maskuline Rollenverständnis zwingen die Betroffenen in unnatürliche Verhaltensweisen, wie beispielsweise Oswalds und Luciles gegensätzliche, in beiden Fällen jedoch unangemessene Reaktion bei Gefahren zeigt. Ähnliches gilt für die Kommunikationsblockaden ihrer Ehe, die in häufigem Schweigen resultieren. Sie agieren 400 Lehtonen, Le fleuve du temps: L’enfer, 400. 401 Beaumarchais, Dictionnaire des oeuvres littéraires, 446. 160 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE nicht wie eigenständige Individuen, wie Italien sie hervorzubringen vermag und Corinne augenfällig verkörpert, 402 sondern als fremdbestimmte, seltsam gehemmte und emotionsarme Vertreter einer sozialen Gruppe, der ‚eisernen Seelen’ in Corinnes Terminologie, für die Anpassung an Normen oberste Priorität hat. Für ihr Leben in England legt ihr der Erzähler den Vergleich mit einer mechanischen Puppe in den Mund: [En Angleterre] j’aurais pu, ce me semble, envoyer à ma place une poupée légèrement perfectionnée par la méchanique; elle aurait très bien rempli mon emploi dans la société.(CI, 369) In bitterer Ironie greift dieses einprägsame Bild der Heldin als Marionette und mechanisches Spielzeug den Gedanken des Todes mitten in Leben auf, den Corinnes Schwiegermutter als Gegenleistung für ihre Einwilligung zu ihrer Ausreise nach Italien ins Spiel gebracht hatte. 3.1.3.4 Landschaft als Sinndeutungssystem weltanschaulicher Überzeugungen der Autorin Der Erzähler beschreibt die drei Landschaftsbilder aus der Perspektive der Allwissenheit, meist in der Rolle des neutralen Beobachters oder des unbeteiligten Zeugen bei den Dialogeinschüben. Kenntnisreiche Beiträge zur Kulturgeschichte, literarische Zitate sowie philosophisch-moralisierende Gedanken, vorgetragen in belehrendem Ton zu bildungsbeflissener Erbauung, erwecken den Eindruck von Distanziertheit zum Handlungsgeschehen, aber mehrfach wird mittels der indefiniten Pronomen ‚man’ bzw. ‚wir’ mit den Lesern ein fiktiver Dialog begonnen. Punktuell wird sichtbar, dass die auktoriale Erzählweise auch die Kenntnis innenweltlicher Vorgänge umfasst (z.B. «Elle cachait ses craintes aux regards d’Oswald, mais se reprochant souvent d’avoir emmené sa petite fille»(CI, 549), und nur in einem Falle wird kommentierend Stellung bezogen: «Lucile avait tort de ne pas exprimer ses craintes [...]».(CI, 552) All dies bedeutet nicht, dass keine Anteilnahme am Geschehen vorhanden wäre, ganz im Gegenteil. Die leitmotivartig wiederkehrende Forderung nach ‚Natur’ und ‚Gefühl’, die markanten Oppositionen der italienischen und englischen Lebensauffassungen, wobei letztere unumwunden abgelehnt wird - «tout paraît meilleur que la servitude, le dégoût et l’insipidité»(CI, 385) - oder die einfühlsame Hinwendung zu Lucile als Frau in der Opferrolle - «quand on aime et qu’on ne se croit pas aimé, on se blesse de tout [...]»(CI, 552) - zeugen von einem engen Verhältnis zu den Figuren in ihren Konflikten. Der Schluss liegt nahe, dass Erzähler und Autorin wei- 402 "For literary women, Corinne was the female Childe Harold, and Byron owed something, as he and his contemporaries recognized, to Mme de Staël." (Moers, Performing Heroinism, 322f.). 161 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG testgehend identisch sind. Autobiografische Parallelen zur Konzeption der Protagonistin untermauern diese Annahme bis hin zur Gewissheit. 403 In dem, trotz seiner didaktischen Überfrachtung, seiner romantischen Überzogenheit und seiner pauschalierenden Urteile beachtenswerten Roman aufgrund seiner Thematik und vor allem der subtilen Psychologisierung 404 geht es Frau von Sta l um Kritik an einem spezifischen, gesellschaftlich sanktionierten und geförderten Bild vom Menschen. 405 Diese Kritik ist zentriert auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht, ein bestimmtes Land und eine bestimmte Zeit: die englisch-schottische, großbürgerlicharistokratische Klasse des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Dahinter steht weder ein politisch-nationales noch ein sozialreformerisches Interesse. Die thematische Relevanz des modernen Anliegens von Selbstfindung und Selbstbestimmung, von Individualität und Identität, geht weit über solche Grenzziehungen hinaus, ganz abgesehen davon, dass Frau von Staël Italien keinesfalls unkritisch gegenübersteht, wie ihr kühl-distanziertes Porträt von Venedig zeigt (vgl. CI, 420ff). Sie entgeht der Gefahr, wissentlich und gewollt zur Bildung nationaler Klischees und Stereotypen beizutragen, auf vierfache Weise: 1. Ziel der Beschäftigung mit Italien ist nicht nationale Glorifizierung, sondern Darstellung einer alternativen Lebensform; 2. der thematische Konflikt ist personalisiert in den drei Hauptfiguren, womit einer unkritischen Verallgemeinerung Grenzen gezogen sind; 3. das Engagement der Autorin gilt zielgerichtet der Öffnung eines verengten Menschenbildes, nicht Instituti- 403 Zeitgenossen sahen bereits zu Lebzeiten von Frau von Sta l eine große oder fast völlige Übereinstimmung der Autorin mit ihrer Protagonistin: «Dans le caractère de Corinne, Mme de Sta l a peint un soi imaginaire, ce qu’elle est, ce qu’elle a eu le pouvoir d’être et ce qu’elle peut facilement imaginer qu’elle pourrait devenir.[...] Dans le cas de Corinne, la ressemblance est si grande entre l’auteur et le personnage que l’éloge ou la critique se confondent avec ceux qui sont faits de Mme de Staël dans la vie même.»(Simone Balayé, Corinne et les Amis de Madame de Staël, Revue d’Histoire Littéraire de la France, 1966, No 1, 143f.). «Si Mme de Staël a transposé la réalité italienne dans son livre, elle y a mis aussi beaucoup d’elle-même et de sa vie et l’on a pu dire que Corinne était une Mme de Sta l idéalisée.»(Balayé, Préface, Corinne ou L’Italie, 18). „Beide Werke [Delphine und Corinne ou l'Italie] sind, zumindest in der Charakterisierung der Hauptperson, stark autobiographisch.“(Walter Jens in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. XV,862. 404 ”’It is an immortal book, and deserves to be read three score and ten times - that is once every year in the age of man.’ Elizabeth Barrett (age 26) on Corinne.“(Moers, Performing Heroinism, 319). 405 In Bezug auf die Rezeption des Textes gelangt Erwin Koppen zu folgender Einschätzung: „’Corinne’ und ’Delphine’ werden heute nicht mehr gelesen, woran nicht nur die Vergeßlichkeit und der schlechte Wille des modernen Lesers schuld sind [...]“. Den Grund dafür sieht er in der „melancholischen, alle Farben rousseauistischer Empfindsamkeit dick auftragenden und mithin für heutige Leser unerträglichen Liebesgeschichte [...]“.(Erwin Koppen, Madame de Staël, in: Lange, Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, Romantik und Realismus, 54). 162 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE onen oder Organisationen; 4. das Augenmerk ist auf die psychologisierende Analyse gerichtet, nicht auf die Zuweisung von Eigenschaften an Personen auf Grund ihrer nationalen Herkunft (vgl. 1.3.1-2). Nichtsdestotrotz hat Frau von Sta l den «images» von Italien wie auch von England, mit denen sie durch ihre literarischen Aktivitäten bestens vertraut war, wichtige Züge hinzugefügt. Der Handlungskonflikt ist nicht auf individuelle Idiosynkrasien der Charaktere gegründet, sondern Ergebnis sozio- und psychokultureller, also gruppendynamischer Prozesse. Die Hauptfiguren sind in ihrer jeweiligen Eigenart Resultate präsubjektiver Prägung und repräsentieren damit auch ihre Gruppe in deren nationalen, gesellschaftlichen und kulturellen Einbindung. Insofern kann es der Roman gar nicht vermeiden, an einer ‚Image’-Bildung mitzuwirken. Die Kritik der Autorin richtet sich jedoch nicht gegen England als politisches Gebilde oder Ort ausgeprägter kultureller Tradition. „Ihrer kosmopolitischen Grundhaltung entsprechend [...] hält [Frau von Staël] alle Völker und Kulturen für prinzipiell gleichberechtigt.“ 406 Trotz der sozialrevolutionären Thesen der Französischen Revolution steht sie konservativtraditionalistisch auf dem Boden der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. «On sait comment elle est à la fois fille de son siècle et en révolte contre lui.» 407 Worum es ihr geht, ist Emanzipation aus gesellschaftlich verordneter Unmündigkeit, jedenfalls solange die Entwicklung des persönlichen Potenzials dadurch behindert wird. Als Bewundrerin Kants, dem sie in De l’Allemagne den gleichen Raum gibt wie Goethe und Schiller, 408 liegen ihr drei Dinge am Herzen: «la glorification de l’homme, son élévation audessus du monde matériel, le triomphe de l’esprit qui est en lui“. 409 Genau diese Voraussetzungen für ein von ihr gewolltes Menschenbild sind in Oswald und Lucile, im Gegensatz zu Corinne, nicht vorhanden. Sie sind Personen ohne wahres Selbst in dem Sinne, dass sie auch in wesentlichen, ihr Lebensglück betreffenden Fragen im Denken und 406 Grimm, Hrsg., Französische Literaturgeschichte, 237. «Le cercle de Coppet est cosmopolite comme sa souveraine, non seulement par l’échantillonage des nationalités, mais par la culture et les goûts des membres qui les conduisent souvent à mettre en discussion la prééminence de la littérature francaise". (Balayé, Corinne et les Amis de Madame de Staël, 139f.). 407 André Monchoux, Madame de Staël - Interprète de Kant, Revue d’Histoire Littéraire de la France, , 1966, No 1, 82. «Protestante, spiritualiste, disciple fervent de Rousseau, elle est en lutte contre les autres philosophies devenues regnantes: le sensualisme de Locke et de Condillac, le matérialisme de la ‘coterie holbachienne’, et même et surtout le scepticisme de Voltaire, et cette raillerie qu’il a mise à la mode. Les dégoûts de Mme de Sta l s'accroissent à constater les effets des doctrines: une frivolité irréligieuse, une morale de l’intéret [...]. C'est l'homme qu’il faut relever: là est le service essentiel attendu de Kant.» (a.a.O.). 408 «Un des aspects les plus remarquables de Corinne est que trois pays apparaissent dans le roman, la France, l’Angleterre et l’Italie, quatre si l’on ajoute l’Allemagne que n’incarne aucun personnage, mais dont la philosophie est partout présente.»(Balayé, Préface, 19). 409 Ebd., 72. 163 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Handeln durch gesellschaftliche Vorgaben so geformt sind und weiterhin gesteuert werden, dass eine Übereinstimmung mit elementarem und berechtigtem Wünschen und Begehren nicht gegeben ist. Sie sind Personen mit aufgesetzter Identität, die nicht selbst bestimmen, was ihrer wahren Natur entspricht und sich selbst wie auch emotional und kommunikativ ihren Mitmenschen entfremdet sind. Damit ist noch einmal ein Kernbegriff in Frau von Staëls Denken angesprochen: Es ist die ‚Natur’, womit nicht nach heutigem Verständnis auch die aus dem Erdinnern quillende grausame und zerstörerische Lava, «un fleuve de l'enfer»(CI, 337), gemeint ist, sondern die mit der Seele korrespondierende Landschaft als sichtbare Verkörperung dieser Natur. «Elle approuve les idées de certains philosophes allemands, admettant, d’une part, l’hypothèse d’une ’puissance infernale’, et établissant, d’autre part, un rapport entre la nature et l’âme humaine.» 410 Letztlich geht es aber nicht nur um die Beziehung, sondern die Übereinstimmung zwischen Selbst und Natur. Voller Emphase lässt die Autorin Corinne ihre Ablehnung Englands mit dem Wunsch nach Wiedergewinnung von ‚Natur’ begründen: Si la vie était offerte aux morts dans les tombeaux, ils ne soulèveraient pas la pierre qui les couvre avec plus d’impatience que je n’en éprouvais pour écarter de moi tous mes linceuls, et reprendre possession de mon imagination, de mon génie, de la nature! (CI, 385) Die Übereinstimmung mit dieser ‚Natur’ ist die Grundlage von Begeisterung des Menschen, von selbstloser Hingabe und leidenschaftlichem Eintreten für jemanden oder für etwas, was ihn zu Großartigem wie Dichtung, Liebe und Religion befähigt: «La poésie, l’amour, la religion, tout ce qui tient à l’enthousiasme enfin est en harmonie avec la nature [...]».(CI, 193) Dies ist, in anderem Begründungskontext, nochmals die vehemente Absage an die Unterdrückung von Geist und Talent, Gefühl und Fantasie und ein Plädoyer für eine innere Befreiung des Einzelnen, was in Frau von Sta ls Zeit für Frauen besonders relevant war. 411 410 Lehtonen, Le fleuve du temps: L’enfer, 394, Fußnote 1. 411 Die Analyse des Landschaftsbildes vom Vesuvkrater hatte gezeigt, dass Oswald, als Inhaber der maskulinen Rolle, nicht nur Täter, sondern gleichzeitig Opfer gesellschaftlicher Unterdrückung ist. Die negativen Folgen sind in seinem Falle weniger deutlich und rasch erkennbar, da ihn das ritualisierte maskuline Rollenverhalten vor deren Zutagetreten schützt. Hinzu kommt, dass sich psychische Störungen im maskulinen Gebaren auf andere Weise äußern als im femininen, wie gerade das Landschaftsbild vom Mont Cenis gezeigt hat. Angesichts der massiven Beeinträchtigungen in Oswalds Psyche erscheint es jedoch nicht angebracht, Frau von Staëls Anliegen der Emanzipation auf die Situation der Frau ihrer Zeit verengen zu wollen, obwohl dieser Aspekt für sie von außerordentlicher, weil persönlicher Wichtigkeit war. Oppressive gesellschaftliche Normen gab es, so das Fazit des Romans, für Männer wie für Frauen, aber infolge der ungleichen geschlechterspezifischen Strukturiertheit der Gesellschaft mit gewaltigen Unterschieden in den Auswirkungen, wie Corinnes tragisches Ende zeigt. 164 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Wie heftig sie mit Corinne ou l’Italie am maskulinen Rollenverständnis, an patriarchalischen Grundüberzeugungen, an der „emotionalen Selbstbezogenheit der Männergesellschaft“ 412 der Epoche und indirekt auch in der Politik an den geschlechterspezifisch ungleichen Machtverteilungsstrategien ihrer Zeit rüttelte, zeigt der Umstand, dass der Roman die Polizei auf den Plan rief und Mitursache ihrer Verbannung wurde. „Napoleon schätzte diese Gegnerin als eminent gefährlich ein“ 413 , denn sie war zum Sinnbild unterdrückter Freiheit geworden. Frau von Sta l ging es jedoch weder politisch, sozial noch geistig um Umsturz, und sie „[…] billigt weder Rousseaus soziologische Auslegungskategorien noch seinen, gegen die bürgerliche Mentalität gerichteten Geschichtspessimismus, der mit den Machtansprüchen ihrer bürgerlichen Welt kollidiert“, dagegen „[…] steigert sie das Thema des Seelenadels zu einem neuen Elitebewußtsein“. 414 Die Protagonistin Corinne ist die Verkörperung ihrer aufklärerischen Überzeugung, dass die Freiheit des Einzelnen im Rahmen eines an der Natur orientierten Kulturverständnisses oberste Priorität in der Organisation menschlichen Zusammenlebens haben müsse, was in ihrer Hauptschaffenszeit vom Beginn der neunziger Jahre bis zu ihrem Tod 1817 aufgrund der politischen Verhältnisse zunehmend Kritik am Frankozentrismus bedeutete. 415 In diesem emanzipatorischen und reformerischen (nicht fundamentalistischen und revolutionären) Sinne, dem Einzelnen mehr Freiraum von Gesellschaftszwängen zur Selbstentfaltung, Selbstfindung und Selbstbestimmung zu verschaffen, was vorrangig den Frauen zugute gekommen wäre - «Ainsi se définit l’aspect proprement féminin du roman» 416 - wie auch bei der interkulturellen Relevanz der Thematik und der subtilen Psychologisierung innenweltlicher Konflikte über die Symbolik der Landschaft Italiens, geht Frau von Staël mentalitätsgeschichtlich und auf erzähltechnisch innovative und überzeugende Weise den Weg zu einem modernen Verständnis des Individuums. 412 Horst Breuer, Historische Literaturpsychologie - Von Shakespeare bis Beckett, Tübingen: Francke Verlag, 1989, 27. 413 Engler, Geschichte des französischen Romans, 186. 414 Ebd., 186f. 415 Beim Blick auf diesen biografischen Hintergrund wird verständlich, „[…] daß sie nicht nur als Feministin avant la lettre gilt (was aber sehr cum grano salis zu nehmen ist), sondern auch als Begründerin zweier literaturwissenschaftlicher Disziplinen: der Literatursoziologie und der Vergleichenden Literaturwissenschaft.“(Koppen, Mme de Staël, in: Lange: Französische Literatur, Bd. 1, 54). 416 Balayé, Préface, Corinne ou l’Italie, 23. 165 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.1.4 Zusammenfassung 1. Die Opposition von England und Italien als kulturell unterschiedlich codierte Räume wird im Roman in starker Kontrastierung herausgearbeitet, wobei sich Klima, Geschichte, Politik, Religion, Wirtschaft, Kunst und Literatur als prägende Faktoren erweisen. Es stehen sich zwei kenntnisreiche und einfühlsame, wenngleich pauschalierte Bilder in ausgeprägter Andersartigkeit gegenüber. 2. Die Charakter- und Wesenszüge der Menschen in den beiden Kulturräumen werden in vieler Hinsicht als schroffe Gegensätze konzipiert, wobei die Opposition von Pflicht und Gefühl als Leitmotiv den ganzen Text durchzieht. Die Romanfiguren des angelsächsischen Raumes sind Personen ohne ein wahres Selbst und mit aufgesetzter Identität, geformt zu ‚eisernen Seelen’, emotional und kommunikativ ihren Mitmenschen entfremdet, die zwanghaft im Rahmen gesellschaftlicher aufoktroyierter Uniformierung agieren. 3. In der Begegnung mit Landschaft wird die machtvolle Prägekraft soziokultureller Normen augenfällig, wobei Täter auch Opfer werden können. In der Opferrolle sind insbesondere die Frauen, die im gegebenen psychohistorischen Kontext den Zwängen gruppendynamischer Präformierung bis zum Punkt psychischer Störungen und gravierender seelischer Schädigung ausgesetzt sind. 4. Frau von Staëls Italienbilder sind symbolische Landschaften, in denen die Bruchstellen in der Beziehungskonstellation der drei Hauptfiguren offen zu Tage treten. Die Antagonismen von Pflicht und Gefühl, Konvention und Natur, Fremd- und Selbstbestimmung, seelischer Verkümmerung und Lebensbejahung spiegeln sich in dem Verhalten und Erleben der Figuren in Italiens Landschaft. Sie fungiert anfangs als Wunschprojektion einer Symbiose der beiden Lebenswelten, dann als Verbildlichung von Gewissensqualen und schließlich als subtile Beschreibung soziokulturell konditionierter Neurosen in geschlechtsspezifisch variierender Ausprägung. 5. Italien offenbart sich über die Landschaftssymbolik als Ort, an dem Emanzipation und sogar seelische Heilung möglich wären, falls die Menschen in Harmonie mit der Natur lebten, wie es im Süden geschieht. Diese befreiende Wirkung Italiens entsteht in der Konfrontation mit der Lebenswelt Englands, die bei allem Verständnis für Tradition und kulturellen Eigenwert unumwunden abgelehnt wird, da sie eine Welt gesellschaftlich verordneter Unmündigkeit und emotionaler Verarmung zum Schaden des Individuums darstellt. 6. Auf dem Weg der Psychologisierung mittels Symbolik der Landschaft werden intrapsychische Konflikte subtil und überzeugend sichtbar gemacht. Es kommt zur ‚Verinnerlichung der Landschaft’ (Le Gall), und sogar ‚die Hölle wird eine psychologische Realität’ (Lehtonen), ein 166 F RAU VON S TAËL : C ORINNE OU L 'I TALIE Beleg für Problembewusstsein, Analysekompetenz und erzähltechnische Innovationskraft der Autorin auf ihrem Weg zu einem modernen Verständnis des Individuums. Die Außenwelt dient zur einfühlsamen Spiegelung innenweltlicher Befindlichkeit, zur ‚Seelenschilderung’ und ‚Seelenmalerei’ 417 , wird ‚Seelenlandschaft’ (Winfried Engler) und ‚Korrespondenznatur’ infolge ‚subjektiver Durchseelung’ durch ‚Übertragung der Dynamik der Seele auf das Naturbild’ (Uwe Dethloff): Sie wird ‚externalisierter Seelenraum’ (Horst Breuer). Die psychischen Verwerfungen und Brüche hinter optisch geglätteten Fassaden werden jenseits des manifesten Gehalts auf latenter Sinnebene sichtbar. 7. Aufgrund unterschiedlicher auktorialer Schwerpunktsetzungen in dem fünfpoligen Beziehungsgeflecht von a. Autor und Intention, b. Erzählinstanz und Erzählstrategie, c. Leser und Rezeption, d. Figur und Innenwelt sowie e. Landschaft und Landschaftsbild, wobei von „zahlreichen Spielarten und Ausdrucksformen von literarischer Landschaft in den Nationalliteraturen“ 418 ausgegangen werden kann, können Landschaftsbilder mit unterschiedlichen Funktionen belegt werden. Frau von Staëls literarische Landschaftsbilder haben durchweg eine abbildend-illustrative Funktion. Sie sind Projektionsbzw. Folienwand, Reflektor bzw. Spiegelfläche der Innenwelt für Wünsche (Terracina), Schuldgefühle (Vesuv) und gestörte Psychen (Mont Cenis). 8. Der Roman stellt ein leidenschaftliches und in die Zukunft weisendes Plädoyer für die Selbstentfaltung der Fähigkeiten des Einzelnen, insbesondere der Frau, dar. Die Botschaft in allen drei Landschaftsbildern ist, dass es für den Menschen in einer gottgewollten Ordnung in Übereinstimmung mit der Natur einen individuellen Freiraum zur Entfaltung seiner Fähigkeiten geben müsse, zu dessen grundsätzlicher Einschränkung keine soziokulturelle (oder auch politische) Macht die Legitimation besitze. Als Bewundrerin der Aufklärung und anfangs auch der Französischen Revolution tritt Frau von Staël für Emanzipation und Reformen ein, und aus dieser Position wendet sie sich zunehmend gegen kulturellen und politischen Frankozentrismus. Ihr geht es jedoch nicht um eine radikale Umkehrung der bestehenden gesellschaftlich-politischen Verhältnisse, sondern um geistigen Wandel und Erneuerung innerhalb der Gesellschaft zugunsten eines freien, sich selbst bestimmenden Individuums. 417 Horst Breuer, Die Funktion der Naturschilderungen in den mittelenglischen Versromanzen, Göttingen: Dissertation der Georg-August Universität, 1966, 117 u. passim. 418 Dethloff, Literarische Landschaft, 16. 167 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.2 Charles Dickens: Little Dorrit 3.2.1 Diskursiv-biografischer Hintergund und thematische Zielrichtung Als Charles Dickens (1812-1870) 1855 mit der Veröffentlichung von Little Dorrit begann, “one of the master’s major performances“ 419 bzw. “one of the most profound of Dickens’ novels and one of the most significant works of the nineteenth century“ 420 , hatte er nicht nur den größten Teil seines Werks bereits geschrieben, sondern konnte auf eine erfolgreiche publizistisch-literarische wie auch beruflich-unternehmerische Laufbahn als Autor und Herausgeber zurückblicken. Sein Ruf als Anwalt der ‚kleinen Leute’, der Benachteiligten und Unterdrückten und als Chronist des Lebens in London in all seiner schillernden Buntheit war gefestigt und hatte ihn in den Rang einer politisch-moralischen Instanz erhoben, dessen mahnende Stimme in der Politik gehört wurde. In rastloser Umtriebigkeit stellte er in Artikeln und Berichten, Romanen und Erzählungen, Reden und Briefen ein umfangreiches Werk zusammen, dessen physischen Anforderungen er erst 58-jährig erlag. Begonnen hatte Dickens literarische Laufbahn in humorvoll-heiterer Stimmung in den Sketches by Boz (1836) bzw. The Posthumous Papers of the Pickwick Club (1836-39), die ihm im Alter von 25 Jahren schlagartig einen Erfolg weit über Englands Grenzen bescherten. Sein letzter vollständiger Roman Our Mutual Friend (1864-65) - unvollendet blieb The Mystery of Edwin Drood (1870; fragment) - ist dagegen ”]...] one of his densest and most comprehensive accounts of contemporary society, as well as perhaps his bleakest”. 421 Aber bereits in Little Dorrit fünfzehn Jahre zuvor war die Atmosphäre jugendlicher Unbeschwingtheit längst geschwunden. Trotz aller Anerkennung und Erfolge hatte sich Dickens eine Stimmung der Melancholie und zuweilen der Resignation bemächtigt, die auch mit Empörung und Zorn angesichts sozialer Ungerechtigkeit und gesellschaftlicher Missstände einherging. Des Autors Eintreten für die Entrechteten, sein Einfordern moralischer Maßstäbe und sein Kampf gegen Materialismus und Korruption, Geld- und Machtgier nahm mit fortschreitendem Alter immer schärfere Züge an, die sich in Little Dorrit bis zur bitteren Satire und zu bösem Sarkasmus gegen Egoismus und Gefühlskälte der Mächtigen und Reichen steigerten. 419 F.R. Leavis u. Q.D. Leavis, Dickens - The Novelist, London: Chatto and Windus, 1970, 213. 420 Lionel Trilling, Little Dorrit, in: Price, Dickens - A Collection of Critical Essays, 147. 421 Ian Ousby, Hrsg., The Cambridge Guide to Literature in English, Cambridge: Cambridge University Press, 1988, 745. 168 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Dickens, “[…] at heart a philanthropist and a sentimentalist [...] remains one of the great and original writers of English literature“ 422 , obwohl seine Romane einerseits stark unter dem Einfluss biografischer Erlebnisse standen und andererseits von manchen wichtigen Entwicklungen seiner Zeit nur beiläufig Notiz nahmen. Am Beispiel der Industriellen Revolution, die sich unter schlimmen Geburtswehen in den Midlands vollzog, dabei die erste Industrienation der Geschichte hervorbrachte und Karl Marx mit Das Kommunistische Manifest (1848) im Auftrag des Londoner ‚Bundes der Gerechten’ zunächst auf den Plan und 1849 nach London gerufen hatte, wird deutlich, dass Dickens nicht als politischer Kopf agierte, sondern aus humanitärem Engagement heraus. In Hard Times (1854) ist die verödete Industrielandschaft Hintergrund der Handlung, aber des Autors Interesse galt der für ihn relevanten Unterscheidung von ’fact’ und ’fiction’ als Ausdruck eines utilitaristischen, menschenverachtenden Denkens, nicht dem Phänomen einer sich anbahnenden globalen technologischen Umwälzung. Emotional stand er dem ausklingenden Zeitalter der Postkutsche näher als dem technologisch innovativen der Eisenbahn. In ähnlich schemenhafter Weise blieben die Auswirkungen britischer überseeischer Expansionspolitik, die später mit den Begriffen Kolonialismus und Imperialismus belegt werden und mit Erscheinungen wie Menschenhandel, Ausbeutung und Unterdrückung einhergingen, im Hintergrund seines Erzählens. Arthur Clennam kehrt nach 25-jährigem Chinaaufenthalt nach England zurück, ohne dass der Text Bezug auf seine Tätigkeit im fernen Asien nähme, so wie auch die Herkunft der verwaisten Tattycoram, Pat Meagles’ Zofe, “a handsome girl with lustrous dark hair and eyes“(LD, 21), in seltsam rätselhafter Ungewissheit bleibt. Der Grund, weshalb Dickens Strömungen und Umwälzungen seiner Zeit in Gesellschaft und Politik, Literatur und Kunst nur sporadisch in seine fiktionalen Texte einfließen ließ und stattdessen das Panier zugunsten der Benachteiligten und Hilflosen ergriff, ist in seiner Biografie zu suchen. Offensichtlich ausgestattet mit einem ungewöhnlichen Maß an Empathie wurde diese Disposition durch negative Kindheits- und Jugenderlebnisse zu erhöhtem Unrechtsempfinden gegenüber Unglück und Leid gesteigert. Es ist verwunderlich, dass Dickens in fortgeschrittenem Alter in einem Spätwerk wie Little Dorrit, nach zunächst schwierigen Lebensphasen als Kinderarbeiter, Rechtsanwaltsgehilfe und Stenograf, dann jedoch als zunehmend erfolgreicher Journalist, Autor, Redner und Herausgeber von Zeitschriften, eine Episode seiner Kindheit zum zentralen Punkt des umfangreichen Romans macht. Die Monate seines Vaters im Marshalsea- Schuldgefängnis in London, wohin die Familie ihm folgte und die damit verbundenen Demütigungen des sozialen Abstiegs sind offensichtlich 422 Peter Wagner, A Short History of English and American Literature, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1988, 100 169 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG traumatisch tief wurzelnde Erfahrungen, die Dickens ein Leben lang begleiteten: “It would seem that the prison became for Dickens emblematic for the whole problem of suffering.“ 423 In Little Dorrit wird die Vorstellung des Gefängnisses zur zentralen Metapher nicht nur für den Kampf der Bedürftigen ums Überleben in London um 1830, sondern auch für das Ringen der braven und tüchtigen Bürger Englands gegen eine ins Monströse gewachsene Bürokratie in Gestalt des ’Circumlocution Office’, das in Verbindung mit den als machtvolle Kartelle auftretenden Interessengruppen von Justiz, Kirche, Adel, Militär, Finanzwelt und Verwaltung jede Idee und Initiative zwecks massiv egoistischer Interessenswahrung im Keim erstickt. So rennen der begabte Erfinder Daniel Doyce und dann auch Arthur Clennam trotz langer Auslandserfahrung ohnmächtig gegen die unsichtbaren Mauern der von den Klüngeln der Barnacles und Stiltstalkings in dem ’Office’ errichteten bürokratischen Blockaden an, deren einziger Zweck die Verhinderung jeden Fortschritts ist. Bei der Beschreibung des Aufstiegs zum Hospiz auf dem Sankt Bernhard im ersten Landschaftsbild dieser Untersuchung weitet Dickens die Metapher des Gefängnisses auf das Leben des Menschen im Allgemeinen aus, und dabei gilt, dass “[…] the sense of the human situation conveyed so potently in the Alpine chapter is distinctively Dickens’s [...]“. 424 Die schon angesprochenen bedrückenden Kindheitserlebnisse mit Folgewirkungen begleiteten Dickens ein Leben lang. Er war ein Pünktlichkeitsfanatiker, ”[...] and that obsession has in turn been related to some psychological complexity in which fear and guilt are closely intertwined”. 425 In gleicher Weise scheint eine ”curious psychology” für Dickens’ Wunsch verantwortlich zu sein, Möbel und Hausrat stets am selben Ort zu belassen: “[...] this overwhelming desire sprang in part from the childhood memory of endless house moves; he must have recalled, too, the period when all the familiar household items were sold off to pay his father’s debts. That is why his fiction is filled with bright hearthsides, snug quarters and ’cosy’ houses, where all the threat of change or decay is held at bay.” 426 Dickens litt unter diffusen Ängsten über ein Erlöschen seiner Schaffenskraft und Fantasie, und 1855, nach Kapitel II von Little Dorrit, bekennt er: “I am in a state of restlessness impossible to be described, [...] impossible to be imagined.“ 427 423 A.O.J. Cockshut, Prison Experiences in Dickens’s Novels, in: Swisher, Readings on Dickens, 49. 424 Leavis and Leavis, Dickens - The Novelist, 275. 425 Peter Ackroyd, Dickens: Public Life and Private Passion, London: BBC-Television - BBC Worldwide, 2002, 77. 426 Ebd., 77f. 427 Peter Ackroyd, Introduction, in: Charles Dickens, Little Dorrit, London: Mandarin Paperback, 1991, xiii. 170 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Anzeichen von genereller Schwermut und versteckter Depression scheinen bereits den Anfang des Romans bestimmt zu haben - der ursprüngliche Titel sollte bezeichnenderweise Nobody’s Fault lauten -, und sie zeigen sich in “[…] the lonely and melancholy hero, Arthur Clennam, who bears so strange a resemblance to Dickens himself during this period“. 428 Das Landschaftsbild vom Sankt Bernhard fasst in Gestalt einer Parabel in vielschichtiger Symbolik des Autors resignative Weltsicht zusammen: “There is no escape from the prison of the self, or of the world; […].“ ”He was writing a novel about prisons and imprisonment, and all the while he, too, was trying to escape.” 429 Zur Zeit der Niederschrift von Little Dorrit befand sich Dickens überdies in einer persönlichen Krise: ”[...] we can justifiably suggest that the brooding introspective quality of the novel [...] comes from the crises in Dickens’s own life, over his marriage, his children, his work and the state of his country.” 430 Just im Augenblick tiefer Unzufriedenheit erhielt er den Brief von Maria Beadnell, einer ihn einst verschmähenden Jugendliebe, deren Bild er sich in rosigsten Farben ausmalte. Umso herber war die Enttäuschung, als er bei der anberaumten Begegnung auf eine übergewichtige, geschwätzige Matrone traf - “All his passionate aspirations collapsed“ 431 -, der er in Flora Finching ein humorvolles literarisches Denkmal setzte. 1856 trennte er sich dennoch nach neunzehn Jahren Ehe von Catherine Hogarth, der Tochter eines seiner ersten Arbeitgeber, des Herausgebers des ’Morning Chronicle’, und verliebte sich in die achtzehn Jahre junge Schauspielerin Ellen Ternan. Um seinen Haushalt kümmerte sich seine ihn verehrende Schwägerin Georgina Hogarth, was Dickens zum Auszug in sein Verlagsbüro bewog, ihm aber dennoch, dem bekennenden Moralisten, den Vorwurf der doppelten Moral eintrug - “The newspapers turned upon him, accusing him of hypocrisy and treachery“ 432 -, was ihn zutiefst kränkte. Zusammenfassend erklärt sich die Genese des thematisch facettenreichen Romans nicht als Ergebnis einer geplanten Gesellschaftsanalyse oder soziologischen Bestandsaufnahme, sondern als Resultat eines Konglomerats aus Kindheitstraumata und diffusen Ängsten, Enttäuschungen und psychischen Verletzungen des Erwachsenen: „[es] herrschen in Little Dorrit seelische Probleme, neurotische und psychosomatische Störungen vor.“ 433 In diesem Kontext ist auch die Suche nach einer ‚heilen Welt’ zu sehen, wie sie Dickens als arkadische Idylle in der Beschreibung der ’Happy Cottage’ in Mrs Plornishes Laden im ’Bleeding Heart Yard’ darstellt 428 Ebd., xii. 429 Ebd., xiv u. xv. 430 John Lucas, The Melancholy Man - A Study of Dickens’s Novels, London: Methuen, 1970, 250. 431 Ackroyd, Introduction, in: Charles Dickens, Little Dorrit, xii. 432 Ackroyd, Public Life and Private Passion, 128. 433 Paul Goetsch, Dickens, München: Artemis Verlag, 1986, 143. 171 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG (LD, 645f.) und dabei tiefe Sehnsüchte seiner Leserschaft ansprach: “The universal sympathy and pleasure evoked by Dickens’ world may depend most on this persistent and profound human desire for personal and social harmony.“ 434 Übereinstimmend damit findet sich in den drei aus Little Dorrit ausgewählten verbalen Landschaftsbildern auf einer latenten Sinnebene der Wunsch des Autors nach innerer Ruhe. Sowohl die Beschreibung des Aufstiegs zum Hospiz des Sankt Bernhard als auch Amy Dorrits Fahrt nach Venedig durch eine irreale Landschaft und ihres Vaters verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung bei der Anfahrt nach Rom können aus tiefenpsychologischer Perspektive als fiktionale Umschreibung eines Mangels gedeutet werden: “[…] the text says more than its author knows, and this ’surplus of signification’ calls for a productive critique by the reader“. 435 Solch ein Interpretationsansatz kann des Autors melancholischresignativen Gemütszustand im ersten Landschaftsbild erklären sowie sein narratives Interesse an der existenziellen Verunsicherung und Angst seiner beiden Protagonisten in den zwei anderen Naturbildern. “Italy profoundly attracts Dickens. But in Little Dorrit its beauty is experienced almost entirely as illusion or privation.” 436 Nach eigenem Bekunden schätzte Dickens Italien über die Maßen: “[…] a noble country, inexpressibly attractive to me“(PI, 261), und so können die Irrealitäts- und Angstprojektionen der beiden Hauptfiguren vor der Naturkulisse Italiens, in ihrer Überlagerung der Schönheiten des Landes, als unbewusster Ausdruck psychischer Krisen des Autors zur Zeit der Niederschrift des Textes gedeutet werden. Die Funktion der Landschaftsbilder Italiens in Little Dorrit ist es, etwas darzulegen, zu demonstrieren, zu beweisen; sie wirken wie Demonstrationsbzw. Lehrmodelle, darüber hinaus auch wie subtile Instrumente zum Erfassen innerer Befindlichkeit zwecks Übermittlung von Aufzeichnungen aus dem nicht einsehbaren Raum der Psyche. Dickens beschäftigen zwei Problemfelder: Einerseits die existenziellen Begrenzungen des Menschen - “[…] the enclosed confines of the individual consciousness, the prison of the isolated ego“ 437 - und andererseits der Verlust moralischer Integrität als Folge der falschen Leitziele von Geld und Macht. Italiens Landschaft, in der er 1844-45, ähnlich wie sein männlicher Protagonist, mit zehnköpfigem familiärem Gefolge unterwegs war, funktionalisierte er narrativ zum Korrelat seelischer Befindlichkeit und legte im fünfpoligen Bezugsgeflecht von Autor, Erzähler, Leser, Figur und Landschaft den Schwerpunkt auf eine aufbauend-belehrende Rolle. 434 Joseph Gold, Dickens as Reformer and Moralist, in: Swisher, Readings on Dickens, 34. 435 Alistair Duckworth, Little Dorrit and the Question of Closure, in: Nineteenth Century Fiction, 35/ 1978, 128. 436 William Burgan, Little Dorrit in Italy, in: Nineteenth Century Fiction, 29/ 1974, 394. 437 Simon Petch, Little Dorrit: Some Visions of Pastoral, in: Sydney Studies in English 7, 1981/ 82, 102. 172 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT 3.2.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.2.2.1 Die Landschaft am Großen Sankt Bernhard: Der Aufstieg zum Hospiz als Parabel des menschlichen Lebens Die Beschreibung der Landschaft am und auf dem Großen Sankt Bernhard befindet sich unmittelbar am Beginn des zweiten Romanteils. Sie ist die längste und ausführlichste Darstellung von Natur im Roman überhaupt und die erste Bezugnahme auf Italien als Handlungsort. An diesem geografischen Punkt beginnt die Reise der Familie Dorrit in das südliche Land. 438 Geschildert wird nicht ein einheitliches Naturbild, sondern eine Folge von fünf Einzelbildern aus fünf verschiedenen Perspektiven, deren Einheit in Bezug auf die äußere Handlung darin liegt, dass sie den Aufstieg vom Tal zum Kloster und Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard zum Inhalt haben. Im Mittelpunkt des ersten Einzelbildes steht, ohne Ortsangabe, die Landschaft zwischen Genfer See und dem Hochgebirge mit dem Großen Sankt Bernhard zum Zeitpunkt der Weinernte. Zwei Merkmale kennzeichnen die Landschaft in dieser Jahreszeit: die Allgegenwart von Trauben und der Aspekt überquellender Fülle. The air there was charged with the scent of gathered grapes. Baskets, troughs, and tubs of grapes, stood in the dim village door-ways.[...] Grapes, spilt and crushed under foot, lay about everywhere. The child carried in a sling by the laden peasant woman toiling home, was quieted with picked-up grapes; the idiot sunning his big goître under the eaves of the wooden châlet by the way to the waterfall, sat munching grapes; the breath of the cows and goats was redolant of leaves and stalks of grapes; the company in every little cabaret were eating, drinking talking grapes.(LD, 487) Dickens zeichnet im Rückgriff auf seinen bekannten Erzählduktus zur Darstellung des Komischen ein humorvolles Bild der Landschaft und ihrer Bewohner. Die heimkehrende Bäuerin mit ihrem Kind, der Dorftrottel mit Kropf vor der Hütte, die Zecher im Wirtshaus und sogar die Kühe und Ziegen sind komische und doch liebevoll gezeichnete Geschöpfe in einer 438 Im ersten der beiden, annähernd gleich großen, mit ’Poverty’ bzw. ’Riches’ betitelten Romanteile ist der Schauplatz zweimal kurzzeitig Frankreich (Marseille, Chalon-sur- Saône), ansonsten London bzw. der Vorort Twickenham. Unter den rund einem halben Dutzend Landschaftsbezügen, darunter auch die genannten französischen Schauplätze, umfassen manche nur den Bruchteil einer Seite. Die Mehrzahl der Außenweltbeschreibungen beziehen sich auf die Stadtlandschaft London. Eine Ausnahme stellt die Schilderung des ‚Abends der Rosen’ dar. (LD, Buch I, Kap. 18). In der zweiten Romanhälfte verdoppelt sich die Zahl der Naturbeschreibungen, die mehrheitlich Italien, zweimal Frankreich (Paris, Calais) und dann wiederum England betreffen. 173 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Gegend des totalen Überflusses. Der auffällige Gebrauch asyndetischer und polysyndetischer Reihungen -’baskets, troughs, and tubs of grapes’, ’eating, drinking, talking grapes’, ’roads and lanes’, ’grapes, spilt and crushed’, ’leaves and stalks of grapes’ - allein erzeugt schon den Eindruck überbordender Menge. Dieser Eindruck wird durch Wiederholung verstärkt, wenn in jedem von acht aufeinander folgenden Hauptsätzen das Wort ’grapes’ erscheint, in den letzten vier jeweils am Satzende, so dass der Effekt offensichtlicher Übertreibung entsteht. Die visuellen Details ergeben ein Landschaftsbild ganz in der Tradition des Pittoresken, wonach der ’aesthetic traveller’ im Sinne Gilpins Vergnügen aus der Landschaft ableitet (vgl. 2.2.1). Die Atmosphäre einer Idylle korrespondiert mit der Schilderung des Überflusses in einer bukolisch-arkadischen Naturszenerie, in der Menschen und Tiere in friedvoller Eintracht leben. Die auktoriale Erzählinstanz bündelt den Gefühlseindruck in “generous abundance“, und der einzige, humorvolle Wermutstropfen ist der Geschmack des Weines, der in überzogener Kontrastierung als „thin, hard, stony“ bezeichnet wird. Völlig anders im Ton, Inhalt und Erzählmodus wird das zweite Einzelbild dargeboten: Shining metal spires and church-roofs, distant and rarely seen, had sparkled in the view; and the snowy mountain-tops had been so clear that unaccustomed eyes, cancelling the intervening country, and slighting their rugged height for something fabulous, would have measured them within a few hours’ easy reach.(LD, 487) Der Blick gleitet in die Ferne und auf Objekte, die herausragen und Höhe markieren: Kirchtürme, Berggipfel, Bergkämme. In ungewohnter Klarheit an einem sonnigen Herbsttag sind Berge mit berühmten Namen in trügerisch greifbare Nähe gerückt. Lange Satzgefüge und ein ernster, fast feierlicher Ton kennzeichnen die Beschreibung, in der keines der zuvor genannten Stilmittel zum Einsatz kommt. Im Mittelpunkt steht die Betonung der Fähigkeit des Auges, den Raum - real und intellektuell - zu durchdringen. In zwei kontrastiv angelegten Wortfeldern - ’transparent’, ’distant and rarely seen’, ’so clear’, ’plain and near’, ’distinctly defined’ bzw. ’unaccustomed eyes’, ’no trace’, ’to recede’, ’to fade out’, ‘like spectres’, ’mists and shadows’ - wird das Potenzial des Auges und seine Fähigkeit zur Durchdringung der Welt angesprochen. Dieses zweite Einzelbild steht ganz im Zeichen des visuellen und auch im übertragenen Sinne sehenden Erkenntnispotenzials, und wie im Vorgriff auf Merleau-Ponty erkennt der Text „dem Auge Selbständigkeit und produktiven Gestaltungsraum, eigenen Geist“ zu (vgl. 1.3.4). Dieser Zustand ist nicht von Dauer und weicht Phasen eingeschränkter Wahrnehmung, denn obwohl die fernen Gipfel bleiben, hat es den Anschein, dass sie wie Gespenster in der hereinbrechenden Dunkelheit feierlich zurückweichen und sich das Rot des Sonnenuntergangs in das fahle Weiß der einsamen Höhen wandelt: 174 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT And now, when it was dark below, though they seemed solemnly to recede like spectres, who were going to vanish, as the red dye of the sunset faded out of them and left them coldly white, they were yet distinctly defined in their loneliness, above the mists and shadows.(LD, 487f.) Der nach oben gerichtete Blick büßt seine Erkenntniskraft ein, das zuvor deutliche Ziel verliert seine Konturen, und aus dem lebensvollen Rot wird ein blutleeres Weiß. Symbolisch sind damit Phasen des menschlichen Lebens umschrieben, wenn zeitweise Ziele klar erkennbar sind, dann aber häufig, durch das symbolische Dunkel widriger Umstände, ihre Konturen verlieren und aus dem Blickfeld geraten oder als weit entrückte, seelenlose Schemen an Bedeutung einbüßen. Das Dunkle kann bedrohliche Ausmaße annehmen. In der realen Natur am Sankt Bernhard wirken die Berghänge durch die heraufkriechenden Schatten und Nebel der Dunkelheit wie von steigendem Wasser überflutet, und das Hospiz erscheint als Arche Noah. Die Gipfel sind Symbole zeitweiliger Erkenntnis, treten aber vor dem Blick zurück und lösen sich im scheinbaren Nichts auf. Die Herberge als das einzige, noch sichtbare Objekt der Landschaft wandelt sich im übermüdeten Auge des Reisenden in einen Zufluchtsort, der das Überleben sichert. Der Gedanke an die lebensrettende Arche spiegelt Urängste wider, in den bedrohlichen Fluten des Lebens zu ertrinken. Die reale Welt wird ersetzt durch imaginierte archetypische Bilder aus dem Fundus religiöser Glaubenswirklichkeit. Der Weg des Auges als Instrument vernunftgeleiteter Erkenntnis und der Weltbeherrschung führt bei Bedrohung zum Irrealen und Imaginären und generiert Überlebenshoffnungen. In der Natur wie auch im Leben, so die latente Botschaft des Textes, erweist sich die gegebene Realität als flüchtige Erscheinung: Die Suche nach festen und unverrückbaren Bezugspunkten ist Illusion. Im dritten Einzelbild ist der Standpunkt der Beschreibung wiederum verändert. Der Blick ruht aus weiter Entfernung auf der Flanke des Sankt Bernhard und umfasst die Wegstrecke vom Tal bis zum Hospiz unweit des Gipfels, wobei er den Reisenden mit Führern und Saumtieren in ihrem mühsamen Aufstieg folgt. Dabei wandelt sich die Wärme des sonnigen Tages in eisige, mit Nebel durchsetzte Wind- und Schneeböen in einer Landschaft von bedrückender Ödnis und Trostlosigkeit: As the heat of the glowing day, when they had stopped to drink at the streams of melted ice and snow, was changed to the searching cold of the frosty and rarefied night air at a great height, so the fresh beauty of the lower journey had yielded to barrenness and desolation.[...] No trees were to be seen, nor any vegetable growth, save a poor brown scrubby moss, freezing in the chinks of rock. Blackened skeleton arms of wood by the wayside pointed upward to the convent, as if the ghosts of former travellers overwhelmed by the snow haunted the scene of distress.(LD, 488) 175 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Der obere Teil des Bergmassivs, nun im Mittelpunkt der Beschreibung, zeigt drei Merkmale: eine karge Landschaft, eine eisigkalte Atmosphäre und eine gefährliche Natur. Der Berg, so der Text, gleiche einer gigantischen Ruine, auf der sich Menschen und Tiere auf zerbrochenen Felsen mühsam nach oben bewegen, und die Abwesenheit von Pflanzen, von kümmerlichem Moos abgesehen, ist Zeugnis einer lebensfeindlichen Umwelt, ein Eindruck, der durch den gespenstischen Anblick schwarzer, skelettartiger Arme abgestorbenen Holzes verstärkt wird., Die beängstigende Unwirklichkeit der Szenerie wird gesteigert durch “icicle-hung caves and cellars“, in denen “whispers of the perils of the place“ vernehmbar seien, wenn eingeschüchterte Reisende dort Zuflucht suchten vor den “never-ending wreaths of mist [...] hunted by a moaning wind [...]“.(LD, 488) Diese Landschaft ist dem Menschen feindlich gesinnt, versetzt ihn physisch und psychisch in Schrecken, verhindert ein kommunikatives Miteinander und wirft ihn in einem Akt existenzieller Vereinzelung auf sich selbst zurück: “There was no speaking among the riders.“(LD, 488) Sie zwingt ihn durch eisige Kälte und Erschöpfung, gewohnte Grenzen zu überschreiten und Körperlichkeit elementar wahrzunehmen: Das Atemholen - “a new sensation of catching in the breath“ - sei hier, als ob man aus kaltem Wasser auftauche, womit der Überlebensgedanke aus dem Bild der Arche Noah aufgegriffen und intensiviert wird. Damit ist ein weiter Bogen gespannt von der “fresh beauty“ des Tales, die Wärme und Leben konnotiert, zur “besetting danger of the mountain“, die den Menschen existenziell bedroht. Symbolisch wird der Anstieg aus der Sphäre der Geborgenheit und des Überflusses, wie sie Kindheit und Jugend kennzeichnet, in die unwirtliche Höhe des Erwachsenenlebens als mühsam und entbehrungsreich dargestellt, bevor Italien als Reiseziel und Ort der Verheißung nach sorgfältiger Planung und geglücktem Verlauf betreten werden kann, eine insgesamt gefahrvolle Reise, wie das Leben des Menschen selbst. Im vierten Einzelbild verengt sich der erzählerische Blick auf den Weg vor Erreichen des Ziels und dann auf den Hof des Hospizes. In die apathisch dahinziehenden Menschen und Tiere gerät plötzlich Leben, als ein Lichtschimmer der Herberge durch den Schneenebel dringt: At length, a light on the summit of the rocky staircase gleamed through the snow and mist. The guides called to the mules, the mules pricked up their drooping heads, the travellers’ tongues were loosened and in a sudden burst of slipping, climbing, jingling, clinking, and talking, they arrived at the convent door.(LD, 489) Durch die auffällige Reihung lautmalerischer Verben der Bewegung, die alle visuelle oder auditive Eindrücke hervorrufen und durch den Gebrauch des Partizip Präsens zur Veranschaulichung eines dynamischen Geschehens steht diese Schilderung in markantem Kontrast zu der statischen Landschaftsszenerie im vorigen Bild. Wie eingangs bei der Beschreibung 176 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT der Weinlese greift die berichtende Erzählfigur auf das Stilmittel der Reihung zur narrativen Verdichtung der Atmosphäre zurück: Riding-saddles and bridles, pack-saddles and strings of bells, mules and men, lanterns, torches, sacks, provender, barrels, cheeses, kegs of honey and butter, strawbundles and packages of many shapes, were crowded confusedly together in this thawed quagmire, and about the steps.(LD, 489) Im Gegensatz zur melancholisch-düsteren Stimmung in der Landschaft beim Anstieg vermittelt diese Darstellung den Eindruck heiterer Gelöstheit. Die skurrile Semantik der Glieder der Reihung, auffällige Alliteration, insbesondere die kraftvolle Rhythmik der Sprache wie auch die Länge der Aufzählung selbst erzeugen einen überaus lebhaften Eindruck chaotischer Vielfalt aus humorvoll-spöttischer Warte. Der belustigte Ton der Schilderung wird intensiviert durch übertriebene Wiederholung in Form von Parallelismus und vor allem in der Figur der Epipher, verbunden mit einem Argumentationsgestus, der gewollt banale und gerade deshalb skurrilparadoxe Züge trägt: Up here in the clouds, everything was seen through cloud, and seemed dissolving into cloud. The breath of the men was cloud, the breath of the mules was cloud, the lights were encircled by cloud, speakers close at hand were not seen for cloud, [...] the great stable of the convent [...] poured forth its contribution of cloud.(LD, 489) In der gleichen Stimmungslage werden andere Wahrnehmungsinhalte in das Landschaftsbild eingefügt. Die Saumtiere, nachdem sie angekettet wurden, beginnen sich zu beißen und zu treten, und ”[...] then the whole mist would be disturbed: with men diving into it, and cries of men and beasts coming out of it, and no bystander discerning what was wrong”.(LD, 489) Die Situationskomik wird zum Abschluss dieses vierten Einzelbildes noch gesteigert und erreicht den Höhepunkt amüsierter Betrachtung, als der Erzähler den spaßigen Gedanken, dass oben am Hospiz alles mit Wolken zusammenhänge, in den Bereich des Spekulativ-Fantastischen ausweitet. Es habe den Anschein, ”[...] as if the whole rugged edifice were filled with nothing else, and would collapse as soon as it had emptied itself, leaving the snow to fall upon the bare mountain summit.”(LD, 489) Die für Menschen und Tiere rauhe Wirklichkeit mit ihren harten Bedingungen fällt aus humorvoller Perspektive regelrecht in sich zusammen, und übrig bleibt eine friedvolle Winterlandschaft. Das fünfte Einzelbild steht wiederum, formal, inhaltlich und stimmungsmäßig in eklatantem Gegensatz zur gerade beschriebenen Szenerie. Es befasst sich, streng genommen, nicht mit der Darstellung von Landschaft, bezieht sich jedoch auf eine wichtige Etappe des Reiseverlaufs, nämlich die Ankunft am Hospiz. Der Blick des Erzählers verengt sich nochmals und wendet sich nun vom geschäftigen Lärmen und Treiben der Ankommenden einem vergitterten Haus neben dem Hauptgebäude zu, um dann 177 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG in dessen offenes Inneres zu gleiten. Dem Auge bietet sich ein erschreckender Anblick, der Schaudern auslöst: Versammelt sind durch die Kälte erstarrte tote Reisende, die in den zurückliegenden Jahren im Schnee gefunden wurden. In der Ecke steht eine Mutter mit ihrem Kind an der Brust, am Boden liegt ein Mann mit dem immer noch, aus Angst oder Hunger, an seine Lippen gepressten Arm. Kommentierend sagt der Text: ”An awful company mysteriously come together.”(LD, 489) Anlass der Kommentierung ist nicht der Tod an sich, der durch den Anblick der konservierten Körper erschreckend genug wirkt, sondern der Umstand ihrer kontingenten, schicksalshaften Zusammenführung. Die Natur zeigt sich von ihrer grausamen Seite nicht dadurch, dass sie den ohnehin unvermeidlichen Tod bringt, sondern dass sie sich als Erfüllungsgehilfin eines unberechenbaren Schicksals erweist: ”A wild destiny“ und ”mysteriously come together“ sind Formulierungen für das nicht Vorhersehbare in Lebensläufen, an deren Ende der Tod in jedem Fall als unumgängliches Faktum steht. Den Mittelpunkt der Darstellung bildet die imaginierte Klage, die der toten Mutter in den Mund gelegt ist; es geht nicht um Trauer über ihr frühes Sterben, sondern resignatives Bedauern über die Zufälligkeit der Geschehnisse: ’Surrounded by so many and such companions upon whom I never looked and never shall look, I and my child will dwell together inseparable, on the Great Saint Bernard, outlasting generations who will come to see us, and will never know our names, or one word of our story but the end’.(LD, 489f.) Das Schicksal in seiner Unberechenbarkeit hat es in ihrem Falle gefügt, dass noch nicht einmal ihr Name bekannt ist. Am Ende ihrer Reise stand der Tod, und das vergitterte Haus und das Schweigen der Versammelten im Gegensatz zur Offenheit des Hofes und dem chaotischen Lärm versinnbildlichen den Unterschied beider Formen menschlichen Seins. Der Tod nimmt den Menschen gefangen, verurteilt ihn zu ewiger Reg- und Sprachlosigkeit - und er ist mitten im Leben: Dies zeigt die Körperhaltung der Erfrorenen und auch ihr Aufenthaltsort nur wenige Schritte von den Lebenden entfernt, und es ist ein Ort immerwährender, eisiger Kälte. Was jedoch überdauert und kontrastiv ein Empfinden grausamer Unerträglichkeit mildert, ist die Kraft der Liebe, die in der Umarmung der Mutter und in den Worten ihrer fiktiven Klage als Trost zum Ausdruck kommt: “I and my child will dwell together inseparable.“ Damit ist die Liebe als ein zentrales Thema des Romans angesprochen, die Kraft, die allen Widrigkeiten trotzt und als Leitprinzip einer humaneren Welt im Dickens’schen Sinne fungiert. Wie ein roter Faden durchzieht die treusorgende Liebe Little Dorrits zu ihrem Vater beide Teile des Textes, und in ähnlicher Weise gilt dies für ihre Liebe zu Arthur Clennam, den das Schicksal in umgekehrter Reihenfolge Höhen und Tiefen durchwandern lässt. Dieser Glaube an die sinnstiftende und zuweilen lebenser- 178 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT haltende Kraft der Liebe tritt im Personengeflecht des Romans vielfach zu Tage, denn auch das Hospiz, das erschöpften Reisenden Geborgenheit bietet, ist symbolischer Ort der (Nächsten-)Liebe, der ganz konkret lebenserhaltende Funktion hat. Auffallend an diesem Landschaftsbild in seiner Gesamtheit ist, dass keine der den Aufstieg zum Pass unternehmenden Romanfiguren namentlich erwähnt wird. Die Rede ist von ’travellers’ und ’riders’ ohne jegliche Identitätszuweisung. Die lebenden Menschen in dem Naturbild, wie auch die toten, erscheinen nicht als Individuen: Sie sind namenlos und ohne Identität, und sie sprechen nicht. Das Naturbild erscheint wie losgelöst vom Handlungsgeschehen mit seinen zahlreichen personalen Verflechtungen und bezieht seinen Sinn aus seiner Allgemeingültigkeit. Der Weg auf den Sankt Bernhard wird damit zum Sinnbild der Lebensreise. Angefüllt mit vielfältigen Erlebnisinhalten stehen am Ende, in Gestalt Italiens als Reiseziel, die Verheißung personaler Glücksfindung im symbolhaften ‚gelobten Land’ - oder der Tod. Der fünffach veränderte perspektivische Zugriff auf die Landschaft, die sich wandelnden zeitlichen und räumlichen Begrenzungslinien und die Fülle an Wahrnehmungsinhalten und Stimmungslagen lassen ein kaleidoskopartiges Gesamtbild scheinbarer Zusammenhanglosigkeit entstehen. Mit diesem Modus der Präsentation geht fast zwangsläufig die auktoriale Erzählweise einher. Von einem Punkt der Beobachtung aus großer Höhe kann die allwissende Erzählinstanz nach Bedarf den Blick auf einen eingegrenzten Raum fokussieren und für den Leser in die Nähe rücken. Die Menschen erscheinen nicht als eigenständig und selbstbestimmt Agierende, die den gewaltigen Raum des Berges erobern und bezwingen, sondern eingebettet in einen Strom von namenlosen Dahinziehenden auf gefährlichen Pfaden, ohne Möglichkeit, den eingeschlagenen Weg zu verlassen. Ohne Bezug zu ihrer Individualität und ihrer Identität erscheinen sie als Reisende auf begrenzte Zeit durch einen begrenzten Raum auf ein fernes, nicht genanntes Ziel hin. Eine konkrete Assoziation mit Italien als Bestimmungsort ist nicht erkennbar; weder vergangene noch kommende Ereignisse der Handlung finden in dem Landschaftsbild ihren Niederschlag. Es ist ein Gefüge aus Einzelbildern, das nur durch den auktorialen Blick zum Ganzen geeint wird. Dieses Naturbild in seiner bunten Vielfalt und inneren Gegensätzlichkeit aus Ruhe und Bewegung, Nähe und Ferne, Tag und Nacht, Höhen und Tiefen, Überfluss und Kargheit, panoramischer und szenischer Perspektivik, heiterer Gelöstheit und melancholischer Kontemplation, statischer Landschaftsschau und dramatischem Naturerleben ohne einheitliche Thematik ist konzipiert als Analogie zur Existenz des Menschen und seiner scheinbar willkürlichen Einbindung in Raum und Zeit. Damit erweist sich das Landschaftsbild endgültig als Parabel des Lebens in belehrender, demonstrierend-beweisführender Funktion, die 179 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG gleichnishaft dessen Facettenreichtum und Vergänglichkeit aufzeigt. Die latente Symbolik wird zu dem Gedanken komprimiert, dass angesichts unsichtbarer Bedrohung und unwägbarer Gefahr durch eine rätselhaftirrationale Schicksalsmacht das Gewähren von Schutz und Geborgenheit ein allgemeingültiges, verbindliches Prinzip ist. In erweitertem Sinne und auf das menschliche Zusammenleben bezogen bedeutet dies, dass der tätige Glaube an Fürsorge und Liebe, so wie ihn Little Dorrit praktiziert, eine Leitbildfunktion für eine gelingende und sinnerfüllte Lebensgestaltung hat; dies gilt, so das im Reiseverlauf am Sankt Bernhard sichtbar gewordene Credo des Autors, für den Einzelnen wie die Gesellschaft als Ganzes. 3.2.2.2 Amy Dorrits Reise nach Venedig: Die Unwirklichkeit der Landschaft und der Rückzug in die Innenwelt Die Beschreibung von Amy Dorrits Reise nach Venedig ist, nach der Naturszenerie am Großen Sankt Bernhard, die umfangreichste Landschaftschilderung des Romans mit Bezug zu Italien. Es handelt sich wiederum nicht um eine in sich geschlossene Darstellung, da sie durch Einschübe mit jeweils anderen Inhalten unterbrochen ist. Wie beim Bild des Sankt Bernhard geht es nicht nur um eine Szenerie, sondern um eine Reihung von Einzelbildern. Es ist zweckmäßig, bei der Analyse auch in diesem Falle fünf Einzelbilder zu unterscheiden. Sie sind, anders als bei der Landschaft vom Sankt Bernhard, eindeutig auf ein explizit genanntes Thema sowie namentlich auf eine Figur, die Protagonistin Little Dorrit, bezogen. Bereits im ersten Satz der zur Analyse ausgewählten Textstelle wird das Thema vorgestellt: Sitting opposite her father in the travelling-carriage, and recalling the old Marshalsea room, her present existence was a dream. All that she saw was new and wonderful, but it was not real: it seemed to her as if those visions of mountains and picturesque countries might melt away at any moment [...].(LD, 522f.) Dass die Landschaft Ungewöhnliches und Schönes enthält, steht außer Frage. Schon beim Verlassen des Gebirges eröffnen sich dem Reisenden “the glories of the landscape“(LD, 515f.), aber nicht das Fremde und Schöne ist Ziel der Schilderung, sondern der Bezug zur Innenwelt. Im ersten Einzelbild sind die visuellen Eindrücke der Bergwelt der Kern des Landschaftsbildes. Die Schluchten des Simplonpasses, dessen Abgründe und die donnernden Wasserfälle sind Manifestationen einer imposanten Natur. Solche Wahrnehmungen sind noch intensiver, wenn sie mit gefährlichen Reiseumständen einhergehen: Ein lockeres Rad oder ein stolperndes Pferd, so der Text, können tödlich sein. Für Little Dorrit jedoch stellen all diese Eindrücke keine tatsächliche Wirklichkeit dar. Die machtvolle Präsenz der Berge verflüchtigt sich zu “visions of mountains“, und es 180 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT scheint sogar, dass ihre gewaltige Größe “[…] might melt away at any moment“(LD, 522f.). Dies gilt nicht nur für die große und gewaltige Natur, sondern auch für “picturesque countries“, idyllische und das Gemüt ansprechende Eindrücke sozusagen im kleinen Bildformat: “all she saw appeared unreal“.(LD, 523) Die Bergwelt mit ihren einschüchternden Proportionen, so sinniert der Erzähler, beraubt den Menschen seiner Bedeutung und behandelt ihn in ihren düsteren Tälern wie einen Gefangenen. Markante Landschaftselmente - ’gorges’, ’depths’, ’waterfalls’, ’points of danger’, ’mountain-chasms’ - verstärkt durch ausdrucksstarke Adjektive - ’enormous’, ’thundering’, ’wonderful’, ’beautiful’, ’ragged’, ’gloomy’ - wecken das Bild einer grandiosen, aber auch Furcht einflößenden Natur zu anschaulicher Lebendigkeit. Das Heraustreten aus den engen Tälern müsste eigentlich befreiend wirken, Ängste lösen und den Blick freimachen. Jedoch, ”[...] the mountain-chasm widened and let them [the travellers] out from a gloomy and dark imprisonment - all a dream - only the old Marshalsea a reality”(LD, 523). Beim Verlassen der gefängnisartigen Bergwelt wird die Protagonistin nicht frei, denn sie ist vollauf mit ihrer Innenwelt beschäftigt, und das Paradoxe ist: Das Außergewöhnliche der Landschaft resultiert keinesfalls in erhöhter Aufmerksamkeit für das Außen, sondern in einem verstärkten Rückzug in ihr Inneres: ”[…] the more surprising the scenes, the more they resembled the unreality of her own inner life [...]“.(LD, 523) Dieser Vorgang wird glaubhaft in der Weise vermittelt, dass die Landschaftswahrnehmung sich zu einer raschen Abfolge spektakulärer Naturphänomene reduziert, die, dem Schnelldurchlauf eines Films vergleichbar, eine Sequenz visueller Impulse ohne gezieltes Wahrnehmen oder gar Speichern des Gesehenen darstellt. Das in ihrem Inneren bereits vorhandene Bildrepertoire wird nicht tangiert und besteht in seiner psychischen Leitrelevanz unvermindert fort. Ursache und Ort solch übermächtiger Bilder aus der Vergangenheit sind gemeinhin, so auch bei Amy Dorrit, Vorgänge im seelischen Tiefengeschehen. Ein Texteinschub innerhalb des ersten Einzelbildes, dreimal so lang wie die Naturdarstellung selbst, befasst sich denn auch mit der seelischen Befindlichkeit der Heldin. Es geht um ihr tiefes Bedauern, nun, auf der Gesellschaftsreise ihrer Familie im Glanz des Reichtums, von niemandem gebraucht zu werden und für ihren Vater nicht mehr sorgen zu können. Die schlimmste Enttäuschung ist, dass er aus Gründen der gesellschaftlichen Konvention jede Fürsorge ihrerseits ablehnt, stattdessen aber ihr standesgemäßes Auftreten als ’lady’ einfordert. Äußerlich gefasst, doch im Innern zutiefst deprimiert, ”[...] she now sat in her corner of the luxurious carriage with her little patient hands folded before her, quite displaced even from the last point of the old standing ground in life on which her feet had lingered”.(LD, 523) Das Wort ’displaced’ fungiert als Schlüsselwort und beschreibt Entfremdung, Desorientierung und innere Leere. Schmerzhaft spürt sie 181 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ”[…] the unreality of her inner life as she went through its vacant places all day long”.(LD, 523) Entwurzelung ist die Ursache ihrer gegenwärtigen Realitätsferne, die unbewusst und ungewollt einer Wirklichkeitsverweigerung gleichkommt. Der Verlust des inneren Halts in einem gewohnten Wertesystem resultiert in Entfremdung in der neuen Welt des Reichtums. Die allmorgendlich von William Dorrit in der Rolle als vermögender Reisender mit großem Gefolge inszenierten Frühstücks- und Aufbruchsrituale in den Gasthäusern vor staunendem Publikum verstärken, abgesehen von der für Amy schmerzvollen Peinlichkeit der Vorgänge, ihr Empfinden einer dauerhaften Irrealität: “Little Dorrit would wake up from a dream of her birthplace into a whole day’s dream.“(LD, 524) Die Vielfalt der visuellen Eindrücke für die mit ihrer Innenwelt beschäftigte Reisende erreicht bei den Blicken aus dem Fenster der Kutsche ein gewaltiges Ausmaß: Among the day’s unrealities would be roads where the bright red vines were looped and garlanded together on trees for many miles; woods of olives; white villages and towns on hillsides, lovely without, but frightful in their dirt and poverty within; crosses by the way; deep blue lakes with fairy islands, and clustering boats with awnings of bright colours and sails of beautiful forms; vast piles of buildings mouldering to dust; hanging gardens where the weeds had grown so strong that their stems, like wedges driven home, had split the arch and rent the wall, with the lizzards running into and out of every chink [...].(LD, 525) In rascher Folge ziehen diese Objekte an ihrem Auge vorüber, wobei ein buntes Farbenspektrum von Weiß, hellem Rot, über Grün- und Brauntöne zu tiefem Blau reicht. Nah- und Fernsicht ändern sich in irregulärem Wechsel und generieren Bilder fantastischer, exotisch anmutender Formenfülle, die jeden Betrachter beeindrucken müssten. Relevant und wirklich ist für die Heldin aber nur, was durch Assoziation und Erinnerung eine gefühlsmäßige Verbindung zu dem Marshalsea-Gefängnis in London erstellt: [...] beggars of all sorts everywhere: pitiful, picturesque, hungry, merry: children beggars and aged beggars. Often at posting-houses or halting places, these miserable creatures would appear to her the only realities of the day [...].(LD, 525) Die auffällige Verwendung stilistischer Mittel an dieser Stelle - Ellipse, asyndetische Reihung, Alliteration, Antithese, Wiederholung - unterstreicht den intensiven emotionalen Aussagegehalt in ihrem Bezug zur Innenwelt der Hauptfigur. Die stark betonte rhythmische Strukturierung insbesondere des ersten Satzes evoziert überdies Vorstellungen von Bewegung, Dynamik und Leben: Solche Eindrücke verbindet Amy Dorrit aber mit der Vergangenheit, nicht mit der Gegenwart. Beim Anblick eines kleinwüchsigen Mädchens, das seinen hilfsbedürftigen Vater an der Hand führt, stellt sich spontan die Erinnerung an selbst durchlebte Szenen ihrer Kindheit in London ein. Es ist diese mit tief wurzelnden Emotionen besetz- 182 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT te Phase ihres Lebens, die in Amy Dorrits Bewusstsein als einzig relevante und wahre visuelle und moralische Wirklichkeit eingeschrieben ist. Syntaktisch und übersatzmäßig ist das dritte Einzelbild wie das zweite gestaltet: Am Anfang stehen lange, inhaltlich stark verdichtete Satzverbindungen mit jeweils mehreren, durch Semikola und Doppelpunkte markierten Teilsätzen: Again, there would be places where they stayed the week together, in splendid rooms, had banquets every day, rode out among heaps of wonders, walked through miles of palaces, and rested in dark corners of great churches; where there were winking lamps of gold and silver among pillars and arches, kneeling figures dotted about at confessionals and on the pavements; where there was the mist and the scent of incense; where there were pictures, fantastic images, gaudy altars, great heights and distances, all softly lighted through stained glass, and the massive curtains that hung in the doorways.(LD, 525) Gegenstand dieser Darstellung ist die Schilderung des Lebens in Reichtum, wonach für den Besitzenden der Gang in die Welt der Genüsse, der prachtvollen Bauten und zu den Schätzen der Kunst offen steht. Was der Text in dem zweiten und dritten Einzelbild jedoch thematisiert, ist der Gegensatz zwischen Reichtum und Armut. Er manifestiert sich in einem Fall in der farbenfrohen Vielfalt der Landschaft und dem kärglichen Leben der Bettler, im anderen in der Pracht von Villen, Palästen und Kirchen der Städte einerseits und heruntergekommenen Dörfern auf dem Lande andererseits. Damit spiegelt sich in der textuellen Mikrostruktur der in der zweiteiligen Makrostruktur des Romans thematisierte Antagonismus von ’Poverty’ und ’Riches’. Diese begriffliche Opposition eröffnet mehrfache Assoziationsmöglichkeiten: Jeder der Begriffe ist ohne den anderen nicht denkbar; beide erst formen ein Ganzes und ergeben die gesamte Wirklichkeit; sie sind Ausdruck der Ambivalenz des Lebens und Schicksals; sie sind inhärentes Prinzip dessen, was Natur und Kultur hervorbringen; sie sind das abstrahierte Bild der janusköpfigen Realität; sie sind die spannungsreichen Pole der soziokulturellen Wirklichkeit; sie sind sich bedingende und doch wesensverschiedene Phänomene wie Licht und Schatten. In Little Dorrit jedoch ist nur ein Aspekt von Bedeutung: die moralisch-ethischen Implikationen. Während im zweiten Einzelbild die Kontrastierung zwischen üppiger Natur und kargem Bettlerdasein in einem Ton wehmütig-melancholischer Rückbesinnung endet, steht am Ende des dritten Einzelbildes eine fatalistisch-resignative Stimmung, die in verzweifelte Hoffnungslosigkeit übergeht. Die verschwenderische und zum Teil schon aufdringliche Pracht der Altäre stellt der Text in eklatanten Gegensatz zu Schmutz und Armut der Dörfer: “[…] squalid villages where there was not a hovel without a gap in its filthy walls, not a window with a whole inch of glass or paper“.(LD, 525) Die 183 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Trostlosigkeit und das Elend sind die Folge unsäglicher Armut und das Spiegelbild von Umständen, die den Lebenswillen und schließlich das Leben selbst zerstören: “[…] there seemed to be nothing to support life, nothing to eat, nothing to make, nothing to grow, nothing to hope, nothing to do but to die”.(LD, 525) Ziel der rhetorisch-stilistisch wirkungsvoll erzeugten Emotionalität der Darstellung einer lebensfeindlichen Welt ist die Verschärfung der Konfrontation von Reichtum und Armut bis aufs Äußerste. An keiner anderen Stelle des Romans tritt der inhumane und destruktive Charakter von ’poverty’ derart erbarmungslos zu Tage. Das kärgliche Leben der Dorrits im Marshalsea, das kümmerliche Dasein der Mieter im ’Bleeding Heart Yard’, der tägliche Kampf ums Überleben in Londons Straßen, den die geistig zurückgebliebene Maggie, der arbeitslose Mr Plornish und der alte Mr Nandy auf je unterschiedliche Weise führen müssen: Bei seiner einfühlsamen, oft humorvollen Schilderung ihres tristen Alltags stattet der Erzähler diese Figuren stets auch mit der Hoffnung und Zuversicht aus, dass eine Wende zum Besseren möglich sei. Die Landschaftsdarstellung auf der Heldin Reise nach Venedig zeigt jedoch kompromisslos und ohne jegliche beschönigend-abmildernde Perspektive das hässliche, brutale und grausame Gesicht der Armut, die den Menschen physisch und psychisch vernichtet. Das vierte Einzelbild führt dem Leser einen Landschaftsausschnitt vor Augen, der eine Variante des Themas der destruktiven Armut ist: Der Niedergang und Zerfall von Kultur und Gemeinwesen als Folge von Verarmung. Auch in diesem Fall enthält der Text keine Ortsangaben, so dass der Eindruck entsteht, die beschriebene Szene sei ein generelles, Italien kennzeichnendes Phänomen. Dieser Eindruck wird durch den einleitenden Satz unterstützt: ”Again they would come to whole towns of palaces, whose proper inmates were all banished, and which were all changed into barracks [...].”(LD, 525) Der Gebrauch von ’again’ als Adverb der Häufigkeit, von ’would’ zur Bezeichnung einer gewohnheitsmäßigen Handlung, des Plurals zur Vorstellung von Vielheit sowie die wiederholte Verwendung des substantivischen Pronomens ’all’ mit undifferenziertem Bedeutungsgehalt lassen in ihrer Gesamtwirkung den beschriebenen Sachverhalt als landestypisch erscheinen bzw. als Folge von Armut generell. Er wird in seiner Dimension einerseits übertrieben, andererseits grob pauschalierend dargestellt - ’whole palaces of towns’; ’all banished’; ’all changed’ -, wobei unterschwellig Rechtsbrüche und sorgloser oder aus der Not geborener Missbrauch impliziert werden - ’proper inmates were all banished’; ’all changed into barracks’. Mit Kasernen wird hier aber nicht die Vorstellung von Ordnung und Disziplin oder gar Repräsentanz politischer Macht verbunden, sondern die von Verwahrlosung. Der Text berichtet von untätigen Soldaten, die aus prachtvollen Fenstern schauen und ihre Wäsche auf der Marmorarchitektur trocknen, doch dann vollzieht sich ein Perspektivenwechsel: Der Stand- 184 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT punkt der visuellen Wahrnehmung von außen wird in eine fantastischgroteske Innenwelt verlagert, in der sich die reale Landschaft in ein surrealistisch-grotekses Szenarium mit apokalyptischen Abläufen wandelt. Da waren [...] troops of idle soldiers leaning out of the state windows, where their accoutrements hung drying on the marble architecture, and showing to the mind like hosts of rats who were (happily) eating away the props of the edifices that supported them, and must soon, with them, be smashed on the heads of the other swarms of soldiers, and the swarms of priests, and the swarms of spies, who were all the ill-looking population left to be ruined, in the streets below.(LD, 525f.) Diese Orte scheinen von ehrbaren Menschen entvölkert und die Beute hässlichen Ungeziefers geworden zu sein, von Ratten und Insektenschwärmen. Es sind dies - in skurril-befremdlicher Auswahl - Soldaten, Priester und Spione, die, bar jeder Verantwortung und Vernunft, den untersten Spezies im Tierreich gleichgestellt, den äußeren und inneren Desintegrationsprozess bis zum völligen Ruin betreiben. Diese Landschaftsdarstellung ist ein ungeschminktes, im Ton bitterböses Gleichnis zur Illustration der destruktiven Folgen von Armut, wenn nämlich übermächtige und anonym gewordene Institutionen der Macht, der Religion und der Politik (verkörpert durch die Soldaten, die Priester und die Spione) das zersetzen, was zuvor Menschen geschaffen haben. An dieser Stelle wird mahnende Rückverweisung auf den ersten Romanteil sichtbar: Wiederholt und ausführlich berichtet der Text von den üblen Machenschaften des ’Circumlocution Office’, der heuchlerischen Prinzipienlosigkeit der ’Society’, der rücksichtslosen Machtausübung des Kapitals und von den egoistischen Intrigen organisierter Interessengruppen, die im Roman durch die allegorisierten Gestalten von ’Bar’, ’Bishop’, ’Admiralty’, ’Treasury’, ’Horse Guards’, ’Physician’ und ’Bench’ (vgl. Buch I, Kap. 21, Buch II, Kap. 25) vertreten werden. Die Kritik wird pauschal auf Italien übertragen, und in beiden Fällen ist sie weder ausgesprochen zielgerichtet noch wird sie im Einzelnen begründet. Im Gestus der generellen Ablehnung, zudem geprägt von starker Emotionalität im Erzählton, wie die drastischen Bilder von menschlichem Ungeziefer, von Zersetzung, Zusammensturz und Ruin belegen, reflektiert sie im Subtext ein tief sitzendes Unbehagen allgemeiner, diffuser Art, wie es Sinn- und Lebenskrisen kennzeichnet. Mit Beginn des fünften Einzelbildes wird der Aufenthalt der Dorrits in Venedig Gegenstand der Darstellung: In this crowning unreality, where all the streets were paved with water, and where the death-like stillness of the days and nights was broken by no sound but the softened ringing of the church-bells, the rippling current and the cry of the gondoliers, [in this city] built in a wild fancy which 185 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG came from the East to that collection of wild fancies.[...] Little Dorrit was little indeed [...].(LD, 526) Die Stadt ist nicht, wie für fast alle Touristen, ein architektonisches Wunder, sondern ein städtebauliches Kuriosum, dessen Straßen mit Wasser gepflastert sind, eine Ansammlung fremder, einer überbordenden Fantasie entsprungenen Baustile. Dieses Neue ist nicht Anreiz zu Entdeckung: Es intensiviert das Syndrom der Entwurzelung und Orientierungslosigkeit und wird Anlass zu verstärktem Rückzug in das Selbst: “Little Dorrit, quite lost by her task being alone, sat down to muse [...] and only asked to be left alone.“(LD, 526) In Venedig mit seinen Möglichkeiten der Zerstreuung geht die Heldin den entgegengesetzten Weg in eine äußere und innere Isolation. ”The family began a gay life, went here and there, and turned night into day; but she was timid in joining their gaieties [...].“(LD, 526) In den Augen der ’social people’ wird Amy bald ”[...] the solitary little girl [...] sitting in her boat with folded hands, looking so pensively and wonderingly about her”.(LD, 526) Die Zeichen ihrer selbst gewählten Abgrenzung sind so deutlich, dass ”[...] she soon began to be watched for, and many eyes in passing gondolas were raised, and many people said, There was the little figure of the English girl who was always alone.”(LD, 526) Der Rückzug in die Innenwelt ist so umfassend, dass Ereignisse in der neuen Umwelt ohne Relevanz bleiben. Von der Fremdartigkeit des Raumes und seiner landschaftlich-kulturellen Andersartigkeit gehen keine Stimuli aus, die anregend auf ihre Gedanken- und Gefühlswelt wirken. Ganz im Gegenteil: In Venedig, frei von der Mühsal des Reisens und mit Zeit für Muße, kehren die Bilder der Vergangenheit eindringlicher denn je zuvor zurück. ”She would think of that old gate, and [...] the prison again, and herself, and the old room, and the old inmates, and the old visitors: all lasting realities that had never changed.“(LD, 527) Autistisch selbstvergessen konzentriert Amy ihre Aufmerksamkeit auf eine frühere Lebensphase mit einer anderen Werteorientierung als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Es waren Werte, die ihr die persönliche Identifikation ermöglichten, Werte, die ihre Identität konstituierten. In Venedig, ’the strange city’, bieten weder die Landschaft noch die Menschen die Möglichkeit zur Selbstfindung. Der Text präsentiert ein Paradoxon, wenn der Aufenthalt im Gefängnis in London geradezu als Zeit innerer Freiheit darstellt wird, wogegen der zwanglose Müßiggang in Venedig bedrückende Einengung sei. Wahre Freiheit bietet, so die Botschaft des Subtextes, nicht das Leben in Reichtum, sondern das Erleben bedeutungsvoller menschlicher Beziehungen, wie sie Amy im Marshalsea kennen lernte. Die fremde Landschaft mit ihrer Aura des Träumerischen und Märchenhaften ist nur insofern relevant, als sie Bilder des Vergangenen zu rekonstruieren - und zu glorifizieren - hilft. So entsteht eine imaginäre, in der Psyche der Heldin freilich 186 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT reale Welt, in der - dies ist die Epiphanie und die Apotheose des Marshalsea zugleich - durch Mauern als Embleme der Gefangenschaft der Glanz des Lichts als Symbol der Erleuchtung und Erkenntnis hindurchscheint: She would watch the sunset, in its long low lines of purple and red, and its burning flush high up in the sky: so glowing on the buildings, and so lightening their structure, that it made them look as if their strong walls were transparent, and they shone from within. She [...] would raise her eyes to the shining stars. Was there no party of her own, in other times, on which the stars had shone? (LD, 527) In einem Zustand verklärten Sehens erkennt die Heldin die Existenz wahrer Werte. Der Sonnenuntergang und der Sternenhimmel in Venedig haben nichts mit Romantik und ästhetischem Genuss zu tun, und sie beinhalten auch keinen Verweis auf Tourismusklischees oder die Diktion konventionalisierter Italienbegeisterung, sondern sind intrapsychische Auslöser jener für sie so bedeutsamen Erinnerung, als sie mit der hilfebedürftigen Maggie, hungernd und frierend, eine Nacht unter freiem Himmel in London verbrachte. Als Raum potenzieller Sinnstiftung oder wenigstens des ästhetischen Genießens bleibt die Landschaft Italiens für die Protagonistin in ihrer Entwurzelung und Isolation völlig fremd und bedeutungslos. 3.2.2.3 William Dorrits Fahrt durch die Campagna: Idiosynkratische Landschaftswahrnehmung und progressiver Wirklichkeitsverlust Etwa in der Mitte des zweiten Romanteils, im 19. der 34 Kapitel in Buch II, befindet sich der drittlängste und zugleich letzte Bezug auf italienische Landschaft. Danach wird der Schauplatz wieder nach England und insbesondere nach London verlagert, sieht man von Mr Clennams Besuch bei Miss Wade in Calais auf der Suche nach Blandois ab. Der Aufenthalt der Dorrits in Italien, der mit der Überquerung der Alpen begann und sie über Venedig und Pisa nach Rom führte, war bislang aus Sicht William Dorrits, des ’Father of the Marshalsea’, höchst zufriedenstellend verlaufen. Als wohlhabender ’gentleman’ anerkannt und weitab von den Schatten einer schmachvollen Vergangenheit in London, pflegt er im Glanz seines neu erworbenen Ansehens ausgiebigen Kontakt zu den besten Kreisen der ’English community’, darunter auch Mrs Merdle, die Gattin des Mannes, der in England als Finanzgenie gilt. “Merdle, Millions“ (LD, 646), “the master spirit of the age“(LD, 672), hatte ein Investmentfieber ausgelöst, dem sich auch William Dorrit in Rom nicht entziehen kann. Bedeutsam für seinen sozialen Status ist auch, dass seine ältere und ehrgeizige Tochter Fanny dessen einzigen (Stief-)Sohn heiratet, was der jungen Frau Gelegenheit gibt, den gesellschaftlichen Kampf gegen die tonangebende Mrs Merdle, ’the Bosom’, anzutreten. Als Dorrit zwecks neuer 187 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Anlagestrategien mit dem jungen Paar nach London reist, kommt es vor der Rückreise nach Italien zum glanzvollen öffentlichen Auftritt mit Mr Merdle. Mit Blick auf Italien reifen seine Zukunftspläne - ’Castle in the Air’ nennt sie der Erzähler - bis zu dem Punkt, dass er eine Heirat mit Mrs General, der überkandidelten Gesellschaftsdame seiner drei erwachsenen Kinder, ins Auge fasst. Bei der Durchreise deckt er sich in Paris reichlich mit Geschenken für diesen Anlass ein und strebt, in größerer Eile als für eine so lange Reise angemessen, seinen Zielort Rom an. An diesem Punkt der Handlung ist das Landschaftsbild eingefügt. Die Sonne, erfährt der Leser, sei bereits seit vier Stunden untergegangen, und William Dorrits Kutsche fahre durch die einsame Campagna. Die Stadt, als heller Schimmer am Horizont erkennbar, sei noch in weiter Ferne, und die Landschaft gleiche einem Meer: The carriage dipped down again into a hollow of the black, dry sea, and for a long time there was nothing visible save its petrified swell and the gloomy sky.(LD, 718) Dieses Meer ist seltsamerweise schwarz und trocken, ein Wellental erscheint als eine loch- oder grubenartige Aushöhlung und ein Wellenkamm, entgegen aller realen Erfahrung, als versteinert. Die Assoziationen von Bewegung und Dynamik, von ursprünglicher Kraft und Leben, die beim Gedanken an das Meer gemeinhin ausgelöst werden, sind durch Bildinhalte von Verkrustung und Erstarrung ersetzt. Die Schilderung des Meeres als ’dry’ und seiner Erhebungen als ’petrified’ sind Paradoxa, die jeder Sinneserfahrung zuwider laufen. Im Lichte dieser eigenartigen Sichtweise treten auch zuvor benutzte Epitheta, Metaphern und Vergleiche in ihrer Ungewöhnlichkeit hervor. Dass diese Gegend ’solitary’ sei, kann als subjektive, aber noch zutreffende Beobachtung gelten. Wesentlich verwunderlicher ist bereits, wenn sie, einer der ältesten Kulturräume Europas, als ’wilderness’ bezeichnet wird. Wenn das Naturschauspiel des Widerscheins der untergegangenen Sonne am sich verdunkelnden Himmel, von Malern der klassischen Landschaft, den Grand Tourists und der Romantik als besonderer Moment geschätzt, als “[…] a pale flare on the horizon, like an exhalation from the ruin-sown land [...]“(LD, 718), in ernüchternder Gleichsetzung also mit einer Ausdünstung verglichen wird, dann tut sich eine gewaltige Distanz zwischen dem Wahrnehmungsvermögen der Figur und dem traditionellen Wahrnehmungsmodus für diese Landschaft auf. Wenn zudem dieses mit Ruinen der Antike übersäte Land zunächst als ’wilderness’ und dann als ’blank’, also inhaltsleer und ausdruckslos bezeichnet wird, dann versetzt solche Aussage, angesichts des reichen geschichtlichen Erbes der Landschaft, in helles Erstaunen. Mit der Wiedergabe einer solchen Art des Sehens umschreibt der Text auf einer manifesten Sinnebene Bildungslücken und ästhetische Empfindungsarmut, die auf die kurz danach auftretende Figur, Mr Dorrit, zu 188 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT beziehen sind. Die Landschaft wird aus der Sicht seines offensichtlich begrenzten Wissensstandes und seiner verengten Perspektive gesehen. Ein erster Hinweis auf eine unerwartete Form der Korrespondenz zwischen Außen- und Innenwelt ist gegeben, als das Leuchten des Nachthimmels als ’poor relief’ und die Naturszene stimmungsmäßig als ’gloomy’ wahrgenommen wird. Eigenartiger noch ist Dorrits Einschätzung, von etwas Bedrohlichem umgeben zu sein, das von den Menschen in dieser Landschaft zu dieser Tagesstunde ausgehe: [...] it was later than most travellers would like it to be for finding themselves outside the walls of Rome, when Mr Dorrit’s carriage, still on its last wearisome stage, rattled over the solitary Campagna. The savage herdsmen and the fierce-looking peasants, who had chequered the way while the light lasted, had all gone down with the sun [...].(LD, 718) Bei aller Gefährlichkeit des Reisens in Italien für Wohlhabende zeugt es von einer deformierten Wirklichkeitssicht, alle Hirten und Bauern am Wegesrand pauschal als ’savage’ und ’fierce-looking’ anzusehen und sie unter Generalverdacht zu stellen, potenziell grausame Straßenräuber zu sein. Die Epitheta haben wenig mit objektiver Sicht zu tun, zumal die Vorstellungen von Wildheit und Grausamkeit in keiner Weise mit den Bildern allgegenwärtiger ländlicher Armut übereinstimmen, die die Dorrits auf dem Weg nach Venedig zu sehen bekamen. Der Blick auf die Landschaft der Campagna erweist sich als Mischung aus Bildern der sichtbaren Realität mit Projektionen einer ausufernden Fantasie. Der erste Satz des folgenden Abschnitts bestätigt diesen Sachverhalt: ”Mr Dorrit, though he had his castle-building to engage his mind, could not be quite easy in that desolate place.”(LD, 718) Die die Naturszenerie erlebende Person weilt geistig in anderen Regionen und ist gedanklich mit dem Bau eines Luftschlosses beschäftigt, zu dessen Bestandteilen, wie erwähnt, die angestrebte Heirat mit Mrs General, ein noch größerer Reichtum und eine ähnlich glanzvolle Verbindung für seine jüngste Tochter Amy gehören wie diejenige zwischen ihrer Schwester Fanny und den steinreichen Merdles. Es sind dies kühne, für Dorrit gleichwohl beglückende Träume mit grandiosen Aussichten auf eine rosige Zukunft, und so ist erklärbar, dass Dorrit die momentane Außenwelt nur wenig interessiert und sich vielmehr ein vages Gefühl der Bedrohung bei allem einstellt, das seine Visionen stören könnte. Aus denselben Gründen wird auch verständlich, weshalb Dorrits Unbehagen zunimmt, je mehr sich die Kutsche Rom, dem Ort seiner Wünsche und Sehnsüchte, nähert. Nichts wäre misslicher als auf der letzten Strecke durch irgendein Ungemach die glanzvolle Zukunft in Frage gestellt zu sehen. So war er denn, wie der Text mitteilt, bei jeder ungewohnten Schwankung der Kutsche und bei jedem Ruf der Postillione unruhiger als je zuvor. Er stellt fest, dass der Fahrer auf dem Kutschenbock allem Anschein nach zittere und dass der Diener auf der Rückseite sich in seiner 189 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Haut nicht wohlfühle, denn jedes Mal, wenn er, Mr Dorrit, aus dem Fenster nach ihm zurückschaue, sehe er ihn im Stehen ungewöhnlich eifrig eine Zigarre rauchen, dabei ständig um sich schauend, so als ob er einen Verdacht habe und auf der Hut sein müsse. Es kommt Dorrit nicht in den Sinn, dass das Wahrnehmen eines zitternden Fahrers auf einer rollenden Kutsche kaum möglich sein dürfte und dass ein Zigarre rauchender, die Landschaft betrachtender Mann mit Sicherheit weder Unruhe noch Angst ausstrahlt: Then would Mr Dorrit, pulling up the glass again, reflect that these postilions were cut-throat looking fellows, and that he would have done better to have slept in Civita Vecchia, and have started betimes in the morning. But, for all this, he worked at his castle in the intervals.(LD, 718) Mit diesen Beobachtungen ist der Bogen in die Welt des Luftschlosses erneut geschlagen. Wenn Dorrit seine biederen Postillione, in grotesker Verkennung ihrer Körpersprache, für “cut-throat fellows“ hält, vor denen man sich grundsätzlich in Acht nehmen müsse, dann wird unschwer erkennbar, dass seine Fähigkeit zu realistischer Wahrnehmung und klarem Denken beeinträchtigt ist. Das Deuten der Umwelt als potenzielle Gefährdung seiner Person, während es in Wahrheit um die Unversehrtheit seiner allzu schönen Traumgebilde geht, ist Ausdruck einer idiosynkratischen Landschaftswahrnehmung in Form einer überzogenen Reaktion auf Zeichen und Geschehnisse von außen. Begonnen hatte alles beim glorreichen Auftritt mit ’Merdle, Millions’ in London, aber bei der Reise durch Frankreich kam das Bauen des Luftschlosses erst richtig in Fahrt: Building away with all his might, but reserving the plans for his castle exclusively for his own eye, Mr Dorrit posted away for Marseilles. Building on, building on, busily, busily, from morning to night. Falling asleep and leaving great blocks of building materials dangling in the air; waking again, to resume work and get them into their places.(LD, 717) Hinter dieser gewohnt lässigen Leichtigkeit der Diktion bei Dickens’ humorvoller Schilderung eigenwilliger Charaktere und seiner treffsicheren Strichführung in ihrer Zeichnung wird bei William Dorrit sichtbar, dass es eine seiner elementaren Schwächen ist, Träumereien nachzuhängen und sich insbesondere um den nötigen Konnex zur Wirklichkeit keine Sorgen zu machen: Man lässt beim Bauen einfach keine großen Blöcke ohne triftigen Grund längere Zeit in der Luft hängen, was jedoch Dorrit, den mit fantastischen Zukunftsträumen beschäftigten Rückkehrer nach Rom, in keiner Weise beunruhigt. Die Landschaftsbeschreibung zu Beginn des dritten und letzten Teils der Außenweltschilderung dokumentiert regelrecht eine progressive Wirklichkeitstrübung: And now, fragments of ruinous enclosure, yawning window gap and crazy wall, deserted houses, leaking wells, broken water-tanks, spectral cyprus-trees, patches of tangled vine and the changing of the track to a 190 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT long, irregular, disordered lane, where everything was crumbling away, from the unsightly buildings to the jolting road - now, these objects showed that they were nearing Rome.(LD, 718f.) In rascher Folge ziehen Objekte ohne erkennbaren Sinnzusammenhang am Auge vorüber. Zum Teil werden sie gar nicht mehr als Ganzheit wahrgenommen, sondern als ’fragments’ und ’patches’: Die Wirklichkeit zerfällt in Bruchstücke. Keines der Epitheta - ’ruinous’, ’yawning’ ’crazy’, ’deserted’, ’broken’, ’spectral’, ’tangled’, ’irregular’, ’disordered’, ’unsightly’, ’jolting’ - ist semantisch mit positivem Sinn belegt. Was diesen Landstrich prägt sind Hässlichkeit und Leere, Unordnung und Zerfall, aber - paradoxerweise - sind diese Aspekte für Dorrit Anzeichen dafür, dass er sich der Ewigen Stadt, der Kulturmetropole Rom, nähert: Außenwelt und seine Traumwelt treten in spektakulärer Weise auseinander. In Bezug auf seine Psyche ist diese Wirklichkeitssicht mehrfach aufschlussreich: 1. Die Wahrnehmung einer Welt in solch verkommenem Zustand ist überzeichnete Kontrastfolie zur schöneren Welt des Luftschlosses; 2. der Anblick bitterer Armut ruft in Dorrit - ein Zeichen seiner seelischen Verhärtung durch Reichtum - keinerlei Anteilnahme hervor; 3. die Nichtwahrnehmung von Menschen, die irgendwo in den Gemäuern leben müssen, ist weiteres Zeichen emotionaler Verkümmerung und moralischer Degenerierung; 4. die Gleichsetzung der Elendsquartiere mit der baldigen Ankunft in Rom ist entweder bösartig oder zynisch, denn der Status der Stadt als Ort prachtvoller Architektur und Kunst wird völlig ausgeblendet. William Dorrit nimmt die Außenwelt also nur noch partiell und aus großer emotionaler Distanz wahr. Seine langjährigen positiven Erfahrungen mit Menschen in Zeiten materieller Not und seelischer Erniedrigung sind aus seinem Gedächtnis wie gelöscht. Die idiosynkratische Sicht der Außenwelt ist an der Oberfläche durchaus spaßhaft, offenbart aber auf darunter liegender Bedeutungsebene den ernst stimmenden Vorgang eines progressiven Wirklichkeitsverlustes, begleitet von auffallender Einbuße an Empathie und Mitmenschlichkeit. Diese Veränderung in der geistig-psychischen Konstitution des ehemaligen ’Father of the Marshalsea’ wird in ihrem bestürzenden Ausmaß in einer denkwürdigen Begegnung vollends offenkundig: And now, a sudden twist and stoppage of the carriage inspired Mr Dorrit with the mistrust that the brigand moment was come for twisting him into a ditch and robbing him; until, letting down the glass again and looking out, he perceived himself assailed by nothing worse than a funeral procession, which came mechanically chaunting by, with an indistinct show of dirty vestments, lurid torches, swinging censers, and a great cross borne before a priest. He was an ugly priest by torch-light; of a lowering aspect, with an overhanging brow; and his eyes met those of Mr Dorrit, looking bareheaded out of the carriage, his lips, moving as they chaunted, seemed to threaten that important traveller; likewise the action 191 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG of his hand, which was in fact his manner of returning the traveller's salutation, seemed to come in aid of that menace.(LD, 719) Die Tatsache, dass sich statt der erwarteten Banditen ein Leichenzug einfindet, ist von unfreiwilliger Situationskomik und könnte bzw. sollte befreiende Heiterkeit in William Dorrit auslösen. Stattdessen nimmt er schmutzige Kleider, grelle Kerzen und Weihrauchgefäße wahr, alles Dinge, die seine Vorbehalte gegen die Menschen in ihrer Andersartigkeit stärken. Der Höhepunkt seiner vorurteilsbeladenen Wahrnehmung wird erreicht, als er des Priesters ansichtig wird, der hässlich, finster, unheimlich aussehe und durch Worte und Gebärden Drohungen gegen ihn richte. Auf faktischer Bedeutungsebene registriert ein übermüdeter Reisender eine religiöse Zeremonie im nicht vertrauten Ritus als fremdartig, Mimik und Gestik der Beteiligten in der Dunkelheit als unverständlich. Die darunter hervorkommende Sinnschicht legt freilich ein Defizit im seelischen Tiefengeschehen bloß: Paranoia als Folge seiner hypertrophierten Visionen in der spekulativen Erwartung von noch mehr Reichtum und noch höherem gesellschaftlichen Ansehen. Aus solcher Perspektive mutiert der biedere Landpriester zur finsteren Gestalt eines Wegelagerers, der ihm nach dem Teuersten trachtet, seinem Besitz. Sein progressiver Wirklichkeitsverlust hat den Punkt erreicht, dass er in der Realität glaubt vorzufinden, was seine Ängste ihn befürchten lassen. Die Szene mit dem Priester lässt unterhalb der Textoberfläche aber ein Weiteres sichtbar werden: Die Distanzierung des Erzählers von der Glaubwürdigkeit seines Helden und eine damit einhergehende Minderung seines Status als relevante Trägerfigur der Autorenintention. Das Maß an Lesersympathie, das die einfühlsame und oft rührselige Beschreibung seiner traurig-komischen Rolle als ’Vater des Marshalsea’ in Buch I aufgebaut hatte, wurde am Ende dieses Romanteils schon deutlich beeinträchtigt, als er im unerwarteten Besitz von Geld und Freiheit seine Wohltäter aus der Zeit davor - Mr Clennam, Mr Pancks, Mr Rugg, Mr Chivery - durch sein befremdliches Gehabe als reicher Mann vor den Kopf stieß. Er entfernt sich noch mehr aus dem Kreis der Sympathieträger in einer Dickens’schen Welt, zu denen neben den Genannten auch Amy and Frederick Dorrit, Mr Doyce, der alte Mr Nandy, die Plornishes und die Meagles gehören, als er die Realität immer ausschließlicher aus der Optik der Reichen sieht und daran weitere überspannte Ambitionen knüpft. Gleich zweimal schränkt der Erzähler den Wahrheitsgehalt von Dorrits Beobachtungen in der oben zitierten Textstelle durch die Formulierung ’seemed to threaten’ und ’seemed to come in aid’ ein, ein drittes Mal gar durch deren Korrektur - ’the action of his hand, which was in fact his manner of [...]’; die deutlichste Distanzierung ist der Hinweis auf Dorrit als ’that important person’ (Hervorhebungen: K. Lang), eine eindeutige Abwertung seiner moralischen Integrität und seines fiktionalen Status in distanzierender Geste durch das Stilmittel der Ironie. 192 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Zur narrativen Dekonstruktion der Hauptfigur gibt es noch eine Steigerung, denn die Episode endet damit, dass sich die vermeintliche Gefahr in fantastischer Komik verflüchtigt. Der Priester, so Dorrits Empfinden, gleite oder schwebe vorbei und der Zug mit den Toten trödele hinterher: ”[…] the priest drifted past him, and the procession straggled away, taking its dead along with it“(LD, 719). Die vermeintlichen Räuber entpuppen sich als müde dahinziehende, in Gedanken versunkene Trauergäste: Dorrits Wirklichkeitswahrnehmung wird damit endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben, und seine Idiosynkrasie hat weniger mit Reisestrapazen zu tun, so der latente Textsinn, als mit dem korrumpierenden Einfluss von Geld, Reichtum, Gesellschaftsstatus und Ansehen. Dass William Dorrit als ernsthafte Verkörperung Dickens’scher Werte in diesem Stadium seines Lebens ausfällt, zeigt die Beschreibung der Rückkehr nach Rom, die sich vollends unter den Vorzeichen des Komischen vollzieht. Der Höhepunkt wird bei der Ankunft erreicht [...] with their [Mr Dorrit’s company] coach-load of luxuries from the two great capitals of Europe, they were (like the Goths reversed) beating at the gates of Rome.(LD, 719) Durch den Kauf von Luxusgütern aus den zwei großen Hauptstädten Europas und sein rüdes Klopfen an Roms Tore entlarvt sich Dorrit endgültig als großspurig-neureicher Banause. Der Vergleich mit dem Einzug der Goten in gezielt grotesker Hyperbolik kommt einer ironischen Demaskierung seines aufgeblähten Selbstverständnisses gleich und macht ihn einschränkungslos zur Witz- und Spottfigur übermütiger Erzählfreude. Aus psychodiagnostischer Sicht kann der Befund über Dorrits Realitätswahrnehmung als pathologisch eingestuft werden. Unmittelbar nach der Ankunft in Rom erklärt er, zum fassungslosen Erstaunen aller, seinen Bruder Frederick für krank, negiert aber jedes Anzeichen eigener körperlicher und psychischer Erschöpfung. Der tragische Höhepunkt wird erreicht, als er während eines Festessens bei Mrs Merdle vor den versammelten Gästen der ’English community’, nun bereits in geistiger Verwirrung, eine ausführliche Rede über seine Zeit im Marshalsea hält, sich damit als ehemaligen Sträfling zu erkennen gibt und bloßstellt, vor allem aber im gegebenen sozialen Umfeld gesellschaftlich ruiniert. Dem Zusammenbruch folgt keine Genesung: Quietly, quietly, all the lines of the plan of the great Castle [sic] melted, one after another.(LD, 733) Die erstmalige Großschreibung von ’castle’ in diesem Kontext deutet auf Anteilnahme der erzählenden Instanz an Dorrits traurig stimmendem Zerfall seiner Träume hin, doch das Mitgefühl hält sich, wie der spöttische Unterton anzeigt, sehr wohl in Grenzen. William Dorrit stirbt kurz danach, ohne dass sich Körper, Geist und Psyche erholen: Es vollzieht sich in grausam-ernüchternder Wirklichkeit, was die Kapitelüberschrift in einem eu- 193 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG phemistischen Bild eher humorvoll angedeutet hatte: ’The Storming of the Castle in the Air’. 3.2.3 Ergebnisse im Kontext 3.2.3.1 Die schicksalsbedingten Begrenzungen des Lebens in England und in Italien Die Landschaftsbeschreibung des Großen Sankt Bernhard als Parabel des menschlichen Lebens und Abbild von Lebensverläufen in miniaturisierter Form ist als Visualisierung der Unberechenbarkeit des Schicksals angelegt. Der übergeordnete Gedanke der fünf Einzelbilder mit ihren divergierenden Inhalten, Themen, Perspektiven, Stimmungen und Gestaltungsmerkmalen ist, dass das Leben aus höherer, abstrahierender Warte durch Buntheit und Vielfalt, aber auch Unwägbarkeit gekennzeichnet ist. Aus großer Distanz beobachtet wird das breite Spektrum der Natur dargestellt, von der anheimelnden Landschaft am Fuß des Berges bis zur lebensbedrohenden Ödnis des Hochgebirges, aber die Personen sind weder namentlich noch auf andere Weise identifizierbar. Die in der Landschaft sesshaften Menschen wie auch die Reisenden auf dem Weg zu unbekannten Zielen wirken wie Marionetten ohne Einfluss auf den unvorhersehbaren Lauf des Schicksals. Diese resignative Einstellung in “Dickens’s darkest novel“, 439 „die Verdüsterung der Weltsicht in Little Dorrit“ 440 , “The most sombre and oppressive of Dickens’s novels“ 441 , zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman. „Viele [Figuren] sind sich ihrer Lage bewußt, leiden darunter und finden sich dennoch mit ihr ab. Eben wegen dieser Resignation und dem dazu gehörenden masochistischen Verhalten der Personen bezeichnet J. Hillis Miller Little Dorrit als den düstersten Roman des Autors.“ 442 In Buch I, dessen Handlung ausschließlich in England spielt, verbringt William Dorrit 23 Jahre zu Unrecht im Schuldgefängnis; sein gutmütig-seniler, schuldlos verarmter Bruder Frederick fristet ein kümmerliches 439 J. Hillis Miller, The Transforming World in Dickens’s Novels, in: Swisher, Readings on Dickens, 63. 440 Goetsch, Dickens, 144. 441 Schlicke, Oxford Reader’s Companion to Dickens, 339. 442 Goetsch, Dickens, 144. ”While set in the 1820’s, it [Little Dorrit] is a very topical work of the 1850’s, written against a background of financial crashes und unstable governments, a corrupt Civil Service, and military desaster in the Crimea. Dickens’s later fiction shows little faith in British ability to assign responsibility or initiate change within the general social malaise [...]. In the decade of Britain’s Great Exhibition he portrays a nation based on competitive materialism, near moral collapse.”(Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, 1676). 194 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Dasein; der tüchtige Erfinder Doyce kämpft aussichtslos gegen die bürokratische Maschinerie des ’Circumlocution Office’ in den Händen der Barnacles 443 , deren Maxime es ist, jeden Fortschritt schon im Keim zu ersticken; die ums tägliche Überleben kämpfenden Mieter des ’Bleeding Heart Yard’ sind permanent der Raffgier des heuchlerischen Mr Casby ausgesetzt, und Arthur Clennam versucht ebenso verzweifelt wie vergeblich, Licht in das rätselhafte Dunkel der Familiengeschichte zu bringen. In Buch II vollziehen sich wichtige Ereignisse ähnlich unvorhersehbar. Das Finanzimperium der Merdles bricht zusammen und bringt Tausende Anleger, auch die Dorrits und Clennam, an den Rand des finanziellen Abgrunds, im letzteren Falle sogar ins Schuldgefängnis. 444 William Dorrits Blütenträume - sein ’Luftschloss’ - zerplatzen, als sich sein Gesundheitszustand in Rom verschlechtert und enden mit seinem Tod. Mrs Clennam, Arthurs bigotte und in Verbitterung sich selbst kasteiende Stiefmutter 445 , verliert ihr Haus durch einen Brand, wobei auch der erpresserische Blandois umkommt. Mit ihm endet eine Verbrecherlaufbahn, die ein Leben lang ein Aufbäumen gegen Zwänge des Schicksals war, so wie auch die attraktive und eigensinnige Miss Wade mit ihrem ’unhappy temper’ in paranoider Dauerrevolte gegen vermeintliche Unterdrückung lebt. 446 Es gibt freilich auch Momente der Freude durch schicksalshafte Fügung. Nach fast aussichtslos langem Warten erhält William Dorrit sein Vermögen, Daniel Doyce wird erfolgreicher Firmengründer im Ausland, 443 „Die ’Barnacles’ - ein sprechender Name, der sowohl den Kneifer als auch eine Muschelart bezeichnet, die nur schwer von ihrem Untergrund zu lösen [ist].“ (Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 4, 1748). Der Name der mit ihnen verbundenen ’Stiltstalkings’ evoziert klanglich und semantisch ebenfalls Assoziationen mit hochgradiger Ineffizienz und zudem bornierter Arroganz. 444 ”Some of these conditions were already of the past when Dickens wrote, for although imprisonment for debt was indeed not wholly given up until 1869, yet imprisonment for small debts had been done away with in 1844, the prison of the Marshalsea had been abolished in 1842, and the Court of the Marshalsea in 1849. Bernard Shaw said of Little Dorrit that it converted him to socialism.”(Trilling, Little Dorrit, 147f.). 445 „In Gestalt der Mrs Clennam kritisiert Dickens den kalvinistischen Erwählungsglauben, der zu Hochmut und Selbsttäuschung führt.“(v. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 3, 715). ”[Her Calvinist arrogance] enables her to transmute the service of her will - of her possessiveness, pride, jealousy, vengefulness and life-hatred - into the service of God.” (Leavis and Leavis, Dickens - The Novelist, 231). 446 Miss Wades und Tattycorams Revoltieren gegen gesellschaftliche Konventionen ist mehrfach mit lesbischen Neigungen begründet worden: „Indem Miß Wade wegen der Erfahrungen in ihrer Jugend allen Liebes- und Mitleidsbezeugungen feindselig begegnet und nach Enttäuschungen mit Männern zur Lesbierin wird, verhält sie sich unnatürlich, krankhaft.“(Goetsch, Dickens, 152; vgl. auch Reinhold, Der englische Roman des 19. Jahrhunderts, 39 und Retseck, Sexing Miss Wade, 217ff.). Eine andere Auffassung vertritt John Lucas: ”I think it a mistake that Miss Wade should be spoken of as a lesbian. [...] she locks herself totally into a prison of paranoiac delusion [which] has been painstakingly built up by an intelligence working on a thwarted need for love that perverts with monstrous cunning such offers of love as she receives.”(Lucas, The Melancholy Man, 269). 195 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG und Amy und Arthur Clennam heiraten schließlich, nachdem der selbst in Amy verliebte, selbstlos handelnde John Chivery ihm die Augen öffnet. Zahlreich sind aber auch die Situationen, in denen das Lebensglück in einer Schwebe verharrt. Pet Gowan - “Poor Pet! Self-deceived, mistaken child! “(LD, 378) - die liebenswerte Tochter der Meagles, sieht als Frau eines abgrundtiefen Zynikers einer freudlosen Zukunft entgegen, so wie auch Miss Wade. Die Wärter und Insassen des Marshalsea, die Bewohner des ’Bleeding Heart Yard’ und Maggie, Little Dorrits ’child’: Für sie alle gibt es Augenblicke der Freude, aber sie verflüchtigen sich schnell in der Mühsal des Alltags. Über dem ganzen Romangeschehen liegt der Hauch von Melancholie und schicksalshafter Gebundenheit. 447 Die Akteure können bei allem Lebensmut ihre Lebensplanung nicht in freier Selbstbestimmung gestalten, sondern agieren in Abhängigkeit von Menschen und Ereignissen, Hindernissen und Zwängen, Institutionen und Strukturen. Die Erfahrung schicksalsbedingter Begrenzung des Lebens trifft so gut wie alle Personen, denen des Erzählers Sympathie gilt, zumal es Veränderungen der gesellschaftlichen Makrostruktur, verantwortlich in Dickens’ Augen für viele Missstände, nicht gibt. Auch am Romanende besteht das groteske ’Circumlocution Office’ in seiner destruktiven Zielsetzung weiter, die Träger der Macht in Politik, Wirtschaft, Justiz und Religion gehen ihren Machenschaften ungehindert nach, die ’Society’ mit ihren Idolen von Geld und Status hält ihren Machtapparat der Unterdrückung durch Verleumdungen und Intrigen aufrecht: “Society, as Mrs Merdle conceives it, is the main instrument of darkness in Little Dorrit. Society is the oppressor. Some of the structures it erects are visible facts [...], but its most pernicious effects are realized less as concrete objects than as manifestations of human behaviour, or as modes of thought.” 448 Diese „weitgehend pessimistische Gesellschaftsauffassung“ 449 , was nicht mit pessimistischer Lebensauffassung gleichzusetzen ist, wovon noch die Rede sein wird, liegt trotz einer Reihe humorvoller Begebenheiten 447 Dickens’ heiter-optimistische Frühwerke unterscheiden sich erheblich von den ’Dark Novels’ der späten Schaffensperiode. „Der anfangs vielfach gutmütige, unschuldige, heitere Humor wandelt sich späterhin nicht selten zu ironischen oder satirischen Ausfällen von beißender Schärfe, mit denen ein von der Welt angeekelter Dickens seiner Verachtung Luft macht und die Schwächen und Laster der menschlichen Gesellschaft geißelt.“ (Reinhold, Der englische Roman, 46f.). 448 Petch, Some Visions of Pastoral, 102. 449 Hans Ulrich Seeber, Englische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler Verlag, 1999, 274. ”In ’Little Dorrit’ and ’Our Mutual Friend’, Dickens’s disgust with the hypocrisies of Victorian society reached new heights of savage comic expression.” (Carter/ McRae, The Routledge History of Literature in English, 277). Beispiele der Satire sind Mrs Merdle, ’the Bosom’, Mr Casby, ’the Patriarch’, Mrs General, ’Prunes and Prism’. 196 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT und Charaktere 450 wie ein Schatten über der Handlung. Licht wird durch einzelne Personen in diese trübe Welt gebracht, die sich nicht durch spektakuläre Taten auszeichnen, sondern durch ihre Gesinnung und Verkörperung von Werten wie Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Liebe 451 , die Amy Dorrit in “her resilient optimism, generosity and humility“ 452 exemplarisch vorlebt. Die ganze Vielfalt dieses bunten Themenreigens findet sich, verdichtet in Raum und Zeit, im Panoramabild des Sankt Bernhard als in Naturszenerie gegossene Reflexionen über den Menschen in seiner existenziellen Einbindung: 453 Diese Landschaft ist symbolische Umschreibung von Freud und Leid, Glück und Gefahr, Wohlbefinden und Verzweiflung, Überfluss und Mangel, Erkenntnisklarheit und Orientierungslosigkeit, Gemeinschaft und Einsamkeit, Liebe und Schmerz: “The novel is a deeply pondered statement about the human condition.“ 454 Bereits die kontemplativ-philosophische Perspektivik des Textes lässt erkennen, dass eine kontrastive Bedeutungsbelegung von England und Italien nicht beabsichigt ist, wie die Analyse auch ergeben hat. Die fremde Landschaft am Sankt Bernhard regt jedoch durch ihre komprimierte und symbolisch überhöhte Vielfalt die Nachdenklichkeit der Leser an: Sie ist als Parabel Demonstrationsmodell der Kontingenz des Lebens und bildreiche Metapher der Lebensreise als archetypischer Akt des Durchquerens eines fremden Raumes. Diese Vorstellung vom Reisen als Weg zum Heteron 455 liegt auf manifester Sinnebene auch der Beschreibung der Reise nach Venedig zu Grunde 456 . Auffallenderweise wird auch hier, wie bei den zwei anderen 450 Trotz pessimistischer Grundstimmung befinden sich im Roman ”[...] some of Dickens’s most memorable comic creations, among them ’Mr F’s Aunt’, Flora Finching, John Chivery, a despairing suitor of Amy’s, and Mrs General, the highly correct governesscompanion [...]”. (Ousby, Cambridge Guide to Literature in English, 593). 451 „In allen seinen [Dickens’] Werken tritt ein moralisches Anliegen aufs deutlichste in Erscheinung. Der Autor will in ihnen als Kritiker der bestehenden und als Verkünder einer besseren Welt auftreten, seine Mission ist nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine moralische. Das Evangelium, das er predigt, haben seine Kritiker vielfach als banal und primitiv belächelt" schien es doch nichts zu beinhalten als eine popularisierte Form der Grundlehren des Neuen Testaments. Mehr Humanität, mehr Güte im Umgang mit dem Nächsten über alle Klassenschranken hinaus schien seine nicht sonderlich originelle Hauptforderung zu sein.“(Reinhold, Der englische Roman, 37). 452 Ousby, Cambridge Guide to Literature in English, 593. 453 ”Nature as Dickens presents it in the novel is never the Apocalyptic, Sublime Nature that had been associated with the Alps in the English mind from about the middle of the eighteenth century: It is rather a concentrating focus for human concerns [...].”(Petch, Visions of Pastoral, 107). 454 Lucas, The Melancholy Man, 246. 455 Gemeint ist „[…] eine Liebe zum Offenen, zum noch zu Erforschenden, zum Fremden, Unbekannten, zu neuen Bildern, zu ungewohnten Weltbildern, zum Heteron“.(Hörisch, Die ungeliebte Universität, 43f.). 456 In Bezug auf einen anderen Textzusammenhang lässt sich feststellen: ”[...] numerous images of travel and Clennam’s sense of life on ’the flowing road of time’ present charac- 197 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG analysierten Landschaftsdarstellungen, kein Bezug auf die Tradition der Bildungsreise oder auf die Grand Tour genommen, sieht man vom oft karikierten Klischee des britischen Reisenden ab, der in eklatantem Gegensatz zur Armut der einheimischen Bevölkerung seinen Reichtum zur Schau stellt, wie es auch William Dorrit tut. Bei der in fünf Einzelbildern dargestellten Reise nach Venedig geht es allerdings nicht um eine Analogie zum Lebensverlauf oder eine ‚Liebe zum Offenen’, sondern einzig um das Gefühl der Entfremdung und Entwurzelung der Hauptakteurin. “The shimmering light and wonderful open spaces of Venice ironically emphasize her loneliness [...].” 457 Sie erlebt alle Phänomene der Landschaft von Beginn an als unwirklich: ”All that she saw was new and wonderful, but it was not real.“(LD, 522) Dabei könnte die Zahl visueller Eindrücke wie auch deren emotionaler Gehalt nicht größer sein. Sie sieht gewaltige Schluchten und tosende Wasserfälle, liebliche Landstriche und malerische Städte, tiefblaue Seen und rebenumsäumte Straßen, prächtige Kirchen und verwahrloste Dörfer, verkommene Paläste und breite Kanäle, Bettler und Priester, Soldaten und Touristen. Die Eindrücke bündeln sich zu einer einzigen Erfahrung, der des Unwirklichen; ’a dream’, ’not real’, ’unreal’, ’unreality’, ’unrealities’, ’this crowning unreality’ sind Formulierungen zur Umschreibung “of her own inner life“. Die Problemstellung für die Protagonistin in der fremden Landschaft liegt nicht darin, dass diese Umwelt herausfordernde oder irritierende Signale aussendet, die das Verweilen in der bisherigen Sinnkonstellation in Frage stellen und zu Veränderung, Wechsel oder Umkehr aufrufen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Was sich der ästhetischen Erfahrung an ’novelties’ in den Kategorien des Schönen, Erhabenen und Schrecklichen darbietet, was sich aus sozioökonomischer Sicht als erschreckender Gegensatz von Reichtum und Armut zeigt und aus geschichtsphilosophischer Perspektive als Wandel von Ordnung und Kreativität zu Niedergang und Zerfall, ist nicht Anlass zum Hinterfragen von bislang für gültig erachteten Maßstäben. Die Vielzahl der Eindrücke, die Art ihrer Präsentation als zeitlich geraffte Abfolge visueller Ausschnitte und die Verschiedenartigkeit des thematischen und perspektivischen Blicks bündeln sich in einer schizoiden Wahrnehmung, in der die Gedanken das Reale und die ’Faktenaußenwelt’ (Arnold Gehlen) 458 das Irreale darstellen. Auf latenter Sinnebene bezeichnet dieses aus der Tiefe der Psyche der Heldin kommende Bedürfnis nach völlig unorthodoxer, konträrer Spaltung der Welt ihre Ablehnung ters’ lives as a journey or more specifically as a quest.”(Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, 1677). Dabei befinden sich die wichtigeren Romanfiguren häufig „[…] in dramatischen Krisenerlebnissen, in denen sie sich gegen die Gefahren des Selbstverlustes und der inneren Verhärtung behaupten. Insofern geht es bei Dickens immer um Emanzipation“. (Gelfert, Kleine Geschichte der englischen Literatur, 252). 457 Churchill, Italy and Literature, 139. 458 zit.n. Breuer, Historische Literaturpsychologie, 53. 198 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT des Neuen, d.h. ihres Lebens in Reichtum, in Gestalt einer inneren Distanzierung von der fremden Umwelt. Der Grund für ihr Empfinden von Unwirklichkeit ist nicht das kulturelle oder ästhetische Andere als Novum, sondern einzig und allein der Umstand, dass es außerhalb des Rahmens des Gewohnten liegt. Amy Dorrits Innenweltkonflikt entspringt nicht der Angst vor Herausforderung durch das Unbekannte, wie bei Lucile Edgermont in Corinne, sondern dem Schmerz über den Verlust des alten Ordnungsgefüges. Amy, ”[...] quite displaced even from the last point of the old standing ground in life”,(LD, 523) bleibt in Gedanken auf das Marshalsea-Gefängnis fixiert, “[…] the old room, and the old inmates, and the old visitors: all lasting realities that had never changed.”(LD, 527) Diese alte Wirklichkeit mit ihren zwischenmenschlichen Tugenden, paradoxerweise also ihr Leben im Gefängnis, stellt für sie die wahre Realität dar. Auch die von William Dorrit bei seiner Rückkehr nach Rom durchreiste Landschaft fungiert nicht als Stimulans für Verstehensvorgänge. Was er bei der Begegnung mit der Natur und den Menschen erlebt, ist nicht als Hinwendung zu Neuem zu begreifen. Der Text lässt eindeutig erkennen, dass die Landschaft Italiens dieses Potenzial für ihn nicht darstellt. Sie fungiert in seinem Falle als Demonstrationsobjekt und zugleich als Seismograph, auf dem sich, für ihn unbewusst, der langsame Verfall seiner geistigen und psychischen Kraft abbildet. Auch hier, wie bei der Reise nach Venedig, dient die symbolische Landschaft nicht der Verdeutlichung eines geistigen Wandels, sondern der Veranschaulichung eines psychischen Befundes. Die Opposition von England und Italien löst in den Romanfiguren als Folge der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Natur- und Kulturräume keine erkenntnisfördernden oder kommunikativen Prozesse aus. Die verbalen Landschaftsbilder aus Italien fungieren narrativ als Instrument zu innenweltlicher Analyse. 3.2.3.2 Begrenzung und Gefängnis als zentrale Vorstellungsinhalte beim Erleben der Landschaft Italiens Die Landschaftsdarstellungen aus Italien in Little Dorrit, ”[…] without doubt Dickens’s greatest novel and far and away the greatest novel in the English language“ 459 , sind also in dem Sinne objektives Korrelat von Innenwelten, als sie seelische Befindlichkeit darstellen, nicht aber innenweltliche Prozesse und Veränderungen. Die verbalen Bilder haben demonstrierend-beweisführende Funktion und wirken wie Demonstrationsobjekte bzw. Lehrmodelle, wie Indikatoren, Kardiobzw. Seismographen zur Wie- 459 Lucas, The Melancholy Man, 251. 199 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG dergabe von Situationen im Raum der Psyche. ”Superficially the novel continues the well-established conventional use of Italy as the country where the English characters go seeking health and happiness and find sorrow and death.[...] The important new feature in the novel’s treatment of Italy, however, is the way in which this is integrated into the pattern imagery running through the whole work, to become not simply a convenient setting for the death of Dorrit, but also a means of exploring the state of mind of his daughter.” 460 In jedem der drei Landschaftsbilder wird die symbolische Tragfähigkeit der Phänomenalität der Natur benutzt, um eine unsichtbare Wirklichkeit zu beschreiben. Diese Transzendierung der realen Objektwelt verleiht visuellen Wahrnehmungen hintergründigen Sinn und Bedeutungstiefe. Da es nicht um Wandlungsprozesse, sondern um die Darlegung psychischer Befunde geht, haftet der Korrelierung zwischen dem Außen und dem Innen in Little Dorrit etwas Statisches an. So lässt sich erklären, weshalb in den wechselnden Landschaftsausschnitten innerhalb eines Gesamtnaturbildes prinzipiell dieselben psychischen Symptome auftreten. Trotz der Vielfalt an Themen, Stimmungen, Perspektiven und Stilmittel sowohl innerhalb als aber auch zwischen den drei Landschaftsbildern geht es ausschließlich um Deutungsmuster seelischen Befindens, die mit den drei Themen von Schicksalsergebenheit, Entwurzelung und Wirklichkeitsverlust umschrieben sind. Angesichts dieser Sachlage wird verständlich, weshalb Kontrastzuweisungen an England und Italien als Folge soziokultureller Unterschiedlichkeit ohne Belang sind, denn das Ziel der innenweltlichen Zustandsschilderung von William und Amy Dorrit ist es darzulegen, in welchem Maße sie in ihrer englischen Lebenswelt verhaftetet sind. Sie verlassen England zwar körperlich und gedanklich, aber nicht geistig und psychisch. Auf verborgene Weise sind sie in ihrer Entfaltung gehemmt, durch Begrenzungen eingeengt und agieren als Gefangene bestehender Machtverhältnisse, ihrer Umwelt und ihrer eigenen Psyche. „In Little Dorrit [...] sind die Milieueinflüsse, Wertvorstellungen und Normen der Gesellschaft von den Figuren so verinnerlicht, daß selbst die Hauptfiguren [...] unfrei wirken.“ 461 Ihre Begrenzungen sind in Buch I im realen, in Buch II im übertragenen Sinne mit der Vorstellung vom Gefängnis festgeschrieben: „Gefängnis im symbolischen Sinne ist zunächst einmal England. Man kann zwar das Land verlassen, bleibt jedoch [...] Gefangener der eigenen Vergangenheit.“ 462 Beim Betreten der Landschaft Italiens findet in Amy und ihrem Vater keine Interferenz zwischen der Fremde und dem Selbst durch Projektion der Innenwelt auf die neue Umwelt oder umgekehrt statt, da die hei- 460 Churchill, Italy and Literature, 139. 461 Goetsch, Dickens, 143. 462 Ebd., 153. 200 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT mische Welt, entweder in Gestalt von Erinnerungen an die Vergangenheit oder von Visionen in die Zukunft, wie ein hermetisch geschlossenes Gebilde wirkt, aus dem es kein Entkommen gibt. ”The dominant image in illustration and word [...] is of imprisonment, from the tainted Marseilles jail, through the quarantine house, a ’bolted and barred’ Sunday London, Mrs Clennam’s dark and sterile moral bondage, to the central example of the Marshalsea, which the Dorrit family seems to carry with them and impose on Venice and Rome [...].“ 463 Die in der Literatur so häufig angesprochene Symbolik des Gefängnisses 464 - „In Little Dorrit wird das Gefängnis sogar zum zentralen Symbol des gesamten epischen Vorgangs“ 465 - wird durch die Analyse der Landschaftsbilder von Italien nachhaltig bestätigt: ”[…] everyone in Little Dorrit is tainted by prison. It is the condition of being human.“ 466 Die Reisenden am Sankt Bernhard und vor allem die erstarrten Toten sind Gefangene ihres Schicksals, Little Dorrit auf dem Weg nach und in Venedig ist Gefangene ihrer Erinnerung an das Marshalsea, und William Dorrits Zukunftspläne mit seinem Luftschloss sind letztlich nichts anderes als ein Ausbruchsversuch aus dem Kerker seines Lebens, dessen Scheitern bereits vorprogrammiert ist: “Dorrit’s final collapse is the awful revenge of a mind that eventually breaks out of its own prison and destroys its gaoler in the process.“ 467 Dorrits unausgesprochener Wunsch, durch Verlegen seines Wohnsitzes nach Italien der schmachvollen Vergangenheit zu entgehen, indem er sie wie eine abgestreifte Hülle in England zurücklässt, um endlich frei zu sein, erweist sich als Illusion.“The simplest moral outlines in Little Dorrit suggest one function for the tour through Switzerland and Italy, where most of the Continental scenes occur. The riches inherited by the Dorrits after their twenty-year sojourn in the Marshalsea demonstrate that the effects of the prison go too deep for them to find real freedom in their liberty.” 468 463 Kirkpatrick, Reference Guide to Literature in English, 167. 464 ”The subject of Little Dorrit is borne in upon us by the symbol, or the emblem, of the book which is the prison.”(Trilling, Little Dorrit, 148). ”The prison is the word of ’the mind-forged manacles’; it is Society with a big S, as well as society we all have to live in [...].”(Leavis u.Leavis, Dickens, 221). Krisen in Dickens’ Leben, wie die enttäuschende Begegnung mit seiner Jugendliebe Maria Beadnell, der Tod seines engen Freundes Douglas Jerrold, seine Begeisterung für die junge Schauspielerin Ellen Ternan und vor allem seine Ehe mit Catherine Hogarth, die er zunehmend als unerträgliche Last empfand, steigerten sich zum Gefühl der Trostlosigkeit. ”He conceived many escapes from his own life.“ (Ackroyd, Dickens - Public Life and Private Passions, 125). 465 Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 544. 466 Lucas, The Melancholy Man, 248. ”[...] the prison haunted the mind of the nineteenth century, which may be said to have had its birth at the fall of the Bastille.”(Trilling, Dickens, 149). 467 Ebd., 259. 468 Burgan, Little Dorrit in Italy, 398. 201 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die innere Kohärenz des ungewöhnlich facettenreichen, inhaltlich und sprachlich breit diversifizierten Landschaftsbildes vom Sankt Bernhard beruht auf der Metapher der Lebensreise als schicksalsbedingte Einbindung. Spätestens mit Einführung der Arche Noah in den Bildbestand wird die Idee der Begrenzung alles menschlichen Tuns als einigendes Band dieser Landschaftsdarstellung sichtbar, deren Charakter als Allegorese zu Tage tritt, wenn von ‚the living travellers’ und ’the dead travellers’ die Rede ist, von ’a wild destiny’, das einer Mutter mit Kind in der Eiseskälte den Tod brachte und ihre imaginierte Klage über den unvorhersehbaren Lauf der Welt in direkter Rede im Text erscheint. 469 Das gesamte Spektrum der Naturszenerie fungiert als Demonstrationsmodell zur Veranschaulichung der Idee des Eingeschlossenseins in einen unberechenbaren Schicksalsverlauf und fördert damit die Gefängnissymbolik als Vorstellungskern zu Tage. “Lionel Trilling [...] argues that this novel [...] is about society in its very essence. The prison, he suggests, surpasses all other symbols used by Dickens." 470 Wenngleich von der Protagonisitin nicht direkt ausgesprochen, sind Empfindungen von Begrenzung und Gefängnis die zentralen Begleitumstände ihrer Venedigreise. Die Voraussetzungen für eine Interferenz zwischen Neuem und Gewohntem wären durch ein Kennenlernen dieser vielgestaltigen Landschaft Italiens, falls dies Ziel des Erzählens wäre, bestens gegeben. Doch sie bleiben ungenutzt: In bunter, schneller Folge, den verwirrenden Bildsequenzen eines zeitraffenden Films vergleichbar, 471 zieht die Landschaft mit ihren unterschiedlichen Formen, Farben, Eindrücken und Assoziationen an ihrem Auge vorüber, 472 ohne durch ihre Ästhetik oder auch ihre Fremdartigkeit der Heldin Aufmerksamkeit zu erregen. 469 Ursprünglich sollte der Roman den Titel Nobody’s Fault tragen. ”His [Dickens’s] original idea [...] consisted of a leading man for a story who should bring about all the mischief in it, lay it all on Providence, and say at every fresh calamity, ’well, it’s a mercy, however, nobody was to blame, you know! ’ This idea appears in Dickens’s notebook entry, ’The people, who lay all their sins, negligences and ignorances, on Providence [...]’.” (Schlicke, Oxford Companion to Dickens, 335). Ebd., 341. 470 471 In einem Essay wies Sergej Eisenstein 1944 auf die enge Verbindung von Dickens’scher Erzähltechnik und den Anfängen einer amerikanischen Filmästhetik hin. ”Eisenstein does not claim to be original in detecting Dickens’s acute visual sensibility. Indeed he quotes liberally from Stefan Zweig’s study of the author, in which the recollections of Dickens’s contemporaries prepare us to acknowledge his ’acuteness of physical vision’, and the judgment is sharpened by Zweig’s own photographic metaphor: ’his memory and his keenness of perception are like a good camera lens, which, in the hundredth part of a second, fixes the least expression, the slightest gesture, and yields a perfectly precise negative’.”(Stephen Bann, Visuality Codes the Text: Charles Dickens’s Pictures from Italy, in: Bullen, Writing and Victorianism, 202). 472 ”The astonishing life of language that characterizes his work - the infinitely varied power of his prose, and its vividness of imaginative evocation - manifests itself in ways 202 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Im Zentrum des Interesses steht ihre gestörte Psyche, und dabei geht es nicht um Veränderung oder Assimilation von Neuem, denn Besserung ist nur durch Rückbesinnung möglich. Eine Anpassung an die in ihren Augen künstliche und bedeutungslose Welt der Reichen und Mächtigen, wie sie die Touristen in Venedig, die ’English Community’ in Rom und die ’Society’ in England verkörpern, wäre, so die latente Botschaft des Textes, die gänzlich falsche Therapie und müsste zum moralischen und psychischen Kollaps führen. An diesem Punkt zeigt sich, dass die Gefängnissymbolik in Little Dorrit allerdings ambivalent ist: Es geht einerseits um den Kerker, der dem Einzelnen physisch, geistig und psychisch seine Freiheit nimmt, andererseits aber auch den Ort der Identität, der Geborgenheit und Selbstfindung. ”In reading Dickens we are always seeing the prison from the inside. The primary thing is never the prison as a legal enactment, or a social problem, but an experience, which we are compelled to share. Apparent exceptions only confirm this point, as when Little Dorrit is locked out of the Marshalsea. She is locked out of her home, and so spends the night more aware than usual of the fact that she belongs nowhere else [... ].” 473 Little Dorrits Eindrücke landschaftlicher Irrealität in Oberitalien erfordern komplementär die Annahme einer für sie maßgebenden Wirklichkeit, die sie dann am Zielpunkt der Reise beim Betrachten des Sonnenuntergangs für sich erstellt: In Gedanken reproduziert sie detailliert die Welt des Marshalsea in paradoxer Umkehr zum gegenwärtigen Leben in Reichtum und Freiheit. ”The prison is no prison to her; it is her home and her freedom.[…] Amy’s prison becomes the idleness which is forced upon her by her wealth, by the convention of genteel uselessness and by that strenuous inoccupation of the tourist [...].” 474 In eine analoge Situation gerät Arthur Clennam, der erst dann seine Liebe zu Amy entdeckt und aus der Depression zur Emanzipation seines Ichs und zu Glück findet, als er im Gefängnis ist. Glück fand er nicht am ‚Abend der Rosen’, als er in Freiheit war. 475 Auch für Flora Finching, “[…] pathetically and grotesquely impri- that anyone would call poetic in those passages which evoke décor.” (Leavis and Leavis, Dickens, 270). Cockshut, Prison Experiences in Dickens's Novels, in: Swisher, Charles Dickens, 41. 473 474 Edwin B. Barrett, Little Dorrit and the Disease of Modern Life, in: Nineteenth Century Fiction, 1970, 214. 475 Ein erster Versuch Arthur Clennams, sich aus den Fesseln seines Ichs zu befreien, war gescheitert. In dem in Buch I ausführlich geschilderten ‘Abend der Rosen’ (Kap. 28) entschließt er sich nach mühevollem inneren Ringen, auf die Liebe zur wesentlich jüngeren Pet Meagles zu verzichten: “[...] he first finally resigned the dying hope that had flickered in nobody’s heart so much to its pain and trouble; and from that time he became in his own eyes, as to any similar hope or prospect, a very much older man who had done with that part of life”(LD, 375). Dieser Abend “[...] is the important episode of Clennam’s attempt to persuade himself he is in love with Pet Meagles. For him that is a dream of freedom, because it offers release to him from time.”(Lucas, The Melancholy Man, 283). 203 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG soned in a past that cannot be realized in the present“ 476 ist bei jedem Zusammentreffen mit ihrer einstigen Jugendliebe Clennam die zwanghafte Rückkehr in das Gefängnis ihrer Erinnerungen nicht nur Belastung, sondern glücksspendender Teil ihres Gedächtnisbestandes. Bei der Schilderung der Rückkehr William Dorrits nach Rom scheint die Landschaft noch am ehesten objektives Korrelat seelischer Vorgänge zu sein, doch bei näherem Hinsehen wird klar, dass auch hier keine Verstehensvorgänge in Gang kommen, sondern in subtiler Weise, mit den Stilmitteln von Humor und Ironie, das Nachlassen geistiger und psychischer Kraft beschrieben wird. Das Objekt, an dem sich der Befund zeigt, ist die Landschaft mit ihren Menschen, und die Symptome sind die progressiv verzerrte Realitätswahrnehmung. Die Ursache ist jedoch nicht der Rückzug in die Vergangenheit, wie in Amys Fall, sondern die Flucht in die Zukunft mit Visionen eines Lebens in noch größerem Reichtum: Der komische Held William Dorrit plante - im Unbewussten - in Rom seine endgültige Flucht aus dem symbolischen Gefängnis seiner Vergangenheit, aber sie endet mit seinem tragischen Tod, gesellschaftlich vor den versammelten Reichen, psychisch und physisch wenig später im Krankenbett im Beisein seiner Tochter. 3.2.3.3 Der argumentative Hintergrund der Landschaftsbeschreibung: Gestörte Psyche und die Notwendigkeit einer moralischethischen Werteorientierung In Buch I mit dem Titel ’Poverty’ und den Personen und Ereignissen um das Marshalsea im Mittelpunkt erreicht die äußere Handlung mit William Dorrits Freilassung und seinem unerhofften Reichtum einen glücklichen Höhepunkt und Abschluss, aber viele Fäden der komplexen Handlungsstruktur führt Dickens nicht zu einem vergleichbaren Ende. „Sein Hang zur Darstellung brillanter Einzelszenen verleitet ihn gelegentlich dazu, der inneren Logik im Ablauf der Geschehnisse zu wenig Beachtung zu schenken. Darüber hinaus neigt er dazu, allzu viele Fäden der Intrige miteinander zu verknüpfen, so daß der Leser den Gang der Ereignisse kaum noch zu durchschauen vermag. [Hinzu kommt, dass er] Requisiten aus der Mottenkiste des 18. Jahrhunderts übernimmt, wie denn allerlei Unglaubliches und Unwahrscheinliches, wie unvorhergesehene Erbschaften, die plötzli- Die Ambivalenz der Gefängnissymbolik in Little Dorrit ist zweifelsohne mit Dickens’ biografischem Hintergrund verbunden, als sein Vater im Marshalsea einsaß. Dies mag auch seine ambivalente Haltung zur viktorianischen Gesellschaft erklären, die er einerseits heftigst kritisierte, sich andererseits ihren Regeln unterwarf. Eine weitergehende Erörterung dieser komplexen Frage müsste in den Bereich einer tiefenpsychologischen Analyse führen und liegt außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung. Lucas, The Melancholy Man, 268. 476 204 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT che Entdeckung von Verwandtschaften, das unvermutete Auftreten Totgeglaubter und ähnliches eine nicht unbedeutende Rolle spielen.“ 477 Arthur Clennams Suche nach dem Familiengeheimnis, sein Verzicht auf eine Heirat mit Pet Meagles und deren Verbindung mit dem exzentrischen Zyniker Henry Gowan, “the arch-nihilist“ 478 , Daniel Doyces Kampf gegen das ’Circumlocution Office’, das Schicksal der Plornishes und anderen Mieter im ’Bleeding Heart Yard’, das Märchen von der Prinzessin und der kleinen Frau, die kriminellen Aktivitäten des M. Rigaud alias Blandois alias Lagnier, Miss Wade und Tattycoram, Fanny Dorrit und Edmund Sparkler: All die mit diesen Personen verknüpften Konfliktsituationen bedürfen aus Lesersicht der Fortführung. In diesem Sinne ist Buch II mit dem Titel ’Riches’ der entscheidendere Teil des Gesamttextes, aber auch aus dem Grund, dass über den offen formulierten Antagonismus von Armut und Reichtum des Autors Sozialkritik und seine moralisch-ethischen Wertmaßstäbe deutlicher hervortreten. Dafür eignet sich Italien als Schauplatz nicht nur, um das Leben der Reichen unter Anspielung auf das Verhalten vermögender Engländer in jener Zeit überzeugend zu schildern, sondern auch um in Buch I initiierte Schicksalsverläufe in größerem räumlich-zeitlichen Kontext zu zeigen. So entsteht Gelegenheit, Verwerfungen der Psyche, die ein bedingungsloses Streben nach Geld, Macht und Status in Individuen anrichtet, argumentativ plausibel aufzuzeigen. Landschaft als sich in konkreter Form manifestierende Andersartigkeit eines fremden Natur- und Kulturraumes (vgl. 1.1.2) wird als nahe liegender Weg zur Sichtbarmachung solcher Veränderungen oder Störungen aufgefasst und verwendet. Bei dieser Zielsetzung konnte Dickens auf seine textuelle Vorarbeit in Pictures from Italy (1846) zurückgreifen: ”Dickens, on the threshold of an age of mass tourism, constantly enacts and displays in his text the operation of converting the experience of otherness into visual schemata. It is at the price of this resourceful and continuous conversion that the rapid succession of stimuli becomes assimilable. Dickens does not have a camera to hand to take snapshots, like the modern tourist. Indeed, no camera of the period could have lent itself to such convenient and continuous use. But he attunes his style precisely to the regime of such a practice, and he locates it symbolically in the appropriate technological realm.” 479 Das Erstellen zeitraffender Bildsequenzen, als kennzeichnendes Analyseergebnis für die Landschaftsdarstellung des Sankt Bernhard und mehr noch für Amys Reise nach Venedig ermittelt, wurde von Dickens als wirkungsvolle Beschreibungstechnik eingesetzt, um erzählstrategisch einen subtilen Zugriff auf die Innenwelt zu gewährleisten. Solch ein Zugriff ist argumentativ wichtig, denn in Little Dorrit geht es nicht nur um Reinhold, Der englische Roman, 41. 477 Leavis and Leavis, Dickens, 236. 478 Bann, Visuality Codes the Text, 215; vgl. dazu Fußnote 471. 479 205 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Gesellschaftskritik pauschal, sondern um Grundlegung einer individuell fundierten Werteordnung. Dickens strebt nach moralischer Verbesserung der Welt für alle vor dem Hintergrund charakterlich-ethischer Integrität, nicht nach Selbstfindung oder Selbstverwirklichung in egozentriertem Rückbezug auf das eigene Ich: “Dickens never loses sight of the fact that the human condition cannot be divorced from the social context.“ 480 Die erzählerische Analyse seiner Romanfiguren wie auch der Landschaftsdarstellungen sind in diesem sozial relevanten Kontext zu sehen. ”To Dickens, the parable of the visible world is directed towards personal relationships between human beings.“ 481 Bei ihm dient verbalisierte Landschaft weder nur als piktorales Phänomen dem Zweck ästhetischen Genießens noch ist sie Instrument der Selbstbezogenheit zwecks innenweltlicher Exploration. Sie ist in der Abfolge der Handlungsgeschehnisse dann eingefügt, wenn eine auktorial bedeutsame Botschaft für den Menschen in seiner Sozialität formuliert wird. Allein die Tatsache, dass die Beschreibung der Landschaft am Sankt Bernhard unmittelbar zu Beginn von Buch II zu finden ist, verleiht ihr eine herausgehobene Stellung. Diese Positionierung im Romanganzen sowie das Fehlen jeglichen personalen Bezugs zum Handlungsgang unterscheidet dieses Landschaftsbild von allen anderen deskriptiven Textstellen über Natur-, Kultur- oder Stadtlandschaft. 482 Die verkündete Botschaft ist denn auch übergreifend und semantisch von universalem Gültigkeitsanspruch: Der Mensch ist existenziell in Raum und Zeit eingebunden und dem Wirken eines unberechenbaren Schicksals, dessen Unwägbarkeiten und Kontingenz, alternativlos ausgeliefert. Erzählerische Absicht ist es, die in Buch I begonnenen und in Buch II mehrheitlich zum Abschluss geführten Handlungsstränge unter Verwendung der Gefängnissymbolik unter diesen Vorzeichen zu sehen: Die im ewigen Eis erfrorenen Toten werden für immer, ”[…] outlasting generations“(LD, 489], hinter Gittern bleiben. Der Tod ist nicht, im Sinne christlicher Orthodoxie, Erlösung, Befreiung und neues Leben, sondern zeit- und zielloses Verharren in einer geschlossenen, kalten Welt, deren einziger Trost die Liebe ist, die exemplarisch die tote Mutter in der immerwährenden Geste der Umarmung ihres toten Kindes zeigt und die ihr hilft, die offensichtliche Grausamkeit des Schicksals zu ertragen. Lucas, The Melancholy Man, 245. 480 481 Matthias Bauer, Little Dorrit: Dickens and the Language of Things, in: Böker/ Sauer, Anglistentag 1996 Dresden, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 1997, 358. 482 Dazu gehören in Buch I die Beschreibung des Hafens von Marseille (3f.), des Sonntags in London (34ff.), Mrs Clennams Haus (201f.), des Märchens von der Prinzessin und der kleinen Frau (328ff.), des ‚Abends der Rosen’ in Twickenham (373ff.); in Buch II Floras Italienbild (601f.), Little Dorrits Aufenthalt in Pisa (623), Mrs Plornishes ’Happy Cottage’ (645f.), Fannys Hochzeit in Rom (685f.), Little Dorrits Fahrt durch Rom (688) und Clennams Suche nach Miss Wades Haus in Calais (737ff.). 206 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Das Landschaftsbild am Sankt Bernhard lässt einen desillusionierten und melancholischen Autor sichtbar werden, der nicht, wie so oft an anderen Stellen des Romans, vehemente Kritik an Missständen, Ungerechtigkeit und menschlichen Schwächen übt, sondern in resignativer Einstellung einen nur begrenzten Bewegungsspielraum für Menschen sieht, der mit dem Tod gänzlich erlischt. Bedeutung und Sinn, so die Botschaft, sind für das Dasein nur abzuleiten, wenn die von Amy Dorrit mustergültig praktizierten Werte der Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Liebe gelten. Eine solche Haltung ist nicht, wie angesprochen, mit Pessimismus gleichzusetzen, und es ist John Lucas beizupflichten: “It is not a pessimistic novel, but it is certainly a very sombre one.“ 483 Man könnte diese Einstellung als existenzialistische Position im Sinne eines Geworfenseins in die Welt bezeichnen, in der das Individuum - unter Anleitung humanitärer, an das Neue Testament erinnernder Gebote - in ethisch-moralischer Selbstverantwortung seinem Leben Sinn gibt. Die Beschreibung der Reise nach Venedig befindet sich nur wenige Seiten nach der Landschaftsdarstellung des Sankt Bernhard, also noch am Anfang von Buch II, und leitet den Italienaufenthalt der Familie Dorrit eigentlich erst ein. Wie erwähnt, sind für den Erzähler nur Amy Dorrits Wahrnehmungen von Bedeutung, die für sie weder ein ästhetisches, kulturgeschichtliches noch selbstexploratives Erlebnis darstellen, sondern einzig und allein der Visualisierung ihrer Psyche dienen. Mit dieser Funktionszuweisung distanziert der Text gleich zu Beginn des Italienaufenthalts der Dorrits, der der Festigung ihres gesellschaftlichen Status dient, die Heldin von dem kritikwürdigen, weil artifiziellen, heuchlerischen und letztlich verachtenswerten Gehabe der Reichen. Die von Amy empfundene Unwirklichkeit bezieht sich auf das Leben ihres Vaters, auf das ihrer Schwester Fanny, “[…] one of the most brilliant of Dickens’ studies of selfimprisonment“ 484 und auf das ihres Bruders Edward, die beide auf der Suche nach Zerstreuung die Nacht zum Tag machen. Ebenso unwirklich erscheint ihr auch das Verhalten anderer Engländer in Venedig, jener ’social people’, die, unbeeindruckt vom Kontrast zwischen Glanz und Elend, Prunk und Verfall, sich in Gondeln durch die Kanäle fahren lassen: Amys Wirklichkeit sind die hilfebedürftigen Kinder, die schwach gewordenen Alten und die armseligen Bettler, “the only realities of the day“. Eine weitere Funktion dieser Landschaftsbeschreibung liegt in der erzählerischen Festigung der Schlüsselrolle der Hauptfigur als Trägerin der Wertvorstellungen des Autors - was nicht gleichbedeutend ist mit ihrer Lucas, The Melancholy Man, 246. 483 Die symbolisch stark verdichtete Schlussszene des Romans mit Amys und Arthurs Trauung in der Kirche bestätigt diese Auffassung: ”And they were married, with the sun shining on them through the painted figure of the Saviour on the window.”(LD, 931). Price, Introduction, in: Dickens - Collection of Critical Essays, 5. 484 207 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Ausformung als komplexe Romanfigur mit unverwechselbaren Zügen 485 -, um durch ihre Person Gesellschaftskritik und moralisch-ethische Ziele darzulegen. Im Kontext dieser Intention hat diese Textstelle antizipatorischen Charakter und weist auf eine konfliktvolle Entwicklung hin. Eine Zuspitzung erfolgt bei William Dorrits Fahrt durch die Campagna, als auch er die Außenwelt als Irrealität wahrnimmt, wenngleich in anderer Weise und aus anderen Motiven. 486 Auch dieses Landschaftsbild beschreibt eine schizoide Wahrnehmung als Folge einer Störung zwischen Innen- und ‚Faktenaußenwelt’ und deutet narrativ auf Verhängnisvolles hin: Das zunächst harmlos erscheinende Krankheitsbild verschlechtert sich rapide und endet im psychischen Kollaps, als es auf dem vermeintlichen Höhepunkt von Macht und Ansehen zur symbolisch bedeutsamen geistigen Umnachtung kommt und William Dorrits mit Aufwand und Umsicht konstruiertes Selbstbild in der tragikomischen Szene seines öffentlichen Selbstbekenntnisses zerbricht und seine konstruierte Wirklichkeit zur ihn vernichtenden Unwirklichkeit wird. Parallel zu Dorrits Niedergang und Fall als Besitzer von Reichtum ereignet sich in einem anderen Handlungsstrang ein folgenschwerer Zusammenbruch: Merdles Finanzimperium geht in die Brüche, reißt Spekulanten wie auch Gutgläubige in den finanziellen Abgrund, unter ihnen Arthur Clennam und die Dorrits, und führt zu seinem Selbstmord. In den beiden großen und vielen kleinen Fällen zerbrechen genau diese Scheinwelten aus Geld und Status, so wie Amy sie immer als Irrealität empfunden hatte. So ist denn für sie die erneute Armut ihrer Familie als Folge der misslungenen Merdle’schen Spekulationen, im Gegensatz zu ihrer Schwester und ihrem Bruder, keinesfalls ein Unglück, sondern erweist sich als Voraussetzung zu Liebe und Glück, denn der im Marshalsea eingesperrte 485 “Das Herausarbeiten der Verwicklung und der Aufbau waren nicht seine [Dickens’] Stärke [...]. Darüber hinaus warfen ihm seine Kritiker vor, er habe seine Charaktere nicht von innen entfaltet, seine Mädchenfiguren seien hölzern [...]. Seine Anhänger haben ihn dagegen oft mit dem Hinweis auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen seiner Werke verteidigt.“(Schirmer, Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, 796). Es ist Trilling eher zuzustimmen als Martin Price, der Amy Dorrit für eine psychologisch überzeugende Figur hält: ”To some degree Amy Dorrit suggests something more simple and austere than a person, and she may shade off, as Lionel Trilling has proposed, into an embodiment of a divine principle. But she is, nevertheless, a psychologically convincing person, imperfect, moving reluctantly and unbelievingly toward a sense of self.” (Price, Introduction, in: Dickens - Collection of Critical Essays, 5). 486 “Die größten Auswirkungen auf die Physiognomie der Gegend hatte die im späten Kaiserreich einsetzende Verödung des Gebietes. Die Römische Campagna war seit dem Mittelalter kaum mehr besiedelt und blieb über Jahrhunderte hinweg weitgehend unverändert. Der Landstrich zeigte - abgesehen von einzelnen Hirtenhütten und Poststationen - kaum Spuren zeitgenössischer Zivilisation.“(Hoffmann, Die Römische Campagna - Melancholische Größe - ernste Einsamkeit, in: Büttner/ Rott, Kennst du das Land, 211). 208 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT Arthur Clennam überwindet seine Hemmung zu einer Heirat mit ihr erst, als er erfährt, dass sie, wie er, mittellos ist. Im Zuge der argumentativen Verankerung der Landschafsbeschreibungen Italiens ergab sich für Dickens wohl ein Dilemma. Durch ihre Funktionalisierung zwecks Darstellung psychischer Befindlichkeit - Amys Entfremdung, Dorrits Wirklichkeitsverlust - war es nicht möglich, ein unbelastetes, von solchen gedanklichen Vorgaben freies Italienbild zu erstellen, wie es seiner tatsächlichen Auffassung eigentlich entsprochen hätte. In Pictures from Italy (1846) verabschiedet er sich voller Bewunderung von Italien: ”[...] let us part from Italy, with all its miseries and wrongs, affectionately, in our admiration of the beauties, natural and artificial, of which it is full to overflowing, and in our tenderness towards a people, naturally well-disposed, and patient, and sweet-tempered.”(PI, 433) Kompensatorisch kommt diese Einstellung in Little Dorrit in Flora Finchings Italienbild zum Tragen, das deshalb an dieser Stelle ergänzend vorgestellt werden soll: ’In Italy is she really? ’ said Flora, ’with the grapes and figs growing everywhere and lava necklaces and bracelets too that land of poetry with burning mountains picturesque beyond belief though if the organ-boys came away from the neighbourhood not to be scorched nobody can wonder being so young and bringing their mice with them most humane, and is she really in that favoured land with nothing but blue about her and dying gladiators and Belvederas though Mr F. did not himself believe for his objection when in spirits was that the images could not be true there being no medium between expensive quantities if linen badly got up and all in creases and none whatever, which certainly does not seem probable though perhaps in consequence of the extremes of rich and poor which may account for it.’ Arthur tried to edge a word in, but Flora hurried on again. ’Venice Preserved too’ said she, ’I think you have been there is it well or ill preserved for people differ so and Maccaroni they really eat it like the conjurers why not cut it shorter [...].’(LD, 601) Trotz ihrer in Komik bis hin zur Skurrilität angelegten Figur vermittelt Flora Finching durch die formale Entgrenzung ihrer Sprache und die ungebremste Spontaneität ihrer Gedankenführung einen ungewöhnlich frischen, lebendigen und sogar authentisch wirkenden Eindruck der Vielfalt und Schönheit der Natur und Kunst Italiens. 487 Die Dynamik und pulsierende Lebensnähe ihrer von formalen Regeln befreiten Beschreibung entschädigt für den häufig negativen Blick auf Italien und den Mangel an 487 ”Here [...] Dickens’s Molly Bloom, Flora Finching, in a passage that might come from the last chapter of Ulysses, celebrates Italy’s natural and verbal fecundity.” (Schlicke, Reader’s Companion to Dickens, 301). ”Flora mixes her memory and desire in a series of speeches filled with a bewildering hodgepodge of allusions to the already-written [...]. She is a tissue of citations, a space where writings converge. As subject, she is inscribed in language.” (Duckworth, Little Dorrit and the Question of Closure, 121). 209 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Begeisterung für das Land, die Amy and William Dorrit im Rahmen der auktorialen Rollenverteilung nicht zeigen konnten. 3.2.3.4 Landschaftsschilderungen als Dekonstruktion viktorianischer Glaubenssätze über Erfolg und Reichtum, Ansehen und Glück Die Beschreibung des Aufstiegs zum Hospiz des Sankt Bernhard kann geradezu als Musterbeispiel für die Auslegung von Landschaft als Sinndeutungssystem bezeichnet werden. Dass die erzählende Instanz in Little Dorrit mit dem Autor identisch ist, lässt sich aus den vielen biografischen und zeitgeschichtlichen Bezügen des Romans, seiner Korrespondenz und den anderen fiktionalen Texten entnehmen. Letztere beinhalten oft themenverwandte Stoffe, die in ihrer Gesamtheit ein kohärentes Bild der früh- und hochviktorianischen Gesellschaft ergeben, das Dickens in den Frühwerken humorvoll distanziert, mit zunehmendem Alter aber mit immer schärferer Kritik zeichnet. 488 Seine Absicht, sich gegen Armut und Ausbeutung, Machtmissbrauch und Heuchelei, Opportunismus und Hinterhältigkeit, Materialismus und Prinzipienlosigkeit einzusetzen und für eine humanere Welt ehrlicher Gefühle, der Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit einzutreten, kennzeichnet mit sich verstärkender Tendenz die zeitliche Abfolge seiner Schriften, die schließlich, wie Little Dorrit, Desillusionierung und Momente der Resignation sichtbar werden lassen. ”The physician to the diseased age is Dickens himself [...] not in the character of the prison reformer; rather, in that of the sanitary and ultimately moral reformer.“ 489 Die Landschaft am Sankt Bernhard als Parabel des Lebens und kontrastreiches, aber illusionsloses Bild des menschlichen Schicksals gibt keinen Aufschluss darüber, was Glück für den Menschen auf seiner Lebensreise bedeuten könnte. Phasen des Wohlergehens und der Erkenntnis stehen solche großer Mühsal und gefahrvoller Entbehrung gegenüber, die letztlich im Tod enden, der, so die Botschaft des Textes, weder Erlösung noch Befreiung ist. Die Zuversicht der christlichen Heilslehre spiegelt sich weder in der Symbolik der Landschaft noch in der tiefer reichenden Sinnschicht der vom Erzähler imaginierten Klage der toten Mutter über die ihr vom Schicksal aufgezwungene Anonymität und den Tod ihres Kindes. 490 „Das wichtigste Thema des Werkes ist nach allgemeiner Ansicht die gefängnishafte Isolation, Einsamkeit und Unselbständigkeit aller Individuen in der Gesellschaft. Im Gefängnis sind aber grundsätzlich alle, die in der vgl. dazu 3.2.1 u. 3.2.3.1, insbes. Fußnote 447. 488 Barrett, Disease of Modern Life, 215. 489 490 ”[...] the question of Dickens’ relation to the Christian religion [...] was a complicated one.” (Trilling, Little Dorrit, 156). 210 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT modernen Zivilisation leben und sich ihren Normen unterwerfen.“ 491 Für alle Zukunft wird die Mutter mit ihrem Kind im eisigen Beinhaus des Hospizes hinter Gitterstäben den Blicken völlig Unbekannter ausgesetzt sein. An dieser Stelle nimmt sich Dickens’ Schicksalsidee wie ein Vorgriff auf Foucaults Vorstellung von den legitimierten Machtpraktiken der modernen Gesellschaft aus, die mit durchbohrendem Blick und in Ausübung eines anonymen Machtwillens die Körper diszipliniert, die Menschen gleichsam gefangen setzt und ihrer Individualität und Identität beraubt (vgl. 1.1.3 u. 1.3.4). Bei der expliziten Thematisierung des Unwirklichen inmitten einer überbordenden Fülle, wie sie auf der Reise durch die Landschaft nach Venedig geboten wird, greift Dickens ein weiteres Leitthema seines Romans auf: Der materielle Reichtum setzt falsche Ziele und entfremdet den Menschen seinem eigenen, wahren Wesen. ”Switzerland, France and Italy are the delusion of people who misunderstand wealth and think that an idyll can be bought: No bonds between nature and man are formed: the Dorrits are merely tourists in a postcard paradise.“ 492 Geradezu eindringlich ist die Schilderung der Art und Weise, wie der Erzähler die Heldin die Distanz zur faszinierenden und zuweilen grandiosen Naturszenerie wahrnehmen lässt. Es ist keinesfalls so, dass sie deren touristischen und ästhetischen Wert nicht zu schätzen wüsste - ”All that she saw was new and wonderful“(LD, 522) -, aber es bedeutet ihr nichts. Es sind andere Werte, die Priorität haben: Geborgenheit empfangen und Fürsorge geben, Mitmenschlichkeit erleben und Nächstenliebe praktizieren, wofür das Marshalsea als Gefängnis und als Heimstatt ambivalent steht. ”Deprived of her raison d’être, slighted, disciplined and neglected, she finds the beautiful and squalid world around her unreal in its strangeness, and looks back to the real reality left behind in the Marshalsea [...]“. 493 Amy bezieht ihre Identität aus diesem Ort und aus der Zeit, als sie ihrem wahren Wesen gemäß und in Übereinstimmung mit sich selbst leben konnte: Mittelpunkt ihres Handelns und Denkens war die aufopferunsvolle Sorge um ihren Vater. Die Italienreise ihrer Familie stand unter den ‚falschen’ Vorzeichen der Zurschaustellung von Reichtum und Status im Bemühen, auf diese Weise zu so lange entbehrter wahrer Freiheit, zu wahrer Identität und somit zu Glück zu gelangen; sie verläuft unter diesen Vorzeichen, und ein bleibender Aufenthalt in Rom, so müssen die Leser folgern, wird nicht anders geprägt sein. Für Amy Dorrit sind jedoch Heimweh, Schwermut und das Gefühl von Isoliertheit die Folgen, und zu allem Überfluss sind die Reisebekanntschaften weder freier noch besser als das bunt gemischte Publikum vormals im Gefängnis: Reinhold, Der englische Roman, 153. 491 492 Morse Hamilton, Nature and the Unnatural in Little Dorrit, in: Victorian Institute Journal, 1977, 15. Leavis and Leavis, Dickens, 252. 493 211 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG It appeared on the whole, to Little Dorrit herself, that this same society in which they lived, greatly resembled a superior sort of Marshalsea. Numbers of people seemed to come abroad, pretty much as people had come into prison; through debt, through idleness, relationship, curiosity, and general unfitness for getting on at home.(LD, 547f.) Die Welt der Reichen entpuppt sich als Scheinwelt mit dem aufgesetzten Gehabe der ’Society’ mit dem großen ’S’ und den künstlichen Fassaden des Materiellen, hinter denen sich die gleichen Schwächen und Fehler wie bei den ’kleinen’ Leuten auftun mit dem Unterschied, dass letztere meist im Gefängnis büßen. ”Little Dorrit [...] provides an exploration of a society whose essential movements are created by and so create the pervasive prison-taint of class and all that it involves: envy, vanity, wounded pride, the desire for power and dominance [...], deference, money-lust, respectability and gentility: in short, all those elements which curb or thwart the decent human energies.“ 494 Die Kritik an der Gesellschaft, wie sie in der Landschaft nach Venedig zum Vorschein kommt, tritt auch an anderen Stellen des Romans durch bittere Ironie und beißenden Sarkasmus so scharf zu Tage, dass sie einer Abrechnung mit den gesellschaftlich-politischen Missständen und den Verantwortlichen im viktorianischen England gleichkommt und als Dekonstruktion viktorianischer Glaubenssätze über Erfolg und Reichtum, Ansehen und Glück gelesen werden muss. 495 Der ganze Zweck des Landschaftsbildes bei Venedig ist es, die Heldin von dieser Scheinwelt der Reichen abzusetzen. Wenn sie in ihrer Psyche auf Distanz zur Landschaft Italiens geht und sie ständig als irreal wahrnimmt, geschieht dies in symbolhafter Zurückweisung eines als artifiziell vorgeführten, wertemäßig desorientierten falschen Paradieses, dessen schalem Glanz allzu viele, ihre Familie eingeschlossen, erliegen. Damit begab sich Dickens freilich in offenen Gegensatz zu dem Glaubenssatz des Viktorianismus, dass Wohlstand und Reichtum erstrebenswerte und Gott gefällige Ziele und die Voraussetzung für Zufriedenheit und Glück seien, doch sein Engagement für die Unterprivilegierten und sein feines Gespür für den Geschmack seines Publikums, das solches Engagement schätzte, waren zweifellos stärker. Und „[…] im Gegensatz zu manchen der spätviktorianischen Autoren wollte er die Lesererwartung nicht durchbrechen, sondern erfüllen“. 496 Ein aufschlussreiches und zugleich anrührendes Beispiel sowohl seiner Sympathie mit den ’kleinen’ Leuten als auch seiner Art, der Erwartungshaltung seiner Leserschaft entgegenzukommen, ist die ’Happy Cottage’ in Mrs Plornishes Laden. Es handelt sich um ein großformatiges, auf eine Wand gemaltes Bild im Inneren des Verkaufsraumes unter Einbezug Lucas, The Melancholy Man, 267. 494 vgl. dazu Buch I, Kap. 10, 20, 21; Buch II, Kap. 12, 15, 24, 28. 495 Schirmer, Geschichte der englischen und amerkanischen Literatur, 797. 496 212 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT einer echten Tür mit dem Namensschild der Plornishes und eines echten Fensters. Das Bild stellt ein Häuschen auf dem Land dar mit Reetdach und rauchendem Schornstein, Sonnenblumen, üppigen Rosen und Garten, in dem sich ein Taubenschlag mit flatternden Vögeln und ein zutraulicher Hund befinden. Es liegt dem Erzähler völlig fern, sich über dieses süßlichsentimentale, fast kitschige Stereotyp des populären Geschmacks zu mockieren: No poetry and no Art ever charmed the imagination more than the union of the two in this counterfeit cottage charmed Mrs Plornish.[...] To Mrs Plornish, it was [...]a most beautiful cottage, a most wonderful deception; and it made no difference that Mr Plornish’s eye was some inches above the level of the gable bedroom in the thatch. To come out into the shop after it was shut, and hear her father sing a song inside the cottage, was a perfect Pastoral to Mrs Plornish, the Golden Age revived. And truly if that famous period had been revived, or had ever been at all, it may be doubted whether it would have produced many more heartily admiring daughters than that poor woman.(LD, 645f.) Eheliches Glück und Bescheidenheit, Zufriedenheit und Harmonie in ländlicher Idylle: Mit der Evokation eines friedlichen Arkadiens und Goldenen Zeitalters in immerwährender Glückseligkeit greift der Text auf antike Bilder einer idealisierten Natur zurück (vgl. 1.2.3), die nicht nur den Bildungsreisenden und Grand Tourists bestens vertraut waren, sondern zu Dickens’ Zeit auch einem breiten Publikum. ”In all the outrageousness of its extravagant humour this passage goes to the heart of the novel, and the reader’s smile is a tribute to its profoundly human seriousness. Wordsworth’s attempt to update the pastoral in the eighth book of The Prelude is here itself updated as Dickens eloquently endorses the transforming capacities of the human imagination. In the middle of a London slum, nature is mythologized into Poetry and Art.” 497 Es wird ein Gegensatz hergestellt zwischen der heimischen Landschaft Englands, die tiefe Gemütsschichten anspricht und wahrlich zu Herzen geht, und den fremden Landschaften Italiens, zu denen weder Amy noch William Dorrit noch irgend eine andere der Romanfiguren einen emotionalen Bezug finden. Nirgendwo in Italien assoziieren die Akteure der Handlung die Landschaft mit idealen Orten und Zeiten, wie es so häufig die antike Literatur und vor allem auch die Reisenden auf der Grand Tour taten, deren Reisemotive und -intentionen noch als Reminiszenz (vgl. 2.1.2 u. 2.2.1) vage in den Text eingeschrieben sind. Die unterschwellige Botschaft der ’Happy Cottage’ als Arkadien im Krämerladen ist, dass das Goldene Zeitalter und eine von altersher damit verbundene Glücksfindung von den Reichen in ihrer abgestumpften Empfindungsfähigkeit in Italien nicht gar nicht erlebbar ist, wohl aber von den Unterprivilegierten im Armenviertel des ’Bleeding Heart Yard’, “[…] that oasis in the wilderness of Petch, Visions of Pastoral, 108. 497 213 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG London whose name already indicates the prevalence of emotional qualities.“ 498 Dies bedeutet Zuspruch für die Daheimgebliebenen und im Leben zu kurz Gekommenen, die trotz wirtschaftlicher Prosperität im viktorianischen England nie eine Italienreise unternehmen konnten, aber auch massive Kritik an der vermögenden, reisenden Oberschicht, die weder Sinn für Naturschönheiten hatte noch bescheiden und tugendsam war und somit - für den Moralisten Dickens zu Recht - kein Glück finden konnte. 499 Genau solch ein Reisender ist William Dorrit. Seine ‚falschen’ Reisemotive - Festigung seines Status als ’gentleman’, Zurschaustellung seines Reichtums, Etablierung seiner Töchter in der ’Society’ - verleiten ihn dazu, immer weitergehende Ambitionen in Gestalt seines Luftschlosses zu entwickeln. Aus Dickens’ Sicht beschreitet er damit die moralisch abschüssige Bahn eines Lebens als Reicher, das ein sich selbst perpetuierendes Streben nach noch mehr Geld, Macht und Ansehen erzeugt, ein Verhalten, das mit seinem Bild einer humanen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen ist. Dorrits ganzes Bemühen konzentriert sich auf den sehnlichsten Wunsch nach Einfügen “[…] in that whole complex organism of pretence, pretension, privilege, parasitic class-interest and ’civilization’ - the whole social malady - that Dickens is exposing.“ 500 Des Autors Missbilligung von William Dorrits Verhalten ist keine gnadenlose Verurteilung, wie die verständnisvolle und oft sentimentale Beschreibung des ‚Vaters des Marshalsea’ in Buch I und die humorvollkomische Schilderung seiner Fahrt durch die Campagna belegen. ”Dorrit is presented to us in all his faults of selfishness, weakness, vanity, selfdeception, yet he never entireley forfeits our sympathy. Compassion is a word that is over-used and consequently degraded in critical discussion, but no other will do justice to Dickens’s treatment of Dorrit.” 501 Und symptomatisch für all seine Schwächen ist, dass er nicht wie Mrs Plornish zu inniger, von Herzen kommender Bewunderung der Natur findet, wie sie es beim Anblick ihrer gemalten Idylle täglich tut, sondern in Analogie zu seiner inneren Verhärtung als vermögender Reisender die Landschaft der Campagna als düster, leer und versteinert und die Menschen als hässlich und bedrohlich wahrnimmt: Seine moralisch verirrte, weil auf Materialismus und Egoismus gegründete Suche nach dem Goldenen Zeitalter und dessen Glückzustand führt ihn subjektiv durch eine gleichsam apokalyptisch verwüstete Außenwelt mit Menschen in grotesker Verzerrung, durch Bauer, Language of Things, 357. 498 499 ”The men who seem to command Dickens’ admiration are those who work earnestly, as inventors or manufacturers (like [...] Daniel Doyce) rather than financiers. They share to some degree the selflessness of Dickens’ heroines, for they are concerned with their work more than with power or money.”(Price, Introduction, in: Dickens - Collection of Critical Essyas, 14). Leavis and Leavis, Dickens, 259. 500 Lucas, The Melancholy Man, 258. 501 214 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT eine Landschaft in skurriler Deformierung, die symbolisch das innenweltlich-moralische Schadenspotenzial des Reichtums umschreibt, wie die Campagna demonstrierend-beweisführend darlegt. 502 Trotz dieses Handlungsverlaufs, trotz der melancholisch-resignativen Stimmung in der Landschaft am Sankt Bernhard und trotz des Umstandes, dass am Textende zahlreiche der kritisierten Missstände weiterbestehen - das Circumlocution Office mit den Barnacles, die ’Society’ mit Mrs Merdle, die Machtstrukturen im Staat mit “magnates from the court and magnates from the City, magnates from the Commons and magnates from the Lords, magnates from the bench and magnates from the bar, Bishop magnates, Treasury magnates, Horse Guards magnates, Admiralty magnates“(LD, 280 f.) - bleibt nicht der Eindruck eines pessimistischen Autors, der einen pessimistischen Roman geschrieben hat, denn die Protagonistin verkörpert eine andere Wirklichkeit. ”Little Dorrit [...] is [...] his profound exploration of the theme of perfect human goodness. All levels of society are so imprisoned in their selfish delusions that only the mystery of divine goodness incarnate in the childlike form of Little Dorrit can be a liberating force.” 503 Wenngleich Dickens weder an eine schnelle noch generelle Besserung der Welt glaubt, so hält er doch beharrlich an einem Bild von Menschen und Gesellschaft fest, in dem positive Werte die Oberhand haben und eine sinnleitende Rolle spielen. ”George Orwell has pointed out that Dickens was not a reformer in a conventional sense [...]. He was rather a moralist. ’The truth is that Dickens’ criticism of society was exclusively moral.’” 504 Wer wie Little Dorrit mit Beständigkeit für seine Prinzipien eintritt, dem tun sich auch Wege aus den vielfältigen symbolischen Gefängnissen dieser Welt auf in ein erfüllteres Leben, Wege aus einer tristen Vergangenheit in eine bessere Zukunft: “[…] the most important single change in Dickens novels [...] is a reversal which corresponds to a fundamental transformation of attitude in his century. This change can be defined as the rejection of the past, the given, and the exterior as sources of 502 Historisch gesehen durchlief die Campagna di Roma tatsächlich mehrere Rezeptionsstadien in der Wahrnehmung der Italienbesucher. Sie galt im 18. Jahrhundert „[…] als öde und hässlich, ja wegen der Malaria sogar als gefährlich, und wurde von den Reisenden gemieden“, war gleichwohl im „kollektiven Gedächtnis der Bildungsreisenden“ präsent, da sie ein Jahrhundert zuvor Lorrain, Poussin und Dughet als „Inspirationsquelle“ gedient hatte und durch sie „zu einer Kunstlandschaft […] und Inbegriff der klassischen Landschaft wurde.“ Jedoch „Die Campagnalandschaft erfuhr 1804 eine umfangreiche Würdigung durch […] Chateaubriand“ und Joh. H. Eicholz; 1824 erschienen zwei Bände Christian Müllers, ein „Standardwerk“, und „Ab den 1820er Jahren mehrten sich die euphorischen Reaktionen auf die Campagna di Roma […].“(Hoffmann, Die Römische Campagna, in: Büttner/ Rott, Kennst du das Land, 212ff; vgl.auch Fußnote 486). Dickens’ Schilderung von William Dorrits Fahrt durch die Campagna spiegelt die Wahrnehmung des 18. Jahrhunderts wider und zeigt keinen Bezug zur revidierten Rezeption Anfang des 19. Jahrhunderts. Hillis Miller, The Transforming World, 63. 503 Gold, Dickens as Reformer and Moralist, in: Swisher, Readings on Dickens, 33. 504 215 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG selfhood, and a reorientation toward the future and toward the free human spirit itself as the only true source of value.” 505 Eine Gemeinsamkeit der drei Landschaftsbilder aus Italien liegt darin, dass der Glaube an Prinzipien des Mitmenschlichen, direkt oder indirekt, auch in der Erfahrung der fremden Landschaft zum Tragen kommt: Fürsorge und Liebe zeigen sich mustergültig in der archetypischen Geste der Umarmung von Mutter und Kind über den Tod hinaus; der Verlust von Fürsorge und Liebe wird zur schmerzhaften Entfremdung und Entwurzelung, wie sie Amy Dorrit in Venedig erlebt; ein Hinwegtäuschen über den Bedarf an Fürsorge und Liebe endet im physischen und psychischen Ruin, wie William Dorrit in Rom erfahren muss. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass durch die Begegnung mit der fremden Natur Zustände seelischer Befindlichkeit gerade in ihrer Fremdheit erzählerisch subtiler und psychologisch überzeugender als im heimischen, englischen Kontext formuliert werden konnten. Literaturpsychologisch und literaturhistorisch liegt hier eines der großen Verdienste von Dickens als Autor: ”[In Little Dorrit] this is his great contribution to the fictional treatment of Italy, which becomes no longer background but a country whose rich environment could be used in an artistically subtle and creative way to bring out the qualities and states of mind of a character exposed to contact with it. The novel opened up possibilities for the fictional use of Italy which no serious novelist could afterwards afford to ignore; and the first, in England, to take up and consolidate Dickens’ achievement was George Eliot.” 506 Das Analyseergebnis der drei Landschaftsbilder in Little Dorrit bestätigt dieses literarische Verdienst von Dickens in vollem Umfang und präzisiert seinen narrativ innovativen und seinen in höchst augenfälliger Weise psychologisch effizienten Zugriff auf die Landschaft Italiens. Hillis Miller, The Transforming World, 64. 505 Churchill, Italy and Literature, 140f. 506 216 C HARLES D ICKENS : L ITTLE D ORRIT 3.2.4 Zusammenfassung 1. Eine differenzierende oder gar kontrastive Sicht soziokulturell unterschiedlich ausgeprägter Lebenswelten in England und Italien findet in Little Dorrit nicht statt. Dieser Befund weicht auffallend ab von dem Analyseergebnis in den anderen, dieser Untersuchung zugrunde liegenden Romanen (Frau von Stae l, George Eliot, George Gissing, E.M. Forster, D.H. Lawrence). Die Hauptakteure der Handlung, William und Amy Dorrit, bleiben auch in der fremden Umwelt geistig und seelisch der prägenden Sphäre ihrer Lebensumstände in England verhaftet. 2. Die zentrale Metapher des Romangeschehens ist die des Gefängnisses, die in Variation dem gesamten fiktionalen Szenarium unterlegt ist. Ausgangs- und Mittelpunkt der narrativen Inszenierung ist das ‚Marshalsea’, zunächst realer Ort der Gefangenschaft in London für die beiden Protagonisten, den sie auch nach ihrer Freilassung zwar körperlich, aber nicht psychisch zu verlassen vermögen. Grund aus Sicht des Autors ist die Vorstellung vom Gefängnischarakter der menschlichen Existenz schlechthin, wonach ein unberechenbares Schicksal den Menschen in Grenzen weist. Hinzu kommen von ihm selbst geschaffene, institutionalisierte Formen massiver Eingrenzung, wie sie die egoistischen Machtkartelle der Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Justiz und Kirchen darstellen. Nicht zuletzt sind es die Repräsentanten der ‚Society’, die mittels Verleumdung und Intrigen nach noch mehr Geld, Macht und Einfluss streben. Aber auch die Individuen selbst errichten sich aus ganz unterschiedlichen Motiven symbolische Gefängnisse aus selbst auferlegten Zwängen zur persönlichen Rollenkonstruktion. Das Auseinanderklaffen von faktischer und erwünschter Realität ist oft Ausgangspunkt innerer Konflikte, die Ursache massiver psychischer Verwerfungen sein können. 3. In den Landschaftsbildern aus Italien geht es um die Darstellung solcher Verwerfungen, wobei die äußere Natur zum Korrelat innenweltlicher Verfassung wird. Im ersten Landschaftsbild (Sankt Bernhard) steht die Psyche des Erzählers bzw. Autors und seine melancholischresignative Lebenssicht im Mittelpunkt. Die beiden anderen Landschaftsbilder jedoch (Amys Reise nach Venedig, Dorrits Fahrt durch die Campagna) beschreiben erzählerisch innovativ und vor allem psychologisch plausibel und effizient intrapsychische Situationen, mit deren Hilfe die konfliktvolle Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Integrität und Reichtum thematisiert werden. 4. Die Romanfiguren finden allerdings weder einen emotionalen Bezug zur fremden Landschaft in ihrer Eigenart noch ist sie Ausgangspunkt 217 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG geistiger Wandlungsprozesse. In belehrender, demonstrierendbeweisführender Funktion verwendet Dickens Naturszenerie als Demonstrationsobjekt bzw. Lehrmodell, als Indikator, Kardiobzw. Seismograph zwecks Registrierung seelischer Zustände. Dabei sind die große Vielfalt visueller Objekte und die überbordende Fülle optischer Reize für ihn Anlass, sein sprachlich-stilistisches Können voll zum Tragen kommen zu lassen. Seine innovative Erzähltechnik bei der Beschreibung außenweltlicher Phänomenalität durch zeitraffende Bildsequenzen ließ ihn zum Vorläufer einer Ästhetik des Films werden. 5. Mit Hilfe der Landschaftsbeschreibungen erhalten die beiden Hauptakteure Amy und William Dorrit kräftige Konturen, ohne dass sie jedoch zu Charakteren mit komplexer und unverwechselbarer Struktur werden. Die Landschaftsbilder tragen nichtsdestotrotz erheblich zur psychologischen Plausibilisierung der Handlung bei. In Bezug auf die Zeitstruktur der Handlung bzw. die Ereignisabfolge haben sie antizipatorischen Charakter. 6. Über die Schilderung der fremden Landschaft visualisiert Dickens seine Auffassung von Leben und Schicksal, insbesondere aber seine Kritik an der englischen Gesellschaft. Sein Augenmerk ist in Little Dorrit in einem Maße auf den Antagonismus von Armut und Reichtum gerichtet, dass die Landschaftsschilderungen, wie auch der Roman als Ganzes, als Dekonstruktion viktorianischer Glaubenssätze über Erfolg, Wohlstand und Glück gelesen werden können. Italien wird unter dieser Prämisse nicht von Gesellschaftskritik ausgenommen, die jedoch bei Bezugnahmen auf das Land nicht im Vordergrund steht. 7. Die Landschaftsbeschreibungen als Folien der Gesellschaftskritik nehmen im Verlauf der Handlung die Gestalt beißender Satire an und enthalten als kohärente Basis latenter Sinnzuweisung das Bekenntnis zum Glauben an eine bessere Welt, für die Dickens als Moralist mit großem Engagement eintritt. Die fremde Landschaft ist somit wesentlicher Bestandteil eines Sinndeutungssystems vor dem Hintergrund seiner weltanschaulich-humanitären Überzeugungen. 8. Es sind die konkreten Werte von Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Liebe, als deren Verkörperung die Protagonistin auftritt. Sie werden in scharfen Kontrast zu den Machtstrategien und Intrigenspielen der Reichen und Mächtigen in der Gesellschaft gesetzt, die durch manipulative Positionssicherung dazu beitragen, das Leben der Menschen, insbesondere der ‚kleinen’ Leute, bei der Verfolgung egoistischer Interessen symbolisch in ein Gefängnis zu verwandeln und dies, zur Zeit der Romanhandlung, häufig auch real in bedrückende Wirklichkeit umsetzen. 218 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH 3.3 George Eliot: Middlemarch 3.3.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung Als im Dezember 1871 “the eight-month serialization of the hugely successful Middlemarch“ 507 begann, war der Ruf George Eliots (1819-80) als Intellektuelle und Schriftstellerin längst etabliert, wurde nun aber nachhaltig gefestigt. Die Zusammenstellung einer Sammlung von Aphorismen aus ihrer Feder, Wise, Witty and Tender Sayings (1871) durch Alexander Main, “a devoted fan“ 508 , belegt augenfällig ihre Wahrnehmung nicht nur als Autorin, sondern gleichermaßen als Repräsentantin britischen Geisteslebens. Dazu hatten, neben ihrem narrativem Werk, u.a. ihre Übersetzung von David Friedrich Strauss’ Das Leben Jesu (1835) und von Ludwig Feuerbachs Vom Wesen des Christentums (1841) beigetragen, wie auch ihre Bekanntschaft mit Thomas Carlyle, Herbert Spencer und George Henry Lewes, Kritiker, Autor (The Life of Goethe (1855/ 56)) und Freidenker, mit dem sie 24 Jahre bis zu dessen Tod 1878 in ‚wilder’ Ehe zusammenlebte, sowie ihre publizistische Tätigkeit als Mitherausgeberin der ’Westminster Review’. Bereits früh galt ihr Interesse philosophisch-intellektuellen und religiös-moralischen Fragestellungen, was sich nicht nur im Titel ihrer ersten größeren, dreiteiligen Publikation Scenes of Clerical Life (1857) niederschlug, sondern auch in den Problemkonstellationen von Adam Bede (1859), The Mill on the Floss (1860) und Silas Marner (1861). Darüber hinaus zeigte Eliot waches Interesse und Gespür für psychologische und soziologische Perspektivik in Bezug auf das kleinstädtisch-ländliche England ihrer Zeit, das sie in den genannten Romanen zum Schauplatz machte und das Grund für die hohe Wertschätzung durch eine begeisterte Leserschaft war, zu der auch Königin Viktoria zählte. In diesen Kontext gehört ein Hinweis auf ihre Abhandlung The Natural History of German Life (1856), deren Themenstellung auf den großen Wurf, Middlemarch (1870-72), hindeutet. Dem Roman wird bis heute umfassend Beifall zuteil. „Aus guten Gründen wird Middlemarch (1872) nach weithin übereinstimmender Auffassung der Kritik in Eliots Werkkanon ein Sonderstatus zuerkannt und aus formal-ästhetischen wie gehaltlich-weltanschaulichen Gesichtspunkten als erzählerisches Meisterwerk gerühmt.“ 509 „Die Dichterin hat hier den Höhepunkt ihrer Leistung erreicht“ 510 in “one of the major novels of 507 George Levine, Chronology, in: ders., The Cambridge Companion to George Eliot, xvii. a.a.O. 508 509 Meinhard Winkgens, Die kulturelle Symbolik von Rede und Schrift in den Romanen von George Eliot, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1997, 179. v. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 4, 904. 510 219 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG English literature“ 511 : „Alle ihre früheren Werke führen künstlerisch zu diesem Roman hin, [und] dessen Hauptvorzüge [...] liegen in der verständnisvollen individuellen Charakteranalyse und der überzeugenden Durchformung des gesellschaftlichen Hintergrundes“. 512 Gerade in Bezug auf diesen zuletzt genannten Aspekt war das Klima im europäischen Diskurs günstig und die Rezeptionsbereitschaft des Publikums groß. Auguste Comte, Begründer des Positivismus und Vater der Soziologie, hatte in Système de politique positive (1851-54) unter Formulierung seines ‚Dreistadiengesetzes’ zur Dekonstruktion des Metaphysischen zugunsten einer wissenschaftlich-positivistischen Weltsicht aufgerufen 513 und dabei das Augenmerk der interessierten Öffentlichkeit auf die Untersuchung der Komplexität der Gesellschaft gelenkt. George Eliots Lebenspartner Lewes als überzeugter Anhänger positivistischen Denkens, Herbert Spencer als Verfechter des Evolutionsgedankens vor Darwin, John Stuart Mill als Apologet der Induktionslehre 514 : Diese innovativen wissensbzw. gesellschaftstheoretischen Ansätze trugen, von den politischökonomischen Theorien eines Marx und Engels und den drängenden Alltagsproblemen der Sozialpolitik ganz abgesehen, zu Eliots wacher Aufgeschlossenheit für Fragen der Gesellschaft bei. ”There is no doubt that the author of Middlemarch was deeply influenced by Positivist ideas concerning the scientific study of man in society. The novel’s narrator may even be described as a social biologist studying the structure of a society, investigating the relationship of an individual organism to its surrounding environment (medium). For this study ’a careful telescopic watch’ would be of no avail; what is needed, as the narrator puts it in chapter 6, is a microscope with a strong lens that will show the ’play of minute causes’.” 515 Im Übrigen hatten Dickens und Thackeray, Balzac, Hugo und Flaubert, Dostojewski und Tolstoi bereits literarische Meilensteine der narrativen Gesellschaftsanalyse gesetzt. Der Untertitel von Middlemarch, ’A Study of Provincial Life’, dokumentiert einerseits das wissenschaftsorientierte Ziel der Autorin, eine analytisch-empirische Bestandsaufnahme englischer sozialer Wagner, English and American Literature, 103. 511 Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 5, 6286. 512 513 „Im ersten, theologischen Stadium werden alle Phänomene polytheistisch oder monotheistisch aus göttlichem Wirken erklärt; die Gesellschaft ist kriegerisch und theokratisch organisiert. Im metaphysischen Stadium werden abstrakte Prinzipien hypostasiert, alles bestimmt sich etwa aus dem Kampf von Gut und Böse; die Regierungsgewalt liegt bei gebildeten Staatslenkern. Im positiv-wissenschaftlichen Stadium führen empirische Forschung und logisch fundierte Wissenschaftstheorie zu optimalen Lebensbedingungen; die Regierung besteht aus Fachleuten der Wissenschaft und Wirtschaft.“ (Delius, Geschichte der Philosophie, 93). 514 „Als Grundlage der Wissensgewinnung sieht er neben Aussagen über die Beobachtung von Einzeltatsachen den Übergang [...] zu allgemeinen Tatsachenaussagen, d.h. die ‚Induktion’.“ (ebd., 94). Kerry McSweeney, Middlemarch, London: Unwin Critical Library, 1984, 23. 515 220 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Wirklichkeit anzufertigen, andererseits die Verankerung ihrer Tätigkeit im zeitgenössischen Diskurs. Letzteres gilt auch für den formal-ästhetischen Aspekt ihrer Romane, was nicht ausschließt, dass von der Kritik auch individuell herausragende Eigenschaften ihrer Erzählkunst konstatiert worden sind. Ihren Texten wurde sogar „die spezifische Signatur der Moderne“ zugesprochen aufgrund einer „[…] großen Palette verfeinerter und komplexer gestalteter ästhetischer Verfahren und textueller Strategien“ sowie der „vielschichtigen und neuartigen Problemkonturen“. 516 Hervorzuheben sind Eliots Gespür nicht nur für die Makrophänomene innerhalb der Gesellschaft, sondern auch für die Mikrophänomene der individuellen Psyche - “George Eliot is a master of psychological omniscience“ 517 -, bei deren Darstellung sie ihre weltanschaulich-ethische, einem humanitären Weltbild verpflichtete Sicht des Menschen aufzeigen konnte. Zeitgenössische Vorbehalte gegen ihre späten Romane nahmen Anstoß an der von Eliot auch in Middlemarch thematisierten and anvisierten Verklammerung von Intellekt und Gefühl, Wissen und Begreifen, Verstand und Verständnis, Empirie und Empathie, kurzum, einem in heutiger Terminologie sowohl naturals auch geisteswissenschaftlich inspirierten Zugriff auf die Welt und den Menschen. ”Her philosophical bent, her immersion in psychology and the minute analysis of motives, and her recourse to science as a source of allusion and illumination were the most specific grounds for the disgruntlement felt in her own time by the readers of the late books; today they are highly praised.“ 518 Der Autorin weltanschauliche Überzeugung war es, dass mit eindimensionalem Instrumentarium eine Erschließung des Außen nicht möglich ist, wofür sie eine sinnentsprechende Metapher wählte: ”The central metaphor of Middlemarch, the web which George Eliot uses to describe her own function as historian, observer and analyst, is [...] subject to this two-way pull of meaning. The web is organic, connective, infinitely complex, and so a fine metaphor for society and the individual’s place in it. [...] The web is also, seen in an extension of some of its attributes, airy, light, imaginative, possibly delusive.” 519 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie, bei aller Prävalenz einer traditionellen auktorialen Erzählweise, die Autorin der Versuchung eines einseitig-indoktrinierenden Darstellungsmodus mit Erfolg aus dem Weg gehen konnte. „Die in der Erzählstruktur verankerte und für einen viktorianischen Roman extrem betonte individuelle Perspektivierung Winkgens, Kulturelle Symbolik, 180. 516 McSweeney, Middlemarch, 64. 517 518 Henry Auster, George Eliot and the Modern Temper, in: Buckley, The Worlds of Victorian Fiction, 77. 519 Rosemary Ashton, Introduction, in: George Eliot, Middlemarch, London: Penguin Classics, 1994, xxi. 221 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG subjektiver Wirklichkeitswahrnehmung und Realitätsdeutung […]“ 520 resultiert in einer narrativen Analyseschärfe der menschlichen Psyche, der von kompetentester Seite vorbehaltlos Anerkennung zuteil wurde: “[…] her analysis of the individual psyche was admired by Henry James [...] and, intriguingly, by Freud, who wrote that the novel ’illuminated important aspects’ of his relationship with his wife. Her achievement was summed up, famously, by Virginia Woolf in her essay in 1919 celebrating the centenary of George Eliot’s birth, when she spoke of Middlemarch as ’one of the few English novels written for grown-up people’.” 521 Die Verlagerung des Schauplatzes in Middlemarch nach Italien in vier (der insgesamt 86) Kapitel im zweiten Buch (der insgesamt acht Bücher, die mit ’Prelude’ und ’Finale’ den Roman bilden) ist genau in diesem von Freud und Woolf angesprochenen Sinn Bewusstseinsanalyse und Seelenforschung vor dem Hintergrund der ehelichen Beziehung und geistigseelischen Reifung der Protagonistin. Von den vier bzw. fünf Hauptsträngen der kunstvoll verflochtenen Handlung (in ihrem Mittelpunkt stehen jeweils das Verhältnis zwischen Dorothea und Casaubon, Dorothea und Will, Fred und Mary, Lydgate and Rosamond, Bulstrode und der Bürgerschaft der Kleinstadt) wird nur derjenige nach außen in die Fremde verlegt, der die Dekonstruktion von Dorotheas inadäquater Weltsicht zum Gegenstand hat. Die konventionelle Erziehung der jungen Frau zu angepasstem sozialem und geschlechtsspezifischem Rollenverständnis in Konformität mit den Normen und Postulaten ihrer Gesellschaftsschicht stößt aufgrund ihrer geistigen Aufgeschlossenheit und ihrer ausgeprägten Sensibilität, im Verbund mit einem tief sitzenden moralischen Ehrgeiz zu gutem Handeln, an schmerzhafte Grenzen. Zwecks psychischer Ausformung und charakterlicher Konturierung ihrer Persönlichkeit stellt sich für sie gleichwohl die Herausforderung zum Überschreiten dieser Grenzen. Eliot verlegt den Vorgang des Aufbrechens der einerseits provinziell verengten, andererseits fehlorientierten idealisierten Sichtweisen der trotz ihrer Heirat unausgereiften jungen Heldin plausiblerweise in die kulturelle Andersartigkeit Italiens, vor allem in die Kulturlandschaft Rom. Es ist über den narrativen Rückgriff auf Visualität, d.h. über die als ästhetische Landschaft wahrgenommene Außenwelt und die damit korrelierenden innenweltlichen Reaktionen, dass die Autorin komplexe seelische Verstehensprozesse in Form von Wandlungs- und Reifungsvorgängen in der Hauptfigur darlegt. Vor allem die häufigen Bilder der Landschaft in der Retrospektive mit ihrer hohen Bedeutungsverdichtung setzen, neben solchen der Aktualität mit Zeichenfunktion und symbolischer Aufladung, stimulierend und impulsgebend, als Auslöser und Initialzündung, Veränderungen der Psyche in Gang. Ganz im Gegensatz zu den bildgeometri- Winkgens, Kulturelle Symbolik, 183. 520 Ashton, Introduction, in: George Eliot, Middlemarch, xxii. 521 222 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH schen, die Blickstatik hervorhebenden Szenarien des perspektivischen Sehens, wie sie seit der Renaissance die europäische visuelle Wahrnehmung charakterisieren, verleiht Eliot der Bildwahrnehmung, durch Betonen einer stimulierend-auslösenden Wirkung auf die Psyche, eine erstaunlich moderne Qualität: „Bilder sind Prozesse, Darstellungen, die sich nicht darauf zurückziehen Gegebenes zu wiederholen, sondern sichtbar zu machen, einen ‚Zuwachs an Sein’ (Gadamer) hervorzubringen.“ 522 Ihre literarischen Landschaftsbilder Italiens sind, in deutlicher Überschreitung der Funktion einer mimetischen Abbildung und Reproduktion von Gegebenem, Stimulans zu subtiler innenweltlicher Wandlung bis tief in den Bereich des Unbewussten. Eliots Bilder der Natur- und insbesondere der Kulturlandschaft werden als Außenweltbeschreibung ihrer statischen Qualität entkleidet und zum essenziellen Bestandteil geistig-seelischen Geschehens umfunktionalisiert. 3.3.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.3.2.1 Dorotheas Begegnung mit Rom: Verwirrende Fremdheit und Aufruhr der Gefühle Die Heirat der noch nicht zwanzigjährigen Dorothea Brooke mit dem rund dreißig Jahre älteren Junggesellen Dr. Casaubon, einem begüterten Geistlichen und versponnenen Privatgelehrten, traf auf Bestürzung nicht nur bei ihrem heimlichen, etwa gleichaltrigen Verehrer, Sir James Chettam, sondern auch auf völliges Unverständnis ihrer Schwester Celia und auf kopfschüttelnde Ratlosigkeit ihres Onkels sowie der Bekannten der Familie. Einwände gegen die Ehe mit dem “dried bookworm“(M, 23), bei dem ein Blutstropfen unter dem Mikroskop nur Klammerzeichen und Semikola zum Vorschein gebracht hätte, wie die scharfzüngige Mrs Cadwallader bemerkt (vgl. M, 71), bewirken in Dorothea keinen Sinneswandel, und entgegen heftiger Vorhaltungen ihrer Schwester besteht sie darauf, Mrs Casaubon zu werden. Die ungewöhnliche Verbindung hatte nichts mit körperlicher Anziehung oder Liebe im konventionellen Sinn zu tun: “The really delightful marriage must be that where your husband was a sort of father, and could teach you even Hebrew, if you wished it.“(M, 10) Dorotheas Motiv war es, “by the completest knowledge“(M, 29) einen schmerzlich empfundenen Wissensmangel zu beseitigen, um in weiter reichende geistige Regionen vorzudringen und “to know the truths of life“.(M, 10) Es war “this soul-hunger“(M, 29), eine Variante zu Ruskins idealistischem ’heart-hunger’ (vgl. 2.2.3, insbes. Fuß- Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders./ Stierle, Was ist ein Bild? ,33. 522 223 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG note 346), der sie zur Heirat veranlasste, und die Ehe sollte ein Ort der “spiritual communion“(M, 22) werden. Keinesfalls war aus zeitgenössischer Perspektive in ihrer und ihrer Schwester Erziehung etwas versäumt worden. Beide Mädchen waren in der fürsorglichen Obhut ihres Onkels, eines wohlhabenden Mitglieds des niederen Landadels, aufgewachsen, in englischen und schweizerischen Internaten nach den Regeln protestantisch-puritanischer Weltsicht erzogen worden und galten danach als begehrenswerte Heiratskandidatinnen in der englischen Ständegesellschaft um 1830, zumal sie, insbesondere Dorothea, gut aussehend waren. Während die bodenständige Celia ganz den Erwartungen ihrer Gesellschaftsschicht entsprach, hatte Dorothea, aus idealistischer Grundeinstellung und Bereitschaft zur Hingabe an hehre Ziele, die Leitbilder einer humanistischen Bildung, so weit sie für die Erziehung junger Damen für nötig erachtet wurden, mit größerem Ernst verinnerlicht, als dies in der Absicht der Gesellschaft gelegen haben mag. So entdeckte sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Casaubon in seinem Profil die Züge John Lockes; er wird zum lebenden Bossuet, als sie gewahr wird, dass sein Kenntnisstand ihr Schulwissen deutlich übersteigt, und ihn zu heiraten erscheint ihr gar wie ein Leben mit Pascal (vgl. M, 29). Ihr Pflichtgefühl und ein Hang zum Asketischen lässt in ihr den Wunsch reifen, Latein und Griechisch zu lernen, um ihrem Gatten, so wie Miltons Töchter es für ihren Vater taten, in diesen Sprachen vorlesen und bei der Abfassung eines ’Key to All Mythologies’ zur Hand gehen zu können. Sie empfindet sich als “a neophyte about to enter a higher grade of initiation“,(M, 44) “a mind struggling towards an ideal life“,(M, 45) ständig in sich hineinhörend, ob sie gut genug für eine Ehe mit Casaubon sei, dem ’Lowick Cicero’, wie Mrs Cadwallader spottet, mit dem “learned straw-chopping incumbent“, wie ein anderer Spötter meint (vgl. M, 71). Unter diesen Vorzeichen treten sie die Hochzeitsreise nach Rom an. Vor diesem Handlungshintergrund ist die Wirkung der Eingangsszene des 20. Kapitels mit dem ersten verbalen Italienbild umso intensiver: Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Ewigen Stadt sitzt Dorothea bitterlich schluchzend in ihrer Wohnung in der Via Sistina, während Casaubon den Tag, wie gewöhnlich, in der Vatikanischen Bibliothek verbringt. Es gab keinen konkreten Grund für ”such abandonment to this relief of an oppressed heart”, und ”[...] in the midst of her confused thought and passion, the mental act that was struggling forth into clearness was a self-accusing cry that her feeling of desolation was the fault of her own spiritual poverty”.(M, 192) Diese Schuldzuweisung an sich selbst enthält den Vorwurf, den geistigen Anforderungen ihrer selbst gestellten Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Für den psychischen Tiefpunkt kam jedoch mitursächlich hinzu, dass die widersprüchliche Vielfalt der visuellen Eindrücke Roms einen Zustand deprimierter Ratlosigkeit herbeiführte: 224 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH [...] she was beholding Rome, the city of visible history, where the past of a whole hemisphere seems moving in funeral procession with strange ancestral images and trophies gathered from afar. But this stupendous fragmentariness heightened the dreamlike strangeness of her bridal life. Dorothea had now been five weeks in Rome, and in the kindly mornings when autumn and winter seemed to go hand in hand like a happy aged couple, she had driven about at first with Mr Casaubon, but of late chiefly with Tantripp and their experienced courier.(M, 192) An diesem Handlungspunkt wird die Interferenz von fremder Kulturlandschaft und Psyche der Protagonistin sichtbar. Die Wahrnehmung von Bildern mit altem und doch unverständlichem Zeichencharakter und das rätselhafte Nebeneinander von Beutestücken Roms, denen der kulturelle Zusammenhalt fehlt, wird zum Analogon innerer Befindlichkeit. Die visuellen Elemente der fremden, seltsam verwirrenden Außenwelt formieren sich stimmungsmäßig zu einem Spiegelbild der seelischen Verfassung, die der eines Trauerzuges entspricht. Im Zentrum der Empfindungen steht naturgemäß, in der Zeit ihrer Flitterwochen, die Beziehung zu Casaubon. Die optischen Eindrücke einer bruchstückhaften, zerstückelten äußeren Wirklichkeit wirken wie ein Katalysator, der das Auseinanderfallen einer bislang als Einheit verstandenen Vorstellung von Ehe und sinnerfüllter Lebensgestaltung sichtbar macht. Auf die Parallelität der desillusionierenden Assoziation reagiert ihre Psyche interaktiv mit dem Gefühl des Verlassenseins und der Körper mit einem Weinkrampf. Die beiden Eckpunkte des dahinter liegenden Spannungsfeldes sind Lowick und Rom, die jenseits der räumlich-geografischen Opposition ein Bündel von Sehweisen und Vorstellungsinhalten repräsentieren mit je unterschiedlichem Zugriff auf die Welt. Lowick ist für Dorothea der Zustand geordneter und geregelter Verhältnisse, deren Sinnhaftigkeit sie mühelos überschaut, ein geschlossenes Ganzes, in dem Zukunft voraussehbar und planbar ist, und sie hatte sich in der Rolle als Mrs Casaubon darin eingerichtet. Rom wird im Bewusstsein der Heldin in vielem als gegensätzlich wahrgenommen. Die Stadt ist sichtbare Geschichte und Kunst mit prachtvollen Palästen und grandiosen Ruinen, voller Zeichen dynamischen Lebens in der Vergangenheit neben solchen des erschreckenden Niedergangs und des Aberglaubens der Gegenwart: Bestechender Glanz neben verabscheuungswürdigem Schmutz. Hier fügt sich für Dorothea mit ihrem Willen zu gedanklicher Disziplin nichts zusammen. Rom stellt sich als Zusammenprall unterschiedlich codierter Welten dar, wahrlich als ‚Zusammenprall der Kulturen’ (vgl. Fußnoten 13 u. 750), dessen Erschütterungen tief in ihre Psyche reichen. Thematisch lassen sich sechs Etappen im prozessualen Ablauf dieses Kulturschocks unterscheiden: 225 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 1. Am Anfang steht Dorotheas Heirat als Einbindung in provinzielle Beschaulichkeit und Konventionalität: Auf “the brief narrow experience of her girlhood“ folgt “marriage [...] as the beginning of new duties“; 2. Der kulturelle Reichtum der Ewigen Stadt sprengt bisherige Vorstellungen: Sie sieht “the best galleries [...], the greatest ruins and the most glorious churches“ und “Rome, the city of visible history“; 3. Es entsteht der Eindruck von Fremdheit und Andersartigkeit durch widersprüchliche Phänomene: “strange ancestral images“, “strangely impressive objects“, “strange associations“ ergeben eine “stupendous fragmentation“; 4. Verwirrung und Desorientierung, Niedergeschlagenheit und Aufruhr der Gefühle sind die Reaktion auf eine unverständliche Wirklichkeit: “inward amazement“ und “a glut of confused ideas“ resultieren in einem “feeling of desolation“ und “stifling depression“; 5. Die Folge ist intensive Selbstbefragung und der Zerfall von Träumen und Illusionen: “stirring thoughts“ und “crushing questions“ führen zu “fits of agitation, of struggle, of despondency“ und “forlorn weariness“; 6. Es folgt die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderung: “the light had changed“, “the change is felt“, und es beginnt “the new real future which replaces the imaginary“.(M, 192-96) Fast bis zum Ende ihrer Flitterwochen hatte Dorothea die Zeit in Rom in scheinbar harmonischer Übereinstimmung mit ihrem Gatten in der abgesprochenen Weise verbracht. Dennoch hatten sich, zunächst unbemerkt, Zeichen des Unzulänglichen in ihrem Aufenthalt gehäuft. In paradoxer Kontrastierung waren es Signale von Überdruss und Leere gleichermaßen. Dorothea ging durch die besten Museen, zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, zu den größten Ruinen und den schönsten Kirchen, aber immer öfter wählte sie die Fahrt in die einsamen Gegenden der Campagna, “[...] where she could feel alone with the earth and the sky, away from the oppressive masquerade of ages, in which her own life too seemed to become a masque with enigmatical costumes“.(M, 193) Innere Zweifel steigern sich bis zum Hinterfragen der eigenen Identität, hinter deren Fassade vielleicht das wahre Selbst zu suchen sein könnte. Zwei Stunden vor ihrem Tränenausbruch hatte sie die Skulpturengalerie des Vatikanischen Museums besucht, wo sie zwei jungen Männern, Will Ladislaw und seinem deutschen Malerfreund Adolf Naumann, durch ihre ungewöhnliche Erscheinung aufgefallen war: The two figures passed lightly along by the Meleager towards the hall where the reclining Ariadne, then called the Cleopatra, lies in the marble voluptuousness of her beauty, the drapery folding around her with a petal-like ease and tenderness. They were just in time to see another figure standing against a pedestal near the reclining marble: a breathing blooming girl, whose form, not shamed by the Ariadne, was clad in Quakerish grey drapery; [...].(M, 188f.) Die Grazie ihrer Gestalt und eine weiße Haube um ihr Gesicht mit den geflochtenen Haaren wirke, so der Text, wie ein Heiligenschein. Den Maler 226 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH erinnert sie an “the most perfect young Madonna I ever saw“(M, 190), zumal ihr träumerischer Blick nicht auf den Statuen weilt, sondern auf einem Sonnenstrahl auf dem Boden. Als sie sich der Aufmerksamkeit der beiden jungen Männer bewusst wird, wendet sie sich abrupt von ihnen ab und entfernt sich schnellen Schrittes. Diese Geste der Körpersprache als unbewusste Reaktion des ‚sprechenden Körpers’ (vgl. Fußnote 925) macht sichtbar, dass eine von der Ratio unabhängige Ahnung der Wirkung der körperlichen Erscheinung wie auch des ‚Leibseins’ als Ausdruck von Erlebnisfähigkeit (vgl. Helmut Plessner in 1.2.1) vorhanden sind, augenfällige Umstände, die von Dorotheas Ehemann überhaupt nicht wahrgenommen werden. Mit scharfem Blick erkennt der Maler das Wesenhafte an ihr: ”antique form animated by Christian sentiment - a sort of Christian Antigone - sensuous force controlled by spiritual passion“.(M, 190) Unbeabsichtigt gibt Dorothea durch ihren versunkenen, ziellosen Blick und ihr spontanes Verhalten zu erkennen, dass eine Störung ihres inneren Gleichgewichtes vorliegt, deren Ursache die in jeder Hinsicht unausgefüllte Beziehung zu Casaubon ist. Die ”dreamlike strangeness of her bridal life“ verdichtet sich, angesichts der ”gigantic broken revelations of that Imperial and Papal City“(M, 193) zum Eindruck einer völlig fremden Welt, ”an alien world“. Dorothea gehörte von ihrem Charakter her nicht zu den ”bright nymphs [...] of Anglo-foreign society“, die bei Picknicks ihre Erlebnisse der Fremde verarbeiteten, und so summieren und bündeln sich die verwirrenden Botschaften dieser neuen Welt im Gefühlsraum der jungen Landadeligen bis zum Punkt einer plötzlichen Entladung. Die Eindrücke ”jarred her as with an electric shock“, ”urged themselves on her“, ”took possession“, ”fixed themselves“(M, 193) und ergreifen vom Subjekt Besitz, das, ohne es zu wollen, ungewohnte Assoziationen erstellt: Forms both pale and glowing took possession of her young sense, and fixed themselves in her memory even when she was not thinking of them, preparing strange associations which remained through her afteryears.[...] and in certain states of dull forlornness Dorothea all her life continued to see the vastness of St Peter’s, the huge bronze canopy, the excited intention in the attitudes of the prophets and evangelists in the mosaics above, and the red dapery which was being hung for Christmas spreading itself everywhere like a disease of the retina.(M, 193) Wenn die Bilder des gewaltigen Petersdomes, des mächtigen Baldachins, der aufgeregten Gestik der Propheten und der riesigen roten Vorhänge zur Weihnachtszeit Dorothea ein Leben lang begleiten, ist dies direkter Hinweis auf ihre seelische Tiefenwirkung. Die beschauliche Wohnung in der Via Sistina, in die sich Dorothea bezeichnenderweise in den “inner room or boudoir“ als symbolischen Ort der Geborgenheit zurückzieht, ist nur scheinbar intakte Hülle eines nur scheinbar geordneten Lebens. In Wahrheit durchlebt sie einen Aufruhr der Gefühle, Augenblicke innerer Turbu- 227 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG lenzen und psychischer Destabilisierung, die mit nichts in ihrem bisherigen Leben vergleichbar sind. Gehäuft enthält der Text Formulierungen um den Vorstellungskern des Fremdartigen: ’strange ancestral images’, ’dreamlike strangeness’, ’strange associations’, ’oppressive masquerade’, ’alien world’. Der Gebrauch ausdrucksstarker Adjektive intensiviert die Dramatik des Geschehens: ’dreamlike’, ’oppressive’, ’unintelligible’ ’stupendous’, ’gigantic’ ’tumultuous’, ’forlorn’. Ein auffälliges Kennzeichen des Textes bei der Beschreibung von Dorotheas Begegnung mit Rom ist die stark rhythmisierte Sprache, z.B. ”the long vistas of white forms whose marble eyes seemed to hold the monotonous light of an alien world’ oder ”belonging to a glut of confused ideas which check the flow of emotion“, ein Hinweis auf die, pulsierende, brodelnde Dynamik intensiver Gefühlsprozesse. Auffallend häufig wird auf ein Wortfeld mit dem semantischen Bezug zu Aufgewühltsein und Verwirrung zugegriffen: ’enigmatical’, ’confused’, ’tumultuous’ - die beiden letztgenannten Glieder des Wortfeldes werden jeweils dreifach wiederholt. Das Bild der Realität als Ganzheitlichkeit zersplittert in Bruchstücke, ein Vorgang von intensivster psychosomatischer Wirkung und heftigen körperlichen Folgereaktionen: ’shock’, ’ache’ und ’disease of the retina’. Die innenweltliche Dramatik wird durch unkonventionelle Sprachbilder erheblich gesteigert. Eine Reihe von Metaphern und Vergleichen sind Ausdrucksmuster von unerwarteter Schärfe und Zuspitzung bei stark verdichtetem Gehalt und hohem Gefühlswert, z.B. ”the past of a whole hemisphere seems moving in funeral procession“ oder ”her own life seemed to become a masque with enigmatical costumes“ oder auch ”the signs of breathing forgetfulness and degradation“. Die Folge dieser sprachlich-stilistischen Formgebung ist, dass durch konturenscharfe Wortwahl, Wiederholung der Schlüsselwörter und unorthodoxe Gedankenverknüpfungen der Bilderwelt ein lebhafter Eindruck einer zutiefst aufgewühlten Innenwelt vermittelt wird. Die auf latenter Sinnebene erkennbare Ursache ist der Umstand, dass die kindlich-naive Zuversicht der Heldin ins Wanken geraten ist, mit der Heirat Casaubons sei der Horizont einer sinnerfüllten Lebensgestaltung abgesteckt. Dorotheas frühere Selbstgewissheit ist in bestürzender Weise brüchig geworden, und vertraute Deutungsmuster verlieren ihre Gültigkeit: [...] that new real future which was replacing the imaginary drew its material from the endless minutiae by which her view of Mr Casaubon and her wifely relation, now that she was married to him, was gradually changing with the secret motion of a watch-hand from what it had been in her maiden dream. It was too early yet for her to fully recognize or at least admit the change, still more for her to have readjusted that devotedness [...].(M, 194) Es sind drei Vorstellungskerne, die den innenweltlichen Geschehensverlauf umschreiben und zeitlich strukturieren: ’dream’ und ’illusion’ als Rück- 228 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH blende auf Vergangenes, ’tumult’ und ’shock’ als Beschreibung des Gegenwärtigen, ’change’, ’replace’ und ’readjust’ zur Bezeichnung des Künftigen. Staunen, Verwirrung und Ratlosigkeit zunächst über Rom, dann über sich selbst wechselt über in Aufgewühltsein, in dessen Zentrum die Problematik ihrer Ehe mit Casaubon rückt. Zunächst hatte der Text vorsichtig in erlebter Rede, aus objektiver Distanz und doch mit Anteilnahme, Dorotheas erste, zaghafte Zweifel formuliert: How was it that in the weeks since her marriage, Dorothea had not distinctly observed but felt a stifling depression, that the large vistas and wide fresh air which she had dreamed of finding in her husband’s mind were replaced by ante-rooms and winding passages which seemed to lead nowhither? (M, 195) Der sich verengende Blick in labyrinthartigen Gemächern hebt den bedrückenden Kontrast zwischen ihrem ’maiden dream’ und ihrer Ehe hervor. Die geistige Offenheit, die Rom von Betrachtern einfordert, verstärkt den schwelenden Konflikt bis an die Grenze des Erträglichen. Schonungslos legt die Stadt das Defizitäre in Casaubons Arbeit und Charakter bloß, und Dorotheas Wahrnehmungen seiner Person verdichten sich zum Gewahrwerden seiner Fehler, seines schuldhaften Versagens. Vor der grandiosen Kulisse dieser Stadt zu versagen überschreitet jedoch das Maß ihrer gewohnheitsmäßigen Gefühlskontrolle: But now, since they had been in Rome, with all the depths of her emotion roused to tumultuous activity,[...] she had been becoming more and more aware, with a certain terror, that her mind was continually sliding into inward fits of anger or repulsion, or else into forlorn weariness.[...] her husband’s way of commenting on the strangely impressive objects around them had begun to affect her with a sort of mental shiver: he had perhaps the best intention of acquitting himself, but only of acquitting himself. What was fresh to her mind was worn out to his; and such capacity of thought and feeling as had ever been stimulated in him by the general life of mankind had long shrunk to a sort of dried preparation, a lifeless embalmment of knowledge.(M, 196) Das Stilmittel des Chiasmus - “What was fresh to her mind was worn out to his“ - unterstreicht antithetisch wie auch auf klanglich-rhythmischer Ebene den sich aufbauenden Gegensatz zwischen ihr und Casaubon. Sein Verhalten ist noch nicht einmal Fehleinschätzung oder Arroganz, sondern schlichtweg Unfähigkeit, die geistige Herausforderung Roms überhaupt zu erkennen. Aus dem Trugbild des lebenden Locke, Bossuet und Pascal ist eine wandelnde Mumie toten Wissens geworden. Damit ist die Dekonstruktion des vermeintlichen Geisteshelden eingeleitet. Anstatt anregend auf ihr wissenshungriges Gemüt zu wirken, ist er nur deprimierend, und anstatt Interesse für ihre leidenschaftliche Suche nach Erleuchtung zu zeigen, “[…] to give her the hope that if she knew more [...], the world would be joyously illuminated for her“(M, 197), reagiert er mit Sprachfloskeln oberflächlich angelesener Texte. Er ist unfähig, Neues 229 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG zu entdecken und Begeisterung zu zeigen. Es trennt ihn eine Kluft von der Gemüts- und Interessenlage seiner jungen Frau, von deren inneren Turbulenzen er nicht einmal etwas ahnt. Andererseits reagiert er überempfindlich auf ihre Frage nach dem Gang seiner Arbeit. In panikartigem Erschrecken reagiert er mit völlig überzogenen gedanklichen Vergleichen auf ein vermeintlich listiges Eindringen in sein solipsistisches Gelehrtenidyll: Dorothea ist zum “cruel outward accuser“(M, 200) geworden, “a spy watching everything with a malign power“(M, 200), “a personification of that shallow world“(M, 201), “a new pain“(M, 202), die nun die Rolle der endlos geduldigen, alles verzeihenden Ehefrau abzustreifen beginnt. Zum ersten Mal verstummt die Kommunikation zwischen den Eheleuten. Dorotheas Sinnkrise, ausgelöst durch die Stadtlandschaft Roms, hat gravierende Folgen. Das in rosigen Farben gemalte Bild einer schönen Zukunft an der Seite des Gelehrten zerbröckelt, und die beschauliche Idylle der Landschaft um Lowick Manor, dem Sitz der Casaubons, verliert angesichts des geöffneten Horizontes in Rom an Sinnhaftigkeit: She did not really see the streak of sunlight on the floor more than she saw the statues: she was inwardly seeing the light of the years to come in her home and over the English fields and elms and hedge-bordered highroads: and feeling that the way in which they might be filled with devotedness was not so clear to her as it had been.(M, 202) Die Heldin durchlebt einen schmerzhaften Erkenntnisprozess, in dessen Zentrum das Licht in der Ewigen Stadt die symbolische Rolle der Erleuchtung spielt; es ist Inbegriff neuer Erkenntnis und auch der Gelegenheit zum Neubeginn, die sich in der Begegnung mit Will Ladislaw in Rom eröffnet. 3.3.2.2 Dorothea und Will Ladislaw in der Via Sistina: Das Dunkel der Unkenntnis und das Licht des Verstehens Die zweite zur Analyse ausgewählte Textstelle literarischer Italienlandschaft aus Eliots Roman, die das gesamte 21. Kapitel umfasst, schließt sich nahtlos an die zuerst analysierte an. Die Beschreibung des narrativen Geschehens setzt an dem Punkt ein, als Dorothea, wenige Tage vor der Rückreise nach England, allein und vor sich hinweinend, in der Wohnung in Rom sitzt. Am Morgen dieses Tages hatte sich ihre erste Meinungsverschiedenheit mit Casaubon ereignet, dann folgten der Besuch in der Skulpturengalerie des Vatikanischen Museums, die Rückkehr in die Via Sistina und die Zeit des Alleinseins, in der sich die Gedanken, nach dem mehrwöchigen Romaufenthalt und den Eindrücken bestürzender Fremdheit, zur Einsicht in die Notwendigkeit eines Wandels verdichteten. Gegen Abend kommt Will Ladislaw, um seinen Vetter zu besuchen, trifft aber zunächst nur Dorothea an. 230 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Der Text erstellt den äußeren Rahmen von Rom mit äußerst sparsamen Mitteln. Die Leser erfahren lediglich, dass Dorothea und Will im Salon in der Wohnung zusammentreffen; sie setzt sich “[…] unthinkingly between the fire and the light of the tall window“(M, 205) und bietet ihm einen Stuhl ihr gegenüber an; “the light of the tall window“ steht in auffallendem Gegensatz zu Lowick Manor, das “small-windowed“(M, 73) ist und erlaubt den großzügigen Einfall von Licht, das zum bedeutsamsten Symbol dieser Textstelle wird. Die Andersartigkeit des fremden Ortes Rom wird nicht durch direkte Wahrnehmung der Figuren, sondern im Gesprächsverlauf erstellt. Dabei sind zwei Aspekte bemerkenswert: Das Landschaftsbild wird erstens durch Rückblick generiert, und zweitens enthält es reflektierte Erfahrungen. Dargestellt werden also nicht Eindrücke zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort, sondern zusammengefasste Erlebnisse in der Retrospektive; es geht nicht um Spontaneität als vielmehr um reflektorische Prozesse. An die Stelle der Schilderung augenblicksgebundener Wahrnehmung treten Ergebnisse eines geistigen Klärungsprozesses. Das thematische Grundanliegen eines besseren Verstehens durchzieht die Aussageintention des gesamten 21. Kapitels. Die drei Akteure, Dorothea, Will und Casaubon, werden seitens der Autorin an ihrer Fähigkeit gemessen, aus der fremden Landschaft Verstehenszuwachs und Erkenntnisgewinn zu erzielen. Dies geschieht im Falle Dorotheas als auch Wills, während Casaubon diese Chance verpasst; als Einziger in der Dreierkonstellation bleibt er am Ende ohne jeglichen Zuwachs an Wissen, Verständnis oder Einsicht. Zur Darstellung der Verstehensvorgänge dient auf der stilistischen Ebene die symbolisch überhöhte Lichtmetaphorik, die dem Geschehen in dem Kapitel sinnsteuernd unterlegt ist. Die begrifflichen Kernelemente der leitmotivischen Sprachbilder sind ’ignorance’, ’stupidity’ und ’blind’ bzw. ’brightness’, ’light’ und ’illuminating’. Am Ende des Kapitels bleibt Casaubon, in paradoxem Kontrast zu seinen wissenschaftlichen Ambitionen und seinem Selbstbild, der Sphäre der Unwissenheit und geistigen Beschränktheit verhaftet, während sowohl Dorothea als auch Will einen Weg geistiger Erhellung durchlaufen haben. Was in beiden diesen Prozess auslöst, ist im Übrigen das Verhalten Casaubons. Das Bild seiner Person, die mit den beiden anderen aufs Engste verflochten ist - er ist Dorotheas Ehemann und Wills Geldgeber - wird in diesem Kapitel aus deren unterschiedlichen Perspektiven zusammengesetzt. Zu Beginn des Gesprächs zwischen Dorothea und Will, als es lediglich darum geht, die Abwesenheit Casaubons zu erklären und sich dabei herausstellt, dass er fast täglich vom Frühstück bis zum Abendessen in der Bibliothek ist, präsentiert der Text in auktorialer Erzählweise Wills Gedanken über seinen ungeliebten Vetter. Dieses Bild ist ein äußerst kritisches Porträt, das die tiefe Abneigung zwischen den beiden Männern widerspie- 231 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG gelt: Für Will - in Gedanken - ist Casaubon “[…] this dried-up pedant, this elaborator of small explanations [...] groping after his mouldy futilities [...]“.(M, 205) Die Vorstellung eines im Dunkel gelehrsamer Belanglosigkeiten tappenden Menschen wird durch die bissig-einfallsreiche Metapher eines “bat of erudition“(M, 205) verstärkt, womit satirisch auf sein obskures Verweilen in Bibliotheken in Lowick und Rom angespielt wird. Aus Lesersicht stellt sich ein Bezug zur außertextuellen Sprachwirklichkeit ein: Das Wort ’bat’ gehört zum Kollokationsfeld ’blind as a bat’, und Blindheit ist gleich in mehrfach symbolischer Hinsicht Casaubons kennzeichnendes Merkmal: in Bezug auf seine Frau, auf die Wissenschaft, auf seine Arbeit, auf Rom. Ein positiveres Bild seiner Person und Tätigkeit zeigt sich naturgemäß - noch - aus Dorotheas Perspektive. Aufrichtig und loyal bekundet sie ihre Anerkennung für “such power of persevering devoted labour“.(M, 207) Noch hegt sie keine Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns: Ihre Frage an Casaubon, die den Streit vom Morgen und seine Überreaktion ausgelöst hatte, bezog sich lediglich auf Organisation und Fortgang seiner Arbeit. In Unkenntnis darüber, wie deren fachliche Qualität einzuschätzen ist, bleibt sie noch im naiven Glauben an deren Großartigkeit befangen. Entsprechend heftig ist ihre emotionale Abwehr, als Will ihr sein ungeschminktes Urteil mitteilt: Die englische Forschung sei in Rückstand geraten “[…] for want of knowing what is being done by the rest of the world“(M, 208), und Casaubon sei keine Ausnahme. Als er ihren erschrockenen und ungläubigen Ausdruck bemerkt, erwähnt er den kleinen Vorfall, wie sich Casaubon in Bezug auf die Veröffentlichung eines deutschen Gelehrten regelrecht taub stellte und dann nur widerwillig davon Kenntnis nahm. ”Poor Dorothea felt a pang at the thought that the labour of her husband’s life might be void [and] sat looking at her hands, absorbed in the piteousness of that thought.“(M, 208) Wills freimütige Charakterisierung hatte in diesem Kontext nur die Demontage des Gelehrtennimbus seines Vetters zum Ziel - “plucking the feathers from a benefactor“(M, 208 ) -, löst aber in Dorothea die Ahnung aus, dass sich Casaubon notwendigen Einsichten aus Eitelkeit, Trotz und Selbstüberschätzung hartnäckig verschließt. Schmerzhaft ist der Erkenntnisprozess für sie in mehrfacher Hinsicht. Als die illusionäre Gloriole um das Haupt des vermeintlichen Locke, Bossuet und Pascal zu verblassen beginnt, wird die Brüchigkeit ihres Traumes offenkundig, an der Seite des forschenden Gelehrten zu umfassenderem Wissen zu gelangen. Die schmerzlichste Einsicht jedoch ist, dass Casaubon sich aufgrund seiner heillosen Verstrickung in fachlich irrelevante Details in beklagenswertem psychischem Zustand befinden muss. Tief sitzendes Mitgefühl im Verbund mit ehelicher Loyalität überbrücken subjektiv, verstärken aber objektiv den unübersehbaren Kontrast zwischen dem jugendlichen, begeisterungsfähigen Will und dem müden und mutlosen Casaubon. Ein gänzlich neues, bisher unbekanntes Gefühl regt sich: 232 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH ”[...] the first stirring of a pitying tenderness fed by the realities of his lot and not by her own dreams”.(M, 209f.) Aber selbst ihre Hoffnung, dass sich auf dieser Grundlage endlich ein engeres emotionales Verhältnis zu ihrem Gatten gründen ließe, nachdem sie ihm behutsam ihr neu gewonnenes Verständnis signalisiert, erweist sich als trügerisch. Casaubon bleibt nicht nur geistig im Dunkel seines inneren Labyrinths gefangen, sondern auch emotional. Die Zeichen der Zuwendung seiner jungen Frau, aufrichtiger und verständnisvoller als je zuvor, weiß er nicht zu deuten. Auf ihre erwartungsvolle Frage, ob er ihr wegen des Streits am Morgen vergebe, antwortet er in gestelzter, rhetorischer Floskelhaftigkeit: ”My dear Dorothea - ’who with repentance is not satisfied, is not of heaven nor earth’.“(M, 210) 523 Seine unmittelbar folgende Mahnung zum Umkleiden für das Abendessen macht sichtbar, wie sehr seine Sensibilität und Fähigkeit zu zwischenmenschlichem Verstehen bereits verkümmert sind. In Will ruft die Diskrepanz zwischen dem gelehrten Gehabe seines Vetters und der naiven Aufrichtigkeit seiner jungen Frau höchst zwiespältige Gefühle hervor: ”[…] a sort of comic disgust: he was divided between the impulse to laugh aloud and the equally unseasonable impulse to burst into scornful invective.“(M, 205) In Gedanken hatte er die Dekonstruktion des Möchtegern-Gelehrten, als er eingangs Tränenspuren auf Dorotheas Gesicht sah und deren Ursache sofort richtig deutete, längst vollzogen. Sein Zorn gegen Casaubon kulminiert in dem ebenso fantasievollen wie komischen Bild des bösen Drachens, den man für seine Missetat, des Raubes einer Jungfrau, zur Strecke bringen müsse: [...] if Mr Casaubon had been a dragon who had carried her off to his lair with his talons simply and without legal forms, it would have been an unavoidable feat of heroism to release her and fall at her feet. But he was something more unmanageable than a dragon: he was a benefactor with collective society at his back [...].(M, 209) Die Gedankensatire über Casaubon als Finsterling und Ungeheuer, der sich in seiner Scheinheiligkeit von der Gesellschaft auch noch als Wohltäter feiern lässt, zeigt einerseits die charakterliche Divergenz zwischen Will und Casaubon, ist andererseits aber auch Ventil für den jungen Mann, mit der schwer erträglichen Situation fertig zu werden, dass Dorothea dessen Frau ist. Bei seiner ersten Begegnung mit ihr in Lowick war das noch völlig anders. Der Eindruck einer verletzenden Schärfe ihrer Bemerkungen damals zu seinen Landschaftsskizzen im Garten ist ihm in bester Erinnerung: ”[…] you knew how to say what was just most cutting. You said - I daresay you don’t remember it as I do - that the relation of my sketch to nature was quite hidden from you. At least, you implied that.”(M, 206) In der Tat hatte sich Doro- 523 ‘Not of heaven nor earth: Two Gentlemen of Verona, V , iv , 79.’(vgl. Notes der benutzten Textausgabe, 844, Nr. 103). 233 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG thea damals, als ihr Onkel sich lobend zu Wills Zeichnungen äußerte, in schroffer Distanziertheit über Malerei überhaupt geäußert: “You know, uncle, I never see the beauty of those pictures which you say are so much praised. They are a language I do not understand. I suppose there is some relation between pictures and nature which I am too ignorant to feel [...].”(M, 79) Was aus einer Mischung aus jugendlicher Unüberlegtheit, faktischer Unwissenheit und kokettierendem Unverständnis über Kunst gesagt wurde, festigte sich in Will zu einem negativen Eindruck; allein ihre Stimme berührte ihn “[…] like the voice of a soul that had once lived in an Aeolian harp“.(M, 80) Im Laufe des Gesprächs mit Dorothea in Rom im einfallenden Sonnenlicht hellt sich das düstere Bild einer unsensiblen und arroganten jungen Frau nach und nach auf. In ungekünstelter Offenheit spricht sie von ihrer Unwissenheit in Fragen der Kunst damals und jetzt. Wie ein Kind stehe sie in Ehrfurcht vor Fresken und Bildern und bestaune sie grenzenlos, aber bei jedem Versuch, sie besser zu verstehen, weiche jedes Leben aus ihnen, oder sie erscheinen als etwas Gewalttätiges oder Fremdes: “I am seeing so much all at once, and not understanding half of it. This always makes me feel stupid”; es müsse ihre ”ignorance” und ihre”dulness” sein, ”something like being blind, while people talk of the sky.”(M, 206) Als sie vorschlägt, er solle doch selbst Maler werden, so “[…] that there might not be so many pictures almost all alike in the same place“,(M, 207) ist er ob solch naiver Gutmütigkeit von ihrem aufrichtigen, unprätentiösen Wesen überzeugt. Als sie sichtbar bewegt bedauert, kein Deutsch gelernt zu haben, um Casaubon helfen zu können, erscheint sie ihm plötzlich in verklärtem Licht als engelsgleiche Gestalt zum Klang der romantischen Äolsharfe: There was a new light, but still a mysterious light, for Will in Dorothea’s last words [...]. Whatever she might be, she was not disagreeable. She was not coldly clever and indirectly satirical, but admirably simple and full of feeling. She was an angel beguiled. It would be a unique delight to wait and watch for the melodious fragments, in which her heart and soul came forth so directly and ingeniously. The Aeolian harp again came into his mind.(M, 209) Will wandelt sich zu ihrem glühenden Bewunderer, nachdem er neue Züge an ihr entdeckt: Interesse und geistige Neugier, Bescheidenheit und Selbstkritik, Aufrichtigkeit und Mitmenschlichkeit. Sichtbar durchläuft der junge Mann eine Metamorphose: Die Bereitschaft dazu drücke sich, so der Text, erkennbar in seinen Gesichtszügen aus. Nichtsdestotrotz sind Wandlungsprozesse in Dorothea umfangreicher als in Will. Was sie über ihren Gatten erfährt ist erschreckend ernüchternd, während ihr Bild von Will dagegen immer positivere Züge annimmt. Aus dem unentschlossenen, auf Kosten Casaubons lebenden Müßiggänger wird der vielseitig interessierte Impulsgeber: ’Oh, there is a great deal in the feeling for art which must be acquired,’ said Will [...]. ’Art is an old language with a great many artificial affected 234 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH styles, and sometimes the chief pleasure one gets out of knowing them is the mere sense of knowing. I enjoy the arts here of all sorts immensely [...]’.(M, 206) Damit rührt er genau an die Fragen, die Dorothea bewegen und bietet seine Führung im Sinne einer ’initiation’ in unbekannte Gefilde an. Er verbinde dabei, wie er ermunternd andeutet, intellektuelle Neugier mit sinnenhafter Freude, also Wissenserwerb mit Vergnügen. In solchem Denken offenbaren sich für Dorothea ganz neue Dimensionen des Verstehens, die sich diametral von ihren bislang für gültig erachteten Maßstäben unterscheiden. Ihre Körpersprache - ”[she] raised her eyes brighter than usual“(M, 208) - signalisiert geistige Öffnung, was sie bei Casaubon vergeblich erhofft hatte. Durch nachhaltige Lichtsymbolik beschreibt der Text die Unterschiedlichkeit der beiden Männer, als Casaubon das Zimmer betritt und Will sieht: The first impression on seeing Will was one of sunny brightness, which added to the uncertainty of his changing expression. Surely, his very features changed their form; his jaw looked sometimes large and sometimes small; and the little ripple in his nose was a preparation for metamorphosis: When he turned his head quickly his hair seemed to shake out light, and some persons thought they saw decided genius in this coruscation. Mr Casaubon, on the contrary, stood rayless.(M, 209) Die Lichtmetaphern - ’light’, ’brightness’ - zur Umschreibung von Verstehensvorgängen stehen in Kontrast zu Lichtarmut und Dunkel, die die für Eliot wesentliche Differenz zu Unwissenheit und Nichtverstehen - ’stupidity’, ’ignorance’ - markieren. Beim Gespräch über Kunst greift Dorothea in 23 Zeilen zehnmal auf das Wortfeld zu, das diesen Zustand bezeichnet: ’ignorant’, ’quite hidden’, ’ignorance’(2), ’I never could see’, ’dulness’, ’not understanding half of it’, ’feel stupid’, ’not be able to feel’, ’blind’(M, 206/ 9-31). Sie strebt nach Erweiterung ihres Blickfeldes über einen eingeengten Horizont hinaus, wobei es nicht nur um Kenntnisse geht, sondern um ein Verlassen des metaphorischen Dunkels der Unwissenheit auf den Weg in die Helle besseren Begreifens. Ihre Wortwahl bei der Beschreibung ihres mangelnden Kunstverständnisses, die geradezu einer Selbstbezichtigung gleichkommt, unterstreicht die Dringlichkeit ihres Verstehenswunsches und wirft zugleich ein fatales Licht auf Casaubons Versagen. Er ist, wie der Text auf latenter Sinnschicht kundtut, unfähig, ihre geheimen und sehnlichen Wünsche, und sei es nur im Bereich des Kunstverstehens - von sexuellen Wünschen also ganz zu schweigen -, zu erkennen, geschweige denn zu erfüllen. Die Mitteilung des Textes, dass er ’rayless’ im Raum stehe, während Wills Haare Licht auszuschütten scheinen, ist mehr als ein nur symbolisch deutlicher Hinweis, dass sie von Casaubon nichts zu erwarten hat und nichts empfangen wird. Die um den Vorstellungskern Licht zentrierte Bildersprache, akzentuiert durch den antithetischen Begriff der Blindheit, liegt wie ein Netz 235 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG zur Sinngebung über der Schilderung der äußeren und inneren Wirklichkeit. Das Phänomen des Lichts wird in dem semantischen Feld unter mehrfachen Gesichtspunkten dargestellt, die vom Verweis auf die Quelle (Sonne, Feuer) über physikalische Eigenschaften (Transparenz, Helligkeit, Spiegelung, Glanz, Strahlkraft) bis zur symbolischen Bedeutung (‚inneres’ Licht) reichen. In allen Fällen geht es um Erkenntnis- und Verstehensvorgänge der beiden Hauptakteure, die durch das gegenpolige semantische Feld der Dunkelheit reliefartig hervortreten. Der erkennbare Zweck der Metaphorik von Dunkel und Licht ist die Sichtbarmachung innenweltlicher Wandlungsprozesse. Dorothea, ”[...] seating herself unknowingly between the fire and the tall window”(M, 205), signalisiert unbewusst ihren Wunsch nach Erhellung, blickt mit ”eyes brighter than ususal”(M, 208) auf Will, und für ihn gab es ”a new light, but still a mysterious light”(M, 209); ”his transparent complexion flushed suddenly”(M, 204), und ”it was a gush of inward light illuminating the transparent skin as well as the eyes.”(M, 205) Die Apotheose ist zweifellos Wills “sunny brightness, [when] his hair seemed to shake out light“ und Casaubon “stood rayless“(M, 209): Will mutiert zum Träger eines kraftvollen inneren Lichts als symbolische Umschreibung romantischer Sehnsucht, nimmt gar die Züge des genialischen Menschen an. Ungewollt versetzt sie ihn in die überhöhte Rolle, die sie am Romananfang in jungmädchenhafter, irreleitender Idealisierung ihrem jetzigen Ehemann zugewiesen hatte. Dabei sind Dorotheas Wünsche aber weder ungewöhnlich noch überzogen, sondern signalisieren lediglich das Verlangen nach Teilhabe an Normalität, den Wunsch, nicht länger ‚blind zu sein, während andere vom Himmel reden’(M, 206). Dieses Sprachbild umschreibt auch aus psychoanalytischer Sicht die aufkommende Entfremdung zwischen ihr und Casaubon und den Grund ihrer Annäherung an Will. Während der eine Blindheit im übertragenen Sinne geradezu verkörpert, weist der andere in die Richtung des Himmels, die symbolische Sphäre des Offenen, Weiten, Freien, Höheren, in der Erfüllung möglich ist und zwar, was unausgesprochen bleibt, aber auf latenter Sinnebene da ist, auch die körperliche: [...] it was a source of greater freedom to her that Will was there; his young equality was agreeable, and also perhaps his openness to convictions. She felt an immense need of someone to speak to, and she had never before seen any one who seemed so quick and pliable, and so likely to understand everything.(M, 210) Was sich also auf der manifesten Bedeutungsebene des Textes als Dorotheas Streben nach Wissen, Erkennen und Verstehen zeigt, kann auf der latenten Sinnebene als ungestilltes Bedürfnis nach Wärme, Zuwendung und, weiterführend, nach Sinnlichkeit und Sexualität gelesen werden. Der unmittelbare und für Dorothea wirklich bedeutsame Erkenntnisgewinn des Kapitels liegt darin, dass sie die innere Not des ’bat of erudi- 236 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH tion’ ebenso sieht wie ihre eigene. Das dramatische Bild von Tod und Geburt umschreibt die Dimension dieses Verstehensaktes: [...] some dear expectation dies, some new motive is born. Today she had begun to see that she had been under a wild illusion in expecting a response to her feeling from Mr Casaubon, and she had felt the waking of a pressentiment that there might be a sad consciousness in his life which made as great a need on his side as on her own.(M, 211) Dorotheas schmerzhafter Abschied von einstigen Wunschbildern und ichbezogener Aufmerksamkeit wird, so die Feststellung des Textes, durch die erwachende Fähigkeit zu wahrer Mitmenschlichkeit kompensiert. Der entscheidende Wandel zur Reifung ihrer Persönlichkeit vollzieht sich an dieser Stelle des Romans: We are all born in moral stupidity, taking the world as an udder to feed our supreme selves. Dorothea had early begun to emerge from that stupidity [and] conceive with that distinctness which is no longer reflection but feeling [...] that he [Casaubon] had an equivalent centre of self [...].(M, 211) Damit wird Dorothea aus der Rolle der kindlich-naiven Bewundrerin des zuvor glorifizierten Casaubon entlassen und emotional wie auch intellektuell auf eine höhere Stufe gestellt als er. Nun versteht sie eine andere, nämlich seine Psyche, seine innere Not und seine Bedürfnisse, was ihm in ihrem Falle auch nicht ansatzweise gelungen ist. 3.3.2.3 Der Besuch im Künstleratelier und der Abschied von Rom: Das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit Innerhalb der vier Italienkapitel des Romans lässt sich ein drittes Szenarium als Bild der Natur- und Kulturlandschaft in und um Rom ausmachen, dem allerdings wiederum keine aktuellen Landschaftserlebnisse der Romanfiguren zuschreibbar sind, sondern aus der Erinnerung subsumierte Erfahrungen von unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten, die später als Bild der Fremde aktiviert und zusammengefügt werden. So erklärt sich, dass auch dieser als drittes Landschaftsbild bezeichnete Textteil sich nicht auf eine einzelne Szene einengen lässt, sondern vielmehr ein Kapitel - es geht um das 22. - umfasst. Den äußeren Handlungsrahmen bildet wiederum die Wohnung der Casaubons in der Via Sistina, dann das Atelier des Malers Adolf Naumann und schließlich noch einmal die Casaubon’sche Wohnung. Die konkrete räumliche Gegebenheit dieser Orte spielt allerdings auch hier, wie bei den beiden anderen Landschaftsbildern aus Italien, so gut wie keine Rolle. Die Aufmerksamkeit des Erzählers richtet sich eingangs auf die Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Casaubon, Dorothea und Will beim Abendessen, das mehrere Themen umfasst und in das letz- 237 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG terer persönliche Erlebnisse wie auch Schlussfolgerungen aus seinem Romaufenthalt einfließen lässt. Überraschenderweise kommt er auf die Armen der Stadt zu sprechen, ein Thema, das bislang weder Casaubon noch Dorothea irgendwie berührt hat, und in kryptischer Rede fügt er hinzu, dass nur derjenige es wahrnehme, der sich frei bewegen könne: “He described touches of incident among the poor people in Rome, only to be seen by one who could move about freely [...].“(M, 212) Der Text stellt nicht klar, worin diese Freiheit besteht. Ist es die Freiheit von Pflichten, von sozialen Konventionen, vom Rollenverhalten? Sicher ist aber, dass die Vorstellung von Freiheit mit der Person Wills verknüpft und in Opposition zu Casaubon und Dorothea gebracht wird. Will weitet den Gedanken aus, indem er die Vielfalt der Ewigen Stadt, für Dorothea Anlass tiefster Verunsicherung, nicht nur als etwas geistig Förderliches, sondern sogar Befreiendes herausstellt: [he] passed easily to a half-enthousiastic half-playful picture of the enjoyment he got out of the very miscellaneousness of Rome, which made the mind flexible with constant comparison, and saved you from seeing the world’s ages as a set of box-like partitions without vital connection.(M, 212) Der Kontrast zu Casaubons Verständnis von Historie ist offensichtlich und von Will beabsichtigt, denn der Vergleich von Geschichte mit in Schachteln gegliederten Sparten ohne Lebensnähe ist eine kaum verdeckte Anspielung auf Casaubons unzählige Notizen und Karteikästen. Die Analogie ist geradezu zwingend, so dass Will eine drohende Verstimmung nur dadurch abmildern kann, dass er in Kenntnis der Charakterschwäche seines Vetters dessen Eitelkeit schmeichelt: Mr Casaubon’s studies, Will observed, had always been of too broad a kind for that, and he had perhaps never felt such sudden effect, but for himself he confessed that Rome had given him quite a new sense - of history as a whole; the fragments stimulated his imagination and made him constructive.(M, 212) Bei aller Verbindlichkeit im Ton ist die Kritik an Casaubons Geschichtsverständnis und seinem mühseligen Buchprojekt unüberhörbar. Sichtbare historische und kulturelle Vielfalt ruft bei Will positive Assoziationen hervor - ’move about freely’, ’enjoyment’, ’made the mind flexible’, ’vital connections’, ’a new sense’, die reliefartig durch negative Kontrastvorstellungen - ’set’, ’box-like partitions’ - hervorgehoben werden und Verhärtung und totes Wissen konnotieren. Diese Botschaft hat nichts feierlich Geheimes, womit Casaubon sein Buchprojekt gern umgibt, sondern signalisiert Begeisterungsfähigkeit und heitere Souveränität im Umgang mit der Materie. Das Pronomen ’you’ in der Formulierung ’saved you’ ist die direkte Ansprache Dorotheas, verbunden mit der impliziten Aufforderung, ein falsch verstandenes Ideal durch wahrheitsgemäßere Wirklichkeitssicht zu ersetzen. Wills Sensibilität lässt ihn einen anderen, für sie wichtigen Gedanken aufgreifen, der Grund ihrer psychischen Destabilisierung ist. Es han- 238 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH delt sich um den Eindruck einer Zerstückelung der Welt, einer Fragmentarisierung des Wirklichen und damit einhergehend den Verlust an Erklärbarkeit, was ihren Schock ausgelöst hatte. In gelöster Stimmung, in einem Ton ’half-enthousiastic half-playful’, weist ihr Will den Weg aus dem Dilemma: Fast punktgenau bis hin zur Wortwahl - ’fragments’ knüpft an die für Dorothea so beunruhigende ’fragmentariness’ an - benennt er die Ursache ihrer psychischen Turbulenzen. Es geht um ein Sehen von Zusammenhängen und Ganzheitlichkeit - “history as a whole“ -, um das Erkennen der geistigen Herausforderung der fremden Umwelt - “fragments stimulated his imagination“ - und um eine Mobilisierung psychisch-seelischer Fähigkeiten - “made him constructive“. Die unterschwellige Botschaft der geschmeidigen Formulierungen ist, dass sich Dorothea durch die Heirat Casaubons in eine grundlegend verkehrte Welt begeben hat. Zur Stärkung ihres Selbstvertrauens he [Will] appealed to Dorothea, and discussed what she said, as if her sentiment were an item to be considered in the final judgement even of the Madonna di Foligno or the Laocoon. A sense of contributing to form the world’s opinion makes conversation particularly cheerful; and Mr Casaubon too was not without his pride in his young wife, who spoke better than most women, as indeed he had perceived in choosing her.(M, 212f.) Wills Einbezug von Emotion in ein seriöses Urteil über Kunst ist hintergründig als Stärkung von Dorotheas Selbstwertgefühl und als indirekte Kritik an Casaubons Faktengläubigkeit zu lesen. Auffallend ist, dass Casaubon die versteckte Kritik gar nicht bemerkt: Der Grund ist sein eitler Stolz über die Beredtsamkeit seiner Frau, nicht jedoch die Qualität ihres Urteils. Casaubons Eitelkeit ist aufs Engste mit seinem Selbstbild als Mann der Gelehrsamkeit verbunden und wird mehrfach in Kapitel 22 variiert. Es geschieht ein zweites Mal beim Atelierbesuch des Bildhauers Bertel Thorwaldsen. Tatsächlich feierte der Künstler bereits zu Lebzeiten triumphale Erfolge als “[…] living celebrity about whom even Mr Casaubon inquired“(M, 213). Bemerkenswert ist der ironische Unterton in dem Adverb ’even’: Er ist Anspielung auf Casaubons gestörtes Verhältnis zur Kunst im Allgemeinen - erinnert sei an seine Auffassung von Musik als “measured noises“(M, 65) -, aber auch auf seine Selbstgefälligkeit, indem er mit seiner Ignoranz in Sachen Kunst kokettiert. Der von ihm kultivierte Gelehrtennimbus wird beim Besuch in Adolf Naumanns Maleratelier köstlich parodiert. Will erzählt, dass er sich zur Zeit als Schüler seines Malerfreundes betrachte und auf dessen Anregung eine Skizze angefertigt habe, die vielfache Deutungen zulasse: “’Marlowe’s Tamburlaine Driving the Conquered Kings in his Chariot. [...] I take Tamburlaine in his chariot for the tremendous course of the world’s physical history lashing on the harnessed dynasties. In my opinion that is a good mythical interpretation.’ Will here looked at Mr Casaubon [...].”(M, 213) Wenn man Erdbeben 239 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG und Vulkane in die Weltgeschichte einbeziehe, was Will auf Dorotheas Frage bestätigt, auch noch, wie er lachend hinzufügt, Völkerwanderungen, Waldrodungen, Amerika und die Dampfmaschine - “Everything you can imagine! “(M, 214) -, wird angesichts der grotesken Auflistung klar, dass seine Worte nicht ernst gemeint sein können. Seine Körpersprache, der Blick auf Casaubon, verrät ihre ironisch-provozierende Funktion, aber die hintergündige Komik wird noch gesteigert durch Dorotheas unfreiwilligen Beitrag zu Wills parodistischer Einlage: “’What a difficult shorthand! ’ said Dorothea smiling towards her husband. ’It would require all your knowledge to read it.’ Mr Casaubon looked furtively at Will. He had the suspicion that he was being laughed at.”(M, 214) Die Demontage des vermeintlichen Geisteshelden wird vor dem Hintergrund von Ideal und Wirklichkeit weiter vollzogen. Verständlicherweise folgt Dorothea einer Dekonstruktion ihres Ehemannes als Verkörperung von Wissen und Klugheit nur zögerlich. Jedes Hinterfragen seiner Einzigartigkeit bedeutet für sie zwangsläufig ein Abschiednehmen von Illusionen und das Eingeständnis eigener Fehleinschätzung, ihres fatalen Hangs zum Idealistischen inklusive. Als Casaubon dem Maler für den Kopf des Thomas von Aquin Modell sitzt, ist sie sichtlich erfreut, und ”[...] nothing could have pleased her more, unless it had been a miraculous voice pronouncing Mr Casaubon the wisest and worthiest among the sons of men. In that case her tottering faith would have become firm again.”(M, 215) Die Ironie im Text ist unüberhörbar, wenn vom Hören einer Wunder verkündenden Stimme die Rede ist und damit auf ihre Weltfremdheit angespielt wird. Spöttische Ironie ist noch deutlicher hörbar in der Verwendung zweier semantisch grotesk überzogener Superlative - ’wisest’, ’worthiest’ - und der rhetorisch gestelzten Synekdoche - ’among the sons of men’ -, die Dorothea ein gerüttelt Maß an Entrücktheit von der Wirklichkeit unterstellen. Diese Disposition zu überschwänglicher, verklärender Idealisierung ist für die Erzählerfigur ganz offensichtlich Anlass, zur Protagonistin auf gewisse Distanz zu gehen, bevor sie von den Lesern als ausschließlich beklagenswertes Opfer bemitleidet und verklärt wird. Das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit als Thema des dritten Landschaftsbildes spiegelt sich in der Kunst der Nazarener, die Naumann repräsentiert. Er glaubt an die Richtigkeit der Formel ’the idealistic in the real’, aber in Bezug auf Casaubon, den er zum Modellstehen überredet - “I see so seldom what I want the idealistic in the real“(M, 215) -, tut er das mit ironischem Unterton, und er kalkuliert richtig, wenn er annimmt, dass dessen Eitelkeit größer ist als sein Gespür für Ironie: “Nothing like these starchy doctors for vanity! It was as I thought: he cared much less for her portrait than for his own.“(M, 219) Tatsächlich vereinbart Casaubon vor Ort den Kauf des Gemäldes mit ihm in der Rolle des Thomas von Aquin, während er auf den Ankauf des Bildes seiner anmutigen jungen Frau als Santa Clara verzichtet - was wohl Naumanns Strategie war. Selbst der hölzerne Humor in seinem Beitrag zu einer entspannten Atelieratmo- 240 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH sphäre verrät sein überzogenes Ich-Bild: ”Having given up the interior of my head to idleness, it is as well that the exterior should work in this way.”(M, 216) Angesichts dieses gespreizten Getues seines Vetters, zu allem Überfluss auch noch reichhaltige Quelle für Naumanns Scherze, bricht Wills Gereiztheit aus ihm heraus: “He’s [Casaubon] a cursed white-blooded pedantic coxcomb.“(M, 218) Diese Wertung umschreibt die endgültige innere Trennung zwischen den beiden Charakteren. In Gegensatz zu Casaubons eitlem Selbstbild verkörpert Dorothea für den Maler, bei seinem Vergleich mit der ’Liegenden Ariadne’, tatsächlich ein Ideal im Sinne nazarenischer Kunstauffassung: There lies antique beauty, not corpse-like even in death, but arrested in the complete contentment of its sensuous perfection: and here stands beauty in its breathing life, with the consciousness of Christian centuries in its bosom. [...] the most perfect young madonna,[...] sensuous force controlled by spiritual passion.(M, 189f.) Dorothea und Ariadne eint der ästhetische Eindruck von Schönheit, der aber erst durch den Einbezug des Sinnlichen zum vollendeten Ausdruck findet - ’sensuous perfection’ - und so Voraussetzung innerer Zufriedenheit und Glücks wird - ’complete contentment’. Die gewollte Paradoxie ist, dass die leblose Marmorstatue optisch diesen Eindruck vermittelt, während Dorothea unter dem Zwang von ’spiritual passion’ weder frei noch sie selbst zu sein scheint. Das Auge des Malers erkennt auf Anhieb das Defizitäre in ihrem Leben aufgrund irriger Leitbilder, die Wissen idealisieren, sie auf die falsche Fährte locken und as Verlangen nach ’contentment’ durch ’sensuous perfection’ nicht erfüllen. Ihr abruptes Weggehen beim Blickkontakt mit Will und Naumann im Museum sowie ihr Weinkrampf sind nicht steuerbare Körperreaktionen auf ein ungeklärtes Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit. Eine ungelöste Spannung derselben Art tritt bei Dorotheas Verständnis von Kunst zu Tage. Will hatte Malerei als alte, erlernbare Sprache mit vielen Stilen bezeichnet, aber Wesentliches wurde Dorothea erst durch Naumanns Erläuterungen einsichtig: Dorothea felt that she was getting quite new notions as to the significance of Madonnas seated under inexplicable canopied thrones with the simple country as a background, and of saints with architectural models in their hands, or knives accidentally wedged in their skulls. Some things which had seemed monstrous to her were gathering intelligibility and even a natural meaning.(M, 214) Trotz partieller Fortschritte bleibt ihr Verhältnis zur Kunst jedoch zwiespältig, weil es Kenntnisdefizite in Bezug auf Symbolik gibt, auch weil ihre Erwartungshaltung nicht erfüllt wird. Für sie soll Kunst das Gute, Schöne und Edle darstellen, was weniger mit ästhetischen als mit ethischen Kategorien zu tun hat. Ihr geht es um eine Welt des Idealen, die sie aber in vielen der in Rom zu sehenden Werke nicht findet. Sie trifft stattdessen auf 241 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Statuen und Gemälde, die in vielfältiger Weise das Ringen der Menschen mit sich oder gegen eine widrige Umwelt zum Thema haben: I should be quite willing to enjoy the art here; but there is so much I don’t know the reason of - so much that seems to me a consecration of ugliness rather than beauty. The painting and sculpture may be wonderful, but the feeling is often low and brutal, and sometimes even ridiculous. Here and there I see what takes me at once as noble - something that I might compare with the Alban Mountains or the sunset from the Pincian Hill.(M, 220) Jenseits der Bewunderung für die Fertigkeit der Maler und Bildhauer bleibt ihr der Sinn für die künstlerische Darstellung dramatischer Abläufe des menschlichen Lebens verschlossen. Interessanterweise sind es die Hügellandschaft um Rom und das Phänomen des Sonnenuntergangs, die diesem Ideal entsprechen. Dieser Verweis auf Landschaft außerhalb der Stadt Rom stellt im Übrigen, neben dem kurzen Hinweis auf die Campagna in Kapitel 20, die einzige Bezugnahme auf die Natur Italiens im gesamten Roman dar. In beiden Fällen wird diese Natur in auffälligem Gegensatz zu den vom Menschen geschaffenen Werken gesehen, seinen Bauten und Denkmälern, Skulpturen und Bildern, die auch das Hässliche, Gewalttätige, Grausame oder Lächerliche zum Thema machen. In der Campagna findet sie die äußere und innere Ruhe, derer sie angesichts der bedrückenden visuellen Vielfalt Roms dringend bedarf, und in den Albaner Bergen und im Sonnenuntergang erkennt sie die in der Kunst für sie wichtigsten Eigenschaften, nämlich ’beautiful’ und ’noble’ zu sein, statt grausame Wirklichkeit und rohe Emotionalität darzustellen. Die Naturlandschaft fungiert nicht nur als Medium zur ästhetischen Bestätigung, sondern auch zur psychischen Stabilisierung. Die Natur erscheint in ihrer Gegensätzlichkeit zur disparaten Vielfalt der Kultur sowohl als ruhender Pol wie auch als Ursprung ästhetischer und moralischethischer Leitlinien auf dem Weg zu einer höheren Bewusstseinsstufe. Sie ist ein autonomes und sinnstiftendes Gegengewicht zur bestürzenden Verworrenheit der Kultur des fremden Umfeldes und deren Andersartigkeit. Erkennbar verkörpert sie einen Ort der Vertrautheit, der inneres Gleichgewicht und Geborgenheit herstellt, der aber auch Formen und das Prinzip des Idealen beinhaltet, die für sie in den vom Menschen geschaffenen Werken nur sporadisch zu finden sind. Das Unzulängliche menschlichen Tuns im Vergleich zum wünschenswerten Guten, Schönen und Edlen wird Dorothea in Roms verwirrenden Kontrasten bewusster denn je: “I have often felt since I have been in Rome that most of our lives would look much uglier and more bungling than the pictures, if they could be put on the wall.“(M, 220) Die Ursache dieses Anflugs von fatalistischem Pessimismus ist ihr erwachendes Empfinden einer Diskrepanz zwischen idealem Anspruch und desillusionierender Wirklichkeit. In Wills Augen freilich ist ein weiteres Festhalten an zu hehrem Anspruch, 242 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH in Anbetracht ihrer Jugend, fehlgeleiteter Eifer und absurd anmutender Anachronismus: You talk as if you had never known any youth. It is monstrous - as if you had seen a vision of Hades in your childhood like the boy in the legend 524 . You have been brought up in some of those horrible notions that choose the sweetest women to devour - like Minotaurs. And now you will go and be shut up in that stone prison of Lowick: you will be buried alive.(M, 220) Mit den ’horrible notions’ spielt Will auf Dorotheas Erziehung, ihr Rollenverständnis und ihr soziales Umfeld an, vor allem auch auf ihre eigenen falschen Zielsetzungen. All dies summiert sich zu lebensfeindlichen Schreckensbildern, die Lowick metaphorisch zu einem Gefängnis und lebendigen Grab werden lassen. Was aber sind aus seiner Perspektive die richtigen, lebensbejahenden Perspektiven? Wichtig sei, so Will, ”a soul in which knowledge passes instantaneously into feeling, and feeling flashes back as a new organ of knowledge”(M, 223). Auch wenn dies einen Idealfall darstelle, etwa in glückhaften Momenten beim Dichten, so sei er doch die zentrale Voraussetzung echten Verstehens. Genau diese Form des Erlebens erfährt Dorothea in Rom zum ersten Mal, eine Erfahrung, die zum Schlüsselerlebnis der geistigen Horizonterweiterung mutiert: “I understand what you mean by knowledge passing into feeling, for that seems to be just what I experience.“(M, 223) An diesem Punkt wird Übereinstimmung im Grundsätzlichen erkennbar, eine Seelenverwandtschaft, die Casaubon als Kompilator überholter Fakten und abseits liegender Quisquilien, aber auch als Ehepartner, endgültig disqualifiziert. ”I am so glad we met in Rome. I wanted to know you.“(M, 222) Diese Signale seelischer Gleichgestimmtheit lösen in Will eine kaum verdeckte Liebesbzw. Heiratserklärung aus: “You are a poem - and that is the best part of a poet“(M, 223; Hervorhebung: G. Eliot): Dorothea wird geistig Teil seines Selbst in einem Akt symbolischer Vermählung, die er -’poet’- in diesem Moment gedanklich mit ihr -’poem’- vollzieht. Ihr Hang zum Idealisieren, untermauert durch einen tief sitzenden Gemeinschaftssinn, bleibt freilich kennzeichnend für ihr Denken: I should like to make life beautiful - I mean everybody’s life. And then all this immense expense of art, that seems sometimes to lie outside life and make it no better for the world, pains one. It spoils my enjoyment of anything when I am made to think that most people are shut out from it.(M, 219) Bei allem Bemühen um das Verständnis von Kunst, das Dorothea bislang als Problem unzulänglichen Wissens begriffen hat, macht der Text sichtbar, dass ihr aus zwei Gründen der Zugang zu wahrem Verstehen versperrt ist. Es ist einerseits dieses permanente Streben nach Weltverbesserung und 524 ”[...] the boy in the legend: Anskar, a ninth-century missionary to Scandinavia, who had a vision of his dead mother at the age of five.”(vgl. M, Notes, 845, No 111). 243 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG andererseits die Unterdrückung berechtigter persönlicher Bedürfnisse. Eindringlich, fast beschwörend rückt Will diese Schieflage zwischen Ideal und Wirklichkeit in ihrer Lebensorientierung zurecht: I call that the fanatism of sympathy [...].The best piety is to enjoy - when you can. You are doing the most then to save the world’s character as an agreeable planet. And enjoyment radiates. It is no use to try and take care of the world; that is being taken care of when you feel delight - in art or in anything else.[...] I suspect that you have some false belief in the virtues of misery, and want to make your life a martyrdom.(M, 219f.) In dieser Rolle Wills als Wegweiser und Führer aus dem Dunkel beklemmender Trostlosigkeit findet die Dekonstruktion des Casaubon’schen Weltbildes mit seinen in geistig-seelische Öde führenden Idealen ihren Höhepunkt und Abschlus, und er fungiert als Gegenentwurf zu Casaubons intellektuell und emotional in falscher Idealität erstarrten Welt. Dorothea freilich wird für ihn zur Lichtgestalt, “[…] for the ordinary phrases which might apply to mere bodily prettiness were not applicable to her“,(M, 217) und sein Entdecken von ’divineness’ in ihr ein weiteres Beispiel der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit ist. 3.3.3 Ergebnisse im Kontext 3.3.3.1 Kontrastierte Außenwelten: Überschaubare Ganzheit in Middlemarch und fragmentarische Zerstückelung in Rom Die Schauplätze des Romans sind, sowohl für das Handlungsgeschehen in England als auch in Italien, bedenkt man das für die Gattung typische Darstellungspotenzial, auf sehr enge Räume begrenzt. Das erzählerische Interesse im Handlungsort England konzentriert sich ausschließlich auf die fiktive Kleinstadt Middlemarch und ihre Gemeinden Tipton, Lowick und Freshitt mit den Sitzen des niederen Landadels, der Brookes, Chettams und Casaubons. Der Bezug auf andere Orte bleibt für die zentrale Handlung ohne Bedeutung. Ganz Ähnliches gilt für den Handlungsort Italien, der in vier von insgesamt 86 Kapiteln des Romans Schauplatz ist. Mit Ausnahme der Campagna als gelegentliches Ausflugsziel Dorotheas wird die Aufmerksamkeit einzig und allein auf Rom gerichtet, und selbst dort wird das aktuelle Geschehen in Innenräume verlegt: in das Vatikanische Museum, die Wohnung der Casaubons und die Arbeitsstätte des Malers Adolf Naumann. Die Angaben zur Einbindung dieser Lokalitäten in den Erzählfluss sind ungewöhnlich spärlich - es geht um den Saal mit der ‚Liegenden Ariadne’ im Museum, das hohe Fenster in der Via Sistina, Naumanns Atelier - und markieren gerade noch punktuell den Ort des Geschehens. Eine de- 244 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH skriptive Darstellung italienischer Landschaft in Form eines augenblicksgebundenen Erlebens findet nicht statt. Es ist kennzeichnend für die Erzähltechnik in Middlemarch, ”Eliot’s greatest novel“ 525 und „einer der größten Romane der viktorianischen Epoche“ 526 , “that ultra-complicated verbal pattern-work“ 527 und “[…] product of a remarkable nineteenth-century mind - [...] one of the most successful expressions of that encyclopedic desire to encompass the best that has been thought and felt for which that century is noted“ 528 , dass das fiktionale Erleben von Natur- und Kulturlandschaft Italiens nicht direkt, sondern in der Rückschau erfolgt, also durch Bilder der Erinnerung und somit einen reflektorischen Prozess entweder aus der Perspektive der Erzählinstanz oder aus der einer Romanfigur durchlaufen hat. In der vorliegenden Untersuchung wird für diese Darstellungsweise der Begriff ’erinnerte Landschaft’ verwendet, wovon noch des Näheren zu reden ist. Erzählstrategisch maß Eliot Bildern eine bedeutende Rolle zu. Zwar glaubte sie im Sinne Lessings, dass Literatur den bildenden Künsten bei der Darstellung menschlicher Erfahrung überlegen sei, aber Bildern generell, auch verbalen, sprach sie größere Wirkung im Hervorrufen von Gefühlen zu als Ideen. 529 Für keinen Teil des Romans gilt dies so überzeugend wie für die Italienbilder mit den visuellen Elementen der ‚erinnerten Landschaft’. In Bildern sah sie den kompetenten und effizienten Weg zur präzisen, aber auch glaubhaften Darstellung psychischer Befindlichkeit und zur Sichtbarmachung von Vorgängen im Unbewussten und Irrationalen. Übereinstimmend mit G.H. Lewes begriff sie das Auge als wichtigstes Sinnesorgan zur intellektuellen Durchdringung der Welt, und ”Lewes used the term ’vision’ as a metaphor for all thinking done primarily through images.“ 530 Für wie bedeutsam sie Auge und Bild bei gedanklichem Zugriff hielt, zeigt ihre Vorliebe für die Redewendung vom ‚Malen eines Bildes’ beim Sprechen über literarische Darstellung: “The severest criticism she Walter Allen, in: Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, Bd. 1, 534. 525 Schirmer, Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 2, 803. 526 527 U.C. Knoepflmacher, Fusing Fact and Fiction: The New Reality of Middlemarch, in: Adam, This Particular Web, 68. A.a.O. 528 529 “Eliot’s own version of the theory [»ut pictura poesis«] unites empiricist psychology with the traditional rhetorical notion of ’energeia’: the power of verbal visual imagery to set objects, persons, or scenes before an audience.[...] From empiricism came the concept of ’images’ and their function in mental processes. From Ruskin came the concept of ’vision’ and its role in the genesis of great art. Images and vision are central in George Eliot’s art [...].”(Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 35). “Although most of our thinking is carried on with signs and symbols, the Leweses believed that some of our best thinking - especially in the arts - is done through images.” (ebd., 36). A. a.O. 530 245 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG could make of a novel was that it failed to ’paint’ its characters or scenes.“ 531 Die Darstellungsweise von verbalen Bildern in Middlemarch erfolgt über den Zugriff auf den Bericht der erzählenden Instanz, die erlebte Rede, den Gedankenmonolog, den inneren Monolog 532 und den Dialog, der in analytisch-explorativer Funktion für Deutungs- und Verstehensvorgänge vorherrscht im Gegensatz zum Bericht mit deskriptiv-erklärender Zielsetzung. Die grundsätzlich auktoriale Erzählhaltung bei z.T. akribisch beobachteten Vorgängen „in Anlehnung an die Form des wissenschaftlichen Beobachtens und Erklärens“ 533 belegt Eliots Erzählstrategie als generell “[…] dependent on the author’s direction of the reader’s sympathies by methods varying between the extremes of open partisanship and the reticence of the mere presenter“ 534 . Darstellungsziel sind die Menschen in ihrer Sozialität mit dem Schwerpunkt auf ihrer Innenwelt. Auffällig ist, „[…] daß das elementare Gewebe gesellschaftlicher Beziehungen und wechselseitiger Interdependenz zwischen den Individuen [...] weniger als ein Gewebe von äußeren Ereignissen und Handlungen in einem positivistisch-realistischen Sinne zu verstehen, denn aus guten Gründen als ’a web of interpretation’, als ein Gewebe von Zeichen und Interpretationen aufzufassen ist.“ 535 Eliots Auffassung ist, dass das Leben des Einzelnen wie auch der Lauf der Gesellschaft als höchst komplexe Gefüge nicht monokausal aus einer Perspektive erzählbar sind, sondern aufgrund von Wandel und Kontingenz fluide Vorstellungsgebilde darstellen. Der Untertitel, ’A Study of Provincial Life’, bringt in der Wahl der Metapher ’Studie’ den Wunsch nach wissenschaftlicher Erklärung zum Ausdruck, beinhaltet andererseits in der Vorstellung des ’Lebens in der Provinz’ die Idee eines Organismus - “[her] view of society is that of an organism in a continuous state of flux“ 536 -, dessen Struktur nur durch Offenlegen interner Abhängigkeiten versteh- Ebd., 38. 531 532 „Gedankenmonolog und innerer Monolog ähneln sich, insofern sie Zeichen für die (momentane oder auch dauernde) Abgeschlossenheit eines Charakters von seiner gesellschaftlichen Umwelt sind. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch voneinander, daß der Gedankenmonolog in Middlemarch in klarer logischer Durchgeformtheit die Stellungnahme einer Figur zu einer bestimmten Situation und insbesondere auch ihre handlungsbezogene innere Argumentation mitteilt, während der innere Monolog den Fluß des Bewußtseinsstroms nachzubilden sucht, ’eine weitgehende Charakterisierung der Idiosynkrasie eines Bewußtseins’ anstrebt und - bei Joyce - der Sphäre des Prälogischen und Alogischen nahesteht.“(Erzgräber, Eliot - Middlemarch, in: Stanzel, Der englische Roman, Bd. 2, 192). Ebd., 176. 533 Alan Horsman, The Victorian Novel, Oxford: Clarendon Press, 1990, 320. 534 Winkgens, Kulturelle Symbolik, 210. 535 536 Robert Kiely, The Limits of Dialogue in Middlemarch, in: Buckley, Hrsg., The Worlds of Victorian Fiction, 112. 246 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH bar wird. 537 Vor diesem Hintergrund begreift die Heldin Middlemarch als überschaubare Ganzheit. Die Erstellung des äußeren Handlungsrahmens in Italien in lediglich flüchtiger Skizzierung steht nicht in analogem Verhältnis zur Bedeutsamkeit der fremden Umwelt. Im Gegenteil, durch den auktorialen Rückblick entsteht ein verdichtetes und zugleich facettenreiches Bild kultureller Andersartigkeit, visualisiert durch die ‚erinnerte Landschaft’. Kennzeichnend für die Behandlung der Zeit in den vier Italienkapiteln überhaupt ist, dass sie entweder aus der Retrospektive dargestellt wird oder, falls sie die Gegenwart wiedergibt, auch maßgeblich mit Vergangenem befasst ist. Dieses Zurücktreten von der Aktualität der Zeit findet ihre Parallele in der Spärlichkeit der Angaben zum aktuellen Ort. „Stärker noch als bei der Darstellung der Zeit wird bei der Darstellung des Raumes in Middlemarch George Eliots Distanz zu einem äußerlich-faktischen Realismus und ihre Tendenz zum psychologischen Realismus spürbar.“ 538 Zu Beginn der Italienkapitel hat Will Ladislaw nach einer Deutschlandreise mehrere Monate in Rom verbracht, und Dorothea und ihr Ehemann stehen, nach fünfwöchigem Aufenthalt in der Stadt, vor ihrer Rückreise nach England. Kern des Handlungsgeschehens wird der analysierende Blick zurück auf Beobachtungen, Erlebnisse und Schlussfolgerungen der drei Hauptakteure, die in scharf gezeichneten Bildern dieser Figuren resultieren, aber nicht in einem narrativem Verweilen bei deren Entdecken der Fremde. Dorotheas Ratlosigkeit vor dem Fremden, Wills freudige Akzeptanz des Ungewohnten und Casaubons Verharren in geistiger Verstrickung sind nicht Ergebnis spontaner Ereignishaftigkeit, sondern einer in der Retrospektive sich aufbauenden Entwicklung. Auf Grund der engen Raumeingrenzung in England und Italien auf Middlemarch und Rom und des Verzichts auf andere geografische Orte treten Kontraste von Ganzheitlichkeit im Gegensatz zu Zerstückelung in aller Schärfe zu Tage. Allein die Wahl der Lokalität, das provinzielle Middlemarch vs. das weltläufige Rom, signalisiert a priori Gegensätzliches. Andererseits ist es erklärte Absicht der Autorin, eine Studie des Provinzlebens vorzunehmen, wodurch fiktional eine Kollision mit dem Gang der Metropole eines einstigen Imperiums bereits im Vorfeld angelegt ist, und naturgemäß klaffen beide Orte mit je eigenem historisch-kulturell gewachsenen Umfeld weit auseinander. Die Wahl des Namens Middlemarch ist Hinweis auf ein nicht pejorativ gemeintes Mittelmaß. “’Middle’ suggests ordinariness, and ’march’ 537 „Die Vorstellung von der Gesellschaft als einem lebendigen Organismus entspricht den soziologischen Konzeptionen, wie sie George Eliot bei Comte, Herbert Spencer und John Stuart Mill antreffen konnte, und der Gedanke, daß das Kunstwerk eine organische Einheit zu bilden habe, wurde von ihr selbst in dem Essay Notes on Form in Art (1868) erläutert [...].“(Erzgräber, Eliot - Middlemarch, 181). Ebd., 184. 538 247 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG both a borderland and the long haul of years that make a lifetime. The name perfectly fits the book’s main theme, the clash between the workaday world and exceptional talents, aims and ideas.” 539 Der Name ist “a generic term”, die fiktionale Stadt “a representative place but by no means a center of civilization.” 540 Weit entfernt von besserwisserischem Hochmut soll “a broad canvas of community life“ 541 erstellt werden, um so den Mikrokosmos der Kleinstadt in seinen verborgenen Verflechtungen zu entschlüsseln, „eine gleichsam wissenschaftliche Analyse der englischen Provinzgesellschaft“ 542 . Kennzeichnend ist deren geringes Interesse an Kultur, und es besteht auch an Politik oder Wirtschaft nur insoweit, als eine Beeinträchtigung des Bestehenden zu befürchten wäre. Sichtbare Kennzeichen dieses Konservativismus sind überkommene gesellschaftliche Ungleichheit und ein zielgerichtetes Mehren von Besitz, Ansehen und Einfluss. „Hinter den Schicksalen steht das ungeistige, engstirnige, der Materie verhaftete und dem Hergebrachten starr anhängenden Wesen von Middlemarch, dessen Gewalt in der öffentlichen Meinung und in dem eng verflochtenen Netz menschlicher Beziehungen zum Ausdruck kommt.“ 543 Es ist so, dass „[…] den meisten Charakteren der Blick für das Wesen der Menschen und Dinge durch egoistisches Begehren verstellt ist [...].“ 544 Gewiss, es gibt Ausnahmen: Pfarrer Farebrother betätigt sich als Entomologe, Lydgate sucht neue Wege der Heilkunde, und Casaubon befasst sich mit Mythologien, aber ihr Tun bleibt entweder im Verborgenen oder scheitert an menschlichen Schwächen. Allein die Familie des bodenständigen Chaleb Garth mit ihrem unerschütterlichen Glauben an Werte wie Fleiß, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft entzieht sich dem üblichen Streben nach Vermögen und Status. In diesem geistig-sozialen Klima wächst Dorothea Brooke auf, “the major, the most memorable character of the novel“ 545 , gesellschaftlich hervorgehoben zwar als Mitglied der ’gentry’ durch Erziehung und finanzielle Unabhängigkeit und trotzdem eingebunden in das kleinstädtische Sozialgeflecht, dem sie sich nicht entziehen kann und will, weil es ihr Lebensmit- Cockshut, in: Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, Bd. 3, 1709. 539 Levine, Cambridge Companion to George Eliot, 62. 540 541 Paul Schlueter and Jane Schlueter, Hrsg., An Encyclopedia of British Women Writers, London, 1988, 153. Schirmer, Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, 803. 542 543 Ewald Standop und Edgar Mertner, Hrsg., Englische Literaturgeschichte, Heidelberg: Verlag Quelle & Meyer, 1983, 506. „[…] bei George Eliot wie John Stuart Mill werden die Bilder des Webens und des Gewebes dazu benutzt, um auf die wechselseitige Bezogenheit und Abhängigkeit gesellschaftlicher Vorgänge aufmerksam zu machen. Daher ist stets ein vielgliedriges Gefüge von Ursachen und Wirkungen zu berücksichtigen, soll ein einzelnes gesellschaftliches Phänomen verstanden und gedeutet werden.“ (Erzgräber, Der englische Roman, 177). Ebd., 186. 544 Knoepflmacher, Fusing Fact and Fiction, 65. 545 248 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH telpunkt ist: “Lowick is my chosen home.“(M, 221) Das Provinzstädtchen ist Ort weltanschaulicher Sinngebung und überschaubarer Sinnhaftigkeit, der Raum fest gefügter, in sich ruhender und stimmiger Ordnung. Ihr subjektives Empfinden unzureichenden Wissens und mangelnder Klugheit, ungewöhnlich genug bis an die Grenze des Exzentrischen für eine junge Frau in diesem Sozialkontext, ist aus ihrer Sicht korrigierbar, daher die Heirat mit Casaubon. Gerade dieser Schritt offenbart jedoch, dass sie, bei allem Streben nach Horizonterweiterung, den gesellschaftlich-kulturellen Begrenzungen der Provinz gar nicht entfliehen kann. “Dorothea [...] sees things according to theoretical presuppositions, that is, according to blind ideological categories that see things and people as embodiments of abstract conceptions they only superficially resemble, if at all. The unfortunate combination, unfortunate in the sense that it destines Dorothea to much suffering, endows her with a ’joyous imaginative activity which fashions events according to desire’ (ch. 25). Her belief that Casaubon will make a good husband is the result of this fashioning [...].” 546 Dorothea tritt ihre Romreise aus einem holistischen Mikrokosmos an, der ein dynamisches Eigenleben hat, zuweilen unkonventionelles Entscheidungen verlangt, aber den Gefühlen und der Psyche stets eine Heimstatt bietet. In Rom ist das völlig anders. Mit einem Schlage ist für die Heldin, ausgestattet mit den beschränkten Mitteln protestantisch-puritanischer Erziehung, kaum etwas überschaubar und fast nichts verstehbar, doch im Gegensatz zur Oberflächlichkeit der ’Anglo-foreign society’ sind ihr wache Aufmerksamkeit und geistige Neugier zu Eigen. Der Kulturschock durch den ‚Zusammenprall der Kulturen’ (vgl. Fußnoten 13 u. 750) resultiert in einem Gefühlsaufruhr bis an die Grenze physischen Schmerzes als Folge des Eindrucks einer optischen Zerstückelung, einer Fragmentarisierung und ikonoklastischen Zertrümmerung einer stets ganzheitlich begriffenen Außenwelt durch ihre heillos überforderte Psyche. 547 Die für Middlemarch kennzeichnende Einheit von Innen und Außen existiert in Rom nicht: “[...] when this identification of the self and the outer world is lost, then one is faced with the terrible ambiguity that reality is both inner and outer, and where one ends and the other begins is not at all clear. This is the moment 546 J. Hillis Miller, The Roar on the Other Side of Silence: Otherness in Middlemarch, in: Rimmon-Kenan/ Toker/ Barzilai, Rereading Texts/ Rethinking Critical Presuppositions, 140. 547 Der Beschreibung liegen persönliche Erfahrungen George Eliots bei ihrer ersten Begegnung mit der Kunst in Rom zu Grunde. “At first she found herself ’thrown into a state of humiliating passivity by the sight of the great things done in the far past - it seems ... as if my own activity were so completely dwarfed by comparison that I should never have courage for more creation of my own.’”(Letters, III, 294, zit. n. Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 26). 249 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG of panic [...]“ 548 . Der Verlust der Fähigkeit zur Welterklärung aus der Beschaulichkeit der englischen Provinz ist physisch Auslöser eines Weinkrampfes und psychisch einer Depression, Symptome eines Nervenzusammenbruchs. Die Kontrastzuweisungen des Textes an die Ewige Stadt konzentrieren sich auf begrenzte Aspekte: Geschichte, Architektur, die bildenden Künste und die Religion. Damit kommen kulturelle Ausprägungen ins Spiel, deren Andersartigkeit sich am ehesten visuell darbietet. Auffallenderweise gibt es keine Begegnungen mit Einheimischen, und die Frage des Kennenlernens einer kulturell anderen Mentalität stellt sich nicht. Das Interesse der Autorin konzentriert sich auf die Erkenntnis fördernde Qualität richtig verstandenen Wissens als Prämisse zur Persönlichkeitsentwicklung, ein mehrfach variiertes Thema des Romans vor dem Hintergrund positivistischen Denkens. Im Gegensatz zu Eliots Idealvorstellung eines lebendigen, produktiven Wissens auf der Höhe der Zeit, ausgelöst durch Interesse, erworben durch Erfahrung, vertieft durch Einsicht und getragen von innerer Anteilnahme ist Casaubon das abschreckende Beispiel einer Anhäufung seelenloser, irrelevanter Fakten ohne Begeisterung für den Gegenstand. Das gilt für seine Studien, die er hauptsächlich mit Blick auf vermeintlich neidische Fachkollegen betreibt, wie auch für seine Romkenntnisse, bei denen er sich, wie Dorothea fassungslos gewahr wird, selbst bei Raffaels Werken auf die Meinung nicht genannter ’cognoscenti’ statt auf ein eigenes Urteil beruft: This kind of answer did not help to justify the glories of the Eternal City, or to give her the hope that if she knew more about them the world would be joyously illuminated for her. There is hardly any contact more depressing to a young ardent creature than that of a mind in which years full of knowledge seem to have issued in blank absence of interest or sympathy.(M, 197) „An der zur Beschreibung seines Versagens gewählten Bildlichkeit läßt sich deutlich eine metaphorische Logik ablesen, die sein intellektuelles Versagen ursächlich auf seine psychologischen und moralischen Defizite zurückführt, indem sie als paradoxes Ergebnis seiner ’years full of knowledge’ eine Absenz von Interesse und Sympathie konstatiert.“ 549 Die Wortwahl im Romantext bezeichnet den Kritikschwerpunkt: ’to justify the glories’ weist auf die Notwendigkeit hin, Ursprung und Grund des Grandiosen zu erkennen und reflektiert den Wunsch nach Ganzheitlichkeit, um ‚erleuchtet’ zu sein, was mit innerer Freude verbunden wäre. Casaubon bleibt diese Motivlage verschlossen, weil er Wissen in Karteikästen sammelt, auf seine Weise zerstückelt, zersplittert, fragmentarisiert, aber nicht als Potenzial zur 548 David Carroll, Middlemarch and the Externality of Fact, in: Adam, This Particular Web, 74. Winkgens, Kulturelle Symbolik, 231. 549 250 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Persönlichkeitsbereicherung begreift; so wird er zum “lifeless embalmment of knowledge“. Die ganz andere Einstellung Will Ladislaws, den Roms visuelle Vielfalt mit ihrem „ungeheuren und doch nur trümmerhaften Reichtum“ 550 zu konstruktiver, ganzheitlicher Betrachtung animiert - “Rome had given him quite a new sense of history as a whole; the fragments stimulated his imagination and made him constructive“(M, 212) -, weist in provokanter Kontrastierung die dringend erwünschte Alternative auf, die Casaubons Wissens- und Wissenschaftsbegriff endgültig als obsolet, sogar als Irrweg und Sackgasse entlarvt. Wenn selbst Kunst als erlernbare Sprache begriffen wird, deren Kenntnis Freude bereite - “I enjoy the art of all sorts here immensely“(M, 206) -, zeigt diese der Zukunft zugewandte Einstellung den Weg aus geistiger Sterilität, die zudem mit puritanisch-leibfeindlicher Unterdrückung jeglicher Lebensfreude einhergeht. Dorothea fehlt bislang “the quickening power of knowledge that breathes a growing soul into all historic shapes“(Hervorhebungen: K. Lang), eine Leben spendende Kraft des Wissens, die den Dingen Seele einhaucht, wozu Casaubon als Kompilator seelenlos gewordener Fakten nicht in der Lage ist. “Will Ladislaw, son of two generations of rebellious women, is shown as lucid about his own feelings and responsive to women. He is not shut up in his own masculinity.[...] He is outside the educational hegemony.” 551 Wenn Dorothea Roms anfänglich bizarre Fremdheit mit einem erweiterten Horizont und reifenden Persönlichkeitsprofil verlässt, dann aufgrund des Umstands, dass sie durch Will “feeling […] as a new organ of knowledge“ (M, 223) entdeckt hat: “[...] in Rome Dorothea learns instinctively what Ladislaw the namer tries to put into hyperbolic terms. Only the power of feeling can animate human life.“ 552 Nach Casaubons Dekonstruktion in Rom wird ihm nicht mehr ihre Bewunderung, nur noch ihr Mitleid zuteil. 3.3.3.2 Wege zur Innenwelt: ‚Erinnerte Landschaft’, Lichtmetaphorik und Gespräche über Kunst In den vier Italienkapiteln in Middlemarch, einer “multiplot novel“ 553 mit überaus reicher Figurenbesetzung, treten nur vier Personen auf: Dorothea, Goethe, Italienische Reise, 218. 550 Gillian Beer, George Eliot, Cambridge: The Harvester Press, 1986, 171f. 551 Ebd., 64. 552 553 Alexander Welsh, The Later Novels, in: Levine, The Cambridge Companion to George Eliot, 62. 251 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Casaubon, Will Ladislaw und der Maler Adolf Naumann 554 als Repräsentant der Fremde. Innerhalb der fünf wichtigsten Handlungsstränge - ausgelegt auf Dorothea und Casaubon, Dorothea und Will, Lydgate und Rosamond Vincy, Bulstrode und die Bürgerschaft Middlemarchs, Fred Vincy und Mary Garth - richtet sich das Erzählinteresse allein auf die Beziehungskonstellationen zwischen Dorothea, Will und Casaubon, deren innere Reifung bzw. Stagnation in der Andersartigkeit der Fremde initiiert wird oder aber ausbleibt. Durch die Begrenzung der Lokalität auf die Stadt Rom, sporadisch die Campagna und die Albaner Berge, bleiben, wie dargelegt, andere Landschaften Italiens ausgeblendet. Die Casaubons hatten, gemäß interner Handlungslogik, ihren Italienbesuch als Hochzeitsreise nach Rom unternommen, was für Casaubon glückhaft, aber absichtsvoll angelegt, mit Fortführung seiner Studien einherging. Die radikale Reduzierung des Handlungsrahmens gewährleistet gerade noch die Identifizierbarkeit der Orte, aber in realer Präsenz tragen sie nichts zum aktuellen Erleben der Fremde bei. Das ausnahmslos retrospektive Erstellen der Bilder der italienischen Natur-, Kultur- oder Stadtlandschaft als ‚erinnerte Landschaft’ 555 bedeutet nicht, dass sie deshalb zwangsläufig objektives Korrelat innenweltlicher Vorgänge sind. ‚Erinnerte Landschaft’ kann, wie aktuell erlebte, der topografischen Einordnung oder geografischen Orientierung dienen, sie kann Teil des Lokalkolorits oder stimmungshafter Befindlichkeit sein, wobei im letzteren Falle bereits psychisch-seelisches Befinden tangiert ist. Jedoch ‚erinnerte Landschaft’ als tragendes Element im fiktionalen Erzählvorgang „transzendiert“ aktuelle Wahrnehmung unter pragmatischen Aspekten „durch das freie Reproduktionsvermögen der Einbildung, das die Bilder der Dinge in seiner Gewalt hat [...] in Loslösung [...] von der widerspenstigen Tatsächlichkeit des Selbstseins der Objekte [...] und befreit so seinen Besitz vom Zufall des Raumes und der Zeit. Die so gewonnene Freiheit - den Dingen in der Imagination nachzusinnen - ist eine Freiheit der Distanz und der Herrschaft zugleich.“ 556 Die dergestalt funktionalisier- 554 ”Naumann combines specific attributes of two identifiable Nazarenes: Johann Friedrich Overbeck (1789-1869) and Josef von Führich (1800-1876).”(Witemeyer, George Eliot, Naumann, and the Nazarenes, 145). 555 In keinem Italienkapitel findet sich eine Landschaftsbeschreibung wie etwa die von Freeman’s End, als Mr Brooke seinen verarmten Pächter auf dem Bauernhof besucht (Kap. 39) und die Autorin ihre für das 19. Jahrhundert in England typische Landschaftsauffassung darlegt, die durch das Gebot zu realistisch-naturalistischer Wiedergabe gekennzeichnet war.(vgl. Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 126). Jonas, Homo Pictor, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 119f. 556 Jonas sieht eine Analogie der Bilderstellung zwischen Maler und Schriftsteller bzw. dem über Bilder Sprechenden: „In der äußeren Darstellung ist [...] das Bild mitteilbar geworden, der gemeinsame Besitz aller, die es anschauen. Es ist eine Objektivierung individueller Wahrnehmung, vergleichbar derjenigen, die in verbaler Beschreibung vollbracht wird. 252 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH te ‚erinnerte Landschaft’ hat, jenseits meditativer oder kommunikativer Funktion, einen reflektorischen Prozess durchlaufen ohne Bindung an die Aktualität von Objekten, von Raum und Zeit. Sie ist gleichsam Gedankenbild innerhalb des auktorialen verbalen Bildes und hat, im Nachvollzug der Überlegungen von Jonas, einen doppelten Prozess der ‚Objektivierung’ wie auch des ‚Scheidens’ und des ‚Ins-Verhältnis-Setzens’ ursprünglicher Ganzheit durchlaufen: Landschaftsdarstellung wird auf diese Weise selektiv gewichtet, konzentriert und in ihrem Aussagewert bedeutungsmäßig komprimiert. Das Ersetzen einer aktuellen Landschaftsschau durch Erinnerung im Bildgedächtnis der Figuren erweist sich in den Italienkapiteln mit ihrer geradezu exemplarischen Schwerpunktsetzung auf Innenweltwiedergabe als Teil der Erzählstrategie. Andere Aspekte treten unterstützend hinzu. Die Eingrenzung der Handlungsorte auf eng ausgelegte Plätze, die Kargheit der äußeren Handlung überhaupt, die vorherrschende Rolle der Erzählformen des Dialogs und des auktorialen Gedankenberichts, der hohe Symbolgehalt der Sprache und insbesondere die thematische Fixiertheit der drei Italienbilder auf ein Ringen der Hauptfigur um Bewusstwerdung: All dies weist unmissverständlich auf Außenwelt als Ausgangspunkt zur Erkundung des Innenweltlichen hin. “D.H. Lawrence saw her as the first modern novelist, saying in an early letter that she was the first to start ’putting all the action inside’“ 557 : (vgl. dazu Fußnote 890): Bei George Eliot wird Landschaft mittels der Erzählstrategie der 'erinnerten Landschaft' zum Raum seelischer Exploration. ‚Erinnerte Landschaft’ erlaubt erzählerisch nicht nur die volle Konzentration auf das psychische Geschehen in den Figuren, sondern auch den festeren Zugriff auf die Aufmerksamkeit des Lesers. Eine panoramische oder szenische Darstellung von Natur oder Stadt würde den Erzählfluss über innenweltliche Prozesse unterbrechen. Wenn nun Landschaft bezüglich Aktualität in eine untergeordnete Rolle einrückt, so gewinnt sie an Bedeutsamkeit in beweisführender Funktion. Die Befreiung „vom Zufall des Raumes und der Zeit“, die „Objektivierung individueller Wahrnehmung“ und die damit einhergehende „Freiheit distanzierten Überblickens“ 558 entlässt das Sehen aus der Kategorie des Zufälligen und hebt es auf die Stufe des Beweiskräftigen. Verweise auf ‚erinnerte Landschaft’ Wie sie dient es der Kommunikation und kommt gleichzeitig der Wahrnehmung selber, oder dem Wissen, zugute. Denn im Bemühen, Teil für Teil nachzubilden, wird das Sehen ebenso wie im Prozeß der Beschreibung gezwungen, zu scheiden und zueinander ins Verhältnis zu setzen, was es erst alles zusammen hatte.“(ebd., 120). Allen, in: Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, Bd. 1, 534. 557 Jonas, Homo Pictor, in: Boehm, Was ist ein Bild? , 119. 558 253 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG können punktbzw. situationsgenau auf das Wesentliche zur Darstellung psychischer Abläufe ausgerichtet werden. 559 Auffallenderweise zeigt ‚erinnerte Landschaft’ auch nicht die Charakteristika Eliot’scher Landschaften in England, wie sie beispielsweise in der Darstellung des Gartens von Lowick Manor zu Tage treten (vgl. 3.3.2.3). Dazu gehören neben gewisser Umfänglich- und Ausführlichkeit der Einbezug von Farben, die Neigung zu pittoresker Szenerie (wenngleich sie den zeitgenössischen Kult des Pittoresken aus ethisch-moralischen Gründen ablehnte), vor allem aber die Vorliebe zum naturalistischen Detail, wie es Ruskin in Schriften, die Präraffaeliten in Bildern und G.H. Lewes in Forschungstexten propagierten. 560 Auch die Empfindsamkeit für Natureindrücke in der Tradition Wordsworths 561 fehlt in Bildern der ‚erinnerten Landschaft’: Sie ist zielgerichtet als Instrument des analytischepistemologischen Zugriffs zur Seelenexploration konzipiert. Das bemerkenswerteste Beispiel einer Verzahnung von Außen- und Innenwelt durch ‚erinnerte Landschaft’ ist die dramatische Schilderung zu Beginn des 20. Kapitels, die Dorothea “[…] sobbing bitterly, with such abandonment to this relief of an oppressed heart“(M, 192) im Zustand psychischer Hilflosigkeit in ihrer Wohnung zeigt. Es ist dies das Ergebnis der visuellen Eindrücke einerseits einer zerstückelten Welt in der römischen Stadtlandschaft, andererseits einer beunruhigenden, bislang unterdrückten Welt weiblicher Sinnlichkeit, wie sie von der “[…] reclining Ariadne, then called Cleopatra, [...] in the marble voluptuousness of her beauty, and the drapery folding around her with a petal-like ease and tenderness“(M, 188 f.) verkörpert wird. In der Stunde des Alleinseins entfalten die Bilder der Erinnerung, ohne störende Fremdeinwirkung, kompakt und konzentriert ihre Wirkung und stellen den Bezug zu geheimen Wünschen und Sehnsüchten her: Das bedrückende Ergebnis ist ein ’state of fevered despair’ (F.R. Leavis). Über die Retrospektive der Landschaft Roms erstellt der Text den psychologisch plausiblen Deutungszugriff auf die Sinnkrise der Protagonistin, indem ihre römische Schockerfahrung eines Verlustes von Erklärbarkeit und geregelter Sinnzuweisung anhand der fremden Landschaft visualisiert wird. Die gewaltige Vielfalt des in der Ewigen Stadt angesammelten Erbes der Geschichte, Kunst, Architekur und Religion zerfällt zu “stupendous fragmentariness“ ohne Bezug zur vertrauten Lebenswirklichkeit, 559 Eine weitere Antwort auf die Frage nach Eliots Bevorzugung der ‚erinnerten Landschaft’ in den Italienkapiteln mag darin liegen, dass sie, unter dem Einfluss Lessings und Wordsworths, der Fantasie eine besondere Rolle beimaß, wie dies in Naumanns und Wills Streitgespräch über die Künste zu Tage trat. ”Will’s impassioned commentary on the superiority of the verbal arts over the visual arts is infused with the Romantic belief in the power of the imagination - the faculty that calls on the inner eye rather than mere outward vision, that allows observers to see into the life of things (’After all, the true seeing is within’).”(Rischin, Beside the Reclining Statue, 1122). Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 134. 560 Vgl. ebd., 137. 561 254 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH “moving in funeral procession with strange ancestral images and trophies gathered from afar“.(M, 192) Die visuellen Eindrücke lasten als “oppressive masquerade of ages“, als “gigantic broken revelations“ und “weight of unintelligible Rome“ auf der Seele der jungen Provinzadeligen und werden zum Auslöser psychischer Turbulenzen: Der außenweltlichen Fragmentarisierung entspricht die innenweltliche Zersplitterung ganzheitlichen Wahrnehmungsvermögens. Mitverursacht wurde dieser Zustand durch den Besuch der Skulpturensammlung und die visuelle Begegnung mit der Antike, Dorotheas erste Begegnung überhaupt mit Bildhauerei und ihren ästhetisch-psychologischen Implikationen. 562 Ihre Körpersprache, das gedankenverlorene Betrachten eines Sonnenstrahls auf dem Boden und das abrupte Weggehen, als sie sich von zwei jungen Männern, Ladislaw und Naumann, beobachtet fühlt, zeigt, dass sie sich der Diskrepanz konträrer Signale einer sinnenbejahenden Lebensgestaltung in der Statue der Ariadne und einer eingeschränkt-gehemmten Lebensfreude in ihrer quäkerhaften Aufmachung in unkontrollierbarer Weise bewusst wird. “Eliot underscores the erotic significance the Vatican statue carries in her narrative by drawing on the statue’s actual history of mistaken identity as a dying Cleopatra. A heroine notorious not only for the insatiable passion she inspired in men but also for her ’voracious sexuality’ [...]. Cleopatra is both the quintessential object of male desire and the embodiment of the desiring female subject.” 563 Im Kontext einer Phänomenologie der Sinnlichkeit ist Dorotheas Abwenden des Blickes ein für sie erschreckendes, weder rational noch moralischideologisch steuerbares Gewahrwerden einer geheimen intrapsychischen Wirklichkeit weiblichen sexuellen Verlangens als Folge einer den Sinnen innewohnenden Eigendynamik; psychoanalytisch ist es die Einforderung der Teilhabe am ‚Leib der Welt’ (Merleau-Ponty; vgl. 1.3.4) gegen eine ‚Entfremdung des Eigenleibs’ (Joachim Küchenhoff) durch Zwänge der Gesellschaft. In der Kulturlandschaft tut sich im Rückblick vor Dorotheas soziokulturell bedingter Ahnungslosigkeit eine von dynamischem Eigenleben erfüllte Bilderwelt mit suggestiver Symbolik auf als Umschreibung des sich zu seiner Schönheit und zur Sexualität bekennenden weiblichen Körpers: “Eliot capitalizes on the double identity of the statue to reveal the effective alliance of art with the literary portrayal of desire [...]. Eliot affirms the dynamic and expressive power of art by using the statue as a catalyst for the birth of desire [...] and as a vehicle for representing female eroticism within the constraints of Victorian fiction.” 564 Dieses neue Empfinden einer 562 “For Roland Barthes, sculpture is the privileged medium for depicting the erotic female body: Free-standing, penetrable, in short, profound, the statue invites visitation, exploration, penetration [...].”(Rischin, Beside the Reclining Statue, 1128). A.a.O. 563 Ebd., 1122. 564 255 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Interaktion von Leib, ohne permanente Disziplinierung der Sinne, und von Außenwelt, bislang ‚seelisch exterritorialisierter’ Raum ‚innengesteuerter Selbstbeherrschung’ (Horst Breuer), kommt einem Akt geistig-seelischer Befreiung gleich. Die erinnerte Skulpturenszene offenbart andererseits die Doppelbödigkeit in Wills Einstellung zu Dorothea, wenn er auf manifester Gesprächsebene mit Naumann ihre unvergleichliche Stimme bewundert, während die latente Botschaft auf verstecktes Begehren hinweist: “Eliot finally exploits the narrative of this ancient sculpture to reveal a telling contradiction between Will’s proclaimed reverence for Dorothea’s voice and his unavowed responsiveness to the sight of her embodied presence.“ 565 Da nach Freud Symbole primär persönlichen Charakter haben und Ergebnis individueller Sinnbelegung sind 566 , kann ihre Stimme in Wills psychischer Nomenklatur als Zeichen für ihren bewunderten und begehrten Körper gedeutet werden. So steht ein geeignetes Substitut für erotische Traumbilder und sexuelles Verlangen bereit, deren unverschlüsselte Benennung im Kontext viktorianischer Konventionalität nicht möglich war. Dieser Sachverhalt ist deutlichster Beleg, dass Bilder der italienischen Landschaft nicht Folie oder Spiegel zur Doppelung innenweltlicher Vorgänge sind, wie in Corinne ou l'Italie, auch nicht Demonstrationsobjekt oder Seismograph zu deren Sichtbarmachung, wie in Little Dorrit, denn sie lösen sie überhaupt erst aus. Eliots verbale Bilder fungieren als Auslöser und Initialzündung, als Katalysator und Stimulans; sie haben stimulierendauslösende Funktion 567 , wenngleich Dialog, auktorialer Bericht und kommentierende Beschreibung wichtige Mittel zur Darstellung innerer Abläufe bleiben 568 , die “an individual trauma and an individual liberation“ 569 darstellen. Ebd., 1130. 565 Vgl. Auster/ Strauss, Wörterbuch der Psychoanalyse, 160. 566 567 Sichtbar wird an diesem Punkt eine sehr modern anmutende Auffassung visueller Wahrnehmung, wie sie Merleau-Ponty umschreibt. „Das Sehen verliert seine konstruktive Statik und technische Abstraktheit - gewinnt die ihm eigene Prozessualität zurück, seine Einbindung in den Körper, dessen Augen sehen.“ Der ‚sehende Leib’ agiert durch seine Teilhabe am ‚Leib der Welt’ - «la chair du monde».(vgl. Boehm, Was ist ein Bild? , 19f.); Bilder erhalten so eine eigene Dynamik. 568 “Pictorialism [...] was a necessary, but not a sufficient condition of the novelist’s art as George Eliot conceived it. The writer must ’paint’ in the broad sense that his language must evoke vivid, concrete images rather than indistinct, abstract ideas in the reader’s mind. The writer must also ’paint’ in the narrower sense of providing some descriptive passages to assist the reader’s visualizing of the story. But word-painting of the second sort cannot adequately represent the inner, temporal aspects of human experience, and must therefore be supplemented by dramatic presentation.” (Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 43). 569 Barbara Hardy, Rome in Middlemarch - A Need for Foreignness, in: George Eliot - George Henry Lewes Studies Newsletter, 1993 Sept, 10. 256 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH In Kapitel 21, dem zweiten Landschaftsbild im Rahmen dieser Untersuchung, ist die äußere Handlung wiederum auf ein Minimum eingeschränkt. Nur zwei Aspekte treten als Wesenselemente der Fremde hervor: das Licht des hohen Fensters in symbolischem Gegensatz zu Lowick Manor, das ’small-windowed’ ist, sowie die Fresken und Gemälde Roms, die den Ruhm der Stadt als Kunstzentrum ausmachen. Zentrales Thema ist wieder der Gegensatz zwischen Unkenntnis und Wissen, Nichtbegreifen und Verstehen, wobei Metaphern aus den Wortfeldern von Licht und Sehen die Verzahnung von Außen- und Innenwelt darlegen. Durch die Schlüsselwörter ’dulness’, ’ignorance’, ’stupid’, ’blind’ offenbart die Heldin in quälender Selbstbezichtigung ihre schmerzhafte Frustration beim Zusammenprall ihres jugendlich-naiven ’soulhunger’ mit Roms gewaltiger Kulturkulisse 570 . Durch Wills Anwesenheit weist die Ewige Stadt in verschlüsselter Botschaft aber auch den Weg aus dem Dunkel, denn ’light’, ’brightness’, ’transparent’, ’illuminating’ mit Bezug auf ihn umschreiben als Chiffren richtig verstandenen Wissens die Hoffnung auf größere innere Freiheit. Dorothea hatte sich vor dem hohen Fenster unwissentlich in das symbolisch ‚rechte Licht’ gesetzt. An diesem Punkt wird besonders deutlich, „[…] daß die Figuren sich in ihren dialogischen Interaktionen fast nie als unmittelbar in ihrem Wesen präsente und transparente Subjekte begegnen, sondern als ’cluster of signs’ wahrnehmen.“ 571 In Lowick, im Dunkel seiner Unkenntnis, “Ladislaw had made up his mind that she must be an unpleasant girl“(M, 80), wie auch Dorothea aus gleichem Grund wenig Schmeichelhaftes über Will dachte. Der Einfall des Lichts generiert für Will Bedeutung: Es wird zum ’new light’ und ’mysterious light’; Dorothea mutiert zur Lichtgestalt, zum ’angel beguiled’ beim romantisch-verklärten Klang der Äolsharfe. Die Gunst des fremden Ortes löst einen fundamentalen Wandel aus, lässt bisherige Vorstellungen als dumpfe Vorurteile erscheinen und weist das neue Sehen als Verstehen aus. Ihr Bild wandelt sich zur anbetungswürdigen Gestalt, als er ’divineness’ in ihr entdeckt. 572 570 ”The thing which seemed to her best, she wanted to justify by the completest knowledge; and not to live in a pretended admission of rules which were never acted on. Into this soul-hunger as yet all her youthful passion was poured [...].”(M, 29). Winkgens, Kulturelle Symbolik, 210. 571 572 Dorothea wird an mehreren Romanstellen in den Kontext religiöser Bildhaftigkeit gesetzt. “At the opening of the first chapter Dorothea’s sleeve is said to recall those ’in which the Blessed Virgin appeared to Italian painters’; later she is compared by the narrator to Palma Vecchio’s picture of Santa Barbara (ch.10); and later still her face after a sleepless night is said to have the ’pale cheeks and pink eyelids of a mater dolorosa’ (ch.80). And Naumann, an artist who specialises in ’the idealistic in the real’, wants to paint her as Santa Clara (ch.22).” (McSweeney, Middlemarch, 21f.). Die erste Assoziation der Protagonistin mit einer Heiligen erfolgt bereits im ’Prelude’. Es ist von ’these later-born Theresas’ die Rede. ”Here and there is born a Saint Theresa, foundress of nothing, whose loving heart-beats and sobs after an unattainable goodness tremble off and are 257 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Gleich bedeutsam ist Lichtmetaphorik in Dorotheas Wahrnehmung ihres Gesprächspartners. Sie bemerkt in dem als unstet und orientierungslos erachteten Vetter ihres Gatten “[…] a gush of inward light illuminating the transparent skin as well as the eyes“(M, 205; Hervorhebungen: K. Lang): Ihr gleich fünffacher Bezug auf Licht und Sehen ist Hinweis auf eine massive Bewusstseinsveränderung. Allwissend berichtet der Erzähler von Wills Haaren, die ‚Licht auszuschütten schienen’ und manchen Beobachtern als ‚Lichterkranz’ vorkamen, während Casaubon ‚strahlenlos’ dastand (vgl. M, 209). Seine licht- und glanzlose Gestalt ist real wie auch übertragen ohne Ausstrahlung, während Will als Quelle von Licht Hoffnung und Zukunft verkörpert; hier geht es nicht nur um Spiegelung von Empfindungen, sondern um Bedeutungsvertiefung durch handfeste Symbolik. Die Lichtmetaphorik, engstens mit dem für Eliot zentralen Wissensthema verknüpft, - “Epistemology [...] preoccupied George Eliot from her first writings to the last. All her novels are centrally about the persistent problems of knowing the world and other minds“ 573 -, weist auch auf die für sie wesentliche Fähigkeit der Empathie hin, Voraussetzung moralischen Handelns und nur über vertieftes Verständnis der anderen Individualität erreichbar. Vertieftes Verständnis jedoch erfordert Wissen jenseits von Beobachtung oder Experiment, muss mit Gefühl einhergehen und sich mit ihm verbinden: “It is painful to be told that something is very fine and not be able to feel that it is fine - something like being blind while people talk of the sky.”(M, 206) Casaubons Dilemma, über Wissen ohne Gefühl zu verfügen, verurteilt ihn zum Verharren im metaphorischen Dunkel: “[...] in bitter manuscript remarks on other men’s notions about the solar deities, he had become indifferent to the sunlight.”(M, 197) Dorothea andererseits fühlt sich vor sich selbst gedemütigt, so lange sie mangels geeigneter Kenntnisse die Welt nur über Gefühle erschließen kann, “[…] a mere victim of feeling, as if she could know nothing except through that medium“.(M, 198) 574 Das Fazit des Textes lautet deshalb: Nur der Verbund von Wissen und Gefühl ist erkenntnisfördernd und sinnstiftend. dispersed among hindrances, instead of centring in some long recognizable deed.”(M, Prelude, 3f.). 573 Suzy Anger, George Eliot and Philosophy, in: Levine, Cambridge Companion to George Eliot , 82. 574 In diesem Kontext zeigt sich die Parallelität der Schicksale von Ariadne und Dorothea. Theseus hatte nach Tötung des Minotaurus mit Ariadnes Garnknäuel den Weg aus Kretas Labyrinth gefunden und mit ihr heimlich die Insel verlassen, doch er ließ die Liebende allein auf Naxos zurück. Dorothea war in Ariadnes Rolle, als sie Casaubon Hilfe aus seinem labyrinthartigen Buchprojekt anbot. Im Gegensatz zu Theseus lehnt er Hilfe ab, aber in Übereinstimmung mit ihm lässt er Dorothea allein in der Opferrolle der verschmähten Liebenden zurück. ”When Casaubon dies, within fifteen months of the marriage, his will reveals his loss of trust in Dorothea: a codicil implies her involvement in a compromising relationship with Will. Abandoned by Casaubon as Ariadne was by Theseus, Dorothea is rescued by Will, as Ariadne was by Bacchus.”(Rischin, Beside the Reclining Statue, 1127). 258 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Um diese Suche geht es in Kapitel 22 in Naumanns Atelier und Dorotheas Einführung in die Kunst. Berühmten Gemälden, so hatte sie bekannt, trete sie mit kindlicher Ehrfurcht gegenüber, aber beim Versuch sie zu begreifen, verlören sie an Leben und erwiesen sich oft als fremd oder gar gewalttätig. Schon mit den Bildern ihres Onkels von seiner Grand Tour hatte sie diese Erfahrung gemacht: [...] these severe classical nudities and smirking Renaissance- Corregiosities were painfully inexplicable, staring into the midst of her Puritanic conceptions: she had never been taught how she could bring them into any sort of relevance with her own life.(M, 74) Schmerzhaft sei es, so bekennt sie nun, Offensichtliches nicht sehen und Großartiges nicht fühlen zu können. Nach Naumanns Einführung in die Malerei räumt sie ein, “[…] that she was getting quite new notions as to the significance of Madonnas“(M, 214) 575 , dass sie es aber angesichts verschlüsselter Symbolik vorziehe, Bilder nicht als Rätsel lösen zu müssen, sondern als Ausdruck des Schönen zu empfinden. Ihre ästhetische Grundeinstellung ist ein Glaube an das ideale Schöne und moralisch-ethisch an das ideale Gute und Edle. “I cannot help believing in glorious things in a blind sort of way“(M, 220), und so nimmt sie Anstoß an der Darstellung des Hässlichen, Brutalen oder Lächerlichen, ganz im Sinne puritanisch indizierter und verinnerlichter Denkvorgaben. Aus diesen weltanschaulich-religiösen Gründen bleibt ihr ästhetisches Verständnis selektiv - “Here and there I see what takes me at once as noble - something that I might compare with the Alban Mountains or the sunset from the Pincian Hill”(M, 220) - und folglich begrenzt. Im persönlich nicht überbrückbarem Kontrast stellt sie der kulturell überbordenden Stadtlandschaft Roms mit ihrer quicklebendigen und ambitionierten Kunstszene die schlichte, unprätentiöse Naturlandschaft gegenüber, die nicht nur Raum der Zuflucht und Geborgenheit vor erdrückender Fremdheit ist, sondern auch Ort zeitlos gültiger Gesetzmäßigkeiten des Ästhetischen und Moralisch-Ethischen. Den vielfältigen Themen und Stilen der Kunst in Rom steht die Heldin deshalb distanziert bis skeptisch gegenüber. Die Vorstellung, dass ein prinzipielles Anliegen von Kunst ein geistiges Ringen des Menschen mit sich und Anderen sein könnte, ist ihr weltanschaulich wesensfremd - was auch für George Eliot selbst gilt. ”If Art does not enlarge man’s sympathies, it does nothing morally; [...] the only effect I ardently long to produce by my writings, is that those who read them should be better able to imagine and to feel the pains and joys of those who differ from themselves in everything but the broad fact of being struggling erring human creatu- 575 “[...] Naumann does in small what Romanticism will soon do for Europe at large: he gives ’intelligibility and even a natural meaning’ to symbols of Christian art that had come to seem unintelligible and unnatural.” (Witemeyer, George Eliot, Naumann and the Nazarenes, 152). 259 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG res.”(Hervorhebungen: G.S. Haight) 576 Der Glaube an das ästhetisch Ideale gemäß Naumanns Devise vom ’idealistic in the real’ stößt bei ihr überdies dort an seine Grenze, wo das Gebot der Mitmenschlichkeit tangiert wird. 577 Wills Vorhaltung, sie sei wohl “a heretic about art generally“, pariert sie durch eine humanitäre Grundüberzeugung: “I should like to make life beautiful - I mean everybody’s life“.(M, 219) Trotz scheinbar gelungener Initiation in die Ikonografie der Nazarener wird eine Werteskala sichtbar, wonach nicht Perfektionierung der Kunst, sondern Verbesserung des Zwischenmenschlichen Priorität hat: “[…] all this immense expense of art that seems somehow to lie outside life and make it no better for the world, pains one.“(M, 219) Ästhetik und Moral sind in ihrer Weltsicht nicht zu trennen, und verlässlicher Ort der Verkörperung des Schönen, Guten und Edlen bleibt die Landschaft in ihrer natürlichen Gestalt. Wie unterschiedlich Reaktionen auf Kunst ausfallen können, wird an Casaubon und Will Ladislaw aufgezeigt. War Casaubon in den beiden ersten Landschaftsbildern als Ehemann, geistiger Führer und Gelehrter bis zu dem Punkt dekonstruiert worden, dass er ob seiner laokoonartigen Verstrickung in sein Buchprojekt nur noch Mitleid erregte, so wird er in Kapitel 22 in Bezug auf Charakter und Persönlichkeit regelrecht demaskiert. Wenn er Wills skurrile Schilderung seiner Skizze Tamburlaines im Stil der Nazarener 578 nicht als Persiflage seines utopischen ’Key to All Mythologies’ erkennt, liefert er selbst die Vorlage zu seiner Parodie, und als Naumann, angesteckt von Wills Spottlust, gar vorschlägt, er solle ihm als Thomas von Aquin Modell sitzen, trifft der Maler mit sicherem Gespür die charakterliche Schwachstelle: Casaubons Eitelkeit. Er ist letztendlich ein Kleingeist, gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit und Selbstsucht, während Will „[…] mit seinem signifikanten Vermögen in der Lage [ist], durch ein hermeneutisches Verstehen die gewachsene Struktur der Kunst wie der Historie als ein semiotisches System, als eine ’language’, zu erfassen und dabei Brücken zwischen dem Wissen um das Vergangene und der lebendigen Erfahrung der Gegenwart zu schlagen.“ 579 576 George Eliot, in: Gordon S. Haight, Hrsg., The George Eliot Letters, London: OUP, 1954-55, vol 3, 11, zit.n.: McSweeney, Middlemarch, 17. 577 “[...] the emphasis on human sympathy and the superiority of fellow-feeling reflects Wordswoth’s insistence on the primacy of the human heart by which we live.”(McSweeney, Middlemarch, 18). 578 “Dorothea’s ignorance of Christian iconography in Middlemarch clearly mirrors a stage in her creator’s own education. Nevertheless, George Eliot was almost certainly remembering Führich’s ‘Triumphzug’ when she attributed ‘The Saints drawing the Car of the Church’ to Naumann. By the time she wrote Dorothea’s story in 1869-72, Eliot had largely outgrown the naiveté of her first reactions to Nazarene art [...].” (Witemeyer, George Eliot, Naumann and the Nazarenes, 149). Winkgens, Kulturelle Symbolik, 216. 579 260 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH In der Atelierszene entgeht Dorothea aber nicht auktorialer Kritik. Bei allem Sinn für Mitmenschlichkeit und dem Glauben an das Gute und Edle ist ihr ein gerüttelt Maß an Blauäugigkeit und Weltfremdheit zu eigen. Wenn sie, trotz Wills urkomischem Tamburlaine und Naumanns feinsinnigem Spott, Casaubon immer noch als den Klügsten unter den Klugen ansieht - Folge ihrer “noble unsuspicious inexperience“(M, 224) -, zeigt sich das Unabgeschlossene ihrer Reifung, aber auch der auktoriale Wunsch nach Vermeidung einer Rolle weltentrückter Verklärung für eine sonst alle überragende edle Heldin. Ihren Charaktervorzügen wie Aufrichtigkeit, Loyalität und geistiger Neugier stehen Realitätsferne und illusionäres Wunschdenken gegenüber. ”Dorothea Brooke’s error in choosing to marry Mr. Casaubon ist the most salient example in Middlemarch of the destined misreading of the sign-cluster each neighbour represents.” 580 Dieser Hintergrund rechtfertigt Wills, von persönlichen Interessen nicht freien missionarischen Eifer, die Vereinnahmung der Angebeteten durch ein Klima der Erstarrung in Middlemarch zu verhinden. So erklärt sich seine Vehemenz gegen ihren “fanatism of sympathy“, ihren fatalen Hang “to make life a martyrdom“ und seine drastischen Bilder vom Hades, vom Minotaurus und von Lowick als Gefängnis und lebendiges Grab. 3.3.3.3 Bilder der Landschaft Italiens: Stimulanz zu geistiger Klärung und Reifung Die auf den ersten Blick scheinbar untergeordnete Rolle der Bezüge auf italienische Außenwelt in Gestalt von Natur- oder Kulturlandschaft in Middlemarch sagt wenig über deren narrativen Stellenwert aus, der hoch angesetzt werden muss, da sie als Identität formende Bestandteile der beiden jüngeren Protagonisten konzipiert sind. Die spärlichen Elemente der äußeren Handlung generell fungieren als Gerüst zur Entfaltung psychischer Abläufe. Beim erzählerischen Zugriff auf Innenwelt durch die Verwendung der ‚erinnerten Landschaft’ tritt Italien nicht nur als Raum intrapsychischer Parallelität oder Doppelung zwecks Seelenspiegelung in Erscheinung, wie dies für Dickens’ Landschaftsbilder am englischen Schauplatz gilt, sondern als Raum eines qualitativ Neuen und Fremden, der Ort der Seelenexploration wird. Als Stimulans zur Ingangsetzung gedanklicher und gefühlsmäßiger Klärung im Verbund mit einem Zuwachs an epistemologischer und sozialer Kompetenz schafft Italiens Landschaft die Voraussetzungen zu innerem Wandel auf dem Weg zu geistig-seelischer Reifung. 581 Hillis Miller, The Roar on the Other Side of Silence, 139. 580 581 Diese Erfahrung hatte bereits Goethe in Neapel artikuliert: „Wenn ich Worte schreiben will, so stehen mir immer Bilder vor Augen des fruchtbaren Landes, des freien Meeres, 261 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die Position der Italienbilder im ersten Romanviertel ist bedeutsam für die Konzeptualisierung der weiblichen Hauptfigur und ihrer Trägerrolle im Romantext als Ganzem. Ihre Persönlichkeit und ihre Handlungsmaximen spielen in vier der fünf Handlungsstränge direkt oder indirekt eine wichtige Rolle, sodass der Prozess ihres Werdens ein zentrales narratives Anliegen sein musste - “[…] the central story of Middlemarch is the story of Dorothea Brooke’s ’awakening consciousness’“ 582 -, um die der Heldin zugedachte konstruktive gesellschaftliche Rolle nach ihrer Rückkehr argumentativ zu begründen. Ausmaß und Tragweite der durch Italien hervorgerufenen Veränderungen in der Protagonistin treten eklatant zu Tage in ihrer ganz und gar unterschiedlichen Wahrnehmung ein und derselben englischen Landschaft: Lowick Manor mit Garten. In der einzigen Naturschilderung vor der Italienreise betritt Dorothea erstmalig Casaubons Anwesen, an dessen Seite sich ein kleiner Park mit Bäumen befindet und so freien Blick auf Felder und Wiesen gewährt, die sich in der Abendsonne oft in einen See zu verwandeln scheinen: This was the happy side of the house, for the south and east looked rather melancholy even under the brightest morning. The grounds here were more confined, the flower-beds showed no very careful tendance, and large clumps of trees, chiefly of sombre yews had risen high, not ten yards from the windows. The building of greenish stone, was in the old English style, not ugly, but small-windowed and melancholy-looking: the sort of house that must have children, many flowers, open windows, and little vistas of bright things to make it seem a joyous home. In this latter end of autumn, with a sparse remnant of yellow leaves without sunshine falling slowly athwart the dark evergreens in a stillness without sunshine, the house had an air of autumnal decline [...]. Dorothea, on the contrary, found the house and grounds all that she could wish [...].(M, 73f.) Sie ist in der Phase ihrer Entwicklung, in der sie mit befremdlichem Eigensinn vom Ideal umfangreichen Wissens und überragender Klugheit für sich selbst träumt - in Mrs Cadwalladers spöttischen Worten „[…] a girl who would have been requiring you [Sir James] to see the stars by daylight“(M, 59) - und glaubt, dieses Ziel in der Ehe mit Casaubon verwirklichen zu können: “[He] is irradiated for her by the light of his imagined knowledge. His great project suggests a world of interconnection and exploration which satisfies her heart.” 583 Der ungepflegte Garten mit seinen düsteren Pflanzen und Farben, das Haus mit den kleinen, geschlossenen Fenstern, der duftigen Inseln, des rauchenden Berges, und mir fehlen die Organe, dies alles darzustellen.[…] Was ich mir immer sagte, ist eingetroffen: daß ich so manche Phänomene der Natur und manche Verworrenheit der Meinungen erst in diesem Lande verstehen und entwickeln lerne.“(Goethe, Italienische Reise, 273f.). 582 Andrew Leng, Dorothea Brooke’s ’Awakening Consciousness’ and the Pre-Raphaelite Aesthetic in Middlemarch, in: Journal of the Australian Universities Language and Literature Association, Bd. 75, 1991, 61. Beer, George Eliot, 173. 583 262 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH die freudlos-lebensabgewandte Atmosphäre und die melancholische Stille über dem Ganzen entspricht klischeehaft ihrem idealisierten Wunschort eines Gelehrten. ”Dorothea imagines that an intellect (which, in any case, she much overrates) can compensate for the masculine heart and body which her feminine nature will later crave.” 584 Das Landschaftsbild zeigt, dass sie im Rückzug auf ihr Selbst und unter Missachtung von Natur und Körperlichkeit ihr Ideal in einem Dasein sieht, das ein gehöriges Maß an Lebensferne und freudloser Selbstisolation billigend in Kauf nimmt. Die Landschaft fungiert als Ausdruck der Psyche und als Wunschbild im Zeichen einer höchst problematischen Lebensplanung. Nach der Rückkehr der Casaubons aus Rom führt der Text dem Leser genau denselben Naturausschnitt wieder vor Augen, und die Landschaft erweist sich wiederum als perfekter Resonanzraum von Innenwelt, doch dieses Mal unter völlig veränderten Vorzeichen. In scharf konturierten Kontrasten und ausdrucksstarker Bildhaftigkeit wird die Diskrepanz zwischen Dorotheas Jugendlichkeit mit ihren berechtigten Erwartungen und ihrer tatsächlichen Lebenslage aufgezeigt: A light snow was falling as they descended at the door, [...] she saw the long avenue of limes lifting their trunks from the white earth, and spreading white branches against the deep and motionless sky. The distant flat shrank in uniform whiteness and low-hanging uniformity of cloud.[...] She was glowing from her morning toilette as only healthy youth can glow, there was gem-like brightness on her coiled hair and in her hazel eyes; there was warm red life in her lips, [...] a sentient commingled innocence which kept its loveliness against the crystalline purity of the outdoor snow, [...] the still white enclosure which made her visible world, [...] the vapour-walled landscape.[...] Her blooming full-pulsed youth stood there in a moral imprisonment which made itself one with the chill, colourless, narrowed landscape [...].(M, 273f.) Das von Dorothea in Rom erlebte Licht und die Farbigkeit des Südens, die sich auffallend parallel in ihrer jugendlichen Erscheinung spiegeln, kontrastieren scharf mit der Eintönig- und Farblosigkeit der weißen englischen Szenerie. Den römischen Eindrücken grandioser Vielfalt bis an die Grenze des Erträglichen stehen in Lowick solche von bedrückender Monotonie und Bewegungslosigkeit gegenüber. Unübersehbar sind die visuellen Kontraste zwischen Landschaft und Figur: Der beklagenswerten Abwesenheit von Farbe, Bewegung, Licht und Leben in der in Winterstarre verfallenen Natur steht das lebensvolle morgendliche Bild Dorotheas gegenüber. Ihre blutroten Lippen, ihr funkelndes Haar, die schmiegsamen Locken und sanftbraunen Augen sind als Erscheinungsmerkmale in jedem ihrer Details stumme Signale einer brachliegenden Vitalität, die ihr Körper an die Umwelt sendet. Cockshut, in: Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, 1710. 584 263 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG In diesem Kontext einer Kontrastierung von blutleerer, totenähnlicher Starre der Landschaft und lebensbejahender, pulsierender Lebendigkeit in der Figur mutiert das Wort ’sentient’ zum Vorstellungskern: Der zentrale Zeichenbotschaft des äußeren Bildes über Empfindungsfähigkeit und auch Empfangsbereitschaft mündet in die augenfällige Symbolik über Tod und Leben ein, die durch zwei gegenpolige Wortfelder in die Semantik des Textes eingeschrieben ist und seinen Bedeutungsgehalt generiert: Den Begriffen ’snow’, ’motionless’, ’uniform’, ’uniformity’, ’enclosure’, ’vapourwalled’, ’imprisonment’, ’chill’, ’colourless’ stehen die Formulierungen ’glowing’, ’morning’, ’healthy youth’, ’gem-like brightness’, ’coiled hair’, ’hazel eyes’, ’warm red life’, ’loveliness’, ’blooming full-pulsed youth’ gegenüber und erzeugen antizipatorisch den Eindruck zweier sich ausschließender Welten. Der deprimierendste Eindruck ist die Erkenntnis, dass die Landschaft als ’cluster of signs’ in ihren Bildinhalten just jene Botschaften aussendet, vor denen Will in Rom in beschwörender Eindringlichkeit gewarnt hatte: Lowick wird metaphorisch, mit Casaubon als Hausherrn und als Ehemann, der augenfällig und symbolisch zu neuem Leben erwachten jungen Frau zum geistigen Gefängnis und lebendigen Grab. Die Dimensionen der äußeren Natur sind geschrumpft, alles hat sich verengt, der Blick ist verstellt, und es haben sich Mauern gebildet: Die winterliche Landschaft in Lowick visualisiert in ihrer Phänomenalität Wills Schreckensvision von ’enclosure’ und ’imprisonment’ in bestürzender Weise. Die Außenwahrnehmung der berichtenden Erzählinstanz ist, transponiert in Innenwelt, deckungsgleich mit der psychischen Wahrnehmung der Hauptfigur selbst: Den Blick aus dem Fenster erlebt sie als ’dreary oppression’ und als ’nightmare’(M, 275). Subjektiv erfasste Landschaftsphänomene erweisen sich als exakt abbildendes Zeichengefüge aktueller seelischer Verfassung. Als ‚externalisierter Seelenraum’ versinnbildlicht die Winterlandschaft mit Casaubons Wohnstatt im Umkehrschluss die Richtigkeit des von der Protagonistin in Italien eingeschlagenen Weges der geistigen Öffnung angesichts dieses Gartens und dieses Hauses, die eine abgestorbene Welt darstellen. So markieren die beiden Landschaftsbilder von Lowick Manor den entscheidenden Wandel in Dorotheas Entwicklung: Der Italienaufenthalt erweist sich in der Retrospektive als Stimulanz zu geistiger Klärung und Reifung, was nicht nur eine radikale Abkehr von Illusionen zur Folge hat, sondern auch ein körperlich-sinnliches wie auch ein geistig-seelisches Erwachen der jungen Frau: Sie beginnt, aus den gesellschaftlich konstruierten und den selbst auferlegten Restriktionen ihrer vormals beschaulichen Welt herauszutreten. Emotional ist der einstige Wunschort Lowick Manor zum Albtraum geworden, epistemologisch freilich bedeutet er einen Schritt zu größerer Wirklichkeits- und Wahrheitsnähe. Die argumentative Rolle der Italienbilder ist es, diesen fundamentalen Wandel psychologisch erklärbar zu machen. Es gibt eine thematische 264 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Kohärenz der drei Bilder, die sich in Stufen der äußeren wie der inneren Handlung manifestiert. Dorotheas Konfrontation zu Anfang mit der erdrückenden Vielfalt Roms und die stumme Begegnung mit Ladislaw und Naumann in der Skulpturensammlung löst Verwirrung und Gefühlsaufruhr aus, aber das folgende Gespräch mit Will eröffnet beiden einen Weg aus Unwissenheit zu besserem Verstehen. In einer dritten Stufe kommt es im Atelier Naumanns und danach wieder im Gespräch mit Will zur Erörterung einer individuellen Positionsbestimmung über Natur, Kunst, Wissen, Moral und den Sinn des Lebens. Art und Ausmaß der Veränderungsvorgänge in der Protagonistin verdeutlichen die argumentative Bedeutsamkeit der Italienbilder im Textganzen. Sie tritt mit der naiven Selbstsicherheit der gutgläubigen Landadeligen die Italienreise an und kehrt mit profunden Zweifeln an ihrer Ehe und ihren Träumen, aber einem Zuwachs an geistiger, emotionaler und sozialer Kompetenz zurück. Wenn sie zum ersten Mal Casaubons Gefühlsnot erkennt und seine Grenzen als Gelehrter und Ehemann 585 wahrnimmt, stärkt sie gleichwohl ihren Glauben an persönliche ästhetisch-moralische Leitbilder. Ganz im Sinne Goethes - „die Natur ist doch das einzige Buch, das auf allen Blättern großen Gehalt bietet“ 586 - glaubt sie mehr als zuvor an die Natur, das Schöne und das Edle -, was sich auch später nicht mehr ändern wird. “Dorothea’s spiritual and emotional maturation is just beginning during her stay in Rome. But her aesthetic development ends there, for after her return to England the subject of her learning the language of art is dropped.” 587 Ihre in Rom artikulierte humanitäre Grundüberzeugung, das Gute durch aktive Mitmenschlichkeit bewirken zu können, bleibt ihre Maxime bis zum Romanende. 588 Ein punktueller Blick aus der Nahsicht auf die drei Landschaftsbilder illustriert die Dimension innenweltlicher Wandlungsvorgänge. Das erste Bild bzw. Kapitel 20 mit der eindrucksvollen Szene der bitterlich schluchzenden Dorothea ist umso bestürzender, als aller äußerer Anschein gegen eine Krise spricht: Sie ist jung vermählt auf ihrer Hochzeitsreise in 585 “Casaubon is a failure as a man first, as a scholar second. The narrator, particularly in the early sections in Rome, is careful to point out that Casaubon, even in the midst of intellectual disaster, could have made a success of his marriage, had his nature not been narrower [...].”(Alley, The Subterranean Intellectual of Middlemarch, 349). Goethe, Italienische Reise, 257. 586 McSweeney, Middlemarch, 32. 587 588 Barbara Hardy unterzieht die Italienkapitel in Bezug auf die Geschlossenheit der Romanstrukur einer negativen kritischen Wertung: “For the reader, the Roman excursion makes an appropriate confusion in Middlemarch contributing to its structural instability. It is a novel which diffuses the singleness and stability of novelistic character, eventually breaking up Dorothea’s stable ego into the plurality of ’many Dorotheas’, and forcing Dorothea’s experience of a confused and fractured sense of identity on the charactercentred reader, for whom Middlemarch disappoints the reading-identification so stably and intensely offered by The Mill on the Floss.”(Hardy, A Need for Foreignness, 12). 265 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG eine der schönsten Städte Europas. Wenn es trotzdem zum Kulturschock der heftigen Art kommt, in dem das Fremde sogar als das Kranke empfunden wird - der rote Vorhang im Petersdom wirkt “like a disease of the retina“ 589 - schälen sich zwei Botschaften aus dem unverständlichen Zeichenkomplex der Fremde heraus: Ihr Leben ist geprägt von Defiziten in ihrer Person, ihrer Ehe und ihrem sozialen Umfeld - “the unfit preparation of women for life’s opportunities" 590 -, und es geht um die Notwendigkeit eines Wandels. Auffallend ist, dass narrativ die Gründe für Dorotheas Schock in Rom einzig und allein im Vorgang des Sehens verortet sind. Es sind nicht Menschen, Institutionen oder Ideen, die den inneren Tumult auslösen, sondern allein die mit dem Auge erfasste Wirklichkeit, mit deren Hilfe gewohnte Seh- und Denkschemata aufgebrochen werden. Die Verschränkung von Außen und Innen erfolgt über Bilder des Landschaftsausschnitts, der als selbständiges und in sich schlüssiges Ganzes aufgefasst wird (vgl. 1.3.4). Durch diesen ontologischen Bedeutungszuwachs der Landschaft kommt ihr die zentrale Funktion zu, den Boden für ganzheitliche Neukonstruktion aufzubereiten. 591 Im zweiten Italienbild bzw. Kapitel 21 rückt der symbolische Antagonismus von Blindheit und Sehen, Nichtwissen und Wissen, Nichtbegreifen und Verstehen anhand des Gegensatzes von Dunkel und Licht als elementare optische Erfahrung sogar in den Mittelpunkt. Nach der seelischen Erschütterung der Heldin, in deren Verlauf sich der Fundus mitgebrachter Deutungsmuster als unzureichend erwies, erfolgt der Anstoß zur Erneuerung auch in diesem Falle, ganz in Ruskins Sinne, durch das Auge und das Sehen. Das bekannte Spezifikum der südlichen Landschaft, von mehr und hellerem Licht durchdrungen zu sein als die nordische, wird argumentativ und symbolisch sinnvertiefend zugunsten Italiens als Ort der Stimulanz zu geistig-seelischer Klärung und Reifung verwendet. “Rome in Middlemarch is an opening for foreignness that stands for George Eliot’s 589 “’Pathology’ is disorder and the loss of control, the giving over of the self to the forces that lie beyond the self. It is because these forces actually lie within and are projected outside the self that the difference is so readily defined as pathological.”(Gilman, Difference and Pathology, 24). Beer, George Eliot, 171. 590 591 “All the optical passages in fact contain elements which show that for Eliot seeing is never ’merely’ optical. Seeing is never simply a matter of identifying correctly what is seen [...]. Seeing is always interpretation, that is, what is seen is always taken as a sign standing for something else, as an emblem, a hieroglyph, a parable.”(Hillis Miller, Optic and Semiotic in Middlemarch, zit.n. Winkgens, Kulturelle Symbolik, 241) Die Rolle des Auges und des Sehens bei Eliots Darstellung intrapsychischer Wirklichkeit zeigt den Einfluss Ruskins, ist aber auch wie ein Vorgriff zu deuten auf philosophischpsychologische Konzeptionen des 20. Jahrhunderts. (vgl. Boehm, Wiederkehr der Bilder, in: ders. Was ist ein Bild? , 11ff. u. passim). Eine fundierte Beschreibung der Modernität Eliot’scher Kunst hat Meinhard Winkgens vorgenommen. (vgl. Winkgens, Kulturelle Symbolik, 180ff). 266 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Europeanism and internationalism, and for Marian Evans’s discontent with the English provincial Midlands. Rome changes the characters, and startles the reader, appearing in a more concentrated form than the foreign scenes and images or actions in her other novels and stories.” 592 Das Aufgreifen und Umsetzen von Anstößen zu geistiger Öffnung bleibt freilich Sache des jeweiligen Subjekts im Rahmen seines individuellen Potenzials: Ladislaw, Naumann und vor allem Dorothea nehmen sie auf, Casaubon jedoch ignoriert sie völlig. Das Thema innenweltlicher Öffnung ist Kern des dritten Italienbildes bzw. des Kapitels 22 über die Vereinbarkeit des Idealistischen mit dem Realen, wie Naumann sich ausdrückt, der an eine Erneuerung der Kunst im christlichen Geist nach dem Vorbild spätmittelalterlicher Meister glaubt. 593 Ladislaw, für Henry James “the true hero of Middlemarch“ 594 , hat, wie er begeistert kundtut, nach langer Suche in Rom seinen Weg zu inspirierender Sicht gefunden: Die Stadt mache den Geist geschmeidig, bereite ihm Freude und rege die Fantasie an, habe ihm einen neuen Sinn für Geschichte vermittelt anstatt den Gang der Menschheit in Karteikästen zu ordnen: Die Stadt habe ihn gelehrt, konstruktiv zu denken. Genau das tut Casaubon nicht, sodass weder Klärung noch gar Reifung in ihm stattfinden: Spätestens in Rom hätte er den Forschungsstand seiner Zeit als Voraussetzung zu erfolgreicher Arbeit zur Kenntnis nehmen können, anstatt die Pose des weltfremden Gelehrten zu kultivieren und in lächerliche Eitelkeit zu verfallen, wofür die jüngere Generation nur noch Spott und Parodie übrig hat. Dorothea möchte aus Überzeugung zwar so konstruktiv wie Will sehen können, doch selbst auferlegte und gesellschaftliche Beschränkungen erschweren eine ernsthafte Beschäftigung mit abstrakten Dingen, was für eine Frau um 1830 weder als notwendig noch als schicklich galt. ”The novel is most particularly concerned with the problems of women excluded from work and from fulfilling activity, sequestered by their education.“ 595 Zum anderen sind tief sitzende Leitbilder ihrer Identität von nachhaltiger Wirkung: Der Glaube an das Gute, Edle und Schöne, wie es die Natur verkörpert, und die Bereitschaft, sich bis zur Selbstaufgabe für das Wohl Anderer einzusetzen, jener “fanatism of sympathy“, dem Will sein Credo des Genießens gegenüberstellt. Es kommt nicht zur Übernahme von Wills Position, und im Wesentlichen besteht der Eindruck fort, dass “Dorothea is naively idealistic, intellectually precocious, and childishly retarded as a woman“ 596 . Trotzdem: In Italien beginnt Hardy, A Need for Foreignness, 1. 592 593 “[...] many of her early opinions [on Nazarene art] persist in the mature analysis of Middlemarch, where they receive a more sophisticated evaluation.” (Witemeyer, George Eliot, Naumann, and the Nazarenes, 149; vgl. auch Fußnoten 547 u. 578). Haight, George Eliot’s Eminent Failure, in: Adam, This Particular Web, 36. 594 Beer, George Eliot, 162. 595 Cockshut, in: Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, 1709. 596 267 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG in ihr ein Prozess weltanschaulicher Umorientierung, der in veränderter Prioritätensetzung resultiert, und es gibt einen Verstehenszuwachs in Sachen Kunst. Diese geistig-seelische Klärung und Reifung 597 in Italiens Landschaft erfolgt über Bilder, denn “Images and vision are central, in George Eliot’s art“ 598 und “To paint a picture [...] was Eliot’s favourite figure of speech for the effective realization of vision in literature.“ 599 Dem Auge, ”the most valued and intellectual of our senses“ 600 , maß sie fundamentale Bedeutung beim (intellektuellen) Erschließen und (ganzheitlichen) Verstehen der Welt zu, und auch für G.H. Lewes war ’vision’ eine Metapher für klares Denken schlechthin, weil es sich vorzugsweise in Bildern vollziehe. 601 Diese Einschätzung von Auge und Bild als Erkenntnisinstrumente konstituiert die Bedeutung des Romans als “[…] a deeply mature work in which George Eliot has moved from »scientia« - knowledge - to »sophia«, wisdom.“ 602 3.3.3.4 Die Verhäkelung von Natur, Kunst, Wissen, Ästhetik und Moral als Grundlage Eliot’scher Weltanschauung In einem Roman wie Middlemarch mit dem programmatischen Ziel einer Analyse der englischen Provinzgesellschaft und der Präponderanz dafür geeigneter Erzählformen wie Dialog, Bericht, Kommentar und einer auktorialen Erzählerfigur zur Sichtbarmachung des komplexen Sozialgeflechts liegt es nicht auf der Hand, dass Landschaft, üblicherweise deskriptiv dargestellt, als Medium weltanschaulicher Überzeugungen dient. Die ‚erinnerte Landschaft’ mit ihren Bildern von ausgesuchter Aussage- und Beweiskraft ermöglicht jedoch ein enges Verhältnis zur auktorialen Sinn- und Werteorientierung. Gerade unter dieser Prämisse ist auffällig, dass die Dichotomie von Natur- und Kulturlandschaft, letztere in Middlemarch ausschließlich in Gestalt der Stadtlandschaft Roms, eine weit ausgeprägtere Rolle spielt als in den italienischen Landschaftsbildern von Corinne und Little Dorrit. In Eliots Roman ist die Gegensätzlichkeit bis zu einem Grad eines Antago- 597 “The general shape of Dorothea’s passage will not be surprising to students of nineteeth-century literature. It is a re-enactment of the movement - from youth to maturity, from egotism (‘a tumultuous preoccupation with her personal lot’, ch. 20) to the realisation of an equivalent ‘centre of self’ in others, from isolation to community - that is commonly found in central works of the Victorian period.”(McSweeney, Middlemarch, 103). Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 35. 598 Ebd., 38. 599 Ebd., 36. 600 Vgl. a.a.O. 601 Knoepflmacher, Fusing Fact and Fiction, 69. 602 268 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH nismus ausformuliert. In der Naturlandschaft ist für beide Hauptfiguren verortet, was Dorothea mit psychischem Gleichgewicht und mit zeitlosen, die vielen Kunststile Roms transzendierenden ästhetischen Prinzipien assoziiert, nämlich die klassischen Ideale des Guten, Edlen und Schönen, während sich für Will damit romantisch verklärte Sehnsucht nach Reinheit und Aufrichtigkeit der Gefühle verbindet, wofür die Äolsharfe steht. Im Gegensatz zu dieser Statik im Sinne von Stabilität verkörpert die Kulturlandschaft Dynamisches, Bewegung, Wandel und Erneuerung. So erweist sich im fiktionalen Kontext die italienische Landschaft in produktiver und komplementärer Dualität als tragfähige Plattform zur Vermittlung weltanschaulicher Überzeugungen. Am Handlungsort Italien werden vier Themen explizit angesprochen und in ihren Implikationen über Landschaft visualisiert: 1. die Andersartigkeit des Fremden als geistige Herausforderung; 2. die Problematik eines adäquaten Wissens; 3. die Zielsetzungen und das Verständnis von Kunst; 4. das Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und sozialem Umfeld. Auslösendes Moment ist stets die über das Auge und die entstehenden Bilder sich vollziehende selbstexplorative Begegnung mit Landschaft. Im ersten Themenbereich offenbart Dorotheas dramatischer Kulturschock jedoch eine Polyvalenz des Landschaftserlebens, denn zur Verwunderung des Lesers wird die psychische Folgewirkung einer visuellen außenweltlichen Zerstückelung in ihrer Tragweite relativiert. Not that this inward amazement of Dorothea’s was anything exceptional: many souls in their young nudity are tumbled out among incongruities and left to ’find their feet’ among them [...]. Some discouragement, some faintness of heart at the new real future which replaces the imaginary is not unusual.(M, 194) Der Heldin beklagenswerte Situation erweist sich aus Erzählersicht als schmerzhafter, aber gängiger Entwicklungsschritt. Der wichtige Begriff ist ’new real’, der einerseits aus subjektzentrierter Abhängigkeit befreit, andererseits das Entdecken neuer Wirklichkeit umschreibt. Diesen Schritt der Initiation in eine neue Weltsicht lässt die Autorin ihre Protagonistin, in Übereinstimmung mit persönlichen Erfahrungen, nicht in England, sondern in Italien vollziehen. “There is no doubt that the longing for foreignness was originally a strong assertion of her need for independence and self-discovery [...]. As soon as she starts on her travels, a petulant xenophilia is evident. Settling down in Geneva, she ’can only think with a shudder of returning to England ... a land of gloom, of ennui, of platitude’, though [...] she admits to a touch of ‘Heimweh’, calls it by its foreign name and declares it is for people not places.” 603 Vor dem Hintergrund dieser harschen Kritik an England als Ort des Trübsinns und der emotionalen Hardy, A Need for Foreignness, 1f. 603 269 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Kargheit, des kolonialen Machtstrebens und der geistigen Überheblichkeit 604 ergibt sich fast zwangsläufig, als Folge einer ’refusal of anglocentricity’, die Wahl Roms als positiv konnotierter Ausgangspunkt geistigen Erwachens und nicht die Middlemarchs, wo solch ein Prozess erzählerisch schwieriger, psychologisch weniger glaubhaft und aus Sicht der Autorin entgegen persönlicher Erfahrungen hätte angesiedelt werden müssen. Die römische Kulturlandschaft in ihrer Fremd- und Andersartigkeit fungiert nicht nur als wünschenswerte Herausforderung zu gedanklicher Neuorientierung, sondern schafft auch den dafür nötigen Freiraum: ”[…] it was a source of greater freedom to her that Will was there“(M, 210), und er spricht von Dingen in der Stadt “[…] only to be seen by one who could move about freely“.(M, 212) Im Umkehrschluss heißt dies, dass in Middlemarch weder dieser Freiraum noch eine Initiierung individueller Erkenntnisvorgänge infolge omnipräsenter Vorgaben möglich sind, ein Sachverhalt, den Wills leidenschaftlich vorgetragene Metaphorik von Lowick Manor als Gefängnis und Grab in dramatisch zugespitzter, im Kern aber zutreffender Bildhaftigkeit umschreibt. Im zweiten Themenschwerpunkt geht es um die für Eliot wesentliche, in vielfachen Varianten thematisierte Frage des Wissens. Mr Brooke verfügt über breites Wissen, scheitert aber bei dessen zweckorientierter Anwendung; Lydgates empirischer Wissensdrang ist vielversprechend, versandet jedoch in einer Karriere als Kurarzt, und “[he] regarded himself as a failure: he had not done what he once meant to do“(M, 835); Farebrother ist kundiger Entomologe, gewährt jedoch niemandem Einblick in seine Sammlung; Fred Vincy studiert Theologie, findet aber keinen Bezug zu akademischen Studien; Casaubon forscht unermüdlich, verfängt sich aber heillos in einem selbst gestrickten Netz, “a solipsist, the only inhabitant of his own universe“ 605 ; Ladislaw weiß viel und interessiert sich für alles, kann sich aber gerade deshalb beruflich nicht entscheiden. Die Figur, in der sich die Problematik des Wissens in der spannendsten Weise bündelt, ist Dorothea. Sie verfügt weder über das Allgemeinwissen ihres Onkels noch über das Faktenwissen Lydgates oder das Spezialwissen Casaubons, strebt aber in ihrem ’soul-hunger’ nach dem ’completest knowledge’.(M, 29) In ihrem jugendlich verklärten Blick verkörpert Casaubon dieses Ideal, doch seine Teilnahmslosigkeit an Roms Geschichte und seine Hilflosigkeit gegenüber der Kunst der Stadt endet für die wissbegierige junge Frau unvermeidlich in seiner Dekonstruktion: “Dorothea must be brought to Rome so that she can reject Mr Casaubon’s sterile notions of reality.“ 606 Organizistische Bilder von Leben, Verfall und Tod markieren das Ende ihrer falsch verstandenen Wissensgläubigkeit: Vgl. ebd., 3f. 604 Kiely, The Limits of Dialogue in Middlemarch, in: Buckley, Victorian Fiction, 111. 605 Knoepflmacher, Fusing Fact and Fiction, 62. 606 270 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH What was fresh to her mind was worn out to his, and such capacity of thought and feeling as had ever been stimulated in him by the general life of mankind had long shrunk to a sort of dried preparation, a lifeless embalmment of knowledge.(M, 196) Das Interesse an Epistemologie mit dem Schwerpunkt des richtigen Erkennens der Welt und des Anderen zieht sich wie ein roter Faden durch die Italienbilder. “Her novels explore with a subtlety new to the history of English literature the devious ways of the mind, the natural and psychological and social impediments to knowing or speaking the truth.” 607 Ein axiomatischer Kernsatz Eliot’scher Überzeugung ist, dass Denken und Fühlen vorbehaltlos miteinander verbunden sein müssen, um wahre Erkenntnis zu erlangen. Präzise Wahrnehmung und empirisch-positivistisches Denken erachtet sie als notwendig, aber nicht ausreichend, um Wissen in Begreifen zu wandeln. “George Eliot is not committed to science as the only route to knowledge and she never surrendered her view that feeling is a source of knowledge.” 608 Im Verhältnis zur Kirche sprach sie von ’the truth of feeling’ und hielt sich so den Weg zum Christentum frei, ohne Dogmen akzeptieren zu müssen. 609 Analog zum multiperspektivischen Blick 610 ergänzte sie, zur Vermeidung eindimensionaler und potenziell fehlerhafter Wege der Erkenntnisgewinnung, die objektive Suche durch den subjektiven Blick. Die Italienbilder in Middlemarch exemplifizieren diese Grundüberzeugung, dass einseitiger Wissensbegriff in unzulänglicher Wirklichkeitserfassung enden müsse. Casaubons Desinteresse an römischer Geschichte und Kunst und sein fruchtloses Umherirren als Forscher in “[…] ante-rooms and winding passages which seemed to lead nowhither“(M, 195) werden als Folge einer verkümmerten und weitgehend abgestorbenen Fähigkeit dargestellt, Denken und Fühlen in Einklang zu bringen. Solch verengte Weltsicht ist im Licht des Eliot’schen Wissenbegriffs letztlich die wahre Ursache für Dorotheas Realitätsschock und Weinkrampf im ersten Italienbild, denn ihrer Bestürzung, Rom nicht in den Kategorien von Daten und Epochen zu verstehen, steht ihre beschämende Hilfslosigkeit gegenüber, wenn “[…] she was humiliated to find herself a mere victim of feeling“(M, 198): Intellekt und Gefühl, Wissen und Verstehen sind zu diesem Zeitpunkt für sie noch getrennte Bereiche. Der entscheidende Durchbruch gelingt erst “[…] with that Levine, Cambridge Companion to George Eliot, 10. 607 608 Anger, George Eliot and Philosophy, in: Levine, Cambridge Companion to George Eliot, 85. “George Eliot like Lewes and Comte, was concerned with the problem of how to reconcile objective and subjectice viewpoints, and she believed that feeling played a central role in this reconciliation.”(a.a.O.). Vgl. Levine, Cambridge Companion to George Eliot, 6. 609 610 “The multiplotted nature of many of her novels enacts in the very form her refusal to allow the artificial dominance of a single perspective.[...] Her sophisticated gestures towards what in contemporary theory we would call indeterminacy have led some modern critics to see her as anticipating deconstructionist ideas.”(ebd., 15). 271 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG distinctness which is no longer reflection but feeling“(M, 223) beim Entdecken der inneren Not ihres Ehemannes im Ringen mit seinem Buchvorhaben. Als Will gesprächsweise den Dichter “[…] a soul in which knowledge passes instantaneously into feeling“(M, 223) nennt, kann sie im Licht neuer Einsicht aus voller Überzeugung zustimmen: “I understand what you mean about knowledge passing into feeling for that seems just what I experience.“(M, 223) Dorotheas Werdeprozess in Italien zeigt die offenkundige Verbindung von Eliots epistemologischem Interesse mit einem moralischen Gebot. Ohne die Entdeckung von Casaubons “sad consciousness in his life“ und eines “equivalent centre of self“(M, 211), also ohne die Fähigkeit zur Einfühlung in die Seelenlage Anderer - “In her thought, sympathy and altruism are unquestioned goods“ 611 -, bleibt Wissen ohne Lebensbezug und somit ohne Relevanz. “George Eliot’s epistemology rests on the belief that morality is a necessary condition for full knowledge. Only a sympathetic disposition will allow one to escape subjective bias, to see from other viewpoints, and so attain a certain impartiality.” 612 Der Wandel von egotistischer zu größerer altruistischer Sichtweise als Einsicht, dass es nicht allein soziale, sondern auch intrapsychische Not gibt, ist der entscheidende Entwicklungsschritt im Denken der Heldin bis ins ’Finale’: Italien hat „[…] die affektive Stärke der ihre eigentliche Natur kennzeichnenden sympathetisch-altruistischen Emotionsstruktur“ 613 zur Entfaltung gebracht. Axiome Eliot’schen Denkens spiegeln sich nicht ausschließlich in der Kulturlandschaft wider, obwohl Dorothea mit dem Hineinwachsen in eine epistemologisch-moralische Perspektivik dort jene charakterliche Statur gewinnt, die sie mehr als jede andere Figur im Roman als Verkörperung Eliot’scher Überzeugungen im Sinne einer ’religion of humanity’ kenntlich macht. 614 Es bedarf jedoch der Ergänzung durch die Naturlandschaft, wie ihre Initiation in die Kunst gezeigt hat. Beim dritten Thema der Italienkapitel ergibt sich jedoch für sie ein nicht auflösbarer Gegensatz zwischen Kunst und Natur, der letztlich ein Gegensatz zwischen Ästhetik und Moral ist: “[…] when I begin to examine pictures one by one, the life goes out of them, or else is something violent and strange to me“.(M, 206) Naumann gelingt zwar die Vermittlung von ’intelligibility’ und ’natural meaning’ seiner Kunst, aber es ist nur ein partieller Durchbruch: “[…] there is so much I don't know the reason of - so much that seems to me a consecration of ugliness rather than beauty.“(M, 220) Dorotheas ästhetische Rezeption stößt, analog Anger, Eliot and Philosophy, 80. 611 Ebd., 86. 612 Winkgens, Kulturelle Symbolik, 278. 613 614 1854-55 übersetzte Eliot Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums. ”The emphasis on ‘sympathy’ is distinctly Feuerbachian” (Levine, Cambridge Companion to George Eliot, 80), und “Feuerbach’s subjective, humanised Christianity powerfully appealed to Eliot”. (McSweeney, Middlemarch, 25). In diesem Kontext erklärt sich „[...] her view that feeling is a source of knowledge”. (Anger; Eliot and Philosophy, 85). 272 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH zu ihrer intellektuellen Reifung, wiederum an die Grenze von Gefühl bzw. Moral. Wenn Kunst nicht die Fähigkeit zum Mitfühlen erweitere, leiste sie moralisch nichts, war Eliots tiefe Überzeugung. 615 In ihrer Werteordnung rangiert Moral vor Ästhetik, Natur vor Kultur, Mitmenschlichkeit vor Kunstgenuss, das Gute, Schöne, Edle vor perfektionierter Kunstfertigkeit. “Dorothea values nature [...] more highly than art, and her priorities reflect certain moments in George Eliot’s own museum-going.” 616 Roms Kultur- und Kunstlandschaft ist keineswegs eindimensional Sinnträgerin mit Leitfunktion, sondern ein ambivalentes Phänomen: Es bedarf individueller Positionsbestimmung zur Orientierung in der Vielzahl der Zeichen. Will Ladislaw löst dieses Problem für sich in bravouröser Weise, und wenn er die disparate Vielfalt der Stadt als geistig anregend, das Fragmentarische als konstruktiv und ihre Geschichte als Ganzheit empfindet, durchläuft er bei näherem Hinsehen einen Lern- und Klärungsprozess, der demjenigen Dorotheas nicht nachsteht. Noch in Rom beschließt er, sein ruheloses Wanderleben und die Abhängigkeit von Casaubons Gönnerschaft aufzugeben und sich einem Beruf zuzuwenden. Durch die Impulse der Kunst- und Kulturlandschaft Rom und ihr Sinn generierendes Potenzial wird aus dem unorthodoxen Jüngling, “[…] calling himself Pegasus, and every form of prescribed work as ’harness’“(M, 82), ein vernünftiger junger Mann, der Ordnung in sein unkoordiniertes Leben bringt. 617 Nach seiner Rückkehr nach England sieht er „[…] in seinem Engagement für die politische Reform die Möglichkeit, durch Rede und Schrift den bis daher von ihm verfolgten Weg einer auf seine subjektive Individualität beschränkten dilettierenden Selbstkultivierung in nützliche Formen politisch-gesellschaftlichen Handelns einmünden und sie im Dienste einer sich historisch herausbildenden Vernunft furchtbar werden zu lassen.“ 618 Im Gegensatz vgl. George Eliot, Letters, zit.n. McSweeney, Middlemarch, 17. 615 Witemeyer, George Eliot and the Visual Arts, 152. 616 617 Wie bedeutsam Wills Schritt ist, zeigt ein Vergleich mit Mr Brooke, seinem späteren Arbeitgeber, dessen Werdegang dem Wills ähnlich ist. Aus Will wird bald ’an ardent public man’ und Mitglied des Parlaments, was Mr Brooke verwehrt bleibt. „Statt zum kulturell produktiven Subjekt eines durch das Schriftmedium eröffneten welterschließenden Wissens zu werden, ist er zum bedauernswerten Objekt und Opfer einer ihn überwältigenden Wissenslawine degeneriert, die in seinem Kopf nur Chaos, Desorientierung, Fragmentarisierung und hohle Bildungszitate als Spur hinterläßt.“ (Winkgens, Kulturelle Symbolik, 226). Auch Goethe diagnostizierte für sich, in Rom einen Reifungsprozess durchlaufen zu haben: „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angekommen.[…] Der Geist wird zur Tüchtigkeit gestempelt, gelangt zu einem Ernst ohne Trockenheit, zu einem gesetzten Wesen mit Freude. Mir wenigstens ist es, als wenn ich die Dinge dieser Welt nie so richtig geschätzt hätte als hier. Ich freue mich der gesegneten Folgen auf mein ganzes Leben.“ (Goethe, Italienische Reise, 167 u. 179). Letzterer Gedanke spiegelt sich in Eliots fiktionaler Konzeption ihrer Protagonistin und deren Rolle im Erzählgeschehen bis zum Romanende. Winkgens, Kulturelle Symbolik, 220. 618 273 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG zu Will hat freilich für Dorothea die Natur in Gestalt der Landschaft mit immanenter Seinsstatik Leitfunktion: Die Albaner Berge und der Sonnenuntergang am Monte Pincio verkörpern, so wie auch der Himmel und die Erde in der Campagna, zeitlos gültige ästhetische Maßstäbe, die in ihrer Naturverortung keiner Rechtfertigung bedürfen. Bemerkenswert an dieser Grundüberzeugung ist die sichtbar werdende Verhäkelung von Kunst, Natur, Wissen, Ästhetik und Moral: “Eliots humanistic economy of salvation and her aesthetic theory become one.“ 619 Der Grund ihres anhaltenden Interesses für die Nazarener und danach die Präraffaeliten - “[…] she followed the work of both brotherhoods with the utmost interest“ 620 - liegt in deren Verknüpfung von Ästhetik und Religion. Insbesondere sind es die kunsttheoretisch-philosophischen Auffassungen Ruskins, die der eigenwilligen Verhäkelung oder Verschränkung von Kunst mit Moral und Ethik zugrunde liegen. “It is difficult to overestimate Ruskin’s influence upon her theory of art and her way of looking at pictures.” 621 Kunst war für Eliot von fundamentaler Bedeutung, denn “She knew that art can help one to see and feel, and indeed she valued art chiefly because it can” 622 , und obwohl sie Lessings Auffassung über die Vorzüge der Wortgegenüber der Bildkunst teilte, “[...] the novel displays what rich stuff the visual arts can be for literary representation: for depicting incipient romantic desire, for anticipating narrative action, and for evoking female sexual desire.” 623 Über Kunst werden sogar wichtige Charaktere definiert, so wie auch Kunst selbst über ihre Relevanz für die Menschen kritischer Wertung unterzogen wird. 624 Eliots Vertrautheit mit den Ideen Lessings, der Romantiker, Nazarener 625 , Präraffaeliten 626 und vor allem Ruskins resultierten in einer fundierten Positionierung speziell in Bezug auf die Malerei. In Middlemarch ist sie der Test für moderate Liberalität der englischen Provinz, wie McSweeney, Middlemarch, 35. 619 Witemeyer, Eliot and the Visual Arts, 24. 620 Ebd., 16f.; 621 “Her letters and her entries in journals suggest that she judged painting by a Ruskinian combination of moral and aesthetic criteria. These include greatness of subject, truthfulness of representation, adequacy of expression and handling of formal elements such as color and perspective.” (ebd., 24; vgl. dazu Ruskins Position in 2.2.3). Ebd., 156. 622 Rischin, Beside the Reclining Statue, 1129. 623 Vgl. Witemeyer, Eliot and the Visual Arts, 150. 624 625 “She read ’Overbeck on Greek art’ in Munich 1858 - not Johann Friedrich Overbeck, the Nazarene painter, but Johannes Adolf Overbeck, author of ‘Geschichte der Griechischen Plastik für Künstler und Kunstfreunde’(1857-58)."(ebd., 18). ”[She] modelled the figure of Naumann on the Nazarenes Fuhrich and Overbeck [...].”(Leng, Dorothea Brooke’s Awakening Consciousness, 54). 626 “[...] the Pre-Raphaelite painter whom Will most resembles is Ford Madox Brown, [the] only link with the Nazarenes [...]. Having met Overbeck herself in 1860, during the 1860s Eliot also met most of the English Pre-Raphaelites.”(a.a.O.). 274 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH sich in Mr Brooke zeigt, für wache Sensibilität und Lernbereitschaft, wie Dorothea sie unter Beweis stellt, für Begeisterungs- und Wandlungsfähigkeit, wie Will demonstriert - ”[…] art functions as an agent of change in Will, thereby becoming a vehicle for narrative dynamism.“ 627 -, aber auch für Sterilität und menschliches Versagen, was bei Casaubon offenkundig wird. Vor allem aber bot das Thema Kunst im vierten Themenschwerpunkt, dem Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und sozialem Umfeld, der Autorin die Möglichkeit, auf latenter Sinnebene den Aspekt Erotik und Sexualität zu thematisieren, der auf der manifesten Textoberfläche auffallend ausgespart bleibt 628 . So erfährt der Leser zum Beispiel nichts durch den ansonsten beredten Erzähler über Dorotheas “dreamlike strangeness of her bridal life“(M, 192), doch mit Hilfe der Zeichenfunktion der Kunst überschreitet Eliot die Grenzen viktorianischer Bigotterie. Wenn der Text über Ariadne von “voluptuousness of her beauty“ und “drapery folding around her with petal-like ease and tenderness“(M, 188f.) spricht, stellt er die Marmorstatue in einen Kontext des Sinnlichen, der in der schemenhaften Bildhaftigkeit des von Blättern umschlossenen Blütenkelches gar den Akt sexueller Vereinigung evoziert. Dass diese Beobachtungen weder untergeordnet noch beiläufig gemeint sind, wird an Naumanns Worten sichtbar, wenn er die Statue “in the complete contentment of its sensuous perfection“(M, 189) zum sinnlich empfangsbereiten Wesen verlebendigt. Das entstehende bedeutungsintensive Bild von Weiblichkeit mit dem Bekenntnis zu Schönheit, Genussfähigkeit und letztlich Sexualität enthält aber genau die Charakteristika, die in Dorotheas Erscheinungsbild fehlen. Diese auffallende Abwesenheit wird in Naumanns Bemerkung - ”I think she looks almost what you call a Quaker“(M, 189) - angesprochen und dann bildlich intensiviert: ”I would dress her as a nun in my picture“(M, 189), ”the most perfect young Madonna I ever saw“(M, 190). Entgegen rigoros verhüllter und unterdrückter Weiblichkeit in der optischen Erscheinung ist Dorothea weder Nonne noch geschlechtslose Heilige, sondern Ehefrau - und zudem in ihren Flitterwochen. Dieser Kontrast zwischen Schein und Sein legt im Subtext Dorotheas anerzogene und selbst auferlegte Repressionen offen, wobei sich die ins Unbewusste reichende Diskrepanz in Naumanns scharfsichtigem Malerauge gar als aufoktroyierte Persönlichkeitsspaltung darstellt: “antique form animated by Christian sentiment - a sort of Christian Antigone - sensuous force controlled by spiritual passion“(M, 190). Wenn Dorothea trotzdem als reifere Frau nach England zurückkehrt, dann aufgrund ihres erkennenden Sehens, wozu auch der Blick auf die ‚Liegen- Rischin, Beside the Reclining Statue, 1125. 627 628 “[...] by invoking the silent visual rhetoric of ancient sculpture, Eliot is able to represent the erotic female body far more explicitly than Victorian conventions of literary language would permit.”(ebd., 1128). 275 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG de Ariadne’ in ihrer ’voluptuousness’ gehört, nicht aber die Erfahrung ehelicher Sexualität mit Casaubon. Eliots Verständnis von Kunst in ihrer sozialen Relevanz stand unter Ruskins Einfluss und seiner Vergötterung und Vergöttlichung der Natur (vgl. 2.2.3.). Für ihn ist Natur Ursprung von Erkenntnis und heiliger Wahrheit; “[...] the joy of nature seemed to me to come of a sort of hearthunger, satisfied with the presence of a Great and Holy Spirit.” 629 Sein von Wordsworth, Keats - „Beauty is truth, truth beauty“(Ode on a Grecian Urn) - und Carlyles Idealismus geprägtem Naturverständnis - “the true seeing is within“ (M, 191) - ließ ihn die Natur als Schöpfung begreifen, deren Schönheit der Künstler darzustellen habe. Unter dem Diktum ”All great art is praise“ und unter der Vorgabe, dass Menschen eine Sehnsucht nach Schönheit innewohne, habe klares Sehen nicht nur epistemologische, sondern auch ästhetisch-moralische Funktion. ”To see clearly is poetry, prophecy, religion - all in one,” und “all truth and beauty are to be obtained by a humble and faithful study of nature.” 630 Eliots italienische Landschaftsbilder unterstreichen den nachhaltigen Einfluss Ruskins. Die metaphorischen Antagonismen von ’blindness’ und ’light’, ’stupidity’ und ’imagination’, die Rolle klaren Sehens als Erkenntnisweg zur Innenwelt, das ambivalente Verhältnis zu Kultur und Kunst, die Natur als Fluchtstätte in innerer Not und Ort zeitlos gültiger Ästhetik, das Entdecken von Mitgefühl und altruistischer Solidarität als Gegensatz zu solipsistischem Egotismus: All diese miteinander verhakten Themen sind in Eliots italienischen Landschaften Ausdruck einer Sicht auf Menschen und Welt in hoher Übereinstimmung mit Ruskin. Es ist jedoch die Dichotomisierung von Natur- und Kulturlandschaft, worin die Autorin symbiotisch und komplementär das Persönlichkeitsprofil ihrer Protagonistin verortet, die zu einer ’Saint Theresa’ hätte werden können, wenn die Umstände ihrer Zeit ein “[…] epic life where there was a constant unfolding of far-resonant actions“(Prelude) ermöglicht hätten. Ihre Epoche - die Romanhandlung umfasst die Jahre 1829-32 - war jedoch als Umfeld für Heldinnen (und Helden) dieser Art nicht mehr geeignet, aber „[…] the effect of her being on those around her was incalculably diffusive“(Finale). 3.3.4 Zusammenfassung 1. Kennzeichnend für den Schauplatz Italien ist das Zurücktreten des Erzählers von der Lokalität des Raumes und der Aktualität der Zeit: Eine deskriptive Landschaftsdarstellung als augenblicksgebundenes Ruskin, Modern Painters, 367f. 629 McSweeney, Middlemarch, 15. 630 276 G EORGE E LIOT : M IDDLEMARCH Erleben findet nicht statt. Italiens sichtbare Natur erscheint als ‚erinnerte Landschaft’ und ist komprimiertes Ergebnis von Reflexion mit besonderer Beweiskraft im argumentativen Erzählfluss. Diese Darstellung der Außenwelt in der Retrospektive ist gekennzeichnet durch hohe Aussagerelevanz, worauf ihr erzählstrategischer Wert als Instrument des analytisch-epistemologischen Zugriffs zur Seelenexploration beruht, die für die Figuren selbst oft zur selbstexplorativen Begegnung mit ihrer Innenwelt wird. Erst die erinnerten Bilder der ‚Liegenden Ariadne’ entfalten eine intensive Wirkung auf die Psyche der Protagonistin, wobei Eliot auf latenter Sinnebene die mit Rücksicht auf viktorianische Konventionalität auffallend ausgesparten Aspekte von Erotik und Sexualität thematisiert. Italiens ‚erinnerte Landschaft’, ohne die Kennzeichen englischer Naturbeschreibungen im Roman wie naturalistische Detailiertheit, Interesse an Farbwirkung und pittoresker Szenerie sowie Implementierung der Natureindrücke zu aktueller Seelenspiegelung, offenbart das Interesse an psychologisch effizientem Zugriff. 2. Die Italienkapitel exemplifizieren mehr als andere Romanteile die Interdependenz der Wahrnehmung von Außen- und Innenwelt. Die vorherrschenden Erzählformen des Dialogs und des auktorialen Erzählerberichts in Verbindung mit der Erzählstrategie der ‚erinnerten Landschaft’ fungieren als variable Mittel zur Visualisierung intrapsychischen Befindens. Das Leben des Einzelnen wie auch das Wirken der Gesellschaft sind in einem organizistischen Verständnis komplexe, fluide Phänomene in einem Gewebe von Zeichen, das monokausal und monoperspektivisch nicht fassbar ist. 3. Die Italienbilder stellen vier Themen in den Vordergrund: a) die Andersartigkeit des Fremden als geistige Herausforderung; b) die Suche nach adäquatem Wissen; c) die Zielsetzung und das Verstehen von Kunst; d) das Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und dem sozialen Umfeld. In der Auseinandersetzung mit diesen Themen vollziehen sich in den beiden Hauptfiguren Klärungs-, Lern- und Reifungsprozesse, die für die folgenden drei Viertel des Gesamttextes bedeutsam sind. 4. Middlemarch als Inbegriff kleingeistigen Status- und Besitzstrebens stellt vor der Heldin Italienaufenthalt den Ort weltanschaulicher Sinngebung und überschaubarer Sinnhaftigkeit dar. In der Begegnung mit der Fremde über Visualität, die Eliot überraschend modern begreift, zerbricht diese ganzheitliche Außenwelt mit der Folge einer Fragmentarisierung des holistischen Weltbildes. In der Beschwörung einer drastischen Bilderwelt von Gefängnis und Grab, Hades und Minotaurus in Bezug auf Middlemarch wird der Weg aus erstarrtem Denken zu größerer geistiger Freiheit, Bejahung von Emotionalität, Lebensfreude und Genussfähigkeit gewiesen. 277 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 5. Das frühe Einfügen der Italienkapitel in den Roman mit ihren auffallend häufigen Landschaftsbezügen unterstreicht argumentativ die Notwendigkeit eines inneren Wandels in der Heldin durch Einfluss der Fremde. Landschaft als Medium zur Sichtbarmachung intrapsychischer Prozesse erweist sich dabei als Zugang zur Sphäre des Unbewussten. Die Bilder der italienischen Landschaft sind nicht nur Folie bzw. Spiegelfläche von Innenwelt wie in Corinne oder Demonstrationsobjekt bzw. Seismograph wie in Little Dorrit, sondern Impulsgeber, Auslöser bzw. Initialzündung, Katalysator bzw. Stimulans; sie haben stimulierend-auslösende Funktion. 6. Die Dichotomie von Natur- und Kulturlandschaft in Middlemarch ist in ihrer Gegensätzlichkeit bis zum Grad eines Antagonismus ausformuliert, erweist sich jedoch als produktive Dualität in symbiotischer Ergänzung. Naturlandschaft ist Ort zeitlos gültiger ästhetischmoralischer Prinzipien und Inbegriff von Sehnsucht; Kulturlandschaft ist ambivalent in ihrem Zeichencharakter und bedarf individueller Positionsbestimmung. 7. Italiens Landschaft fungiert auch als fiktionale Umsetzung auktorialer weltanschaulich-philosophischer Überzeugungen und als deren sinnkonstitutive Manifestation. Die symbolisch überhöhte Metaphorik von Dunkel, Licht und Sehen zur Umschreibung eines angemessenen Wissensverständnisses spiegelt Eliots zentrales Interesse an epistemologischen Fragestellungen wider. Erst Wissen und Gefühl ermöglichen ein Verständnis des Anderen als Vorausetzung für ’sympathy’ und ’fellow-feeling’, die ihrerseits Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns sind. Dieser Verbund von Wissen, Gefühl und Empathie, von Epistemologie und Moral im Sinne einer ’religion of humanity’ ist kennzeichnend für Eliots Weltsicht. 8. Die Verhäkelung von Natur, Kunst, Wissen, Ästhetik und Moral in Übereinstimmung mit Ruskins Natur- und Kunstverständnis erklärt die ambivalente Haltung der Protagonistin zur tradierten Kunst in Rom. Kunst hat für sie nicht nur ästhetischen, sondern auch moralischen Leitlinien zu folgen, die dem Guten, Schönen und Edlen verpflichtet sind. Für sie wie auch für die Autorin sind diese Leitprinzipien in der Natur verortet und bedürfen keiner weiteren Legitimation. Priorität hat nicht die Perfektionierung der Kunst in neuen Stilrichtungen, sondern die Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen. Zu lebensgestaltender Sinnstiftung sind Ästhetik und Moral, wie auch Wissen und Gefühl, nicht voneinander trennbar. 278 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED 3.4 George Gissing: The Emancipated 3.4.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung Als 1890 bzw. 1893 (in revidierter Fassung) The Emancipated erschien, hatte George Gissing (1857-1903) noch heute genannte Titel unter seinen 17 Romanen, darunter Workers in the Dawn (1880), The Unclassed (1884) oder The Nether World (1889) veröffentlicht, aber die Mehrzahl von ihnen wie auch von den über 100 Kurzgeschichten 631 , seine Monografie Charles Dickens: A Critical Study (1898) und das Reisebuch By the Ionian Sea: Notes of a Ramble in Southern Italy (1901) lag noch vor ihm. Hochbegabt und hochgebildet lud sich Gissing, “[…] an obsessively hardworking and prolific artist, obsessed with his vocation, proud and lonely because of his humble origins“ 632 , einerseits aus Überzeugung, andererseits aus finanziellen Zwängen als Folge leichtfertig vertaner Berufschancen - “At less than 18, he seemed on his way to a brilliant academic career in the humanities“ 633 - ein gewaltiges Arbeitspensum auf, dem er sich trotz Krankheit bis zu seinem frühen Tod unterwarf. Die Rezeption von Gissings literarischem Schaffen schwankt zwischen deutlichem Lob, zeitweilig gänzlicher Nichtbeachtung und neu erwachender Anerkennung. Noch zu Lebzeiten gelang es ihm nach entbehrungsreichen Anfängen, die er in New Grub Street (1891) und Born in Exile (1892) thematisierte, neben Hardy, Meredith und George Moore als führender Autor Englands anerkannt zu werden. Jedoch, “Gissing’s works never enjoyed a vast circulation. His earnest tone, his cheerless view of human affairs alienated the vast majority of lowbrow novel-readers who would not allow themselves to be depressed by their reading and who strongly adhered to the view that a novel must be entertaining and con- 631 Vgl. Martha Vogeler, The International George Gissing Conference - 9-11 September 1999 at Amsterdam, in: The Gissing Journal, vol XXXV, No 4, Oct 1999, 4. Ousby, Cambridge Guide to Literature, 395. 632 Robert L. Selig, George Gissing, New York: Twayne Publishers, 1995, 3. 633 “The crisis occurred in the academic year 1875-76 [...]. In his relationship with the 17year-old Marianne Helen (‘Nell’) Harrison, he tried to impose fiction upon a brutal reality. Prostitutes worked the bars that surrounded Cobden house, the temporary home of the college in Gissing’s first year [where he and his friend Black] both caught gonorrhea from Nell. Still instead of taking warning from his sexual fiasco, Gissing tried to reform the young girl by providing her with money, [so] he stole cash, books and coats from the Owens College cloakroom.“ Nach Gissings Verurteilung zu Gefängnis, Verlust seines Shakespeare-Stipendiums und der Relegation “[...] the college administration raised a charitable fund for shipping him off to the United States away from Nell and shame“.(ebd., 3ff.). 279 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG clude on a happy note.“ 634 Allein stimmungsmäßig und atmosphärisch gelang ihm kaum Kontakt zu größerer Leserschaft, denn „Gissings Romane hinterlassen einen bitteren Eindruck“ 635 : “Victorian pessimism entered English fiction in the novels of George Gissing (1857-1903), George Moore (1852-1933) und Thomas Hardy (1840-1922)“ 636 , und “[…] he soon became labeled as a depressing writer.“ 637 Rund 50 Jahre nach seinem Tod erreichte die Gissing-Rezeption einen Tiefpunkt: “So Russell Kirk could well ask in 1950: ’Who Knows George Gissing? ’ Indeed by then he had virtually sunk into oblivion.” 638 Allerdings “Since 1960 he has received increasing critical attention” 639 , wie u.a. die neunbändige Ausgabe The Collected Letters of George Gissing (1990-97) und die ‘International George Gissing Conference’ 1999 in Amsterdam belegen. Die Folge ist, dass [...] “it has become impossible to ignore the high status he now enjoys by rights and which resembles the position granted to him long ago by his contemporaries, as one of the three leading English novelists of the late nineteenth century, together with Meredith and Hardy.” 640 Die ambivalente Rezeption Gissings spiegelt eine konfliktbehaftete Struktur seiner Persönlichkeit und häufig sogar antinomisch anmutende Disposition seiner Psyche wider. “The Gissing I knew was essentially a specially posed mentality, a personal response, and his effect upon me was an extraordinary blend of a damaged joy-loving human being hampered by inherited gentility and classical education. He craved to laugh, jest, enjoy, stride along against the wind, shout, ‘quaff mighty flagons’. But his upbringing behind the chemist’s shop in Wakefield had been one of oppressive gentility, where ‘what will the neighbours think of us? ’ was more terrible than the thunder of God. [...] This poor vexed brain - so competent for learning and aesthetic reception, so incompetent, so impulsive and weakly yielding under the real stresses of life [...]” 641 tat sich schwer, die disparaten Gegebenheiten seiner Lebenssituation, die einerseits aus hoher Begabung, idealistischer Orientierung, ihn bedrückender sozialer Herkunft und anhaltendem Geldmangel bestanden, andererseits aus den Herausforderungen des zeitgenössischen Diskurses und den drängenden sozialpolitischen Problemen der Epoche, schwerpunktmäßig in seinem literarischen 634 Pierre Coustillas, Introduction, in: ders./ Colin Partridge, Hrsg., The Critical Heritage, London/ Boston: Routledge & Kegan Paul, 1972, 5. v. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 1, 539. 635 Wagner, English and American Literature, 104. 636 Selig, George Gissing, 115. 637 638 Pierre Coustillas, Recent Work and Close Prospects in Gissing Studies: A Bibliographical Survey, in: English Literature in Transition, vol 32, No 4, 1989, 407. Ousby, Cambridge Guide to Literature, 395. 639 640 Bouwe Postmus, Introduction, in: ders., Hrsg., A Garland for Gissing, Amsterdam: Editions Rodopi B.V. - Costerus New Series 138, 2001, i. 641 H.G. Wells, Experiment in Autobiography, zit.n. Laurie DiMauro, Modern British Literature, 555. 280 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Schaffen unter einen Hut zu bringen. Trotz unbestrittener intellektueller Kompetenz und eines wachen Problembewusstseins werden Gissings Verdienste oft auf die eines präzisen Beobachters und Zeugen der Wirklichkeit reduziert: „In den psychologisch hellsichtigen und realistischen Milieuzeichnungen, vornehmlich der unteren Klassen und des Mittelstandes, liegt jedoch auch der erhebliche dokumentarische Wert von G.’s Erzählungen.“ 642 Es ist freilich durchaus möglich, die Romane auch im Blick auf eine intendierte Problematisierung zeitgeschichtlicher Missstände zu lesen: “Among their other radical insights, Gissing’s novels offer a critique of the Victorian idea of success. They suggest that failures in life may well be people of superior worth who are the victims of a society that grants success only to the meretricious and insensitive.” 643 Genaueres Hinsehen weist Gissing gar als widerborstigen Denker und unbequemen Zeitgenossen aus: “He dismissed the notion that mass education could enlighten the masses in a satisfactory way. He denied that material improvements could, by themselves, create the good society. He disputed the secular faith that science always works for human contentment. He doubted that any profit system could adequately reward creative-minded persons. He questioned moral teachings about traditional marriage and he wondered whether intelligent men and women would be better off without the existing institution.[...] Gissing’s books rejected the culture’s lingering faith in mankind's steady progress. In return, most late Victorians rejected Gissing’s books.“ 644 Damit entfalten Gissings Romane eine umfassende, den Zeitgeist ins Mark treffende Kritik, ohne dass er seiner Leserschaft kompensatorisch erbauliche im Sinne von aufbauenden Perspektiven einer optimistischen oder zumindest zuversichtlich nach vorne blickenden Weltsicht vermittelte, so wie es Dickens in Little Dorrit durch sein Credo der Mitmenschlichkeit und Eliot in Middlemarch durch ihre ’religion of humanity’ taten. Was Gissing verehrte, war zum einen die griechische und römische Antike, deren Spuren er in By the Ionian Sea ehrfürchtig wie auf frommer Pilgerfahrt nachging und zum anderen die bildende Kunst früherer Epochen - “Gissing not only dreaded the future; he loathed the present and pined for the past“ 645 -, als deren gemeinsamer Nenner sich ein idealisiertes Menschenbild herausschält. Aber zwiespältig aufgrund einer gewaltigen inneren, ungelösten Spannung blieb Gissings Haltung auch in dieser Hinsicht: “The effect of Gissing’s work is one of disturbing indeterminacy Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 2, 1116. 642 643 Jacob Korg, The Paradox of Success and Failure in the Novels of George Gissing, in: The Gissing Newsletter, July 1983, 19(3), 16. Selig, George Gissing, 115f. 644 645 David Grylls, Determinism and Determination, in: Modern Language Quarterly, vol 45, No 1, 1984, 63. 281 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG in its simultaneous appeal to, and subversion of humanist idealism.“ 646 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht sehr, dass der Autor in literaturkritischen Stellungnahmen selbst aus berufenem Munde eine ambivalente Wertung erfuhr. Nachhaltig folgewirksam war zweifelsohne Virginia Woolfs Urteil - “an imperfect novelist, but a highly educated man” 647 -, jedoch wurde die Qualität der Romane auch anders gesehen: “By the end of World War II, George Orwell declared George Gissing one of the few English novelists able to depict ‘credible human beings’ with ‘everyday motives’.” 648 Genaueres Hinsehen auf beide Urteile zeigt, dass sie nicht in Widerspruch zueinander stehen müssen, was sich im Blick auf The Emancipated, “[which] deserves an important place among Gissing’s works“ 649 , bestätigen lässt. Mangelnder Stringenz der Handlungsführung, Unschärfen in der Charakterzeichnung, übergroßer Detailfülle, einem antikenlastigen Bildungsbegriff und einem antiquiert-patriarchalischen Verständnis der Geschlechterrollen stehen beeindruckende Landschaftsbeschreibungen, anspruchsvolle Dialoge, ein anerkennenswertes Gespür für psychische Problemlagen (insbesondere der Frau), berechtigte Kritik an soziokulturellen Zwängen und ethisch-moralische Ernsthaftigkeit unter Betonung der Verantwortung des Individuums gegenüber. Der Roman ist nicht, wie die davor erschienen Texte, mit vordergründiger Sozialkritik befasst, sondern mit tiefer reichender Zeitkritik und wendet das Augenmerk zum einen auf die Verkümmerung geistiger und emotionaler Fähigkeiten durch puritanische Bigotterie - der Roman sollte ursprünglich den Titel The Puritan tragen -, zum anderen auf misslungene Emanzipation durch falsch verstandene Erziehung. Die Heldin Miriam Baske erscheint in ihrem viktorianischen Kontext durchaus als glaubwürdiger Charakter mit dem heute wie damals verständlichen Motiv, durch Befreiung aus gesellschaftlichen Fesseln den Weg zu eigener Identität, zu Liebe und persönlichem Glück zu finden. In dem Roman geht es um die Emanzipation der Frau aus einer für sie durch mangelnde Erziehung und religiöse Bevormundung geschaffenen Position der permanenten Gängelung und Unterdrückung, die nicht nur offenkundig und sichtbar Freiheitsrechte beschneidet, sondern, was Gissing vor allem kritisierte, die Entfaltung der Individualität und des persönlichen Potenzials be- oder gar verhindert. Er ist von der intellektuellen Gleichheit der Geschlechter überzeugt, beklagt die gesellschaftlich gewollte Benachteiligung der Frau durch verweigerte Bildungschancen und 646 John Sloan, George Gissing: The Cultural Challenge, London: The MacMillan Press, 1989, 150. Virginia Woolf, The Common Reader, zit.n. DiMauro, Modern British Literature, 556. 647 Selig, George Gissing, 116. 648 Ebd., 41. 649 282 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED diskriminierende Vorurteile 650 , was in seinen Augen eine der Ursachen der sozioökonomischen Misere seiner Zeit sei und damit eine dauerhafte Gefahr für den sozialen Frieden darstelle. Im Roman zeigt er offene Sympathie und “respect for the courageous, self-improving female“, 651 verkörpert durch Miriam Baske, während die eingangs bereits emanzipierte, durch glanzvolle Auftritte ihr gesamtes Umfeld betörende Cecily Doran infolge leichtfertigen Verhaltens ihr Lebensglück verspielt. Gissings eigenwillige, im narrativen Kontext bis an die Grenze des Befremdlichen ausgedehnte Position ist, dass es der willensstarken und charakterfesten männlichen Führung bedarf, um einer Frau die nötige Orientierung zur sinnstiftender Lebensgestaltung zu geben, so wie es die männliche Hauptfigur Ross Mallard im Falle Miriams tut, von der er rigoros die Anerkennung seiner maskulinen Leitfunktion einfordert. Selbstbestimmung und Gedankenfreiheit, geistige Selbständigkeit und Unabhängigkeit sind nicht Teil seines Verständnisses von Emanzipation der Frau. Des Weiteren gilt gar, “Gissing sympathized with female emancipation only as it promised to serve the ends of ‘very intelligent and highly educated men’ such as himself [...]. Gissing considered efforts to educate lower-class women as largely counter-productive [and] denounced the lower middle-classes as being ‘congenitally incapable’ of what he considered ‘true’ education.” 652 Gissing, unpopulärerweise Apologet charakterlicher Härte gegen das eigene Subjekt, lässt Miriam wahre Bildung erst durch eisernes Selbststudium der Literatur, der klassischen Antike und der Kunst erreichen, womit sie sich mühevoll den Weg zu ihrem Lebensglück nach seinen Vorstellungen bahnt. Mallard besitzt bereits diese Bildung, gerät aber durch die verführerische Faszination der Landschaft, Atmosphäre und Lebensweise um Neapel, personifiziert als ‚Hexe des Südens’, gefährlich aus der Bahn und muss durch jahrelange Askese und Selbstdisziplin beweisen, dass er Gedanken und Gefühle wie vor seinem Italienaufenthalt stets unter Kontrolle hat. Narrativ hat sich der Autor die Aufgabe gestellt, durch ein Sondieren und Ausloten psychischer Tiefenlagen die innenweltliche Befindlichkeit seiner zu Wandlung fähigen Figuren darzustellen. Darüber hinaus geht es auch um das Aufspüren und Auffinden von treibenden Kräften, von Impulsgebern und Fermenten, um geistig-emotionale Prozesse in Gang zu setzen. Zur Bewerkstelligung dieser Aufgabe bedient sich Gissing 650 Im Umfeld der Evolutionstheorie entwickelte sich das, “[...] what Cynthia Russett has labeled 'sexual science' - that body of late nineteenth-century evolutionary theory, more or less influenced by Darwin, purporting to explain how biology determined women’s inferiority [...].”(Jann, Selecting Heroines: George Gissing and ‘Sexual Science’, 1). 651 Barbara Rawlinson, Devil’s Advocate - George Gissing’s Approach to the Woman Question, in: The Gissing Journal, vol XXXIII, No 2, April 1997, 1. Jann, Selecting Heroines and 'Sexual Science', 3. 652 283 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Bilder der Landschaft Italiens, die er in großartiger Beschreibung zu subtiler psychologischer Instrumentalisierung nutzt. 3.4.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.4.2.1 Der Weg durch die Altstadt Neapels, der Gang nach Pozzuoli und der Tag in Baia: Zauber und Versuchung der Landschaft des Südens In den ersten vier Kapiteln des zweiteiligen, insgesamt 33 Kapitel umfassenden Romans, dessen Schauplätze mehrheitlich in Italien liegen, geht es in den Landschaftsbezügen zunächst um die Schönheit der Natur bei Neapel in Verbindung mit der Milde des Klimas, der Sonne des Südens, der lärmenden Geschäftigkeit der Einwohner und ihrer scheinbaren Sorglosigkeit und Lebensfreude. Der überwiegende Teil der Personen englischer Herkunft fühlt sich durch diese Eigenschaften angezogen. Sie befinden sich entweder auf Gesellschafts-, Vergnügungs- oder Bildungsreise, wobei bei den jüngeren Männern noch Anklänge an die Tradition der Grand Tour als Initiation in die Welt der Gesellschaft und des Geistes eine Rolle spielen mögen (vgl. 2.1.2), oder aber sie haben, wie Edward Spence und seine Frau Eleanor, England verlassen, um in Neapel auf unbestimmte Zeit ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Die Motive der Italienaufenthalte sind vielfältig. Edward Spence, einst erfolgreicher Geschäftsmann in Manchester und in heutiger Diktion Aussteiger, genießt in philosophisch-heiterer Gelassenheit und ehelicher Harmonie die schönen Seiten des Lebens. Die faktisch allein erziehende Mrs Denyer hofft auf die Begegnung geeigneter junger Männer als Ehepartner für ihre drei heiratsfähigen Töchter. Den biederen und zu Wohlhabenheit gekommenen Bradshaws geht es um die Aufwertung ihres gesellschaftlichen Status zu Hause, der junge Clifford Marsh und der etwas ältere Reuben Elgar sind auf der Suche nach einer Künstlerbzw. Literatenkarriere, der verschrobene Mr Musselwhite will nur auf akzeptable Art seine Zeit verbringen, und die eloquente und gesellschaftlich versierte Mrs Lessingham fungiert als umsichtige Erzieherin ihrer verwaisten 18-jährigen Nichte Cecily Doran. Letztere ist unter ihren Fittichen zu einer geistvollen und begeisterungsfähigen, von dogmatischen Einengungen und Vorurteilen freien, also emanzipierten jungen Frau herangewachsen, der rundum nur Bewunderung entgegenschlägt aufgrund ihres unbefangenen Auftretens, ihrer Kenntnisfülle und erstaunlichen Geschmackssicherheit. Es ist Cecily, in deren Empfindungen beim Sonnenaufgang über Capri die Italienbegeisterung dieser Personen, die mit Ausnahme der Spences alle in Mrs Glucks Pension wohnen, ihren Höhepunkt erreicht: 284 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Her eyes drank light from the landscape; her beauty was transfigured by passionate reception of all the influences this scene could exercise upon heart and mind. She leaned on the railing of the balcony, and gazed until tears of ecstasy made her sight dim.(E, 25) Ihre Begeisterung erstreckt sich auf die Landschaft, aber auch auf Kunst, und sie versucht, wenigstens einen Teil davon auf Miriam Baske zu übertragen, die seit Monaten in der Villa Sannazaro Genesung sucht: ‘Art is the grandest thing in the world; it means everything that is strong and beautiful - statues, pictures, poetry, music. How could one live without art? The artist is a born prince among men. What has he to do with the rules by which common people must direct their lives? Before long, you will feel this as deeply as I do, Miriam. We are in Italy, Italy! ’(E, 28) Es sind nur zwei Personen, die sich der allgemeinen Italieneuphorie entziehen: Miriam Baske und Ross Mallard. Cecilys überschwängliches Lob auf Italien steht in krassem Gegensatz zu Miriams ablehnender Einstellung. In einem Brief nach England schreibt sie: “To be sure Naples is beautiful, but it does not interest me. You need not envy me the bright sky, for it gives me no pleasure.”(E, 5) Miriam, bereits Witwe mit 24 Jahren, wuchs de facto als Halbschwester Cecily Dorans auf, nachdem diese im Alter von zwölf als Vollwaise in die Obhut ihrer Mutter, Mrs Elgar, kam, die dann die drei Heranwachsenden, die beiden Mädchen und ihren Sohn Reuben, “[…] in the straitest way of Puritan doctrine“ (E, 81) aufzog, bevor Mrs Lessingham Cecilys Erziehung übernahm. Die zweite Romanfigur außerhalb der Gruppe der Italienbegeisterten, die zwar nicht ablehnend, aber Land und Leuten zu Romanbeginn mit unterkühlter Distanziertheit gegenübertritt, ist Ross Mallard, ein 35jähriger Landschaftsmaler. Er ist nach Italien gekommen, um zu arbeiten, genauer gesagt, um in Amalfi und Paestum Landschaftsbilder anzufertigen. Mallard, der demonstratives Desinteresse an Konventionen in Bezug auf Kleidung und Umgangsformen zeigt, war per Schiff nach Genua gereist, um mit Cecily Doran und Mrs Lessingham die Reise gen Süden fortzusetzen. Diese ungewöhnliche Konstellation hat ihren Grund darin, dass Mallard Cecilys gesetzlicher Vormund ist und bis zu ihrer Volljährigkeit ihr Vermögen verwalten und juristisch für sie handeln muss. Cecilys eigenwilliger Vater, Fabrikbesitzer in Lancashire, im Herzen ein ’bohemian’ und Kunstliebhaber, ‚Entdecker’ und Förderer Mallards, hatte ihn zu dessen größter Überraschung als zweiten Vormund bestimmt. Nach dem plötzlichen Tod des ersten Vormunds musste er in diese ungeliebte Rolle schlüpfen, die ihn bei aller zur Schau getragenen Lässigkeit infolge puritanischer Gewissenhaftigkeit erheblich belastet. Er sehnt das Ende der noch drei Jahren währenden Vormundschaft herbei, obgleich Cecilys Werdegang bisher für ihn problemlos war. Von dieser Grundstimmung geleitet unternimmt Mallard von der Casa Rolandi, seiner Pension im weniger vornehmen Altstadtviertel von 285 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Neapel, einen Spaziergang in das etwa zehn Kilometer entfernte Pozzuoli am Lido di Napoli. Es folgt die längste, zusammenhängende Landschaftsbeschreibung des Romans, dessen bevorzugte Darstellungsweisen ansonsten detaillierte Rückblenden, ausführliche Gedankenberichte des auktorialen Erzählers, erlebte Rede und die den Gesamttext kennzeichnenden umfänglichen Dialogsequenzen sind. Das Landschaftsbild beginnt mit einer ungewöhnlich effektvollen Schilderung der neapolitanischen Stadtlandschaft, die in dem umfangreichen Roman keine Parallele bezüglich Form und Wirkung hat. Aus diesen Gründen ist trotz des Umfangs ein längeres Zitat angebracht. From the Strada di Chiaia, the narrow street winding between immense houses, all day long congested with the merry tumult of Neapolitan traffic, where herds of goats and milch cows [sic] placidly make their way among vehicles of every possible and impossible description; where, ’cocchieri’ crack their whips and belabor the hapless cattle, and yell their ”Ah-h-h! Ah-h-h! ” - where teams of horse, ox, and ass, the three abreast, drag piles of country produce, jingling their fantastic harness, and primitive carts laden with red-soaked wine-casks rattle recklessly along; where bare-footed, girdled and tonsured monks plod on their nobusiness, and every third man one passes is a rotund ecclesiastic, who never in his life walked at more than a mile an hour; where at evening, carriages returning from the Villa Nazionale cram the thoroughfare from side to side, and make one aware, if one did not previously know it, that parts of the street have no pedestrians’ pavement; - from the Strada di Chiaia (now doomed, alas! by the exigencies of ’lo sventramento’ and ’il risanamento’ turn into the public staircase and climb through the dusk, with all possible attention to where you set your foot, past the unmelodious beggars, to the Ponte di Chiaia, bridge which spans the roadway and looks down upon its crowd and clamour as into a profound valley; thence proceed uphill on the lava paving, between fruit-shops and sausage-shops and wine-shops, always in an atmosphere of fried oil and roasted chestnuts and baked pine-cones; and presently turn left into a still narrower street, with tailors and boot-makers and smiths all at work in the open air; and pass through the Piazzetta Mondragone, and turn again to the left, but this time downhill; then lose yourself amid filthy little alleys, where the scent of oil and chestnuts and pine-cones is stronger than ever; then emerge on a little terrace where there is a noble view of the bay of Capri; then turn abruptly between walls overhung with fig-trees and orange-trees and lemon-trees, - and you will reach Casa Rolandi.(E, 74f.) In einem einzigen zusammengesetzten Satz beschreibt der Text den Weg von der Strada di Chiaia, einer äußerst belebten und bereits zur Handlungszeit des Romans in Sanierung befindlichen Ausfallstraße, zu Mallards Pension. Die stilistische Formgebung offenbart des Erzählers Absicht, die Eindrücke praller Lebensfülle und überbordender Vitalität, quirliger Geschäftigkeit und volkstümlicher Religiosität, sinnenorientierter Lebens- 286 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED freude und hektischen Treibens, südländischen Improvisationstalents und humorvoller Entspanntheit vorzustellen. In fünf aufeinander folgenden, symmetrisch konstruierten und durch Anaphern eingeleiteten Sätzen wird ein Bild der ungemein lebhaften Stadtlandschaft erstellt, das durch Last-, Milch- und Zugtiere und eine bunte Vielfalt an Wagen, Karren und Waren geprägt ist. Es herrscht ein brodelndes Verkehrschaos vor, in dem Peitschen knallende und schreiende Fuhrleute sowie barfüßige, rundliche Mönche akustisch und optisch das humorvoll gezeichnete Bild prägen. Ein unaufhörlicher Strom an Menschen, Tieren und Wagen schiebt sich durch die engen, heillos überfüllten Straßen. Nach den fünf, durch Semikola getrennten Sätzen, die durch die Parallelismen den Eindruck unablässigen Fließens erzeugen, wird der Aspekt des die Sinne überwältigenden Geschehens intensiviert, indem die Leser einbezogen, angesprochen und zur Suche der Mallard’schen Wohnung aufgefordert werden. Nach der Markierung des Ausgangspunktes, die Strada di Chiaia; werden die Ortsunkundigen mit Hilfe von neun Imperativen - ’turn into’, ’climb through’, ’proceed uphill’, ’turn left’, ’pass through’, ’turn again’, ’lose yourself, ’emerge’, ’turn abruptly’ - durch die Straßen und Gassen geleitet, bevor sie nach sieben beigeordneten, weiterhin durch Semikola getrennten Sätzen das Ziel erreichen: “[…] and you will reach Casa Rolandi“, inhaltlicher End- und Höhepunkt einer 36-zeiligen Satzverbindung. Real zutreffende Ortsangaben -“Piazzetta Mondragone“- und bildkräftige Vergleiche - “the Ponte di Chiaia, bridge which spans the roadway and looks down upon its crowd and clamour as into a profound valley“ (E, 74) - untermauern die Atmosphäre authentischen Geschehens. Dieser Eindruck von Authentizität, atmosphärischer Dichte und stimmungsmäßiger Vereinnahmung des Zuschauers ensteht durch die Eigenart der Lokalität, hervorgerufen vor allem durch den fünfmaligen Gebrauch des Polysyndetons in Gestalt verbundener Wortgruppen. Teile dieser Wortgruppen werden formal, inhaltlich oder klanglich wiederholt, und der Text erhält so eine ausgeprägte rhythmische Gestaltung in Parallelität zum pulsierenden Leben auf den Straßen: Der Leser komme vorbei an “fruit-shops and sausageshops and wine-shops, always in an atmosphere of fried oil and roasted chestnuts and baked pine-cones“ (E, 74), an Läden von “tailors and boot-makers and smiths [...] where the scent of oil and chestnuts and pine-cones is stronger than ever“ (E, 74f.), zu guter Letzt, kurz vor dem Ziel, an “walls overhung with fig-trees and orange-trees and lemon-trees“ (E, 75; Verdeutlichung rhytmischer Gestaltung: K. Lang). Gegensätzliches und scheinbar Unvereinbares unter Einbezug des Unangenehmen und Hässlichen verstärken den Eindruck von Exotik, die, wie es scheint, auf des Erzählers Lust am Beobachten und Beschreiben eine faszinierende Wirkung ausübt. Da gibt es “the narrow street winding between immense houses“, den paradoxen “merry tumult of Neapolitan traffic“, den 287 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG seltsamen Kontrast der Arbeitstiere in “their fantastic harness“ vor primitiven Karren, schmale Straßen mit in Freien arbeitenden Handwerkern und, als markantester Gegensatz, “filthy little alleys“ mit folgendem “noble view of the bay of Capri“. Zweck der lebendigen Beschreibung der neapolitanischen Altstadt ist die Wiedergabe von Mallards Wahrnehmung: Diesem distanzierten Italienbesucher mit seiner nüchtern-pragmatischen Einstellung eröffnet sich eine völlig neue Erlebnisdimension. Der ungewöhnliche Text mit seiner Betonung von sich in die Länge ziehenden Abläufen voll wechselhafter Kontingenz ist semantisch eine Parallele zu Ross Mallards Neapelaufenthalt, der zeitlich ganz anders verläuft als geplant: Er wollte vor der Weiterreise wenige Tage in Neapel bleiben: Already he had lingered till the few days were become more than a fortnight, and still the day of his departure was undetermined. This was most unwonted waste of time, not easily accounted for by Mallard himself.[...] after much cloudiness and a good deal of rain,[he was] strong with the resolve that tomorrow should see him on the road to Amalfi. He had slept well [...], and his mind was open to the influences of sunlight and reason.(E, 75) Der nüchtern denkende und zielorientiert handelnde Mallard verhält sich in Neapel entgegen seinen Prinzipien. Nach einer durchruhten Nacht mit reinigendem Regen ist symbolisch jedoch seine Entschlusslosigkeit beseitigt, erscheint die Umwelt wieder klar überblickbar für das körperliche und geistige Auge: Die krisenhafte Situation scheint überwunden zu sein. Wie befreit trat Mallard an das Fenster seiner Pension und “[…] drank deep draughts of air from the sea“(E, 75), wobei die Alliteration die stärkende Wirkung betont. Dieser Eindruck setzt sich in der Beobachtung zweier banaler Szenen fort. Ein Hirte treibt eine Ziegenherde durch die Straße und lädt mit wohlklingendem Pfeifen zum Kauf der Milch ein: “Mallard leaned over and watched the clean-fleeced, slender, graceful animals with a smile of pleasure.“(E, 76) Er entdeckt die wohlgestaltete Form und Anmut der Tiere, und die Akkumulation weist durch intensivierte Bildhaftigkeit auf in der Tiefe angesprochene Gemütsschichten hin. Eine ähnliche Wirkung geht von der zweiten Szene aus. Von einem Balkon gegenüber ruft eine Frau so lange einen Namen, bis eine zweite Frau auf dem Balkon darunter hervorkommt, das Ende einer herabgelassenen Schnur einfängt, an dem sie einen Korb mit Nahrung befestigt, den ihre Freundin hochzieht; “[…] the women gossiped and laughed for a while in pleasant voices“ und Mallard “amused himsel.f“(E, 76) Was dieses Mal die positive Gestimmtheit in ihm hervorruft, ist das unprätentiös-spontane Verhalten der Neapolitaner, sein Eindruck ihrer Sorglosigkeit und Lebensbejahung. In derart gelöster Stimmung beginnt Mallard einen Spaziergang im Zeichen einer neuen Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge des Alltags. In einem kleinen Café isst er ein einfaches Frühstück, überfliegt die Zei- 288 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED tung, aber spielende Kinder erwecken sein Interesse auf gleiche Weise. Er kauft ein Büschel frischer Trauben an einem Stand, “[...] that glowed and was fragrant with piles of fruit”(E, 76), und “[...]he sauntered in the broad sunshine, plucking his grapes and relishing them.”(E, 76f.) Am Strand sieht er lange Zeit den Fischern zu, wie sie ihre Netze an Land holen, “][…] picturesque fellows with swarthy faces and sun-tanned legs of admirable outline“.(E, 77) Die Schleppnetze der Austernfischer pendeln an der Seite ihrer Boote in sanft wiegender Bewegung über dem Wasser, er hört die Wellen des Meeres gegen den Fuß der Strandmauer plätschern, und “[…] their drowsy music counselled enjoyment of the hour and carelessness of what might come hereafter.“(E, 77) Die scheinbar unbedeutenden Phänomene der Landschaft mit ungewohnten Bewegungen und Gerüchen, Farben und Tönen senden übereinstimmend die Botschaft aus, das Jetzt zu genießen und die sorgenvolle Beschäftigung mit der Zukunft einzustellen. In Mallard baut sich ein Spannungsverhältnis zwischen aktuell erleb- und erfahrbarer Wahrnehmung und einem gedanklich projizierenden, aber dennoch weitgehend unbewussten, weil präformierten Blick auf die Welt auf. Die erstere geht einher mit innerlicher Entkrampfung, die zweite hingegen mit Befürchtungen und Wünschen. Die Signale der neuen Umwelt weisen den erstgenannten Weg zum Verweilen im Jetzt. Befangen im Zwiespalt geht Mallard von Posillipo und Bagnoli nach Pozzuoli, und die Diskrepanz zwischen Außen- und Innenwelt bleibt bestehen. Er nimmt die Grotte von Posillipo als “gloomy, chilly, dank“ wahr, bemerkt die schrille Buntheit blau, rot und gelb angestrichener Häuser, “[…] stopping at times to look at some sunny upper window hung about with clusters of sorbe and pomidori“(E, 77), bis er in einer obskuren Taverne, die vermutlich kein Engländer je betreten habe, Makkaroni und eine Flasche Rotwein bestellt, beides verzehrt, eine Zigarre anzündet und sich dann aufmacht, “to find a place for dreaming“.(E, 77) Er findet ihn in einem kleinen Park unter Palmen mit Blick auf den Hafen, die tiefblaue Bucht und die leuchtenden Segel. Es hat sich erheblicher Wandel vollzogen: Hatte Mallard am Morgen “the influences of sunlight and reason“(E, 75) noch begrüßt, steht ihm nun, nachdem er sich auf die Reize der Landschaft, der Sonne und des Weins eingelassen hat, der Sinn nach freiem Lauf seiner Gedanken in der Fantasie: So beginnt der Einfluss der ’witch of the south’, „der göttlichen Circe […] und alte[n] Generalhexe“(Johann Gottfried Seume): Seine Aufmerksamkeit verlagert sich in deutlich erkennbar gemachter Interaktion von der Außenauf die Innenwelt, als seine Gedanken zu anderen Orten und Zeiten driften: With the help of sunlight and red wine, he could imagine that time had gone back twenty centuries - that this was not Pozzuoli, but Puteoli; that over yonder was not Baia, but Baiae; that the men among the shipping 289 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG talked to each other in Latin, and perchance of the perishing Republic.(E, 78) Der Zeitreise in die Antike mit ihrem Anflug intellektueller Verspieltheit folgt bald die ausführlichere und ungleich problematischere Reise in Mallards Vergangenheit in England. As he watched the smoke curling up from his cigar, he slipped back into the world of his active being, and made no effort to obscure the faces that looked upon him. They were those of his mother and sisters, thought of whom carried him to the northern island, now grim, cold, and sunless beneath its lowering sky. These relatives still lived where his boyhood had been passed, a life strangely unlike his own, and even alien to his sympathies, but their house was still all that he could call home. Was it always to be the same? (E, 78) Umgeben von der sonnigen südlichen Landschaft und im Gefühl körperlichen Wohlbefindens überkommt Mallard erkenntnishaft die Empfindung von Entfremdung und Entwurzelung, nicht nur in Bezug auf die düstere Landschaft des Nordens und das heimische Sowerby Bridge in Lancashire, “a blot of ugliness“(E, 78), sondern auf die eigene Familie mit ihren ihm fremd gewordenen Orientierungen. Bilanzierend wird er gewahr, dass er keine Heimstatt besitzt, weil die von Jugend an ihm vertraute ihre bergende Funktion verloren hat. Sein eigenbrötlerischer Lebensstil ist gekennzeichnet durch Hingabe an die Kunst bei gleichzeitiger Verachtung der Royal Academy, durch einen Glauben an Selbstverantwortung und Selbstdisziplin bei gleichzeitiger Ablehnung dogmatischer Verkrustungen. Seine eigenwillige Individualität und Identität verhindern seine Zuordnung zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder Schicht im Roman: Mallard ist ein Einzelgänger - wie Gissing selbst. Beim Träumen in der Sonne engt sich der Kreis seiner Gedanken mehr und mehr auf seinen Mündel Cecily ein, die er als Mr Dorans kleine Tochter kannte. Als Vollwaise im Alter von zwölf in Mrs Elgars Obhut gekommen, dann, “intellectually starved“(E, 82), in die ihrer Tante Mrs Lessingham, war sie durch deren liberale Erziehung und viele Reisen zu einer gebildeten, emanzipierten jungen Dame herangereift. Seit dem Tod ihres Vaters hatte er sie erst zweimal gesehen, doch sie schrieb ihm regelmäßig Briefe: “Cecily addressed herself with exquisite frankness as to an old friend, old in both senses of the word.“(E, 82) Verwundert, fast bestürzt registriert er nun Gedanken, die für ihn selbst rational nicht fassbar sind. Hoffnungen und versteckte Wünsche brechen durch, die sich in so zugespitzter Form noch nie eingestellt hatten: What but mere accident put him in contact with the world which was Cecily’s? Through her aunt she had aristocratic relations; her wealth made her a natural member of what is called society; her beauty and her brilliancy marked her to be one of society’s ornaments. What could she possibly be to him, Ross Mallard, landscape-painter of small if any note, as unaristocratic in mind and person as any one that breathed? To put the 290 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED point with uncompromising plainness, and therefore in all its absurdity, how could he possibly imagine Cecily Doran called Mrs Mallard? The thing was flagrantly, grossly, palpably absurd.[...] Why had he come to Italy at all just now? (E, 83) Selbstzweifel mischen sich mit Selbstvorwürfen, und klares Denken ist kaum mehr möglich: “[he] either sat at home in dull idleness or strayed about the swarming quarters of the town, trying to entertain himself with the spectacle of Neapolitan life.”(E, 84) Die Überschrift zum fünften Romankapitel, ’The Artist Astray’, weist auf bisher nicht gekannte Irrwege des Malers hin, die aber in noch unwegsameres Gelände führen: In seinem Unbewussten tummeln sich nicht artikulierte, verbotene Bilder des erotischen Begehrens, verschwimmen mit Assoziationen einer vage sexualisierten, verführerischen ‚Hexe des Südens’, und diese Bilder tun es gegen die Regeln des Verstandes, gegen die Vernunft und den Moralkodex des prinzipiengläubigen Mallard. Bei der Überfahrt nach Baia mit Cecily, Miriam Baske und Edmund Spence, die zufällig in Pozzuoli auf ihn stießen, sucht er - vergeblich - nach Zeichen von Zuneigung in Cecilys Mimik und Gestik, übersieht aber völlig diese Zeichen in Miriams Verhalten: Sein Inneres befindet sich in quälender Unsicherheit als Folge des “[…] riot excited in him by Cecily“(E, 87): Rastlose Gedankenketten in kreisenden Bahnen drehen sich um Cecily: “Cecily must have come by now to consider her guardian as a male creature of flesh and blood. What did it mean, that she did not? “(E, 87) Das viktorianische Klischee, dass Mädchen bis zu ihrer Heirat Kinder in Frauenkörpern und geschlechtslos seien, ist für ihn Unfug, aber Cecily bewegt sich für seinen Geschmack zu souverän und versiert in allen Lebenslagen. Sein “harassed brain“(E, 92) gerät in einen Zustand aggressiver Unruhe, und Frustration richtet sich gegen Miriam Baske: “He had impulses to offend her, to irritate her prejudices [...].“(E, 92) Er provoziert sie aus purem Trotz, bis sie verärgert feststellt: “We have different thoughts, Mr Mallard, and speak different languages.“(E, 96). Trotz vorhandener Übereinstimmungen - “Mrs Baske and Mallard resembled each other in speech. They had the same note, the same decision“(E, 7) - hat die ’Hexe des Südens’, der personifizierte Zauber der südlichen Landschaft und der in ihr lebenden Menschen, die Dinge auf den Kopf gestellt: Mallard wirkt in Baia wie aus der Bahn geworfen. Das Groteske der Situation wird im Schlusssatz des Kapitels durch Cecilys unfreiwillige Ironie hervorgekehrt: ”’It has been an unforgettable day’, Cecily said, as they parted.“(E, 97) 3.4.2.2 Die Landschaft der Insel Capri: Authentische Ästhetik für Miriam Baske und surreale Traumkulisse für Cecily Doran 291 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Als Miriam Baske nach schwerer Krankheit bei ihrer Kusine Eleanor Spence in Neapel zur Genesung eintrifft, sträubt sich ihr ganzes Wesen gegen den Einfluss des Fremden. “I feel it as an exile, bitterly“(E, 5), klagt sie in einem Brief. Edward Spence, mit seiner Frau Eleanor Mitbewohner der Villa Sannazaro, kennt die Ursache der Ablehnung: ”[…] she has the puritanical spirit in a rather rare degree.[... ] she won’t allow an expression of interest in anything Italian to escape her.[...] It is her nature to distrust the beautiful.“(E, 11; Hervorhebung: G. Gissing) Sie verbringt ihre Zeit mit Briefeschreiben und dem Lesen pseudo-theologischer Bücher, “modern echoes of fierce old Puritans“(E, 4), und allem Anschein nach “There is no getting her mind away from that pestilent Bartles“(E, 10), ihrem Wohnort bis zum Tod ihres Mannes, wo sie aus religiösem Eifer den Bau einer Kapelle in Aussicht gestellt und bereits fertige Pläne mit nach Italien gebracht hat. Stets einfach und grau gekleidet, mit einem permanenten Ausdruck von “troubled earnestness“ und “a look of weariness, even ennui“(E, 3) erduldet sie den Aufenthalt in Italien. Fast alles an Miriam Baske deutet auf die geistige Immobiliät des religiösen Fundamentalismus hin, doch der hellsichtige Edward Spence sieht, dass unter der Oberfläche der sichtbaren Begrenzungen und der zur Schau getragenen Unnahbarkeit ein verstecktes Potenzial schlummert: “It isn’t as though we were dealing with a woman whose mind is hopelessly - immatured; she is only a girl still, and I know she has brains if she could be induced to use them.“(E, 11) In der Tat trägt Miriam schwer an der Last der freudlosdogmatischen Erziehung der Mutter mit bedrückenden Bildern bis nach Neapel: “Again and again Miriam revived these images of the past. [...] How many instances came back to her of hypocrisy before her father and mother, hypocrisy which strangely enough, she at times believed a merit, though perfectly aware of her own insincerity! How many a time had she suffered from the restraints imposed upon her[...].”(E, 198) Miriam verfügt über jene natürliche Intelligenz, die es ihr aus räumlicher und zeitlicher Distanz erlaubt, einst vorgegebene Verhaltensmuster zu hinterfragen und neu zu bewerten. Die Sonntage im Elternhaus in Manchester mit den Ritualen der Frömmigkeit und der Lektüre von Pilgrim’s Progress mutieren in der Rückschau zu irrealen Schreckensbildern. Das Schlimmste beim Blick zurück ist, dass sich Miriam bei der Ankunft der zwölfjährigen Cecily Doran als Pflegekind zu einer Haltung von “spiritual pride“(E, 198) verleiten ließ, die sich später zu Verachtung gegenüber jedem jungen Mann auswuchs, mit dem sie zufällig ins Gespräch kam. Ihre Heirat mit dem wohlhabenden und sich fromm gebenden Mr Baske war nichts anderes als die willkommene Möglichkeit, Ansehen und Einfluss in der religiösen Gemeinde von Bartles zu gewinnen, und “[…] the chapel-building project, with singular confusion of motives, represented to her at once a worldly ambition and a discipline of the soul.“(E, 202) Baske erwies sich aufgrund seiner ordinären Prahlsucht und seines grobschlächtigen Verhaltens als bedauerlicher Fehlgriff. “His death was like the 292 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED removal of a foul burden that polluted her and gradually dragged her down, down.“(E, 201) Was Miriam als junge Witwe blieb, war die Flucht in die armselige Welt kleinkarierten Eiferertums, die in einem nervenaufreibenden Wettbewerb mit Mrs Welland als Rivalin um die öffentliche Gunst der Frommen endete. Die Folge waren Ängste und Depressionen, dann ihr körperlicher und psychischer Zusammenbruch. In Neapel nun, wo Miriam, herausgelöst aus sozialen und religiösen Zwängen, bei den liberal gesinnten Spences wohnt, kommen jene Eigenschaften langsam zum Durchbruch, die ihr Edward Spence von Anfang an zugute hielt: ihre Jugend und ihre natürliche Intelligenz. What a distance between those memories, even the latest of them, and this room in Villa Sannazaro! Its foreign aspect, its brightness, the view from the windows, had from the first worked upon her with subtle influences of which she was unconscious.[...] Introspection meant to her nothing but debates held with conscience [...]. Original reflection, independent of these precepts, was to her simply a form of sin [and] still beyond her power.(E, 203) Aus allwissender Perspektive und mit offener Anteilnahme, wie das Zitat offenbart, wird das subtile Wirken der fremden Umwelt auf Miriams Psyche beschrieben. Aufgrund ihrer Jugend ist sie unwissentlich empfänglich für das Neue. Ihr Blick nach innen ist jedoch zweifach versperrt: Mangelnde Übung einerseits und die Bedeutungsbelegung alles Innenweltlichen durch Theologie andererseits behindern den Weg zu geistiger Freiheit. Zwar nahm sie, so der Text, die landschaftlichen Reize wahr, glaubte aber auf der Hut vor Vergnügungen jeder Art sein zu müssen, um sich nicht selbstvergessen sündhaften Augenblicken der Freude hinzugeben. Und dennoch: The name of Italy signified perilous enticement, and she was beginning to feel it. The people amid whom she lived were all but avowed scorners of her belief, and yet she was beginning to like their society.[...] her paramount interests were fading, fading; [...] The chapel-plans were hidden away; she durst not go to the place where they would have met her eye.(E, 204) Hinzu kommt die ernüchternde Verdacht, dass die Spences sie heimlich bemitleiden, und bei den Gedanken an Cecily, Mrs Lessingham und Mallard häufen sich bohrende Zweifel, ob sie seltsame Ausnahmen seien oder womöglich eine ganz andere Welt darstellten, von deren Existenz sie bisher nicht einmal etwas ahnte? Zum ersten Mal wird ihr bewusst, dass es einen erweiterten Blick auf die Welt geben könnte. Dieser graduelle Veränderungsprozess in Miriams Innenwelt stellt einen Paradigmenwechsel dar, den die Landschaft auslöst: Yes, she was beginning to feel the allurement of Italy. Instead of sitting turned away from the windows when musing, she often passed an hour with her eyes on the picture they framed, content to be idle, satisfied with form and colour, not thinking at all.[...] She began to wish for music; [...] 293 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG The abundant fruits of the seasons became a temptation to her palate; she liked the shops and stalls overflowing with the vineyard’s delicious growth.(E, 205) Durch ein Erwachen ihrer Sinne nimmt sie Landschaft als ein lebendiges Gebilde aus Farben und Formen wahr. Es kommt zu einer Aktivierung des Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtssinns beim Gang durch die Straßen und beim Kosten der Früchte. Zum ersten Mal öffnet sich ihr Auge für die Vielfalt der optischen Eindrücke, die sich ihrem freier gewordenen Blick bieten. Es ist so, als ob sich Schicht für Schicht eine neue, größere Welt mit immer neuen Dimensionen auftut. In der Tat hat sie die ersten selbständigen Schritte zu ästhetischem Erleben und in die Sphäre der Kunst getan. Jetzt interessiert sie sich für Musik, sie beginnt Italienisch zu lernen und liest Poesie, die ihr bisher nichts bedeutet hatte. Psychologisch überzeugend in der narrativen Darstellung ist die Art, wie der Text Miriam, die nicht über die Begrifflichkeit und Übung zur Selbstanalyse verfügt, die Phasen ihres allmählichen Wandels verfolgen lässt. In ihrem Zimmer in der Villa Sannazaro befinden sich zwei große Spiegel als dekorativer Bestandteil der Inneneinrichtung. Zu Beginn ihres Aufenthaltes sah sie beiläufig ihr Spiegelbild, “[...] and it checked her step; she regarded herself gravely, and passed a smoothing hand over the dark hair above her temples”.(E, 6f.) Es besteht eine nahtlose Kongruenz zwischen Spiegel- und Selbstbild, die durch die glättende und beruhigend wirkende Bewegung der “smoothing hand“ betont wird. Die Übereinstimmung jedoch verschiebt sich, ohne dass Miriam dies bewusst wird, und ein verändertes Selbstbild stellt sich ein, das mit dem gespiegelten Bild nicht mehr deckungsgleich ist: [...] she gazed at herself far oftener than she need have done. As for her face she believed it passable, perhaps rather more than that; but the attire that had possessed distinction at Bartles looked very plain, to say the least, in the light of her new experience. One day she saw herself side by side with Cecily, and her eyes quickly turned away. To what was she sinking! (E, 206) Miriam beginnt über Vorbilder eine andere Vorstellung von sich zu entwickeln. In der zweiten Spiegelszene sind die Zeichen unübersehbar, dass sie sich in einem Prozess der Heranbildung einer neuen Identität befindet. Einen Tag vor der Fahrt nach Capri berichtet der Text drittes Mal von Miriams Wahrnehmung ihres Bildes in den Spiegeln: “[…] before the mirrors she paused often and long, losing herself in self-regard“.(E, 212) Aus den anfänglich zufälligen Begegnungen mit sich selbst sind Augenblicke der bewussten Konfrontation mit dem Selbst geworden. Der prüfende und abwägende Blick verliert sich real in der unbekannten, sich optisch verlängernden und fortpflanzenden Tiefendimension des Gespiegelten, die symbolisch den langen Gang in eine neue, unerschlossene Region der Psyche umschreibt. Die Distanz zwischen dargestelltem Abbild im Außen und dem sich neu orientierenden und formenden Ich im Innen ist Anlass zu selbstkritischer 294 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Analyse und Wertung, ein Prozess der Individuation und Identitätsbildung. Dieser Wandel ihrer Persönlichkeit wird in der sich ändernden Wahrnehmung des Landschaftsbildes der Insel Capri manifest: A slight mist softened its outlines this morning; it seemed very far away, on the dim borders of sea and sky. For a long time she had felt the luring charm of that island, always before her eyes, yet never more than a blue mountainous shape. Lately she had been reading of it, and her fancy, new to such picturings, was possessed by the mysterious dread of its history in old time, the grandeur of its cliffs, the loveliness of its green hollows, and the wonder of its sea-caves. Her childhood had known nothing of fairyland, and now, in this tardy awakening of the imaginative part of her nature, she thought sometimes of Capri much as a child is wont to think of the enchanted countries, nameless, regionless, in books of fable.(E, 211f.) Aus den bergigen Umrissen der Insel im weichen Nebel ist ein zwischen Himmel und Erde schwebendes Gebilde geworden, das Miriams erwachende Fantasie in kreativer Bildhaftigkeit mit Leben erfüllt. Spannende Szenen einer geheimnisvollen Geschichte, die Großartigkeit der steilen Klippen, der Liebreiz grüner Landstriche und die Naturwunder der Meereshöhlen verbinden sich zu Traumbildern wie aus einer verzauberten Märchenwelt. Durch den Reiz der Landschaft kommt es zu authentischem ästhetischem Erleben und einer Mobilisierung bislang brachliegender innerer Kräfte: Miriam entdeckt die neue Welt der Fantasie mit ihren ungewohnten Möglichkeiten der Bildproduktion. Die neuen Landschaftseindrücke fungieren als Korrektiv zu den imaginativen Defiziten und der emotionalen Verarmung in Miriams Kindheit und leiten den schmerzhaften Geburtsvorgang eines eigenständigen Persönlichkeitsprofils ein. Den Tag vor der Überfahrt nach Capri, einen Sonntag, hatte Miriam in selbstquälerischer Untätigkeit verbracht, äußeres Zeichen ihres Schwankens zwischen Verharren und Aufbruch. Wie traumatische, lähmende Horrorszenen kehren immer wieder die Erinnerungen an die einschüchternden Rituale des Elternhauses vor und nach dem sonntäglichen Kirchgang in ihr Gedächtnis zurück. Eine ganze Weile gab sie in Neapel vor, die Sonntage allein in Andacht zu verbringen, was immer lästiger wurde, und sie erschrak über ihre eigene Heuchelei. Ihr Spiel mit den Bildern ihrer Fantasie beim Anblick von Capri wird immer mehr zur Versuchung, und ohne es zu wollen, erliegt sie der Schönheit der Landschaft, der sie anfangs so hartnäckig widerstanden hatte, in einem unumkehrbaren Prozess der inneren Öffnung, in dem die Mechanismen der Ablehnung des Fremden ihre Kraft verlieren. Die neue Offenheit hat allerdings ihren Preis und muss erkauft werden: Sie beraubt Miriam des einfachen, eindimensionalen Blicks auf die Welt und der festgefügten Verstehensmuster: 295 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Miriam had no resolve by which to guide herself.[...] Her familiar selfreliance and cold disregard of anything but a few plain rules in regulating her conduct, were things of the past. She felt herself idly swayed by conflicting influences, unable even to debate what course she should take; the one emotion of which she was clearly conscious was of so strange and disturbing a kind that, so far from impelling her to act, it seemed merely to destroy all her customary motives and leave her subject to the will of others. It was the return of weakness such as had possessed her mind when she lay ill [...].(E, 213 f.) Durch psychologisch einfühlsame Analyse im Falle des Verlustes gewohnter Leitlinien und einer damit einhergehenden Unsicherheit im Umgang mit dem Selbst und der Welt erläutert der Text die daraus resultierende Schwächung der Willenskraft und psychische Desorientierung. Miriam ist gegen Ende des ersten Romanteils in der schwierigsten Phase ihrer Befreiung aus den Fesseln religiös-dogmatischer Indoktrination und Determiniertheit; der zweite Romanteil hat die Fortführung und Konsolidierung ihrer Emanzipation zum Gegenstand. Ganz andere Erlebnisinhalte, Gefühlserfahrungen und Stimmungslagen als für Miriam Baske hält Capri für Cecily Doran bereit. Sie war wenige Tage vor Miriam gekommen, nachdem Mallard als Vormund seine Zustimmung zu ihrer Heirat mit Reuben Elgar verweigert hatte. Sein einziges Zugeständnis war, dass der junge Mann kurze Zeit auf Capri bleiben konnte, bevor er sich in England eine Beschäftigung suchen und so ernsthaft beweisen sollte, dass er seinen zügellosen Lebenswandel aufzugeben bereit war. Beim Abendessen nach Miriams Ankunft ergreift Reuben die Gelegenheit der Vollmondnacht, Cecily in den Garten zu bitten, wozu ihm Mrs Lessingham ihre Zustimmung gibt mit der Einschränkung, “to limit your moon-gazing to five minutes“(E, 215), was er widerspruchslos zusagt. From the hotel garden opened a clear prospect towards Naples,which lay as a long track of lights beyond the expanse of deep blue. The coast was distinctly outlined; against the far sky glowed intermittently the fire of Vesuvius. Above the trees of the garden shone white crags, unsubstantial, unearthly in the divine moonlight. There was no sound, yet to intense listening the air became full of sea-music. It was the night of Homer, the island-charm of the Odyssey.(E, 216) Was sich den Augen der beiden darbietet, ist das klassische, grandiose Panorama der nächtlichen Bucht von Neapel und des aktiven Vesuvs, dessen Feuer sich im rot glühenden, pulsierenden Widerschein der Wolken am Himmel spiegelt. Diese von Malern und Dichtern immer wieder dargestellte Szene von enormer Ausstrahlungskraft und höchstem Symbolgehalt in Europas Kulturgeschichte vereint auch in der narrativen Darstellung Kultur und Natur, Literatur und Kunst, Gegenwart und Antike, Reales und Unwirkliches, Profanes und Göttliches in einzigartiger Weise. Einem englischen Landschaftsgarten mit großartigem ’prospect’ und gewaltiger ’ex- 296 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED panse’ vergleichbar, dehnt sich das tiefblaue Meer bis zur Lichterkette der Orte um die Bucht von Neapel, erhellt vom Schein des Vesuvs und dem ‚göttlichen’ Mondlicht. Es ist dies der Ort paradoxer Widersprüchlichkeit vor surrealer Traumkulisse: Das Meer liegt in tiefem Dunkel und der Himmel in glühendem Feuerschein; die weißen Klippen ragen in das fahle Mondlicht und scheinen doch körperlos und unirdisch zu sein; kein Laut ist zu hören, und doch ist die Luft “full of sea-music“(E, 216). Die ganze Szenerie ist von einer Atmosphäre des Außergewöhnlichen durchdrungen, in der sich Gedanken an Odysseus und seine fantastischen Inselabenteuer fast zwangsläufig einstellen. Für Reuben ist dies die Stimmung, der Ort und die Stunde, um Cecily zwecks heimlicher Heirat zur Flucht von Capri zu überreden, was ihm gelingt. Der semantisch negative Kern der Adjektive ’unsubstantial, unearthly’, intensiviert durch die Klangwirkung der alliterierend und rhythmisch hervorgehobenen Präfixe ’un-’‚ weist in der Assoziation ihres Sinngehalts mit dem Schlechten auf die Realitätsferne der in dieser Atmosphäre getroffenen Entscheidung hin. Unter dem Eindruck der unwirklichen Märchenszenerie lässt sich Cecily zu einem Entschluss mit fatalen Folgen verleiten, der im zweiten Romanteil in schmerzhafter Desillusionierung enden wird. Der Illusion hatte die surreale Traumkulisse Capris mit ihrer die Sinne bezaubernden und die Urteilskraft betörenden Schönheit Vorschub geleistet. Cecilys Wahrnehmung am folgenden Morgen spiegelt nach einer unruhigen Nacht das Ausmaß der psychischen Veränderungen, die sich nach der Entscheidung zur Flucht in ihrem Inneren vollzogen haben. How unreal the world seemed to her! She tried to link this present morning with the former days, but her life had lost its continuity; the past was past in a sense she had never known; and as for the future, it was like gazing into darkness that throbbed and flashed. It meant nothing to her to say that this was Capri - that the blue waves and the wind of morning would presently bear her to Sorrento; the familiar had no longer a significance; her consciousness was but a point in space and eternity. She had no regret of her undertaking, no fear of what lay before her, but a profound sadness, as though the burden of all mortal sorrows were laid upon her soul.(E, 221) Ihr Eindruck des Unwirklichen hat sich von einzelnen Phänomenen der Landschaft auf die Welt als Ganzes ausgedehnt. Zeit und Raum haben die konkreten Bezüge zu ihrem Leben verloren, scheinen wie losgelöst von ihrem Ich, das subjektiv zu einem Punkt geschrumpft ist. Die Vergangenheit ist nun ohne Bedeutung, so wie auch die Landschaft von Capri und überhaupt alles Vertraute jeden Sinns entkleidet ist. Der Umstand, dass gerade diese Szenerie mit ihrer exemplarischen Verkörperung der von der Natur geschaffenen Schönheit ihre Sinne nicht mehr beeindruckt und als sinnentleerte Wirklichkeit erscheint, ist massiver Hinweis auf eine tief ge- 297 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG hende, krisenhafte Zuspitzung ihrer Befindlichkeit. Die Brücken zu ihrer persönlichen, so erfolgreichen Vergangenheit sind abgebrochen: Cecily wirkt gefühlsentleert und ohne Bedauern. Sie ist aber ohne Angst vor der Zukunft, die sich in anthropologisch kryptischer Bild- und Sinnhaftigkeit als seltsam pulsierendes, blinkendes und funkelndes Phänomen der Dunkelheit darbietet - “[…] and as for the future, it was like going into darkness that throbbed and blinked“(E, 221) -, wohl eine metaphorische Umschreibung aus einer fatalistischen Einstellung von Cecilys kommendem schmachvollem sozialen Abstieg und ihrer durch Reuben ausgelösten qualvollen Herzschmerzen. Das Ergebnis ist grenzenlose Traurigkeit, deren Intensität gewohnte Maßstäbe übersteigt: Alle Sorgen dieser Welt scheinen wie eine Last auf ihren jungen Schultern zu liegen. Mit dieser ganz in die Innenwelt der Figur verlagerten Darstellung der Landschaft gelingt dem Erzähler eine überaus präzise, in ihrer Wirkung eindringliche und geradezu beklemmende Schilderung dessen, was Cecily als Folge ihrer Zustimmung zur Heirat und Flucht auf sich genommen hat. In der Art ihrer Wahrnehmung der Außenwelt spiegelt sich ihre psychische Verfassung wider: Die geradezu surrealistisch verfremdete Landschaftswiedergabe ist die visualisierte Parallele zur gewaltigen Fehleinschätzung der Realität durch die emanzipierte Cecily. Dem Bedeutungsverlust in der äußeren Welt entspricht ein gravierender Sinnverlust in ihrer Seelenlandschaft. Die Augenblicke beglückender Vergangenheit, ihr Wissen und ihr fundiertes Urteil, ihre Begeisterung für Kunst und Italien erscheinen in der Stunde der bevorstehenden Flucht als nicht mehr existent, weil sie spürt, dass sie mit diesem Akt gegen alles verstößt, was in ihrem bisherigen Leben vernünftig war: Sie handelt gegen den ausdrücklichen Willen Mallards und Mrs Lessinghams, sie weiß sich ohne Zustimmung seitens Miriams und der Spences, und bei Personen wie den Bradshaws oder Mrs Denyer kann sie nur auf blankes Unverständnis stoßen, da Reubens Unzuverlässigkeit jedermann bekannt und offenkundig ist. Die junge emanzipierte Dame mit Vorbildcharakter für alle anderen jungen Frauen des Romans entscheidet sich, in einem rational nicht nachvollziehbaren Verhalten in einer Mondnacht auf Capri, zur Aufgabe ihrer geistigen Selbständigkeit. Sie tut dies, obgleich sie eine düstere Ahnung vom Abschied aus den jungmädchenhaften Blütenträumen eines Lebens in selbstbestimmter Freiheit überkommt: Bitterly cold, but what a glorious sunrise! Against the flushed sky, those limestone heights of Capri caught the golden radiance and shone wondrously. The green water, gently swelling but unbroken, was like some rarer element, too limpid for this world’s shores. With laughter and merry talk between themselves, the boatmen hoisted their sail. And the gods sent a fair breeze from the west, and it smote upon the sail, and the prow cleft its track of foam, and on they sped over the back of the barren sea.(E, 221) 298 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Die äußere Atmosphäre ist von Kälte geprägt, in der aktive, Leben ausstrahlende Gefühle ausbleiben. In der aufgehenden Sonne und dem sich rötenden Himmel erstrahlt die grandiose Naturlandschaft mit ihren markanten Berg- und Höhenlinien in ganzer Pracht und in goldfarbenem Glanz, doch die Beschreibung vermittelt den Eindruck, als ob diese Natur zu einem statischen Gebilde erstarrt ist. Das Meer zeigt zwar geringfügige Bewegung, aber auch seine Oberfläche erscheint ohne die ihm sonst innewohnende Kraft: Es ist ’barren’. Seine Farbe ist eigenartigerweise nicht blau, sondern grün, und das Wasser wirkt unwirklich und auf surreale Art transparent und substanzlos. Es ist dies eine prachtvolle, märchenhaftschöne, überirdisch-unwirkliche Welt, die aber zerbrechlich ist und wie in eine lähmende Starre verfallen scheint: Sie ist in diesem Sinne das Spiegelbild der glanzvollen Scheinwelt, die Cecilys Leben als mustergültig emanzipierte, mit allen Vorzügen versehene und allseits bewunderte Frau bisher dargestellt hat, doch ihre Emanzipation, so des Autors Überzeugung in der latenten Textbotschaft, versetzte sie in eine künstliche Welt des trügerischen Scheins. Bei der Abfahrt fällt zwischen ihr und Reuben kein einziges Wort, und keine Geste lässt erkennen, dass sie das Geschehen lenken und steuern. Das Lachen der Bootsleute wirkt seltsam fremd und fehl am Platze und erinnert an das spöttische Gelächter von Verkörperungen schicksalshafter Mächte, denen Cecily und Reuben als Statisten stumm und hilflos ausgesetzt sind. Es seien, so der Text, tatsächlich Gottheiten der Antike, die den Wind für das Segel schicken und dem Boot seinen Weg durch das Meer bahnen. Auffallend ist die stilistische Formgebung an dieser Stelle. Vier erweiterte einfache Sätze sind jeweils durch die Konjunktion ’and’ zu einer einzigen Satzreihe verbunden. Der zweifache Gebrauch von Alliteration, die Verwendung des antiquierten Präteritums ’smote’, die poetische Diktion und kraftvolle Bildhaftigkeit des Ausdrucks - “the prow cleft its track of foam“; “it sped over the back of the barren sea“ -, vor allem aber der ungewöhnlich starke Sprachrhythmus erinnern an den getragenen Stil und feierlichen Ton des Epos. Nach der vom Erzähler so eindrucksvoll beschworenen Nacht des Homer begibt sich Cecily, wie der antike Held aus Ithaka, auf eine Fahrt ins Ungewisse mit Abenteuern ganz unbekannter Art. Sie wird, wie der Held im Epos, Prüfungen zu bestehen haben, die wahre charakterliche Größe erfordern, aber auch sie steht, da die Atmosphäre und der Stimmungsgehalt des letzten Satzes auf Zuversicht und Beistand von außen hinweisen, unter der Obhut der Götter. 299 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.4.2.3 In den Ruinen der Tempel von Paestum: Ross Mallards Sieg über die ‚Hexe des Südens’ und Miriam Baskes Weg zu innerem Wandel Nach dreijähriger künstlerischer Arbeit im Norden Europas, auf den Hebriden und in Norwegen, kehrt Ross Mallard nach Italien zurück, um in Paestum und Amalfi endlich zu malen, was er sich einst vorgenommen hatte und was überhaupt Grund seiner Reise in den Süden gewesen war. Jedoch, das künstlerische Vorhaben ist nicht das einzige Motiv, das ihn erneut nach Italien geführt hat. Es ist für ihn auch eine Reise zur Selbstprüfung, um sich zu vergewissern, ob er nach den turbulenten Ereignissen von damals die innere Stabilität zurückerlangt hat, die Voraussetzung für seine Tätigkeit als Landschaftsmaler ist. Drei Jahre zuvor war er, in der Folge seines Aufenthalts in Neapel und auf der Halbinsel von Sorrent, durch unerwartete Vorkommnisse und durch selbst für ihn befremdliche Reaktionen seiner Psyche regelrecht aus der Bahn geworfen worden. Schuld daran war Reuben Elgars Liebeswerben um seinen Mündel Cecily Doran, das seinen eigenen versteckten, bislang unentdeckten Wunschträumen einer Heirat mit ihr gänzlich zuwiderlief. Als Enttäuschung kam hinzu, dass ihm Cecily keinerlei Anlass oder gar Ermutigung zu solchen Träumereien gab. Mallards quälende Eifersucht, von der er nichts nach außen dringen ließ, steigerte sich in seinem Inneren bis zum Hass gegen den jungen Mann, der ihn überdies bezichtigte, aus persönlichen Interessen zu handeln, als er aus einem Gefühl aufrichtiger Verantwortung als Vormund seine Zustimmung zur Heirat der minderjährigen Cecily verweigerte. All diese unvorhergesehenen und unerfreulichen Ereignisse summierten sich in Mallard zu depressiver Antriebslosigkeit und korrodierender Melancholie, die keine Gedanken an ernsthafte Arbeit mehr aufkommen ließen. Reuben und Cecilys Flucht von Capri war der äußere Höhepunkt eines mehr als unglücklich verlaufenen Italienaufenthalts, während dessen Mallards Selbstbild infolge seiner abwegigen und erotisch inspirierten Wunschträume und seiner lähmenden Schaffenskrise, alles das Werk der verführerischen ‚Hexe des Südens’, zutiefst beschädigt worden war. Die Schilderung von Mallards neuerlichem Aufenthalt im Süden beginnt mit der Feststellung anfangs des zweiten Romanteils, dass der Maler seine Arbeit in Paestum beendet habe und am selben Tag abreisen wolle. Abgestiegen war er in einem kleinen Gasthaus, das seinen einzigen Gast stets zuverlässig mit Salami und Wein aus Kalabrien versorgt hatte: This morning he rose much later than usual, and strolled out idly into the spring sunshine, a rug thrown over his shoulder. Often plucking a flower or a leaf, and seeming to examine it with close thoughtfulness, he made a long circuit by the old walls; now and then he paused to take a 300 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED view of the temples, always with eye of grave meditation. At one elevated point, he stood for several minutes looking along the road to Salerno.(307) Die auf scheinbaren Nebensächlichkeiten beruhende Schilderung entwirft bei genauerem Hinsehen eine Skizze von Mallards Befindlichkeit, die die Leser ungewollt mit dem dramatischen Zustand vergleichen, in dem er sich in Neapel befunden hatte. Hier in Paestum hat er offensichtlich zu gewohnter Selbstdisziplin und Arbeit zurückgefunden, denn nur am heutigen Tag steht er später auf als sonst. Was seine Gemütsverfassung kennzeichnet, ist eine Neigung zum Nachdenken und Grübeln, wie die Körpersprache verrät. Wenn er häufig eine Blume oder ein Blatt abpflückt, um es allem Anschein nach “with close thought-fulness“ zu prüfen, dann zeigt sich in dieser Geste der Wunsch nach innerer Sammlung und geistiger Konzentration, auch der Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen und das Wesentliche zu erfassen. Wenn sein Blick auf die Tempel fällt “always with eye of grave meditation“, dann ist dies ein Zeichen für innere Anspannung, aber auch einen Aufarbeitungs- und Klärungsprozess. Der lange, verweilende Blick in Richtung Salerno deutet auf Erinnerung an die qualvollen Ereignisse vor drei Jahren hin, - denn Salerno liegt auf dem Weg nach Neapel. Die Beschreibung der Landschaft erweckt den Eindruck, als ob die Natur es darauf anlegt, dem einsamen Spaziergänger eine Reihe von Signalen zuzusenden, die auf eine hoffnungsvolle Zukunft hindeuten: March rains had brought the vegetation into luxurious life; fern, acanthus, brambles, and all the densely intermingled growths that cover the ground after the rains, spread forth their innumerable tints of green. Between shore and mountains, the wide plain smiled in its desolation.(E, 307) Es sind Begriffe aus dem semantischen Feld des Entstehens und Werdens, die der Erzähler bei der Landschaftsschilderung in den Vordergrund stellt: ’brought into life’ ’vegetation’,’growths’, ’cover the ground’, ’spread forth’. Damit einher geht der Eindruck einer großen, sogar überreichen Fülle - ’luxurious’,’densely intermingled’, ’innumerable’. Vor dem Hintergrund von Jay Appletons Theorie dichotomischer Landschaftswahrnehmung in symbolischen Zeichen von Mangel und Überfluss (vgl. 1.3.4) deuten diese Natureindrücke darauf hin, dass die Zeit des Leidens und der Not - im übertragenen Sinne Mallards psychischer Zustand in der Vergangenheit - vorbei ist. Die Aufzählung der Pflanzen hat zweifache Funktion: Sie unterstreicht einerseits den für die Malerei wichtigen konzentrierten Blick, andererseits sind die Pflanzen emblematischer Hinweis auf zu mobilisierende Widerstandskräfte. Farn, Akanthus und Brombeere sind nicht nur sehr alte, bodenständige Gewächse, sondern auch solche, die sich durch Ausdauer und Überlebenswillen auszeichnen, worauf Literatur und bildende Künste oft symbolisch Bezug nehmen. Die vielen Schattierungen der Farbe Grün sind sinnbildliche Zeichen von sich entwickelndem Leben und verheißungsvol- 301 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ler Zukunft. Noch mögen Mallards aktuelle seelische Verfassung und seine Gefühlswelt von dem Empfinden von Kargheit geprägt sein, wofür die Trostlosigkeit der Ebene das landschaftliche Korrelat ist, aber die Natur als Partnerin und Vertraute gibt ihm aus seiner vermenschlichenden Perspektive, die ihn sogar ein Lächeln der Landschaft wahrnehmen lässt, eine Botschaft freudiger Zuversicht. Innere Anspannung und Verkrampfung nach den Gefühlsturbulenzen vor drei Jahren in Neapel sind in Paestum einer gelassenen Einstellung gewichen, die jetzt auch Zufriedenheit und Genießen erlaubt: At length he went up into the Temple of Neptune.[...] Here he could enjoy a view from both ends of the ruin. In the one direction it was only a narrow strip of sea, with the barren coast below and the cloudless sky above it; in the other, a purple valley rising far away on the flanks of the Apennines; both pictures set between Doric pillars. He lit a cigar, and with a smile of contented thought abandoned himself to the delicious warmth, the restful silence.(E, 307f.) Der Gang zum Neptuntempel (der heutige Poseidontempel) am letzten Tag in Paestum wird als bewusst vollzogener und bedeutsamer Akt dargestellt, der dem Ziehen einer Bilanz gleichkommt. Die beiden, von dorischen Säulen gerahmten Bildausschnitte von ein und demselben Punkt der Landschaft kontrastieren in ihrer Gegensätzlichkeit Bilder bzw. Phasen aus Mallards Vergangenheit mit solchen der Zukunft. Die Öde der Küste, die Leere des Meeres und des Himmels, in denen sich die schlimme Zeit seiner Entschlusslosigkeit und Schaffenskrise zu spiegeln scheint, steht in vielsagendem Kontrast zu dem mit Farbe erfüllten Tal am Hang der Apenninen. Die suggestive Symbolkraft von ’purple’ in Bezug auf die ferne Landschaft ist Hinweis auf Gesundung, Vitalität, Leben, Kreativität, und wenn Mallard sich nach getaner Arbeit eine Zigarre anzündet, ist dies offenkundig Zeichen der Zufriedenheit. Die Art seiner Wahrnehmung der Landschaft zeigt noch weitere untrügliche Zeichen des Wiedererlangens seiner psychischen Stabilität: Within reach of his hand was a fern that had shot up between the massive stones; he gently caressed its fronds, as though it were a sentient creature. Or his eye dwelt upon the huge column just in front of him - now scanning its superb proportions, now enjoying the hue of the sunnygolden travertine, now observing the myriad crevices of its time-eaten surface, the petrified forms of vegetable growth, the little pink snails that housed within its chinks.(E, 308) Die Geste des sanften, liebkosenden Streichelns der Farnspitzen ist psychologisch ein aufschlussreiches Indiz: Sie ist Zeichen von Mallards verdecktem Wunsch nach Loslösung aus Selbstzentriertheit und Selbstisolation bzw. Ausdruck eines geheimen Bedürfnisses nach Nähe zu anderen Geschöpfen, die auch der Zuwendung bedürfen. 302 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Der zitierte Text macht überdies bereits durch seine stilistische Formgestaltung sichtbar, dass sich Mallard in einer Phase aktiver Hinwendung zur Außenwelt befindet und sich seine Sinne für Reiz und Vielfalt der Welt um ihn herum öffnen. In einem Satzgefüge mit drei syntaktisch gleichlautenden Bauteilen, beginnend mit ’now scanning’ und bestehend aus Anapher, Partizip Präsens und direktem Objekt, wobei im dritten Fall eine Häufung von wiederum drei durch Adjektive näher bestimmten Objekten vorhanden ist, wird den Lesern der Eindruck vermittelt, dass Mallard die Fülle seiner Umwelt mit hellwacher Aufmerksamkeit wahrnimmt. Die Partizipien ’scanning’, ’enjoying’, ’observing’ weisen sowohl durch ihre Semantik als auch durch die der grammatikalischen Form immanenten Expressivität auf Dynamik und gesteigerte Aktivität der Sinne hin, wobei das Auge die zentrale Rolle spielt. Wenn Mallard die Schönheit der Säule vor ihm, “its superb proportions“ und “the hue of the sunny-golden travertine“ besonders beeindrucken, dann hat seine Fähigkeit zu ästhetischer Wahrnehmung, sein Farben- und Formengespür zur gewohnten, für ihn als Landschaftsmaler unerlässlichen Zuverlässigkeit und Kraft zurückgefunden. Nichts entgeht nun seinem wieder zupackenden, die Wirklichkeit voll erfassenden Blick, weder “the myriad crevices“ noch “the petrified forms“ und auch nicht “the little pink snails“ in den Spalten und Ritzen. Die Funktion des Landschaftsbildes bei den Ruinen von Paestum ist es, Mallards psychischen Gesundungsprozess logisch einleuchtend und psychologisch überzeugend darzulegen: “Yes, he was a sound man once more.“(E, 309) Mallard hat “that old zeal for labour” wiedergefunden, und vergangen ist “the mood in which he had bidden good-bye to life’s purposes”.(E, 308) Durch Selbstdisziplin, Konzentration auf wichtige Ziele sowie Verzicht auf Selbstmitleid ist es ihm gelungen, sich aus den Fesseln des verführerischen Südens, wie in Neapel und Baia erlebt, zu befreien: [...] there was always the danger lest that witch of the south should again overcome his will and lull him into impotence of vain regret. For such a long time he had believed that Italy was for ever closed against him, that the old delights were henceforth converted into a pain which memory must avoid.(E, 308) Mallards wiedergefundenes Gleichgewicht und die wiederentdeckte Freude an Italien durch seinen Sieg über die ‚Hexe des Südens’ sind teuer erkauft. Die einstigen Erinnerungen an Italiens Reize, die Landschaft und ihre Schönheit, die Menschen und ihre Lebensweise hatte er, wie er glaubte, völlig aus seinem Gedächtnis streichen müssen, um wieder zu sich selbst finden. In freiwilliger Unterordnung unter eine harte Selbsttherapie mied er drei Jahre jeden Gedanken an die Orte seines im Rückblick unverständlichen Versagens - Neapel, Pozzuoli, Baia, Sorrent, Amalfi - und sucht sie dann auf, um zu prüfen, ob “that witch of the south“ ihn eventuell wieder durch das Vorgaukeln abwegiger Träume in ein seelisches Tief stürzen könnte. Durch Rückkehr an die Stätten seiner seelischen Pein ge- 303 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG winnt er Distanz und innere Freiheit, “thus [...] reinstating himself in his own good opinion, as a man who did that which he set himself to do”.(E, 309) Die Kraft zur Selbstheilung hatte er allerdings nicht im Süden, sondern im Norden gefunden in jenem “[…] misery of those first months of northern exile - his battling with fierce winds on sea and moorland and mountain, his grim vigils under stormy stars.”(E, 309) Askese und Einsamkeit, Entbehrung und Kampf gegen die rauhe Natur des Nordens waren der Schlüssel zur Regenerierung seiner seelischen Kräfte. In den Ruinen der Tempel von Paestum stoßen, wie vereinbart, die Spences und Miriam Baske auf Mallard, und “[he] took the first opportunity of looking with scrutiny at Mrs Baske.“(E, 311) Sie wirkt gesünder, jünger, eindeutig hübscher, noch reserviert und förmlich, aber nichts an ihrer Kleidung deutet länger auf Provinzialität hin. Miriam alone was almost silent, but she paid constant attention to the ruins. Mallard heard her say something to Eleanor about the difference between the columns of the middle temple and those of the so-called Basilica; three years ago, such a remark would have been impossible on her lips, and when he glanced at her with curiosity, she seemed conscious of his look.(E, 312) Miriams dreijähriger Aufenthalt in Italien hat nicht nur ihr Äußeres und ihre Gesundheit zum Positiven hin verändert, sondern auch ihr Verhalten und ihr Wesen. Was Mallard beeindruckt, sind ihre geistige Aufgeschlossenheit und Neugier, ein Interesse an der Landschaft, der sie zu Anfang ihres Italienaufenthaltes schlichtweg ablehnend gegenübergestanden hatte. Sie ist offener für Eindrücke des Fremden, und damit einher geht eine ungewohnte Aufmerksamkeit für das Verhalten Anderer, wie ihr bewusstes Registrieren von Mallards Blick zeigt. Erstaunlicher noch ist die Relativierung ihrer einst rigiden religiösdogmatischen Einstellung in der Picknickszene im Poseidontempel: ’There is a smack of profanity in this’, said Spence. ’The least we can do is to pour a libation to Poseidon, before we begin the meal.’ And he did so, filling a tumbler with wine and solemnly emptying half of it on the floor of the cella. Mallard watched the effect on Mrs Baske; she met his look for an instant and smiled, then relapsed into thoughtfulness.(E, 312) Miriams Lächeln als Reaktion auf Spences nicht gerade einfallsreiche Parodie eines Rituals der Antike ist Beleg für innerliche Entkrampfung. Vertieft wird diese Punkt durch Wiedergabe einer humorvollen Szene: Zwei deutsche Besucher, allem Anschein nach Künstler, sind von der Begegnung mit der antiken Stätte so angetan, dass der eine, im Überschwang der Begeisterung, seinem Begleiter ständig so heftige Schläge auf den Brustkorb gibt, dass dieser fast zu Fall kommt. Als sich der kleinere auf die Schultern des anderen stellt, um noch genauer Details der Säulen zu erkennen, unterdrückt Miriam mühsam einen Lachanfall. 304 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED For the first time since they [Miriam and Mallard] had been acquainted, they looked into each other’s eyes with frank, hearty merriment. Miriam speedily controlled herself, and there came a flush to her cheeks.(E, 312) Das befreiende Lachen ist bei beiden Zeichen von neu gewonnener Distanz und Unabhängigkeit, in ihrem Falle von den Denkvorgaben der englischen Provinz, in seinem Falle von den Erinnerungen an seine seelische Krise. Der gegenseitige Blick in die Augen ist wortlose Kommunikation, Signal von Offenheit, Verständnis und Vertrauen - und noch mehr: Dieser symbolisch bedeutsamen Geste der Körpersprache haftet etwas Intimes an. Sie hat im Kontext der Phänomenologie der Sinnlichkeit haptische Qualität und spricht in symbolischer Gestik das emotionalste der Sinnesorgane bezüglich Interaktion an, den Tastsinn. Miriam erahnt und spürt unwillkürlich diese Zusammenhänge, wie das Erröten ihrer Wangen als Zeichen des Wunsches nach Vertraulichkeit und Intimität signalisiert. Diese vom Bewusstsein nicht gesteuerte Reaktion des Körpers ist die paraverbale Sprache des Leibes, die hier ein Begehren sichtbar macht, das sich als zu entschlüsselnde Botschaft an das andere Ich und dessen intersubjektive Kompetenz wendet. Genau an diesem Punkt treten allerdings im Subtext Mallards soziale und kommunikative Defizite zu Tage. Im Laufe des zwanglosen Geplauders bemerkt er beißend ironisch: ”One supposes that Englishmen with brains are occasionally to be found in Italy, but I don’t know where they hide themselves.”(E, 312) Taktvollerweise müsste er Spence von seinem Urteil ausnehmen, was er nicht tut. Auffallender noch ist, dass Frauen, also auch Eleanor und Miriam, gar nicht erst in die forsche Kritik einbezogen werden. Mallard geht grundsätzlich davon aus, dass Frauen weniger wissen und Zusammenhänge nur mit Mühe durchschauen. So hält es Edward Spence, der einerseits Mallards Denkstrukturen kennt und andererseits für Miriam eine Lanze brechen möchte, für angebracht, ihn über ihre Lernfortschritte ins Bild zu setzen: ’She has read a great deal; most of it reading of a very substantial kind. Not at all connected with religion; [...].The Greek and Latin authors she knows fairly, in English or French translations.[...] She has grappled with whole libraries of solid historians. She knows the Italian poets. Really, no common case of a woman educating herself at that age’.(E, 315) Diese Mitteilung müsste Mallard Bewunderung, zumindest aber doch Respekt abnötigen. Seine einzige Reaktion jedoch ist, dass er sich nach Miriams Alter erkundigt und, wie zum weiteren Beweis seiner Überheblichkeit, hinzufügt, dass sie allem Anschein nach noch nicht ihren Seelenfrieden gefunden habe, was Spence wahrheitsgemäß und vorsichtig bejaht. Mallard hat ein defizitäres Frauenbild und ist, bei aller zur Schau getragenen Unkonventionalität, einer patriarchalischen Weltsicht verhaftet. Miriam hat bei ihrer Selbsterziehung quantitativ und qualitativ eine außergewöhnliche Leistung durch Willensstärke und unermüdlichen Fleiß er- 305 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG bracht. In Spences untertreibender Litotes - “no common case for a woman“ - klingen Anerkennung und Stolz durch, aber Mallards deplatzierte Frage nach Miriams Alter ist respektlos und Zeichen männlicher Arroganz. Seine mangelnde soziale Kompetenz wird insbesondere bei Frauen mit einer “modern education“ und “a lucid brain“ sichtbar, so auch bei seinem Mündel Cecily Doran, und die allwissende Erzählinstanz kennt auch die Ursache: “[…] prejudice, which [...] signified simple jealousy“(E, 87f.). Mallard denkt in Klischees einer rollenspezifischen Geschlechterhierarchie und überdeckt letztlich, wie der Subtext offen legt, eine tief sitzende Unsicherheit über die eigene Identität. Ein Szene in Paestum bezeugt in der Tat, dass Miriams innerer Wandel in Italien zu einem neuen, positiven Persönlichkeitsprofil qualitativ bedeutsamer ist als Mallards Regenerierung, denn sie hat an kommunikativer und sozialer Kompetenz gewonnen, was in seinem Falle nur sehr eingeschränkt gilt: As they were idling about after lunch, Mallard kept near to Miriam, but without speaking. He saw her stoop to pick up a piece of stone; presently another. She glanced at him. ’Bits of Paestum,’ he said, smiling; ’perhaps of Poseidonia. Look at that field over there, where the oxen are; they have walled it in with fragments dug up out of the earth - the remnants of a city.’ She just bent her head in sign of sympathy. A minute or two after, she held out to him the two stones she had taken up. ’How cold one is, and how warm the other! ’ One was marble, one travertine. Mallard held them for a moment and smiled assent; then gave them back to her.(E, 313) Zunächst ist bezeichnend für Mallards Selbstbild, dass er schweigend neben Miriam geht und es ihr überlässt, den kommunikativen Kontakt durch ihren Blick auf ihn herzustellen. Dieser Blick ist Aufforderung zum Austausch von Gedanken, aber stattdessen beginnt er zu dozieren, weil er glaubt, Miriam über Geschichte belehren zu müssen. Der symbolisch vielsagende Unterschied zwischen dem kalten und dem warmen Stein ist eine Analogie zu ihren Temperamenten bzw. Charakteren. Der harte Marmor ist, wie Mallard, unempfänglich gegenüber Wärme, im physikalischen und im zwischenmenschlichen Sinne; der poröse, offene Travertin erweist sich dagegen, wie Miriam, als aufgeschlossen für das, was ihn umgibt. Auffallend ist zudem, dass Mallards Gedanken in die Vergangenheit führen, die Miriams dagegen in die Gegenwart. Der Umstand, dass ihm die Gegensätzlichkeit ihrer Reaktionen nicht auffällt und er Miriams Bemerkung über die unterschiedlichen Eigenschaften der Steine wortlos aufnimmt, ist Hinweis darauf, dass zwischen beiden Figuren noch beträchtliche Hindernisse bezüglich einer weiteren Annäherung bestehen. Mallards zustimmendes Lächeln kann allerdings als erzählerischer Vorgriff auf ein letztendliches Gelingen gedeutet werden. 306 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED 3.4.3 Ergebnisse im Kontext 3.4.3.1 Die Gegensätzlichkeit von England und Italien im Spiegel einer Vielfalt heterostereotyper Italienbilder In The Emancipated überwiegt bei der Verteilung der Schauplätze der äußeren Handlung auf die zwei Räume England und Italien der letztere anteilmäßig. Innerhalb Italiens finden die Ereignisse anfangs in Neapel und Umgebung statt, später auch in Paestum und in Rom. In England ist im Wesentlichen der Großraum London Handlungsort, unterbrochen durch kurzzeitige Verlagerung nach Bartles, Lancashire. In den Gesprächen und Erinnerungen der Romanfiguren tauchen allerdings weitere Orte in England mit z.T. erheblicher Bedeutung für individuelle Lebensverläufe auf: “the murky little town of Sowerby Bridge, in Yorkshire“(E, 75) mit Bezug zu Ross Mallard, Manchester mit Bezug zu Reuben und Miriam Elgar, Cornwall mit Bezug zu Cecily Doran. Die in der räumlichen Opposition angelegte Gegensätzlichkeit von England und Italien durchzieht das Handlungsgeschehen als Ganzes und wird immer wieder thematisiert: “[…] not only ’culture’ in the sense of art and antiquity but the whole Italian experience in all senses pervades the book both as image of themes and as environment in which they can develop.“ 653 Erzähltechnisch geschieht dies in deskriptiven Passagen, Gedankenberichten, Rückblenden und kommentierenden Erläuterungen des auktorialen Erzählers, in Dialogen und Briefen der Figuren. Ein Blick auf Anfang und Ende des Romans mag illustrieren, in welchem Grad das im Text allgegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen England und Italien die Handlung beherrscht. 654 In der allerersten Szene zeigt der Text Miriam Baske vor einem der schönsten Landschaftspanoramen Italiens, dem Blick über die Bucht von Neapel, wie sie unter dem Eindruck leidet, sich im Exil zu befinden. Als Puritanerin in Neapel, wie Mallard sie nennt, ist sie in Kleidung, Mimik und Verhalten die verkörperte Gegensätzlichkeit von England und Italien. Am Romanende steht das Gespräch zwischen Edward Spence und seiner Frau Eleanor in London über Cecilys bitteres Los nach Reubens Tod und dem Zerbrechen ihrer so hoffnungsvoll begonnenen Liebe in Italien; der allerletzte Satz ist ein italieni- C.J. Francis, The Emancipated, in: The Gissing Newsletter, vol XI, No 1, Jan 1975, 8. 653 654 Gissing war in der neueren europäischen Literatur und insbesondere in der deutschen ungewöhnlich belesen. “Not only the obvious names - Kant, Goethe, Schiller, Heine, Schopenhauer, Nietzsche - but Feuerbach, Fichte, Häckel, Schelling Strauss, Reusch or those clever enthralling storytellers that Kongcote in Isabel Clarendon reads to young Percy Vissian, that is Tieck, Musäus, Grimm, Bechstein and Hauff.”(Coustillas, Gissing the European, in: Postmus, A Garland for Gissing, 3f.) Jedoch, ”Once, in a despondent mood, he admitted that the future of only two European countries interested him - England and Italy.”(ebd., 6). 307 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG sches Zitat aus Boccaccios Decamerone (’Bocca baciata non perde ventura; anzi rinnuova, come fa la luna’ - ’Lips that have been kissed do not lose their chances; they renew themselves like the moon’) zum Trost für die mitfühlende Eleanor. Der Topos der kulturellen Unterschiedlichkeit, im einen Falle Konflikt erzeugend, im anderen Konflikt mildernd, umfasst den Text buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite. In das Spannungsfeld der beiden Kulturräume sind alle Personen englischer Herkunft des ersten Romanteils eingebunden - Personen italienischer Herkunft haben im Gesamttext reine Statistenrollen als Fischer und Straßenverkäufer inne -, doch auf höchst unterschiedliche Weise. Für Gissing eröffnet sich so die Gelegenheit, aus sozialpsychologischer Sicht - “[…] the Victorian period is in large part defined by the erosion of one commonly agreed value structure“ 655 - und mit kulturkritischem Blick Varianten in der Wahrnehmung von Differenz sichtbar zu machen. 656 Bei den Figuren der zweiten Bedeutungsebene handelt es sich im Regelfall um statische Sichtweisen, um immobile Auto- und Heterostereotypen. Die Personen der ersten Bedeutungsebene jedoch durchlaufen Wandlungsprozesse sowohl im Blick auf äußere Lebensumstände als auch auf innere Einstellung, ausgelöst durch die unterschiedlichen Sinnkonstellationen, die England und Italien darstellen. Ihre Selbst- und Fremdbilder unterliegen z.T. erheblichen Veränderungen. Stereotype Wahrnehmungsmuster sind trotz bzw. wegen ihrer rigiden Hartnäckigkeit häufig Bestandteil von Bildern kultureller Gegensätzlichkeit (vgl. 1.3.1-3). Das eklatanteste Beispiel für klischeehaftes Sehen in The Emancipated ist Mrs Bradshaw, Ehefrau eines Fabrikanten aus Manchester, die sich mit ihrem Gatten aus Statusgründen auf Italienreise befindet: “[She] had the heartiest and frankest contempt for all things foreign; in Italy she deemed herself among a people so inferior to the English that even to discuss the relative merits of the two nations would have been ludicrous”(E, 31). Mit versteckter Ironie registriert der Erzähler “[...] the fine self-satisfaction on her matronly visage, the good-natured disdain with which she allowed herself to be waited upon by foolish foreigners[...].”(E, 149) In Mr Bradshaws Augen erweist sich ganz Italien, auch Pompeji, als bedauerliche Abweichung von England, dem ”land of civilization“(E, 207). “Gissing uses elderly figures to represent the bedrock of conventional society, but he draws these characters ironically, playing the devil’s advocate specifically to reveal the absurdity if 655 Lucy Crispin, Living in Exile: Self-Image, Social Role and the Problem of Identity, in: Postmus, A Garland for Gissing, 43. 656 “To him it was clear that Europe, a mere geographical entity traversed by age-long distrusts and hatreds, was heading for catastrophe. He who was so ready to admire what was admirable in Italy thought it a calamity that the Italian government should have formed an alliance with those of Germany and Austria-Hungary. His all to justified dark prophecies were to earn him a reputation as a prophet of doom, as a kill-joy with clear eyes.” (Coustillas, Gissing the European, in: Postmus, A Garland for Gissing, 8f.). 308 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED immutable social mores. Indoctrinated from birth, the older generation remains steadfastly resistant to social change, [...] especially the women, being pathetic, puppet-like creatures functioning mechanically within the limits of their social code.” 657 Es spricht für des Autors erzählerisches Gespür, dass er die Bradshaws in ihrer bornierten Selbstzufriedenheit humorvoll in Dickens’ Art als skurrile Typen vorführt statt sie zu gnadenlos verurteilen, was seiner tiefsten Überzeugung entsprochen hätte. 658 “[Gissing] went to Italy in order to learn, not to air any form of superiority, and he had no patience with foreigners who looked down upon the vestiges of ancient civilization. 659 “ Auf seiner Reise durch das südliche Festland artikuliert er seine Auffassung unmissverständlich: “[…] among the simple on Italian soil a wandering stranger has no right to nurse national superiorities, to indulge a contemptuous impatience. It is the touch of tourist vulgarity.”(IS, 94) 660 Seine Erfahrungen in einem Café in Catanzaro beschreibt er so: “These people have an innate respect for things of the mind, which is wholly lacking to a typical Englishman.[...] From many a barparlour in English country towns I have gone away heavy with tedium and disgust; the café at Catanzaro seemed, in comparison, a place of assembly for wits and philosophers.”(IS, 118f.) 661 Keine ablehnende, aber eine indifferente Einstellung zu Italien kennzeichnet den kauzigen Junggesellen Mr Musselwhite, dessen Gedanken in Neapel einzig um ’the place in Lincolnshire’ kreisen, einen kleinen Landsitz, der ihm nach dem Tod seines Bruders tatsächlich zufällt. Er wird als freundlicher, aber engstirniger Vertreter einer Gesellschaftsklasse vorgestellt, für die Italien ohne Bedeutung bleibt. Clifford Marsh hingegen geriert sich als romantisch-jugendlicher Heißsporn und noch unentdecktes Malergenie, den Italien zu revolutionärem Gestus inspiriert. Reichlicher Weingenuss verleitet ihn zu waghalsigen Gedankenflügen: “’[…] democracy is the fatal enemy of art.[...] Art, gentlemen, is nourished upon inequalities and injustices! [...] The multitude will never be humanized. Civilization is attainable only by the few; nature so ordains it’.”(E, 100f.) Als selbst ernannter Fürsprecher der Kunst erteilt er den Strömungen seiner Zeit eine Absage: "’Socialism, communism, collectivism, parliamentarism - all these have one and the same end: to put man on an equality; [...]’.”(E, 100) Gern wäre er Historienmaler, fürchtet aber schon im voraus das Unver- Rawlinson, Devil’s Advocate, 4. 657 658 “Gissing was influenced profoundly by Dickens and George Eliot, with the rider that like all distinguished minor artists, this influence in his best work was used with individuality and transformed to his own tastes and interests.”(Leavis, The Late Nineteenth Century Novel and the Change towards the Sexual, 37f.). Ebd., 7. 659 660 “Clearly, the turning-point in his inspiration was his first visit to Italy from October 1888 to February 1889.” (Coustillas, Introduction, in: Gissing, The Emancipated, ix). 661 Im Zusammenhang mit seiner Englandkritik ist die Formel von ‚Gissing’s inner emigration’ gebraucht worden (vgl. Sloane, George Gissing: The Cultural Challenge, 9). 309 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG mögen englischer Kritiker, “[so] I have fallen back on landscape“.(E, 100) “Gissing satirized the affectations of drawing room Aesthetic poseurs like the untalented painter Clifford Marsh [...]” 662 . Als sein Stiefvater, Fabrikant aus Leeds, mit Einstellung seiner Zahlungen droht, entschließt sich Marsh jedoch umgehend zur Rückkehr in die gescholtene bürgerliche Welt. Ein gleichfalls statisches und wiederum durch handfeste Klischees verzerrtes Italienbild kennzeichnet Mrs Denyers Sichtweise: ’A sad, sad change! ’ Mrs Denyer was wont to sigh. ’All the poetry gone! Think of Rome before 1870, and what it is now becoming. One never looked for intellect in Italy - living intellect, of course, I mean - but natural poetry one did expect and find.[...] I am sure you must feel, as I do, Mrs Lessingham, the miserable results of cheapened travel. Oh, the people one sees at railyway-stations, even meets in hotels,[...]. In a few years, I do believe, Genoa and Venice will strongly remind one of Margate’.(E, 123) Dieses Fixbild aus Fortschrittsfeindlichkeit, Gefühlsduselei und anglozentrierter Arroganz zeigt, dass Mrs Denyers Italienbegeisterung nicht authentisch ist, sondern das heuchlerische Produkt ihres Standesdünkels mit der pragmatischen Funktion, ihr Selbstbild auf Kosten des pejorativen Fremdbildes zu stärken. Ihr Interesse an Italien reduziert sich darauf, gewollte soziale Abgrenzung in England durch Italienreisen zu markieren. Die Sicht ihrer Tochter Madeline auf Italien ist anfänglich gleich schablonenhaft, aber ein folgenschwerer Sturz führt zu einer irreparablen Lähmung, die ihre Lebensplanung zunichte macht. “Madeline herself with her pert artistic patter, her anxiety to be modern and avantgarde, makes her debut in the novel as a vulgar parody of Cecily; her subsequent condition of paralysis and hopelessness becomes - as Cecily realizes (p. 401) - a grim symbol of the latter’s own fate.” 663 Am Ende des Romans besteht für Cecily in der Tat ebenso wenig Aussicht auf Besserung wie für die todkranke Madeline, die mit nun authentischen Gefühlen auf ihrem Sterbebett ein lebensvolles Bild Neapels generiert: ’If I close my eyes, how well can I see Naples! Now I am walking through the Villa Nazionale, I come out into the Largo Vittoria, where the palmtrees are - do you remember? Now I might go into the Chistamone, between the high houses; but instead of that I’ll turn down into the Via Caracciolo and go along by the sea, till I’m opposite the Castell dell’Ovo. Now I’m turning the corner and coming on to Santa Lucia, where there are stalls with shells and ices and fish. I can smell the Santa Lucia.’(E, 289) In ihrer existenziellen Not schafft sich Madeline eine metaphorische Landschaft, „Speicher für Gedächtnisinhalte und Bedeutungen aus einer frühe- 662 Diana Maltz, George Gissing as Thwarted Aesthete, in: Postmus, A Garland for Gissing, 204. Grylls, Determinism and Determination in Gissing, 75. 663 310 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED ren Zeit“ 664 , mit Neapel als transzendiertem, symbolisch verklärtem Raum im Kontrast zur grausamen Realität des Sterbezimmers in London. Von scharfen Differenzen ist auch Reubens Bild der Gegensätzlichkeit der beiden Länder gekennzeichnet. Seiner Schwester Miriam, die nachhaltiger unter dem puritanischen Elternhaus leidet als er, rät er zur seelischen Therapie: “’Stay in Italy a long time, now you are here’“ (E, 65). Noch deutlicher fällt sein Rat an Mallard aus, der als einziger der Engländer im Roman zum Arbeiten in den Süden gereist ist: ’I should have pictured you grandly jovial, wreathed perhaps with ruddy wine-leaves, the light of inspiration in your eye, and in your hand a mantling goblet! 665 Drink, man, drink! You need a stimulant, an exhilirant, an anti-phlegmatic, a counter-irritant against English spleen. You are still on the other side of the Alps, of the Channel; the fogs yet cling about you. Clear your brow, O painter of Ossianic wildernesses! Taste the foam of life! We are in the land of Horace, and nunc est bibendum! ’(E, 1o1) 666 In geistvoll-parodistischer Übertreibung und unter Anspielung auf Mallard als Landschaftsmaler des Nordens zeichnet Reuben ein stark kontrastives Bild in Bezug auf Atmosphäre und Stimmung, Befindlichkeit und Kreativität. Ossian versus Bacchus, Schwermut gegen Lebenslust, Trübsinn gegen Genussfreude: Jenseits holzschnittartiger Stereotypisierung wird Reubens echte Italienbewunderung sichtbar. In Positano “Elgar was like one possessed at his first sight of the wonderful old town”(E, 111), er spricht von “Sorrento the indescribable” und “Amalfi the unimaginable”(E, 131), und noch Jahre später, in England, sagt er emphatisch: “’Italy, Italy! Who doesn’t think of Italy? ’“(E, 368) Ein wiederum anderer Aspekt der Polarität von Norden und Süden tritt in Mallards Diskussion mit Spence über Bildhauerei hervor, wobei das Grundthema der Emanzipation variiert wird. Anlass war, nach dem Besuch der Sixtinischen Kapelle, Mallards und Miriams Spaziergang durch Rom. Nach ihrem Eingeständnis, dass ihr Malerei mehr bedeute als Skulpturen, will er am Beispiel eines zufällig vorüberziehenden Ochsengespannes ihr Interesse wecken: “’They always remind me of the antique - of splendid power fixed in marble. They are the kind of oxen that Homer saw, and Vergil’.“(E, 322) Für Gissing wie für seinen Helden ist der ’genius loci’ in Italien der Zugang zur grandiosen Welt antiker Kunst, die ihrerseits, vor allem in den Skulpturen, mit ihrem unbefangenen Blick auf Körper und Nacktheit, der Schlüssel zu wahrer Emanzipation sei. In der Neuzeit, relativiert Spence, lasse zumindest Italien dem Einzelnen mehr Freiheit als England mit seinem Puritanismus, der Menschen zu Kleinbürgern und Spießern mache. Vgl. dazu 1.2.3: ‘Die metaphorische Landschaft’. 664 665 “As a goblet can hardly be ’mantling’, this may be a slip for ’mantling vine’(Milton, Paradise Lost, IV, line 258).” (P.F. Kropholler, Notes on ’The Emancipated’, The Gissing Newsletter, 13 (ii), 1977, 18). “From Horace: Odes, I.XXXVII.1.”(ebd., 18). 666 311 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die Figur, die die Vorzüge Italiens und die Nachteile Englands am anschaulichsten hervortreten lässt, ist Cecily Doran. Bis zu Tränen gerührt - “[…] tears of ecstasy made her sight dim“(E, 25) - preist sie auf ihrer ersten Italienreise die Schönheit der Landschaft und den Wert der Kunst. Italien ist Schauplatz der Sinnerfüllung, deren Höhepunkt in der Mondnacht auf Capri erreicht wird. Mrs Lessingham teilt ihre Begeisterung für das Land, die sie sich über Goethes Italienische Reise erschlossen hat: “’Goethe - you remember he says that the desire to see Italy had become an illness with him. I know so well what that means’.“(E, 22) 667 Ihre gesellschaftlich-elitären Motive haben allerdings wenig mit Cecilys enthusiastischer Hingabe zu tun. Die Dame aus bester Gesellschaft versteht es, ihre Italienliebe überzeugend zu formulieren, doch ihr Bild des Landes bleibt inhaltlich farb- und konturenlos. Auf Cecilys zweiter Reise drei Jahre später, nach dem Tod ihres Kindes und ihrer zerbrochenen Ehe, wird die Rezeption der Eindrücke in dem einst überschwänglich bewunderten Land zum Gradmesser des Sinnverlustes. Nach den ihr von Reuben in der Ehe auferlegten Verboten, nach den Demütigungen durch seine außerehelichen Affären, nach dem totalen Vertrauensverlust aufgrund seiner Antriebslosigkeit und permanenten Heuchelei denkt sie schließlich an Rebellion und Revolte. Als ihr kleiner Sohn Clarence in ihren Armen stirbt, während sich Reuben außer Haus vergnügt, begibt sie sich, auf dem Höhepunkt ihrer Desillusionierung, zur psychischen Regeneration auf eine Italienreise, die zum bitteren Beweis ihres Verlustes an Begeisterungsfähigkeit, an Glauben an das Schöne und Ideale und an ihr Selbstvertrauen wird. Cecily was seeing Rome for the first time, but she could not enjoy it in the way natural to her. It was only at rare moments that she felt Rome (Hervorhebung: G. Gissing). One of the most precious of her life’s anticipations was fading into memory, displaced by a dull experience numbered among disillusionings. Not that what she beheld disappointed her, but that she was not herself in beholding.[...] It had been the same in Florence. (E, 348) Die in England ihr nicht bewusst gewordene innere Verkümmerung wird in Italien als lähmender Rückschritt offengelegt. “In his marriage quartet, Gissing suggests that [...] experience alone would be [the women’s] toughest and truest teacher“ 668 . Die Erkenntnis, sich mit Reuben für den Falschen 667 „Ja, die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen; zuletzt durft’ ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend. Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: […] es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt.“ (Goethe, Italienische Reise, 167f.). 668 Sandra R. Woods, Dangerous Minds: The Education of Women in Gissing’s Marriage Quartet, in Postmus, A Garland for Gissing, 114. 312 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED entschieden zu haben, endet in Depression und Sinnkrise in dem Raum, der ihre Ideale verkörpert und getragen hatte. Die psychisch ähnliche Erfahrung einer Schaffenskrise beginnt für Mallard auf dem Spaziergang nach Baia, als ihn die Reize der Landschaft zu abwegiger, erotisierter Träumerei über Cecily verleiten. Der eigentliche Reisezweck, in Amalfi und Paestum zu malen, löst sich in nichts auf, und erst der dreijährige Aufenthalt im Norden führt ihn durch Disziplin und Askese zum gewohnten Arbeitsethos zurück und danach zum Ausstellungserfolg: “The picture was a piece of coast-scenery in Norway, very grand, cold, desolate.“(E, 274) Zur individuellen Glücksfindung bedarf es allerdings des Südens. In Rom findet er innere Ruhe, Freiheit vom Zwang der Pflicht und erfüllende Zufriedenheit. Sein Arbeitsethos spiegelt eine Seite seines Wesens, doch die andere sehnt sich nach Teilhabe am bunten Leben, wie es in Italien ist. Der scharfe Nord-Süd-Kontrast wirkt in Mallard nicht polarisierend und ausgrenzend, sondern kompensatorisch und komplementär: Psychische Stabilität bedarf der Symbiose. 669 Am schärfsten tritt die kulturelle Gegensätzlichkeit von England und Italien in der Protagonistin Miriam zu Tage, doch am Ende zieht sie den größten persönlichen Gewinn aus der Begegnung mit der Fremde. Ihre anfänglich kompromisslose Ablehnung Italiens hatte geradezu skurrile Züge, und in Gedanken lebte sie in autistischer Isoliertheit in der puritanisch-bigotten Welt von Manchester und Bartles, wo Kunst und Dichtung trivialer Zeitvertreib, geistige Aufgeschlossenheit und Lebensfreude zu missbilligendes Verhalten, Eigenständigkeit und Selbstreflexion gefährliche Schritte zur Sünde, Schönheit und Ästhetik moralisch verwerfliche Verirrungen sind. Miriams ‚Erwachen’ zu ästhetischer Landschaftswahrnehmung leitet ihren psychischen Erweckungsprozess ein. Der tägliche Blick vom Fenster auf Capri erzeugt, aus der Haltung eines Kant’schen ‚interesselosen Wohlgefallens’, die Landschaft als ästhetischen Gegenstand mit der Wirkung von ”luring charm“(E, 211) und “perilous enticement“ (E, 204): Es kommt zu einem “awakening of the imaginative part of her nature“(E, 211). Die Metapher des Erwachens greift Reuben am Kap von Sorrent gegenüber Mallard auf: ’[...] she’s a good girl, and has wit enough if she might use it. Oh, if some generous large-brained man would drag her out of that slough of despond! What a marriage that was! Powers of darkness, what a marriage! [...] I mean, there are possibilities in her; I am convinced of it.’(E, 110; Hervorhebung: G. Gissing) Rhetorisch effektvoll, auf Bunyan und eine manichäische Weltenteilung anspielend, beschwört Reuben in brüderlicher Sorge ein Befreiungsszena- 669 An diesem Punkt wird sichtbar, insbesondere beim Einbezug des Urteils von H.G. Wells (vgl. 3.4.1), in welch hohem Maße die Figur Mallards eine Verkörperung Gissings darstellt. 313 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG rium für seine Schwester aus der weltanschaulichen Gefangenschaft dogmatisch-solipsistischer Vereinsamung 670 : Keine Stelle des Romans emotionalisiert den Kontrast zwischen England und Italien in bildhaft eindrucksvollerer Weise. In den Hetereostreotypen über Italien auf einer Bewertungsskala vom rundweg Negativen bis einschränkungslos Positiven sind die variablen Italienbilder der drei Hauptakteure die psychologisch interessanten. Zentral für positiven Wandel ist bei Gissing der Glaube “[…] in effort and endeavor, in striving, persistence and determination“ und ungeachtet seiner pessimistischen Grundeinstellung “the liberal belief in individual perfectibility [...]“ 671 , den Miriam verkörpert. “'In Mallard and his wife, at the end, I wanted to show two people who had settled down to a wholesome, unpretending life of work and duties; ’ (Gissing and Wells, p. 49)” 672 . Für sie ist der Verbund Italiens mit Tugenden des Nordens Bedingung der Möglichkeit zu (relativem Ehe-)Glück. 3.4.3.2 Die Landschaft als Sonde in seelisches Tiefengeschehen und als Seismograph zur Sichtbarmachung des Unbewussten Im Vergleich zu Corinne ou l’Italie, Little Dorrit und Middlemarch spielt italienische Landschaft in The Emancipated quantitativ und qualitativ eine ungleich bedeutsamere Rolle: Aus quantitativer Sicht, weil die Zahl der Bezugnahmen auf die fremde Landschaft größer ist 673 und aus qualitativer Sicht, weil die Bedeutsamkeit des fremden Natur- und Kulturraumes in 670 In einem Brief an seinen Freund Eduard Bertz schreibt Gissing 1893: “My demand for female ’equality’ simply means that I am convinced there will be no social peace until women are intellectually trained very much as men are. More than half the misery of life is due to the ignorance & childishness of women. The average woman pretty closely resembles, in all intellectual considerations, the average male idiot - I speak medically. That state of things is traceable to the lack of education, in all senses of the word. Among our English emancipated women there is a majority of admirable persons; they have lost no single good quality of their sex, & they have gained enormously on the intellectual (& even on the moral) side by the process of enlightenment, - that is to say, of brain-development.”(Rawlinson, Devil’s Advocate, 1f.). In einem Brief an William Blackwood 1893 heißt es: ”Everything that concerns the education of women - the one interest of our time, the one thing needful - strongly appeals to me.”(Hervorhebung: G. Gissing; ebd. 6). Vogeler, The International Gissing Conference, 4. 671 Grylls, Determinism and Determination, 73. 672 673 In The Emancipated (London: Lawrence and Bullen, 1893) lassen sich in Teil I (16 Kapitel) 27 Bezugnahmen auf Italien feststellen, die im Umfang zwischen wenigen Sätzen und mehr als vier Seiten variieren; 18 dieser Bezugnahmen sind Landschaftsbeschreibungen im engeren Sinne. In Teil II (17 Kapitel) sind 20 Italienbezüge festellbar, darunter mehrere umfängliche zur italienischen Kulturlandschaft, in einem Falle mit mehr als sieben Seiten Länge.; in zwei Fällen geht es um Beschreibung von Naturlandschaft. 314 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Bewusstwerdungs- und Veränderungsprozessen höher ist. In Gissings Roman ist der unbekannte Raum nicht nur Ort von Assoziationen, Analogien und Symbolik für die aufnahmebereiten Akteure, wie bei Corinne und Little Dorrit, sondern darüber hinaus, wie in Middlemarch, von Anreizen, Impulsen und Stimuli geprägt. In Überschreitung dieser Funktionen wird der Raum in The Emancipated aber zeitweise sogar zu einem auf gleicher Augenhöhe agierenden, am Handlungsgeschehen beteiligten und gestaltend eingreifenden Subjekt. Christina Sjöholm hat diesen Befund so formuliert: “The Italian setting can [...] be said to be a main character of the first part of the novel.” 674 Dieser Eindruck entsteht an geeigneter Stelle durch ungewöhnliche narrative Gestaltung. Der erzählerische Vorwand für die Darstellung der neapolitanischen Stadtlandschaft ist es, den Leser durch das Gewirr der Gassen, Straßen und Plätze zum abseits gelegenen Gästehaus zu lenken, um ihm auf diese Weise das grandiose Bild einer ganz anderen Lebenswelt als der englischen zu zeigen, “[...] a Browningesque cumulation of human life and activity“ 675 . Auffallend ist, dass Mallard in der Beschreibung überhaupt nicht erwähnt wird, weder als Akteur noch als Pensionsgast. Die exotische Außenwelt, wahrgenommen ausschließlich aus der Perspektive der allwissenden Erzählinstanz, erhält so einen quasi eigenen Seinsstatus und eigenständige Individualität. Naturgemäß kommt es beim Lesen, wenn keine andere Person genannt wird, zur Gedankenverbindung zwischen Stadtbild und Mallard, und der Schluss drängt sich auf, dass die Beschreibungsmerkmale der Altstadt Neapels den Ausschlag für seine Wahl der Casa Rolandi gegeben haben, wo er im Übrigen der einzige Gast zu sein scheint. Auf diese Weise werden drei Aspekte seiner Persönlichkeitsstruktur sichtbar: 1. seine Empfänglichkeit für Sinneseindrücke; 2. sein Gespür für Authentizität; 3. seine Unkonventionalität in der Begegnung mit dem Fremden. 676 Das Überraschende ist aber, dass in der Verknüpfung von Außen- und Innenwelt Aspekte in den Vordergrund treten, die für Mallards bisherige Lebens- und Denkweise untypisch sind oder sogar im Widerspruch dazu stehen. Die Vitalität und Lebensfreude der Neapolitaner, ihre quirlige Geschäftigkeit und sorglose Improvisation, ihre unbekümmerte Extrover- 674 Christina Sjöholm, The Vice of Wedlock - The Theme of Marriage in George Gissing's Novels, Uppsala: Uppsala University, 1994, 38. C.J. Francis, The Emancipated, in The Gissing Newsletter, vol XI, No 1, Jan 1975, 7. 675 “This sequence [...] strikes me as one of the most brilliant things of its kind in Gissing.” (a.a.O.). 676 Mallard zeigt hier Eigenschaften, die Gissing selbst in seinem Reisebuch By the Ionian Sea (1901) an den Tag legt. Im Banne der Antike bereist er als intellektueller Kosmopolit Teile von Magna Graecia, die selbst italienische Reisende, wie er berichtet, so gut wie nie besuchen: “[…] the travel-book (or travelogue) was, at the end of the last century, associated with literature of political disengagement and protest.” (Del Nobile, Travel and Writing - George Gissing’s IdeologicaL Journey in Italy, 21). 315 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG tiertheit und offensichtliche Geringschätzung von Ordnung und Disziplin sind Eigenschaften, die keinesfalls in das bislang vom Text erzeugte Bild des Malers passen. Gleich zu Beginn ihrer Begegnung sagte Edward Spence: “’Mallard, you are a curious instance of Puritan conscience surviving in a man whose intellect is liberated. The note of your character, including your artistic character, is this conscientiousness. Without it, you would have had worldly success’.“(E, 15) Die Diskrepanz zwischen Mallards Wesen und den Gründen für die Wahl der Pension in Neapels Altstadt könnte größer nicht sein. Dies bedeutet, dass die Begegnung mit der fremden Welt des Südens eine Seite seines Inneren anspricht, die ihm selbst nicht bewusst ist. Die italienische Landschaft wird hier Korrelat jenes Teils von Innenwelt, die sogar für die Romanfigur im Verborgenen liegt, denn der Text artikuliert mit keinem Wort, was Mallard empfindet. Unter seiner Nichtbeteiligung fungiert Landschaft einerseits als Lot bzw. Sonde in seelisches Tiefengeschehen und andererseits als Mittel der Kommunikation zwischen Erzähler und Leser über die psychische Struktur der Romanfigur. Diese Psychologisierung entsprach Tendenzen der Literatur auf dem Kontinent - Maupassant, Ibsen, Strindberg -, der Gissing näher stand als der englischen. “He always admitted a closer affinity with and interest in European rather than English literature and might have been responding to the change from novels of social realism to novels of ideas and psychological realism that was in the air towards the end of the decade in Europe.” 677 In der Tat vollziehen sich in Mallard für ihn unverständliche Vorgänge. Der für wenige Tage in Neapel geplante Aufenthalt dauert länger als zwei Wochen: “This was most unwonted waste of time, not easily accounted for by Mallard himself.“(E, 75) Als er eines Morgens auf den Balkon tritt “[…] and drank deep draughts of air from the sea“(E, 75), verleibt er sich in dieser symbolischen Geste, unabsichtlich, unbewusst und entgegen seiner Reiseabsicht, die fremde Außenwelt ein. Bald danach und für ihn ungewohnt amüsiert er sich über Straßenszenen, beobachtet vergnügt das Treiben der Kinder, isst genussvoll frische Trauben auf der Straße, genießt das Schauspiel braun gebrannter Fischer am Strand und das Schaukeln der Schleppnetze an den Booten. 678 Höchst ungewöhnlich ist, dass diese Außenwelt in Gestalt der Wellen an der Ufermauer mit ihm zu kommunizieren beginnt - und einen neuen Weg weist: “[…] their drowsy music counselled enjoyment of the hour, and carelessness of what might come hereafter.“(E, 77. 679 Unter dem Sjöholm, The Vice of Wedlock, 36. 677 678 Details solch kontingenten Landschaftserlebens waren schon früheren Reisenden Anlass zum Aufbruch in den Süden: „Die Herren waren ganz verblüfft zu hören, dass ich von Leipzig nach Agrigent tornistern wollte, bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen.“ (Seume, Spaziergang nach Syrakus, 102). 679 Über Neapel schrieb Goethe: „Der Ort inspiriert Nachlässigkeit und gemächlich Leben […].“(Goethe, Italienische Reise, 267). 316 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED unverhofften und gänzlich neuen Eindruck der „wunderliche[n] Empfindung, nur mit genießenden Menschen umzugehen“ 680 mutiert die vermenschlichte Natur zur Ratgeberin in Sachen innenweltlicher Einstellung zur Welt des Außen. Ihre Bilder in Gestalt der Landschaft werden Impulsgeber, treibende Kraft bzw. Ferment zu intrapsychischen Veränderungen: Sie haben sondierend-impulsgebende Funktion. Der Ordnungsmensch Mallard lässt sich nun unter dem Einfluss und ‚Rat’ der Landschaft zum Träumen verleiten, was sich als höchst problematisch erweisen soll. Zwar sagt ihm sein Verstand, dass eine Heirat mit seinem Mündel absurd ist, weil sie zu jung ist und ihre beiden Welten unvereinbar sind. Dennoch sucht er wider alle Vernunft nach Zeichen ihrer Zuneigung auf der Fahrt nach Baia, verbirgt er nur mühsam “the riot excited in him by Cecily“, befällt ihn bedrückende Eifersucht sowohl auf Reuben als auch auf ihre unbekümmerte Selbständigkeit. Selbst in späterer Rückschau bleibt ihm die Absurdität des Ausflugstages als deplatzierter Widerstreit zwischen Verstand und Gefühl, nüchterner Einschätzung und illusionärem Wunschdenken verschlossen: “When in after-time he recalled this day, it seemed to him that he had himself been well contented; it dwelt in his memory with a sunny glow.[...] pleasure there was, no doubt, but inextricably blended with complex miseries.“(E, 89) Die ihm durch die Verführungskunst der ‚Hexe des Südens’, der zaubermächtigen Circe in heimischer Landschaft, vorgegaukelten geheimen Wunschbilder über seinen Mündel sind voll seelischer Pein und doch von verbotenem, weil erotischem Reiz: Das Imaginative überdeckt das Reale. Die Erzählinstanz freilich geht zum Helden und dessen irrationalem Verhalten auf Distanz, indem sie ihn bitterer Ironie aussetzt: Arg- und ahnungslos verkündet Cecily am Ende des Ausflugs, es ein unvergesslicher Tag gewesen. Während Mallard unter dem Einfluss der Landschaft Italiens in realitätsferne Sphären von Wunschbildern gerät, befindet sich Miriam Baske von Anfang an in Opposition zur Realität dieser Außenwelt. In Selbstisolation grenzt sie sich gegen Italien ab, gegen Landschaft und Menschen, Schönheit und Kunst und erduldet ihren Aufenthalt als Exil. Erstmalig am Morgen vor der Überfahrt nach Capri befällt sie Abneigung gegen das Bild der hl. Caecilia in ihrem Zimmer, symbolische Umschreibung demutsvoller Religiosität, aber auch ambivalentes Sinnbild einer noch zu weckenden Hinwendung zur Kunst. 681 Anstatt den Sonntag in Andacht zu verbringen, gibt sie der Versuchung nach, sich Capri im Spiel ihrer Fantasie als Piraten- und Märcheninsel vorzustellen. Miriam schafft sich auf ganz individuelle Weise des Landschaftserlebens Zugang zu einer für sie Ebd., 272. 680 681 Caecilia, Konvertitin, Märtyrerin in Rom im 3. Jh. und seit dem 15. Jh. Schutzpatronin der Kirchenmusik, soll sich während einer Hochzeitsfeier von weltlicher Musik ab- und religiöser Musik zugewandt haben, um für den Erhalt ihrer Jungfräulichkeit zu bitten.(vgl. Crystal, The Cambridge Encyclopedia, 230). 317 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG gänzlich neuen Welt, der sich sehr von der eloquenten Begeisterung Cecilys unterscheidet. Es kommt zu “this tardy awakening of the imaginative part of her nature”.(E, 211) Das entscheidend Neue für Miriam ist ihr Eintritt in ästhetische Erfahrung, ein Meilenstein auf dem Weg zur Befreiung von puritanischen Fesseln und einer Sicht von Welt als solipsistisches Konstrukt. Für ihre Psyche ist dies ein Umbruch “[…] of so strange and disturbing a kind“(E, 214), dass die gewohnte Denk- und Handlungssicherheit wegbricht. Unwissentlich wird sie jedoch immer empfänglicher für das Fremde und Andere: Capri ist nicht länger ein Felsen im Meer, sondern ein durch ihre Fantasie belebtes Gebilde. Es ist der Augenblick, in dem die Kompensation psychisch-seelischer Defizite ihrer Kindheit beginnt. Mit Blick auf die Erzählintention fungiert die Landschaft Italiens in ähnlicher Weise, wie sie es in Middlemarch tut. Dorothea erlebt eine subjektive Fragmentarisierung der römischen Kulturlandschaft, die so objektives Korrelat ihres Sinnverlustes wird. Im Falle Miriams wird die reale Welt Capris in ihrer idiosynkratischen Perzeption zwar ins Märchenhafte transponiert, doch damit einher geht der Verlust an Handlungssicherheit und ein Zerbrechen der eindimensionalen Weltsicht, bislang Fundament ihrer Selbstsicherheit und kühlen Verachtung all dessen, das den Rahmen puritanischer Begrenzung überschritt. Akute Verunsicherung, Destabilisierung und Hilflosigkeit sind also der Preis, den die Heldinnen für den gewaltigen Umbau der Koordinatensysteme ihres Lebens zu entrichten haben: “Miriam had no resolve by which to guide herself.“(E, 213) Der Lohn ist jedoch die Erweiterung der innenweltlichen Freiräume; im Falle Dorotheas ging es um einen epistemologischen und emotional-empathischen Raumgewinn, im Falle Miriams um einen imaginativen und ästhetisch-künstlerischen. In beiden Fällen kamen die Anstöße und Impulse aus bzw. durch Italiens Landschaft. Wie bei Mallard in Neapels Altstadt und bei Miriams Blick auf Capri eröffnet die Landschaft auch im Falle Cecilys am Abend ihrer Flucht mit Reuben den Zugang in ihren seelischen Tiefenbereich und das dort verortete Unbewusste. Den grandiosen Blick auf die Bucht von Neapel und den glühenden Vesuv empfand Gissing selbst als ein in höchstem Maße beeindruckendes Panorama: “It was very characteristic of him to describe his first sight of Vesuvius as the greatest moment in his life.“ 682 Die Szenerie wirkt schwerelos und unirdisch, dem Gegenständlichen entrückt, in der dunkle Bäume sich unwirklich gegen die weißen Felsen im Hintergrund abheben, das lautlose Meer trügerisch von ’sea-music’ erfüllt und alles, so der Text, von der irrealen Atmosphäre Homer’scher Abenteuer und Heldentaten umgeben sei. Kirkpatrick, Reference Guide to English Literature, 627. 682 318 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Mit ihrem Einverständnis zur Flucht vor traumartiger Naturkulisse in der Mondnacht auf Capri löst sich Cecily aus einer fest gefügten Welt, in der Mrs Lessingham ihren Schützling durch emanzipierte Erziehung gegen alle Unwägbarkeiten des Lebens gewappnet glaubt. Cecily hat sich aber, wie die Irrealität der Außenwelt durch ihren Zeichencharakter kundtut, auf etwas gänzlich Unvernünftiges eingelassen, das so irreal und fantastisch-traumhaft wie die Landschaft selbst ist. Ihre Vorstellung einer idealen Liebe aus Leidenschaft, im Gegensatz zur emotionalen Gelassenheit etwa von Eleanor Spence, heißt in Gissings Augen den unheilvollen Weg des Irrationalen zu gehen. Die im Mondlicht entrückte und verfremdete Landschaft ist einerseits Lot bzw. Sonde in das Unbewusste Cecilys, legt die Brüchigkeit ihrer irrigen Vorstellungen von Idealität aufgrund falscher Leitprinzipien offen und wirkt dann noch als Impulgeber für ihre verhängnisvolle Zustimmung zur Flucht. Sie fungiert als Beweis, dass Mrs Lessinghams ‚System’, Mädchen zu eloquenten, geschmacklich versierten und gesellschaftlich souverän agierenden, emanzipierten jungen Damen zu formen, auf tönernen Füßen steht: Sie kann ihren Zögling Cecily nicht vor dem Gang ins Unglück im zweiten Romanteil bewahren, weil ihre Erziehung zwar den schönen Schein gesellschaftlicher Wohlgefälligkeit hervorbringt, aber eine immanente Gefährdung durch illusionsbehaftete Leichtgläubigkeit nicht verhindert. “One can only assume that Gissing is [...] signalling that ’sham’ education is no substitute for real education, offering as it does superficial refinement in place of genuine learning.” 683 Nach der Irrealität der Mondnacht hat die Landschaft für Cecily am folgenden Morgen jeglichen Wirklichkeitsbezug verloren. Alles Bekannte ist ohne Bedeutung, und in düsterer Symbolik gleitet der Blick in die Zukunft “[…] like gazing into darkness“.(E, 221) Die Entkleidung der Natur von allem Zauber- und Heldenhaften geht jedoch nicht mit Angst und Bedauern, sondern maßloser Traurigkeit einher. Cecilys Selbstbewusstsein ist, so der Text, zu einem bloßen Punkt in Raum und Zeit geschrumpft. In der Morgenkälte, dem künstlich wirkenden Goldglanz der aufgehenden Sonne und dem unwirklichen Grün des Meeres liegt die Landschaft wie erstarrt und versinnbildlicht so Cecilys Fahrt nach England als Gang in eine Welt der Gefühlskälte und der charakterlichen Gemeinheit, wie sie durch die Gesellschaft und ihre Konventionen hervorgebracht wird. Wie überzeugt Gissing von der Existenz einer falsch verstandenen Emanzipation und ihren schädlichen Folgen war, lässt sich aus Cecilys affektierter Sprache ablesen, die ihr der Text auch noch dann in den Mund legt, als die von Reuben verursachten Schwierigkeiten ihrer Ehe sich bereits deutlich abzeichnen: “[…] for me to love and be loved, with the love that conquers everything, is the sole end of my life.[...] I never think of Capri but I see it Rawlinson, Devil’s Advocate, 8. 683 319 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG in the light of a magnificent sunrise. Beloved, sacred island, where the morning of my life indeed began! No spot in all the earth has beauty like yours; no name of any place sounds to me as yours does! ”(E, 263) Immer noch hat Capris Landschaft die Qualität der bis ins Religiöse entrückten Traumkulisse - eine wirkungsmächtige Variante von Mallards verführerischer ‚Hexe des Südens’. Im dritten analysierten Landschaftsbild in The Emancipated geht der erzählerische Blick in die gegenständliche Nähe der Landschaft zur Darstellung innenweltlicher Komplexität. Mallard, aus Nordeuropa zurückgekehrt, um endlich in Amalfi und Paestum zu malen, macht nach getaner Arbeit einen letzten Rundgang durch die Tempel. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich bald auf die unscheinbaren Pflanzen in seiner Nähe. Wenn er gedankenverloren eine Blume oder ein Blatt von einem Farn, Akanthus oder einer Brombeere pflückt, seine Finger wie liebkosend über die Blattspitzen streichen, so als ob sie empfindende Geschöpfe seien, und er sich am Ebenmaß der Pfeiler, am sonnenähnlichen Gold des Travertin und den feinen Rissen ihrer Oberfläche mit den versteinerten Pflanzenformen und den winzigen Schnecken in den Ritzen erfreut, sind dies Zeichen seines zurückgewonnenen Interesses an Details der Natur und essenzielle Voraussetzung - als klares Sehen im Sinne Ruskins - für die Regenerierung seiner Schaffenskraft. Diese Idylle erinnert an naturlyrische Tradition, ist aber gleichwohl mehr als ein idealisiertes Naturbild zum Ausdruck der Sehnsucht nach Harmonie. Die Präzision und die Kontingenz der Beobachtung, untypisch für literarische Konvention, ist Nachweis indvidueller Wahrnehmungsintensität eines aufmerksamen Subjekts, signalisiert Konzentration und innere Sammlung und erfüllt Mallard mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit und Übereinstimmung mit der Natur und sich selbst. Diese Befindlichkeit befähigt ihn zu ungewöhnlicher Aufmerksamkeit selbst für leblose Dinge. Die emblematische wie auch symbolische Funktion der genannten Pflanzen aus dem ‚Buch der Natur’, das nur der Kluge zu lesen versteht 684 , ist Hinweis auf Verstehen und Einsicht. Die narrative Intention der Landschaftsdarstellung bei Paestum ist es darzulegen, dass Mallard den Kampf gegen die ‚Hexe des Südens’ mit ihren Verlockungen zu Sorglosigkeit, Nichtstun und erotischer Täumerei gewonnen hat, denn seine Schaffenskrise und sein Selbstmitleid sind überwunden: “Yes, he was a sound man once more.“(E, 309) Die von Genügsamkeit und Ausdauer, von Lebenskraft und Lebenswillen gekennzeichneten Pflanzen in der Landschaft Paestums korrelieren in markanter Weise mit Mallards genesener Innenwelt: “The Emancipated, then, is a sustained demonstration of Gissing’s respect for the power of the will; […].“ 685 Der 684 Zu Ursprung und Geschichte der Metapher vom ’Buch der Natur’: vgl. Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 323ff. Grylls, Determinism and Determination, 75. 685 320 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED zur Melancholie neigende Maler wird mit tiefer Genugtuung belohnt, die im Rahmen seiner - und Gissings eigener - psychischen Konstitution Glück ist. Eine Landschaft kann objektives Korrelat von Gefühlen sein, aber nach Eliots Definition auch ’a situation, a chain of events’ 686 . So wirkt die Begebenheit mit dem kalten und dem warmen Stein beim Spaziergang in Paestum erhellend in Bezug auf Miriams und Mallards Innenwelt. Wiederum ist die Landschaft “[...] no mere setting, the ruins of Paestum are participants in the scene, an influence on the actors; in a special appeal to the sense, Miriam and Mallard share the experience of feeling the very stones.” 687 Als seismographische Aufzeichnung aus dem Unbewussten ist die Szene symbolische Umschreibung der Temperamente und Charaktere der beiden Figuren, in die als psychosoziale Komponente machtvolle viktorianische Rollenstereotype des Geschlechterverhaltens eingeschrieben sind. Mallard reagiert auf die Unterschiedlichkeit der Steine rational mit Fakten und Belehrung, während für Miriam die Sensorik bedeutsam ist, ein Hinweis auf tiefer liegende Differenzen. So zwingt Mallard in der späteren Atelierszene, hartnäckig und in verkrampften Gesprächen, Miriam zum Eingeständnis ihrer Eifersucht, wobei sich Unsensibilität mit patriarchalischer Überlegenheitsattitüde paart, um ihren Charakter zurechtzubiegen - ein krasses Beispiel von ’Pygmalion-syndrome - the moulding of a wife’ 688 . Die Ehe mit Miriam geht er nur unter dem Vorbehalt ein, dass sie ihn als ’bohemian’ akzeptiert: “[…] he strives to control [...] Miriam’s feelings towards him as well. [...] he wants to control her whole life and make sure that she will turn out to be what he envisages as a suitable wife for him.” 689 Mallards Verhalten spiegelt verkrustete Denkweisen des Spätviktorianismus, denn Miriams Befreiung aus religiöser Bevormundung unterstützt er vorbehaltlos, während er der intellektuellen und gesellschaftlichen Emanzipation Cecilys von Anfang an skeptisch begegnete. Ihre Art der Unabhängigkeit entsprach nicht seinem Frauenbild - und auch nicht dem Gissings, der diese Vorzeigedame und ihre in Salons bewunderte ‚moderne’ Emanzipation im Desaster enden lässt. 690 “Because Gissing was between marriages while writing this novel, he no doubt was contemplating, through his description of Miriam Baske, the kind of wife he hoped to discover for himself.” 691 Der Auffassung des breiten Publikums kam allerdings das Gissing’sche Frau- Vgl. Cuddon, Literary Terms and Literary Theory, 647. 686 Francis, The Emancipated, 7. 687 Sjöholm, The Vice of Wedlock, 27. 688 Ebd., 45. 689 690 John Harrison, The Emancipated - Gissing’s Treatment of Women and Religious Emancipation, The Gissing Newsletter, vol XVII, No 2, April 1981, 4. Ebd., 6. 691 321 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG enbild in seiner vermeintlich befreienden Fortschrittlichkeit nicht entgegen. 692 3.4.3.3 Die Begegnung mit Italien als langwieriger Prozess grundsätzlicher Klärung Die vier im Zentrum des Romans stehenden Personen Cecily Doran, Reuben Elgar, Miriam Baske und Ross Mallard im Beziehungsgeflecht aus soziokultureller Prägung, zeitgenössischem Diskurs und Herausforderung zur Anpassung begegnen in der landschaftlichen und kulturellen Andersartigkeit Italiens einem geeigneten Umfeld zum Anstoß innenweltlichen Wandels. Es hängt von äußeren wie inneren, psychosozialen wie individualpsychologischen Faktoren ab, ob die Entwicklung zu persönlicher Glücksfindung erfolgreich verläuft oder nicht. Miriam und Mallard erreichen am Ende einen Zustand relativen Glücks; Cecily und Reuben scheitern in dieser Zielsetzung. Bei den Personen der zweiten Bedeutungsebene stellt sich aufgrund immobiler Auto- und Heterostereotypen das Problem innerer Klärung nicht, was handlungspsychologisch begründet wird. Ein erwähnenswertes Beispiel dieser Figurenkategorie ist der Maler Clifford Marsh, weil er kontrastiv als Scharlatan und Parodie des wahren Künstlers, als der Mallard gilt, konzipiert ist. Zitierenswert ist die Beschreibung seines großspurigen Auftretens in Mrs Glucks Pension wegen der Leichtigkeit des narrativen Gestus, des humorvoll-ironischen Untertons und der Situationskomik, was diese Textstelle auffallend von Gissings oft schwermütiggedankenlastiger Prosa abhebt: 693 ’What sort of weather did you leave England? ’ Mrs Denyer inquired, when the artist was seated next to her. ’I came from London on the third day of absolute darkness’, replied Mr. Marsh, genially.[...] ’The fog is even yet in my throat’, proceeded the artist, to whom most of the guests were listening. ’I can still see nothing but lurid patches of gaslight on a background of solid mephitic fume. There are fine effects to be caught, there’s no denying it; but not every man has the requisite physique for such studies. As I came along here from the 692 Die narrative Konzeption Miriams traf nicht den Geschmack der Zeit: “Novels, no less than poems, should obey the Horatian mandate to be ’sweet’. Mr Gissing’s pages abound in light rather than in sweetness, and neither of his heroines appeals very forcibly to our goodwill or makes us in the least disposed to envy the lovers who are destined to enjoy their companionship for the rest of a lifetime.” (Unsigned Review, Saturday Review, 21 June 1890, xix, 772, in: Coustillas/ Partridge, Gissing, 162). 693 “Gissing was not just a pessimist by temperament; he was also a pessimist by conviction [...] strongly impressed by the doctrines of Schopenhauer.” (Grylls, Determinism and Determination, 64). 322 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED railway-station, it occurred to me that the Dante story might have been repeated in my case; the Neapolitans should have pointed at me and whispered, 'Behold the man who has been in hell! ’(E, 46 f.) Die eloquente Übertreibung in hypertrophierten Sprachbildern erschöpft sich in einer Kontrastierung Englands und Italiens durch Klischees ohne authentischen Erlebnisgehalt und individuellem Interesse an Neuem. Eine ganz andere Wirkung erzeugt, aufgrund der stilistischen Formgebung, der atmosphärischen Dichte und des Stimmungsgehalts, die Schilderung von Mallards Gang zur Casa Rolandi bei seiner Initiation in Italiens Lebenswelt. Der Unterschied zwischen dem wahren und falschen Künstler wird an der Authentizität der Wahrnehmungsinhalte und an der Disziplin der Maltechnik festgemacht, wie die Kritik an Marshs Bildern offenlegt: “A study of the Roman Campagna [...] might as well [...] have been a study of cloud-forms, or of forms at sea, or of anything, or of nothing; [...] was this genius or impudence? “(E, 41) 694 Allerdings sind es gerade Mallards ästhetisches Gespür und seine Aufgeschlossenheit für das Fremde, die sich zum Problem auswachsen, denn die in der ‚Hexe des Südens’ hypostasierten Signale zu Genuss- und Lebensfreude resultieren in einer Schaffenskrise, was bei seiner puritanischen Pflichtauffassung einer Sinnkrise gleichkommt. Argumentativ ergibt sich die Notwendigkeit, Mallard die Gelegenheit zur Wiederherstellung seiner Kreativität und seines Glaubens an sich zu geben, was aber nicht in Italien geschieht. Als gewissenhaftpenibler Künstler, was auch und gerade auf seine Malweise zutrifft, findet er erst durch Askese in der rauhen Natur der Hebriden und Norwegens zu alter Disziplin zurück, die er drei Jahre danach in Amalfi und Paestum einer Bewährungsprobe unterzieht, indem er die nicht gemalten Bilder endlich anfertigt. 695 In Gissings Verständnis gelingt dieser lobenswerte 694 Das Interesse von Wissenschaft und Malerei an ’cloud-forms’ im 19. Jh. ging auf die Wolkenlehre von Howard Luke zurück (On the Modification of Clouds, London, 1803) und fand in den Himmelsbildern von Constable, Cozens und Turner große Aufmerksamkeit (vgl. Heinz Spielmann/ Ortrud Westheider, Wolkenbilder - Die Entdeckung des Himmels, München: Hirmer Verlag, 2004), wobei Turners Spätwerk überragende Bedeutung zukommt, das neben Anerkennung heftige Ablehnung erfuhr. William Hazlitt nannte die späten Gemälde ‚Bilder von nichts und sehr ähnlich’(vgl. Walker, Turner, 55), was wohl auch Gissings Auffassung war, denn im Gegensatz zu Marsh malt Mallard realistischnaturalistisch: “The temples stood in the light of the early morning, a wonderful indescribable light, perfectly true and rendered with great skill.“(E, 316). „Dadurch wird freilich die Bewunderung der Menge erregt, deren ganze Kunstfreude darin besteht, daß sie das Nachgebildete mit dem Urbilde vergleichbar findet.“ (Goethe, Italienische Reise, 307f.). 695 Der Text enthält keine substanzielle Begründung, weshalb Mallard anfangs überhaupt zum Malen nach Italien reist. “Here, perhaps, [lies] the significance of Mallard’s northern paintings, and of his eventual completion of the interrupted work at Naples, that as man and artist he can encompass the full range of experience [...].” (Francis, The Emancipated, 4). 323 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Schritt aus fataler Schicksalslage zum Wiedererlangen inneren Gleichgewichts nur durch Disziplin und einen langwierigen Klärungsprozess. “Gissing uses Mallard to exemplify the artist as moral human being.” 696 So erfährt von nun an nicht die in Gesellschaft brillierende, mit körperlichen Reizen, Geist und Anmut ausgestattete Cecily seine Aufmerksamkeit, sondern die in jeder Hinsicht nicht ganz so attraktive Miriam, die ihm überdies die Möglichkeit eröffnet, aus ihr eine Ehefrau nach seinen Vorstellungen zu formen und dem ’Pygmalion-Syndrom’, dem Wunsch nach 'wife-molding', freien Lauf zu lassen, “[…] realizing Gissing’s persistent dream of raising the women he loved to his own intellectual level [...].“ 697 Mallards Verhältnis zu Italien ist von ausgesprochener Ambivalenz gekennzeichnet, das in seiner schroffen Gegensätzlichkeit eine geradezu dichotomische Persönlichkeitsstruktur offenbart. Eines Tages erklärt er Miriam überraschend freimütig seine Einstellung : ’Each time that I have been in Rome,’ said Mallard, ‘I have felt, after the first few days, a peculiar mental calm.[...] There comes back to me at moments the kind of happiness which I knew as a boy [...]. Since boyhood, I have never known it in the north.[...] But in Rome is its perfection.’(E, 333) Innere Ruhe und Zufriedenheit, Freiheitsempfinden, Freude und Lust am Leben sind in der Landschaft Italiens generierte Erlebnisse, die ihm der Norden nicht bietet: ’I can do better work when I take subjects in wild scenery and stern climates, but when my thoughts go out for pleasure, they choose Italy. I don’t enjoy myself in the Hebrides or in Norway, but what powers I have are all brought out there. Here I am not disposed to work. I want to live, and I feel that life can be a satisfaction without labour. I am naturally the idlest of men. Work is always pain to me. I like to dream pictures, but it’s terrible to drag myself before the blank canvas.’(E, 334) In dieser bekenntnishaften Gegenüberstellung kommt die Polarität von Norden und Süden als Spiegelung der dichotomisch verfassten Psyche Mallards - und Gissings (vgl. 3.4.3.1) - zum Vorschein. Es geht nicht nur um körperliche Befindlichkeit, Erweiterung des geistigen Horizontes oder Vertiefung von Verstehensvorgängen, wie dies auf Little Dorrit, Dorothea in Middlemarch oder Miriam Baske zutrifft, sondern um eine geradezu notwendige Ergänzung zu Ganzheitlichkeit und seelischer Gesundheit. Disziplin und Arbeitsethos, Askese und Willensanstrengung sind unerlässliche Prinzipien leistungsorientierter Sinngebung, die aus Mallards Sicht nur Am Ende des 18. Jahrhunderts bereits hatte die Landschaft im Süden Italiens den Rang hoher und höchster künstlerischer Wertschätzung in der Landschaftsmalerei erreicht: „Es ist Kniep [Christoph Heinrich Kniep, deutscher Maler, 1755-1825], der sich eine Zeitlang in Rom aufgehalten, sodann sich aber nach Neapel in das eigentlichste Element des Landschafters begeben hatte.“ (Goethe, Italienische Reise, 278). 696 Selig, George Gissing, 43. 697 Coustillas, Introduction, in: Gissing, The Emancipated, xviii. 324 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED der Norden bereitstellen kann; 698 Sinnerfüllung jedoch im Sinne individueller Glücksfindung gewährt allein der Süden mit seiner Schönheit und seiner Kunst, seiner freieren Lebensweise und seiner allgegenwärtigsichtbaren Anbindung an die Antike. Der Weg zu grundsätzlicher Klärung - und gelingender Wiedergeburt in Italien (vgl. Fußnote 887) - ist für Gissings Figuren ein langwieriger und zuweilen widersprüchlich erscheinender Prozess. Als Grafik gedacht, bewegt sich Mallards Lebenslinie in Italien anfangs tief nach unten, stabilisiert sich im Norden und erreicht danach in symbiotischem Verbund mit dem Süden eine nicht gekannte Höhe. Im Falle Miriams klaffen anfängliches Selbst- und auktorial gezeichnetes Fremdbild weit auseinander, wenn sie sich als dogmatische Fromme an einem hohen Punkt wähnt, der in Wahrheit bezüglich eigener Identität ein Tiefpunkt ist, wie ihre physisch-psychische Konstitution offenlegt. Wenn sie sich auf Capri durch Entdecken neuer Erlebnisdimensionen auf dem Weg nach unten glaubt, ist sie in Wirklichkeit auf dem aufsteigenden Pfad eines Zuwachses an Emanzipation und personaler Identität und letztlich ehelich-häuslichem Glück - das für Gissing freilich nur relativ ist: “[…] the triumph of Miriam and Mallard is really a compromise rather than a solution.“ 699 Cecilys und Reubens Lebenslinien sind bereits zu Romanbeginn in großer Höhe anzusetzen und bedürfen scheinbar keiner Klärung. Als sich Cecily wider Erwarten in Capris Traumlandschaft zu gänzlich Unvernünftigem, ihrer Flucht nach England mit Reuben, hinreißen lässt, werden ihre glanzvollen Perspektiven auf Glück zunichte. “Gissing does not, as C.J. Francis aptly points out, deny to Cecily the right of self-determination, he merely observes that as an individual she is unable to use that freedom.” 700 Das Erreichen des tiefsten moralischen Punktes ist freilich Reuben vorbehalten, und es ist nur eine seiner Schwächen, dass “[he] proclaims a hypocritical double standard about the freedom and sexual behavior of men and women.“ 701 Trotz bester gesellschaftlicher Ausgangsposition legt er den für Gissing verwerflichen Mangel an Willenskraft an den Tag, der im Ruin enden muss. Auf dem Weg zu gelingender und in sich stimmiger wie auch beim Entlarven aufgesetzter und unauthentischer Identität spielt Italien bei allen vier Akteuren eine wichtige Rolle. “Essential to the plan of the book is the effect on the characters of the Italian ambiance, in contrast to some 698 “[The Emancipated] positively recommends work and effort, application and perseverance. This is hardly surprising, for Gissing himself was fanatically industrious. ’Energy of character, self-reliance, and an exorbitant passion for study were his chief characteristics’ when he was a schoolboy, according to his friend Arthur Bowes.”(Grylls, Determinism and Determination, 70). 699 Sloan, Cultural Challenge, 84. 700 Harrison, Gissing’s Treatment of Women, 7; zur näheren Eröterung von Gissings ambivalentem Emanzipationsverständnis vgl. 3.4.3.4. 701 Selig, George Gissing, 42. 325 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG northern settings in which industrial Lancashire figures strongly.” 702 Ihre mitgebrachten Selbstbilder erweisen sich durchweg als ergänzungs- oder gar korrekturbedürftig: “[The Spences] excepted, all the leading characters at the beginning of the book are undergoing much the same set of experiences as are met by George Eliot’s Dorothea in Middlemarch; [...]. They are not all aware that some of their mental attitudes are stimulated to growth by this climate; [...].” 703 Die Analyse von Landschaftsbildern in Middlemarch und The Emancipated zeigt übereinstimmend, dass Prozesse der Dekonstruktion Voraussetzung für solche der Konstruktion sind. Dorothea Brookes Empfinden einer Fragmentarisierung der Kulturlandschaft Rom als Zerbrechen der sinnstiftenden Ganzheit Middlemarchs und Miriam Baskes Erleiden des Zerfalls ihres puritanischen Weltbildes resultiert im ersten Fall in geistigmoralischer Klärung, im zweiten in einer weltanschaulich-ästhetischen. Bei Gissings vier Hauptakteuren schienen die Lebensverläufe vor ihren Italienaufenthalten gefestigt und intakt zu sein, bevor ihre innere Brüchigkeit manifest wird. Bei jeder der vier Personen fungiert die Italienbegegnung als grundsätzlicher Klärungsprozess, der zu persönlicher Standortbestimmung zwingt, auch wenn “Gissing is not insisting an any over-consistent or over-obvious links between influences and effects“ 704 . Im Kontext des zeitgenössischen Diskurses und der sozio- und psychokulturellen Gegebenheiten in England zeichnet der Autor ein psychologisch überzeugendes Bild menschlicher Schwächen und Stärken, was George Orwell zu dem schmeichelhaften Urteil veranlasste, Gissing sei einer der wenigen englischen Autoren, der glaubhafte Personen mit glaubhaften Motiven darstelle. 705 Das bemerkenswerteste Beispiel positiv veränderter Lebensgestaltung ist ohne Zweifel Miriam Baske, die sich zu Romanbeginn in Italien im Exil wähnt und als Gefangene ihrer puritanischen Lebenswelt vorgeführt wird: “Gissing’s concern with intellectual emancipation, or the release from the ’worn-out fetters’ of religious dogmatism and ’from the narrow views of morality that go therewith’, is to be found from his first novel (Workers in the Dawn) onward, and is a major concern in both The Emancipated and Born in Exile.” 706 Miriam hat nicht nur den weitesten Weg nach oben zurückzulegen, sondern muss sich dem härtesten Dauertest in Form eines selbstinitiierten Bildungsprozesses unterziehen, um Mallards Ansprüchen zu genügen, doch am Ende wird sie am ergiebigsten unter den vier Akteuren durch Erreichen ehelich-häuslichen Glücks belohnt. 702 Francis, The Emancipated, 3. 703 Ebd., 4. 704 Ebd., 5. 705 Vgl. Selig, George Gissing, 116. 706 Harrison, Gissing’s Treatment of Women, 3. 326 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Für Miriam wie auch für Cecily, wenngleich auf ganz andere Weise, wird die Landschaft auf Capri zum Schlüsselerlebnis. Ohne Zweifel kam Gissing bei der Gestaltung dieser Naturszenerie sein ausgeprägtes Gespür für Landschaft zustatten, das er auch in By the Ionian Sea unter Beweis stellte: “Gissing seems to be one of the most truthful travellers and one of the most attached to the landscape that the history of travel has ever seen.“ 707 Das Landschaftserleben markiert den Wendepunkt im Leben der beiden jungen Frauen, das in einem Falle eine geistig-psychische Bewusstseinserweiterung durch Entdecken der Fantasie einleitet und im anderen Falle, infolge eines Hangs zu weltfremder Idealisierung und imaginativer Identifikation mit Trugbildern, in desillusionierender Konfrontation mit der Wirklichkeit endet. Miriams Wandlungsprozess beginnt mit ihrem Bewusstwerden der Kategorie des Schönen, was sich als Aufbruchssignal zur Abkehr aus puritanischer Enge erweist. Ihr Entdecken der Sphäre der Fantasie resultiert in einem Lösen geistiger Verkrampfung: Als sie das sonntägliche religiöse Ritual aufgibt und der Blick der hl. Caecilia auf Raffaels Bild an der Wand seine disziplinierende Wirkung verliert, führt dieses Abwenden von bislang maßgebender Autorität aber zu einer Schwächung innerer Stabilität und nie gekannter Denk- und Handlungsunsicherheit. Dieser psychische Gleichgewichtsverlust - “She felt herself idly swayed by conflicting influences, unable even to debate what course she should take”(E, 213 f.) - als Folge des Wegbrechens stützender Verhaltensmuster ist jedoch Voraussetzung zum Neubeginn. Angesichts ihrer schwierigen Situation ist es umso bemerkenswerter, mit welchen Mitteln Miriam erfolgreich einen Ausweg sucht. “Her loss of religious freedom leads gradually to wisdom, largely because she benefits from an out-of-school training in the basic Gissing curriculum: literature, foreign languages, painting, aesthetics, and classical history.” 708 Der Weg im dreijährigen Selbststudium über Fremdsprachen zur mühevollen Lektüre antiker Klassiker, italienischer Dichter und “whole libraries of solid historians“(E, 315) ist ganz nach Gissings Geschmack. Erst als sie unter den kritischen Augen Mallards in Paestum und Rom auch ihre soliden Kenntnisse über Malerei unter Beweis stellt, ist nach seinen Maßstäben ihr Weg in eine positive Zukunft frei. “Gissing believes in effort and endeavor, in striving, persistence and determination.” 709 Sie muss nur noch in von Mallard auferlegten Lektionen lernen, Gefühle zu disziplinieren und zu unterdrücken. Capri als Schlüsselerlebnis erhält für Cecily eine ganz andere Bedeutung als für Miriam. Auch sie erlebt die Insel als eine der Wirklichkeit entrückte Welt, doch während diese Transzendierung des Realen für Miri- 707 Del Nobile, Gissing’s Ideological Journey, 20. 708 Selig, George Gissing, 43. 709 Grylls, Determinism and Determination, 68. 327 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG am den Eintritt in die Welt der Fantasie bedeutet, ist sie für Cecily Signal zum Aufbruch in die Sphäre der Unvernunft. Sie bedarf weder der Einführung in die Welt des Schönen noch in die der Fantasie: “[…] she is equipped with intelligence, self-respect, integrity, honesty, enthusiasm.” 710 Die Landschaft Capris verstärkt jedoch Mängel ihrer Erziehung und eine Schwachstelle ihres Charakters, nämlich die Welt immer nur von ihrer besten Seite zu sehen. Beseelt von einem “[…] youthful idealism, which interpreted the world nobly“(E, 27) werden ihr allerdings ihr überzogener Idealismus und ihre mangelnde Wirklichkeitsnähe irreparabel zum Verhängnis. Obwohl Reuben Elgar in keinem der drei Landschaftsbilder auftritt, komplettiert seine Italienrezeption das Gesamtbild. Bei einer Wanderung mit Mallard in der Bucht von Neapel sehen beide Sorrent: “A vast garden planted with Nature’s joy; a pleasance of the gods; a haunt of the spirit of beauty [...].’What is Italy to the man who cannot share our feelings [...]? ’“(E, 109) Mallard ist beeindruckt von den Kenntnissen und der schlummernden Begabung seines Weggefährten: “His talk abounded in quotation, in literary allusion, in high-spirited jest, in poetical feeling.“(E, 109) Reubens Sensibilität für die Landschaft ist argumentativ Begründung dafür, weshalb sich die kluge Cecily trotz seiner Charakterdefizite überhaupt mit ihm einließ. Seine moralische Regeneration kann jedoch nach Einschätzung der in England zur Realistin gewordenen Cecily nicht in Italien gelingen: “Italy she loved, [...] but it was the land of lotus-eaters.“(E, 265) 711 Reubens Willen- und Disziplinlosigkeit, seine Genuss- und Verschwendungssucht, “a wholly selfish hedonism“, 712 brechen in Englands sozialem Umfeld vollends durch und bewirken seinen moralischen und physischen Niedergang: So wird der Roman auch zur Warnung vor einem “unbridled liberalism“. 713 3.4.3.4 Gissing und Emanzipation: Eigenwilliges Emanzipationsverständnis und widersprüchliches Rollenbild der Frau Bei dem im Romantitel angesprochenen zentralen Thema der Emanzipation geht es um Befreiung aus Bevormundung, d.h. aus einem Zustand der Begrenzung in einen Raum größerer geistiger Freiheit, “[a] modern trend 710 Francis, The Emancipated, 12. 711 “Lotus-eaters or Lotophagi - In Homer and Tennyson, a fabulous people encountered by Odysseus, living on ’a flowery food’ which makes those who eat it forget their own country, and wish to live in a dreamy state. Odysseus had to force his men to move on.”(Crystal, Cambridge Encyclopedia, 722). 712 Selig, George Gissing, 44. 713 Sloan, Cultural Challenge, 83. 328 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED in late Victorian fiction“. 714 Im Kontext dieses Problemfeldes stehen Fragen über ein ‚wovon’, ‚wie’ und ‚wozu’. Begrenzung kann individuell oder sozial bedingt sein. Im letzteren Sinne erfolgt sie im Regelfall durch Institutionen oder Gruppen mit dem verdeckten Machtanspruch, Denken und Verhalten von Individuen zu steuern mit der meist (pseudo-)moralischen Begründung, dem Wohl des Einzelnen und/ oder dem der Gemeinschaft zu dienen. Es sind religiöse, politische oder anderweitig weltanschaulich motivierte Kräfte, die durch interessengeleitete Vorgaben disziplinierend und meist auch manipulierend auf Menschen einwirken. Mit dem ursprünglich vorgesehenen Romantitel The Puritan ist der Kernbereich der Gissing’schen Themenstellung bezeichnet. Ihm geht es um Befreiung aus der für den neuzeitlichen englischen Kulturraum und im Spätviktorianismus immer noch virulenten Form religiöser Bevormundung durch puritanische Denkvorgaben 715 mitsamt den damit einhergehenden Implikationen: Erziehung und Status der Frau als Individuum, Ehepartnerin und Mutter; der Antagonismus zwischen religiös definierter Moral und selbstverantworteter Freiheit; die Distanz puritanischer Denktradition zu Kunst und Literatur, Antike und Geschichte, Genuss- und Lebensfreude. Was Robert L. Selig ’the basic Gissing curriculum’ genannt hat, nämlich Literatur, Fremdsprachen, Malerei, Ästhetik und Geschichte der Antike, 716 sind nichts anderes als sublimierte Formen von Eskapismus, um dem Herrschaftsanspruch religiös dominierter Weltsicht in der englischen Kulturtradition zu entgehen. Gissings intime Kenntnis der europäischen Literatur, seine langjährige Freundschaft mit dem Deutschen Eduard Bertz, sein Interesse an Philosophie, insbesondere an Comte und Schopenhauer, seine kosmopolitischen Neigungen, sein ‚Exil’ in den Vereinigten Staaten, 717 seine Reisen nach Italien und nicht zuletzt zahlreiche Briefe sind Zeugnisse seines persönlichen Unbehagens an einer als bedrückend eng empfundenen englischen Lebenswelt. 718 By the Ionian Sea, die Schilderung seiner allein unter- 714 J. Gordon Eaker, Emergent Modernism in Late Victorian Fiction, in: Goetsch, Englische Literatur zwischen Viktorianismus und Moderne, 277. 715 Dieses Thema mag ein Grund dafür sein, dass der Roman “[…] has never found favour with the critics“; hinzu kommt auch “[…] the uncomfortably transparent way in which it reaveals its message“. (a.a.O.). 716 Selig, George Gissing, 43. 717 Bzgl. der näheren Umstände vgl. Fußnote 633. 718 Gissing litt vor allem unter der Vorstellung, dass seine finanziell kargen Verhältnisse ihn hinderten, eine gebildete Frau zu finden: “[..] he hovered in social limbo, at home neither in low nor in high society.“ Seine Ehe mit Edith Underwood, einem Mädchen der Arbeiterklasse, wurde für beide Seiten ein Martyrium. (Selig, George Gissing, 10ff.). “Since he did not believe in democracy, he, like so many Victorians, also feared the potential power of the united working classes. Gissing felt himself to be ’unclassed’, not belonging to either the middle class [...] or the working class, among whom he lived.” 329 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG nommenen Reise durch Magna Graecia, ist die literarisch verarbeitete, reale und gedankliche Flucht aus gesellschaftlich-spirituellen Vorgaben, wie sich England für ihn darstellte, in die freiere Welt der Antike, weshalb gerade die Landschaft in diesem Text als Palimpsest eine tragende Rolle spielt: 719 Unter den durch die Zeitläufte und besonders das Industriezeitalter abgetragenen Formen einer alten und ursprünglichen Kultur- und Naturszenerie Süditaliens sucht er nach den Spuren eines freieren Menschenbildes, wobei er aus seiner Sicht erstaunlich fündig wird. 720 Landschaft in und um Neapel stellt in Mallards Wahrnehmung - auch er Anwärter auf Emanzipation - aufgrund der Andersartigkeit der Sinnesreize ein lebhaftes Plädoyer zum Lösen aus anerzogenen und auch selbst auferlegten Zwängen dar. Edward Spence hatte ihn eingangs “a curious instance of Puritan conscience surviving in a man whose intellect is liberated”(E, 15) genannt. Mallard ist bei aller Unkonventionalität im Auftreten nicht wirklich frei, und seine Emanzipation ist ihm nur insoweit gelungen, als er durch Selbstkontrolle sein Denken zu steuern versteht, nicht aber tiefere Gefühle und das Unbewusste mit den Einschreibungen der Kindheit und Jugend, den verdeckten Wünschen und geheimen Träumen. Wenn ihm, wie die Erzählinstanz berichtet, eine vermenschlichte Natur in Gestalt der plätschernden Wellen an der Ufermauer von Pozzuoli als Ratgeberin zum Genießen und zu Sorglosigkeit rate, ist dies eine zutiefst konträre Botschaft zu seinem verinnerlichten Wertekanon von Pflicht, Gewissenhaftigkeit, Disziplin und Arbeitsethos. Die Ausführlichkeit der Beschreibung der neapolitanischen Altstadt in ihrer Vielfalt an Farben und Gerüchen, Bewegungen und Lauten, Gefühlen und Stimmungen, also die Aktivierung der Sinne auf breitester Ebene, formiert sich in seinem Innersten, für ihn unbewusst, zum Gegenmodell einer puritanischer Realitätssicht mit den Postulaten der Pflichterfüllung, Effizienz und Askese. Deutlich tritt in diesem Kontext die Funktion der Landschaftsbilder als Lot bzw. Sonde zu Tage, zudem als treibende (Sjöholm, The Vice of Wedlock, 30). “Gissing’s discontent, a symptom of his misery, tended to focus on location and climate; [...] he scoured different countries and climatic zones in quest of his impossible ideal. ’In returning to Italy, I am going home once more’, he assured Eduard Bertz in 1897; five months later he informed his old friend, ’I long to be back in England. I shall never travel again.’” (Grylls, Determinism and Determination, 62f.). 719 Bei der Abfahrt von Neapel beispielsweise schreibt Gissing: “The stillness of a dead world laid its spell upon all that lived: Today seemed an unreality, an idle impertinence; the real was that long-buried past which gave its meaning to all about me, touching the night with infinite pathos.”(IS, 29.) An anderer Stelle heißt es: “There was a good view of Taranto across the water; [...] with half-closed eyes, one could imagine the true Tarentum. Wavelets lapped upon the sand before me, their music the same as two thousand years ago.”(IS, 49). 720 “[...] and, as I looked my last [sic] towards the Ionian Sea, I wished it were mine to wander endlessly amid the silence of the ancient world, today and all its sounds forgotten.”(IS, 156). 330 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED Kraft bzw. Ferment zum Erstellen eines neuen Sinngefüges, das die Natur als handelndes Subjekt initiiert. Beim Spaziergang nach Pozzuoli freilich schießt Mallard, ungewohnt im Umgang mit solcher Freiheit und beflügelt durch reichlich Rotwein, über das Ziel hinaus und verfängt sich in Wunschträumen einer Liebe zu Cecily nebst Heirat, wodurch er, als er gar in Cecilys Verhalten nach Zeichen der Zuneigung sucht, tragikomische Züge annimmt. Im Falle seiner Emanzipation geht es, wie auch bei den anderen Romanfiguren, um das richtige Maß und die richtige Form. Für seine Fehleinschätzung muss er, durchaus konform mit des Autors Weltsicht, eine dreijährige Buße im Norden ableisten und die so gewonnenen asketischen Erfahrungen als Gegengewichte zu Genuss- und Lebensfreude austarieren lernen. Erst ein komplementäres Zusammenspiel ist, wie Mallard später in Rom einräumt, Garant für innere Stabilität und Gesundheit der Psyche: “[…] the desire often comes to me under northern skies, when I am weary of labour and seek in fancy a paradise of idleness.“(IS, 113) Arbeitsethos und Paradiesmotiv vereinigen sich zu gelingender Symbiose. Das zweite analysierte Landschaftsbild über das Erleben der Szenerie Capris, das eine Mal durch Miriam und das andere Mal durch Cecily, zeigt weitere Aspekte des Emanzipationsthemas auf. Durch Entdeckung ihrer Fähigkeit zu Fantasie weitet Miriam ihren bisherigen Erfahrungsraum aus, als der allmorgendliche Blick auf die Felseninsel sich mit neuen Vorstellungsinhalten über Naturschönheit und Vergangenheit füllt. Damit sind zwei Bereiche genannt, die für Gissing Voraussetzung zum Heraustreten aus dogmatischen Begrenzungen sind: Ästhetik und Geschichte. Diese eigenwillige Verbindung spiegelt Gissings individuelle Befindlichkeit wider: “Every man has his intellectual desire; mine is to escape life as I know it and dream myself into the old world which was the imaginative delight of my boyhood. The names of Greece and Italy draw me as no others; they make me young again and restore the keen impressions of that time when every new page of Greek and Latin was a new perception of things beautiful.”(IS, 21) Was Gissing rund zehn Jahre nach Veröffentlichung von The Emancipated an Erlebnisfähigkeit und Motiven bei der Reise durch Magna Graecia für sich reklamiert, 721 unterstellt er seiner Protagonistin auf ihrem Weg aus geistiger Bevormundung. Miriams Befreiung stellt Gissing einfühlsam als komplexen Vorgang dar, und in den Augen von Eduard Bertz 721 “The day-dreamer’s fancy and the invention of an imaginary world, a romance, in which to take refuge, set in motion the mechanism of an escape from reality by means of two methods: the journey as a physical escape and the journey as a spiritual escape, the latter also taking on an ideological-cultural value.[...] the gain consists in selfidentification, or rather the discovery of one’s own identity, and the acquisition of a certain stature, even if only in one’s own eyes.” (Del Nobile, Gissing’s Ideological Journey, 20f.; vgl. dazu Fußnote 725). 331 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG “[…] there was no more sympathetic understanding of the female heart.“ 722 Stimmungsmäßig bedeutet dieser Weg die Flucht aus Bedrückung und die Sehnsucht nach dem Schönen, intellektuell den Eintritt in einen größeren Freiraum - psychisch allerdings zunächst in Orientierungs- und Ratlosigkeit. Da Landschaft auf Gissings Süditalienreise für ihn selbst Lot bzw. Sonde in seelische Tiefenschichten seines Ich war, konnte Miriams Erwachen zu mehr selbstbestimmter Identität narrativ um so überzeugender gelingen, 723 zweifellos auch ein Grund dafür, dass “A century and a quarter after he first began to publish, his books remain very much alive.“ 724 Miriam mobilisiert durch die Art ihres Landschaftserlebens die im Gissing’schen Verstehenskontext so wichtige Fähigkeit, sich über lebendige, dynamische Einbildungskraft von geistigen Ansprüchen leiten zu lassen, ihnen konsequent zu folgen und sich damit eine eigene Identität zu erarbeiten: Diese Vorgänge vollziehen sich unbewusst und belegen gerade dadurch, dass es sich um eine tragfähige Emanzipation handelt im Gegensatz zu einer aufgesetzten, wie bei Cecily und den Denyer-Töchtern. Cecilys Befreiung von Zwängen, womit sie so beeindruckend auf ihr Umfeld wirkt, erweist sich nämlich als defizitär. Ihr Erleben der Landschaft Capris deckt die Schwachstellen ihrer Erziehung auf, deren erklärtes Ziel es war, sie zu einer rundum selbstständig denkenden und stets vernünftig handelnden jungen Dame zu machen. Dem Anschein nach schien dies auch gelungen: ’A very superior young person.[...] She is familiar with the Latin classics and with the Parisian feuilletons; she knows all about the newest religion, and can tell you Sarcey’s opinion of the newest play. Miss Doran will discuss with you the merits of Sarah Bernhardt in ’La Dame aux Camélias’, or the literary theories of the brothers Goncourt. I am not sure that she knows much about Shakespeare, but her appreciation of Baudelaire is exquisite. I don’t think she is naturally very cruel, but she can plead convincingly the cause of vivisection.’(E, 14) Cecily, zunächst Idealbild einer emanzipierten jungen Frau, scheint nicht nur bestens gerüstet zu sein gegen Machtansprüche einer männerzentrier- 722 Eduard Bertz on Gissing, Deutsche Presse, November 1889, in: Coustillas/ Partridge, The Critical Heritage, pp. 153-55, zit.n. Rawlinson, Devil’s Advocate, 13. 723 John Sloanes skeptisches Urteil, der Roman sei “a work of some psychological insight“ (Sloane, Cultural Challenge, 83), ist, nach Analyse der Landschaftsbilder, insofern zu relativieren, als Gissing innenweltliche Vorgänge im Wechselspiel von Landschaft und Psyche schlüssig und glaubhaft sichtbar macht; dies gilt für Miriam wie auch für Cecily und Mallard. Zu Recht “John Halperin’s ’Gissing, A Life in Books’ (1982, paperback, 1987) [ends] with the predictable outcome that Gissing’s imagination as an artist is unfairly played down.”(Coustillas, Recent Work and Close Prospects in Gissing Studies: A Bibliographical Survey, in: English Literature in Transition, University of North Carolina, Greensboro, NC, 1880-1920, 32 (4), 1989, 411). Barbara Rawlinson spricht von “Gissing’s intuitive grasp of the female psyche”.(Rawlinson, Devil’s Adcovate, 1). 724 Selig, George Gissing, 119. 332 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED ten Gesellschaft, wie die viktorianische es ist, sondern jemand, der sich darin auch noch mit souveräner Sicherheit bewegt. Sie steht für ’modernité’ und verkörpert das Gegenteil des “system which makes a woman a dummy or a kill-joy“(E, 15). Eigentlich müsste dies auf Mallards volle Zustimmung stoßen, da er selbst Gängelung verabscheut und vor Cecily eine glanzvolle Zukunft zu liegen scheint; Miriram “[…] looked very cold, very severe, very English, by the side of this brilliant girl.“(E, 21) Doch Mallards Überzeugungen gehen in eine andere Richtung: “When did I say that the modern woman was my ideal? “(E, 15) Bald danach bekennt er, dass Cecily für seinen Geschmack zu intellektuell und in ihrem Urteil zu selbständig sei - “[…] he would have preferred her to view life as a simpler matter“(E, 87) -, was ihre Tante und Tutorin, Mrs Lessingham, bewusst anstrebte. Von dieser Dame mit Geist, Bildung und eigenem Salon in London lernt das begabte Mädchen brilliantes Auftreten und eloquente Konversation, aber ein fundiertes Verständnis für Freiheit von Bevormundung vermittelt sie ihrem Schützling nicht. Genau dessen bedürfte sie dringend in der nächtlichen Landschaft Capris, als diese im Schein des Vesuvs und mit den weißen Felsen vor den dunklen Bäumen des Hotelgartens zur unwirklich schönen Szenerie wird, die schwerelos und überirdisch im ‚göttlichen’ Mondlicht vor ihr liegt. Trotz völliger Ruhe des Meeres hört sie die Luft erfüllt von ’sea-music’, wähnt sich in ’the night of Homer’ und im Bann eines verführerischen ’island-charm of the Odyssee’ 725 . Jugendliche Spontaneität und der Glaube an die Kraft der Leidenschaft, romantisierender Idealismus und mangelnder Realitätssinn verbünden sich unheilvoll gegen unzulänglich begründetes Emanzipationsverständnis. Durch Zustimmung zu Reubens Vorschlag einer heimlichen Flucht nach London leitet sie an diesem Ort unwissentlich ihre schmerzhafte Desillusionierung in der rauhen Wirklichkeit viktorianischer Konventionen mit deren Benachteiligung der Frau ein. 726 Die Landschaft Capris ist palimpsestisch mit symbolischer Bedeutung belegt und stellt in dieser Funktion Cecilys Eintritt in die Sphäre des Unvernünftigen und Irrealen dar. Miriam betritt das Reich der Fantasie, als sie sich die Insel mit historischen Personen und Ereignissen ausmalt; Cecily dagegen betritt das Reich des Fantastischen in ihren Assoziationen Capris mit der fiktionalen Welt der Odyssee. Miriam bewegt sich sozusagen auf dem Boden des Faktischen, das sie durch ihre Imagination belebt; Cecily 725 Bei seiner Reise durch Süditalien beschreibt Gissing eine ähnliche Erfahrung in Bezug auf sich selbst: “Wherever the train stopped, that sea-music was in my ears - now seeming to echo a verse of Homer, now the softer rhythm of Theocritus. Think of what one may in daytime on this far southern shore, its nights are sacred to the poets of Hellas.”(IS,148). 726 1896 schreibt dazu ein ungenannter Kritiker: “The intercourse between the two in the first ardor of their passion, and afterwards in the various stages of its gradual collapse is the most successful work in the book - the most condensed and vivid and suggestive.”(Unsigned Review, in: Critic, New York, 22 February 1896, 123; in: Coustillas/ Partridge, The Cultural Heritage, 168). 333 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG hingegen lässt sich durch Atmosphäre und Stimmung in einer zur Theaterkulisse geronnenen Landschaft in die Traumwelt des Imaginären verleiten, in der sie nicht der Vernunft, sondern der Leidenschaft folgt - in der Gissing’schen Werteordnung ein unverzeihlicher Fehler. Am nächsten Morgen erlebt sie Capri in surrealistischer Verformung: Ihr Leben ist ohne Kontinuität, alles Bekannte ohne Bedeutung, das Meer ist grün und das Lachen der Fischer höhnischer Spott unsichtbarer Schicksalsmächte. Der Eindruck der Unzulänglichkeit in Cecilys Emanzipation wird über dieses Bild der surrealistisch verformten Landschaft vermittelt. Hier hätte sie, in des Autors Augen, der Führung bedurft in der Weise, wie sie Mallard im zweiten Romanteil als gestrenger Tutor Miriams bietet, um den Gefahren eines ’unbridled liberalism’ 727 zu entgehen. Die Quintessenz der Ereignisse, mit denen die Damen unterschiedlichen Alters und Bildungsstandes im Roman konfrontiert werden - Miriam Baske, Cecily Doran, Eleanor Spence, Mrs Lessingham, die Denyer-Töchter, Mrs Travis -, ist, dass unter den gegebenen Bedingungen der viktorianischen Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben für eine Frau nur in Akzeptanz einer männlichen Führungsrolle mit Leitbildfunktion zu haben ist. Dazu bedarf es des aufgeklärten und stabilen männlichen Charakters wie ihn Edward Spence besitzt und ihn Mallard im Laufe der Romanhandlung erwirbt - nicht des egoistischen Hedonismus eines Reuben Elgar. Nur unter kundiger männlicher Führung, so Gissings Überzeugung in Fragen Emanzipation und Geschlechterrollen, sollte eine Frau den Zustand anstreben, den Eleanor Spence erreicht hat: Fortune had been Eleanor’s friend. Disillusion came to her only in the form of beneficent wisdom; [...] Happy even in the fact that she had never been a mother. She was a free woman; free in the love of her husband, free in the pursuit of knowledge, and the cultivation of all her tastes. She had outlived passion without mourning it; what greater happiness than that can a woman expect? (E, 349) Gissings eigenwillige Position, das Glück der Frau über bewältigte Desillusionierung, Kinderlosigkeit, den Verzicht auf Leidenschaft und über die Freiheit zu definieren, den Ehegatten zu lieben und sich geistige Beschäftigung zu suchen, steht sowohl für als auch gegen den Geist der Epoche in England. 728 Sie ist durch widersprüchliche Ambivalenz gekennzeichnet, da sich Gissing energisch für die Bildung der Frauen einsetzt, 729 entgegen 727 Sloan, Cultural Challenge, 83. 728 Christina Sjöholm sieht diese Ehe allerdings in positivem Licht als “[...] a union based on two emancipated people’s equal rights to independence and intellectual development.[...] the Spence relationship emerges as something very close to an ideal marriage, a unique phenomenon in Gissing’s fiction.”(Sjöholm, The Vice of Wedlock, 34). 729 Das Urteil der Ambivalenz trifft nicht generell auf Zustimmung: “Gissing’s opinions were clear, consistent and uncompromising. An enemy of the Victorian myth of the inferiority of women, he believed firmly that women were the intellectual and spiritual equals of men.[...] Like John Stuart Mill he felt that the emancipation of women was an 334 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED mächtiger Strömungen des Zeitgeistes an ihre Leistungsfähigkeit und intellektuelle Gleichwertigkeit glaubt, doch ihr Streben nach Glück unter den Vorbehalt stellt, dass es unter prinzipienfester männlicher Leitung stattzufinden habe und ’the Law of Nature’ beachtet werde. 730 Im viktorianischen psychohistorischen Kontext hielt er Gedankenfreiheit und selbständiges Denken bei Frauen nicht für wünschenswert, auch nicht in Bezug auf Religion: “Despite his anticlericalism and often voiced disgust with religious fanatism, Gissing appears to have retained enough of ’the Puritan conscience’ to make him subscribe to the version of the ’double standard’ which holds that a certain degree of religious conviction is becoming, or potentially beneficial, to a woman, and especially a mother [...].” 731 In diesem Lichte erklärt sich Mallards befremdliches Gebaren gegenüber Miriam. Sein unsensibles Verhalten, seine überzogene Anspruchshaltung in Bezug auf ihr Selbststudium, 732 sein herablassend-belehrender Ton und vor allem die rüde Art, in der er sie zum Eingeständnis ihrer Eifersucht auf Cecily zwingt, um sie Kontrolle ihrer Emotionen zu lehren, sind Folgen von Gissings widersprüchlichem Frauenbild. Erst aus seiner eigenwilligen Perspektive wird folgende auktoriale Kommentierung ihrer Situation überhaupt verständlich: “The one need of her life was to taste the happiness of submission to a stronger than herself.[...] Only by a strong human hand could she be raised from her unworthy position and led into the way of sincerity.“(E, 341) Intention des Textes ist es durchaus, diese Aussage in ihrer peinlichen Diktion ernst zu nehmen, denn Mallard hat zu diesem Zeitpunkt sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Gissing bleibt, trotz vielfacher Widerstände gegen Konventionen und Zeitgeist, in der Frage der Geschlechter einer bestimmten Struktur überkommener Vorurteile verhaftet, 733 denn “[..] he was clearly threatened by the possibility that women might become so emancipated from their traditional roles as to challenge their biological destiny (and the male prerogatives that depended important phase of the general struggle for liberty.”(Jacob Korg, A Critical Biography, zit.n. Rawlinson, Devil’s Advocate, 11). 730 “Consideration of the happy marriages in these novels [of the 1890s] suggests, however, that whatever emancipation from the ’mist of tradition and conventionalism’ [...] Gissing imagined woman achieving through education [it] did not extend to her liberation from what evolutionary biology had newly reaffirmed to be her natural role as subservient wife and mother.”(Jann, Selecting Heroines: George Gissing and ’Sexual Science’, 3). 731 Harrison, Gissing’s Treatment of Women, 7. 732 “Gissing’s empathy with the female psyche enables him to appear at once women’s severest critic and their stoutest supporter, a paradox which Eduard Bertz attributes to his being ’a realist of the ideal’.” (Rawlinson, Devil’s Advocate, 13). 733 Dies gilt trotz der „Hinwendung der Erzählkunst zur Moderne, [die] im Zeitraum von 1880 bis 1920 intensiv von einer größeren Zahl von Autoren vorbereitet worden [ist]“.(Goetsch, Der Roman der Übergangszeit, in: ders., Englische Literatur zwischen Viktorianismus und Moderne, 267); The Emancipated wurde 1890 bzw. 1893 (revierte Fassung) veröffentlicht. 335 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG on it).“ 734 Nichtsdestotrotz gibt sich Gissing Mühe, in der Realität der bestehenden Verhältnisse “[to] expose male chauvinism in marriage as a reactionary force“. 735 Seine Position ist in der Frage der Frauenemanzipation durch eigenartige Widersprüche gekennzeichnet und hat, jedenfalls in der Leserrezeption, nachteilige Auswirkungen auf die Geradlinigkeit und Überzeugungskraft seiner narrativen Darstellung, was möglicherweise zu Virginia Woolfs Urteil des “imperfect novelist, but [a] highly educated man“ beitrug. 736 Es wäre unfair unerwähnt zu lassen, dass Gissing an sich bzw. seinen männlichen Helden Ross Mallard durchaus höchste Ansprüche stellt. Dessen psychischem Gesundungsprozess mit Erreichen des inneren Gleichgewichts in Paestum gehen Jahre der Selbstkasteiung voraus, und die Landschaft des Südens ist Testobjekt zum Nachweis gelungener Selbstdisziplinierung und zurückgewonnener „innerseelischer Kontrolle“ 737 . Aber nicht das quirlige Stadtleben Neapels, die pittoreske Strandszenerie Pozzuolis oder das grandiose Panorama Sorrents dienen zum Nachweis wiedererlangter Konzentrationsfähigkeit, sondern, in mehrfacher symbolischer Überhöhung, kleinformatige, emblematische Pflanzen und Tiere, die neben und auf antiken Säulen Zeugnis ihres Überlebenswillen ablegen. In solcher Sicht der Natur geht ästhetische Sensibilisierung mit moralisch-ethischer Reflexion einher. Sie hat wenig zu tun mit Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit der Epoche, mit positivistischem Denken und ökonomisch-technologischem Zugriff, aber viel mit naturalistischer Landschaftsbeobachtung als Hinweis auf hintergründige Realitätsdeutung. Für die Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert “nature became a form of religion“ 738 : Landschaft als ästhetische Natur wurde einerseits Sinnträger privater Wunschparadiese, andererseits Grundlage ästhetischen Verstehens überhaupt. Bezeichnenderweise ist Gissings männliche Hauptfigur Mallard Landschaftsmaler, und seine Ansichten über Kunst sind bei Miriams ’mental growth’ von höchster Bedeutsamkeit. Genau dieser Punkt und auch vieles andere in den Landschaftsdarstellungen in The Emancipated, vor allem die Schilderung bei den Tempeln von Paestum, spiegelt die Kunsttheorie Ruskins wider. Mallard ist nicht nur Landschaftsmaler - und “landscape painting is indeed a noble and 734 Jann, Selecting Heroines, 4f. 735 Sjöholm, The Vice of Wedlock, 35. 736 Virginia Woolf, in: The Common Reader, 1948, zit.n. DiMauro, Modern British Literature, 556. 737 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 54. David Riesman sprach in diesem Kontext vom ‚innengelenkten Typus’, Sigmund Freud vom ‚Prothesengott’ beim endgültigen Sieg über die innere Natur, die die Unterwerfung der äußeren Natur voraussetzt. (a.a.O.). 738 Clarke, Italy and Literature, 172. 336 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED useful art“ 739 -, sondern hat Leitbildfunktion für die beiden wichtigsten Frauencharaktere, Miriam und Cecily. In Paestum, geläutert von seinem Spleen einer Heirat mit Cecily und ganz beseelt von jenem “landscape instinct [with] its total inconsistency with all evil passions“ 740 gewinnt er jene fiktionale Statur, die Gissing für vorbildhaft hält. Als er sich im Gespräch mit Spence über den neuzeitlichen Umgang mit Nacktheit in der Bildhauerei unterhält, übertrifft er diesen gar an couragierter Selbständigkeit, indem er sich entschieden gegen “the bourgeois point of view, the Philistine point of view“(E, 328) wendet. Für Ruskins engeren Blick allerdings “the love of nature [...] is precisely the most healthy element which distinctly belongs to us“, 741 und wie zum Beweis dieser Auffassung hat Mallard in den drei Jahren in Schottland und Norwegen nicht nur die willensstärkende Kraft der Natur erlebt, sondern auch ihren psychisch heilenden Charakter. Gissings Roman, “undoubtedly reactionary in its attachment to refined culture“ 742 , bleibt auch einem konservativen Natur- und Kunstverständnis verhaftet, wie es Ruskin verkündete. 743 739 Ruskin, Modern Painters, 200. 740 Ebd., 371f. 741 Ebd., 379. 742 Sloan, Cultural Challenge, 151. 743 Vgl. dazu 2.2.3, insbes. Fußnote 353. 337 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.4.4 Zusammenfassung 1. Die gesamte Romanhandlung ist durch die Wahl der Schauplätze in der geographischen und kulturellen Polarität Englands und Italiens verortet, wobei die Landschaft eine entscheidende Rolle in der Sichtbarmachung dieser in einer Vielfalt von Auto- und Hetereostereotypen artikulierten Polarität spielt. Im Mittelpunkt stehen die Eingrenzungen durch religiösen Dogmatismus in England in Gestalt puritanischer Denkvorgaben und die Befreiung aus diesen geistigen Fesseln, ein insbesondere für Frauen zentrales Anliegen des Textes. 2. Bei den ausschließlich englischen Protagonisten unterliegen im Spannungsfeld kultureller Opposition die Selbst- und Fremdbilder erheblichen Veränderungen durch den Einfluss italienischer Landschaft. Die Figuren der zweiten Bedeutungsebene verharren aufgrund immobiler Bilder des Fremden und Anderen in stereotypen Sichtweisen. Aus narrativer Sicht sind die wandlungsfähigen Italienbilder ungleich reizvoller und ergiebiger als die statischen. 3. In Gissings Roman ist die fremde Landschaft nicht nur von Assoziationen, Analogien und Symbolik geprägt, wie bei Corinne und Little Dorrit, sondern auch von Anreizen, Impulsen und Stimuli wie in Middlemarch, jedoch in weit stärkerem Maße erhält die Natur einen eigenen Seinsstatus: Sie wird zum agierenden Subjekt. Die Bilder der Landschaft fungieren einerseits als Lot bzw. Sonde in Schichten des seelischen Tiefengeschehens, andererseits als Impulsgeber, treibende Kraft und Ferment, lösen in sondierend-impulsgebender Funktion Entwicklungen aus, entfalten aber zuweilen eine ambivalente Wirkung. So verführt die Landschaft in und um Neapel, allegorisiert als ‚Hexe des Südens’, den Maler Ross Mallard zu Sorglosigkeit und erotisierten Wunschträumen, und sie verleitet die emanzipierte Cecily durch betörenden Charme zu verhängnisvoller Fehlentscheidung, während sie andererseits am gleichen Ort Miriam Baskes Initiation in ästhetisches Erleben und so ihre Emanzipation einleitet. 4. Die Vernetzung symbolisch überhöhter Landschaft mit der Psyche der Figuren als unmittelbarem Zugang zu seelischen Vorgängen ohne die berichtende oder kommentierende Erzählinstanz visualisiert innenweltliche Befindlichkeit und hypostasiert Wandlungsvorgänge, was Gissing autobiografisch im Bericht seiner eskapistischen Reise durch Magna Graecia auf der Suche nach dem freieren Menschenbild der Antike in palimpsestischer Landschaft beschrieb (By the Ionian Sea). Durch erhöhte psychologische Glaubwürdigkeit und Konturenschärfe der Charaktere werden die mitgebrachten Selbstbilder der vier Hauptakteure, die psychosozial, psychogenetisch und soziokulturell durch England geprägt und in zeitgenössische Diskurse eingebunden sind, 338 G EORGE G ISSING : T HE E MANCIPATED bei Beginn intrapsychischer Veränderungen auf zunächst verdeckte Weise als defizitär entlarvt: Ross Mallard erfährt von der dichotomischen Struktur seiner Psyche, Miriam Baske von ihren Wunsch nach geistiger Freiheit und Gebrauch der Fantasie, Cecil Doran von der Wirklichkeitsferne ihres hypertrophierten Idealismus, Reuben Elgar von seiner fatalen Willensschwäche aufgrund seines Hedonismus. 5. Die Landschaft am Schauplatz Neapel benutzt Gissing, um Mallard eine neue Sinnkonstellation des Lebens aufzuzeigen, aber erst die Symbiose von Arbeitsethos und Lebensfreude vereint den Norden bzw. England als Ort intellektueller Sinngebung mit dem Süden bzw. Italien als Ort emotionaler Sinnerfüllung. Im Falle Miriams eröffnet die Landschaft Capris den Weg zu größerem geistigem Freiraum durch Mobilisierung der Fantasie; Ästhetik und Geschichte werden Fundament zu eigenständigerer Identität. Im Falle Cecilys jedoch deckt die Landschaft die Schwachstellen ihrer scheinbar gelungenen Emanzipation auf: Die irreal-schöne Naturlandschaft im Mondlicht wird zur surrealistischen Theaterkulisse und offenbart durch ihre Symbolik die Unzulänglichkeit ihrer Erziehung. Capris Landschaft wird für Miriam zum märchenhaften Reich der Fantasie, für Cecily jedoch zum surrealistisch verformten Reich des Fantastischen. 6. Die von interaktivem Landschaftserleben ausgelösten psychischen Veränderungen können zu individueller Glücksfindung führen, wie bei Miriam und Mallard, oder auch zum Scheitern, wie bei Cecily und Reuben. Voraussetzung jeder Glücksfindung ist die Mobilisierung bestimmter charakterlicher Dispositionen, wozu im Gissing’schen Wertekontext Willensstärke und Selbstdisziplin, Fleiß und Ausdauer, auch Verzicht und Askese gehören. 7. Die Veränderungsprozesse der Hauptakteure sind engstens mit Emanzipation verknüpft. Gissing fordert mehr Bildung für Frauen in der viktorianischen Gesellschaft, und er glaubt an ihre Leistungsfähigkeit und intellektuelle Gleichwertigkeit, doch zum persönlichen Glück bedürfe es der männlichen Führung. Seine Position zur Frauenemanzipation ist patriarchalischem Denken verhaftet und nicht frei von Widersprüchen, deren Ursache in einer subjektiven Problemkonstellation und dem viktorianischen psychohistorischen Kontext zu suchen sind. 8. Trotz einfühlsamer Darstellung weiblicher Psyche in den beiden Frauengestalten Cecily Doran und Miriam Baske ist Ross Mallard, ein Landschaftsmaler, die zentrale Figur des Romans und Verkörperung von Gissings Vorstellungen zu ästhetischen, moralischen und gesellschaftlichen Fragen, die unter starkem Einfluss der kunsttheoretischen und ethisch-sozialen Ideen John Ruskins stehen und letztlich sein überholtes Frauen- und Gesellschaftsbild wie auch sein konservatives Natur- und Kunstverständnis erklären. 339 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.5 E.M. Forster: Where Angels Fear to Tread 3.5.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung In der kleinen Zahl von E.M. Forsters (1879-1970) zu Romanen ausgefertigten fiktionalen Texten nimmt Where Angels Fear to Tread (1905) sowohl beim Blick auf die ’Italian novels’, wozu auch A Room with a View (1908) gehört - „diese[n] beiden feinen, sehr sorgfältig gebauten Frühwerken“ 744 -, als auch beim Blick auf das Gesamtwerk mit The Longest Journey (1907), Howards End (1910), A Passage to India (1924) und Maurice (privat weitergereicht; veröffentlicht 1971) die erste Stelle ein. Seine literarische Laufbahn begann Forster allerdings als Autor von Kurzgeschichten, die in Sammelbänden erschienen, so The Celestial Omnibus (1911), The Story of the Siren (1920), The Eternal Moment (1928) und The Life to Come (1972). Einige der frühen Kurzgeschichten, deren Schauplatz zwischen dem Jetzt und einer mythologisch überhöhten Antike oszilliert, so in The Story of a Panic, Albergo Empedocle, The Story of the Siren oder The Road from Colonus, sind Schlüsseltexte zum Verständnis Forster’scher Themenstellung in den Romanen, die „alle von einer ungewöhnlich gleichmäßigen und hohen Qualität sind“ 745 , obgleich es in der Kritik, wie auch bei D.H. Lawrences The Lost Girl, zu einer „weitgehenden Geringschätzung“ 746 dieser zwei Texte gekommen ist, ungeachtet der Tatsache, dass ein Kritiker Forster bereits 1966 bescheinigte, “[…] he has reached classic status“ 747 und 1981 ein anderer feststellte: “[…] we are in the midst of a Forster boom“ 748 . Im Mittelpunkt von Forsters narrativem Anliegen steht die Diskrepanz von soziokultureller Präformation in ihrer in England virulenten Ausprägung mit den dadurch ausgelösten psychischen Zwängen und Verkümmerungen auf der einen Seite und dem Wunsch nach einer freieren, jedem Menschen immanenten ‚natürlicheren’, seiner Individualität und seinem Wesen entsprechenden Denk- und Lebensweise auf der anderen. D.H. Lawrence geht in The Lost Girl von demselben Grundanliegen aus, und zur narrativen Realisierung „[…] greifen Forster und Lawrence bewußt auf literarische tradierte Italienklischees zurück, um sie in freilich 744 Robert Fricker, Der moderne englische Roman, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1958, 79. 745 Ebd., 84. 746 Meinhard Winkgens, Die Funktionalisierung des Italienbildes in den Romanen Where Angels Fear to Tread von E.M. Forster und The Lost Girl von D.H. Lawrence, in: Arcadia - Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 21, 1986, 45. 747 Malcolm Bradbury, Introduction, in: ders., Hrsg., Forster - A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall Publishers, 1966, 14. 748 Alan Wilde, Injunctions and Disjunctions, in: Harold Bloom, Hrsg., E.M. Forster - Modern Critical Views, New York: Chelsea House Publishers, 1987, 68. 340 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ individueller Abwandlung für die literarische Umschreibung ihrer zentralen Aussageintentionen zu funktionalisieren und damit eine tragfähige Kommunikationsbasis mit dem Leser zu erschließen“. 749 Im Falle Forsters kann zur Erklärung der subjektiven Dringlichkeit dieser Perspektivik, die zwangsläufig institutionalisierte Formen englischer kultureller Codierungspraxis ins Visier nahm, der biografische Hintergrund dienen. Nach dem frühen Tod des Vaters, aufgewachsen im wohlhabenden Mittelstand und umsorgt von Mutter und mehreren Tanten, war danach die Erziehung in der privaten Tonbridge School eine Zeit permanenter Unterdrückung von Individualität. Obwohl die Jahre am King’s College in Cambridge, die Privatlehrertätigkeit in Deutschland, England und Indien sowie die Lehrtätigkeit am Studienort zufriedenstellend verliefen, hinterließ die public school traumatische Spuren in dem sensiblen jungen Mann. Erschwerend kam zweifellos Forsters homosexuelle Veranlagung hinzu, die ihn zum Außenseiter stempelte. Sein Studium der klassischen Philologie und der Geschichte, Aufenthalte in Italien und Griechenland (1901-02), in Deutschland (1905), in Ägypten für das Rote Kreuz (1914-19) und vor allem in Indien (1912, 1922), seine aktive PEN-Mitgliedschaft und Tätigkeit als Präsident des National Coucil for Civil Liberties (1934) können unter dem Aspekt des Kennenlernens anderer Sichtweisen als der in public schools vermittelten gesehen werden. In schalkhaftem Übermut beschreibt der junge Autor in den erwähnten frühen Kurzgeschichten einen ’clash of civilizations’ 750 , wenn konventionell-biedere britische Reisende auf dem Boden der Antike unversehens mit der Erfahrung dynamischer Ursprünglichkeit konfrontiert werden, wie sie Pan in vermenschlichter Tiergestalt ausstrahlt und damit seine Umgebung in ‚panischen’ Schrecken versetzt, was zunächst auch für Philip Herritons und Caroline Abbotts Zusammentreffen mit Gino Carella gilt. “The representations of foreign cultural authenticity by means of an irrepressible human body is a characteristic Forsterian act of metonymy: bodies assert themselves and their materiality throughout Forster’s work in opposition to the falsely spiritual and romanticized experience that is tourism’s stock in trade.” 751 Forster blieb, trotz Tätigkeit als Kritiker und Essayist (freilich 46 Jahre vor seinem Tod nicht mehr als Romanautor) auf Distanz zu Strukturen, die für ihn individuelle geistige Freiheit einschränken: 1949 verweigerte er eine ihm angetragene ’knighthood’. 749 Ebd., 43. 750 Forster benutzte die bildhafte Begrifflichkeit eines ’clash of civilizations’, seit Samuel Huntingdons soziologischer Studie im gesellschaftlich-interkulturellen Diskurs oft zitiert, bereits in A Room with a View (1908), als er anlässlich der Begegnung von Cecil Vyse mit der Familie Honeychurch schrieb: “The two civilizations had clashed [...].“(RV, 155; vgl. auch Fußnote 13). 751 James Michael Buzard, Forster’s Trespasses: Tourism and Cultural Politics, in: Twentieth Century Literature,: a scholarly and critical journal, University of Hempstead, NY, 34/ 1988, 162. 341 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Forster, weder vom Temperament noch aus Überzeugung zu Konfrontation neigend, geriet mit dem spätviktorianisch-eduardanischen Zeitgeist in Kollision: “After observing the British in India at close quarters, he developed an intense loathing of imperialism.“ 752 In A Passage to India (1922) ist das Gebot einer ’human relationship’ zentrales Motto, und Howards End (1910) trägt den Untertitel ’Only connect’, um die Notwendigkeit des Überschreitens von Barrieren aus Konventionen und Konformismus, Engstirnigkeit und Egoismus, Überheblichkeit und Machtstreben anzumahnen. Es ist „[…] der Gegensatz von ’inner’ und ’outer life’, d.h. zwischen erfülltem Menschentum und der Scheinwelt gesellschaftlicher Konvention“, 753 das „Streben nach sinnvollen menschlichen Beziehungen“, 754 dessen spannungsreiche Verläufe im Zentrum von Forsters narrativem Interesse stehen. Where Angels Fear to Tread, „ein kleines Meisterwerk“ 755 beim Blick auf die überzeugende Figurenkonzeption, die gelungene auto- und heterostereotype Charakterisierung, die Dynamik des Erzählflusses, die Eleganz des Erzählduktus, die atmosphärische Authentizität und den heiterverspielten, humorvoll-ironischen, leicht unterkühlten Ton thematisiert anhand einer einfallsreichen Symbolik und im Rahmen einer Polarisierung tradierter England- und Italienbilder Forsters Grundanliegen eines von soziokulturellen Zwängen freieren Menschen, der in Übereinstimmung mit seinem eigentlichen Ich lebt. Die im Forster’schen Begriffskontext wichtigen Vorstellungsinhalte finden sich bereits alle in diesem Erstlingsroman des Sechsundzwanzigjährigen. Das ’undeveloped heart’ und der ’incomplete character’ bezeichnen in ihrer Nomenklatur die emotionalen und psychischen Defizite bei der Ausformung von Menschen, „[…] die Diskrepanz von körperlich-geistiger Überentwicklung einerseits, seelischmoralischer Unterentwicklung andererseits“, 756 wie sie in viktorianischpuritanischem Geist in Gesellschaft und Institutionen, vorrangig in den Forster verhassten public schools, stattfindet. ‚Moments of vision’ erweitern durch Gewahrwerden symbolischer Bedeutung den Blick auf die Wirklichkeit, werden zu „’symbolic moments’, ein Augenblick, wo sich die Wirklichkeit darbietet“, 757 zu “privileged moments of insight“ 758 und so zu ’moments of truth’; sie können gar zu ’eternal moments’ mutieren, wenn eine erkannte Wahrheit Leitfunktion erhält. Bei der Rückkehr nach England beispielsweise “Philip and Caroline talk of past events, of the eternal 752 Ousby, Cambridge Guide to Literature, 362. 753 Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 7, 10204. 754 Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 2, 976. 755 Fricker, Der moderne englische Roman, 79. 756 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 49 (vgl. auch Fußnote 833). 757 Fricker, Der moderne englische Roman, 81. 758 Churchill, Italy and English Literature, 177. 342 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ moments, that bind them to each other and to Gino”. 759 An nur wenigen Punkten des Lebens wird das Individuum mit ’moments of choice’ konfrontiert, die eine Weichenstellung im Grundsätzlichen und einen unumkehrbaren Richtungsverlauf markieren. Mit der kontrastiven Gegenüberstellung einer von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit geprägten italienischen Lebenswelt und einer als verkümmert und verdorrt empfundenen englischen Gefühlseinöde reihte sich Forster in einen gerade in England lebendigen geistesgeschichtlichen Kontext ein. „In viktorianischer Zeit lassen sich zwei Tendenzen in der literarischen Reaktion auf Italien unterscheiden. Da ist zum einen der Versuch, die Lebens- und Kunstformen vergangener Geschichtsepochen zu reaktivieren, sei es die Renaissance etwa bei Browning, Swinburne, Symonds und Pater, sei es das Mittelalter bei Ruskin [...]. Da ist zum anderen, darauf aufbauend und teilweise an das romantische Italienbild anknüpfend, der Versuch zu beobachten, in der Nachfolge der in Madame de Staëls vorgezeichneten Grundstruktur die Sterilität und Lebensfeindlichkeit sozialer Konventionen in England mit der Vitalität und Spontaneität des Italieners und der regenerierenden Kraft der italienischen Natur zu kontrastieren.“ 760 So kommt es beim Betreten Italiens durch vier Figuren aus dem kleinstädtischen Sawston, das in vielem Forsters verabscheutem Tonbridge ähnelt, sehr bald zum kulturellen Zusammenprall (vgl. Fußnoten 13 u. 750): Er führt zu einem Todesfall - Lilia stirbt im Kindbett - und zieht einen zweiten nach sich - Ginos Säugling kommt bei der Entführung um; in zwei Fällen resultiert die Konfrontation in intensivierter Verhärtung der Abgrenzungsstrategien, so bei Harriet und der in Sawston verbliebenen Mrs Herriton. Nur bei Philip und Caroline wird eine Persönlichkeitsentwicklung in Richtung auf eine emotional-zwischenmenschliche Reifung in Gang gesetzt, deren narrativ fesselnd und psychologisch überzeugend dargestellten Verlauf den Reiz des Romans ausmacht. Italien mit seinen Menschen, seiner Natur und Kultur erweist sich am Ende zwar nicht als Lösung zur Beseitigung seelisch-emotionaler Nöte und Mängel der Besucher aus dem Norden, aber etwas wird auf den Weg gebracht, um schrittweise ein eigentliches, mit dem Selbst übereinstimmendes Ich (zurück)zuerlangen. “Forster does not present Italy as a utopia. But [...] the Italian civilization is held up to admiration for the freedom it guarantees to the individual and for the closeness of the bonds between people that it allows.” 761 Den Schlüssel zu seelisch-moralischer Regeneration in kleinen, verhaltenen Schritten macht Forster seinen Protagonisten über eine außerhalb konventioneller Bahnen liegenden Wahrnehmung der italienischen 759 Lavin, Aspects of the Novelist, 46. 760 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 42. 761 Alina Szala, North and South: Civilization in Forster’s First Novel, in: Cahiers Victoriens et Edouardiens - Revue du Centre d’Etudes, Montpellier, 4-5, 1977, 39. 343 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Landschaft zugänglich. In der seit altersher gestalteten Kulturlandschaft mit ihrer planvollen Ordnung, eine Analogie zur Lebenswelt Sawstons, begegnet Philip einem kleinen dunklen Wald, der als Palimpsest in fantasievoller symbolischer Verschlüsselung Einschreibungen enthält, deren Entzifferung ursprüngliche Sinnschichten zum Vorschein kommen lassen, bevor sie durch soziokulturelle Codierung bis zur Unkenntlichkeit überschrieben und in ihrem Wert gemindert wurden. Philip als sensiblem Individuum wird über die versteckte Botschaft der toskanischen Burg- und Geschlechtertürme als phallische Symbole der Weg zu einer ‚Natürlichkeit’ der Liebe unter Einschluss von Sexualität gewiesen, d.h. zu einer Veränderung des Denkens, die die mitreisende, ebenfalls durch Sawstons repressive Moral gegängelte Caroline Abbott dann vollzieht, als sie sich in die körperliche Vereinigung mit Gino hineinträumt. Höhepunkt und Apotheose in des jungen Mannes Loslösungsprozess ist der Opernabend in Monterianos kitschigem Provinztheater, als ihn, vor dem Hintergrund einer bislang nie erlebten Atmosphäre zwischenmenschlicher Zuwendung, das Gefühl gefundener Identität im Sinne eines Auffindens einer Heimstatt für das Ich überkommt, die er paradoxerweise in der Fremde findet. Auf der latenten Sinnebene ist diese Szene die schärfste Form Forster’scher Kritik an Englands Lebenswelt um die Jahrhundertwende. Der Autor verortet in Italiens Natur- und Kulturlandschaft die Funktion einer tätigen, wirkenden Kraft, eines Agens zum Anstoß innenweltlicher Veränderung. Das Novum im Vergleich zu Middlemarch und The Emancipated - dort ist die Landschaft Auslöser, Katalysator und Stimulans bzw. Impulsgeber, treibende Kraft und Ferment - stellt der Umstand dar, dass Forsters Figuren deutlich enger mit den naturhaften und kulturellen Phänomenen der Fremde konfrontiert werden, wie dies am Opernabend oder auch im Falle von Ginos körperlicher Präsenz geschieht (vgl. Fußnote 751), was ihnen sozusagen lebensnäher und unmittelbarer eine Revision ihrer geistig-seelischen Standortbestimmung abnötigt. Ein zweites Novum ist noch bedeutsamer: Im Unterschied zu Frau von Staël und Dickens und selbst noch zu Eliot und Gissing wird die fremde Landschaft als hypostasierte Sinnbotschaft und Trägerin neuer Sinndimension funktionalisiert. Ihr wird die Eigenschaft zugewiesen, Quelle und Hüterin persönlicher Sinnzuweisung an diejenigen Menschen zu sein, die ihren Chiffrecharakter wahrzunehmen und den Zeichenkomplex zu lesen verstehen. In The Lost Girl freilich wird dies in noch viel ausgeprägterer Form der Fall sein, denn “Italy seemed still to possess the qualities of life which Lawrence felt to have been disastrously lost in England [...].” 762 762 Churchill, Italy and English Literature, 195. 344 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ 3.5.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.5.2.1 Philip Herritons Fahrt nach Monteriano: Ein weltfremdes Italienkonstrukt und Landschaft als Palimpsest verborgener Wahrheiten Als in der humorvollen Eröffnungsszene des Romans Philip Herriton mit seiner Mutter, seiner Schwester Harriet, der kleinen Irma sowie Mrs Theobald und Mr Kingcroft seine Schwägerin Lilia mit ihrer Begleiterin Caroline Abbott auf dem Bahnhof von Charing Cross zur Reise in den Süden verabschiedet, ist sein Italienbild noch intakt. Auf visueller wie auch emotionaler Ebene konstituiert es sich aus Eindrücken einer zwei Jahre zuvor durchgeführten Italienreise, die ganz im Bann jugendlich-euphorischer Erlebnisfähigkeit gestanden haben muss, denn in der Zwischenzeit und aus der Ferne hat Italien als gedankliches Gebilde aus Landschaft, Kultur und Menschen in der Vorstellungswelt des jungen Mannes den Rang eines verklärten Wunschortes eingenommen, ein weltfremdes Konstrukt aus Arkadien und Elysium, in dem Auserwählte in Glückseligkeit weilen: “I do believe that Italy really purifies and ennobles all who visit her. She is the school as well as the playground of the world.“(A, 22) Aus tiefster Überzeugung, mit seinem Vorschlag zu Lilias Reise zu ihrer geistigen und moralischen Entwicklung beizutragen, überschüttet er sie noch auf dem Bahnsteig [...] with a final stream of advice and injunctions - where to stop, how to learn Italian, when to use mosquito-nets, what pictures to look at. ’Remember’, he concluded, ’that it is only by going off the track that you get to know the country. See the little towns - Gubbio, Pienza, Cortona, San Gimignano, Monteriano. And don’t, let me beg you, go with that awful tourist idea that Italy’s only a museum of antiquities and art. Love and understand the Italians, for the people are more marvellous than the land.’(A, 19) Darin ist auch eine Portion Genugtuung darüber herauszuhören, nicht immer nur als Marionette und Handlanger im taktischen Spiel seiner Mutter zu agieren. Deren Motiv für die Zustimmung zu der auf ein Jahr geplanten Reise ist es ausschließlich, die lebenshungrige und den vielfältigen Domestizierungsversuchen der Familie Herriton sich widersetzende junge Witwe Lilia für geraume Zeit aus der planvoll geregelten Welt von Sawston Welt zu entfernen, damit sie sich in der Fremde läutere. Philips hingebungsvoll gepflegtes Bild vom unkonventionellen Italien hatte erst in Sawston, aufgrund seiner charakterlichen Konstitution, die Dimension angenommen, die es nun für ihn besaß. In dem englischen Provinzstädtchen mit seinen oppressiven Konventionen von zur Schau getragener Wohlanständigkeit im Verbund mit Gemeinsinn und Nächstenliebe war Philips Italienschwärmerei ein probates Mittel, geistige Selbständigkeit und sogar Weltläufigkeit demonstrieren zu können, ohne sich 345 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG zugleich als sozialer Außenseiter exponieren zu müssen. Die Opposition seiner verklärten Italiensicht zu den beengenden Ritualen der gesellschaftlichen Wirklichkeit Sawstons erlaubte ihm ohne größeren Aufwand, sein eskapistisches Selbstbild vom jungen Intellekuellen zu pflegen, der sich dem Unkonventionellen, Geistigen und Schönen mehr verpflichtet fühlt als dem schnöden Streben nach materiellem Erfolg, - den er gleichwohl nicht missen will. So lebt er, letztlich doch sehr angepasst und in Akzeptanz der in Sawston vorherrschenden Denk- und Verhaltensmuster, mit seiner bodenständig-biederen Schwester und dominanten Mutter, bei sporadischer Tätigkeit als Jurist in London, im gemeinsamen Haushalt, in dem Mrs Herriton die Rolle der Gralshüterin in allen Fragen der Familienehre beansprucht und innehat. Der Zeitpunkt, an dem sie sich in dieser Funktion auf den Plan gerufen fühlt, ist der Tag mit der Nachricht aus Italien, dass Lilia sich mit einem Italiener verheiraten wolle. Philip erfährt mit halbstündiger Vorwarnung von seiner Abreise nach Italien, die seine Mutter beschlossen und terminiert hat, damit er die Heirat verhindere. Halbherzig legt er Einspruch ein, gehorcht dann doch in resignativer Ergebenheit : ”’I will do all I can,’ said Philip in a low voice. It was the first time that he had had anything to do. He kissed his mother and his sister and puzzled Irma. The hall was warm and attractive as he looked back into it from the cold March night, and he departed for Italy reluctantly, as for something commonplace and dull.”(A, 31) Fast genüsslich und mit versteckter Schadenfreude lässt Forster seinen Erzähler Philips Gang in die rauhe Wirklichkeit beschreiben. Bei seiner Ankunft am Bahnhof von Monteriano stellt der Text mit trockenem Humor lapidar fest: “It was three o’clock in the afternoon when Philip left the realms of common sense.“(A, 33) Der ironische Unterton deutet an, dass Forsters Held aus dem gewohnten Raum festgefügter Handlungs- und Sinndeutungsstrategien, die er für ’common sense’ hält und die ihm im Rahmen internalisierter soziokultureller Präformierung gleichwohl als einziges Instrument der Wirklichkeitserfassung zur Verfügung stehen, heraustreten muss und mit den Regeln eines neuen kulturellen Sinnhorizontes konfrontiert wird. Die Dekonstruktion Italiens als Märchenort und der Eintritt in eine banale Realität beginnt damit, dass Philip im Zug erschöpft einschläft und ihn einheimische Fahrgäste wecken müssen, damit er am richtigen Zielort aussteigt. Auf dem Bahnsteig in Monteriano bleiben seine Schuhe am heißen Asphalt kleben, und der Gepäckträger nimmt keinerlei Notiz von ihm. Wie weggeblasen scheint das Bild der Idylle: “He was in the enemy’s country, and everything - the hot sun, the cold air behind the heat, the endless rows of olives, regular yet mysterious - seemed hostile to the placid atmosphere of Sawston in which his thoughts took birth.”(A, 34) Sein erster Kontakt mit der Landschaft um das vielgepriesene Monteriano ’off the track’ signalisiert Unerklärliches, ja Bedrohliches. Forster 346 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ nutzt die Andersartigkeit der Landschaft in Bezug auf Pflanzen, Klima und Bewirtschaftung, wiewohl diesen Tatbeständen nichts wirklich Ungewöhnliches anhaftet, zur subtilen Darstellung von Philips Bewusstseinslage. Gerade das Konventionelle und Banale im Wechsel von Hitze und kühlem Schatten umschreibt die Dimension von Philips Realitätsschock und den Zusammenbruch seiner Italienromantik. Wenn ihn angesichts dieser uralten Kulturlandschaft Empfindungen wie ’mysterious’ und ’hostile’ überkommen, sind sie Hinweis auf das Ausmaß psychischer Turbulenzen im Unbewussten des Helden. Der Symbolcharakter der Landschaft und ihre Funktionalisierung zur Verständlichmachung innenweltlicher Vorgänge werden in des Helden Kutschenfahrt hinauf nach Monteriano sichtbar: At that moment the carriage entered a little wood, which lay brown and sombre across the cultivated hill. The trees of the wood were small and leafless, but noticeable for this - that their stems stood in violets as rocks stand in the summer sea. There are such violets in England, but not so many. Nor are there so many in art, for no painter has the courage. The cart-ruts were channels, the hollows lagoons; even the dry white margin of the road was splashed, like a causeway soon to be submerged under the advancing tide of spring. Philip paid no attention at the time; he was thinking what to say next. But his eyes had registered the beauty, and next March he did not forget that the road to Monteriano must traverse innumerable flower.(A, 36) In ihrer Schilderung von Farben und Formen ist diese Naturszene von mehrschichtiger Symbolik. Die braune, erdfarbene Tönung des kleinen Waldes signalisiert Düsternis, Bedrückendes, Unheimliches und Unheilvolles; diese Zeichen laufen in ihrer Bedeutung parallel zum Eindruck des Geheimnisvollen und Feindlichen, den die Olivenbaumreihen in Philip hervorrufen. Die Lage des Waldes quer über den bearbeiteten, seit vielen Generationen von Menschenhand gestalteten Hügel deutet auf die Möglichkeit hin, dass inmitten wohlgeordneter Umstände und Abläufe, so gut sie auch geplant sein mögen, schicksalshaft dunkle Stellen sind, die sich rationaler Erklärung entziehen. Die Bäume, klein und blattlos in der Vorfrühlingszeit, erinnern in Farbe und Gestalt an vereinzelte Felsen im Meer, an urzeitliche, fossile Überbleibsel, die allem Wandel widerstehen und einfach unverrückbar dastehen, so wie es auch im Leben der Menschen Phänomene geben mag, die aus der im Dunklen liegenden Vorgeschichte oft unerklärlich, aber doch unumgehbar, in die gegenwärtige Existenz hineinragen. Hier fungiert die Landschaft als Palimpsest, der für die Romanfigur die verschlüsselte Botschaft bereithält, dass es unter den an der Oberfläche sichtbaren und richtig erachteten Wahrheiten auch andere gibt, die in tiefere, ursprünglichere Schichten des Lebens und seine Sinnhaftigkeit hinabreichen. 347 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Dieses Erlebnis wird Philip in der Begegnung mit Gino Carella, Lilias Bräutigam bzw. Ehemann, zuteil werden, wenn er auf für ihn urtümlich und primitiv anmutende Formen des Verhaltens und des Sinnbezugs zum Leben trifft. Gino, in Philips Urteil “[…] probably a ruffian and certainly a cad“(A, 42), ist trotz aller Unzulänglichkeiten, d.h. seiner unzivilisierten, primitiv erscheinenden Charakterstruktur, zu echter, aufrichtiger Liebe zu seinem Sohn fähig, also zu genuinem Empfinden, was in Philips Vorstellungswelt bei einem so ungehobelten Menschen gar nicht der Fall sein dürfte, sondern höchstens am Ende eines langen Zivilisierungsprozesses zu stehen hätte. Der Charakter des Naturbildes wird durch die Vielzahl der Veilchen geprägt, die mit einem Meer im Sommer, also mit einem intensiven und lebhaften Farben- und einem ruhigen Wellenspiel gleichgesetzt werden. Dem ästhetischen Eindruck wird aufgrund der Fülle der Blumen, die so in England nicht anzutreffen sei, eine solche Intensität beigemessen, dass selbst Künstler sich nicht oder nur selten an dessen Wiedergabe heranwagten. Die Versprachlichung der Idee von grenzenloser Fülle und Farbintensität durch die Metapher ’summer sea’ weckt Assoziationen an eine heitere und ungezwungene Lebensweise im Gegensatz zur repressiven angelsächsischen Welt. Die Feststellung im Text, dass die künstlerische Gestaltung des Eindrucks von diesen Frühlingsblumen im dunklen Wald den Mut von Malern übersteige, also in seinem Wesen von Menschen nicht gestaltbar, nicht fassbar sei, weist auf Einzigartigkeit und seltsam Verborgenes hin, d.h. auf eine Sphäre, in der das Denken in Kategorien des Rationalen und vernunftmäßig Machbaren versagt - genau das, was Philip sich vorgenommen hat und worin er sich dank seines nationalkulturellen geistigen Rüstzeugs sicher und stark fühlt. Er wird, so die antizipatorische Botschaft dieser Naturszene mit der fremdartigen Symbolik ihrer unbekannten Topografie - der dunkle Wald mit Furchen und Höhlen kann als symbolische Umschreibung des Schambereichs des weiblichen Körpers gelten -, in Italien auf Einzigartiges und Großartiges stoßen: Ginos archaisch und primitiv anmutende Liebe zu seinem Sohn, aber auch Carolines sexuelle Faszination durch Ginos Körper und schließlich die Entdeckung seiner Liebe zu Caroline. Er wird allerdings auch von der repressiven Begrenztheit des Denkens eines anderen kulturellen Umfeldes erfahren, das für seine Schwägerin Lilia Ausweglosigkeit und Tod bereithält. Auffallend neben der ’weiblichen’ Landschaftstopografie ist die Wassermetaphorik - ’summer sea’, ’channels’, ’splashed’, ’cause-way’, ’submerged’, ’advancing tide’. Sie betont Momente der Bewegung, des Fließens, des Verbindens, und das Schlussbeispiel streicht in der bildhaften Evokation einer vorandrängenden Flut lebendigen und lebensspendenden Wassers die Eigenart und Dynamik des Frühlings in Italien heraus, dessen Charakteristikum die Visualisierung von Schönheit ist, eines lebendigen ’fließenden’ Schönen. Es wird ein vom Text aufgebauter Kontrast zwischen stati- 348 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ schem Kunstschönen - Italien als “a museum of antiquities and art“ - und dynamischem Naturschönen sichtbar, der im Vorgriff auf Philips Scheitern seiner Mission hinweist: Seine statische Sichtweise der Beziehung Lilias zu Gino, verstärkt durch rigide Direktiven seiner Mutter aus der Begrenztheit des eindimensionalen Blicks in Sawston, wird der Eigenart dieser Beziehung und der Dynamik der im Spiel befindlichen Emotionen der beiden Betroffenen nicht gerecht werden. Im Text wird sichtbar, dass Philip den Zeichencharakter dieser Naturszenerie in ihrer ganzen Symbolik nicht erkennt, aber ”his eyes had registered the beauty“, das in Forsters Terminologie und Verständnis Essenzielle, und es wird ein Jahr später, bei seiner zweiten Italienreise in Sachen Lilia und Gino, seine positive Wirkungsmacht entfalten können. Mit dieser Reaktion auf die für Forster so bedeutsame Kategorie des Schönen legt der Autor in seiner Romanfigur den Grundstein für eine Emanzipation aus der geistig-moralischen Enge Sawstons zu vertieftem Verständnis der Menschen. Zum Erreichen dieses Ziels wird Philip einen Wandel zu durchlaufen haben, was gerade durch die Wassermetaphern sinnfällig herausgekehrt wird. Entscheidend an dieser Romanstelle ist, dass er das Sensorium besitzt, die in der Landschaft Italiens latent angelegten Wirkungsprinzipien aufzunehmen, damit sie zu gegebener Zeit ihre fruchtbringende Kraft entfalten können. Zunächst allerdings muss er das Tal der Desillusionierung durchschreiten. Carolines holzschnittartige Charakterisierung Ginos in der Kutsche hinauf nach Monteriano kommt zwangsläufig auch an den Punkt, den die Herriton-Familie am meisten interessiert: der Sozialstatus des italienischen Liebhabers. Niemand bei den Herritons hatte geglaubt, dass er tatsächlich dem Adel angehöre, wie Lilias Telegramm vorgab, aber die Wirklichkeit über die Familie ist schrecklicher als vermutet: Philip gave a cry of personal disgust and pain. He shuddered all over, and edged away from his companion. A dentist! A dentist at Monteriano! A dentist in fairyland! False teeth and laughing-gas and the tilting chair at a place which knew the Etruscan League, and the Pax Romana, and Alaric himself, and the Countess Matilda, and the Middle Ages, all fighting and holiness, and the Renaissance, all fighting and beauty! He thought of Lilia no longer. He was anxious for himself: he feared that Romance might die.(A, 37) Die Wurzeln von Philips Klischeebild über Italien reichen tief in die kulturhistorische Vergangenheit. Es setzt sich aus Bruchstücken der Geschichte und Kunstepochen zusammen, die er in gewagten Gedankenverbindungen zu einem Idealgebilde menschlicher Größe und ästhetischer Glanzleistungen zusammenfügt, doch es fehlt jeglicher Bezug zur aktuellen Wirklichkeit und zu den Menschen vor Ort. Durch das Denken in Kategorien der Historie und Kunstgeschichte verlieren auch Persönlichkeiten in diesem Kontext infolge der großen zeitlichen Distanz ihre Individualität und 349 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG erstarren zu leblosen Trägern von Eigenschaften, die ihnen die Nachwelt individuell oder auch kollektiv zuschreibt: Alarich und die Gräfin Mathilde verkörpern das Ungewöhnliche, nicht aber das Persönliche, und die etruskische Liga, ein loser Städteverbund in vorrömischer Zeit in der heutigen Toskana, die Pax Romana, das Mittelalter und die Renaissance sind ohnehin nach so vielen Jahrhunderten zu Abstrakta geworden, die über die Grundfakten hinaus, je nach Gusto, dem Spiel der Gedanken jedes Einzelnen freien Lauf lassen. Philips Eskapismus in die Weiten der Zeit in Italiens Vergangenheit entspricht sein Hang, den Raum Italien mit den eigenen, idealisierten Vorstellungen zu füllen. Das Ergebnis ist sein schönes, aber wirklichkeitsfremdes Bild des Landes, letztendlich ein Konstrukt seiner Fantasie aufgrund seiner individuellen Bedürfnislage als Folge der permanenten Gängelung durch Sawston im Allgemeinen und seine Mutter im Besonderen. Andererseits gibt es in England eine lange Tradition konventionalisierter Italienbilder, die von den Grand Tourists gesellschaftlich etabliert wurde (vgl. 2.1.2-3). Unter dem Einfluss idealisierter Landschaften eines Lorrain, Poussin, Dughet und Rosa im 17. Jahrhundert, der Theorien Burkes vom Erhabenen und Schönen und Gilpins Begriff des Pittoresken war der Diskurs zur ästhetischen Naturwahrnehmung in der Mitte des 18. Jahrhunderts in England weiter gediehen als anderswo. Sein Kennzeichen, die Verschmelzung realer Wirklichkeit mit Ideallandschaften der Literatur und Malerei wurde in Klischeebildern festes Repertoire klassizistischer Bildung, blieb für englische Reisende prägend und spiegelt sich in Philips Italienvorstellung wider. Parallel zum Zerfall von Philips weltfremdem, einseitig kulturhistorisch ausgerichteten Italienbild verläuft jedoch im Roman, durch direkten visuellen Kontakt mit der Landschaft, die Konstituierung neuer Bild- und Vorstellungsinhalte. Auch hier sind Fantasie, Anregung und Assoziation im Spiel, aber Ausgangspunkt ist eine orts- und zeitgebundene Sinneswahrnehmung: Die persönliche, objektbezogene Erfahrung tritt an die Stelle des vorgängigen, erfahrungsunabhängigen Konstrukts. They were among olives again, and the wood with its beauty and wildness had passed away. But as they climbed higher the country opened out, and there appeared, high on a hill to the right, Monteriano. The hazy green of the olives rose up to its walls, and it seemed to float in isolation between trees and sky, like some fantastic ship city of a dream. Its colour was brown, and it revealed not a single house - nothing but the narrow circle of the walls, and behind them seventeen towers - all that was left of the fifty-two that had filled the city in her prime. Some were only stumps, some were inclining stiffly to their fall, some were still erect, piercing like masts into the blue. It was impossible to praise it as beautiful, but it was also impossible to damn it as quaint.(A, 38) 350 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Das grandiose Bild einer zwischen Bäumen und Himmel schwebenden Stadt, das durch die ausdrucksstarke Schiffsmetapher intensiviert wird, erinnert an Traumwelten des Fantastischen Realismus. Markante, expressive Farbwerte des verbalen Bildes werden durch Substantivierung und die damit einhergehende Verselbständigung der Adjektive - ’the hazy green’, ’the blue’ - hervorgehoben und betonen Kraft und Intensität der Farbgebung, in die sich durchaus Analogien zu Strömungen der Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts hineindenken lassen. Psychologisch können die Betonung solch expressiver Farbwirkung des Landschaftseindrucks und die eigenwillige Gestaltung des Bildinhalts als unmissverständlicher Hinweis auf erste Schritte der Romanfigur in einen Prozess der Individuation und Emanzipation hin zu größerer Eigenständigkeit gelesen werden. Die eigentliche Aussagekraft der Beschreibung ruht auf der suggestiven Wirkung der Metapher von der scheinbar schwebenden Stadt als Schiff, dem traditionellen Motiv der Reise als Symbol der Initiation und Individuation, während der die Menschen durch den Zeitenstrom und das Zeitenmeer zu neuen Ufern gleiten. Im Gegensatz zu den Verankerungen und Verfestigungen in einem kulturhistorischen Untergrund, die Immobilität und Stillstand bedeuten, steht der Eindruck der Fahrt, die Wandel verlangt und Er-‚Fahrung’ in Aussicht stellt. Es geht, in interpretatorischer Ausweitung der gegebenen Bildhaftigkeit, um Befreiung von den Haltetauen der Konventionalität durch symbolische Horizonterweiterung und um den Mut zur Selbstorientierung und neuen Zielen. Noch ist Philip nicht in der Lage, die Tragweite der verschlüsselten Botschaften aus dieser Landschaft klar zu deuten, so wie es ihm nicht möglich ist, eindeutig Position zu beziehen: Er kann die Stadt weder als ’beautiful’ noch als ’quaint’ einordnen. Auf rationalem Weg des Klassifizierens sucht er durch vertraute Gedankenschemata einen Sinn im Analogen zu erfassen (vgl. 1.3.2, Fußnote 147), der sich ihm, wie bei der Waldszene, noch nicht erschließt. Der durch individuelle Wahrnehmung in Gang gekommene Reflexionsprozess inklusive des Einspielens signifikanter Bilder aus dem Unbewussten - ’fantastic ship city of a dream’ - umreißt Zielvorgaben eines Entwicklungsprozesses, deren konkrete Umsetzung zu diesem Zeitpunkt noch in der Ferne liegt. So begegnet er, in Ausführung des missionarischen Auftrags seiner Mutter, Gino mit einer Mischung aus konventionalisierten Denkmustern und, nach Kenntnis des Sozialstatus der Familie, mit blanker Abneigung: “It was not the face of a gentleman.“(A, 41) Philips Italienbild als Konstrukt aus umfänglichen Kenntnissen, ästhetischer Sensibilität und soziokultureller Codierung, jedoch abgehoben von existierender Realität, ist nicht kompatibel mit dem tatsächlichen Leben. Auch wenn Gino attraktiv ist und sogar Charme zeigt, passt er als reale Person nicht in Philips tradiertes englisches Bild von einem Mann, mit dem sich abgibt. Zwecks Anpassung an die Realität muss Philip einen ähnlichen schmerzhaften Weg der Ernüchterung wie Lilia durchlaufen, obgleich der 351 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Tod ihm erspart bleibt: “Italy, the land of beauty, was ruined for him.[...] She, too, could produce avarice, brutality, stupidity - and what was worse, vulgarity.[...] He hated Gino, the betrayer of his life’s ideal, and now that the sordid tragedy had come it filled him with pangs, not of sympathy, but of final disillusion.”(A, 71) Seine einstige Italienbegeisterung schlägt ins krasse Gegenteil um, und bei der Aufforderung seiner Mutter zu erneuter Reise bricht seine Frustration in ungewohnter Emotionalität aus ihm heraus: “’You must go to Monteriano! ’ ‘I won’t! ’ he shouted back. ’I’ve been and I’ve failed. I’ll never see the place again. I hate Italy’.“(A, 88) Die Ursache der heftigen Abneigung liegt in seinem Unvermögen, mit den Menschen in dem anders codierten Umfeld zurechtzukommen. Philips Desillusionierung erreicht den Höhepunkt mit seinem Eingeständnis, Gino nicht enträtseln und die Widersprüche seines Wesens nicht auflösen zu können. Wie bitterer Hohn klingen nun seine eigenen Worte an Lilia nach: “Love and understand the Italians.“(A, 19) Dass er nach der Begegnung mit Gino gerade in diesem Punkt scheitert, entlarvt seine Italienschwärmerei selbst für ihn als weltfremdes Konstrukt und macht seine Enttäuschung um so bitterer und schmerzhafter, die sich daraufhin in einem emotional überzogenen Rundumschlag gegen das Land als Ganzes entlädt: “’He [Gino] is mysterious and terrible. He’s got a country behind him that’s upset people from the beginning of the world.’”(A, 88) Philips Landschaftswahrnehmung spiegelt die Paradoxie seines Italienverständnisses, denn die Olivenbaumreihen wirken ’regular yet mysterious’ (A, 34), wie auch Lilia die Gegend um Monteriano als ’terrible and mysterious’(A, 60) empfindet. Vertraute Zeichen, wie das Regelmäßige und das von Menschenhand Kultivierte, beginnen in ihrem Bedeutungskontext zu oszillieren. In einer anders strukturierten Symbolischen Ordnung wechseln sie in einen neuen Bezug von Sinnhaftigkeit hinüber, in dem die Gesetze einer gewohnten Rationalität samt Einordnung in vertraute Muster nicht gelten. Das Nichtverstehbare wird zum Rätselhaften, zum Geheimnis und resultiert, angesichts der Unfähigkeit zu angemessenem Handeln, in Angst, so wie Gino durch sein aus englischer Sicht inkongruentes Agieren Lilia und Philip an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringt. Das Pittoreske im englischen heterostereotypen Landschaftsbild verfremdet sich vor Ort zum Eigenartigen und sogar Bösen: Es löst Erschrecken aus. Unter der überschriebenen Oberfläche mitgebrachter Klischeebilder erahnen Philip und Lilia seltsam Unbekanntes als palimpsestische Wahrheiten, die wie jene urtümlichen Felsen im Veilchenmeer in ihre angelsächsischen sozio- und psychokulturell geglätteten Sichtweisen hineinragen. Angesichts solcher Bedrohung durch das gänzlich Unerwartete der Fremde reagiert Lilia mit einem Fluchtversuch in die vertraute heimische Welt aus einem subjektiv wahrgenommenen Zustand von ’captivity’(A, 66), denn die repressiven Mechanismen der Alterität vermag sie aus eigener Kraft nicht zu durchbrechen. “Lilia had achieved pathos despite herself, for there are some situations in which vulgarity counts no longer. Not Cordelia 352 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ nor Imogen more deserve our tears.“(A, 64) Da auch Gino erkenntnis- und willensmäßig das Rüstzeug zum Bau einer Brücke zur englischen Alterität seiner Frau fehlt, zerbricht sie an den Gegensätzen. Für Harriet und Caroline ist Gino ist der Mörder (A, 92f. u. 102); wenn Philip in diesem Punkt widerspricht, ist dies Hinweis auf seinen beginnenden inneren Klärungsprozess. Von besonderer Bedeutung wird der dunkle Wald, als sich die Handlu Nel mezzo del camin do nostra vita Niemand der Anwesend 3.5.2.2 Vermenschlichte Landschaft und Türme in der Toskana: hilips verklärtes Italienbild, so wie er es seiner Schwägerin Lilia am ng dramatisch zuspitzt und es zum tragischen Unfall mit dem von Harriet gestohlenen Kind kommt. In vielsagender Symbolik kriecht Philip in der Dunkelheit im Schlamm des regennassen Waldes herum - Forsters vor allem in A Room with a View wichtige Metapher des ’muddle’ konnotierend - und findet es schließlich, aber es ist tot. Damit wird dem für den Roman zentralen Topos des dunklen Waldes bis zum Textende eine symbolhafte Vielschichtigkeit beigemessen, die erstmalig in Ginos Zitat aus Dante anklang: Mi ritrovai per una silva oscura Che la diritta via era smarrita. 763 en beim damaligen Abendessen konnte ermessen, in welchem Ausmaß sowohl die literarisch zitierte wie auch die real erlebte und mit Symbolik durchwirkte Landschaft palimpsestisch verborgene Wahrheiten enthalten würden; sie traten im Gang der Ereignisse in so bedeutenden Bezügen in ihre Leben, dass sie schicksalshaften Eingriffen gleichkamen. Philip und Caroline und in begrenztem Umfang auch Gino gehen geläutert aus diesen Erfahrungen hervor; Harriet und ihre Mutter freilich bleiben jeglichen Einsichten gegenüber verschlossen. Symbole der Alterität und Wege zur Horizonterweiterung P Bahnhof Charing Cross mitgegeben hatte, war als romantisch-idealisiertes Fantasiekonstrukt gleichsam Fluchtort aus psychischer Notwendigkeit im Rahmen der Überlebensstrategie, sich in der oppressiven Monotonie Sawstons einen individuellen gedanklichen Freiraum zu schaffen. Sein erster direkter Kontakt mit Land und Leuten in Monteriano hatte in der Dekonstruktion dieser Märchenidylle geendet, jedoch erste individuelle Landschaftseindrücke bereiteten den Boden für einen späteren Verstehens- 763 Vgl. ”Notes, Page 41: the Dante quotation reads, in Dorothy Sayer’s translation. Where the right road was wholly lost and gone.”(A, 166). Midway this way of life we’re bound upon, I woke to find myself in a dark wood, 353 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG zuwachs auf. Wie die Keime einer im kommenden Jahr aufgehenden Saat hatten sich die Bilder einer palimpsestischen Natur in seinem Inneren festgesetzt, ohne zunächst ihre emanzipierende Wirkung zu entfalten. So liegt noch ein gutes Stück des Wegs vor dem Helden, als ihn seine Mutter ein zweites Mal in der Angelegenheit Lilia Herriton und Gino Carella nach Italien schickt, doch dieses Mal in Begleitung seiner Schwester Harriet, da Mrs Herriton dem Stehvermögen ihres Sohnes bei den Verhandlungen mit Gino über den Verzicht auf das Kind misstraut. Dieses ist der Zweck der Reise: Nach Lilias Tod soll der Säugling unter allen Umständen in Mrs Herritons Obhut aufwachsen - “Pay all we’ve got for it“(A, 88) - , denn in Bezug auf demonstrierte Nächstenliebe konnte sie sich von niemandem, auch nicht von Caroline Abbott mit ihren Schuldgefühlen gegenüber dem Kind, übertrumpfen lassen. Philips Desillusionierung, die mit einem Hassausbruch gegen Italien ihre ly. But Es sind wiederum Bilder der Landschaft und die intensiven, kontrastrein Tiefpunkt erreicht hatte - “I’ll never see the place again. I hate Italy“(A, 88) - setzt sich zu Beginn der zweiten Reise zunächst fort. Die Aufenthalte in Verona, Mantua, Bologna und Florenz zwecks Besichtigung und der Reiseverlauf selbst erweisen sich als eine Kette von Widrigkeiten, die Harriets Abneigung gegen Land und Leute voll bestätigen. Sie ist jedoch in dem Sinne keine ernst zu nehmende Figur, analog zu den Nebenfiguren in Gissings The Emancipated, als sie am Romanende, ungerührt von den Ereignissen und unempfänglich für die anregende und erneuernde Kraft Italiens, nach Sawston zurückkehrt, um eine im Forster’schen Sinne bedeutungslose Existenz zu leben. Das narrative Interesse wird auf den Anfang eines innenweltlichen Erwachensprozesses in Philip gelenkt, der mit dem nötigen emotionalen Sensorium und der Fähigkeit zur Selbstreflexion ausgestattet ist. Er muss freilich an einem Nullpunkt beginnen: Italy was beastly, and Florence station is the centre of beastly Ita he had a strange feeling that he was to blame for it all; that a little influx into him of virtue would make the whole land not beastly but amusing. For there was enchantment, he was sure of that; solid enchantment which lay behind the porters and the screaming and the dust. He could see it in the terrific blue sky beneath which they travelled, in the whitened plain which gripped life tighter than a frost, in the exhausted reaches of the Arno, in the ruins of brown castles which stood quivering upon the hills.(A, 91) chen Farben, von denen die Reizwirkung ausgeht. Auf dem Weg über die selbstkritische Einsicht eigenen Verschuldens kommt es zur gefühlsmäßigen Aufladung der Sinneswahrnehmung, die das Bewusstsein affiziert und in einen Zustand der Ver- und dann der Bewunderung einmündet: Die dem Protagonisten zugelegte Empfindungsfähigkeit lässt ihn diesen Zustand als ein Überwältigtsein, als Verzauberung erleben. 354 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Er nimmt das Blau des Himmels nicht nur als ungewöhnliche Farbvariante zu bisherigen Eindrücken wahr, sondern empfindet den Anblick als solchen großartig und gewaltig. Das Weiß der Ebene ruft Assoziationen an Landschaften anderer Klimazonen hervor, in denen der Mensch einer mächtigen Natur gegenübersteht, die als Person auftritt und handelnd in den Lauf der Geschehnisse eingreift. Diese Sicht einer vermenschlichten Natur spiegelt sich in der Wahrnehmung des Flusses, insbesondere aber in der der Burgruinen wider: Die in die Höhe ragenden Stümpfe werden als ’quivering’ empfunden, also angefüllt mit Leben und Lebenskraft, in einem Zustand physischer und psychischer Spannung befindlich, der ein hohes Maß an Erregung signalisiert und offensichtlich mit der Psyche des Protagonisten korreliert. Die Landschaft in ihrer Alterität sendet verschlüsselte Botschaften an das Unbewusste: Die Türme sind phallische Symbole. Die ’weibliche’ Topografie des geheimnisvollen dunklen Waldes wird ergänzt durch die ’männliche’ Topografie der symbolisch in Hitze vibrierenden Türme. An diesem Punkt der Handlung wird der Umschlag im Bewusstsein des Helden versprachlicht, der ihn aus dem Tief seiner Italiendepression herausführt. Es ist dies ein Angelpunkt zur Markierung eines Neubeginns, der zustande kommt, als Philip in seinem Inneren einen ersten kleinen, aber bedeutsamen Schritt zur Überwindung bestehender emotionaler Schranken macht - “he was to blame for it all“ - und sich in einem nächsten - “a little influx into him of virtue“ - gedanklich auf das Fremde und Neuartige einstellt. Von nun an eröffnet eine positive Grundgestimmtheit neue Bedeutungskontexte. Diese neue Befindlichkeit ist wiederum - ein weiteres Indiz für Forsters psychologisch subtile Charakterzeichnung - nicht frei von Wunschvorgaben. Philip geht es nämlich um ’solid enchantment’, eine nicht rational, sondern allein stimmungsmäßig erfassbare Eigenschaft als Folge einer entsprechenden inneren Disposition; ’enchantment’ konnotiert aber bereits wieder ’fairyland’, Magie, Übernatürliches, das der Welt Entrückte. Auch wenn sein neues Italienbild individuellere, authentischere Züge als sein vorhergehendes tragen wird, so kann er sich seinem Hang zu romantisch-idealisierendem Sehen doch nicht rückstandsfrei entziehen., und im Blick auf kommende Ereignisse wird Philip auch in Zukunft seiner Neigung zu weltfremdem Denken nicht entgehen. Dies wird sich bei den Verhandlungen mit Gino über das Baby zeigen, vor allem auch in seiner Beziehung zu Caroline: Unter dem Einfluss Sawstons auf seine Empfindungen selbst in der Fremde braucht er quälend lange zum Heranreifen der Einsicht, dass er sie liebt, um dann feststellen zu müssen, dass der Zug der Wirklichkeit bereits abgefahren ist, denn sie fühlt sich sehr real - “I mean it crudely“(A, 158) - von Gino angezogen, ohne dass Philip ansatzweise etwas bemerkt hätte. Als potenzieller Liebhaber, in dessen Rolle er sich am Ende 355 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG gedanklich doch hineinversetzt, gibt er in seiner Weltentrücktheit ein klägliches Bild ab. Die psychisch-animierende Kraft der Symbole der Alterität zeigt mit ihrem verdeckten Hinweis auf die legitime Vitalität des Phallus in der Kürze der erzählten Zeit nicht die starke Wirkung, die erforderlich wäre, um Philips Verhalten massiv zu ändern. Gründe gibt es aber auch in seiner physischen und psychischen Struktur - “He was a tall, weakly-built young man“, und “’It is a weak face. I shall never carve a place for myself in the world’“(A, 70), sagt er von sich selbst -, vor allem aber in der emotionalen Sterilität Sawstons, in der Vitalität, Spontaneität und Natürlichkeit unterdrückt werden und allmählich verkümmern. Die Details der Landschaft bei Florenz legen die Deutung nahe, dass die evozierten Bilder des Frostes, der das Leben im Griff hat, insbesondere die “exhausted reaches of the Arno“, auf Kälte und Starre, auf Erschöpfung und Blutleere hinweisen, die man bei Menschen antrifft, wie Sawston sie hervorbringt. In eklatantem Gegensatz dazu verkörpert Gino dynamische Lebendigkeit und spontane Lebenskraft, und sein Körper strahlt dies offenkundig aus. Nichtsdestotrotz kommt es zu einer Horizonterweiterung in der Psyche des Protagonisten, einem Sehen in neuen Sinnzusammenhängen mit sehr eigenwilligen Zügen: They travelled for thirteen hours downhill, whilst the streams broadened and the mountains shrank, and the vegetation changed, and the people ceased being ugly and drinking beer, and began instead drinking wine and being beautiful. And the train which had picked them at sunrise out of a waste of glaciers and hotels was waltzing at sunset around the walls of Verona.(A, 90) Die zunächst objektive Landschaftsbeschreibung wechselt in eine sehr subjektive Sicht der Menschen, die nur bei positiver Grundeinstellung zu Italien möglich ist, hervorgerufen durch das äußere Bild der fremden Natur. Die Alpenlandschaft mit Gletschern und Hotels wird als rauh, unwirtlich und ungeordnet empfunden, was im Übrigen gerade für englische Touristen seit dem 18. Jahrhundert deren Reiz ausmachte, während die italienische Landschaft heitere Beschwingtheit und gelöste Walzerstimmung auf so etwas Banales wie Verkehrsmittel überträgt. Philips Begeisterung greift auf anderes über und mit wachsendem Wohlwollen beim Urteilen wächst sein Wohlbefinden, nicht aber seine Urteilsfähigkeit und schon gar nicht sein Wille zur Erledigung seines Auftrags: “What did the baby matter when the world was suddenly right way up? Philip smiled, and was shocked at himself for smiling, and smiled again. For romance had come back to Italy; there were no cads either; she was beautiful, courteous, lovable as of old. And Miss Abbott - she, too, was beautiful in her way [...]”(A, 103). Angesichts so viel neuerlicher Italienbegeisterung klingt im spöttischen Erzählton eine Neigung zur Distanz zum Helden auf, um ihn gleichzeitig aber auch gegen allzu harsche Kritik in Schutz zu nehmen: “The admirable change in Philip 356 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ proceeds from nothing admirable, and may therefore provoke the gibes of the cynical. But angels and other practical people will accept it reverently, and write it down as good.”(A, 103) Aber nicht nur Philip, auch Caroline unterliegt, widerstrebend und größtenteils unbewusst, dem Reiz Italiens. Im Gegensatz zu Harriet ist auch sie für ästhetische Eindrücke empfänglich und damit im Forster’schen Sinne Hoffnungsträgerin einer geistig-seelischen Horizonterweiterung, und wie bei Philip gehen auch in ihrem Falle die Impulse vom Visuellen der vermenschlichten Landschaft aus. Als Caroline zur Rocca geht, dem viel gepriesenen Aussichtspunkt Monterianos, trifft sie dort zunächst auf Gino. Danach im Hotel tritt sie während des Gesprächs mit Philip an eines der gotischen Fenster und “[...] with her fingers she was following the curves of the moulding as if they might feel beautiful and strange“.(A, 100) Die Rede ist von Gino, und wie beiläufig wiederholen ihre Finger beim Anblick des als Phallus fungierenden Geschlechterturms die Geste der sanften Berührung von “delicate curves“. In Verbindung mit ihrer rhetorischen Frage “What isn’t fine here? “(A, 103) offenbart ihre Körpersprache über den Gesichts- und den Tastsinn, dass sie unbewusst dem Reiz der physischen-sexuellen Anziehung durch Gino erliegt, den sie im Licht ihres englischen Heterostereotyps freilich für Lilias Mörder halten muss, denn fassungslos erzählt sie von der Begegnung an der Rocca: “’[...] and he actually mentioned Lilia: He was perfectly disgusting; he pretended he loved her; he offered to show me her grave - the grave of the woman he has murdered! ’“(A, 102) Im Lichte ihres englischen Klischeebilds, zuständig für rational-anglozentrierte Sinnkonfigurationen, zeigt sich die italienische Wirklichkeit als inakzeptable Fremdartigkeit, doch auf der Ebene des Emotionalen und Intrapsychischen geht von ihren Symbolen, als die sich die Türme der Toskana für die junge Besucherin aus England erweisen, eine neuartige und geheimnisvolle Faszination sexueller Attraktivität aus. In ihrer Symbolik sind die Türme freilich polyvalent: Sie versinnbildlichen den Phallus, der ’quivering’ Zeichen der Lebenskraft ist, und sie sind Verkörperungen der Macht und Wehrhaftigkeit durch die Herrschaft des Auges über die Umwelt. Die Erweiterung des Horizontes mittels Ausdehnung des Blickfeldes verheißt, real und übertragen, Fundierung und Festigung der eigenen Position; Forster verschmilzt diese symbolische Doppelwertigkeit in einer Schilderung von hintergründiger Relevanz: She removed a pile of plates from the Gothic window, and they leant out of it. Close opposite, wedged between mean houses, there rose up one of the great towers. It is your tower; you stretch a barricade between it and the hotel, and the traffic is blocked in a moment. Farther up, where the street empties out by the church, your connections, the Merli and the Capocchi, do likewise. They command the Piazza, you the Siena gate. No one can move in either but he shall be instantly slain, either by crows or by crossbows, or by Greek fire. Beware, however, of the back bedroom win- 357 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG dows. For they are menaced by the tower of the Aldobrandeschi, and before now arrows have stuck quivering over the washstand. Guard these windows well, lest there be a repetition of the events of February 1338, when the hotel was surprised from the rear, and your dearest friend - you could just make out that it was he - was thrown at you over the stairs. ’It reaches up to heaven,’ said Philip, ’and down to the other place.’ The summit of the tower was radiant in the sun, while its base was in the shadow and pasted over with adverstisements. ’Is it to be a symbol of the town? ’(A, 104) Die englischen Akteure der Familien Herriton und Abbott glauben, aufgrund ihrer vermeintlichen geistigen Überlegenheit und finanziellen Mittel den Widersacher Gino eingekreist zu haben, so wie die befreundeten Familien der Merli und Capocchi jeden Feind innen und von außen kontrollieren und besiegen konnten. Bei den dramatischen Ereignissen 1338 kam jedoch die Gefahr unvermutet aus einem Turm im Hinterhalt und führte zum Verlust des Freundes. Gino gleicht den Besitzern dieses Turmes, den Aldobrandeschi, indem er durch seine ihm unbewusste Wirkung auf Caroline die ausgeklügelten Pläne der Herritons zunichte macht. Nach ihrem Zusammentreffen mit Gino und seinem Baby in häuslichem Umfeld geht sie als ’dearest friend’ der Herritons verloren und steht zur Durchführung des Planes, den Säugling unter allen Umständen nach England zu holen, nicht mehr zur Verfügung. Ihr Horizont erweiternder Sinneswandel besteht in der Akzeptanz und Anerkennung der Andersartigkeit elterlicher Liebe in dem psychokulturell anders codierten Raum Italien, was bei Harriet blankes Unverständnis und moralische Verurteilung provoziert: “She called Miss Abbott a turncoat and a coward to her face.“(A, 135) Die Türme als Symbole der Alterität enthalten also auch die verschlüsselte Botschaft, dass das Herriton’sche Machtspiel um das Baby auf dem Weg des Scheiterns ist. Sie versinnbildlichen das Feste, Unverrückbare der eigenen Position, die im Bedarfsfall wirkungsvoll verteidigt und strategisch zur Kontrolle der Umwelt dient. Philip und Harriet wähnen sich in solch wehrhafter Position, die sie in Begriffen englischer Schicklichkeit und Moral, gesellschaftlicher Konvention und praktizierter Nächstenliebe, selbstredend in Mrs Herritons Auslegung, um sich errichtet haben. Aber auch Gino hat eine Verteidigungsanlage aufgebaut, die ihre Stärken aus dem anders codierten Wertekanon Italiens bezieht und deren Verankerung ebenfalls tief in die nationale Geschichte hinabreichen. Bereits an anderer Stelle unterstrich die Erzählinstanz, “[…] that the struggle was national“(A, 67) und dass “generations of ancestors“ das Wesen eines Individuums prägen (die Bildhaftigkeit des deutschen Begriffs ’Geschlechterturm’ für die mittelalterlichen toskanischen Hochbauten wirkt diesbezüglich bestätigend). Der Text greift im Übrigen gezielt auf Bilder der kriegerischen Konfrontation zurück, um den Konfliktcharakter des kulturellen Kontrastes als ’clash of civilizations’ zu illustrieren. Das Ringen beider Parteien um das Baby 358 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ fülle einen “[…] strenuous day of resolutions, plans, alarms, battles, victories, defeats, truces [...]“(A, 107), wobei sich Gino als unerwartet starker Widerpart erweist, dessen Quellen innerer Kraft unterschätzt wurden. Verwundert stellt Caroline fest: He’s charming, but he’s no fool; he conquered me last year; he conquered Mr Herriton yesterday, and if I am not careful he will conquer us all today, and the baby will grow up in Monteriano. He is terribly strong [...]. She prepared to do battle with the powers of evil.(A, 115) Die Türme sind insofern Symbol der Stadt, als sie für die englischen Besucher als Hinweis fungieren, das Fremde nicht als das charakterlich Schwache und moralisch tiefer Stehende abzuwerten, sondern in seiner gewachsenen Eigenart als etwas Eigenständiges zu akzeptieren. In ihrer massiven, unverrückbaren Präsenz sind sie Ausdruck des zwangsläufigen Scheiterns der für Sawston typischen fundamentalistisch-manichäischen Sicht einer Aufteilung der Welt in Gut und Böse, vor allem auch in der interkulturellen Begegnung (vgl. dazu 1.3.3). Die Türme sind aber nicht nur phallische Symbole und solche der Wehrhaftigkeit sowie einer gewachsenen Eigenständigkeit gegenüber dem Anderem, sondern repräsentieren in ihrer Polyvalenz auch die elementare Struktur des menschlichen Miteinanders als Modus der Dualität. Es geht in visualisierter Zeichenhaftigkeit um eine umfassendere Vorstellung von Liebe als die, die in Sawston existiert: Das nach oben in den Himmel Weisende der Türme deutet auf die das Banale überschreitende und sich dem Göttlichen nähernde Qualität der Liebe hin, während der aus dem Dunkel kommende Turmunterbau - “It reaches […] down to the other place“ - den physischen Aspekt der Sexualität als animalisch-niederen, aber integralen Teil der Liebe umschreibt. Symbolisch bezeichnet die Visualisierung ein ganzheitliches und damit natürliches Verständnis von Liebe zwischen Mann und Frau: Es hebt die Trennung von Körper und Geist durch anerzogene Körperfeindlichkeit und zerebrale Vereinseitigung des Geschlechtlichen auf, die Englands Lebenswelt kennzeichnet. Die Türme, sinnerweiternd als Signale zum Abstreifen psychischer Fesseln und zum Aufbruch in eine innenweltlich freiere Existenz durch Akzeptanz des Sexuellen funktionalisiert, werden für Philip und Caroline zum Initiationserlebnis und emanzipatorischen Schritt aus der gekünstelten Schamhaftigkeit Sawstons und den dort kultivierten Mechanismen der Prüderie zur Unterdrückung von Spontaneität und Emotionalität und somit auch von Identität. Im Kontext ihrer historischen Zweckorientierung sind die toskanischen Türme aber auch ganz generell Alteritätssymbole zur Initiierung von Verstehensvorgängen infolge ihrer horizontalen wie auch vertikalen Dimension: Die Ausdehnung des Blicks in die Weite und in die Höhe ist, konkret wie auch übertragen, Horizonterweiterung, und auch in diesem Sinne sind sie Erkenntnis fördernde Symbole der Stadt: 359 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG This cruel, vicious fellow knew of strange refinements. The horrible truth, that wicked people are capable of love, stood naked before her, and her moral being was abashed. It was her duty to rescue the baby, to save it from contagion, and she still meant to do her duty. But the comfortable sense of virtue left her. She was in the presence of something greater than right or wrong.(A, 122) Der Text entwickelt die oft paradox anmutende Dualität des Lebens leitmotivisch zum Testfall für die Verstehens- und Einsichtsfähigkeit der englischen Akteure. Bei der ironischen Beschreibung der Ortsheiligen Santa Deodata kommentiert die Erzählinstanz, dass “[…] sweetness and barbarity mingle strangely in her story“(A, 94). Beim Blick aus dem Hotelfenster registriert Caroline widerstrebend: “Beauty, evil, charm, vulgarity, mystery - she acknowledged this tangle, in spite of herself.”(A, 104) Auf saloppe, aber einprägsame Weise formuliert Philip das Phänomen der geistigen und moralischen Horizonterweiterung in Italien: “I tell you, Miss Abbott, it’s one thing for England and another for Italy. There we plan and get on high moral horses. Here we find what asses we are [...].”(A, 112) Als charakteristisches Alteritätmerkmal der Toskana symbolisieren die Türme ganzheitlich verstandene Dualität von Licht und Schatten, von Kultiviertem und Vulgärem, von Intellekt und Sinnlichkeit: In dieser Landschaft wirken die Defizite der englischen Lebenswelt wie in helles Licht getaucht und treten deutlich hervor; eine Evaluation alternativer Sinnprojektionen und Gestaltungsmöglichkeiten steht freilich noch aus. 3.5.2.3 Ein Opernabend in Monteriano: Zeit emotionaler Geborgenheit und Ort der Identität Die auktoriale Erzählinstanz, bei der Schilderung des Opernabends zunächst in der Pose des anglozentrierten Beobachters, geizt nicht mit Spott und Ironie, wenn dem Leser zur Einstimmung auf diese Schlüsselszene des Romans eine ins Detail gehende Beschreibung des kleinen Theaters in Monteriano gegeben wird, in dem Philip einige Jahre zuvor bereits eine Aufführung von ’La Zia di Carlo’ gesehen hatte: Since then it had been thoroughly done up, in the tints of beetroot and the tomato, and was in many other ways a credit to the little town.[...] There was also a drop-scene, representing a pink and purple landscape, wherein sported many a lady lightly clad, and two more ladies lay along the top of the proscenium to steady a large and pallid clock.(A, 107) Der Eindruck umwerfender Geschmacklosigkeit, der sowohl von der Wahl unpassender Farben als auch von der kitschigen Umsetzung antiker Landschaftsidyllen ausgeht, ist zweifellos das intendierte Ziel in der Leserreaktion, und auch Philip reagiert entsprechend: 360 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ So rich and appalling was the effect that Philip could scarcely suppress a cry. There is something majestic in the bad taste of Italy; it is not the bad taste of a country which knows no better; it has not the nervous vulgarity of England, or the blinded vulgarity of Germany. It observes beauty and chooses to pass it by. But it attains to beauty’s confidence. This tiny theatre of Monteriano spraddled and swaggered with the best of them, and these ladies with their clock would have nodded to the young men on the ceiling of the Sistine.(A, 107f.) Die geradezu genüssliche Beschreibung der deplatzierten Farbzusammenstellung, wie dies in den beiden Metaphern für das knallig-intensive Rot zum Ausdruck kommt - es sind die Allerweltsgemüse ’beetroot and the tomato’ mit der Konnotation des Gewöhnlichen und Banalen - sowie die Charakterisierung des Gesamteindrucks durch das ironisch gebrauchte Oxymoron ’rich and appalling’ lassen keinen Zweifel am Geschmacksurteil Neuankommender aufkommen. Nach Philips stilistischen Kriterien kann er nur mit schockartiger Bestürzung reagieren, denn diese schauerliche Bemalung ist weder mit dem Ruf Italiens als Land der Kunst noch mit Niveau und Anspruch eines englischen Diskurses über Geschmack oder gar Ästhetik vereinbar. Aber die latente Botschaft des Textes ist, dass es gar nicht um Verurteilung, Abwertung oder Ausgrenzung geht. Während seiner Schilderung löst sich die Erzählfigur aus der Rolle des Spötters und setzt zu einem dozierenden Monolog über schlechten Geschmack an, wobei sich in seinen Augen ein eklatanter Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden Europas auftut: Der schlechte Geschmack Italiens habe trotz allem sozusagen Format und Charakter, im Gegensatz zu England und Deutschland, wo er schlichtweg auf einen Mangel an Substanz hinweise. Die Verwendung von Alliteration in Verbindung mit Binnenreim und Lautmalerei in der Formulierung ’spraddled and swaggered’ umschreibt eine selbstüberhebliche, jedoch gutmütige Schwatzhaftigkeit, die gleichwohl Selbstvertrauen ausstrahlt. Und die in Gedanken konstruierte humorvolle Szene, dass die beiden gemalten Damen auf Monterianos Vorbühne sehr wohl mit Michelangelos großartigen jungen Männern in der Sixtinischen Kapelle kommunizieren könnten, weist in der Tat nicht auf einen Mangel an Selbstwertgefühl des einheimischen Publikums hin, das jeden Theaterbesucher aus der Provinz im Norden beschleichen würde, dächte er in vergleichbarer Situation an die Kunst seiner Metropole. In Italien geht es aber nicht, so das Fazit, um besserwisserisches Herummäkeln: Geschmäcklerische Vergleiche rühren im Süden an ästhetische Abstrakta und enden über kurz der lang in der Langweile der Theorielastigkeit. Entscheidend ist hier das gemeinschaftliche Erleben des Kunstgenusses: Dies ist Alterität mit eigener Sinnkonfiguration. Worauf es ankommt ist nicht nur, so die Intention des Textes, dass dieser Alterität das Recht auf Eigenständigkeit und Anerkennung zuteil 361 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG wird, sondern ihr Potenzial zum Tragen kommt. Ein diesbezüglich positives Signal setzt Caroline, als sie vor Beginn der Opernaufführung bedauert, keine hübschen Kleider mitgebracht zu haben: “[…] pretty things pack as easily as ugly ones. We had no need to come to Italy like guys.“(A, 108) Ihr Wunsch nach angemessener Kleidung erscheint banal, ist aber als Geste mit Zeichencharakter in dreifacher Hinsicht bedeutsam: Sie zeigt zum Ersten den Willen, auf die Menschen der Fremde zuzugehen; sie signalisiert zum Zweiten die Bereitschaft, sie in der Eigenart ihrer kulturellen Ausformung respektieren zu wollen, und zum Dritten ist sie Ausdruck einer geheimen Hoffnung auf Einbezug und Teilhabe an dem sozialen Ereignis. Diese Einstellung scheint Philip in Carolines beiläufiger Bemerkung zu spüren, und sie springt wie ein Funke auf ihn über, denn plötzlich, in der nächtlichen mediterranen Landschaft, wandelt sich sein ästhetischer Eindruck, der fast ein Schrei des Entsetzens geworden wäre, in fundamentaler Weise. Das Geschmacklose, Lächerliche und Abstoßende wandelt sich ins Gegenteil: For he saw a charming picture, as charming a picture as he had seen for years - the hot red theatre; outside the theatre, towers and dark gates and medieval walls; beyond the walls, olive-trees in the starlight and white winding roads and fireflies and untroubled dust; and here in the middle of it all Miss Abbott, wishing she had not come looking like a guy. She had made the right remark. Most undoubtedly she had made the right remark.(A, 108) Jetzt nimmt Philip das knallige, aufdringliche Rot des Theaters in einem anderen Verstehenskontext wahr. Durch die Einbindung in das tiefe Dunkel der Tore und Mauern einerseits und in das fahl schimmernde Licht auf den Bäumen sowie die intensiven Punktlichter der Sterne und der Leuchtkäfer andererseits erhält das Rot in Philips gewandelter Rezeption eine neue Qualität. Es ist dieses Zusammenspiel von intensiven Farben - “Did you ever see a really purple sky and really silver stars before? ”(A, 112) fragt Philip - und von Licht und Schatten, in dem erzählerisch die geheimnisvolle, geradezu magische Wirkung auf das ästhetische Empfinden des Protagonisten verortet wird. Gegenwart und Geschichte, Kunst und Natur, Landschaft und Kultur, all dies verschmilzt in dem nächtlichen Bild zu einem Gesamteindruck, der Einklang und Harmonie signalisiert statt verengter Wahrnehmung und geschmäcklerischer Wertung. Das Empfinden, etwas Einheitliches, Ganzheitliches und in sich Stimmiges im Blick vor sich zu haben, löst Philips spontane, enthusiastische Gefühlsreaktion aus: “[…] a charming picture, as charming a picture as he had seen for years“.(A, 108) Die südländische Landschaft hat einen ästhetischen Verstehensvorgang in ihm ausgelöst, der ihm in der englischen Landschaft bislang nicht zuteil geworden ist. Angestoßen wurde diese neue Offenheit durch Carolines scheinbar belangloses Bedauern, kein schönes Kleid mitgebracht zu haben, Manifestation ihrer Sensibilität und ihres Respekts vor kulturel- 362 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ ler Andersartigkeit, was sich im Kontext der Fremde jedoch schlichtweg als größere soziale und emotionale Kompetenz darstellt. Philips formalistische und an englischer Konventionalität geschulte Kritik an unstimmigen Farben und kitschiger Bemalung verblasst und tritt in den Hintergrund. Hatte der Prozess der Loslösung aus Denkschemata des Nordens bisher den Bereich ästhetischen Wertens betroffen, so erfasst er bald die emotionale Befindlichkeit der beiden Akteure. Auslöser ist das Verständnis von einer Opernaufführung in Italien, deren Ziel nicht Illusion oder die andachtsvolle Stille eines Betabends sei, wie Philip erkennt, sondern Unterhaltung, gelöstes Beisammensein, Partystimmung. In der Tat sind es die Spontaneität und Natürlichkeit des italienischen Publikums, der Eindruck von prallem Leben, von ungekünsteltem Umgang mit Menschen, der die Theaterbesucher als einzige große Familie in entspannter Stimmung erscheinen lässt. Das Grüßen und Zurufen im gesamten Rund des kleinen Provinztheaters, wo fast jeder jeden kennt, der Austausch übermütiger, warmherziger Komplimente zwischen Zuschauern und Akteuren bei laufender Vorstellung, die überschäumende und lauthals gezeigte Begeisterung für eine Gesangsdarbietung: Für englische Besucher ist dies der Eintritt in eine fremde Welt des Kunsterlebens, in der Konventionen und Zwänge keine Rolle spielen. Für sie ist diese Art des gemeinschaftlichen Musikgenusses wie eine Befreiung aus Verhaltensfesseln, die sich ein nordisches Publikum aus einem anderen Kunstverständnis heraus konstruiert und auferlegt: “The singers drew inspiration from the audience, and the two great sextets were rendered not unworthily. Miss Abbott fell into the spirit of the thing. She, too, chatted and laughed and applauded and encored, and rejoiced in the existence of beauty.”(A, 109) Caroline wird empfänglich für eine neue Wahrnehmung von Schönheit, und inspiriert und getragen von der Begeisterungsfähigkeit des Publikums und seinem natürlichen und unbefangenen Verhalten wird dieser Opernabend zum Initiationserlebnis in ästhetisches Empfinden. Mehr noch: Das Lösen psychischer Verspannungen als Folge permanenter Disziplinierung in der spätviktorianischen Gesellschaft manifestiert sich in für sie ungewohnten körpersprachlichen Reaktionen - “chatted and laughed and applauded and encored, and rejoiced“ -, Zeichen innerer und weltanschaulicher Emanzipation. Die auffallende Häufung von Verben im obigen Zitat, die Verwendung des Polysyndetons und die kraftvoll-rhythmische Sprache sind stilistische Mittel zur Verdeutlichung der Dynamik intra- und interpsychischen Wandels. Ein näherer Blick auf die Beschreibung des Opernabends beseitigt Zweifel, dass die Deutung der Theaterszene auf Ernst und Tiefsinn anzulegen sei. Die Schilderung ist von Humor und Heiterkeit geprägt, und manches in Gestik und Verhalten erinnert schlichtweg an Parodie: The climax was reached in the mad scene. Lucia, clad in white, as befitted her malady, suddenly gathered up her streaming hair and bowed her acknowledgements to the audience. Then from the back of the stage - she 363 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG feigned not to see it - there advanced a kind of bamboo clothes-horse, stuck all over with bouquets. It was very ugly, and most of the flowers in it were false. Lucia knew this, and so did the audience; and they all knew that the clothes-horse was a piece of stage property, brought in to make the performance go year after year. None the less did it unloose the great deeps. With a scream of amazement she embraced the animal [...].(A, 110) Für Philip als ausgewiesenem Spötter wären diese Vorgänge in der heimischen Umwelt Anlass zu ausgiebiger Satire, - die er sich in Monteriano versagt. Der Text instrumentalisiert an diesem Punkt nationalkulturelle Unterschiede bei der Rezeption von Kunst, d.h. Fragen des Geschmacks und der Ästhetik, zur Erörterung eines wichtigen Anliegens: Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit, durch Kontakt mit und durch partielles Sicheinlassen auf Alterität zu einem höheren Maß an innerer Selbständigkeit und Freiheit zu gelangen. Der Umstand, dass Philip die Opernaufführung nicht als Satiriker erlebt, sondern vom ’genius loci’ erfasst und gleichsam wie auf einer Welle getragen wird, ist psychologisch aufschlussreich und Hinweis auf Defizite in seiner Persönlichkeit. Er ist mit sich selbst nicht im Reinen, hat nicht zu sich selbst gefunden und empfindet sich als fremdbestimmt, weil es die Familienehre oder seine Mutter oder die Gesellschaft oder die Konvention so wollen. Trost für die Zukunft bezieht er aus der Hoffnung, dass “Decision of character might come later - or he might have it without knowing“(A, 70). Ihm ist Befriedigung genug, dass ihn, wie er glaubt, sein Scharfsinn in die Rolle des überlegenen Beobachters versetzt, und er akzeptiert dieses Gefühl als Kompensation für mangelndes Identitäts- und Selbstwertgefühl: “He might be a puppet’s puppet, but he knew exactly the disposition of the strings.“(A, 90) Vor dem Hintergrund seiner zum Teil konstitutionellen Defizite - ’a weakly-built young man’, ’a weak face’(A, 70) - und ihrer soziokulturell beträchtlichen Verstärkung erlebt er nun, just in dem kleinen, geschmacklosen Theater mit kläglicher Bühnenausstattung und in einer rührend dilettantischen Aufführung, aber umgeben von der großen und weitherzigen Emotionalität, Aufrichtigkeit und menschlichen Wärme des Publikums, Selbstbestätigung und emotionale Geborgenheit: As for Philip, he forgot himself as well as his mission. He was not even an enthusiastic visitor. For he had been in this place always. It was his home.(A, 109) Im Rahmen der Themenstellung und Aussageintention des Romans kann die Bedeutsamkeit dieser Textstelle kaum überschätzt werden, denn sie beschreibt den eminent wichtigen Vorgang des Erleben eines ’moment of vision’, der psychisch wie auch epistemologisch folgenreich ist. Der Erzähler weist in der stilistischen Formgebung mit sehr spärlichen, aber gerade deshalb auffallend wirksamen Mitteln auf diese Folgewirkung hin. Die syntaktisch ungewöhnliche Endstellung des Adverbs ’always’ im vorletzten Satz lenkt die Aufmerksamkeit zielgerichtet darauf, dass etwas in sich 364 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Ruhendes, Immerwährendes vorliegt. Im Sinnzusammenhang des Textes bedeutet dies, dass Philip - endlich - das gefunden hat, wonach er bewusst oder auch unbewusst sein Leben lang gesucht hat, nämlich den Ort, an dem er sein Selbst und seine Identität findet: Mit dem, was er in diesem Augenblick erlebt, fühlen sich sein Ich und Selbst identisch. In ihrer lapidaren Kürze nehmen die vier Einsilbenwörter - ’It was his home’ - eine monolithisch-monumental anmutende Struktur an und strahlen eine suggestive Wirkungskraft aus. Dieser auf die syntaktischen Grundbestandteile reduzierte Satz legt schnörkellos und in markantem Gegensatz zur sonst heiteren, lässigen Eloquenz Forster’scher Diktion Nachdruck auf das Unverrückbare des Geschehens. Er ist unzweideutig in der Formulierung, unmissverständlich in der Aussage und von unumstößlicher Klarheit in der gedanklichen Festlegung. In dem ungewohnten Ernst des Tones schwingt keine den Erzählduktus ansonsten oft kennzeichnende humorvollironische Überzeichnung mit. Das Defizitäre der englischen Lebenswelt wird an keiner anderen Stelle des Romans derart unumwunden und drastisch formuliert, indem die Leerstelle in Philips Persönlichkeitsprofil mittels Kontrastierung durch Italien schonungslos sichtbar gemacht wird. Die Doppelschichtigkeit des Begriffs ’home’ als Heim oder Heimstatt und Heimat umschließt beide Male die Idee von Ursprung und Quelle, und dies bedeutet Bezug zum wahren Selbst. Auf emotionaler Ebene konnotiert der Begriff Empfindungen wie Vertrautsein, Geborgenheit, Schutz und Wohlbefinden. Die interpretatorische Feststellung, dass das Theater von Monteriano Philips emotionale und psychische Heimat sei, erweist sich aus dieser Perspektive als massivste Form der Gesellschaftskritik am ’Edwardian England’. Philips wahre Identität, so das Fazit, ist nicht im wohlgeordneten Sawston zu suchen, sondern an einem Ort, an dem Ursprünglichkeit noch möglich ist: Dem elterlichen und sozialen Kontext Sawstons wird der Makel des Unnatürlichen, des eigentlich Fremden und Fremdartigen angeheftet. Philips mühsam unterdrückter Aufschrei beim Anblick des rot gestrichenen Theaters erweist sich nun als anglozentrierte Pose, die, weit jenseits von verletztem Stilempfinden, ein Nichtverstehen von Alterität offen legt. Nach seinem Meinungswandel erhält dasselbe Theater, eingebettet in die nächtliche Landschaft der Toskana, einen völlig anderen Sinnbezug, als sich nämlich sein Unverständnis in Zustimmung, Begeisterung und das existenziell bedeutsame Gefühl der Geborgenheit wandelt. Die Symbiose von England und Italien kann, wie bereits die Synthese von Donizettis Musik und Walter Scotts Text in Lucia di Lammermoor nahelegt, zum epistemologisch wichtigen Erlebnis von Ganzheit führen. Philips Eskapismus in Sphären des Ästhetischen und Ironischen in der Attitüde des Kultursnobs - “At all events he had got a sense of beauty and a sense of humour, two most desirable gifts“(A, 70) - erweist sich in diesem Licht mehr als je zuvor als Flucht- und Überlebensstrategie aus der öden Welt 365 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG der Gefühlskälte Sawstons, wie sie von seiner Mutter exemplarisch vorgelebt wird. Seiner Italienschwärmerei haftet geradezu etwas Deprimierendes und Trauriges an, denn letztendlich legt sie, wenn das Theater in Monteriano als emotionale Heimstatt wahrgenommen wird, das Dilemma und Ausmaß seiner psychischen Verkümmerung und seelischen Verarmung bloß. Der Text weist ihn so als unfertigen und unreifen Menschen aus, der, paradox wie es scheinen mag, Züge früher Vergreisung in sich trägt. Nach seiner allerersten Italienreise [he] came back with the air of a prophet who would either remodel Sawston or reject it. All the energies and enthusiasms of a rather friendless life had passed into the championship of beauty. In a short time it was over. Nothing had happened in Sawston or within himself.[...]He concluded that nothing could happen, not knowing that human love and love of truth sometimes conquer where love of beauty fails.(A, 70f.) Philips resignative Abgeklärtheit bis zum Punkt realitätsverweigernden Desinteresses - “[…] he was quite indifferent to the outcome of their expedition“(A, 130) - verschleiert seine Unfähigkeit zu spontanen Gefühlen, selbst so elementaren Regungen wie Sexualität. Gerade weil Philip intelligent, sensibel, aufgeschlossen und guten Willens ist, zeigt sich hinter den gescheiterten Italienmissionen - die Verhinderung von Lilias Heirat, der Babytransfer nach England - das ernüchternde, sogar traurig stimmende Bild eines jungen Mannes, den das Leben überfordert, weil Sawston und seine Mutter ihn der Kraft und Fähigkeit beraubt haben, er selbst zu sein und natürlich und in Übereinstimmung mit sich selbst zu agieren. Nur so konnte sich die paradoxe Situation ergeben, dass der sich selbst entfremdete junge Mann in der Fremde eine Zeit emotionaler Geborgenheit und einen Ort der Identitätsfindung erlebt. Betrüblicher noch ist, dass er beim Aufbau einer Liebesbeziehung scheitert. Am Romanende würde er Caroline Abbott gerne seine Liebe gestehen, wovon ihn bisher soziale Vorurteile und snobistisches Überlegenheitsgefühl abgehalten hatten: “Miss Abbott of Sawston [was] most appallingly dull. Dull and remorseful: it is a deadly combination [...].“(A, 105). Hoffnung auf Annäherung birgt der Theaterabend in sich, als beide sich näherkommen, überglücklich und wie von Verkrampfungen befreit plaudern und lachen. Philip “[...] was drunk with excitement” (A, 110) und Caroline “[...] could not go to bed for happiness“.(A, 112) Zeit und Ort wären günstig für ein Entdecken der Liebe und der Natürlichkeit ihrer leiblichen Implikationen, aber diese Aussicht endet als tragikomische Illusion: Ihre Gedanken sind bei Gino und seinem attraktiven Körper, und Philip registriert in einem Anflug homoerotischen Gefühls “[…] the light caress of the [Gino’s] arm across his back“(A, 112), aber kein körperliches Verlangen nach seiner Gefährtin. 366 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Beide Charaktere machen einen Wandel durch, aber nicht in Bewegung aufeinander zu, sondern jeweils zu sich selbst. Die Alteritätserfahrung reicht in ihrer emanzipatorischen Wirkung nicht so weit, dass der Kokon soziokultureller Umhüllung durchstoßen und durch die spontane Reaktion körperlichen Begehrens ersetzt wird. Gewiss, es kommt zu großen Szenen gegenseitigen Verstehens: Da waren das grandiose Bild Carolines als mittelalterliche Madonna mit Ginos Kind im Arm, das lange, bekenntnishafte Gespräch in Santa Deodata, die gemeinsame dramatische Suche nach dem Kind im dunklen Wald und schließlich die intensive Aussprache im Zug auf der Heimreise. Aber die persönliche Konstellation bleibt, aufgrund der Wirkungsmacht der in England anerzogenen emotional-psychischen Verhärtungen so, wie sie ist. Als Caroline ihr Verlangen nach Gino beichtet, “I’m in love with Gino - don’t pass it off - I mean it crudely - you know what I mean”(A, 158) klingt ihre begründende Erklärung wie bitterer Hohn: “I dare tell you this because I like you - and because you’re without passion; you look on life as a spectacle; you don’t enter it; you only find it funny or beautiful.“(A, 158) In diesem Sinne ist der Roman, bei aller Leichtigkeit des geistvollen Erzählgestus und heiteren Gelassenheit der Darstellung, ein sehr nachdenklich machendes und vielleicht, je nach Gestimmtheit des Lesers, auch traurig anmutendes Buch. 3.5.3 Ergebnisse im Kontext 3.5.3.1 Englische Auto- und Heterostereotypen: Die Immobilität erstarrter Bilder und der Wandel durch Erfahrung und Kontingenz In Where Angels Fear to Tread, “the most successful of the prewar novels“, 764 ist die Vorstellung der Verschiedenartigkeit Englands und Italiens als unterschiedlich codierte Lebensräume thematischer Kernpunkt und Basis der Handlungskonzeption. 765 “Forster’s concern is to bring together the representatives of those two ways of life and to observe in some English characters the result of the clash between two different cultures.” 766 Das gesamte Erzählgeschehen steht im Zeichen dieser Polarität, deren Erscheinungs- 764 F.R. Leavis, E.M. Forster, in: Bradbury, Forster - Essays, 35. 765 “[...] though the abundance of contrasts here is obvious, different opinions are held about their function. It is sometimes assumed that the contrasts in Where Angels Fear to Tread are merely the source of comic effects, but this view is only possible if one adopts a simplified interpretation of the novel; [...] two sudden deaths, and a good deal of melodrama, including an unrevealed but powerful love hardly indicate a comic theme.”(Szala, North and South, 35). 766 Jeanne Delbaere-Garant, The Call of the South: Where Angels Fear to Tread and The Lost Girl; in: Revue des Langues Vivantes, 29, 1963, 338. 367 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG formen das Fundament der vom Autor intendierten Sinnhaftigkeit seiner Aussage konstituieren. Forster selbst bezeichnete den Roman als “a novel of contrasts. On the one hand was the English suburbs [sic] with the gray [sic] inhibited life that I knew only too well, and on the other hand was Monteriano, a romantic hill town which I established in Tuscany on the basis of San Gimignano.” 767 Damit schließt sich Forster einer reichen literarischen Tradition an, denn Italien hat „[…] wie kaum ein anderes Land seit der Shakespearezeit und vor allem mit der zunehmenden Beliebtheit der ’Grand Tour’ im XVI- II. Jahrhundert die Vorstellungswelt der Engländer beschäftigt und zur Ausbildung teils epochenspezifischer Italienbilder geführt [...]. Gemeinsames Strukturmerkmal dieser sich geschichtlich wandelnden Italienbilder ist die Interdependenz von nationalem Autostereotyp und Heterostereotyp und damit die Verwendung der Italienerfahrung entweder zur Kritik oder zur Bestätigung der englischen Nationalkultur.“ 768 Durch Kontrastierung historisch und kulturell unterschiedlich gewachsener Lebenswelten will Forster Defizite des eigenen Umfeldes vor Augen führen und Möglichkeiten ihrer Kompensation aufzeigen. Ziel ist es, für das Individuum eine Hinwendung zu Emotionalität und Zwischenmenschlichkeit in Streben nach Glück zu erreichen, weshalb in Forsters Terminologie ’conversion’, ’salvation’ und ’happiness’ entscheidende Schritte auf diesem Weg sind. 769 „Aufgrund der primär auf England zentrierten Bilanzierung kommt Italien im Sinne einer Komplementärbzw. Alternativfunktion vornehmlich - wenn auch nicht ausschließlich - die Rolle eines positiven Gegenpols zu.“ 770 Ideenbzw. literaturgeschichtlich steht Forster damit in der Tradition von Frau von Staëls Corinne, Eliots Middlemarch und Gissings The Emancipated. Grundlage des Vergleichens ist die Annahme, dass die Natur in Gestalt der Landschaft und dass Klima und Bodenbeschaffenheit die Menschen, ihre Geschichte und Kultur geformt haben, es also einen ’spirit of place’ bzw. ’genius loci’ gebe, dessen Eigenart Forster und besonders D.H. Lawrence zur Markierung von Alterität funktionalisierten. 771 Zum Aufzeigen der komplexen Vielfalt von Gegensätzlichkeit hat Forster ein multiples Konfrontationsschema gewählt. Die englischen Auto- und Heterostereotypen mit Bezug zu Italien spiegeln sich in den wichtigen Figuren in jeweils abgewandelter Form wider, wobei es in Philips und Carolines Fall aufgrund der Tatsache, dass sie im Romanverlauf zweimal 767 E.M. Forster, Three Countries (typescript at King’s College, Cambridge, 1962), zit.n. Stallybrass, Hrsg., in: E.M. Forster, Where Angels Fear to Tread, London, Penguin Books, 1976, 8. 768 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 41. 769 “Each of these novels [Where Angels Fear to Tread, A Room with a View] is concerned with the dual theme of personal salvation and the conflict of good and evil.”(Savage, E.M. Forster, in: Bradbury, Forster, 57). 770 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 46. 771 Vgl. a.a.O. 368 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ nach Italien reisen, zu einer zweibzw. dreifachen Spiegelung kommt und sich die folgende jeweils von der vorhergehenden unterscheidet. Auf italienischer Seite treten nur zwei Personen, Gino Carella und sein Freund Spiridione Tesi, mit Auto- und Heterostereotypen auf, die jedoch immobil und starr bleiben. Immobil sind auch Mrs Herritons und Harriets Selbst- und Fremdbilder: In ihrem Denken stehen sich England und Italien unvereinbar gegenüber. Für beide ist nur bedeutsam, was sich in Sawston ereignet bzw. was die öffentliche Meinung in Sawston darüber sagt. Letztere bewegt sich in vorgezeichneten Denkbahnen einer rigiden Klassengesellschaft im Verbund mit religiösem Eiferertum, das in ritualisierten Formen seine Rechtschaffenheit und Frömmigkeit zur Schau stellt: Niemand kann ohne Gesichtsverlust gegen den ungeschriebenen Verhaltenskodex verstoßen. “Both Where Angels Fear to Tread and A Room with a View are studies of English middleclass stupidity and hypocrisy, into whose outwardly decorous conventions (both novels are domestic comedies in the Jane Austen tradition) Italy irrupts, with salutary if catastrophic results in Where Angels Fear to Tread, and beneficent ones in the sunnier A Room with a View.” 772 Folgerichtig ist Italien für Mrs Herriton kein Ort, der ihr Interesse weckt. Symptomatisch ist ihre Reaktion auf den Eintrag über Monteriano im Baedeker, den sie bis zum Stichwort der mit Stern markierten Fresken in der Stiftskirche Santa Deodata anliest, um dann die Lektüre abzubrechen: “She was not one to detect the hidden charms of Baedeker. Some of the information seemed to her unnecessary, all of it was dull.“(A, 29) Der Grund ihres Desinteresses sind nicht mangelnde Reiseerfahrung oder unzulängliches Wissen - sie erinnert sich bei der Suche nach Information an Byrons Childe Harold und Mark Twains The Tramp Abroad -, sondern die rückhaltlose Höherbewertung alles Englischen. Das Fremde ist die Inkarnation des Minderwertigen - ’vulgarity’ ist Mrs Herritons Lieblingsvokabel in diesem Kontext -, wobei die schroffe Gegensätzlichkeit nicht auf konkrete Negativerfahrung zurückgeht, aber sehr wohl eine emotionale Spannungssituation im eigenen Selbstbild offen legt. Dieses ist auf Beherrschung der Umwelt ausgelegt, und psychologisch gesehen wird mit einer denkbaren Akzeptanz des Fremden ein Kontroll- und Machtverlust befürchtet (vgl. 1.3.2). Was Mrs Herriton bei Lilias Heirat verurteilt ist weniger die Wahl eines potenziell falschen Ehemannes als vielmehr eine drohende Schwächung ihres Sozialstatus in Sawston, dessen Dominanz und Anspruch Lilia in Frage stellt bzw. dem sie sich zu entziehen droht: “The man may be a duke or he may be an organ-grinder. That is not the point. If Lilia marries him she insults the memory of Charles, she insults Irma, she insults us.”(A, 31) Die befürchtete Machteinbuße setzt sogar Hass und hinterhältige Rachsucht frei: “Lilia has insulted our family, and she shall suffer for it“(A, 30). 772 K.W. Gransden, E.M. Forster, Edinburgh: Oliver and Boyd, 1970, 22. 369 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die rigide Wahrnehmung Italiens durch Harriet ist von gleichem Zuschnitt wie die ihrer Mutter. Es bedarf nur eines kleinen Anstosses, ein heißer Tag in Verona, um ihre Vorurteile freizusetzen: “’Foreigners are a filthy nation,’ said Harriet“(A, 90), und in diesem ebenso grob pauschalierenden wie sachlich falschen Satz bündelt sich die irrationale Engstirnigkeit der Auto- und Heterostereotypen von Mutter und Tochter. Lilias diametral anderes Italienbild ist gleichfalls klischeehaft und wirklichkeitsfremd, dessen Zustandekommen sich auch erst durch einen Blick in ihre Psyche und die dort erkennbaren Zwänge erklärt. Sie ist wild entschlossen, Italien als Chance ihrer Emanzipation zu begreifen und sich dem permanenten Anpassungsdruck der Herritons zu entziehen. “Italy, with its relaxed system of social values, in contrast with Sawston’s staid Edwardian lifestyle, provides a social mechanism that ultimately liberates Lilia, Caroline, and Philip from the Herriton ideology that previously prevented them from achieving selfhood beyond the interpersonal boundaries of their dysfunctional family system.” 773 Aus humorvoller Distanz, aber überaus eindrucksvoll beschreibt die allwissende Erzählinstanz, welche gewaltigen emotionalen Kräfte dabei am Werk sind. 774 Als Philip Lilia mit dem Argument zu überzeugen versucht, er sei gekommen, um sie vor Gino zu retten und in den Schoß der Familie heimzuholen, bricht jahrelang aufgestaute Frustration aus ihr heraus: “What follows should be prefaced with some simile - the simile of a powdermine, a thunderbolt, an earthquake - for it blew Philip up in the air and flattened him on the ground and swallowed him up in the depths.[...] ’For twelve years you’ve trained me and tortured me, and I’ll stand it no more’.“(A, 44) Lilia scheitert jedoch auf tragische Weise, da ihr Italienbild nicht auf Verstehen angelegt ist und sie weder Kunstsinn noch Interesse an ’personal culture’ zeigt - ein gravierendes Defizit in Forster’s Augen; 775 Italien ist für sie Mittel des Protests, und ihr Motiv ist die Provokation der Herritons. Nach ihrer klaustrophobischen Erfahrung als verheiratete Engländerin an der Seite eines Italieners und nach fehlgeschlagenen Kontakt- und Fluchtversuchen nach England klingen ihre früheren Worte wie bitterer Hohn: “[…] one sees the Italians unspoiled in all their simplicity and charm here“.(A, 26) Die italienische Umwelt verweigert ihr den sozialen Kontakt, treibt sie in die Isolation und legt ihr schlimmere Fesseln an, als es in Sawston je der Fall war. “She learns too late that she cannot attain that apparent sensual fulfilment which 773 Kenneth Womack, A Passage to Italy: Narrating the Family Crisis in E.M. Forster’s Where Angels Fear to Tread, in: Mosaic: a journal for the interdisciplinary study of literature and ideas, Winnipeg, Manitoba: University of Manitoba Press, 33/ 2000, Heft 3, 130. 774 “Forster is not only comic, he is often playful. He is sometimes irritating in his refusal to be great.”(Trilling, Forster and the Liberal Imagination, in: Bradbury, Forster - Essays, 72). 775 “Forster followed Arnold in his belief that deficiency in personal culture makes people act rashly, even when they want to do good.”(Szala, North and South, 37). 370 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ she admires in Italian life and desires for herself, without making the psychologically impossible total sacrifice of her Englishness.” 776 Gino erweist sich weder als unverdorben noch als einfach, wird gar Instrument ihrer Demütigung, Bedrohung mit Gewalt und ihrer Unterdrückung, jedoch nicht, weil er von Natur aus bösartig ist, sondern anderen Regeln kultureller Codierung unterliegt. In Mrs Herriton und Harriet, Lilia, Gino und Spiridione stehen sich die Gegensätze zwischen England und Italien ohne Aussicht auf Abschwächung oder Veränderung starr gegenüber. Es fehlt entweder an der Bereitschaft, sie überhaupt reduzieren zu wollen, da sie zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes gebraucht werden, wie bei Mrs Herriton und Tochter, oder es fehlt an der erforderlichen intellektuellen und emotionalen Kapazität, das Autostereotyp zu überschreiten, so bei Lilia, Gino und seinem Freund. So resultiert aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Lebenswelten bei Immobilität der Stereotypen ein Zusammenprall der Kulturen mit gravierenden und auch tragischen Folgen. Die Selbst- und Fremdbilder in Where Angels Fear to Tread sind freilich nicht als ernst gemeinte Beiträge zu einem Diskurs über tatsächliche Unterschiede nationalkultureller Ausformungen im Sinne der Imagologie zu verstehen. Sie werden als Klischees vorgestellt und in dieser Funktion verwendet, um Defizite der englischen Lebenswelt darzulegen (vgl. 1.3.1 bzgl. Fußnote 142). Über die Kontrastierung von England und Italien inszeniert Forster eine Offenlegung von Mängeln in Bezug auf sein Bild vom Menschen und dessen Lebenszielen, die er im Norden diagnostiziert hat und in der Konfrontation mit dem Süden verdeutlichen kann. 777 Es geht nicht um Aufklärung über England und Italien mit Blick auf Gesellschaft und Kultur, sondern um die Möglichkeit einer individuellen Horizonterweiterung durch Interferenz mit dem Fremden. Forsters neohumanistisches Anliegen zielt auf ein Auffinden von Wegen zu personaler Glücksfindung, nicht auf eine Analyse kultureller Unterschiede und die Ursachen für deren Zustandekommen im Sinne der Imagologie. Als größtes Hindernis zu diesem Ziel stellt der Text die fatalen Folgen von Borniertheit heraus - “The human failure which Forster is most at pains to attack and expose is ’stupidity’ and ’obtuseness’“ 778 -, die auch stets mit Egoismus einhergeht. Neben dem krassen Beispiel psychischer Verhärtung bei Mrs Herriton und Tochter gelingt auch Lilia allein mit ih- 776 Churchill, Italy and English Literature, 178. 777 In einer Rezension von 1920 heißt es dazu: “The story is founded on Mr. Forster’s perception of certain contrasted human qualities - culture versus vulgarity, spontaneity versus convention, the naturalness and emotion of the South versus the calculation and suppression of Anglo-Saxon minds.”(Unsigned review, Springfield Sunday Republican, Springfield, Mass., 21 March 1920, in: Gardner, E.M. Forster - The Critical Heritage, 59). 778 H.A. Smith, Forster’s Humanism and the Nineteenth Century, in: Bradbury, Forster - Essays, 114. 371 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG rem Befreiungswunsch aus heimischer Domestizierung kein Schritt zu ’personal culture’. Gino und Spiridione verharren aus purer Bequemlichkeit in den Beschränkungen eines ’male chauvinism’, eine Variante egozentrierter Borniertheit, dessen sie zur Bestätigung ihres Selbstwertgefühls bedürfen. Nur Philip und Caroline wandeln ihre anfangs genauso starren Auto- und Heterostereotypen. Die erstaunlichsten und zunächst widersprüchlichen Wandlungen durchläuft Philip Herriton. Schon auf der ersten Textseite, bei der Abschiedsszene am Bahnhof von Charing Cross, geht der Erzähler durch ironisierende Beschreibung und Brechungen im narrativen Gestus auf Distanz zum idealisierten Italienbild seines Helden: Philip, “[…] whom the idea of Italy always intoxicated“, überzieht zum einen seine Italieneuphorie bis an die Grenze des Lächerlichen, zum anderen ist ein Vorschwärmen von bevorstehenden ’supreme moments’ bei seiner kulturell nur mäßig interessierten Schwägerin Lilia fehl am Platze. Verwunderlicher noch ist seine Widersprüchlichkeit, ihr ein ’going off the track’ zu empfehlen, um dann eine Aufzählung reichlich bekannter Postkartenmotive anzufügen, was kein Ausweis von Unkonventionalität ist. Mr Kingcrofts komischer Auftritt mit einem Fußwärmer, Lilias Spott über die aufwändige Abschiedszeremonie und eine letzte gezielte Bosheit gegen ihre Schwiegermutter - sie ermahnt Irma laut hörbar, folgsam gegenüber ’Granny’ zu sein, obwohl letztere, wie allen bekannt, ’the title of Granny’ hasst - rundet den Kontrast zu Philips Märchenland ab. An der Komik der Details, am humorvollen Erzählduktus und der heiteren Atmosphäre der Eingangsszene wird Forsters Rückgriff auf die Tradition der ’comedy of manners’ und der Genrebilder des 18. Jahrhunderts erkennbar, die den englischen Reisenden zum Gegenstand von Amüsement und Spott machten; es gab eine regelrechte “Victorian convention of tourist mockery“. 779 Bei der amüsanten Schilderung der beginnenden Italienreise geht es um die Einbindung der Akteure in die Konventionen eines Sozialgefüges, dessen Regeln sie unwissentlich unterliegen. Philips vermeintlich unkonventionelles Italienbild wird semantisch und auch erzählerisch als Klischee vorgeführt, dem nichts Originelles anhaftet, und sein Gehabe als Italienkenner wird als Pose durchschaubar: Sein Bildfundus über Italien ist ebenso oberflächlich und stereotyp wie derjenige des von ihm bespöttelten Bildungsbürgers. Beide Bildtraditionen, die bildungsbürgerlich-klassische der Grand Tourists wie auch die verklärt-romantische der Individualreisenden fügen sich in Philip zu einem artifiziellen Gebilde zusammen ohne authentischen Zugang zur Fremdartigkeit der anderen Kultur. Forster thematisiert damit Fragen nach Sinn und Zweck des Reisens: “[...] the special project of Forster’s early work [...] is to investigate the conditions of existence within 779 Buzard, Forster’s Trespasses: Tourism and Cultural Politics, 157. 372 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ the discourse of tourism and the possibilities of circumventing or transcending the obstacles tourism places between the traveler/ writer and the true understanding he seeks, both of himself and of the visited place.” 780 Philip ist nämlich am Textanfang ein echter Sohn Sawstons, ein rechter ’philistine’ und angepasster Spießbürger, der der geistigen Enge und Kleinkariertheit seines Heimatstädtchens keinesfalls in dem Maße entkommen will, wie er vorgibt, es zu wollen. Bei aller Italienschwärmerei beteiligt er sich eifrig am Beobachten und Beurteilen von Mitbürgern, um Abweichungen von Normen umgehend missbilligen zu helfen. Die Fähigkeit zu gedanklicher Diskrimination und geistiger Distinktion werden in Sawston durchaus gepflegt, aber nicht in Bezug auf das Fremde, sondern zur Aufrechterhaltung der Kohärenz und Disziplin in der eigenen Gruppe. Philips Hang zur Ironie und zur Pose des Außenseiters sind psychologisch leicht durchschaubar. Mit seiner Italienbegeisterung, ein Kunstprodukt aus Idealisierung und Snobismus, schafft er sich eine Ersatzwelt und einen kleinen persönlichen Freiraum, um die entwürdigende Dominanz der Mutter zu kompensieren. Er entflieht in einen Raum des Idyllischen und Schönen, in den intakte zwischenmenschliche Beziehungen schablonenhaft hineingedacht werden können, ohne sie leben zu müssen. Dabei kommen ihm seine Eloquenz und sein Spieltrieb, sein Spaß an pointierter Formulierung und gelungener Provokation gegenüber seiner bodenständig-biederen Schwester Harriet zustatten, doch sein Italien ist - anfangs - eine aus persönlicher Bedürfnislage heraus konstruierte Scheinwelt. Die rauhe Wirklichkeit beginnt mit dem Sozialstatus von Ginos Familie, was einem Realitätsschock gleichkommt: Der Vater ist Dentist - “Philip gave a cry of personal disgust and pain.“(A, 37) Das gemeinsame Essen wird zum Albtraum: Gino, “not particularly clean“ und im Ganzen “quite unpresentable“, im Gesicht “the grin of the village yokel whose cricket score is mentioned before a stranger“(A, 41f.), antwortet auf Philips Geldangebot im Fall des Verzichts auf Lilia mit einem demütigenden Lachanfall - “[he] roared forth his whole being in one tremendous laugh“(A, 46) - und versetzt ihm zudem einen leichten Stoß, worauf Philip aufs Bett fällt und sich angegriffen wähnt. Die Desillusionierung ist perfekt: “Italy, the land of beauty, was ruined for him.“(A, 71) Er hasst Gino freilich nicht so sehr wegen des vermeintlichen Angriffs, sondern weil er sein Märchenbild von Italien zerstört hat. Philips Fahrt hinauf nach Monteriano legt auf latenter Sinnebene der Grundstein für ein neues, eigenständiges Italienbild. Die Außenwelt erscheint in neuen Sinnbezügen und wird zunächst lediglich ’registriert’, aber die Eindrücke sind bedeutsam, denn sie enthalten verschlüsselte Botschaften und wirken wie Keime einer Saat, die bei Philips nächster Italienreise, die seine Mutter ihm aufzwingt, aufgehen werden: “[…] next March 780 Ebd., 159. 373 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG he did not forget that the road to Monteriano must traverse innumerable flowers.“(A, 36) Im klassischen und auch romantischen Italienbild ist Landschaft Ausdrucksform von Idealität, die konventionalisiert in Literatur und Kunst, vom ’locus amoenus’ bis zum finsteren Wald und zur Wildnis, Ausdruck fand. Philips anfänglich idealisiertes Landschaftsbild in dieser literarisch-künstlerischen Tradition erhält bei der Auffahrt ganz neue Züge, als das Regelmäßige und Banale unversehens geheimnisvoll und feindselig wird. Die seit über 2000 Jahren bearbeitete Kulturlandschaft spaltet sich in eine tiefenstrukturelle Opposition von Kultur und Natur auf, 781 die ihn zutiefst verunsichert. Philip, dem Intellektuellen und Ästheten und Musterbeispiel von ’culture’ und ’refinement', dem allerdings Natur und Natürlichkeit abhanden gekommen sind, flößt der Anblick der Olivenbaumreihen nicht Vertrauen, sondern Furcht und Schrecken ein. Der dunkle Wald und die blattlosen Bäume im Blütenmeer aus Veilchen signalisieren palimpsestisch Verborgenes und Unheimliches: Das Neue und Fremde in der Landschaft löst aber nicht Erstaunen und Bewunderung aus, sondern gänzlich unerwartete Erlebnisinhalte; einer davon ist Angst. Der überwältigende Eindruck vor Ort von natürlicher, nicht künstlerisch reproduzierter und reproduzierbarer Schönheit, wie ihn die Veilchen in erotisierender Symbolik hervorrufen, vermittelt Philip die Vorstellung von Einzigartigkeit, eine für ihn unbekannte Erfahrungsdimension, die das Gegenteil von Konvention und Konformität ist und einen ersten Schritt zur Herausbildung eigener Identität darstellt. Zum Weg in diese Richtung sendet die Landschaft weitere Signale. Philip nimmt Schönheit als lebendiges und fließendes Phänomen wahr, womit eine wesentlicher Unterschied zwischen dem statischen Kunst- und dem dynamischen Naturschönen bezeichnet ist; Ersteres beruht auf der kollektiven Übereinkunft der Konvention, das Letztere ist nur individuell, ort- und zeitgebunden erfahrbar. Den kraftvollsten Stimulus liefert die Landschaft, als sie Philip das Städtchen auf der Bergkuppe in den expressiven Farben und der suggestiven Verfremdung eines Fantastischen Realismus als “fantastic ship city of a dream“ vor Augen führt. Das Schiff als archetypisches Symbol der Reise und des Aufbruchs zu neuen Ufern umschreibt den Bruch mit und die Loslösung von Althergebrachtem. Die Landschaft fungiert als Aufforderung zu individueller Erfahrung, zur Akzeptanz von Kontingenz durch ein Sicheinlassen auf das Unbekannte. 781 Grundlegend im literarisch-kulturellen Diskurs ist „[...] die Annahme, daß das Spannungsverhältnis von Natur und Kultur als eine jener entscheidenden tiefenstrukturellen Oppositionen angesehen werden kann, durch die sprachliche Bedeutung und weltanschaulicher Sinn diskursiv kodiert werden. Insbesondere auch die englischsprachige Erzählliteratur seit der Romantik legt vielfältiges Zeugnis für die Wirkungsmächtigkeit dieser tendenziell dichotomischen Struktur unseres Denkens ab.“(Winkgens, Vorwort, in: Groß/ Müller/ Winkgens, Das Natur-/ Kultur-Paradigma, IX). 374 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Philips Italienreise im Jahr darauf zeigt die Gegensätzlichkeit von England und Italien im Licht dieser neuen Polarität. Die toskanischen Türme sind nun nicht bloß historische Überbleibsel, sondern phallische Symbole natürlicher, sich auslebender Körperlichkeit: “[The] towers, some of which puncture the sky, hint at sexual liberation. Though Forster is not ready in 1905 to explicitly liberate his characters, Lilia, Caroline, and Philip are erotically stirred when they cross class lines in Italy to meet the charismatic ’other”. 782 Die Idee einer Dualität im Leben formt sich gegen den Blick der Eindimensionalität, gegen Ausgrenzung und Abschottung. „Traurige Wahrheit ist, dass das Leben des Menschen aus einem Komplex unerbittlicher Gegensätze besteht - Tag und Nacht, Geburt und Tod, Glück und Unglück, Gut und Böse. Wir sind nicht einmal sicher, ob eins über das andere die Oberhand gewinnen wird, ob das Gute das Böse oder die Freude den Schmerz besiegen.“ 783 Das Wahrnehmen einer Koexistenz des scheinbar Unvereinbaren, Liebe und Sexualität eingeschlossen, wird für Philip und Caroline beim Blick auf die Türme zum Testfall ihrer Einsichtsfähigkeit: “Both glimpse the truth that the prose and poetry of life are equally necessary, that the poetry does not cease to exist because there is also ugliness and vulgarity.“ 784 Carolines Körpersprache, die Philip zu seinem Nachteil nicht zu deuten weiß, verrät, wie attraktiv und lebensbejahend diese so anders als Sawston codierte Umwelt auf sie wirkt. Die Gegensätzlichkeit von England und Italien erreicht am Opernabend in Philips Gefühl, hier an seiner eigentlichen Heimstatt zu sein, ihren Höhepunkt. Die Begeisterungsfähigkeit der Menschen, die Atmosphäre wahrer Zwischenmenschlichkeit, die gemeinschaftliche Hingabe an den Genuss von Kunst und Schönheit wird zum ’symbolic moment’ und ’moment of truth’, zum spontanen Empfinden des Ich, mit sich eins zu sein, was ihm England verwehrt. Dieses Auffinden der Identität geht einher mit einem berauschenden Glücksgefühl und der Bereitschaft, nun mutig den Weg „des Suchens nach der vollkommenen, sinnvollen Beziehung zwischen den Menschen“ 785 zu gehen, und er wird wiederum belohnt durch neue Erkenntnis. Über Gino sagt er nach dem Opernabend: “He’s a perfectly charming person, and so are his friends. I’m his friend now - his long-lost brother.“(A, 112) “Here then is a symbol of the self, of the complete man, which in turn is a symbol of and is symbolized by the city, the image of a 782 Lavin, Aspects of the Novelist, 43. 783 Carl Gustav Jung, Zugang zum Unbewussten, in: ders./ von Franz/ Henderson/ Jacobi/ Jaffé, Hrsg., Der Mensch und seine Symbole, Olten: Walter-Verlag, 1968, 85. 784 Colmer, E.M. Forster - The Personal Voice, 59. 785 Fricker, Der moderne englische Roman, 80. 375 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG complete society” 786 , während England verantwortlich ist für sein ’undeveloped heart’. 787 Die Apotheose neuer Sinnverkörperung durch Italien erlebt Philip am nächsten Tag beim Betreten von Ginos Haus: Caroline sitzt mit Ginos nacktem Säugling auf einem Stuhl vor einer weiten Landschaft, während Gino mit gefalteten Händen vor ihnen kniet: “[…] the Virgin and Child, with Donor“(A, 126). Die wirkungsmächtige Symbolik der Szene verschränkt Kunst und Leben und ist Zeichen der Lebendigkeit der alten Meister, vor allem aber auf latenter Ebene auch Botschaft an Philip, dass Caroline ideal zur Mutterrolle befähigt ist - wenn er es will. Für sie wird das Erlebnis ein ’moment of vision’, denn kurze Zeit danach erklärt sie: “I tell you plainly I have changed sides.“(A, 132) Unter dem Einfluss persönlicher Erfahrung, als sie zufällig Zeugin von Ginos liebevollen Umgang mit seinem Sohn wird, erkennt sie plötzlich, wie verengt, anmaßend und falsch sie bislang gedacht hat, und ihre immobilen Selbst- und Fremdbilder beginnen, wie die Philips, aufzubrechen. Durch Ginos Verhalten gelangt sie zu “an encounter with bona-fide otherness” 788 und erlebt zudem, obwohl nur gedanklich sexuell vereint, “foreign cultural authenticity by means of an irrepressible human body“. 789 Der in Philip erwachende Sinn für das Körperliche, hypostasiert in der ‚weiblichen’ Topografie, in Ginos homoerotischer Berührung und in den phallischen Türmen, ist als Impuls gleichwohl nicht kraftvoll genug, soziokulturelle Überschreibungen mit ihrer Ausklammerung des Sinnlichen folgewirksam zu durchbrechen. 790 In diesem Sinne ist Where Angels Fear to Tread ein im Ton unterkühltes, wenn nicht gar trauriges Buch. 791 786 George H. Thomson, The Italian Romances, in: Bloom, E.M. Forster - Modern Critical Views, 41. 787 „Seine Schuljahre verbrachte E.M. Forster in Tonbridge, dem er in Sawston (The Longest Journey) ein satirisches Denkmal errichtet hat, das sich auf alle Public Schools bezieht und das ’undeveloped heart’ als Resultat der in ihnen verwendeten Erziehungsmethode geißelt.“(Fricker, Der moderne englische Roman, 78). 788 Buzard, Forster’s Trespasses, 159; vgl. auch 3.5 bzgl. Fußnote 751. 789 Ebd., 162. 790 Die von Forster diagnostizierten Defizite gehen auf Grundüberzeugungen des Viktorianismus zurück. Es gab „[…] die offizielle moralische Doktrin des viktorianischen Bürgertums von der notwendigen hierarchisierenden Überschreibung der Natur durch die Kultur, der formenden Kontrolle des körperlichen Begehrens durch geistige Normen idealistischer Provenienz ebenso [...] wie die damit einhergehende Marginalisierung der Frau als ’relative creature’, die phallogozentrisch nur als das Objekt von Spaltungsprojektionen im Entweder-Oder von ’spiritualisiertem Engel’ und ’sexualisierter Hure’ wahrgenommen wird.“(Winkgens, Natur als Palimpsest, in: Groß/ Müller/ Winkgens, Das Natur-/ Kultur-Paradigma, 35). 791 “[...] Where Angels Fear to Tread is a sad and chilly book, a novel whose tensions are held in check but not resolved.”(Wilde, Injunctions and Disjunctions, 75). 376 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ 3.5.3.2 Individuelles Erleben der Landschaft Italiens als Schritte zur Selbstfindung Vor Philips erster Italienreise wird viermal auf italienische Landschaft Bezug genommen: Es geschieht zweimal durch Philip, so bei der Abschiedsszene am Bahnhof von Charing Cross und etwas später im Gespräch mit seiner Mutter über den Sinn dieser Reise, und es geschieht zweimal durch Lilia in Briefen über Italien. Jedesmal ist von Lokalität und Topografie die Rede, doch alle Bezugnahmen auf Landschaft gehen über den pragmatischen Zweck der Information hinaus, indem sie emotionale Begriffskomplexe um den individuell unterschiedlichen Vorstellungskern Italien widerspiegeln. “What he [E.M. Forster] found abroad was a completely new mental and emotional landscape.” 792 Philips Italienbild, zunächst so klischeehaft wie das romantische und das bildungsbürgerlich-touristische, 793 korreliert mit seiner Psyche zwecks Aufrechterhaltung eines prekären inneren Gleichgewichts. Trotz seiner 24 Jahre ist er ein unfertiger junger Mann, der weder konstitutionell noch erfahrungsmäßig zu Realitätssinn und Entschlussfreude neigt. Für ihn gilt es, gleich mehrere Defizite zu kompensieren: Den familiären Druck der dominanten Mutter, die Spießigkeit der Gesellschaft in Sawston, seinen mangelnden Mut zur Abnabelung und seine Kontaktarmut zu Gleichaltrigen oder auch Gleichgesinnten. Umso eifriger kultiviert er zwei Aspekte seines Autostereotyps, die er als seine Stärken empfindet: Seinen Sinn für Humor und seinen Sinn für Schönheit, und so fungiert Italien, zwei Jahre zuvor mit Vettern bereist, als geeignetes Objekt, diese Stärken hervorzukehren und Defizite auszugleichen. Philips Spott und Ironie richten sich gegen spießige Langeweile, frömmelnde Heuchelei und aufdringliches Gutmenschentum in Sawston bei gleichzeitigem Ausleben seines Hangs zum Ästhetischen und zu eskapistischen Neigungen, ohne notwendigerweise konstruierte Alternativen mit rebellischer Geste in ernüchternde Realität umzusetzen zu müssen. Er ersetzt damit freilich nur eine Schwäche durch eine andere: Er wird zum Kultursnob. “The vice of the bourgeois, as Arnold and Carlyle never wearied of pointing out, is selfcomplacent, unimaginative complacency; the vice of the intelligentsia is another form of Phariseeism: the snobbery of ’culture’.” 794 So wichtig der Beitrag von Philips Italienbild zur Bestätigung seines Selbstwertgefühls auch sein mochte, so stellt es doch eine durch Fanta- 792 John Colmer, The Personal Voice, 27. 793 „[…] wie der klassische, so ist auch der romantische Blick durch kulturell tradierte Wahrnehmungsmuster codiert und nimmt lediglich Embleme wahr, an denen vorgefertigte Bedeutungen fixiert werden. Statt Baedeker oder Murray tragen die ’romantischen’ Touristen Wordsworth oder Byron in der Hand oder zumnindest im Kopf mit sich herum.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 90). 794 Austin Warren, E.M. Forster, in: Bradbury, Forster - Critical Essays, 51. 377 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG sie überhöhte artifizielle Außenwelt dar, deren Verknüpfung mit dem Imaginären in Überreiztheit und Berauschtsein resultiert, in selbst inszenierten ’supreme moments’. Es sind dies keine authentischen Empfindungen als Folge persönlicher Erlebnisse, denn Philips Italienidylle hat so gut wie keinen Bezug zur ’Faktenaußenwelt’. Sie ist zwar Protest gegen die Konvention der Grand Tour und die organisierten Zwänge der Kulturreisen, bleibt aber trotzdem klischeehaft und anglozentriert. 795 Bei der ersten Begegnung mit einem Italiener in dessen realem Kontext fällt das romantische Konstrukt vom unkonventionellen Italien wie ein Kartenhaus zusammen. Die Desillusionierung ist deshalb so schmerzhaft - “I'll never see the place again. I hate Italy“(A, 88) -, weil ein wichtiger Teil des Selbstbildes dekonstruiert wird. Für die Intensität der intrapsychischen Reaktion ist nicht von Bedeutung, wie richtig oder falsch das Bild der äußeren Wirklichkeit war, sondern welchen Stellenwert es im inneren Koordinatensystem hatte. Narrativ überzeugend ist, dass das interessengeleitete Konstrukt nicht argumentativ entkräftet wird, sondern durch die Macht des Faktischen zerfällt: Das Unechte, das Nicht- Authentische kann der Begegnung mit der objektiven Realität letztlich nicht standhalten. Der Weg zu größerer innerer Eigenständigkeit führt über genuine Erfahrung, die Landschaft ohne Elemente eines vorgefertigten Italienbildes vorstellt und damit authentischen Sinngehalt anbietet. Als Philip die Olivenbaumreihen in der Mittagshitze nicht mehr als idyllisch und pittoresk, sondern als geheimnisvoll und feindselig wahrnimmt, vollzieht sich der Übergang von konventioneller, also kollektiver ästhetischer Sicht zur Kategorie des Kontingenten: Diese Individualisierung der Wahrnehmung umschreibt erste Schritte auf dem Weg zur Konstruktion selbstbestimmter Identität (vgl. 1.2.4). Der Transfer von individualisierten Bildern in den Raum der Innenwelt ist von anderer Qualität als derjenige von Klischeebildern, die eine gruppendynamische und kommunikative Funktion im sozial-interaktiven Kontext haben (vgl. 1.3.2). Philips neue, idiosynkratische Naturwahrnehmung in Italien ist einzig und allein für ihn, an diesem Ort zu dieser Zeit, erlebbar. “There is no mystery in the English atmosphere, no imaginativeness, no natural feeling.” 796 Die Schilderung, dass der kleine Wald “brown and sombre across the cultivated hill“ liege und dass die im Vorfrühling noch 795 “Ruskin’s reformist text [Mornings in Florence] is no better than the established Murrays of Baedekers [...]. Through tourism, Forster learned early and well that the approach to ’the real’ in culture or history always proceeds through some ’prior textualization’, and that the urge for a reform that will sweep away all previous texts - an urge he felt quite acutely - finds utterance in only another text.” (Buzard, Forster’s Trespasses, 158). 796 Michonska-Stadnik, The Function of Foreign Settings in E.M. Forster’s Fiction, in: Kwartalnik Neofilologiczny XXVII, 4/ 1980, 430. 378 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ blattlosen Bäume in einem Veilchenmeer stünden, “as rocks stand in the summer sea“ (A, 36), ist nicht der landschaftlichen Reize wegen bemerkenswert, sondern weil es um die Sichtbarmachung einer gleichsam persönlichen Botschaft geht, die wegen der Manifestation einer ’weiblichen’ Topografie für den Helden von Relevanz ist. In ihrer Funktion als Palimpsest ist diese Naturszenerie überdies auch Ausdruck und persönliche Warnung, dass es mitten in der luziden Klarheit geregelter Ordnung seltsam dunkle, archaisch anmutende Phänomene gibt, die eine gefällige und erwünschte Bildharmonie stören. Beim Versuch, Ginos Baby zu kaufen, wird Philip auf genau diese Situation treffen - und hoffnungslos scheitern: Er wie auch Caroline werden mit einer sie archaisch dünkenden Form von Vaterliebe konfrontiert, die ihre mitgebrachten Vorstellungen von Zuwendung zu einem Kind schlichtweg übersteigt. Das symbolische Verweisen des Landschaftsbildes vom dunklen Wald mit seinen Bäumen im Veilchenmeer zeigt weitere Aspekte tiefer liegender Wahrheit auf. Philip registriert auch die für ihn neue Beobachtung von Einzigartigkeit im Gegensatz zum Konventionellen, vom lebendigen (Natur-)Schönen im Gegensatz zum historisch bedingten (Kunst- )Schönen, vom wechselhaften Fließen im Gegensatz zum statischen Verharren. Dieser zuletzt genannte Eindruck wird durch die eindrucksvolle Bildhaftigkeit des auf einem Bergrücken liegenden Monteriano als fantastisches Schiff im Zeitenmeer auf dem Weg zu neuen Ufern verstärkt. Für Philip wird damit symbolisch die Notwendigkeit zur Veränderung mit dem Ziel größerer innerer Selbständigkeit umschrieben. All diese Zeichen der Landschaft sammeln sich im individuellen Unbewussten des Helden, ohne noch zu diesem Zeitpunkt konkret in Einsicht oder Handeln einzumünden. Gerade in diesem Punkt unterschiedet sich Philips Italienreise ein Jahr später von der vorhergehenden: Sie ist nicht mehr nur bloßes Registrieren der Außenwelt, sondern deren aktives Wahrnehmen. Mitten im Bahnhof von Florenz, - “[…] the centre of beastly Italy“(A, 91) - überkommt ihn das vage Gefühl, dass er allein für sein desillusioniertes Italienbild verantwortlich sei und dass irgendwo, hinter dem Gedränge und Geschrei, der geheime Zauber liegen müsse. Diese plötzliche Einsicht verändert seinen Blick auf den Himmel und die Ebene, den Fluss und die Burgen: Alles stellt sich ungewohnt dar, während seine Schwester auf massiven Vorbehalten beharrt: “’But, Harriet, do you see nothing wonderful or attractive in that place - nothing at all? ’ ’Nothing at all. It is frightful.[...] It doesn’t seem the best moment to begin your Italy mania. I thought you were cured of it by now’.”(A, 92) Was sich in Harriets sarkastischen Worten als Krankheitsbefall darstellt, ist in Wahrheit Philips neuerliche Hinwendung zu dem Land, die offensichtlich einem inneren Bedürfnis entspringt. Italien ist doch mehr als nur Ort der Kunst und Geschichte, definitiv mehr als nur Ort der Zerstreuung oder Erholung und auch mehr als nur gedanklicher Fluchtraum. Aber 379 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG nun geht es nicht mehr um Schwärmerei in klischeeartigen Bildern mit fertigem Sinngehalt, sondern um ein Hinterfragen der Erscheinungen einer subjektiv erlebten Außenwelt. “Is it to be a symbol of the town? ”(A, 104) sinniert er beim Betrachten eines Turms in Monteriano. Sein und Carolines beredtes Schweigen sind nicht Ausdruck von Desinteresse, sondern von Erkenntniszuwachs und Bewusstseinserweiterung. In der Tat bemerkt Philip bei Caroline, ohne es auszusprechen, ’a consciousness of wider things’, denn sie nimmt offenkundig die Zeichen der ’männlichen’ Topografie als symbolische Botschaft so wahr, wie sie gemeint sind, als phallische Symbole. Der Höhepunkt der Vernetzung von Außen- und Innenwelt wird während des Opernabends erreicht, “a highly significant occasion, a moment of transformation for Philip“. 797 Trunken vor Aufregung und Begeisterung und durchdrungen von dem ’spirit of place’ 798 erlebt er seinen Augenblick der Epiphanie. Umringt von italienischen Zuschauern, die für ihn Genussfähigkeit und Lebensfreude verkörpern, überkommt ihn, beim Erleben des Zusammenspiels von Musik, Literatur, Malerei und der Reaktion der Besucher im Theatersaal, in der Art einer Erleuchtung, dass dieser Ort seine Heimstatt sei und es schon immer war. Das den Körper einbeziehende Erlebnis von Kunst ist Gegengewicht zu den Fliehkräften, die dem Bewusstsein des Protagonisten und dem modernen Bewusstsein überhaupt seine sinnstiftende Mitte entziehen. 799 Philips Ich erkennt an diesem Ort sein Selbst und mündet, interaktiv mit den Theaterbesuchern, in die Glückserfahrung gefundener Identität ein. 800 Es ist paradoxerweise die Fremde Italiens, die Philip das Gefühl der Selbstfindung gibt, also des Empfindens, an einem Ort emotional und 797 Frederick C. Crews, E.M. Forster’s Comic Spirit, in: Bradbury, Forster - Critical Essays, 102f. 798 „Mit der Akzentuierung des spirit of place in der Tradition des ’genius loci’ ordnen sich Lawrence und Forster zugleich [...] in die literar- und kulturhistorische Tradition des ’myth of retirement’ mit ihrer auf das Pastoral-Idyllische gerichteten, zivilisationskritisch konzipierten ganzheitlichen Organismusvorstellung ein. Italien verkörpert dementsprechend bei beiden Autoren den antizivilisatorischen Fluchtraum, die Möglichkeit, zu einem harmonischen Ausgleich zwischen Mensch und Natur, Individuum und Gemeinschaft und zu einer ’organic wholeness of being’ zurückzufinden.“(Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 47). 799 “In Alan Wilde's book Art and Order: A Study of E.M. Forster (1964), the author argues that Forster finds in the harmony of art itself the best that man has done and may do in the face of the increasing disintegration of the world.”(Bradbury, Introduction, in: ders., Forster - Critical Essays, 12). 800 „Identitätsbildung ist der lebenslang nie zu Ende kommende Vorgang des Erkennens des Ich-Selbst durch das Ich in den subjektiven und intersubjektiven Erfahrungen. Die psychosoziale Identität umfaßt einen stabilen, unveränderlichen Aspekt, ein dauerndes inneres Sich-selbst-Gleichsein und zugleich einen flexiblen, sich ständig verändernden Anteil, erwachsend aus den Interaktionen mit der Mitwelt.“(Auchter/ Strauss, Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse, 89). 380 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ psychisch zu Hause zu sein. “In Sawston, Philip lacks any sense of identity beyond Mrs Herriton’s whims.” 801 Dies kann als ungewöhnlich harsche Forster’sche Kritik am anglozentrierten Autostereotyp spätviktorianischeduardianischer Prägung gelesen werden, denn im Umkehrschluss bedeutet Philips Schlüsselerlebnis, dass die maßgebende Bürgerschicht Englands, wie die Bewohner der wohlhabenden Home Counties um London mit dem fiktiven Sawston sie verkörpern, gerade ihre junge Generation in eine fragwürdige und problematische Selbstentfremdung hineintreibt, die in einem unnatürlichen Zustand innerer Aufspaltung endet. Auf der intellektuell-rationalen Seite bleibt Philip denn auch durch Erziehung und familiäre Bindung der englischen Welt verhaftet, auf der psychisch-emotionalen Ebene jedoch sucht und findet er eine adäquate Resonanz erst und nur in Italien. Ganz ähnliche Erkenntnisvorgänge ereignen sich in Caroline, und nur in diesen beiden Personen vollziehen sich signifikante Selbstwerdungsprozesse. 802 Kenneth Womack spricht auch in Bezug auf Lilia von ’spiritual awakening’ und ’spiritual transformation’ durch ästhetische Erfahrung in Italiens Landschaft, 803 aber Wandlungsprozesse sind in ihrem Fall das Resultat purer Angst und Hoffnungslosigkeit und kategorial anders zu bewerten. Caroline hingegen durchläuft genuine Erkenntnisphasen, allerdings erst gegen Ende ihres zweiten Italienaufenthalts. Noch zu Beginn dieser Reise nach Lilias Tod ist ihr Fremdbild von Italien klischeehaft und konventionell: Sie hält Gino für Lilias Mörder, der dem Kind gar nichts anderes als eine düstere Zukunft bieten kann. Der Opernabend wird aber auch für sie zum zentralen außen- und innenweltlichen Erlebnis durch Interaktion von Landschaft und Psyche, als das kleine, schrille Provinztheater inmitten der Türme, dunklen Tore und mittelalterlichen Mauern, mit Blick auf Olivenhaine und Leuchtkäfer im Sternenlicht, seine magische Wirkung entfaltet. Die traumhaft-exotischen Bildinhalte der nächtlichen Landschaft, vor allem ihr verdichteter Stimmungsgehalt, bringen Caroline durch ästhetisches Erleben auf Philips Wellenlänge: “[…] they convinced each other that Romance was here“.(A, 108) Nach dem Wahrnehmen einer ’weiblichen’ und ’männlichen’ Topografie in Italiens Landschaft wäre für beide nach der stimmungsmäßigen auch eine weitergehende Vereinigung denkbar, die aber nicht zustande kommt. Die Funktion der italienischen Landschaft in diesem Kontext ist es, innenweltliche Vorgänge nicht lediglich anzuzeigen und zu spiegeln oder auch auszulösen und zu bewirken, sondern darüber hinaus als Agens bzw. tätiges, wirkendes Prinzip zu fungieren, dabei eine wirkungsaktive, sinn- 801 Womack, A Passage to Italy, 139. 802 ”Caroline is the first of a series of characters who play a special role throughout Forster’s novels. They are his guardians, the medium through which the truth is revealed to those who are capable of understanding it.”(Gransden, Forster, 26). 803 Vgl. Womack, A Passage to Italy, 135. 381 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG tragende Rolle zu übernehmen und Sinnträgerin bzw. Sinnbotschaft für die Protagonisten zu sein. Zur gedanklich schlüssigen und psychologisch überzeugenden Begründung dient der Blick aus dem Theater in die nächtliche Landschaft, die auf einzigartige Weise Gegenwart und Vergangenheit, Sinnlich-Reales und Abstrakt-Symbolhaftes, Kultur und Natur, Alltägliches und Fantastisches, Wirkliches und Märchenhaftes vereint. In beiden Protagonisten löst die Wahrnehmung dieser Szenerie intrapsychische Veränderungen mit erheblichen Folgewirkungen aus, denn hier beginnt die gefühlsmäßige Einstimmung Philips auf die Verbrüderungsszene mit ihrem homoerotischen Bezug, und auch Caroline durchläuft, visualisiert in ihrer Körpersprache, ungewohnte Gemütszustände - “She, too, chatted and laughed and applauded and encored, and rejoiced in the existence of beauty”(A, 109) - als Zeichen innerer Transformation: Diese Außenwelt in Gestalt der Landschaft wirkt aktiv auf die Figuren ein, ist Agens und wird Wirkungsprinzip, denn sie fungiert als Trägerin hypostasierter Sinnbotschaften, die, neu bei ihr wie auch bei Philip, das Selbst tangieren. Bezeichnenderweise ist es die Landschaft - nicht etwa Kunst oder Religion, Geschichte oder Sprache, Architekur oder Kultur generell -, die, wenn sie unmittelbar und in kontingenten Erscheinungsformen im Gegensatz zum touristischen Blick erlebt wird, das Gefühl der Einzigartigkeit und der Authentizität hervorruft. Philips rhetorische Frage, “Did you ever see a really purple sky and really silver stars before? ”(A, 112) macht sichtbar, dass beide über die ästhetische Rezeption der italienischen Landschaft zu einem Grad der Erlebnisfähigkeit gefunden haben, der die in Sawston geltenden Maßstäbe übersteigt. „Die magisch beleuchtete Landschaft repräsentiert eine Innerlichkeit, die sich nicht durch klare Konturen, d.h. durch die zeichnerische Analogie zur verbal-begrifflichen Differenziertheit wiedergeben läßt, und die sich damit dem Wirklichkeitsparadigma der Symbolischen Ordnung, die das Bewusstsein strukturiert, entzieht.“ 804 Das für Caroline ungewohnte Zusammenspiel von Natur und Kultur, 805 Landschaft und Kunst sprengt in euphorischen Reaktionen ihrer Psyche die soziokulturelle Verkrustung der Home Counties auf und löst psychische Verkrampfungen, Folgen einer ‚verinnerlichten Affektdisziplinierung’ und von ‚gewalttätigen innerseelischen Kontrollen’ (Horst Breuer), wobei, aus Sicht feministischer Literaturkritik, ein Gegenbild zur phallogozentrisch organisierten Symbolischen Ordnung entsteht, die die Welt „rational, anthropomorph und humanistisch“ interpretiert 806 und Glück, falls überhaupt, höchstens sporadisch zulässt. An diesem Ort jedoch “ She was bathed in 804 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 125. 805 „[…] nicht am Gegensatz von Natur und Kultur ist Forster gelegen. Nicht die Gesellschaft an sich wird als Gegner angesehen. Der ‚Feind’ ist nur eine Gesellschaft, deren in ’manners’ geronnene Rollenkonformität sich verselbständigt hat [...].“(Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 50). 806 Vgl. Horatschek, Alterität und Stereotyp, 123. 382 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ beauty within and without; she could not go to bed for happiness. Had she ever been happy before? “(A, 112) Analog zu Philips Epiphanie der Identitätsfindung wird auch Carolines Glücksgefühl aus erotischen Wunschbildern gespeist. Während er Ginos Streicheln auf seinem Rücken erlebt, ist sie ihm den ganzen Abend durch Blickkontakt ständig nahe und “[…] began to beat down her happiness, knowing it to be sinful“.(A, 113) Es sind affektiv aufgeladene Augenblicks- und keine Dauerzustände, aber die Tatsache, dass das fremde Außen sie erzeugt, verortet in Italiens Landschaft die Einsicht, dass jede Vereinseitigung zugunsten von Ratio und Intellekt, ’spirit’ und ’mind’, Ordnung und Disziplin in patriarchalisch-logozentrischer Weltsicht zu psychischer Verkümmerung führen muss. Die Alternative erscheint symbolisch in der Topografie des Männlichen und Weiblichen der Landschaft, jedoch “’Weiblichkeit’ ist hier nicht essentialistisch-biologistisch zu verstehen, sondern als epistemologisches und psychologisches Gegenmodell zum mit ’Männlichkeit’ assoziierten Herrschaftsdiskurs“. 807 Caroline “achieved sexual awareness. Fulfilment is denied to her, but she, like Philip, comes back to England utterly transformed [...].” 808 Auch Philips Reifungsprozess beinhaltet eine Transformation, die seinen missionarischen Auftrag, Lilias Baby nach England zu bringen, in noch weitere Ferne rückt als zuvor. „The short book is yet long enough to show Philip’s growth from a culture-snob, vain of his taste for art and Italy, vain of his emancipation from British provincialism, into a man of insight and good will. Philip becomes capable of imaginative sympathy [...], he grows in humanity. But his final triumph is self-awareness [...].“ 809 Es ist die Begegnung mit Landschaft, die ihm dazu verhilft. Forster hat seinen beiden Hauptfiguren, bei allem Gewinn an Erkenntnis und Einsicht, die völlige Befreiung aus englischen soziokulturellen Fesseln verwehrt. Bei ihrer Rückkehr nach England sind sie innerlich gereift, aber Vitalität und Spontaneität, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit bleiben in Italien verortet. 810 Wenn „[…] der offene Schluss die Diagnose des skeptischen Realisten Forster auf ästhetisch adäquate Weise spiegelt,“ 811 dann in dem Sinne, dass es weder Königswege noch Patentlösungen aus nationalkultureller Verformung gibt, wie Lilia durch ihr unreflektiertes Sich-ein-Lassen auf das Fremde und Andere leidvoll erfuhr: „Die Defizite des englischen Nationalcharakters lassen sich nicht durch die bedingungslose Übernahme ‚italienischer’ Lebensparadigmen therapieren.[...] 807 Ebd., 122. 808 Michonska-Stadnik, The Function of Foreign Setting, 435. 809 Warren, Forster, 53. 810 “Himself English he has felt the fascination not only of Italy but of Italians - warm, spontaneous Italians, untroubled by scrupulosity or the miasma of introspection, affectionate by impulse not duty.”(ebd., 54). 811 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 52. 383 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Die Protagonisten der Italienromane leben nach der Italienreise mit dem Wissen in England, daß das kulturell normierte Alltagsbewußtsein mit seinen (vorgeblich) rationalen Bewertungskriterien und seinem naturwissenschaftlich-empirisch definierten Weltbild, allen diskursiv-erhobenen Ansprüchen zum Trotz, auf der selektiven Wahrnehmung von Wirklichkeit beruht und die Fülle der Welt und der menschlichen Möglichkeiten nur ausschnittweise erfaßt.“ 812 Der auch in A Room with a View bereits im Titel thematisierte Ausblick auf Italiens Kunst und Natur zielt ebenfalls auf geistige Horizonterweiterung; eine weitergehende Interferenz wird nicht als sinnvoll dargestellt. 813 3.5.3.3 Desillusionierung und erneute Italienbegeisterung: Die Dekonstruktion des Konventionellen als Voraussetzung zur Konstruktion des Authentischen Bei der Themengestaltung, der Konzipierung der Handlungsstruktur und sogar beim Metapherngebrauch bezieht Forster, bestens vertraut mit klassischer Literatur und griechischer Mythologie, immer wieder den tradierten Symbolgehalt der Reise ein, wobei es konkret um mehrere Reisen von England nach Italien und zurück geht. Im Blick auf den Roman spricht Audrey Lavin von “[...] physical and psychological voyages on their quest for freedom and self-realization”. 814 Drei Reisen sind Teil des Erzählgeschehens, nämlich die Lilias und Carolines zu Romanbeginn, diejenige Philips zwecks Verhinderung der Heirat und dann seine erneute Reise zur ‚Rettung’ des Babys, bei der ihn Harriet begleitet und beide auf Caroline stoßen, die unabhängig von ihnen nach Monteriano gekommen ist. Bei einer vierten Reise außerhalb des erzählten Zeitrahmens handelt es sich um Philips ersten Italienbesuch mit Vettern zwei Jahre zuvor, während der die Grundlagen für seine Italienschwärmerei gelegt wurden. Ergänzend sind verhinderte Reisen zu erwähnen, so Lilias misslingende Rückkehr nach England, wie auch ungewollte Reisen, zu denen Philips beide Italienaufenthalte im Handlungskontext zählen und schließlich auch die unglückselige und tragisch endende 812 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 152. 813 “[...] he confrontation of the Anglo-Saxon with Italy is for Forster the re-enactment of the Romantic dilemma. Italy represents life-forces which are felt to be essential to a full flowering of the human potential, but which, by the time a sophisticated society has reached the point of yearning for them, have already been irretrievably lost in the very process of sophistication. The most that can be hoped for is to gain a degree of liberation through fortunate contact with the atmosphere of Italy [...], any attempt to go deeper will be devastating, not liberating.”(Churchill, Italy and English Literature, 179). 814 Lavin, Aspects of the Novelist, 140. 384 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Reise des Säuglings, der sich stumm und mit Tränen gegen seine zwangsweise Verbringung nach England wehrt. Alle vier durchgeführten Italienreisen hinterlassen ihre Spuren im Erzählgeschehen in Form von Landschaftsbildern. Dabei zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied: Die Bilder der beiden ersten Reisen - diejenige Philips mit seinen Vettern sowie diejenige Lilias mit Caroline Abbott - sind konventionell und evozieren in Lesern und Romanfiguren vertraute visuelle Kontexte 815 mit Erinnerungen an Reiseführer, insbesondere den Baedeker, auf den Forster in seinen Italienromanen mehrfach Bezug nimmt. 816 So tauchen in Philips Italienbild am Bahnhof von Charing Cross, als freudvolle Vorausschau für seine Schwägerin gedacht, die dem Italientouristen bekannten Landschaftsszenarien auf. In Übereinstimmung mit diesem konventionalisierten Sehen beschreibt Lilia in ihren Briefen markante Punkte ihrer Reise in überschwänglichen, aber inhaltsleeren Floskeln: “Florence she found perfectly sweet, Naples a dream, but very whiffy. In Rome one simply had to sit still and feel.“(A, 24) Sie hat überdies, in Beherzigung von Philips Rat, Monteriano als eines der von ihm gepriesenen Städtchen aufgesucht und im Sinne seiner Empfehlung tatsächlich das Gefühl, keine ausgetretenen Pfade zu gehen - “[…] one really does feel in the heart of things“(A, 24) - und im Mittelalter zu sein. “Die Geburt des Touristen aus dem Geist des englischen Bürgertums“ 817 wird in Lilias Reiseverhalten exemplarisch vor Augen geführt, doch auch Philips Italienbild steht in seiner Klischeehaftigkeit, ohne einen Test mit der Realität bestanden zu haben, auf tönernen Füßen. Allerdings war bei Philips erster Reise in Sachen Lilia ohne seine bewusste Wahrnehmung der Keim eines neuen Bildes der Landschaft gelegt worden, denn bei der zweiten wird er sich, wie die Erzählinstanz weiß, an den Anblick unzähliger Blumen erinnern (A, 36). Der Unterschied zwischen den zunächst nur ‚registrierten’, aber aktuellen visuellen Impulsen und den über den Baedeker und andere Quellen bereitgestellten Eindrü- 815 Philip rät Lilia am Bahnhof: “See the little towns - Gubbio, Pienza, Cortona, San Gimignano, Monteriano.“(A, 19). „Die wertemäßig aufgeladene topographische Metaphorik wird empirisch durch die Berührung der ‚objektiven’ Markierungen eingelöst, die persönlich aufzusuchen die Voraussetzung der ‚touristischen Erkenntnisweise’ darstellt, und ihre Reproduktion als Bild, Foto oder Souvenir.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 83). Lilia wird Philips Rat befolgen und Reproduktionen ihrer ’tourist epistemology’ in Form von Briefen nach Sawston schicken. 816 Im 2. Kapitel in A Room with a View, ’In Santa Croce with no Baedeker’, unternimmt Miss Lavish den Versuch, die junge und unerfahrene Lucy Honeychurch Florenz ohne Anleitung durch den Reiseführer sehen zu lassen. “’Miss Lucy! I hope we shall soon emancipate you from Baedeker: He does but touch the surface of things. As to the true Italy - he does not even dream of it.’“(RV,36f.). Lucy trägt dieses Autors Handbook to Northern Italy pflichtbewusst bei sich, aber erste Anzeichen einer Emanzipation stellen sich ein, als sie der Komik touristischen Verhaltens gewahr wird: “She watched the tourists: their noses were as red as their Baedekers, so cold was Santa Croce.“(RV, 41). 817 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 88. 385 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG cken liegt jedoch in der Differenz zwischen Singularität bzw. Authentizität auf der einen Seite und Häufigkeit bzw. Bekanntheitsgrad auf der anderen. Ansichten vom Tessin und Lago Maggiore, von Lugano und dem Mailänder Dom sind sozusagen Teil eines kollektiven Erbes und häufig Gegenstand literarisch-künstlerischer Abbildung. Die Wahrnehmung des kleinen Waldes jedoch, der noch nicht einmal einen Namen hat, mit seinen kahlen Bäumen im Veilchenmeer, ist im ursprünglichen Wortsinn einzigartig. Das unbewusste ‚Registrieren’ von Eindrücken und ihr späteres Auftauchen im Bewusstsein sind Beleg, dass sich Philip aus den Grenzen seines präformierten Heterostereotyps löst und den Weg zur Individuation beschreitet. 818 Die Tatsache, dass Philips idiosynkratisches Aufnehmen visueller Landschaftsimpulse bereits zu Beginn des zweiten Kapitels erfolgt, erlaubt den Schluss, dass seine Entwicklung im Zentrum der erzählerischen Intention steht. 819 Gerade aufgrund der Eigenheiten seines psychosozialen und soziokulturellen Hintergrundes ist er die Hauptfigur des Romans. „Philip Herriton, der Protagonist in Where Angels Fear to Tread und nach Meinung verschiedener Kritiker einer von Forsters ’civilized' avatars’’, ist eine der am komplexesten gezeichneten Figuren in den Italienromanen.“ 820 Seine Naturwahrnehmung, Indiz und Gradmesser innenweltlichen Wandels, scheint auf den ersten Blick auch auf Lilia bei ihrem Fluchtversuch zuzutreffen. Jedoch bei ihr geht es um Dekonstruktion der Illusion, den ungebildeten, mittellosen Gino zu einem Ehemann nach englischem Muster erziehen zu können, um in Italien unbeschwert und frei von heimischen Zwängen zu leben. Zu einer Konstruktion von Authentischem fehlen Lilia konstitutionell die Voraussetzungen, um nach Verlust des heimischen Umfelds ihren Identitätszerfall kompensieren zu können: Es folgt die totale Entfremdung und Isolation. Zunächst täuscht der spöttisch-ironische Erzählton und der heitere Erzählgestus über das Ausmaß der sich für Lilia dramatisch zuspitzenden Situation hinweg. Ihre Landschaftswahrnehmung wird allerdings, je länger sie in Monteriano lebt, präziser, eigenwilliger, individueller und weniger von Seh- und Denkschablonen abhängig: 818 „Der Begriff [der Individuation] stammt ursprünglich aus der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung und bezeichnete den Prozeß der Selbstwerdung im Rahmen der persönlichen Entwicklung oder einer psychotherapeutischen Behandlung. Nach Margaret Mahlers Entwicklungsmodell ist die Loslösung aus der frühsymbiotischen Beziehung zur Mutter Bedingung einer gesunden Individuation.“ (Auchter/ Strauss, Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse, 89f.). 819 Das auktoriale zeitliche Versetzen von Ursache und Wirkung im Erzählgang bedarf des aufmerksamen Lesers, den Forster sich wünschte: “Forster, in his critical writings, asks for the intelligent reader, the reader who will apply memory to the novel.”(Lavin, Aspects of the Novelist, 53). 820 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 90. 386 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ The walls trended round towards the moon; and presently she came into its light, and saw all the rough towers turn into pillars of silver and gold, and the ramparts into cliffs of pearl. She had no great sense of beauty, but she was sentimental, and she began to cry; for here, where a great cypress interrupted the monotony of the girdle of olives, she had sat with Gino [...].(A, 65) Erst in ihrer besonderen Bedürfnislage befreit sie sich, durch Naturwahrnehmung aus persönlichem Blickwinkel, von visuellen und verbalen Klischees. Paradoxerweise ist es die Vision einer Märchenkulisse, d trsaumartige Bild von silbernen und goldenen Säulen und Perlenklippen, das ihr die Farblosigkeit und Monotonie ihres Lebens als Ginos Frau in gnadenloser Deutlichkeit vor Augen führt. Das Ergebnis ist mehr als bedrückend: Im Rückblick erscheinen selbst die Verhältnisse in Sawston als “a happy and free life“(A, 65). Die logische wie auch emotionale Konsequenz eines solchen Lebens kann nur die Flucht sein. Lilias Erwachen in eine objektivere Wirklichkeit als die in ihrer operettenhaften Italienidylle ist zutiefst deprimierend, und die Szene ihrer scheiternden Flucht ist weder humorvoll noch heiter-ironisch erzählt. Als sie laut rufend, aber erfolglos der Kutsche zum Bahnhof nach Empoli nachrennt, vor Erschöpfung ohnmächtig wird und nach geraumer Zeit im Staub der Straße aufwacht, erweckt sie pures Mitleid; “[…] she slowly climbed back to captivity“(A, 66), und kurze Zeit danach beendet ihr Tod “[…] the brief and inevitable tragedy of Lilia’s married life [...]“.(A, 49) “Carella and Tosi [sic] really deserve the epithet, often now too freely flung about, ’male chauvinist pigs’.[...] The fact that Italian women acquiesce in this revolting ethos does not mend the matter.” 821 Dem in der italienischen Landschaft verorteten ’feminine elsewhere’ ohne ausgeprägte Eigendynamik steht im ’presiding genius of place’ der (italienische) männliche Körper „als Ort der Gewalt, der körperlichen Verletzung, der Sexualität und des Todes“ gegenüber. 822 In Lilias Fall folgt dem leidvollen Zuwachs an Realitätssinn keine Erlösung durch physische Befreiung. Sawston und der Herriton-Anspruch auf ihr Leben hatten sich als erstickende Enge erwiesen; Italien als gesellschaftlichlebensanschaulicher Gegenentwurf ist jedoch tödliche Umklammerung. So kontrastiv Lilia und Philip auch in vielem anderen sind, so werden doch auch Parallelen in ihren artifiziellen, geschönten Italienbildern sichtbar, denn die Triebfeder der Begeisterung bei beiden ist der Wunsch nach größerem äußerem und innerem Freiraum. Nach der Konfrontation mit der italienischen Wirklichkeit, die sich für beide über die Begegnung mit Gino vollzieht, unternehmen sie einen Fluchtversuch nach England, der in Lilias Fall scheitert und bei Philip gelingt, aber in völliger Desillusionierung endet, womit jedoch aus Sicht erzählerischer Logik die 821 P.J.M. Scott, E.M. Forster - Our Permanent Contemporary, London: Vision and Barnes & Noble, 4. 822 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 138; vgl. dazu auch Fußnote 853. 387 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Voraussetzungen für einen Neuanfang geschaffen werden. Forster hat in Philip das Potenzial für eine Neukonstruktion verortet: “[…] his eyes had registered the beauty“(A, 36); in Lilia fehlen diese Voraussetzungen, denn “She had no great sense of beauty“(A, 65). Mangelnde ästhetische Sensibilität ist für Forster ein gravierendes persönliches Defizit, das keinen Raum für Entwicklung öffnet. Mit Philips dritter Italienreise beginnt im sechsten der insgesamt zehn Kapitel die konstruktive Auseinandersetzung mit Alterität. Zunächst erstellt der Text, bei der Schilderung von Philips und Harriets Anreise durch Oberitalien, das gängige Bild des leidvoll geprüften Touristen. Es beginnt mit der unerträglichen Hitze, gefolgt vom Diebstahl von Harriets Skizzenbuch, dem Auslaufen des Fleckenwassers in ihrem Koffer, dem allgegenwärtigen Kindergeschrei, den üblen Gerüchen und reicht bis zu schlafenden Hunden im Hotelbett und überfüllten Zügen mit schwitzenden Reisenden. Die Vorurteile des englischen Heterostereotyps bündeln sich zu Signalen einer verhärteten Konfrontation, an der selbst die Natur beteiligt scheint. In einem glückhaft-intuitiven Moment der Selbsterkenntnis, einem ’visionary moment’, kommt Philip auf den Gedanken, dass weniger innere Verkrampfung und etwas mehr Offenheit die Dinge nicht abscheulich, sondern spaßig aussehen lassen könnte. Dieser Einstieg in eine individuellere Sicht der Außenwelt durch dekonstruierende Selbstkritik lässt auf einmal den Himmel und die Ebene, den Fluss und die Berge der Toskana mit Leben erfüllt erscheinen, und der übliche Touristenhabitus, alles Gesehene einzuordnen, zu klassifizieren und dann als bekannt abzuhaken, verliert seine Bedeutung: “[…] nothing - not even the discomfort - was commonplace.“(A, 91) Diese Feststellung markiert den Einschnitt in Philips visueller Rezeption; es kommt symbolhaft zum ‚Sehen mit anderen Augen’, während die mitreisende Harriet in der Begrenztheit ihres Blickes verharrt. Mit ihrer Weigerung, die Existenz ihrer rigiden Klischees zur Alterität wahrzunehmen oder gar zu hinterfragen, vom Spüren eines ’genius loci’ ganz zu schweigen, erweist sie sich nicht nur unfähig zum Abbau ihrer Stereotypen, sondern endgültig als ’flat character’ und Mitglied im symbolischen Dunkel der “vast armies of the benighted“ (RV, 194) bzw. der “armies of darkness“.(RV, 200) 823 Die scharfe Kontrastierung der beiden Charaktere eröffnet erzählerisch die Möglichkeit zu präziser Zeichnung der Psyche des Helden. Je verschlossener und widerborstiger sich Harriet als rigorose Handlangerin 823 „Der Mangel an Vorstellungskraft bei beiden Herritonfrauen charakterisiert sie [...] als Opfer jenes frühaufklärerischen Rationalismus, dessen Neuentwurf der inneren Natur des Menschen vor allem in der Trennung von Ratio und Einbildungskraft bestand [...]. Sie exemplifizieren die von Horkheimer und Adorno kritisch evaluierten Auswirkungen der Aufklärung, welche Habermas folgendermaßen zusammenfaßt: ‚Herrschaft über eine objektivierte äußere und die reprimierte innere Natur ist das bleibende Signum der Aufklärung’.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 98f.). 388 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ ihrer engstirnigen Mutter erweist, umso mehr wächst Philips Bereitschaft, sich aus unausgesprochenem Trotz gegen beide Frauen den Einflüssen der Fremde zu öffnen. In spannender Weise wird im Text der komplexe Übergang Philips vom enttäuschten Enthusiasten Italiens zum erneuten glühenden Verehrer des Landes inszeniert, als der Durchbruch gelingt, Natur und Landschaft nicht länger in den visuellen und verbalen Schablonen des klassizistischen und des romantischen Blicks aufzunehmen, sondern in persönlichen, authentischen Eindrücken. Der noch bestehende Rest eines emotionalen Damms für einen Neuanfang ist gebrochen, als Philip von Caroline erfährt, dass Gino im Gespräch bedauerte, bei der ersten Begegnung mit Philip unhöflich und grob gewesen zu sein. In kaum verhohlener Freude deutet er diese Äußerung umgehend als Entschuldigung; geradezu schlagartig wandeln sich seine Stimmung und seine ganze Einstellung: “Philip smiled, and was shocked at himself for smiling, and smiled again. For romance had come back to Italy [...]; she was beautiful, courteous, lovable, as of old.[...] angels and other practical people will accept it [the change] reverently, and write it down as good.“(A, 103) 824 Sein Stimmungshoch erreicht einen Pegel der Begeisterungsfähigkeit wie einst, doch nun billigt ihm die Erzählinstanz Verstehensbereitschaft zu, so, als er tastend fragt, ob der Turm vor seinem Fenster in Monteriano ein Symbol der Stadt sei. Nach dem Abräumen emotionaler Blockaden ist der Weg zu neuer visuell-gedanklicher Rezeption von Alterität frei - die doch wieder Begrenzungen unterworfen bleibt, 825 da es jenseits schon gegebener Texte 824 Wie lässt sich die Gedankenverbindung von ’angels and other practical people’ erklären? Als Helfer oder auch Streiter gelten Engel traditionell als praktisch handelnde Mittler zwischen Gott und den Menschen; solchen Engeln muss Philips Schritt aus englischer Abgrenzung als gut erscheinen. Als vermittelnder und praktisch handelnder Engel wirkt Caroline gegen Romanende, als sie Gino und Philip in dem symbolischen Akt des Verteilens der Milch für das tote Baby, ein Akt of ’sacramental communion’ (Jeffrey F. Meyers, The paintings in Forster’s Italian novels, 53) äußeren und inneren Schmerz ertragen hilft. Für diesen Engel der Nächstenliebe, der sie auch in Sawston künftig sein will, muss Philips Sinneswandel etwas Gutes sein. In diesem Sinnkontext zeigt sich die Angemessenheit der Wahl des von Forsters Freund E.J. Dent vorgeschlagenen Titels Where Angels Fear to Tread (neben From a Sense of Duty; vgl. A, Introduction, 11f.) sowie die der deutschen Übersetzung Engel und Narren, zumal das den Titel stiftende Zitat aus Alexander Popes An Essay on Criticism, III, 625, - “For fools rush in where angels fear to tread“ - weitere sinnvertiefende Bezüge im Roman zulässt: Santa Deodata ist eine weltfremde Heilige - “her life was unpractical“(A, 94) - und Philip in manchem ähnlich; Harriet und ihre Mutter sind eindeutig Närrinnen; Lilia erscheint in einer unglücklichen Zwitterrolle. 825 “Forster assaults the category of travel experience that suits himself best - that of the English traveler whose class and sex have qualified him for the role of ambassador of empire, heir to the legacy of the Pax Britannica. The very education that allows such travelers to comprehend the allusions and savor the historical and mythic resonances of a locality inexorably excludes them from apprehension of, or perhaps by, the true genius loci in all its lived immediacy. This recognition leads Forster regularly to grant his moments of vision to those characters least accredited by the British classical establishment: 389 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG und Bilder als vorgeformte und vorformende Matrizen der Wahrnehmung keinen Königsweg zu (autonomer) Bilderschließung der Umwelt gibt (vgl. dazu 1.3.6). Das hohe Maß an Authentizität und damit einhergehend an Verstehen und Einsicht für die beiden Hauptfiguren am Opernabend markiert schon deshalb den Höhepunkt ihrer konstruktiven Begegnung mit der Fremde, weil sie durch die Begeisterungsfähigkeit der italienischen Zuschauer zur körperlichen Teilhabe an dem Musikspektakel animiert werden. “The audience sounded drunk, and even Caroline, who never took a drop, was swaying oddly.”(A, 109) „Italien hat [...] das Verhältnis von Natur und Kultur, ’head and heart’, Selbstkontrolle und emotionaler Spontaneität in radikal anderer Weise in einem kulturellen Sinnsystem organisiert, als dies in England der Fall ist.“ 826 Sie lacht, applaudiert und gestikuliert in Übereinstimmung mit dem Publikum, und Philip wird in ganzer Körperlichkeit Teil des Geschehens, als ihn Gino und seine Freunde in ihre Loge hineinziehen. Mit der Formel des ’long-lost brother’ und der vertraulichen Hand auf seinem Rücken vollzieht Gino symbolisch Philips Aufnahme in seine Familie, indem er ihn optisch gleichrangig platziert und zugleich durch “[…] ties of almost alarming intimacy“(A, 153) eine bestürzendhomoerotische Nähe herstellt. Forster treibt das Gedankenspiel von Konventionalität und Authentizität, von Fremd- und Zuhausesein auf einen Höhepunkt, als er seinen Helden in der Fremde seine Familie finden, seine Heimstatt entdecken, sein wahres Zuhause fühlen und sein Ich-Selbst erkennen lässt (vgl. Fußnote 800). Philip “[...] discovers a renewed sense of self in Italy [...], a renewed sense of personal identity [...]”. 827 Er findet zu nichts Geringerem als zu seinem wahren Selbst, was inneres Glück ist: Sawston steht für Entfremdung und ein verfälschtes Ich, und erst in und durch Italien findet Forsters Held heraus aus einer ’emotional sterility’. 828 Analog zu Philips Selbstfindung gelangt Caroline durch ’moments of ecstatic experience’ 829 zur de facto Ersterfahrung inneren Glücks. Gerade durch das Verlegen von Philips und Carolines ’transfiguration’ in die ästhetische Banalität des Provinztheaters verdeutlicht Forster sein Anliegen: Wichtiger als zelebrierter Kunstgenuss auf hohem Niveau sind Spontaneität und Natürlichkeit, Vitalität und Lebensfreude und vor allem zwischenmenschliches Zusammengehören nach dem Motto ’Only connect’. Und so kann geschehen, dass Caroline, ebenfalls mit dem so wichtigen ästhetisch-emotionalen Sensorium ausgestattet, Momente des Glücks emp- sullen boys, ingenues, and simpletons achieve their epiphanies, while dons, tutors, and literati languish among the ranks of the benighted.”(Buzard, Forster’s Trespasses, 166). 826 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 49. 827 Womack, A Passage to Italy, 139. 828 Szala, North and South, 32. 829 Thomson, The Italian Romances, 45. 390 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ findet. Dass ihre Glücksvorstellung das sexuelle Verlangen nach Gino beinhaltet, wird an der manifesten Textoberfläche missbilligt -“[…] she began to beat down her happiness, knowing it to be sinful“-, aber der latente Sinn offenbart die Richtigkeit und Legitimation körperlichen Begehrens, denn sie schien, so der Text, innen wie außen in Schönheit gebadet. Ganzheitliches Wohl, Liebe und Glück umfassen eben Leib und Sexualität, so verkünden Italiens Landschaft und ihre Menschen: Die Trennung von Geist und Körper ist das Unnatürliche, zu Missbilligende, und sie ist es, die unter den in Sawston obwaltenden Umständen eine Glücksfindung be- und auch verhindert. In humorvoller Kontrastierung benutzt Forster die Figur Harriets, um die Erfahrung des Authentischen von den Erscheinungsweisen des Konventionellen abzusetzen. Bar jeden Sinns für das Augenblicklich- Ereignishafte zwingt sie die Zuschauer im Saal durch energisches Zischen zur Ruhe, aber als gar ein Blumenstrauß versehentlich auf ihrem Busen landet, ist das Maß des konventionell Akzeptablen überschritten. ”’Call this classical? ’ she cried, rising from her seat. ’It’s not even respectable! ’“(A, 110) „Die Destereotypisierung des Autostereotyps der englischen Mittelklasse besteht in seiner parodistischen Entlarvung als subtiles Instrument, das mit dem Gestus kultureller Autorität für die Durchsetzung puritanischkörperfeindlicher Wertvorstellungen funktionalisiert wird.“ 830 Für Harriet, körperfeindlich und humorlos erzogen, unempfänglich für Natur und Kunst, behält das Autostereotyp seine Gültigkeit gegenüber Neuartigem und jedwedem Wandel. 831 3.5.3.4 Bilder der Landschaft Italiens als Zeichensystem Forster’scher Sinndeutung und Wegweisung Forsters Darstellung der Szenerie Italiens in Landschaftsbildern kann kategorial in kollektiv und in persönlich wahrgenommene unterteilt werden aufgrund des Antagonismus von Konvention und Individualität. So gibt es im Text zum einen Landschaftsbilder, die auf Vor-Bildern beruhen, deren Provenienz in der Reisetradition des 19. Jahrhunderts zu verorten ist und die ihrerseits von der ausgeprägten Reisekultur des Jahrhunderts davor geformt sind. Kennzeichen derart meist literarisch-künstlerisch erstellter und weitergereichter Szenarien ist, dass sie gesellschaftliches Allgemeingut 830 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 109. 831 Harriets ’inlaid box' sei eines jener Symbole im Roman, so Audrey Lavin, das durch regelmäßiges Auftauchen der Handlung Zusammenhalt und Kontinuität gebe und in Harriets Fall auch zur Charakterzeichnung diene. “Harriet, the lone English character in Italy closed to the attractions of Gino, serves to remind us of the box as a symbol for female sexuality. The box stays closed, as does Harriet, during the entire course of the story.”(Lavin, Aspects of the Novelist, 48). 391 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG sind, der gedanklichen Verständigung dienen, d.h. als kommunikatives Bindemittel fungieren und weitestgehend den Diskurs über das andere Land in den Print- und Bildmedien bestimmen. Der Nachteil ist jedoch, dass solchermaßen fixierte Bildwahrnehmung ein individuelles Sehen be- oder sogar verhindert. Die zweite Kategorie von Landschaftsbildern im Text soll genau diesen Nachteil infolge persönlich gemachter Eindrücke vermeiden, die, konträr zur Zielsetzung von Reiseführern und Pauschalreisen, weder geplant noch vorhersehbar sind. Individuelle Eindrücke sind die Folge kontingenter Ereignisse und einmalig in der Weise, dass sie nicht reproduzierbar sind. Diesen singulären Eindrücken und Bildern gilt das Augenmerk des Autors, und sie tragen zur Herausformung seiner intendierten Aussage bei, während die Bilder der ersten Kategorie narrativ lediglich eine Rolle als Kontrastivum spielen. Voraussetzung im Forster’schen Sinnkontext für das Wahrnehmen von Bildern der zweiten Kategorie ist jedoch, dass eine Figur über das erforderliche ästhetische Rezeptionsvermögen verfügt; Philip Herriton und Caroline Abbott sind damit ausgestattet, aber keine der anderen Figuren im Roman. Forsters Fixpunkte seines Begriffs- und Wertekosmos sind gemäß übereinstimmender Kritik in seinem gesamten fiktionalen Werk erkennbar: “[…] the novels are in great part vehicles for E.M. Forster’s personal philosophy“. 832 Seine Diagnose eines ’undeveloped heart’ 833 und ’incomplete character’ in der englischen Gesellschaft leitet er aus der Repressivität ihrer Erziehungsinstitutionen ab. „Der unvollständige und seelisch-emotional amputierte Engländer“ 834 , wie ihn Philip Herriton verkörpert, ist Zielobjekt Forster’scher Kritik, deren Dringlichkeit er mit Metaphern aus den Wortfeldern von ’darkness’ und 'muddle' beschwört, um den verstellten inneren Blick freizulegen und nach Möglichkeit in ’moments of vision’ auszuweiten zum Erkennen einer umfassenderen Wirklichkeit. Wird dabei durch ’a vision of truth’ eine innere Wahrheit erkannt, dann mündet sie in einen 832 Lavin, Aspects of the Novelist, 141. 833 “Forster’s experience of his public school provided him with two vital elements in his vision of life: first, a hatred of the conventional values that were taught there; second, a recognition that the public school system was responsible for the characteristic weakness of the English middle-classes - their inability to give to the emotional life its proper importance. In some Notes on the English Character [...] he speaks of the way English public school boys are taught [to] go out into the world. ’They go forth into it,’ he writes, ’with well-developed bodies, fairly well-developed minds, and undeveloped hearts.’” ( Colmer, The Personal Voice, 5). 834 Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 49. “And for him [Forster] what supremely mattered was human relationships, which he could imagine to be the sole true material of history. For him people mattered, but only relatively, for people are inevitably in a ceaseless state of flux and dissolution; the thing which may contain more reality and permanence is found in relationships between people.” (P.N. Furbank, The Philosophy of E.M. Forster, in: Scherer Herz/ Martin, E.M. Forster - Centenary Revaluations, 43). 392 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ ’eternal moment’ ein, der Leitbildfunktion hat. Lucy Honeychurchs unbewusst erwachender Liebe geht solch ein ’eternal moment’ voraus, dessen Bedeutsamkeit ihr Mr Emerson aufzeigen muss: “’[…] there’s nothing worse than a muddle in all the world.[...] I know that [...] you love him [George]. Then be his wife. He is already part of you. Though you fly to Greece, and never see him again, or forget his very name, George will work in your thoughts till you die.[...] love is eternal’.“(RV, 223) So können durch Appell an Einsicht scheinbar belanglose Augenblicke als ’moments of choice’ bedeutsam werden und vor einem Verharren in geistiger und emotionaler Mittelmäßigkeit, in ’muddle’ 835 und ’darkness’, bewahren. Die zentralen Begriffe zur Benennung eines inneren Wandels in Where Angels Fear to Tread sind die die christliche Heilslehre konnotierenden Vorstellungen einer ’conversion’ und ’salvation’, denen eine ’transfiguration’ vorausgeht, obgleich Forster kein bekennender Christ war. 836 “Salvation forms the moral centre of the novel and transfiguration is the poetic or imaginative means of achieving it. At moments of intense emotion or as a result of visionary experiences, Forster’s characters are granted a view that transfigures the details of ordinary life.” 837 Neben bzw. hinter der Alltagswelt existiert eine andere Realität, die durch die palimpsestische Landschaft und, so Annegret Horatschek, in Forsters Funktionalisierung des italienischen männlichen Körpers zur Darstellung des Ursprünglichen und Natürlichen wie auch in des Autors religiös-mythologischer Begriff- und Bildlichkeit zeichenhaft umschrieben ist (was alles in intensivierter Weise auch auf The Lost Girl zutrifft). „Als signifikante Zeichen für die Existenz und Präsenz einer diskursiv verdeckten Wirklichkeit dienen in A Room with a View und Where Angels Fear to Tread neben der Körperlichkeit 835 “[...] muddle is one of Forster’s favourite targets.[...] In his Notes on the English Character Forster says: ’Muddleheadedness? Of this I believe them [the English] to be guilty. When an Englishman has been led to a course of wrong action, he has nearly always begun by muddling himself.’[...] Mr. Emerson says to Lucy: ’You are inclined to get muddled... Let yourself go. Pull out from the depths those thoughts you do not understand, and spread them out in the sunlight and know the meaning of them.’”(Laurence Brander, Aspects of E.M. Forster, in: H.H. Anniah Gowda, A Garland for E.M. Forster, 101). 836 “Though Forster is not a professing Christian [...], his novels suggest an essentially religious view of life.” (Hyatt Howe Waggoner, Notes on the Uses of Coincidence in the Novels of E.M. Forster, in: Bradbury, Forster, 81). “[...] when men can no longer find the true ground of their being in God they look for it in personal relations; consequently their ideals become self-realization, self-fulfilment.[...] His [Forster’s] agnosticism was also the product of ’the general spirit of questioning’ that was ’associated with the great name of G.E. Moore’. Forster did not receive Moore’s influence direct - ’I was not up to that and have never read Principia Ethica.’ But [...] Moore’s ideas were part of the air he breathed [...]. That the most valuable things in life are inner states of being and that the most valuable of these states are those that arise from personal relations and from the contemplation of beauty, were ideas that Forster found immediately congenial and later embodied in his fiction.”(Colmer, The Personal Voice, 6ff). 837 Ebd., 57. 393 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG der italienischen Männer die zwei traditionellen Diskurse der Alterität, nämlich der religiös-metaphorische und die mythische Rede“ in „expliziten Bezügen auf Mythen der griechischen und römischen Antike“. 838 Philip erlebt eine ’transfiguring vision’, als er Caroline mit dem Baby auf ihrem Schoß und dem knienden Gino vor einem Fenster der weiten toskanischen Landschaft, ganz in der Art eines Madonnenbildnisses Bellinis, sieht. Als sie ihn, nach dem Unfall und Tod des Säuglings, vor dem von Schmerz überwältigten Gino und seinen Quälereien rettet und danach letzteren wie ein Kind im Arm hält und zum Trost streichelt, mutiert sie in seinen Augen zur göttlichen, gnadenreichen Muttergestalt schlechthin: Her eyes were open, full of infinite pity and full of majesty, as if they discerned the boundaries of sorrow, and saw unimaginable tracts beyond. Such eyes he had seen in great pictures but never in a mortal. There came to him the desire to be good through the example of this good woman. He would try henceforth to be worthy of the things she had revealed. Quietly, without hysterical prayers or banging of drums, he underwent conversion. He was saved.(A, 151f.) “The moral Forster is nowhere more in evidence than in Where Angels Fear to Tread [...],“ 839 jedoch Philips ‚Bekehrung’ und ‚Rettung’ sind trotz massiver christlicher Begriff- und Bildlichkeit nicht als religiöses Erweckungserlebnis zu sehen. “His [Forster’s] outlook on life [...] seems to be not Christian but pagan in substance”. 840 Forsters zentrales Anliegen ist ein Heraustreten aus erzwungener und erstickender Mittelmäßigkeit hin zu einem freieren, von der Antike inspirierten Menschenbild durch Zurückweisen steriler gesellschaftlicher Konventionen und damit einhergehender Repressionsmechanismen. 841 Bereits bei Erscheinen des Buches sahen Kritiker den Roman vor allem als “[…] a protest against the worship of conventionalities, and especially against the conventionalities of ’refinement’ and ’respectability”. 842 Philip wird auch ’bekehrt und davor bewahrt, weiterhin in eskapistischer Flucht sein Glück in einer Scheinwelt zu suchen, die Selbstentfremdung und Identitätsverlust bedeutet. Caroline, deren großes menschliches Potenzial Italien zum Vorschein bringt, verkörpert schließlich für Philip die Abkehr von der nichtssagenden Welt seiner Mutter, “[…] this well-ordered, active, useless machine“(A, 84), die sich im Vergleich zu der 838 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 119. 839 Wilde, Injunctions and Disjunctions, 71. 840 Koji Nagano, E.M. Forster and Italy, in: Language & Culture, Hokkaido University, 1984; 5, 77. 841 In den Italienromanen sind Mrs Herriton und Cecil Vyse Beispiele eines so engstirnigen gesellschaftlichen Dünkels, dass Forster vom Zusammenprall der Kulturen spricht, als Cecil das Haus Honeychurch betritt: ”The two civilizations had clashed [...].“(RV, 155; vgl. Fußnoten 13 u.750; s. auch 3.5.2.2 u. 3.5.3.1). 842 ’V’, review, Manchester Guardian, 4 October 1905, 5, in: Gardner, E.M. Forster - The Critical Heritage, 44. 394 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ jungen Frau geistig und moralisch als substanzlos erweist. Seine moralische Abnabelung und psychische Emanzipation von Sawston mit dem Ziel einer “liberty in and through Nature“ 843 ist der spannende und komplexe Prozess, den der Autor über die Landschaft erfolgen lässt. ”Forster’s concept of nature informs this story and encourages his reader’s sense of something happening that is more important than what is seen.“ 844 An diesem Punkt wird die für Forster zentrale Idee fokussiert, nämlich die der Begrenzung des Subjekts als Folge soziokultureller Präformierungen, was ein nur partielles und oft fehlerhaftes Erfassen der Wirklichkeit zulässt und so die Entwicklung der Persönlichkeit hemmt. Wenn Philip mehrfach in Italien scheitert, jedenfalls immer, wenn konkretes Handeln gefragt ist - er kann weder Lilias Heirat verhindern noch Gino das Baby abkaufen, und er kann es selbst dann nicht nach England bringen, als es in seiner Verfügungsgewalt ist -, dann liegt es an seiner Entfremdung von der Wirklichkeit, deren Opfer er wird. Die Landschaft in Italien versucht ihm mitzuteilen, dass es sehr wohl das Phänomen der Einzigartigkeit gibt, das sie ihm in Gestalt eines kleinen dunklen Waldes in einem Veilchenmeer und in der 'weiblichen' Topografie der Landschaft vor Augen führt mit der unterschwelligen Botschaft an den jungen Mann, sich dessen in Gesellschaft Carolines bewusst zu sein. Solche Singularität kennzeichnet den genius loci, konstituiert den Charakter des Unverwechselbaren und Einmaligen und zeigt zugleich die Grenzen des Plan- und Machbaren auf. Das ist das Gegenteil dessen, was und woran man bei den Herritons in Sawston glaubt, wo moralischer Dünkel in Verbindung mit ’respectability’ und ’refinement’ den Anspruch erheben, die Welt deuten und steuern zu können und dies auch noch in der Überzeugung, es mit vollem Recht und Anspruch tun zu dürfen. Die Phänomenalität des Einzigartigen ist nur ein Aspekt des Blütenmeeres: „Die Veilchen in A Room with a View und auch in Where Angels Fear to Tread, freudianische Markierungen für die ‚Weiblichkeit’ der toskanischen Landschaft, werden konsequent mit Wasser assoziiert.“ 845 Wasser bedeutet Fließen, niemals Stillstand, ist ständige Bewegung und Veränderung. Die ästhetische Schau des ‚fließenden’ Schönen, visualisiert durch die Wassermetaphorik, ist die Botschaft an den Helden, sich der Statik und Sterilität vorgeformter Denk- und Verhaltensmuster zu entziehen und sich der Dynamik des Kontigenten, des Individuellen und damit des Authentischen zu öffnen. Das persönlich und individuell wahrgenommene Naturschöne ist, was Kant bereits formulierte, einem statischen Kunstschönen, 843 Scott, Our Permanent Contemporary, 56. 844 Lavin, Aspects of the Novelist, 55. 845 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 132. 395 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG aufbewahrt in Museen und Kirchen und weitergereicht über Texte und Bilder, vorzuziehen. 846 Eine weitere symbolische Sinnschicht dieses Naturbildes besagt, dass Wandel die Welt kennzeichnet und dass jedes Verharren Verengung, Stillstand und Verkümmerung mit sich bringt, nicht nur, was das Schöne anbetrifft, sondern auch ein selbstbestimmtes Handeln. Philips Herangehen an seine Probleme in Italien mit stets statischen, vorgefassten Konzepten aus einer starren Position heraus scheitert dreimal eklatant, weil er Dynamik und Relevanz des Einzigartigen im gegebenen Augenblick nicht erkennt. 847 Die Wassermetaphern und der palimpsestische Charakter der ganzen Naturszenerie im Olivenhain sind Signale an Philip, sein Denken und sein Handeln zu ändern und neu zu orientieren. Die Vorstellung des Wandels, des Fließens und des Aufbruchs zu neuen Ufern 848 wird durch die suggestive Wirkung der einprägsamsten Metapher im Roman intensiviert, wenn Monteriano zur “fantastic ship city of a dream“ wird. Die Türme der Stadt als in das Blau des Himmels ragende Maste signalisieren symbolisch, dass sich Philip auf eine geistige Reise zu erweiterten Sinnhorizonten begeben soll. Mit diesem eigenwilligen, ganz persönlichen Eindruck trennen ihn in diesem Moment Welten von einer Landschaftsrezeption in den Konventionen klassizistisch-antikisierender, pittoresk-idyllisierender oder romantisch-verklärender Sehgewohnheiten englischer Reisender (vgl. 2.2.1-2); diese Unterschiedlichkeit ist Zeichen beginnender Individuation des Helden. 849 846 “Für Kant ist dessen Erörterung [des Naturschönen] noch sehr wichtig gewesen, anders als für Hegel, der das Naturschöne gleich zu Beginn seiner Ästhetik aus dem Kreis der Überlegungen ausschließt. Für Kant hat die Schönheit der Natur sogar einen ‚Vorzug’ vor der Kunst: ‚Wenn ein Mann, der Geschmack genug hat, um über Produkte der schönen Kunst mit der größten Richtigkeit und Feinheit zu urteilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftlichen Freuden unterhaltenden, Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann; so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung betrachten, und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein Kunstkenner und Liebhaber, um des Interesse willen, das er an seinen Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann’.“(Schneider, Geschichte der Ästhetik, 49). 847 “The dramatic emphasis on symbolic moments of choice causes every minute of life to be fraught with potential spiritual significance [...].”(Colmer, Forster, 219). 848 “[...] it is imperative in Forster’s fictive world for characters to journey in order to change. In his first two Italian novels, there is a simple linear movement from travel to change to personal freedom.”(Lavin, Aspects of the Novelist, 43) 849 Hier ist unschwer der Einfluss autobiografischer Erfahrungen erkennbar. Forster unternahm 1901 und 1903 Reisen nach Italien und Griechenland und räumte ein, dass er durch sie zum Schreiben angeregt wurde. “[...] these two visits to the South not only provided him with much of the inspiration and material for his writings, but made him secure in the belief in Hellenism in place of that in Christianity.”(Nagano, Forster and Italy, 77). 396 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Es ist bezeichnend für Forsters psychologische Sensibilität wie auch für sein narratives Gespür beim Spannungsaufbau, dass er den inneren Entwicklungsprozess seines Protagonisten über dessen Außenweltwahrnehmung als graduellen Vorgang inszeniert. In einer ersten Stufe ‚registriert’ er Landschaftseindrücke, aber sie dringen nicht in sein Bewusstsein vor, und ihrer Funktion als Auslöser zu weiterführenden Assoziationen und einem Blick auf symbolisch geweitete Wirklichkeit können sie noch nicht gerecht werden. Sie werden aber als Erinnerung gespeichert - ähnlich der ‚erinnerten Landschaft’ in Middlemarch (vgl. 3.3.3.2) -, um in einer zweiten Stufe ihre Wirkung zu entfalten und schließlich in einer dritten für das wandlungsfähige Individuum, wie Philip es ist, Sinn konstituieren zu können. Das bedeutsamste Landschaftsdetail des Romans mit solch sinnspeichernder Funktion, traditionell überdies mit höchstem symbolischem Sinngehalt belegt, ist der dunkle Wald, 850 den Forster zur Visualisierung von Verstehensvorgängen in seinem Helden mehrfach instrumentalisiert: Das düstere, geheimnisvolle Wäldchen bei Monteriano ist zum einen Teil der ’weiblichen’ Landschaftstopografie mit erotisch-suggestivem Zeichencharakter, zum anderen zitiert Gino später Dante, wonach wir uns oft mitten im Leben im dunklen Wald verirren, vor allem aber ist es auch der dunkle Wald, in dem sein Baby den Tod findet, obwohl Philip, im realen und übertragenen Sinne, suchend, aber orientierungslos herumkriecht. Nirgendwo wird die Verflechtung von Natur und Landschaft als Zeichensystem mit Verweisfunktion auf einen größeren Raum der Wirklichkeit, das menschliche Schicksal eingeschlossen, deutlicher als in der tragischen Handlungszuspitzung an diesem Punkt. Dieser Naturausschnitt des Waldes steht gleichnishaft für die Unwägbarkeit wie auch die Begrenztheit menschlichen Denkens und Tuns. Aus verhaltenspsychologisch-psychoanalytischer Sicht gibt es eine enge Verbindung zwischen der Umwelt in Gestalt der Landschaft und dem Unbewussten. 851 “It is interesting that Forster makes a great deal of nature as landscape and vegetation, but almost never describes animals. Freud includes flora but not fauna in his list of female sexual symbols - landscapes (including hollows, pits, dells, and caves) representing the topogra- 850 Vgl. dazu die Ausführungen zu ‚Konventionalisierter Raumwahrnehmung’(1.2.3). 851 ”It may well be that [...] a subconscious anthropomorphism is the real basis of the aesthetic appeal of landscape. [And] if Gray’s ’ivy-mantled tower’ - destined to feature so prominently in the landscape painting of the romantics - is to be seen as a phallus, every dark cavern, partially concealed by foliage or [...] every cleft or chasm, can as certainly be recognized as a vagina.”(Jay Appleton, The Experience of Landscape, 84). Appleton misst jedoch seiner Habitattheorie größere Bedeutung bei, wonach selbst der moderne Mensch noch dem am Beginn seiner Entwicklungsgeschichte wichtigen ’desire to see without being seen’ folgt und dementsprechend die Landschaft in ’prospect’ und ’refuge’ mit jeweiliger symbolischer Zuschreibung einteilt.(a.a.O.; vgl. dazu 1.3.2 u. 1.3.4, insbes. Fußnote 165). 397 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG phy of sexual organs, and woods and thickets representing pubic hair.[...] This female symbolism dominates Forster’s work.“ 852 Die narrativ für den Helden inszenierte Begegnung mit dem dunklen Wald, “[…] which lay brown and sombre across the cultivated hill“(A, 36), ist als symbolischer Blick auf die ’terra incognita’ des weiblichen Körpers zu lesen, dessen Schambereich und vaginale Intimität, geheimnisvoll, dunkel, durchzogen von ’channels’ und ’hollows’, umgeben von einem ’dry white margin’ im Veilchenmeer des betörenden Frauenleibs - eine Szenerie, wofür, so der Text, kein Maler den Mut zum Malen’ habe - als erotisches Faszinosum dem gehemmten jungen Mann aus Sawston unbekannt sind. Diese Naturszene, in der Philip in der Kutsche Caroline gegenübersitzt, ist Aufforderung an ihn zur Überwindung anerzogener Prüderie und Schamhaftigkeit, zu einem Gewahrwerden des Leiblichen und der Legitimität sexuellen Begehrens. Das ‚fließende’ Schöne, die betörende Anmut der Blumen und der panoramische Blick sind alles Symbole des Weiblichen, des Naturhaften und Unbewussten 853 und Aufforderung an Philip, seine Reisegefährtin spontan als sexuell zu begehrende Frau zu sehen. In Forsters Landschaftsszenerie mit den toskanischen Türmen, in gleich hohem Maße Zeichensystem mit zu entschlüsselnden Botschaften, erfolgt nach dem ‚Registrieren’ im vorhergehenden Jahr in zweiter Stufe ein bewusstes Wahrnehmen, dem als dritter, epistemologischer Schritt ein Verstehen folgen sollte. Jedoch der durch die aufragenden Türme visuell hypostasierte Bereich der Sexualität, der Philip zum Handeln regelrecht zu animieren scheint, entzieht sich bis zum Romanende seinem angemessenen Verstehen mit entsprechendem Handlungsvollzug: Während Caroline 852 Wilfred Stone, The Cave and the Mountain, zit.n. Horatschek, Alterität und Stereotyp, 121. 853 “Nicht nur die üppig bewachsene Landschaft, sondern landschaftliche Panoramen vertreten in Forsters Italienromanen eine ’weibliche Topographie’.[...] Die italienische Landschaft fungiert als objektives Korrelat des feminine elsewhere, das in den Sprach- und Erkenntnismodellen von Cixous, Irigaray und Kristeva der Ort der weiblich konnotierten [...] jouissance ist. - - - - Bzgl. einer psychologisch zu erklärenden Bedeutungsüberhöhung Italiens: Vgl. Fußnote 901 sowie Goethes Italienvorstellung (Fußnoten 667, 679 u. 887), auch Seumes Reisemotiv (Fußnote 678), vor allem Gissings persönliches u. fiktionales Italienbild - ”[…] the portrayal of a Mediterranean sensibility in contrast with a gloomy British inheritance […] was supposed to separate the writer from the ’wrong world’(England) and permit him to immerse himself in the ’ideal world’(Italy)“(Del Nobile, Gissing’s Ideological Journey, 20) - in Verbindung mit den Fußnoten 676, 719, 721 u.725 im Gegensatz zu Lawrences Position (Fußnote 904). Feminine elsewhere und jouissance umschreiben eine Gegenwelt zum phallogozentri schen Weltbild des herrschenden Diskurses. Jouissance indiziert in den psychoanalytischgenetischen Modellen der französischen Feministinnen eine in der Zeit präödipaler Mut terbindung geprägte Triebstruktur, welche durch den Eintritt in die Symbolische Ord nung [...] als Unbewußtes marginalisiert und verdrängt wird.[...] In diesem Sinne [...] ist Italien in Forsters Italienromanen ’a psychological state as well as a country’. “(Horat schek, Alterität und Stereotyp, 122). 398 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ gesteht, jetzt und noch sehr lange von Ginos Körper fasziniert zu sein, scheitert Philips kopfgesteuerter Versuch einer Liebeserklärung kläglich. Nichtsdestotrotz wird in Philip die dritte Stufe innenweltlicher Veränderung durch Selbstreflexion und Selbstkritik zumindest angestoßen, als tradierte Naturszenerie ihre Immobilität verliert und das Gesehene menschliche Züge annimmt: Die Ebene hält das Leben in festem Griff, die vertrockneten Flussarme des Arno wirken wie erschöpft, und die aufragenden Stümpfe der Burgruinen und Türme Monterianos vibrieren im Dunst der Ferne als vielsagende Symbole einer ’männlichen’ Topografie. Der Kern der Botschaft ist, dass sowohl die Natur als auch die in sie eingebettete Kultur etwas Lebendiges sind und eine Ganzheit bilden, was Forsters tiefe Überzeugung war. “Faith in culture links Forster to the great tradition of nineteenth-century liberalism; faith in nature to the Romantic tradition.” 854 Das Novum in Philips Wahrnehmung ist die Vermenschlichung der Natur durch individuell-authentische Eindrücke in kontingenten Situationen und damit aber auch das Zurückweisen eines Kulturbegriffs, wenn er in Schablonen und Klischees gefasst und damit statisch und leblos geworden ist. Wenn Philip die mitreisende Caroline zunächst verhalten schätzt und dann vergöttert 855 und wenn sie durch gedankenverlorenes Streicheln der Fensterlaibung sexuelles Begehren körpersprachlich mitteilt, 856 wird Forsters Protest gegen in England anerzogene Körperfeindlichkeit und die Verdrängung des Leiblichen in zivilisatorisch sublimierten Formen offenkundig. Was er anprangert, ist die institutionalisierte Disziplinierung des Leibes im Namen der Moral auf Kosten von Emotionalität, Spontaneität, Natürlichkeit und letztlich sogar von Identität, wodurch E.M. Forster in weltanschauliche Nähe zu D.H. Lawrence rückt. 857 Das Ausklammern der Biologie des Körpers durch Tabuisierung des Sexuellen ist für beide das Produkt zwanghafter soziokultureller Repression. “For Forster [...] that culture is better which allows the greatest and freest expansion of the 854 Colmer, The Personal Voice, 9. 855 Es ist fraglich, ob man den Reifungsprozess der beiden jungen Leute in Italien als so weit fortgeschritten ansehen kann wie es Audray Lavin tut. “It is Caroline’s love for Gino and Italy that makes a real woman of her and it is Philip’s love for Gino, Italy, and Caroline that makes a man, not just a neuter observer of him.”(Lavin, Aspects of a Novelist, 55). 856 „Auch in Where Angels Fear to Tread meldet sich vor allem in der weiblichen Stimme der in der Symbolischen Ordnung tabuisierte Bereich einer aus psychoanalytischer Perspektive präödipalen ‚Semiotik des Körpers’“, die Teil einer frühen Entwicklungsphase ist und „als Gegenmodell zur ‚männlichen’ Kultur der ‚weiblich’ entworfenen ‚Natur' zugerechnet“ wird.(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 134). 857 Es gibt zwei “key-aspects of Forster’s longing for a renewal of the human experiment made in the golden Athenian epoch: The elevation of athletic beauty as a moral principle, and the integration of the physical and intellectual capacities of human nature which he saw the Christian era as having fractured and divided.” (Scott, Our Permanent Contemporary, 57f.). 399 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG whole human personality, not just the intellect, and which permits to come into contact with others [...].” 858 Die Ausprägungen angelsächsischer Prüderie stehen in Forsters Sicht einer leiblichen Selbstfindung entgegen, weil sie die Faktizität des Sexuellen als Teil natürlicher Körperlichkeit negieren. Er formuliert sein Unbehagen in der fiktional dargestellten Gefahr, dass ein Individuum in der Geschlechterbeziehung zur tragikomischen Figur wird, wie es bei Philip am Romanende tatsächlich der Fall ist. 859 Zusätzlich zu ihrer Funktion als Phalli signalisieren die Burgruinen und Türme eine weitere wichtige Botschaft Forster’scher Weltsicht. Sinn der menschlichen Existenz ist nicht das Verharren in einer Konfrontation von Antagonismen, wie dies in der Polarität von Licht und Dunkel, Himmel und Hölle, Identität und Alterität, England und Italien, Mann und Frau zum Ausdruck kommt, sondern der Gedanke einer Koexistenz von Unterschiedlichem. Dies bedeutet nicht Spannungsfreiheit, sondern fruchtbringende Zweiheit durch gegenseitige Akzeptanz. Forster, von seinem Naturell her nicht auf Konflikte und Konfrontation angelegt, sah in derartiger Anerkennung von Dualität die Möglichkeit, ganzheitlich sehen und denken zu lernen. Konkret bedeutet dies, dass Andersartigkeit nicht mit Minderwertigkeit gleichzusetzen ist, sondern ein Recht auf Eigenständigkeit und Anerkennung besitzt. Mit ausgeprägter Fähigkeit zu Empathie erfasst Caroline diesen Zusammenhang in der Fremde Italiens und gibt den Plan zur Requirierung des Kindes auf. Intuitiv versteht sie, dass Gino und sein Sohn zusammengehören, so wie sie durch die verstandesmäßige Kontrolle ihres Verlangens nach Sexualität kundtut, dass Körper und Geist eine Einheit bilden. Philip tut sich schwerer, die ihm von seiner Mutter und dem Umfeld in Sawston angelegten Fesseln der Fremdbestimmung abzustreifen, damit seiner Entfremdung mit sich selbst Einhalt zu gebieten und seine psychischen Leerstellen, Folge seiner konstitutionellen wie auch psychosozialen und psychokulturellen Konditionierung, mit der notwendigen Einsicht in ganzheitliche Betrachtung aufzufüllen. Der englische Charakter bedarf, so lautet das Fazit der Landschaftsbilder Italiens, der wesensergänzenden Erlebnisse der Alterität, um zu größerer innerer Freiheit in der persönlichen Lebensgestaltung zu finden. 860 858 Szala, North and South, 39. 859 Tragikomik wurde dem Roman, zumindest im Escheinungsjahr, nicht attestiert, wie ein Blick in eine Rezension von 1905 zeigt. “Philip is deliciously English in his halting and hesitating attitude to Caroline Abbott. He does not discover she is beautiful till the Italian has pointed it out to him, and he waits and waits, with his clever head on one side, watching her, till his chance as a lover has gone.”(Unsigned review, Speaker, 28 October 1905, 90, in: Gardner, Forster - The Critical Heritage, 51). 860 Forster litt unter den institutionalisierten Mechanismen zur Hervorbringung von ’Englishness'’ wozu er die public schools zählte. “’School was the unhappiest time of my life,’ he wrote later. [And] the rejection of those school ideals confirmed him forever as an 400 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Außer Caroline und Philip erlebt keine Figur des Romans weder in Italien noch in England wenigstens zeitweise ein Glücksgefühl. Forster ist nüchterner Realist: Was hat sich ereignet? “A spinster experiences passionate but unrequited love. It changes her completely [...]. An intellectual [...] contemplates her apotheosis ‘from an immense distance’.[...] They have acknowledged the forces of life, and though they will never themselves surrender to these forces, yet they have become wise.” 861 Wenn Philip seine verunglückte Liebeserklärung in Gedanken an Pasiphae und Endymion zu bewältigen sucht und Caroline nach Sawston zurückkehrt, um sich weiterhin karitativ in moralische Pflicht nehmen zu lassen, dann besteht in diesem ernüchternden Romanschluss „Der ‚Bildungsgewinn’ der englischen Protagonisten aus ihren Italienerfahrungen […] in dem Wissen um die labile Stabilität der Symbolischen Ordnung und der in ihr fixierten kulturellen Ordnung der englischen Gesellschaft.“ 862 Forster hat in seinem gelungenen Frühwerk - “[…] the most extraordinarily mature effusion of a 25-year-old in England’s imaginative prose literature“ 863 freilich ein bemerkenswertes Maß an „symbolische[r] Aussagequalität“ zustande gebracht, das die geringe Beachtung von Where Angels Fear to Tread in der Kritik nicht rechtfertigt“. 864 outsider, a pariah, to the main ranks of his own class.” (Wilfred Stone, E.M. Forster’s Subversive Individualism, in: Scherer Herz/ Martin, Centenary Revaluations, 21f.). 861 Gransden, Forster, 26f. 862 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 173. 863 Scott, Our Permanent Contemporary, 55. 864 Winkgens, Die Funktionalisierung des Italienbildes, 44. 401 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.5.4 Zusammenfassung 1. Die Veränderlichkeit von Auto- und Heterostereotypen in den beiden lern- und einsichtsfähigen Protagonisten sind Zeichen intrapsychischer Wandlung und Entwicklung. Die Selbst- und Fremdbilder sind keine ernst gemeinten Beiträge zum Diskurs über nationalkulturelle Unterschiede im Sinne der Imagologie; es geht diesbezüglich nicht um Aufklärung. Der Autor verwendet sie in ihrer Eigenschaft als Klischees, um psychische Wirkungen fehlerhafter Wirklichkeitserfassung aufzeigen zu können. Über eine Offenlegung von Wahrnehmungsdefiziten und den Erwerb authentischer Erfahrung zeigt Forster die Mängel englischer psychosozialer und soziokultureller Präformierung auf. Entscheidend ist ein Weg zu einem wahren Selbst und eigentlichen Ich als Voraussetzung für Glücksmomente mittels Interferenz durch Alterität. Im Zentrum von Forsters neohumanistischer Perspektive unter dem Motto ’Only connect’ steht die Idee einer Intensivierung zwischenmenschlicher Beziehungen. 2. Das im Text zentral verankerte Motiv der Reise als symbolhafte Umschreibung der Notwendigkeit von Wandel und dem Sicheinlassen auf Alterität hinterlässt durchgehend Spuren in der narrativen Darstellung. Unterschieden werden Reisen, deren Bilder konventionell, klischeehaft und damit wirklichkeitsfern und unergiebig in Bezug auf Einsichten sind von solchen, die als Ergebnis persönlicher Erfahrung in kontingenten Situationen durch Singularität und Authentizität der Eindrücke gekennzeichnet sind. 3. Philip Herriton durchläuft als Hauptfigur des Romans die bemerkenswertesten Wandlungen in seinen Italienbildern. Nach anfänglicher Italieneuphorie in der Rolle des Kultursnobs, die sich als Überlebensstrategie im heimischen sozialen Spannungsfeld erweist, stürzt er im ersten Wirklichkeitstest mit einem Italiener in tiefste Desillusionierung. Seine mangelnde Realitätsnähe als Ergebnis protestantischpuritanischer Sichtverengung geht einher mit des Autors Tourismuskritik. Narrativ ist die Dekonstruktion von Philips eskapistischem Italienbild notwendig zur Konstruktion eines neuen Bildes durch individuell-authentische Erlebnisse. 4. Bei der Konstruktion des neuen Italienbildes spielt die Landschaft die entscheidende Rolle. In einer ersten Stufe ‚registriert’ Philip lediglich Phänomene der Landschaft, die als Palimpsest fungiert. In einer zweiten Stufe, nach Selbstreflexion und Selbstkritik, nimmt er sie bewusst wahr; sie ist nicht nur Spiegel innenweltlicher Vorgänge, Indikator, Stimulans oder Ferment, sondern wirkt aktiv als Trägerin symbolisch verschlüsselter Botschaften. In einer dritten Stufe, die eine Phase des inneren Wandels und des Verstehens ist, gelangen Philip und Caroline 402 E.M. F ORSTER : W HERE A NGELS F EAR TO T READ Abbott durch Landschaft zu ungewohnter Erlebnisfähigkeit auf dem Weg zu Einsicht und Reifung. Forster verwendet verbale Landschaftsbilder narrativ als Agens, als tätiges, wirkendes Prinzip, und sie spielen die Rolle eines Sinnträgers bzw. einer Sinnbotschaft; Landschaft hat bei ihm eine wirkungsaktive, sinntragende Funktion. Als Anlass für ’visionary moments’ kann sie über ’transfiguration’, ’conversion’ und ’salvation’ den Weg zum Selbst und Ich zeigen. 5. Durch Auffinden personaler Identität in authentischen Erlebensmomenten, wie dies dem Protagonisten beim Opernabend in Monteriano zuteil wird, formuliert Forster seine Kritik am anglozentrierten Autostereotyp, das ein ’undeveloped heart’ und ’incomplete character’ billigend in Kauf nimmt und Jugend in England in Selbstentfremdung treibt. Anerzogene Gefühlsdisziplinierung führt zu unnatürlicher Trennung von Körper und Geist, wie bei des Helden Scheitern beim Formulieren einer Liebeserklärung offenbar wird. 6. Der Verlust an Natürlichkeit, Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit durch aufoktroyierte innerseelische Kontrollmechanismen führt zu einer Minderung ganzheitlichen Sehens und Empfindens. Das Erlebnis sinnenhaft erfahrener Körperlichkeit der beiden Hauptfiguren in Italien und damit einhergehend Augenblicke des Glücks und der Selbstfindung fungieren als Beleg Forster’scher Kritik. 7. Die Symbolhaftigkeit der Landschaft Italiens und ihre interaktive Korrelierung mit der Innenwelt kommt zum Tragen, wenn die individuelle Psyche mit dem Sensorium zu ästhetischer Rezeption ausgestattet ist. Relevant wird dann der Vorrang von Empathie vor berechnendem Kalkül, Einzigartigkeit vor Konvention, Wandel vor Immobilität, Zwischenmenschlichkeit vor Egozentriertheit, Lebensfreude vor lähmender Affektdisziplinierung. Der dunkle Wald und das Veilchenmeer als Verweise auf das Singuläre und Naturschöne, im engeren Sinne auf die ’terra incognita’ des weiblichen Körpers, sowie die toskanischen Burg- und Geschlechtertürme als phallische Symbole sind Zeichen einer ’weiblichen’ und ’männlichen’ Topografie der Landschaft mit der Botschaft zum Überwinden von Prüderie und emotionaler Sterilität in falsch verstandener Dualität infolge immobiler, trennender Polarisierung. 8. Trotz Forsters Verortung von Individuierung und Selbstfindung der beiden Protagonisten in der südlichen Landschaft durch ihr Sicheinlassen auf Alterität und ihre Akzeptanz des Kontingenten erweist sich Italien nicht als allgemein gültige Antwort auf die im Roman aufgeworfenen Fragen nach sinnerfüllter Lebensgestaltung, doch gehen von dem fremden Kultur- und Naturraum fruchtbringende Anregungen zur Veränderung aus, denen aus impliziter Lesersicht fermentierendsinntragende Wirkung beigemessen werden darf. 403 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.6 D.H. Lawrence: The Lost Girl 3.6.1 Diskursiv-biografischer Hintergrund und thematische Zielrichtung Mit der Veröffentlichung von The Lost Girl (1920) gewann D.H. Lawrence (1885-1930) den ersten und einzigen Literaturpreis (James Tait Black Memorial Prize) als offizielle Anerkennung. Die vorausgehenden acht Jahre als freier Schriftsteller waren eine schwierige Zeit aus wirtschaftlicher Sicht und aufgrund von Lawrences angeschlagener Gesundheit, vor allem aber wegen öffentlicher Anfeindungen während des Ersten Weltkriegs, er treibe Spionage für Deutschland, ein haltloser Vorwurf, denn er hatte “[...] a temperamental aversion to the character of the German, in whom he found a tiresome split between his animal nature and his spiritual. Lawrence first detects here the cleavage that he later saw in all modern men and not just certain nationalities.” 865 Diese Einstellung war freilich kein Hinderungsgrund für die Liaison mit Frieda Weekly, geb. von Richthofen, Schwester des später legendären Piloten Manfred von Richthofen, Ehefrau von Professor E. Weekly in Nottingham und Mutter mehrerer Kinder, eine Beziehung, die sie mit dem skandalumwitterten Verlassen des Ehemannes begann, in der ‚wilden’ Ehe, ihrer Scheidung und der Heirat Lawrences 1914 fortführte und trotz Krisen bis zu seinem Tod in Vence in Südfrankreich aufrecht hielt. Wenige Jahre danach schrieb sie: „Unsere Beziehung war weder eine Liebesgeschichte noch eine Leidenschaft [...]. Seine Liebe machte alle Beschämungen und Hemmungen, die Irrtümer und Nöte meiner Vergangenheit zunichte. Er erkämpfte mir die Freiheit meines Wesens, daß ich leicht wie ein Vogel leben konnte [aufgrund seines Bemühens], seine Mitmenschen von einer stumpfen, ausgedorrten Vergangenheit zu befreien.“ 866 In diesem Zitat ist das Leitmotiv in Lawrences bekannten Romanen - The White Peacock (1911), Sons and Lovers (1913), The Rainbow (1915), Women in Love (1920), Aaron’s Rod (1922), The Plumed Serpent (1926), Lady Chatterley’s Lover (1928) - angesprochen. Er war zutiefst von der Vorstellung einer schädlichen Diskrepanz zwischen der Lebensweise des westlichen Menschen und seinen wahren innenweltlichen Bedürfnissen durchdrungen, und dies in einem Maße, dass er sowohl gedanklich wie auch künstlerisch zu Ausdrucksformen fand, die oft Befremden und Ablehnung hervorriefen. Kangaroo (1923) beispielsweise ”[...] reflects his view of England as a country which has suffered a ’genuine debasement’ and is head- 865 L.D. Clark, The Minoan Distance - The Symbolism of Travel in D.H. Lawrence, The University of Arizona Press, 1980, 28. 866 Frieda Weekly, Nur der Wind...,1936, zit.n. Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, 1995, Bd. 3, 1746. 404 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL ing for cultural and political bankruptcy”. 867 Immer wieder thematisiert er seine Unzufriedenheit am Menschen der Moderne, sein wahres Inneres überhaupt zu kennen, zu sich selbst zu finden und in wesensmäßiger Übereinstimmung mit seiner Körperlichkeit zu leben; die Unterhaltungsindustrie mit dem Kino fördere zudem die kontinuierliche Selbstentfremdung: „In der modernen Präferenz des massenmedialen Simulacrums manifestiert sich für Lawrence die epistemologische Tiefenstruktur des Abendlandes, welche mit der präreflexiven Leiblichkeit und der Emotionalität ’the real thing’ aus ihrem Wissens- und Realitätskonzept ausklammert.“ 868 Konkret sagt er: ”Men are only free when they are doing what their deepest self likes.” 869 Erst die volle Akzeptanz des Körperlichen in der existenziellen Dualität des Menschen ist Voraussetzung für eine Gesundung der Psyche und ein Wiederauffinden seiner wahren Identität. Unter dem Einfluss Freuds stellte Lawrence eine „[…] Art Sexualphilosophie auf, bekämpfte die Überbewertung des Geistigen und der Askese, die Unterdrückung gesunder Sinnlichkeit als Zivilisationskrankheiten“ 870 , d.h. er baut „[…] eine Sexualphilosophie auf, die den Liebesakt als Urkraft des Lebens begreift und ihn als Basis einer wahren Beziehung wie auch als Möglichkeit zu innerer Regeneration sieht [...] angesichts der antithetischen Spannung zwischen Leben und Mechanisierung, den destruktiven Kräften von Industrialisierung und überbewerteter Rationalität [...]“. 871 Den Weg zur psychisch-emotionalen Rehabilitation des modernen Individuums verortet er in einer Therapie wiederentdeckter Leiblichkeit und ausgelebter Sexualität. Seine narrative Darstellung von Geschlechtlichkeit trug ihm oft den Vorwurf der Obszönität ein, den er herausforderte. Bei seinen Gemälden räumte er unverhohlen die Absicht der Provokation ein: “I put a phallus, a lingam you call it, in each of my pictures somewhere. And I paint no picture that won’t shock people’s castrated social spirituality.[...] the phallus is a sacred image,” 872 und über Lady Chatterley’s Lover schrieb er: ”[...] a nice and tender phallic novel - not a sex novel in the ordinary sense of the word - I sincerely believe in restoring the other, phallic consciousness, into our lives: because it is the source of all real beauty, and all real gentleness”. 873 Lawrence ist überzeugt, „[…] daß die Energien der ’phallic reality’ und der ’true nature’ [...] in einem diskursiv veränder- 867 Ousby, Cambridge Guide to Literature, 531. 868 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 493. 869 D.H. Lawrence, The Spirit of Place, zit.n. J.R. Watson, ’The country of my heart’: D.H. Lawrence and the East Midlands Landscape, in: Salgado/ Das, The Spirit of D.H. Lawrence, 19. 870 v. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 2, 875. 871 Harenberg: Lexikon der Weltliteratur, Bd. 3, 1746. 872 D.H. Lawrence, Brief vom 27.2.1927 an Earl Brewster, zit.n. Jeffrey Meyers, D.H. Lawrence and the Experience of Italy, 141. 873 D.H. Lawrence, Brief vom 15.3.1928, zit.n. Simonetta de Filippis, Lawrence of Etruria, in: Preston/ Hoare, D.H. Lawrence in the Modern World, 114. 405 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ten Universum als kreative Dynamik“ zum Tragen kommen 874 - und dies allerdings auch nur in diesem Rahmen tun sollten. Als Ursachen der Fehlentwicklung der Moderne macht Lawrence ein Konglomerat unterschiedlicher Kräfte verantwortlich: eine fehlleitende institutionalisierte Erziehung (neben seiner Schul- und Studienzeit in Nottingham stehen Einblicke in die akademische Welt in Cambridge), gesellschaftlicher Konformismus und Klassendenken, Mechanisierung und Massenproduktion, Materialismus und Gewinnstreben, Ausbeutung der Natur und Zerstörung ihrer Ursprünglichkeit, politische Gleichmacherei und Kosmopolitismus - im heutigen Diskurs Massengesellschaft und Globalisierung. Die Folgen sind aus seiner Sicht, dass „[…] der wissenschaftliche Blick die ganzheitliche Erfahrungswelt des Menschen in das Korsett von Kausalität, Rationalität und Berechenbarkeit zwängt“, 875 der Verlust an Spontaneität und Authentizität, an Individualität und Identität. Nur noch in Rückzugsgebieten, so beschrieben in Twilight in Italy und in Sea and Sardinia oder in zeitlichen Kulturnischen europäischer Vergangenheit, so in Etruscan Places, glaubt er authentische Ursprünglichkeit, wahre innere Freiheit und echte Lebensfreude zu finden. Zwei Schwerpunkte kristallisieren sich in Lawrences weit gespannter Gesellschafts- und Kulturkritik heraus: die Industrialisierung und das Christentum. Geboren in Eastwood/ Nottinghamshire, aufgewachsen in einer Bergmannsfamilie inmitten des Black Country, war er mit den negativen Begleitumständen des industriellen Wachstums bestens vertraut. Die geschundene Natur der Midlands mit ihrer deformierten Landschaft und dem allgegenwärtigen Ruß und Staub, den qualmenden Fabrikschloten, stampfenden Maschinen und übel riechenden Kanälen war anklagendes Symbol einer Ausbeutung der Umwelt, das symptomatisch für die Fehlentwicklung der modernen Welt steht. In The Lost Girl nutzt Lawrence die suggestive Wirkung verbaler Bilder der Industrielandschaft der Midlands, um das Unbehagen der Heldin an der Sterilität und Entfremdung des Lebens in Woodhouse zu artikulieren, das von Kohlehalden und Gießereien umgeben, in aschgrauen Staub und permanenten Schmutz eingehüllt ist. Den nachhaltigsten Vorwurf, zur Selbstentfremdung des Menschen durch Heranzüchten einer unterdrückten Gefühlswelt bei gleichzeitiger Überbetonung des Logos beizutragen, richtet Lawrence an das Christentum. ”Lawrence’s attack on Christianity in The Man Who Died is specifically directed against St. Paul’s emphasis on the division of the body and spirit and his belief that the flesh is the source of corruption.” 876 Der christlich-abendländischen Leibfeindlichkeit stellt er eine heidnischarchaische Ganzheitlichkeit des Körperlichen und Geistigen in imaginier- 874 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 432. 875 Ebd., 405. 876 Meyers, Lawrence and the Experience of Italy, 19. 406 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL ten Gegenwelten gegenüber, die als wegweisend, regenerierend oder sogar heilend dargestellt werden. Solche abgeschiedenen Welten als alternative Räume und Zeiten glaubt Lawrence noch in Regionen der Alpen oder auf Sardinien zu finden. Beim Anblick einer in ihre Arbeit am Spinnrad versunkenen alten Bäuerin in den Bergen Norditaliens sagt er, “Her world was clear and absolute“(’The Spinner and the Monks’, TI, 24), und das Bild eines alten sardischen Bauern in Tracht kommentiert er: “How beautiful maleness is, if it finds its right expression. - And how perfectly ridiculous it is made in modern clothes.”(SS, 61: ’Cagliari’) In etruskischen und mexikanischindianischen Lebensweisen oder auch in der präzivilisatorisch anmutenden Bergwelt der Abruzzen, wie er sie in dem fiktionalen Pescocalascio in The Lost Girl erstellt, sieht er noch ein Umfeld des Ursprünglichen und Natürlichen gewährleistet, das in der modernen Lebenswelt höchstens noch von kraftvollen, einzelgängerischen Individuen wie Rawdon Lilly in Aaron’s Rod, Oliver Mellors in Lady Chatterley’s Lover oder auch Alvina Houghton in The Lost Girl gegen den Strom des Konformismus geschaffen werden kann: Letztere geht kompromisslos ihren Weg zu selbst konstruierter Identität unter Inkaufnahme des Status einer ’sacred prostitute’. Lawrences ruhelose Ortswechsel und rastlose Reisetätigkeit waren Flucht vor einer als erdrückend empfundenen Realität und Suche nach dem Ort der erträumten Idealität eines friedvollen Zusammenlebens Gleichgesinnter, seinem ’Rananim’, “his Utopia“, 877 “The origin of [which] went back to Lawrence’s youth in Nottingham“. 878 Seine Reisen nach Deutschland, in die Schweiz, nach Italien, Sardinien, Ceylon, Australien, Neu-Mexiko, Mexiko und schließlich Frankreich waren letztendlich Erkundungen geistiger Freiräume, deren Genuss ihm in England vergällt war. So sind seine Reisebücher Twilight in Italy, Sea and Sardinia und Etruscan Places nicht der Beschreibung neuer Eindrücke gewidmet, sondern dem Aufspüren von Resten eines vorzivilisatorischen, vorchristlichen, vorindustriellen Zustandes der Natürlichkeit, in den Lawrence eine ganzheitliche Übereinstimmung des Ich mit seinem eigentlichen, wahren Selbst hineinprojiziert. ”Both men and women must journey into the unknown, and lose themselves, to discover the more vital, more fruitful lover that each is capable of becoming.“ 879 Lawrence war von der Idee besessen, durch den Panzer kultureller Überkrustung zum wahren Kern des Selbst vorzudringen: “[…] the conscious self is an obstinate monkey.[...] you must first 877 Chong-Wha Chung, In Search of the Dark God: Lawrence’s Dualism, in: Preston/ Hoare, Lawrence in the Modern World, 86, Notes 1. 878 Meyers, Lawrence and the Experience of Italy, 19. 879 Gary A. Wiener, Lawrence’s ’Little Girl Lost’, in: The D.H. Lawrence Review, 1987 Fall, 19/ 3, 250. 407 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG break the spell of the old mastery, the old IT [sic]”. 880 Enttäuschungen über die gedanklich überhöhten Räume blieben nicht aus: ”As for the Italians, scant weeks after The Lost Girl was completed, he wrote that they were really low-bred swine nowadays: so different from what they were.” 881 Nicht nur Unverständnis, sondern heftigste Vorwürfe trug ihm sein antiquiert wirkendes Frauenbild insbesondere seitens der feministischen Literaturkritik ein, denn er propagierte, wie Gissing, die Unterordnung der Frau unter männliche Dominanz. Jedoch, ”Lawrence rightly maintains that the centrally opposed images of woman as Angel or Whore (and their derivatives) are a product [...] of the male imagination. And he correctly insists that what the varying images have in common is that they leave the woman out, a woman who has the ’real natural fulness of a human being’.” 882 Aus dieser Perspektive “Alvina and her entire journey through the sexual landscape of The Lost Girl can be described fairly as the search for a man who will not wilt, a man who can embody her unarticulated requirements of manhood”. 883 Lawrences Idee von der Selbstbestimmung der Frau und ihrer Befreiung aus gesellschaftlichen Normen durch Wahrnehmen des Körperlichen in der Sexualität mündete paradoxerweise, wie bei Gissings Emanzipationsvorstellung, in die Akzeptanz einer männlichen Führungsrolle ein (vgl. 3.4.3.4). Als ähnlich kontrovers und missverständlich erwies sich Lawrences Begriff des ’blood knowledge’ und ’blood consciousness’ als Opposition gegen die Überbewertung des Intellekts: “[…] what our blood feels and believes and says is always true“. 884 Kritiker warfen ihm vor, er sei ”[...] a reactionary, preaching a return to primitive life forms and idealizing blood sacrifice,[...] inherently close to the fascist conception of society. Lawrence’s views are easily misunderstood, but what they represent is a private dream rather than a political plan or design [...].” 885 In The Lost Girl wird offenkundig, dass Lawrences Interesse primär weder auf Politik, Kultur und Gesellschaft gerichtet war, sondern auf den Menschen in seiner Inividualität. Für Alvina geht es allein um “[…] die Bedingung der Möglichkeit ihrer 880 Marilyn Adler Papayanis, Italy’s Best Gift: D.H. Lawrence and the Ethos of Expatriation, in: Literature Interpretation Theory (New York: Gordon & Breach), 14(4), Oct-Dec 2003, 295. 881 Phillip Herring, Caliban in Nottingham: D.H. Lawrence’s The Lost Girl, in: Mosaic: a journal for the interdisciplinary study of literature and ideas, Winnipeg, Manitoba: University of Manitoba Press, 12/ 1979, 17. 882 H.M. Daleski, Lawrence and George Eliot: The Genesis of The White Peacock, in: Meyers, D.H. Lawrence and Tradition, 52.(vgl. dazu Fußnote 790). 883 Peter Balbert, Ten Men and a Sacred Prostitute: The Psychology of Sex in the Cambridge Edition of The Lost Girl, in: Twentieth Century Literature - a scholarly and critical journal, 36/ 1990, 386. 884 D.H. Lawrence, Letter to Ernest Collings, zit.n. Leo Hamalian, D.H. Lawrence in Italy, 15. 885 Hamalian, Lawrence in Italy, 16. 408 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Selbstfindung - besser: ihrer Selbstkonstruktion oder Selbstkonzipierung.“ 886 3.6.2 Drei Landschaftsbilder als Gegenstand der Untersuchung 3.6.2.1 Der Weg zu Pancrazios Haus: Die Ursprünglichkeit der Natur als Herausforderung und großartiges Erlebnis Pescocalascio, das Heimatdorf Ciccio Marascas, anfänglich Liebhaber und dann Ehemann Alvina Houghtons, liegt irgendwo in den Abruzzen zwischen Rom und Neapel. Der Text macht keine genaueren Angaben zur geografischen Lage, wohl aber zu den klimatischen Bedingungen, zur topografischen Beschaffenheit und zur Vegetation. Gegen Ende des Romans, nachdem sich die Schaustellertruppe der Natcha-Kee-Tawaras in Erwartung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs aufgelöst hat, wirft sich Alvina Houghton, unmittelbar vor ihrer bevorstehenden Heirat mit dem wohlhabenden Arzt Dr. Mitchell, in die Arme des mittellosen Ciccio, bricht damit und durch ihre Ehe mit dem italienischen Wanderschausteller die Brücken zur bürgerlichen Welt in England ab und begibt sich mit ihm nach Italien. Ziel und einzige denkbare Bleibe ist das Haus Pancrazios, eines sechzigjährigen, verwitweten und allein lebenden Onkels Ciccios in dem winzigen Weiler Califano mit drei Gebäuden inmitten von Weinbergen und Maisfeldern. Ciccio besitzt etwas Land aus väterlichem Erbe, aber kein sonstiges Eigentum; Vorstellungen über eine Zukunftsplanung hat er nicht. Eigentlich hatte Alvina das erste Oktoberwochenende 1914 allein und zur Entspannung in Scarborough verbringen wollen, um nicht ganz von den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit mit Mitchell in Lancaster in Beschlag genommen zu werden. Sie verlebt drei wunderschöne Tage mit Wanderungen - “[…] it was all so sweet and lovely - perfect liberty, pure, almost paradisal“(LG, 284) -, doch als sich tags darauf das Wetter verschlechtert, schickt sie ein Telegramm an Ciccio und trifft ihn kurze Zeit danach. Anfänglich sträubt sie sich vor einer Italienreise, zumal er ihre Frage, sie betreffend, ausweichend beantwortet: ’Why I want you? ’ He gave a curious laugh, almost a ridicule. ‘I don’t know that. You ask me another, eh? ’ [...] he had a strange mesmeric power over her, as if he possessed the sensual secrets, and she was to be subjected.[...] Why didn’t she revolt? Why couldn’t she? She was as if bewitched. She couldn’t fight against her bewitchment. Why? Because he seemed so beautiful, so beautiful. And this left her numb, submissive. 886 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 421. 409 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Why must she see him beautiful? Why was she will-less? She felt herself like one of the old prostitutes: a sacred prostitute.(LG, 287f.) Was der Text als erstaunlichen Sachverhalt über die Protagonistin wiedergibt, ist kein pathologischer Befund - wenngleich die Leute aus Woodhouse und Lancaster einer solchen Auffassung vorbehaltlos zugestimmt hätten -, sondern seine Erklärung dafür, weshalb eine gut aussehende, junge Frau mit den besten Aussichten auf gute gesellschaftliche Positionierung auf den Gedanken kommt, alles aufzugeben, um einem zehn Jahre jüngeren, wohnsitzlosen Ausländer zu folgen. Für Lawrence ist Alvina keine enthemmte Persönlichkeit mit Therapiebedarf, obgleich ihr Willensverlust und Unterwerfungsgebaren eine gravierende Form der Persönlichkeitseinschränkung darstellen: “He loved her - but it was in a dark mesmeric way, which did not let her be herself.“(LG,288) Es geht um das Warum der faszinierenden Wirkung, die der ungebildete und keineswegs galante, aber auch nicht besonders aufdringliche junge Mann aus dem südlicheren Italien auf die behütet aufgewachsene und sorgfältig erzogene Alvina ausübt. Den Schlüssel zur Antwort legt der Autor in die Landschaft Italiens. In der zitierten Textstelle zeigt die Verwendung psychologisch sondierender Stilmittel, dass das Verständnis der Leser für das Ungewöhnliche in Alvinas Verhalten geweckt werden soll. Dem direkten Austausch an Argumenten im dialogischen Gegenüber folgt die Schilderung bestürzender innenweltlicher Vorgänge in erlebter Rede durch vier rhetorische, anaphorisch eingeleitete Fragen mit fünfmaligem Rückgriff auf ’why’ und durch das drastische Bild der heiligen Hure. Die Eindringlichkeit der bohrenden Fragen mit ihren insistierenden Wiederholungen und Parallelismen leuchtet dramatisch die psychische Befindlichkeit der Protagonistin aus, die zwischen offenkundiger Ratlosigkeit über ihr widersinnig erscheinendes Verhalten und hypnotisch-lähmender Faszination oszilliert: “Was it atavism, this strange, sleeplike submission to his being? [...] She was drugged.“(LG, 288) Die Bedeutung der Folgewirkungen wird dadurch keineswegs abgemildert: Sie begibt sich nicht lediglich auf eine Reise, sondern sie bricht physisch, geistig und emotional mit ihrem gesamten Umfeld und bisherigen Leben. Der Ortswechsel von Lancaster, Alvinas letztem Tätigkeitsort als Hebamme im Krankenhaus, nach Pescocalascio vollzieht sich in Abschnitten. Dazwischen liegen Scarborough und London, und es folgen die Reiseetappen nach Folkestone, Boulogne, Paris, Genua, Pisa und Rom in Richtung Neapel. Die Mittel der Fortbewegung sind der Zug, das Schiff, dann wieder der Zug bis zu den Albaner Bergen, danach der Linienbus hinauf nach Pescocalascio, von da an der zweirädrige Pferdekarren, schließlich der Esel als Tragtier und der Fußmarsch zu Pancrazios Haus. Was den Reiseverlauf von Charing Cross in London bis hierhin kennzeichnet ist, dass er immer langsamer und beschwerlicher, die Transportmittel immer einfacher und primitiver werden. In Lawrences symbolischem Sinnkontext, 410 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL über den eingehend zu reden sein wird, ist dieser Umstand ebenso relevant wie die Tatsache, dass sich die Reise von der Helle des Tages in eine zunehmende Dunkelheit vollzieht. Die Bahnfahrt endet noch bei Tag, aber im Omnibus beginnt schon die Dämmerung, die Weiterfahrt mit dem Pferdekarren erfolgt ohne Licht in der hereinbrechenden Dunkelheit, und der Gang mit dem Esel findet im Schein einer Laterne statt, bis endlich Pancrazios Haus in Umrissen auftaucht, aber “[…] it was all dark“.(LG, 309) Das einzige erkennbare Licht ist der Sternenhimmel. Was sich vor den Augen der Leser entrollt, ist ein unkonventionelles Landschaftsbild, das so gut wie nichts mit den in Literatur, Kunst und bildungsbeflissenen Reiseführern tradierten Bildern italienischer Naturdarstellung zu tun hat: The sun was already slanting to the mountain tops, shadows were falling on the gulf of the plain. The omnibus charged at a great speed along a straight white road [...]. By the road-side, peasant men in cloaks, peasant women in full-gathered dresses with white bodices or blouses having great full sleeves tramped in the ridge of the grass, driving cows or goats, or leading heavily-laden asses. The women had coloured kerchieves on their heads [...]. At a branch-road the bus suddenly stopped, and there it sat calmly in the road beside an icy brook, in the falling twilight. Great moth-white oxen waved past, drawing a long, low load of wood, the peasants left behind began to come up again, in picturesque groups. The icy brook tinkled [...] - and a sharp air came in. High overhead, as the sun went down, was the curious icy radiance of snow mountains, and a pinkness, while shadow deepened in the valley.(LG, 303) Mehrere Kennzeichen konstituieren dieses literarische Landschaftsbild. Das auffallendste Merkmal ist der markante Gegensatz zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten: ’white road’, ’white bodices’, ’coloured kerchieves’, ’moth-white oxen’, ’radiance’ und ’pinkness’ kontrastieren mit ‘shadows were falling’, ’men in cloaks’, ’falling twilight’, ’the sun went down’, ’shadow deepened’. Alvina betritt eine italienische Naturszenerie, die nicht in den Klischees von strahlender Sonne, blauem Himmel und milder Luft ihre Eigenart zeigt und die zudem erst in der Dämmerung das für sie Charakteristische sichtbar werden lässt. Im Rahmen der kargen topografischen Merkmale - Bergspitzen, Ebene, Gebirgsbach und Tal - sind es die Bauern und ihre Frauen in schweren Mänteln und Röcken, die Kühe, die Ziegen, die schwer beladenen Esel und kraftvollen Zugochsen, die dem Bild der Landschaft ihren Stempel aufdrücken. Auf diese Menschen und Tiere, in arbeitsamer Symbiose verbunden, nimmt der Text immer wieder als Hinweis auf ihre enge Verbindung mit dieser Natur Bezug. Sie sind in ihrer Bodenständigkeit mit dieser rauhen Landschaft, ihrem eisigen Bergbach, der kalten Luft und den Schneebergen gleichsam verwachsen. Das Leben an diesem Ort ohne nervöse Hektik und verweichlichtes Anspruchsdenken geht seinen Gang im Einklang mit einer Umwelt, die 411 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG durch scharfe Konturen geprägt ist und die Menschen dementsprechend formt. In der Art ihrer Beschreibung strahlt diese Landschaft eine in sich ruhende Kraft aus, die sich mit dem herben Reiz ihrer natürlichen Schönheit zu einem beeindruckenden Erlebnis für denjenigen verbindet, der für das Ursprüngliche und Authentische empfänglich ist. Ciccio Marasca ist in dieser Landschaft aufgewachsen, und nach ihrer deskriptiven Darstellung wird offenkundig, dass er in seinem Äußeren wie auch in seinem Verhalten von ihren Merkmalen geprägt ist. Alvina sieht in Ciccios Körper und Gesichtszügen eine sie betörende Schönheit als Folge ursprünglicher Natürlichkeit, was freilich ihren weitgehenden Verlust an Selbstbestimmung und Willenskraft zur Folge hat. Auf ihrer Flucht vor der Sterilität eines englischen Lebensentwurfs in bedrückenden Konventionen und verkümmerter Sensualität entrichtet sie den hohen Preis der Entfremdung nicht nur von ihrem heimischen gesellschaftlichen Umfeld, sondern auch von dem ihr anerzogenen Selbstbild: Ciccio lässt sie nicht sie selbst sein, wie der Text formuliert, und so wird sie zum ’lost girl’ in mehrfacher Hinsicht. Die schon angesprochene Verlangsamung und Verzögerung des detailliert geschilderten Reiseverlaufs - die Darstellung bis zum Eintreffen am stockfinsteren Haus umfasst acht Textseiten - wirkt wie die Reise an einen vergessenen Ort und in eine vergangene Zeit. Mit keuchendem Motor arbeitet sich der Bus, einem Bergsteiger vergleichbar, Kehre um Kehre an immer neuen Schluchten und Felshängen vorbei nach oben, bis als nicht hintergehbare Markierung des Ziels und wie Zeichen aus einer fernen Welt die weißen Schneefelder der Berggipfel in der Dämmerung auftauchen. Ein verwegen aussehendes Bergdorf, “A wild little village“, ist immer noch nicht Endstation, sondern lediglich Haltestelle für einen “tall, handsome mountain youth“ (LG, 304). Erst auf der Passhöhe, eingeklemmt zwischen Felsen, kommen ein Marktplatz und eine Kirche inmitten erbärmlich aussehender Häuser ins Blickfeld: Es ist Pescocalascio. Nach kurzer Stärkung im ’Post Restaurant’ geht die Reise mit Pferd, Zweiradkarren und einem Fuhrmann weiter. It was icy cold, with a flashing darkness. The moon would not rise till later.[...]. The wind was cold, the stars flashed. And they rattled down the rough, broad road under the rocks, down and down into the darkness.(LG, 305) Vorbei geht die Fahrt an einem grellroten Feuer, an dem Frauen Wäsche kochen, durch finstere Waldstücke bis zu einem Torbogen, der den Endpunkt des Weges mit dem Karren und symbolisch das Verlassen der zivilisatorisch-neuzeitlichen Welt markiert; von hier aus ist es noch eine Meile zu Fuß und mit einem Esel als Lasttier. Das Erstaunliche ist, dass Alvina die Unannehmlichkeiten der Reise, die sich in ihrer letzten Phase geradezu häufen und zuspitzen, mit verblüffendem Gleichmut erträgt. Sie ist hungrig, aber nicht müde, isst klaglos im Gehen ein Stück trockenes Brot - in Ermangelung anderen Proviants - 412 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL und fragt mitfühlend, ob der Esel nicht an Wasser gewohnt sei, da er das Überqueren des Bergbachs verweigert. An keiner Stelle des Textes kennzeichnen Ungeduld, Verärgerung oder gar Bedauern angesichts der körperlichen Strapazen ihre Gefühle, obwohl sie in England einen ganz anderen Lebensstil gewohnt war. Erstaunlicher aber noch ist, dass Alvina an den Einschränkungen in Bezug auf Sauberkeit und Hygiene, die sie auf dem Weg zu Pancrazios Haus in Kauf nehmen muss, keinen Anstoss nimmt, da sie doch aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung dafür sensibilisiert worden sein muss. Das ’Post Restaurant’ erweist sich als [...] a little hole with an earthern floor and a smell of cats. Three women were sitting over a low brass brazier, in which charcoal and ashes smouldered. Men were drinking. Ciccio ordered coffee with rum - and the hardfaced Grazia, in her unfinished head-dress, dabbled the little dirty coffeecups in dirty water, took the coffee-pot out of the ashes, poured in the old black boiling coffee three parts full, and slopped the cup over with rum. Then she dashed in a spoonful of sugar, to add to the pool in the saucer, and her customers were served.(LG, 304f.) In Bezug auf Sauberkeit und Umgangsformen als Regulative des sozialen Miteinanders lässt die Wirtin, gemessen an nordeuropäischen Standards, beträchtliche Defizite erkennen und reiht sich nahtlos in die Phalanx der “hard-faced mountain women“ (LG, 304) ein, die Alvina wiederholt dadurch auffallen, dass sie von ihnen, wie von den Männern im Übrigen auch, durchdringend prüfend angestarrt wird. Die Szenerie weckt Assoziationen an überirdisch-magische Stimmungslandschaften - mit drei alten Frauen als Hexen über glimmendem Feuer, umgeben von Katzen und düsteren Männergestalten im Halbdunkel -, die symbolisch den Eintritt in eine präzivilisatorisch-archaische Welt andeuten. Von Anfang an fühlt sich Alvina als Außenseiterin und sieht sich einer enormen psychischen Herausforderung gegenübergestellt: “Alvina felt as if she were in a strange, hostile country, in the darkness of the savage little mountain town.“(LG, 305) Es ist nicht nur das unerwartet rauhe Klima der Berglandschaft, das sie in eine fremde Welt versetzt, sondern auch die Menschen in ihrer ungeschliffenen, aus dieser harten Natur erwachsenen Art, jedem Neuankömmling mit Misstrauen zu begegnen. Sie beginnt die Diskrepanz der Lebenswelten in England und Italien zu begreifen, und ihre emotionale Schlussfolgerung ist, dass die Unterschiede nicht nur gradueller, sondern essenzieller Art sind. Sie stellen eine Grenzüberschreitung in eine neue Welt dar, in der sie ohne gewohnte Orientierung ist: “She felt she was quite, quite lost. She had gone out of the world, over the border, into some place of mystery. She was lost to Woodhouse, to Lancaster, to England - all lost.“(LG, 306) Das Schlüsselwort ’lost’ evoziert Bedauern und Mitgefühl als Leserreaktion über eine vermeintliche Fehlentscheidung der Heldin, doch eine solche Aussagedeutung greift zu kurz. Der Text formuliert rhetorisch 413 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG wirkungsvoll -“[…] lost to Woodhouse, to Lancaster, to England“ -, dass eine Verbindung zu ihrer früheren Welt nicht mehr existiere, aber es geschieht in geradezu triumphierendem Ton, aus dem herauszuhören ist, dass von englischer Seite kein Anspruch mehr auf Alvinas Lebensgestaltung besteht. Das ’Aus-der-Welt-Gehen’ ist nicht als ein ’Verloren-Sein’ im Zustand der Hilf- und Orientierungslosigkeit zu sehen, sondern als Chance zum Neubeginn in einem “place of mystery“. Lawrence geht es darum, über die Besonderheit des Ortes, den ’genius loci’, den potenziellen Einstieg in eine gänzlich neue Lebensorientierung zu umschreiben. Als charakteristische Merkmale dieses Raumes stellt die Schilderung folgende Aspekte heraus: Seine Distanz zur modernen Zivilisation, die sich u.a. in der immer wieder verzögernden Erreichbarkeit räumlicher Ziele manifestiert; die auffallende Betonung der Dunkelheit; das unerwartet rauhe Klima mit kalter Luft und eisigen Bächen; die harten Lebensbedingungen fern eines klischeemäßigen ’dolce fare niente’ oder gar ’dolce vita’; das ungeschliffene Verhalten der Einheimischen als Folge harter Lebensbedingungen. Es gibt drei Gemeinsamkeiten dieser Merkmale, die der Text durch die Häufigkeit und die Verwendung entsprechender Lemmata hervorhebt: Sie werden durch die Schlüsselwörter ’wild’, ’darkness’ und ’wonderful’ benannt, Vorstellungskerne von Naturhaftigkeit, Dunkelheit und Schönheit, die im Lawrence’schen Begriff von Ursprünglichkeit subsumiert werden können. In der analysierten Textstelle als Grundlage für dieses Kapitel der Untersuchung erfolgt ein sechsfacher Zugriff auf die Vokabel ’wild’ bzw. ’savage’ beim Bezug auf Landschaft oder Ortschaften. Die hier erkennbar werdende Vorstellung von Wildheit umschreibt Naturnähe, Unverfälschtheit und in sich ruhende Vitalität. Es werden zugleich kontrastive Assoziationen aufgerufen, die beim Gedanken an Alvinas Biografie unwillkürlich ins Spiel kommen. Wildheit im beschriebenen Sinne ist das Gegenteil von gesellschaftlichen Konventionen, zivilisatorischen Annehmlichkeiten, geregelten Abläufen und organisierten Perspektiven, die das Leben der Heldin in England steuerten. So stellt sie beim Anblick der nächtlichen Berge, Felsen und Sterne mit Verwunderung fest: “I didn't know it was so wild! “ (LG, 305). Auf Ciccios ängstliche Frage, ob es ihr hier gefalle, sagt sie überraschend: ’I think it’s lovely - wonderful,’ she said, dazed. He held her passionately. But she did not feel she needed protecting. It was all wonderful and amazing to her. She could not understand why he seemed upset and in a sort of despair. To her there was magnificence in the lustrous stars and the steepnesses, magic, rather terrible and grand.(LG, 306) Was Ciccio bekümmert, ihm sogar ausweglos erscheint und einen Schutzreflex auslöst, wie seine Körpersprache mitteilt, ist seine Sorge, dass die rauhe Landschaft und das harte Klima ihr Angst einflößen könnten. Das ist 414 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL jedoch keineswegs der Fall, denn das Gewaltige und Ungewöhnliche der Natur, wie es in den steilen Felsen und dem blinkenden Sternenhimmel zum Ausdruck kommt, ist zwar Anlass zu Erschrecken, das aber nicht in Angst resultiert, sondern in Staunen über die Großartigkeit und Erhabenheit dieser Natur. Hatte sie bei der Fahrt im Omnibus den Anblick der Bauern in schwerer Kleidung und mit Tieren am Wegesrand noch als ’picturesque groups’ in der Sehgewohnheit Gilpins wahrgenommen, so erlebt sie die dunkle Landschaft in den Bergen als herrlich und grandios, vor allem als Ausdruck des Erhabenen, das, nach Burke, Verstandeskräfte lähme und Denken unmöglich mache (vgl. 1.2.5). Alvina lernt in Italiens Landschaft eine gänzlich neue Welt sinnhaften Empfindens der Natur kennen, denn an keiner Romanstelle hatte sie bislang, wenn es um Außenwelt ging, zu ähnlicher Erfahrungsintensität gefunden. Sie fühlt sich von ihren Sinneswahrnehmungen überwältigt und benommen, in höchstem Maße erstaunt und wie verzaubert. Überraschenderweise ist sie zunächst auch wenig durch die allgegenwärtige Kälte beeindruckt. Die Reise nach Pescocalascio findet im November statt, und ständige Hinweise auf fröstelnde Temperaturen passen so gar nicht in ein in der Lesererwartung existierendes Bild süditalienischer Außenwelt. Da ist die Rede von “an icy brook“, “the curious icy radiance of snow mountains“, von eisiger Luft, kaltem Wind und der kalten Nacht: “It was icy cold“ in “the chill darkness“ entlang des Bergbachs, der “glacialsounding“(LG, 303ff.) dahinfloss, und “It was freezing, the mountain highroad was congealed“(LG, 308). In den Gaststätten steht in der Mitte des Raumes ein befeuertes Kohlebecken, aber die Bauersleute legen weder ihre schwere Kleidung noch ihre Hüte ab, wenn sie einkehren. In gleicher Weise müsste das Dunkel, in dem sich die beiden Reisenden seit ihrer Ankunft bewegen, abschreckend auf Alvina wirken, zumal der Unterschied zwischen Licht und Dunkel geradezu auffallend immer wieder verbalisiert wird. Innerhalb des analysierten Textauszugs lassen sich zweiunddreißig Bezüge auf das semantische Feld ’Dunkelheit’ feststellen, davon fünfzehn auf das Schlüsselwort ’darkness’ selbst, elf auf Adjektive und Adverbien als Glieder dieses Wortfeldes - ’dark’, ’darkly’, ’dim’, ’dimly’, ’black’ - und sechs auf substantivische Glieder, so auf ’shadow’, ’hole’, ’cave’, ’blackness’. In markanter Kontrastierung sind zweiundvierzig Bezüge auf das semantische Feld ’Licht’ auszumachen, davon sieben auf die Adjektive ’white’, ’lighted’, ’coloured’, acht auf ’stars’ und ’starlight’, dreizehn auf ’lamp’ und ’lantern’, fünf auf ’radiance’, ’sun’, ’pinkness’, ’brilliance’, ’magnificence’, neun auf Begriffe für Feuerstellen wie ’brass brazier’, ’light’, ’fire’: Es sind bildhafte Umschreibungen realer und übertragener Wegweisung in unvertraute Gefilde. Der Text, so der Gang der äußeren Handlung, insistiert auf dem Umstand, dass sich Alvina in Italien zunächst in die Dunkelheit begibt - für Lawrence ein symbolisch hochbedeutsamer Akt. Der Pferdekarren 415 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG rumpelt den Berg hinab “[...] without any light but that of the stars, [...] to the gulf of darkness below. Down in the darkness into the darkness they rattled, wildly, and without heed [...].“(LG, 305) Mehrfache Alliteration, kraftvolle Rhythmik und die auffallende Stilfigur der Epanalepse erzeugen einen pathetischen Ton bei kompakter Aussagedichte, die stimmungsmäßig an die vorchristlich-heidnische Zeit des Heldenepos erinnern. In übereinstimmender Symbolik werden das Tageslicht und die künstlichen Lichtquellen wie Feuer, Kohlebecken und Laternen spärlicher und schwächer; am Ende steht die grandiose Pracht des funkelnden Sternenhimmels als großartiges Erlebnis. Hier spätestens sind die symbolischen Bezugnahmen auf eine archaisch anmutende Welt unübersehbar. Alvina hat sich mit ihrer selbst gewählten Außenseiterposition als ’lost girl’ in ein metaphorisches Dunkel begeben, aber in Italien stellt sich dieses ’Verloren-Sein’ anders dar, weil auch hier die Dunkelheit einen anderen Sinnbezug hat. Hier umschreibt sie nicht Hoffnungslosigkeit, Furcht oder Verderben, sondern Eintritt in eine neue Welt kraftvoll-vitaler Ursprünglichkeit und ästhetisch-sinnlichen Erlebens. Als Belohnung gleichermaßen für ihren Mut zum Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen in ihrem Heimatland wird Alvina in der Naturlandschaft Italiens durch ästhetische und emotionale Eindrücke belohnt, die sie in der englischen Landschaft hinsichtlich Intensität und Authentizität nie erlebt hatte. Auf ihrer Suche nach einem erfüllteren Leben mit Akzeptanz des Sinnlichen und Sexuellen ist die Erfahrung des Naturhaften in der rauhen Landschaft kein Hindernis, sondern Bedingung und Kern des Erlebens von Großartigkeit, wobei Dunkelheit in noch tieferer Symbolschicht die Sphäre des Unbewussten darstellt: Ursprünglichkeit und Dunkelheit bezeichnen den Eintritt in die von Lawrence gesuchte Welt befreiender Sinnlichkeit und Sexualität: So wird Alvina im völlig lichtlosen Raum in Pancrazios Haus in ihrer ersten Liebesnacht mit Ciccio in Italien konkret mit glückhaftem sexuellem Erleben belohnt, weil sie, wie schon zuvor mit ihm in England, gleichsam gewollt in ihr Unbewusstes vordringt: “[He] sent her completely unconscious again, complete unconscious.“(LG, 313) 3.6.2.2 Die Winterlandschaft bei Pescocalascio: Die Dichotomie von Schönheit und Grausamkeit als Umschreibung authentischer Naturhaftigkeit Den Beginn des fünfzehnten und vorletzten Romankapitels, nach Alvinas Ankunft in Pescocalascio bzw. Califano, dem winzigen Gehöft aus drei Häusern mit Pancrazios Haus als Mittelpunkt, das einen einstündigen Fußmarsch vom Dorf und immer noch zehn Minuten vom nächsten Weiler 416 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL mit seinen paar Häusern entfernt ist, leitet der Text mit der lapidaren Feststellung ein: There was no mistake about it. Alvina was a lost girl. She was cut off from everything she belonged to. Ovid isolated in Thrace might well lament. The soul itself needs its own mysterious nourishment. This nourishment lacking, nothing is well.(LG, 314) Alvinas Zustand des Verloren-Seins bezeichnet den Verlust von Bindungen, die den Status eines Individuums als ’social being’ begründen: Bindungen an Familie, Beruf, Freunde und Bekannte, an gesellschaftlichen, religiösen oder politischen Hintergrund, an die Region und das Land; in Pescocalascio existiert all dieses nicht für sie. Dieser Sachverhalt wird nachhaltig in das Leserbewusstsein gerückt. Das vorhergehende Kapitel endet mit folgender Darstellung: What would she do, where should she flee? She was lost - lost - lost utterly. The knowledge sank into her like ice. Then deliberately she got out of bed, and went across to him [Ciccio]. He was horrible and frightening, but he was warm.(LG, 313) Hervorzuheben an dieser dramatischen Schilderung innenweltlicher Befindlichkeit im Wechsel von erlebter Rede und allwissender Beschreibung ist die Tatsache, dass die Heldin selbst zur Erkenntnis gelangt, völlig abgeschnitten und somit verloren zu sein. Sie empfindet diesen Zustand als höchst problematisch und sucht gedanklich nach Auswegen und Fluchtmöglichkeiten. Der Akt leidenschaftlicher sexueller Vereinigung, in dem die Wärme aus Ciccios Körper sie durchdringt und Abneigung und Furcht vor ihm im Sinnesrausch völlig verdrängt, verhindert jede rationale Schlussfolgerung, da das Verstandeskalkül ausgeschaltet ist. Die reale wie metaphorische Dunkelheit, in der sich Alvina befindet, erweist sich freilich gleichermaßen als Verlust und als Gewinn. Die semantische Gegensätzlichkeit von Eis und Kälte bzw. Wärme und Liebesakt umschreiben symbolisch die Vorstellungen von Tod und Leben. Alvina hat durch den Bruch mit ihrer englischen Lebenswelt ihren sozialen Tod im dortigen Umfeld eingeleitet, der in Italien zur Voraussetzung für ein neues Leben in authentischer Sinnlichkeit durch die befreiende Erfahrung der Sexualität wird. Dem Eindruck, dass für Alvina damit zumindest vorläufig die Welt in Ordnung sei, tritt der Text mit der Aussage entgegen, dass die Seele ihre geheimnisvolle Nahrung brauche, ohne die nichts in Ordnung sei. Diese Nahrung kommt aus vielfältigen Bindungen an die Umwelt, die Alvina in England alle aufgegeben hat und die sie nun neu aufbauen muss. Umwelt im konkretesten Sinne ist die Außenwelt als sichtbare Natur in Gestalt der Landschaft, aber selbst der Aufbau dieser Art neuer Beziehungen erweist sich als schwieriger Prozess. At Pescocalascio it was the mysterious influence of the mountains and valleys themselves which seemed always to be annihilating the English- 417 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG woman: nay, not only her, but the very natives themselves. Ciccio and Pancrazio clung to her, essentially, as if she saved them also from extinction. It needed all her courage. Truly, she had to support the souls of the two men. At first she did not realise. She was only stunned with the strangeness of it all: startled, half-enraptured with the terrific beauty of the place, halfhorrified by its savage annihilation of her.(LG, 314) Das Unerwartete dieser Landschaft ist, dass sie keinesfalls die dringend erforderliche ‚geheimnisvolle Nahrung’ für die Seele anbietet, sondern ’extinction’ und ’annihilation’ androht. Dies gilt für Alvina und selbst für Ciccio und Pancrazio, die beide im Ausland lebten und keine innige Beziehung zur Region haben, obwohl sie hier Land und Haus besitzen. “It isn’t my home,“(LG, 308) sagt Ciccio unumwunden, womit er seine Distanz zu dieser Umwelt umschreibt. Alvina kommt in die merkwürdige Lage, nicht nur selbst dem Einfluss einer mächtigen Außenwelt ausgesetzt zu sein, sondern den beiden Einheimischen mit ihren rudimentären Bindungen an eine auswärtige Lebenswelt durch ihre Anwesenheit psychischen Beistand gegen eine gewaltige und gewalttätige Natur zu geben. Die Berge und Täler scheinen in einer animistisch verfassten Ordnung einen personalen Gegenpart zu den Menschen darzustellen und entweder deren Unterwerfung, wie im Falle der Bergbauern, oder Vernichtung, wie im Falle der Eindringlinge und Unangepassten, anzustreben. Die seltsame, dichotomische Eigenart dieser Landschaft erfüllt die Heldin mit Entzücken ob ihrer Schönheit und mit Entsetzen ob ihrer urwüchsigen Kraft und ihres Zerstörungswillens. Ziel der destruktiven Intention dieser Naturlandschaft ist das Innere des Menschen, seine uneigentlichen, nicht authentischen Empfindungen und Vorstellungen. Es bedarf all des Mutes, den Alvina durch ihr Bewusstsein einer eigenständigen Identität mobilisieren kann, um dem Einfluss der urtümlich anmutenden Kraft dieser nicht domestizierten Natur zu widerstehen. Es hat den Anschein, als wolle sie eine nur wenig entwickelte, eine unsichere und nicht fest verwurzelte Individualität ästhetisch durch ihre beeindruckende Gestalt und physisch durch die Wucht ihrer massigen Erscheinung regelrecht erdrücken und eliminieren. Begreift man eine psychisch stabile Innenwelt als austariertes Gleichgewicht von Bindungen an und Einflussnahmen durch die Umwelt, dann kommt es im Falle einer Schwächung innerer Stabilität zu einem Übergewicht äußerer Einflüsse und einer Bedrohung des Selbst. Dieses gedankliche Konstrukt könnte die gewalttätige, destruktive Präsenz der Berglandschaft erklären. Der Text vertieft diesen Punkt im Blick auf die ausgeprägte Eigenart dieser Landschaft: It seems there are places which resist us, which have the power to overthrow our psychic being. It seems as if every country had its potent negative centres which savagely and triumphantly refuse our living culture. 418 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL And Alvina had struck one of these, here on the edge of the Abruzzi.(LG, 314) Großer Einfluss der Außenwelt geht auf die Besonderheit mancher Orte - ’places’, ’centres’, ’localities’ - zurück, die als ‚Negativzentren’ an sie herangetragene kulturelle Ausprägungen ablehnen. Dem Anschein nach macht sich die Erzählinstanz vorsichtig mit und für den Leser, wie die Pronomina ’us’ und ’our’ sowie die Anapher ’it seems’ signalisieren, auf die Suche nach einer plausiblen Erklärung für dieses Phänomen in der Landschaft. Es ist der offenkundig stark ausgeformte Eigencharakter dieser Lokalität, ihr ’genius loci’, der jede andere Ausformung naturhafter oder kultureller Art in der Gegenüberstellung verblassen lässt bzw. sie erdrückt. Das könnte erklären, weshalb das psychische Gleichgewicht Alvinas und sogar Ciccios und Pancrazios, die auf unterschiedliche Weise Träger einer englischen bzw. anglisierten ’living culture’ sind, in Gefahr ist, gestört zu werden und sie vom Auslöschen ihrer Identität bedroht sind. Gedanklich lässt sich damit der Bogen zum Aspekt der kraftvollen, vitalen Ursprünglichkeit der Landschaft schlagen, der im vorigen Kapitel im Mittelpunkt der Erörterung stand. An Tagen, an denen die Landschaft von der Sonne beschienen wird und in Licht und Wärme getaucht ist, zeigt sie sich von ihrer angenehmen, sogar liebreizenden Seite: And yet, what could be more lovely than the sunny days: pure, hot, blue days among the mountain foothills: irregular, steep little hills half wild with twiggy brown-oak trees and marshes and broom heaths, half cultivated, in a wild scattered fashion. Lovely, in the lost hollows beyond a marsh, to see Ciccio slowly ploughing with two great white oxen: lovely to go with Pancrazio down to the wild scrub that bordered the river-bed, then over the white-boulder, massive desert and across stream to the other scrubby savage shore, and so up to the highroad. Pancrazio was very happy if Alvina would accompany him. He liked it that she was not afraid. And her sense of beauty of the place was an infinite relief to him.(LG, 314f.) Ungewöhnlich an diesem Landschaftsbild ist die Aufschlüsselung der visuellen Wahrnehmung in das semantisch konträre, mehrfach wiederholte Begriffspaar ’lovely’ und ’wild’ bzw. ’savage’. Diese Dichotomie stellt ein Paradoxon dar, ein freilich gewollter Eindruck, denn die Gegensätzlichkeit wird noch verstärkt. Den Adjektiven ’sunny’, ’pure’, ’hot’, ’blue’, ’white’ und ’infinite’ mit positiven Konnotationen stehen ’irregular’ ’twiggy’, ’halfcultivated’, ’scattered’, ’lost’ und ’scrubby’ gegenüber, mit denen Unordnung und Wildwuchs assoziiert wird. Topografische und vegetative Details summieren sich zum visuellen Eindruck kontrastiver Vielfalt in naturgegebener Ursprünglichkeit. Der friedvollen Szene mit den zwei weißen Ochsen beim Pflügen stehen steile Hügel gegenüber, Eichen mit hervorstehenden Ästen kontrastieren mit Feuchtwiesen und Ginsterflächen, tiefe Senken 419 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG mit gewaltigen Felsbrocken, das öde Flussbett mit dem dichten Unterholz an beiden Ufern. Berichtenswert für die erzählende Instanz ist, dass sich Alvina in dieser Landschaft, die sich überwiegend dem Einfluss des Menschen entzogen hat, keinesfalls fürchtet und dass gerade die unverfälschte Naturhaftigkeit dieses Ortes ihren Sinn für das Schöne anspricht. Archetypische Bildimpulse wie der Anblick Ciccios mit den Ochsen beim Pflügen oder das Überqueren des Bachs und das Erreichen des Ufers - beides Handlungen mit signifikantem Symbolgehalt - in Verbindung mit dem Eindruck des Unregelmäßigen und Natürlichen wecken “her sense of beauty of the place“, indem sie Alvinas Augen für die spezifische ästhetische Qualität und Authentizität dieses Ortes öffnen. Es gelingt ihr sogar, mit ihrer Art der Wahrnehmung äußerer Natur einen Teil von Sinnhaftigkeit für den wesentlich älteren, ortsansässigen Pancrazio zu erzeugen. In der Protagonistin ist ein ausgeprägter Sinn für Licht- und Farbästhetik mit der Gabe zu eigenwilliger symbolischer Sinnaufladung verortet. Es kommt zu einer auffallenden Steigerung der Intensität sowohl der sinnlichen Wahrnehmung als auch der Deutung der Umwelt, wobei sich die Gegensätzlichkeit in der Wirkung der Natur zu einer idiosynkratischen Dichotomie aus Schönheit und Grausamkeit verdichtet: Nothing could have been more marvellous than the winter twilight. [...] a violet-blue dusk descended on the white, wide stream-bed, and the scrub and lower hills became dark, and in heaven, oh, almost unbearably lovely, the snow of the near mountains was burning rose, against the dark-blue heavens. How unspeakably lovely it was, no one could ever tell, the grand, pagan twilight of the valleys, savage, cold, with a sense of ancient gods who knew the right for human sacrifice: It stole away the soul of Alvina. She felt transfigured in it, clairvoyant in another mystery of life. A savage hardness came in her heart. The gods who had demanded human sacrifice were quite right, immutably right. The fierce, savage gods who dipped their lips in blood, these were the true gods.(LG, 315) Das Farbenspiel der hereinbrechenden Dämmerung in der Winterlandschaft liefert der Heldin ein für sie kaum kommunizierbares ästhetisches Schauspiel, denn es ist “unspeakably lovely“ und “almost unbearably lovel“’. In der Abendzeit wechseln die Farben ihren Charakter und damit ihren Stimmungsgehalt, gleiten von einer Farbwertigkeit in eine andere. Das Weiß der Steine im Bachbett wird von Violett überzogen, das Grün der Sträucher und Hügel färbt sich dunkel ein, der weiße Schnee der Berge wandelt sich in ein glühendes, sich prachtvoll gegen das Blau des Himmels abhebendes Rosa: Grandiose Farbigkeit und unverwechselbare Einzigartigkeit kennzeichnen den ästhetischen Eindruck. Es ist insbesondere das in die Täler hinabgleitende Licht zwischen Hell und Dunkel, das in Alvina ungewöhnliche Assoziationen auslöst. Anfangs der Dämmerung konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit auf As- 420 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL pekte der sinnlichen Wahrnehmung in der Naturszenerie, die als ’cold’, ’grand’, ’savage’ empfunden wird. Danach folgt, angeregt durch das faszinierende Schauspiel des sich wandelnden Lichts, in innerer Schau der Blick auf eine vorzeitliche Epoche mit uralten, heidnischen Gottheiten, die andere Sinnkonfigurationen bereithalten. In einem Akt der Transfiguration, einem innenweltlichen Wandel zu größerer geistiger Klarheit, überschreitet die Protagonistin ihre psychischen Grenzen und betritt die geheimnisvolle Welt eines erweiterten Bewusstseins, “another mystery of life", in der sie höheren Mächten ein Recht auf Menschenopfer zubilligt. Eindrücke der bewundernswerten Schönheit der Landschaft verbinden sich mit Vorstellungen der Fantasie über erschreckende Grausamkeit in höchst eigenwilliger Verquickung. Wieder taucht der vom Text bereits vorgestellte Gedanke auf, dass diese ursprüngliche, mächtige Natur durch die kraftvolle Ausstrahlung ihrer Berge und Täler dem identitätsschwachen Menschen seine psychische Vernichtung und Auslöschung androhe. Die dramatischen innenweltlichen Bilder müssen als Chiffren des Umbruchs in Alvinas Unbewusstem gelesen werden. Abgeschnitten von den Fundamenten ihrer Biografie, die von Woodhouse, Islington, Lumley und Lancaster gebildet werden, den Orten ihrer Jugend, Ausbildung und Berufstätigkeit, ist sie in Pescocalascio sozial und kulturell ’verloren’. In der Abgeschiedenheit in Califano, reduziert auf Kontakte mit vier Personen - Ciccio, seinem Onkel Pancrazio, dessen Bruder Giovanni und seiner Frau Maria - und ausgegrenzt von der einheimischen Gesellschaft, stellt sich für sie in dieser Isolation die Notwendigkeit zur Neuorientierung. In ihrer Lage gibt es zwei Ansätze: Zum einen der erkennende Blick auf die fremde Landschaft, zum anderen eine neue Erlebensweise von Sexualität jenseits englischer Prüderie und Konventionalität. In diese Assoziationskette von Lawrence’scher Eigenart können Verknüpfungen hineingedacht werden: Alvina begibt sich mit ihrem Erfahren des Sexuellen unbewusst in eine vorchristlich-heidnische Welt, in der Götter Menschenopfer verlangen, analog zu ihrem Empfinden, dass sie sich bzw. ihre Psyche auf dem Altar ihrer rückhaltlosen Bejahung körperlicher Liebe zu Ciccio opfert: His love did not stimulate her or excite her. It extinguished her. She had to be the quiescent, obscure woman: she felt as if she were veiled. Her thoughts were dim, in the dim back regions of consciousness - yet, somewhere, she almost exalted. Atavism! [...] Was it atavism, this sinking into extinction under the spell of Ciccio? Was it atavism, this strange, sleeplike submission to his being? Perhaps it was. Perhaps it was. But it was also heavy and sweet and rich.(LG, 288) Die Dämmerung der Winterlandschaft evoziert eine vorchristliche Zeit jenseits logozentrischer Disziplinierung, in der urtümliche Götter der Frühgeschichte über den Körper der Menschen verfügten und in der Opferung, dem symbolischen Akt totaler Hingabe, ihr Blut verlangten. Sinnverwandte Vorstellungen hatte sie, wie der Text andeutet, bereits vor ihrer 421 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Heirat in Scarborough gehabt, als sie auf der Flucht vor der Heirat mit Mitchell Ciccio per Telegramm herbeirief - und von da an bei ihm blieb. Alvinas sklavenähnliche Unterwürfigkeit im Vollzug der Sexualität, die freiwillige Preisgabe ihrer Individualität, wie der verdeckte Wunsch nach Verschleierung zeigt, ihr Zurückbzw. Verdrängen aller Rationalität, ihr Empfinden des Versinkens in einen Zustand der freiwilligen Weggabe und Auslöschung eigenständiger Personalität bei gleichzeitigem tiefstem Glücksgefühl: Solch ein Empfinden ist als atavistisches Denken zu verstehen, als gefühlsmäßiges Verweilen in einem imaginierten vorzeitlichen, primitiv-kreatürlichen Stadium der Entwicklungsgeschichte. Nach Darstellung des Textes geht Alvina gewollt den Weg uneingeschränkter Akzeptanz von Sexualität und dem Recht auf rückhaltlose körperliche Hingabe, auch um den Preis der physischen und psychischen Abhängigkeit von einem Mann, wovon auch Mrs Tuke durch zynische Kommentierung sie nicht abhalten kann: “Why not be atavistic if you can be, and follow at a man’s heel just because he’s a man. Be like barbarous women, a slave.”(LG, 286; Hervorhebung: D.H. Lawrence) Alvina begibt sich auf der Suche nach Selbst- und Glücksfindung kompromisslos in die Rolle der Sklavin und heiligen Hure, um paradoxerweise so die Befreiung des Körperlichen zu erleben. Die Szenen aus dem Unbewussten, abgerufen durch die urwüchsige Berglandschaft in der Dämmerung, mit den grausamen Bildern von Opferung und Blut sind aber im Lawrence’schen Sinnkontext Visionen der Hoffnung und des personalen Zugewinns, denn dem Tod folgt eine Wiedergeburt und ein neues Leben jenseits der sterilen Gegenwart. Die visuellen Eindrücke manifestieren weder konkret noch übertragen ein neuzeitlich orientiertes Sehen der Heldin von Landschaft: The terror, the agony, the nostalgia of the heathen past was a constant torture to her mediumistic soul. She did not know what it was. But it was a kind of neuralgia in the very soul, never to be located in the human body, and yet physical. Coming over the brow of a heathy, rocky hillock, and seeing Ciccio beyond leaning over the plough, in his white shirtsleeves following the slow, waving, moth-pale oxen across a small track of land turned up in the heathen hollow, her soul would go all faint, she would almost swoon with realisation of the world that had gone before.[...] He seemed, in his silence, to concentrate upon her so terribly. She believed she would not live.(LG, 315; Hervorhebung: D.H. Lawrence) Dieser Text stellt eine Verzahnung von Realität und Fantasie, Gegenwart und Vergangenheit, konkreter Sinneswahrnehmung und symbolischer Überhöhung, von Bewusstem und Unbewusstem dar. Wiederum wird die archetypische Szene des pflügenden Bauern hinter seinen Ochsen evoziert, um so darzulegen, wie intensiv die Gedanken an eine frühere, archaischintakte Welt mit authentischer Naturhaftigkeit die Heldin beschäftigen. Wenn ihre Sinne zu schwinden drohen, dann ist dies Hinweis darauf, wie- 422 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL viel Vorstellungen von Schrecken und Schmerzen, aber auch Freude und Wollust an jene Welt geknüpft sind, die Ciccio verkörpert, ohne es eigentlich zu wollen oder auch zu wissen. Alvinas Angst, nicht zu leben, kann vordergründig als manifeste Angst gedeutet werden, ein Leben nach dem Tod im christlichen Sinne zu verwirken, da Ciccio als Verkörperung des Nichtchristlichen, Heidnischen erscheint: Beim Verweilen in seiner Welt muss sie den Verlust der Aussicht auf Erlösung und Wiedergeburt im Jenseits befürchten, was im christlichen Kontext einer personalen ’extinction’ und ’annihilation’ gleichkäme. Jedoch: Sie gewänne einen Zugang zu ihrem eigentlichen Selbst und wahren Ich. Aus genau diesem Grunde verursacht auf latenter Sinnebene die heidnische Welt eine machtvolle Nostalgie, löst sie einen ‚neuralgischen Schmerz mitten in der Seele’ aus, denn das visuell-gedankliche Eintauchen in ihren Raum trifft offenkundig einen wunden Punkt der Psyche, führt zum erhofften Auslöschen der Rationalität - “her soul would all go faint“- und zu neuem Leben. Alvina ist von tiefer Zufriedenheit erfüllt, wenn sie sich bei gutem Wetter arbeitend und beobachtend in der äußeren Natur bewegen kann. Dann findet sie, die in England sozial Geächtete und in Italien Ausgegrenzte, zu diesem authentischen Lebensgefühl, dessen Fundament eine ausgelebte Sexualität und ein unverstelltes Naturverständnis sind. Beides erweist sich im Text als Voraussetzung zur Selbst(er)findung, zu innerer Freiheit und persönlichem Glück, auch wenn dies, von außen gesehen paradox anmutend, in materieller Ärmlichkeit, sexueller Unterwerfung und sozialer Abhängigkeit endet: And a wild, terrible happiness would take hold of her, beyond despair, but very like despair. No one would ever find her. She had gone beyond the world into the pre-world, she had reopened on the old eternity.(LG, 316) Der von der Heldin erlebte Zustand ursprünglichen und reinen Glücks ist deshalb unverfälscht, weil es in seinem Wesen ‚wild’ und ‚schrecklich’ ist. Solches Glück gedeiht nicht in industrialisierten Regionen und in einer durchrationalisierten Gesellschaft. Geradezu triumphierend formuliert der Text, dass niemand die Ausgestoßene an ihrem jetzigen Ort finden könne, da sie zu authentischer Naturhaftigkeit zurückgefunden habe. Dieser Ort steht für die Akzeptanz des Begehrens durch den weiblichen Körper und für den Zugang zu genuiner Naturhaftigkeit jenseits von Christentum und Zivilisation. Die Faszination der Natur in der Dämmerung, “the grand pagan twilight“, ist die symbolische Umschreibung einer Rückgewinnung ungekünstelter Emotionalität und vertiefter, selbstbestimmter Sinngebung im persönlichen Lebensentwurf. Alvinas Glücksempfinden gerät freilich ins Wanken, wenn die äußere Natur aufgrund ungünstigen Wetters nicht begehbar ist und der Rückzug auf die Innenräume erfolgen muss. Pancrazios Haus, Heimstatt für ihn und das junge Ehepaar, ist aber in Alvinas Augen schlichtweg un- 423 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG bewohnbar. Dabei geht es nicht nur um mangelhafte Ausstattung und geringen Komfort, sondern auch um Unrat und Schmutz, und es geht vor allem um die Atmosphäre und den Geist, der in ihm herrscht. Das einzige Lebewesen, für das regelmäßig Nahrung gekocht wird, ist das Hausschwein. Wenn Alvina in einem Anfall von Putzwut alle Räume reinigt in der Meinung, sie damit bewohnbar zu machen, dann ist ihre Enttäuschung absehbar, denn es kann nicht gelingen, “the same hopeless nothingness“(LG, 318), “the awful comfortless meaninglessness of it all“(LG, 319) zu überwinden. Der Gegensatz von Innenräumen und Außenwelt in dem süditalienischen Bergdorf bedeutet anderes als nur ein Aufenthalt an unterschiedlichen Orten. Bei Wegfall des Zugangs zur äußeren Natur nimmt das Leben für Alvina albtraumartige Züge an, das sie nur mit Gedanken an Flucht ertragen kann. Es geht um mehr als nur um Wohnen im üblichen Sinne: Die Diskrepanz zwischen Innenräumen und Außenwelt spiegelt ein anderes Lebensgefühl der Bewohner in Italien wider, dessen Tragfähigkeit das dritte verbale Landschaftsbild des Näheren beleuchtet. 3.6.2.3 Vorfrühling in den Abruzzen: Die Diskrepanz zwischen abstoßenden Innenräumen und faszinierender Außenwelt Alvinas erste Eindrücke von der Berglandschaft der Abruzzen südlich von Rom sind ganz von dem rauhen Klima der wilden Natur geprägt, und sie findet alles herrlich und wunderbar: It was all wonderful and amazing to her. She could not understand why he [Ciccio] seemed upset and in a sort of despair. To her there was magnificence in the lustrous stars and the steepnesses, magic, rather terrible and grand.(LG, 306) Im Gegensatz zu Ciccio ist die Landschaft für sie neu bezüglich Erscheinungsbild und Eigenart. Die ihr unbekannte äußere Natur mit ihren ganz eigenen klimatischen Bedingungen beeindruckt sie zutiefst und fasziniert sie. Ihre Aufmerksamkeit ist anfangs ausschließlich auf das Neuartige dieses fremden Raumes gerichtet, dessen Gestalt nicht den tradierten bildungsbürgerlich-touristischen oder literarisch-künstlerischen Bildern entspricht. Für Ciccio jedoch stellt sich der erste Tag der Reise mit seiner englischen Frau in sein Heimatdorf aus anderer Perspektive dar: Dieser Gang zurück birgt erhebliches Problempotenzial in sich und ruft eine bei ihm ungewohnte Nervosität mit Anflügen von Verzweiflung hervor. Als Ort von Schönheit und Großartigkeit ist diese Landschaft für ihn ohne Belang, und trotz langer Abwesenheit löst das Betreten dieses Raumes keine heimatlichen Gefühle aus. Es gibt vier Gründe, die Ciccios fast resignativ-depressive Verfassung erklären. Zum Ersten kennt er die beeindruckende Wirkung der Außenräume der Region, aber er kennt auch den deprimierenden Zustand der 424 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Innenräume; er muss fürchten, dass die Lebensqualität in Pescocalascio der Erwartungshaltung der aus wohlhabendem Elternhaus stammenden Alvina in keiner Weise entspricht, sich bittere Enttäuschung ihrer bemächtigen und bis zur Krise zuspitzen könnte. Zum Zweiten weiß er durch seinen Englandaufenthalt um die in beiden Ländern erheblich voneinander abweichenden Vorstellungen von Haus und Heim und muss befürchten, dass das dem anglozentrierten Verständnis immanente, auch von Alvina internalisierte populäre Diktum des ’My home is my castle’, bei ihrer näheren Kenntnis der Realität, erhebliche Verwerfungen ihres wohlwollenden Italienbildes auslösen kann. Zum Dritten stellt sich das in Ciccios Biografie angesiedelte Problem, dass er Pescocalascio nicht als Heimat ansieht und dies unverblümt ausspricht, so als wolle er Enttäuschungen schon im Vorfeld entgegentreten: “’Are you glad to have come home? ’ ’It isn’t my home,’ he replied, as if the word fretted him.”(LG, 308) Sein kleiner Landbesitz und die Verwandtschaft stellen seine Bindung an den Ort dar, allerdings auch, zum Vierten, seine soziokulturelle Präformierung durch das spezifische Umfeld dieser rückständigen Gegend mit ihren für Nichteinheimische und insbesondere für Nordeuropäer, wie er annehmen muss, primitiv anmutenden Strukturen. Dieser Sachverhalt wird ihr als neue Erkenntnis zuteil, als sie ihn eines Tages unter seinen Landsleuten im Dorf beobachtet: “Ciccio inside the shop had risen, but he was still turning to his neighbour and was talking with all his hands and all his body. He did not talk with his mind and his lips alone. His whole physique, his whole living body spoke and uttered and emphasised itself.“(LG, 330) Sie muss erkennen, dass Ciccio als Verkörperung mediterraner Mentalität und zur Bestätigung seines Selbstbildes sie nie ernsthaft zur Teilhabe an dem zulassen wird, was er als männliches Betätigungsfeld ansieht. Er verweigert ihr ohne Angabe von Gründen jedes Gespräch über Politik oder Religion, wie er generell jeglicher Erörterung aus dem Weg geht, was nach seinem Dafürhalten männliche Domäne ist. Im südlichen Italien erweist sich die Sphäre des Außenraumes als Bestandteil einer maskulinen Lebenswelt mit drastischen Konsequenzen für die Frau, die aus dem Bereich des Intellektuell-Abstrakten ausgeschlossen wird: “Alvina could feel the oriental idea of women, which still leaves its mark on the Mediterranean, threathening her with surveillance and subjection.“(LG, 329) Ihre Einsicht, nicht mehr weit von einem Leben in sozialer Minderwertigkeit entfernt und demütigenden Kontrollen und Repressionen ausgesetzt zu sein, generiert einen scharfen Kontrast zwischen Innen- und Außenräumen in der Fremde, wobei sie deutlich spürt, dass dieser Ort mit diesen Menschen nicht ihre Welt sein kann. Dass Alvina angesichts der sozioökonomischen Realität in der Bergregion nicht bald nach ihrer Ankunft die Flucht ergreift, ist argumentativ Indiz für den großen Wert, den Lawrence einem sinnerweiterten Leben in unverfälschter äußerer Natur und ausgelebter Sexualität als unver- 425 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG fälschter innerer Natur beimessen möchte. Für diese Option lässt er seine Heldin ihren schweren und unorthodoxen Gang aus der Sicherheit bürgerlicher Konvention gehen, bei vollem Verzicht auf Wohlergehen und Gesellschaftsstatus inklusive. Der in der fiktionalen Konzeption der Figur verankerte Wunsch nach Authentizität - in und durch Italien - wird als Beweggrund und Handlungsmaxime höher eingestuft als ein angepasstes Mittun im gesellschaftlichen Rollenspiel mit Akzeptanz einer bedrückenden Rollenerwartung in England. Allerdings bleiben ihr, wie der Text an drastischen Beispielen belegt, deprimierende Eindrücke nicht erspart. Das ’Post Restaurant’, Alvinas erste Bekanntschaft mit einer Gaststätte in Italien, “[…] was a little hole in an earthern [sic] floor and a smell of cats“. (LG, 304) Der zweite Rastort “[…] was a sort of inn. [...] The room seemed like a cave.”(LG, 306) Pancrazios Haus, von den Einheimischen ’Villa’ genannt und größer als die anderen Häuser, macht innen ebenfalls einen desolaten Eindruck: Pancrazio returned with the lantern, and opened the big door. Alvina followed him into a stone-floored, wide passage, where stood farm implements, where a litter of straw and beans lay in a corner, and whence rose bare wooden stairs. So much she saw in the glimpse of lantern-light, as Pancrazio pulled the string and entered the kitchen: a dim-walled room with a vaulted roof and a great dark, open hearth, fireless: a bare room with a little rough furniture: an unswept stone floor: iron-barred windows, rather small, in the deep thickness of the wall, one half shut with a drab shutter. It was rather like a room on the stage, gloomy, not meant to be lived in.(LG, 310; Kennzeichnungen: K. Lang) Was die italienischen Innenräume kennzeichnet, ist eine durch die Bauweise bedingte düstere Atmosphäre, eine lieblose, auf das Nötigste beschränkte Ausstattung, ein sichtbarer Mangel an Unterhalt und Pflege der Einrichtung und, vor allem, offenkundige Unordnung und Unsauberkeit. Die Beschreibung der Küche in Pancrazios Haus vermittelt durch die Sprachgestaltung einen lebhaften Eindruck der Atmosphäre des Raums, die die Menschen abzustoßen scheint. Es überwiegt die Zahl einsilbiger Wörter in einem ungewöhnlichen Satzgebilde mit drei Doppelpunkten, das auf der inhaltlich-semantischen Ebene die ungeschminkte Präsentation nüchterner, faktischer Gegebenheiten in ihrer ganzen Kargheit hervorhebt, die auf der klanglich-stilistischen durch das Stakkato eines auffallend harten, fast hämmernden Rhythmus intensiviert wird. Dieser Innenraum stellt keinen Bezug zu den Menschen her, sondern weist sie ab, wie der Text ohne Umschweife einräumt: “gloomy, not meant to be lieved in“. Der Anspruch wird gar nicht erhoben, dass ein Gefühl des Wohlbefindens entstehen soll, und so ist auch keine emotionale Bindung zwischen Bewohnern dieses Hauses und seinen Innenräumen sichtbar. Aufgrund der klimatischen Bedingungen kommt sogar noch ein weiterer negativer Umstand hinzu: Infolge der Kälte sind häufige Feuer vonnöten, die meistens mitten im Raum auf erdigem Grund oder in einem aus Stein gemauerten Herd entzündet, stets 426 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL heftigen Rauch entwickeln. Alvina wird davon im Winter krank werden, und Maria, Giovannis Frau, “[…] was rather smoke-dried too, from perpetual wood-smoke“.(LG, 316f.) Das deprimierendste Erlebnis hat Alvina in Casa Latina, einem kleinen Ort, als sie, eigentlich ohne Grund, die Dorfkirche betritt: [...] there was a great, twin-towered church, wonderful from outside. She went inside, and was almost sick with repulsion. The place was large, whitewashed, and crowded with figures in glass cases and ex voto offerings. The lousy-looking dressed-up dolls, life size and tinselly, that stood in the glass cases; the blood-streaked Jesus on the crucifix; all the sense of trashy, repulsive, degraded fetish-worship was too much for her. She hurried out, shrinking from the contamination of the dirty leather door-curtain. Enough of Casa Latina. She would never go there again. She was beginning to feel that, if she lived in this part of the world at all, she must avoid the inside of it. She must never, if she could help it, enter into any interior but her own - neither into house nor Church nor even shop or post-office, if she could help it. The moment she went through a door the sense of dark repulsiveness came over her. If she was to save her sanity she must keep to the open air, and avoid any contact with human interiors. When she thought of the insides of the native people, she shuddered with repulsion, as in the great, degraded church of Casa Latina. They were horrible.(LG, 333; Hervorhebungen: D.H. Lawrence) Auffallend ist die Dominanz des morphologischen Feldes um den Vorstellungskern ’repulsion’; es werden vier Glieder der Wortfamilie genannt: ’repulsion’(2), ’repulsive’, ’repulsiveness’. Bemerkenswerter noch ist die Ausweitung dieses gedanklichen Kerns in ein ausgedehntes semantisches Feld - ’sick with’, ’shrinking from’, ’never go there’, ’must avoid’, ’must never enter’, ’shuddered with’ -, das bildreich und eindringlich den Aspekt emotionalen Widerwillens und physischer Ablehnung hervorhebt. Dabei geht es zunächst einmal um den Eindruck des Unschönen und Hässlichen, wie die ungewöhnlich hohe Zahl von Adjektiven aus diesem Wortfeld sichtbar macht - '’white-washed’, ’lousy-looking’, ’tinselly’, ’blood-streaked’, ’mouldering’, ’trashy’ -, aber Kennzeichen ist auch der den Menschen und ihren Räumen anhaftende Schmutz: Alvina fühlt sich angewidert und distanziert sich in spontaner Heftigkeit von den “filthy peasant women“ und dem “dirty leather door-curtain“. Eindrücke und Empfindungen verdichten sich zu einem moralischen Urteil, das mit einer Abwertung der mediterranen Religiosität beginnt - “degraded fetish-worship“, “degraded church of Casa Latina“ - und dann auf alle Innenräume bei Gebäuden wie auch auf die geistigpsychischen bei Menschen übertragen wird. Die Intensität der Ablehnung Alvinas erklärt sich nicht aus der Kargheit der Räume, sondern aus ihrem heruntergekommenen und verlotterten Zustand. Wenn sie den Eindruck heftiger Abneigung aufgrund des allgegenwärtigen, Ekel erregenden Schmutzes von den Räumen auf die 427 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG darin lebenden Menschen überträgt, dann verkörpern die knieenden, Gebete murmelnden Bauersfrauen inmitten einer unwirklichen Ansammlung götzenähnlicher Objekte der Heiligenverehrung geradezu die emotionale Distanz der Protagonistin zu dieser Lebenswelt, die auf dinglicher Ebene durch den schmuddeligen Ledervorhang und auf der personalen durch die schmutzigen Kleider der Frauen repräsentiert wird. Unbewusst bündeln sich Eindrücke von Armut und Schmutz, Verwahrlosung und Aberglaube, Hässlichkeit und Rückständigkeit zu einem Konglomerat der Abscheu gegen alle Innenräume und ihre Bewohner. Erlebte Rede und allwissende Perspektivik unterstreichen die hohe psychische Relevanz dieser Empfindungen der Protagonistin. Mit einer gefühlsmäßig derart stark aufgeladenen Schilderung der abstoßenden Wirkung der Innenräume wird argumentativ-komplementär ein eklatanter Gegensatz zur Außenwelt aufgebaut. Die bereits mehrfach thematisierte Großartigkeit der ursprünglichen Bergwelt mit eigenwilligen Felsformationen, überdimensionierten Bergen und weiten Blicken in eine räumliche Tiefe, mit ihren durch Schönheit betörenden, aber auch Schrecken einflößenden Eigenschaften wird nun erweitert und ergänzt durch Eindrücke aus der vegetativen Natur: Das so entstehende Gesamtbild ist Gegenpol zu der vom Menschen gestalteten Wirklichkeit. Es geht konkret um die Blumen der Berglandschaft im Vorfrühling von Ende Januar bis April. In euphorischer Beschreibung zeichnet der Text ein ungewöhnlich detailliertes Bild vom Reichtum und der Schönheit von Blumen, das als Apotheose der Landschaftsdarstellung in The Lost Girl gelten kann (und ein längeres Zitat rechtfertigt): So the month of January passed, [and] she would find little tufts of wild narcissus among the rocks. [...] There was green hellebore too, a fascinating plant - and one or two little treasures, the last of the rose-coloured Alpine cyclamens, near the earth, with snake-skin leaves, and so rose, so rose, like violets for shadowiness. She sat and cried over the first she found: heaven knows why. In February, as the days opened, the first almond trees flowered among grey olives, in warm, level corners between the hills. But it was March before the real flowering began. And then she had continual bowlfuls of white and blue violets, she had sprays of almond blossoms, silverwarm and lustrous, then sprays of peach and apricot, pink and fluttering. It was a great joy to wander looking for flowers. She came upon a bankside all wide with lavender crocuses. The sun was on them for the moment, and they were opened flat, great five-pointed, seven-pointed lilac stars, with burning centres, burning with a strange lavender flame, as she had seen some metal burn lilac-flamed in the laboratory of the hospital at Islington. And she felt like going down on her knees and bending her forehead to the earth in an oriental submission, they were so royal, so lovely, so supreme. - She came again to them in the morning, when the sky was grey, and they were closed, sharp clubs, wonderfully fragile on 428 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL their stems of sap, among leaves and old grass and old periwinkle.[...] In her room they opened into a grand bowl of fire.(LG, 332) Mehrere Aspekte verleihen dieser Naturschilderung ihren ungewöhnlichen Charakter: 1. Die Vielzahl der Blumen des Vorfrühlings und ihre exakte Bezeichnung; 2. die Reichhaltigkeit der Farbwirkung und die Großartigkeit der Blütenformen; 3. der überwältigende Schönheit und Ästhetik des Naturschauspiels; 4. die Art und Intensität der Wirkungen auf die Psyche der Protagonistin. Ungewöhnlich ist, dass Alvinas Wahrnehmung auf ihren Spaziergängen nicht nur unerwartet viele blühende Pflanzen erfasst, sondern dass sie dies auch mit erstaunlicher Genauigkeit tut. Zählt man die Baumblüten hinzu, werden achtzehn unterschiedliche, blühende Pflanzen genannt, die, eingebettet in die übliche Vegetation von Oliven, Getreide, Mais, Wein und Gras, durch besondere Schönheit auffallen. Die Bandbreite reicht von der wilden Narzisse und der wilden Christrose zum Alpenveilchen, von den Mandel-, Pfirsich- und Aprikosenblüten zu weißen und blauen Veilchen, von Krokus, Immergrün und - den wenig später genannten - Hyazinthen, Anemonen, Aprilrosen, wilden Gladiolen und Schwertlilien zu Samtblumen und Tagetes. Es sind alles Pflanzen, die in der Bergregion Süditaliens heimisch sind. Es verwundert deshalb umso mehr, dass der Text die Wirkung der Farben und Formen nicht nur ausführlich, sondern im Ton euphorischer Begeisterung beschreibt. Die Farbpalette reicht von Weiß, Rosa, Rosa-rot, Grün, Blau und Grau zu Lila und Dunkelviolett, von zarten Tönen bis zu flammender Farbintensität. Eine stark emotionale Wirkung wird der Schönheit einzelner Blüten wie auch dem ästhetischen Gesamteindruck zugewiesen. Die beeindruckendste Form ist die des fünf- und siebenzackigen Krokussterns mit seiner flammenden Mitte. Im Überschwang der Erzählfreude über die grandiose Vielfalt und Schönheit mutieren die Blumen zu “gold-centred pale little things“, zu Gebilden “silver-warm and lustrous“, zu “little treasures“, “great exposed stars“ und “striped flames“, zu wohlgeformten und fragilen Gebilden in einer überbordenenden und schwelgerischen Fantasie, die sich im Zimmer in violettes Feuer verwandeln. Nur durch dauernden Zugriff auf die bildschöpferische Kraft von Metapher und Vergleich, so der durch den Text vermittelte Eindruck, will es erzählerisch überhaupt gelingen, eine angemessene Wiedergabe des Visuellen zu erreichen: Blätter ähneln einer Schlangenhaut, Blütenkelche der strahlenden Mitte einer Gasflamme im Labor, gestreifte Blütenblätter der markanten Fellzeichnung schöner Wildtiere wie Dachs und Wildkatze. Bei dieser Art der Naturbegegnung erreicht Alvina eine bislang nicht erreichte Stufe ästhetischen Empfindens, dessen Wiedergabe in superlativischen und fantastisch-bildhaften Formulierungen Ausmaß und Intensität der Wirkung der Landschaft auf ihre Psyche wiedergeben soll. Der Anblick der Krokusse in der Sonne weckt in ihr Assoziationen an 429 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG glanzvolle Pracht und höchste Vollkommenheit: “they were so royal, so lovely, so supreme.“ Die Faszination des ästhetischen Schauspiels löst unkontrollierbare psychische Reaktionen aus: Sie weint vor Glück angesichts des Reichtums der Natur und fühlt den rätselhaft anmutenden Drang, in einer orientalischen Unterwerfungsgeste als Zeichen von Ehrfurcht und Demut deren Großartigkeit und überwältigende Schönheit anzuerkennen. Ganz ähnliche Gefühle hatten von Anfang an ihre körperliche Liebe zu Ciccio bestimmt, bis hin zur ”sleep-like submission to his being“(LG, 288), weil aus dem Geist atavistischer Hingabe - “Atavism! The word recurred curiously“(LG, 288) - ein Entrinnen aus dem Wunsch nach Ausleben der Sexualität, verstanden als natürliches und naturhaftes Phänomen, nicht möglich war. Das Landschaftserwachen im Vorfrühling ist die markante Parallele zum Leben der Heldin, das auf einen Höhepunkt innenweltlicher Erfahrung zusteuert. In dieser Natur wiederholen sich Erinnerungen an rauschartige Empfindungen - “She was drugged. And she knew it. Would she ever wake out of her dark, warm coma? ”(LG, 288) - und den ‚Verlust der Seele’ - “[…] she had lost her soul“(LG, 175) -, die ihr Verhältnis zu Ciccio einleiteten, es immer noch bestimmen und die nun in enthusiastischer Erlebnisintensität ihr spirituelles Erwachen zu neuem Leben umschreiben: The rose-coloured wild gladioli among the young green corn were a dream of beauty, the morning of the world. The lovely, pristine morning of the world, before our epoch began. Rose-red galdioli among corn, in among the rocks, and small irises, black-purple and yellow blotched with brown, like a wasp, standing low in little desert places, that would seem forlorn but for this weird, dark-lustrous magnificence. Then there were the tiny irises, only one finger tall, growing in dry places, frail as crocuses, and much tinier, and blue, blue as the eye of the morning heaven, which was a morning earlier, more pristine than ours. The lovely translucent pale irises, tiny and morning-blue, they lasted only a few hours. But nothing could be more exquisite, like gods on earth. It was the flowers that brought back to Alvina the passionate nostalgia for the place. The human influence was a bit horrible to her. But the flowers that came out and uttered the earth in magical expression, they cast a spell on her, bewitched her and stole her own soul away from her.(LG, 335) Die auffallendsten Eigenschaften der wilden Bergblumen sind ihre Schönheit, ihre Vielfalt, ihre kleine, zerbrechlich wirkende Gestalt in der auf große Dimensionen ausgelegten Natur, vor allem aber der Symbolwert ihrer Farben und überhaupt ihrer ganzen Erscheinung in der ursprünglicharchaischen Naturszenerie. In ihrer sich im Vorfrühling entfaltenden Anmut sind sie als ‚Traum von Schönheit’ nicht nur Apotheose ästhetischen Erlebens, sondern auch Verkörperung einer der wirkungsmächtigsten Metaphern über die menschliche Existenz, derjenigen der Wiedergeburt. Das reine Blau des Morgenhimmels - ’blue, blue as the eye of the morning heaven“ und “morning-blue’ -, Symbol des Weiten und Unendlichen, des 430 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Ursprünglichen und Reinen, ist Indiz eines neuen visuellen Erfassens der Welt in einem anthropomorphisierten Kosmos. Rosa, Rot und Lila sind Chiffren für beginnendes Leben und künden vom verheißungsvollen Neubeginn einer unverbrauchten, unverfälschten Zeit, “the lovely, pristine morning of the world“. Die Begriffe ’pristine’ und ’morning’, zweibzw. fünfmal im kurzen Textauszug verwendet, sind intensivierende Schlüsselwörter zur bildhaften Umschreibung von Entstehung und Neuanfang einer Zeit überirdischer Schönheit - ’dream of beauty’, ’dark-lustrous magnificence’, ’more exquisite, like gods on earth’, ’magical expression’, ’cast a spell on her’, ’bewitched her’ -, in der Märchenhaftes und Magisches zu Hause sind. In einem Verklärungsprozess transzendieren sie die deprimierende, blutleere Hässlichkeit der Gegenwart und erstellen das Bild einer vorzeitlich-paradiesischen Epoche, in der, nach Reaktivierung der durch psycho- und soziokulturelle Mechanismen ruhiggestellten und inaktivierten Bereiche der modernen Psyche, ein Leben der Übereinstimmung des eigentlichen Selbst mit dem wahren Ich möglich ist. Damals bevölkerten zwar grausame, aber naturhaft gedachte Götter die Erde, und die Welt war unverfälschter, freier, schöner. Was die Menschen zwischenzeitlich daraus gemacht haben ist erschreckend, wie Englands landschaftliche und soziale Wirklichkeit und nun auch die Menschen und ihre Innenräume in Italien belegen, aber für die Heldin fungieren die wilden Bergblumen wie Antennen in jene ferne, intakte Zeit, die sich ansonsten nur in Momentaufnahmen, so bei Alvinas Nachtfahrt entlang der Mittelmeerküste (vgl. 3.6.3.1), dem Bewusstsein zeigt. Die vegetative Natur als Zeichen- und Sinnsystem hilft ihr, Pescocalascio, “[…] this place which sometimes she hated with a hatred unspeakable“(LG, 335) zu ertragen. Sie verhilft ihr zur geistigen Flucht aus einer Realität, die von kleingeistigen und, mit Ausnahme ihrer unmittelbaren Umgebung, böswilligen Menschen in trostlosen Häusern konstituiert wird, denn da war “[…] the deep bed-rock distrust which all the hill-peasants seemed to have of one another. They were watchful, venomous, dangerous“(LG, 324). Alvinas Erlebnisfähigkeit erschließt ihr in einem Akt des Transzendierens, durch Transfiguration, einen befreienden Blick in das Sinngefüge einer besseren Welt, “clairvoyant in another mystery of life“(LG, 315): Dies ist die symbolische Wiedergeburt des ’lost girl’ zu neuem Leben, so wie Goethe seinen Italienaufenthalt als Wiedergeburt empfand 887 und ihn auch Gissing in The Emancipated für zwei seiner zentralen Figuren darstellte (vgl. 3.4.3.3). 887 “Wenn Goethe zwischen 1786 und 1788 in Italien eine »Wiedergeburt« erlebt […], so beruht dies auf der Erfahrung einer fremden Natur und einer ebenso fremden Lebensform.“(Albert Meier, Nachwort in: Seume, Spaziergang nach Syrakus, 301). 431 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.6.3 Ergebnisse im Kontext 3.6.3.1 Industrialisierte Landschaft in England und natürliche Landschaft in Italien als Ausdruck kontrastiver Lebenswelten D.H. Lawrence setzt in “The Lost Girl, his first novel to use Italian characters and setting“ 888 und neben Aaron’s Rod eine ’Italian novel’ innerhalb seiner ’international novels’, die Landschaft Italiens in scharfen Kontrast zur Landschaft Englands. Schon beim Eintritt in die Fremde lässt er seine Heldin Alvina Houghton spüren, dass deren Natur nicht nur visuell, sondern gefühlsmäßig und gedanklich andere Dimensionen eröffnet. 889 In der Bergwelt der Abruzzen, dem End- und Höhepunkt ihrer Italienreise, wird sie dann nicht lediglich mit optisch neuen Natureindrücken konfrontiert, sondern epistemologisch mit Erfahrungen, die als Kompensation außen- und innenweltlicher Verluste als ’lost girl’ nach ihrem wissentlich herbeigeführten Bruch mit der englischen Gesellschaft gedacht sind. Italiens Landschaft eröffnet ihr neuartige Zusammenhänge auf dem Weg zur Selbsterkundung, eine Auffassung, die Lawrences weltanschaulichästhetischer Überzeugung entsprach. 890 Sie ist fiktionales Mittel zum Zweck und gleichsam Vor-Wand bei der bei der Darstellung verdeckter Realität. Der Anfang einer subjektiven, individuell rezipierten Außenwelt im Gegensatz zum konventionell-pauschalisierenden Bild der englischen Industrielandschaft liegt in Südfrankreich. Der Ärmelkanal, Boulogne, selbst Paris und die Zugfahrt nach Süden stellen keine erwähnenswerten Erlebnisse dar, aber, an ihrem ersten Morgen überhaupt im Ausland und beim Anblick der teils noch alpenländischen, teils schon südländischen Landschaft, 888 Hamalian, D.H. Lawrence in Italy, 13. 889 ”Any attempt to present landscape can take three forms - the actual act of perception and the visual experience itself; the primary interpretation of experience (these patches of color are arable fields); and then the political, moral or philosophical interpretation of this second level (such fields represent man in a natural relation to an unsullied nature).”(George P. Landow, Lawrence and Ruskin: The Sage as Word-Painter, in: Meyers, D.H. Lawrence and Tradition, 86). Im Rahmen dieser Untersuchung geht es ausschließlich um die genannte dritte Art und Weise, Landschaft darzustellen; (vgl. dazu 1.2.3. bzgl. Fußnote 86). 890 Lawrence, der sich auch als Maler betätigte, hat sich nach eigenem Bekunden insofern für Landschaft interessiert, als sie eine dahinter liegende Wirklichkeit offenbare; sie ist für ihn Mittel zum Zweck. In ’Introduction to These Paintings’ schreibt er: ”[...] for me, personally, landscape is always waiting for something to occupy it. Landscape seems to be meant as a background to an intenser vision of life, so to my feeling painted landscape is background with the real subject left out." (D.H. Lawrence, zit.n. J.R. Watson, The country of my heart: D.H. Lawrence and the East Midlands Landscape, in: Salgado/ Das, The Spirit of D.H. Lawrence, 16; Hervorhebung: K. Lang). 432 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL [...] Alvina felt that she had known it all before, in a happier life.[...] And it all seemed bigger, nobler than England. She felt vaster influences spreading around, the Past was greater, more magnificent in these regions. For the first time the nostalgia of the vast Roman and classic world took possession of her. And she found it splendid [...] to escape from the smallish perfection of England, into the grander imperfection of a great continent.(LG, 297) Die Weitung des Blickes in der fremden Landschaft geht einher mit bewusstseinsmäßiger Weitung für größere räumliche und zeitliche Relationen und einer Weckung der Neugier für Dinge, die bisher verborgen blieben oder irrelevant schienen. Die Fahrt durch die Alpen wird zum beeindruckenden Erlebnis angesichts der Größe der Berge und ihrer Ausstrahlung unbezwingbarer Kraft, und die Weiterreise entlang des Mittelmeeres im Mondlicht, vorbei an dunklen Felsen und Burgen, gleicht gar einer Fahrt durch ein Märchenland. Die unbekannte Szenerie wirkt faszinierend und anregend zugleich: She watched spell-bound: spell-bound by the magic of the world itself. And she thought to herself: ’Whatever life may be, and whatever horror men have made of it, the world is a lovely place, a magic place, something to marvel over. The world is an amazing place.’(LG, 299) Der Text präsentiert, formal-stilistisch völlig untypisch für die Erzählweise im Roman, die Eindrücke der Heldin in direkter Rede und als Monolog; (trotz eindeutiger Kennzeichen gesprochener Rede handelt es sich um einen inneren Monolog, da die Heldin die Gedanken nicht ausspricht). 891 Es geht jedoch keinesfalls, wie beim Zugriff auf diese Stilmittel üblich, um Analyse von Befindlichkeit oder Darstellung von Komplexitäten des Unbewussten, sondern um eine gedanklich und sprachlich präzise Festlegung, in deren Zentrum das uneingeschränkte Staunen über Liebreiz und Zauber der Landschaft steht, die, metonymisch und als überraschende Einsicht präsentiert, die Idee der Existenz des Schönen und Bewundernswerten in der Welt an sich zum Ausdruck bringt. Die inhaltliche Eindeutigkeit dieses pauschalen Blicks dient der Kontrastmarkierung zu Eindrücken aus englischer Landschaft. Semantisch 891 Zum Aspekt der formal-stilistischen Gestaltung bei Lawrence schreibt Norman Douglas: ”I suppose he was not much concerned with the form of his novels. They were explorations into himself.” (Norman Douglas, Looking Back, in: Di Mauro, Modern British Literature, vol II, 238). Lawrence selbst bezeichnete seinen Roman als ein ’queer book’, und die Kritik wies auf einen „[…] stilistische[n] Bruch von parodistisch-realistischer Darstellung in den Woodhouse-Teilen zu beschwörendem Pathos bzw. modernistischer Abstraktheit bei der Schilderung von Alvinas tiefenpsychologischem Wandlungsprozess in Italien“ hin.(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 387). Andererseits, eine Geringschätzung „[…] erscheint jedoch fragwürdig, wenn man die durch die Einarbeitung der Italienthematik erreichte symbolische Aussagequalität gebührend berücksichtigt“.(Winkgens, Funktionalisierung des Italienbildes, 44). 433 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG und argumentativ sind damit die beiden Eckpunkte bestimmt, aus deren Positioniertheit Landschaftsbilder bedeutungsmäßig aktiviert werden: “[…] sein 1920 in Taormina fertiggestellter Roman The Lost Girl [...] scheint zumindest auf den ersten Blick stärker der Reproduktion konventioneller, aus romantischer und viktorianischer Literatur her geläufiger Italienklischees verpflichtet zu sein.[...] Dagegen scheint das Bemühen in den Hintergrund zu treten, im Sinne des imagologischen Grundproblems und in aufklärerischer Absicht das Italienstereotyp zu entautomatisieren und seinen Vorurteilscharakter durch eine realistische Sicht italienischer Wirklichkeit zu dementieren.“ 892 Die unrealistische Märchenkulisse wird aber bereits relativiert, als Alvina der “[…] dreary, to her sordid-seeming Campagna that skirts the railway, the broken aqueduct trailing in the distance over the stricken plain“(LG, 301) ansichtig wird, ein erster Hinweis auf eine individualisierte Rezeption der Außenwelt. „So relativ leicht sich Lawrence dabei tut [...], die Defizite der industriellen Zivilisation literarisch zu gestalten, so schwierig erweist sich für ihn offensichtlich die Aufgabe, jene positiven Gegenwelten literarisch überzeugend zu veranschaulichen [...].“ 893 Bei der Landschaftsdarstellung geht es demnach darum, die wesentliche „Dichotomie von Zivilisationskritik und Lebensaffimation“ 894 über verbale Bilder der äußeren Natur zu veranschaulichen unter gleichzeitigem Einbezug der Tatsache, dass auch die soziokulturell anders codierte Lebenswelt Italiens sich dem Sog zivilisatorischer Einflüsse nicht entziehen kann. Schon im ersten Satz des ersten Kapitels skizziert der Text, unter Rückgriff auf ein vermutetes Bildrepertoire der Leserschaft, den landschaftlichen Rahmen von Woodhouse: Es sei ”a mining town“ irgendwo in den Midlands; die älteren, wohlhabenden Familien seien aber geflohen “[…] from the sight of so much disembowelled coal“ (LG, 1) und genössen das Geld aus Schürfrechten in Gegenden, die noch idyllisch seien, was Woodhouse nicht mehr ist, dafür aber das typische Beispiel einer industrialisierten “ant-like society“(LG, 2) abgebe. Es existieren jedoch Städte, die noch unansehnlicher und abstoßender sind: Islington, grey, grey, greyer by far than Woodhouse, and interminable. How exceedingly sordid and disgusting! [...] the ghastly dilapidated façades of Islington, [passers-by] glimpsing in through uncurtained windows, into sordid rooms where human beings moved as if sordidly unaware.(LG, 31) Das Grau des Ekel erregenden Schmutzes als kennzeichnende Farbe dominiert die visuelle Wahrnehmung der Außenwelt und wird in moralischer Perspektivierung symbolhaft auf das Verhalten und die Lebensweise der 892 Meinhard Winkgens, Das Italienbild bei D.H.Lawrence unter besonderer Berücksichtigung von The Lost Girl: Zur ästhetischen Produktivität nationaler Stereotypen, in: Blaicher, Erstarrtes Denken, 297. 893 Ebd., 298. 894 A.a.O. 434 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Menschen übertragen, die einer Regression zu unterliegen scheinen. Die englische Industrielandschaft in ihrer unnatürlichen Hässlichkeit erscheint nicht nur als deformierte und ausgebeutete Natur, sondern als Ursache einer Degenerierung der Menschen, die sich in einer Verformung ihrer Psyche, in Selbstentfremdung und Identitätsverlust äußert. Die Landschaft als sichtbare Natur - wie auch die innere Natur der Menschen - ist Opfer deprimierender zivilisatorischer Schadensverläufe. Zu den Beispielen abstoßender Bilder englischer Industrielandschaft gibt es sogar noch Steigerungen: And he [Mr May] looked at Lumley. And he found it a dam god-forsaken hell of a hole. It was a long straggle of dusty road down in the valley, with a pale grey dust and spatter from the pottery, and big chimneys bellying forth black smoke right by the road.[...] Compared with Lumley, Woodhouse, whose church could be seen sticking up proudly and vulgarly on an eminence, above trees and meadow-slopes, was an idyllic heaven.(LG, 87) Mr May mit seiner Amerikaerfahrung verfällt in die drastische Bildhaftigkeit des amerikanischen Slang, um seinen ersten Eindruck des Ortes festzuhalten, den James Houghton für seinen ‚Vergnügungspalast’ auserkoren hat. Kommentierend verstärkt er in sarkastischer Übertreibung das Bild abgrundtiefer Trostlosigkeit: “Lumley was one of those depressed, negative spots on the earth“(LG, 11), ein denkbar ungünstiger Ort in einem jener öden Täler der Midlands, “[…] in the stagnant dust and rust of potteries and foundries,[...] a black country indeed“(LG, 114), um durch Kino und Varietee Illusionen in den Köpfen der Bevölkerung aufblühen zu lassen. Die implizite symbolische Umschreibung einer emotionalen Verkümmerung und Rückbildung der Fantasie der Menschen weist im Vorgriff auf die Fruchtlosigkeit und das zwangsläufige Scheitern der geschäftlichen Bemühungen James Houghtons hin. Lumley ist optisch der Tiefpunkt englischer Außenwelt und das markante Beispiel einer der Natur entfremdeten, gewaltsam umgestalteten und ökonomischen Interessen unterworfenen Industrielandschaft. “His [Lawrence’s] aim, of course, was to emphasise the part played by industry in the destruction of natural beauty.” 895 Gerade die Zerstörung von Natur und insbesondere ihrer Schönheit ist im Lawrence’schen Sinnkontext ein Kardinalfehler und eine Todsünde in einem, denn es geht nicht nur um die Verunstaltung der Außenwelt, sondern, in übertragenem Sinne und auch bildhaft, um die Verunstaltung der Psyche des Menschen, die zur Bewahrung ihres geistig-seelischen Gleichgewichts auf die Ressource Natur angewiesen ist. 896 Das Leben in Woodhouse ist „[…] von einer so radikalen 895 Bridget Pugh, Lawrence and Industrial Symbolism, in: Renaissance and Modern Studies, Nottingham: Sisson & Parker, 29/ 1985, 35. 896 Lawrence besaß einen kaum zu überschätzenden Glauben an die positive Kraft der Natur, den er auf urwüchsige Landschaften, Menschen und vorchristliche Naturreligio- 435 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Eindimensionalität und Uniformität des Denkens und Handelns geprägt, daß selbst die Kommunikation zwischen den Geschlechtern - vordem für Lawrence die ’naturgegebene’ Möglichkeit der Alteritätserfahrung - zu einer Pseudokommunikation im Sinne von Habermas verkommen ist.“ 897 Neben der für den Autor essenziellen Symbolik der zerstörten Natur hat Lumley weitere symbolische Verweisfunktion. Außer einem Tiefpunkt in James Houghtons beruflicher Laufbahn bezeichnet der Ort den Abstieg in der gesellschaftlichen Stellung seiner Tochter, die durch ihre Mitarbeit im Varietee ihres Vaters zur Deklassierten wird. Die irreal anmutende Deformierung der Landschaft durch Fabriken und Kanäle, Schornsteine und Kohlehalden, alles Zeichen von Unterdrückung und Fremdbestimmung, ruft gerade durch die Scheußlichkeit des Visuellen die gegenpolige Leserreaktion einer imaginierten Idealvorstellung von Natur hervor. Analog gibt es in James Houghton wie auch in seiner Tochter zwei Welten: Die aktuell existierende mit beruflichem und sozialem Abstieg und eine erdachte, bessere mit Geschäftserfolg bzw. selbstbestimmter Lebensgestaltung. Alvinas Vater begann als ästhetisch sensibler Ladeninhaber für Frauenmode, dessen modisches Gespür in der gegebenen Realität zusehends verfällt, und der schließlich nur dank der Gebrauchstextilien seiner erfahrensten Näherin, Miss Pinnegar, überlebt. Seine Bergwerksgesellschaft mit fünf Männern ist ebenso erfolglos wie sein Projekt eines eleganten Hotels, das ihn zum Gespött der Leute macht. In dieser Landschaft kann, so scheint es, außer Industrie nichts gedeihen, und allen Vorhaben und Konzepten aus ihrem Umfeld fehlt schon von Anfang an, so der Zeichensinn der Deformierungen, die Kraft zum Leben. Lumley ist nicht nur als Veranstaltungsort ein Fehlgriff, auch Houghtons geplante Programmgestaltung aus Film, Musik und Exotik mit lebenden Darstellern ist antiquiert, läuft ökonomischer Rationalität zuwider und ist unternehmerisch ohne Zukunft. Alvina, nicht frei vom Wunschdenken und den Tagträumereien ihres Vaters, handelt analog gegen alle gesellschaftliche Vernunft, als sie auf der Suche nach ’her own true nature’(LG, 21), den Bruch sozialer Spielregeln in Kauf nimmt. 898 Sehenden nen übertrug. Dabei entwickelte er eine eigenwillige Sicht des historischen Wandels des Naturbegriffs: ”The old religion of the profound attempt of man to harmonise himself with nature, and hold his own and come to flower in the great seething of life, changed with the Greeks and Romans into a desire to resist nature, to produce a mental cunning and a mechanical force that would outwit Nature and chain her down completely, till at last there should be nothing free in nature at all, all should be controlled, domesticated, put to man’s meaner uses. Curiously enough, with the idea of the triumph over nature arose the idea of a gloomy Hades, a hell and purgatory. To the peoples of the great natural religions the after-life was a continuing of the wonder-journey of life. To the peoples of the Idea the after-life is hell, or purgatory, or nothingness, and paradise is an inadequate fiction.”(EP, 75f.). 897 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 394. 898 „Die vom nationalkulturellen Diskurs als ‚Unbewußtes’ abgespaltenen Erfahrungswelten tauchen als Alvinas ’true nature’ in Szenen auf, welche durch Dunkelheit, die ge- 436 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Auges macht sie sich durch den Umgang mit Ciccio in trotziger Rebellion gegen soziokulturelle Repression zur Außenseiterin: “She felt herself [...] something of an outcast, because of the man at her side. An outcast! And glad to be an outcast. She clung to Ciccio’s dark, despised foreign nature. She loved it, she worshipped it, she defied all the other world.”(LG, 215) Sie wird zum ’lost girl’ nicht nur durch Verlust ihres Sozialstatus, sondern durch innere Distanz zum gesamten sozialen Umfeld - “She felt strange in Woodhouse“(LG, 239) -, die sie auf England ausdehnt. Der Höhepunkt ist in Lancaster erreicht, als sie das scheinbar unwiderstehliche Heiratsangebot Dr. Mitchells in den Wind schlägt und auf der Suche nach ihrem Selbst mit Ciccio in den Süden geht. Beim Blick vom Heck des Schiffes auf England gibt der Text in ungewöhnlicher Formgebung die Eindrücke der Protagonistin wieder: For there behind, behind all the sunshine, was England. England beyond the water, rising with ash-grey, corpse-grey cliffs, and streaks of snow on the downs above. England, like a long ash-grey coffin slowly submerging. She watched it, fascinated and terrified. It seemed to repudiate sunshine, to remain unilluminated, long and ash-grey and dead, with streaks of snow like cerements. That was England. Her thoughts flew to Woodhouse, the grey centre of it all. Home! (LG, 294) Ungewöhnlich bereits ist der Verzicht auf einen feierlichen-patriotischen Ton und eine erhabene Stilgestaltung, die diesem Anlass konventionellerweise entsprochen hätte. Stattdessen wird ein aufwühlendes Geschehen in der Psyche der Heldin geschildert: In hochemotiver Sprache, gekennzeichnet durch kurze Sätze, vielfache Wiederholungen, Ausrufe- und Fragesätze, Ellipsen und Alliteration, Vergleiche und Metaphern, verwischen sich die Grenzen zwischen erlebter Rede und innerem Monolog als verbalisiertem Ausdruck dramatischer intrapsychischer Abläufe. Das Wort ’England’ wird sechsfach wiederholt, die damit in Verbindung gebrachte symbolträchtige Farbe Grau siebenfach, davon viermal durch die Assoziation mit Asche, zweimal durch die Assoziation mit Sarg bzw. Tod. Auffallend ist das semantische Feld mit dem Vorstellungskern Tod, das bei Einbezug aller damit in Verbindung stehenden Wörter - ’ash-grey’, ’corpse-grey’, ’coffin’, ’submerging’, ’dead’, ’cerements’, ’died’ - dreizehnmal im Hinblick auf diesen Bedeutungsgehalt aktiviert wird. England ist der Ort ’hinter dem Sonnenschein’, das Land, das den ’Sonnenschein zurückweist, um unbeleuchtet zu bleiben’. Dieses Zurückweisen symbolischer Be- und Erleuchtung ist im Lawrence’schen Sinnkontext das Negieren ganzheitlicher Leiblichkeit in Gestalt sinnlichen Erlebens als Weg zum eigentlichen Selbst und wahren Ich. 899 In der Bildverknüpfung des am Horizont versinkenden schlechtliche Differenz und die zwischenleibliche Wahrnehmung, zumeist gepaart mit der nationalkulturellen Differenz, markiert sind.“(ebd., 423). 899 “Für Nietzsche wie Merlau-Ponty ist der Leib als Gegenbild zum Körper Repräsentant für die Unteilbarkeit der Empfindungen.“(ebd., 397). 437 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Landes mit Sarg, Leichentuch, Tod und Asche kulminiert in ausdrucksstarker Symbolik Alvinas Bruch mit der heimischen Welt als “[…] the burial of the dead self again, along with the land that held it. As she travels on and nears the Alps, space, past and future invade her consciousness in all their splendour.” 900 Schrecken, Entfremdung und Tod des ‚alten’ Selbst in der Psyche der Figur sind im Argumentationsstrang des Textes Voraussetzung des Aufbruchs zu symbolisch neuen Ufern. Unter Annahme einer Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Diskurs um binäre lebensweltliche Oppositionen 901 wird die Protagonistin mit dem Neuen des fremden Raumes konfrontiert. Erst die Landschaft Südfrankreichs, dann die Alpen und mehr noch die Mittelmeerküste lösen durch ihren kontrastiven Charakter intensive Reaktionen in der Heldin aus: Eine Bewusstseinsverschiebung und Transzendierung der Realität, indem sie wähnt, die schönen Bilder der neuen Außenwelt in einem früheren, glücklicheren Leben gesehen zu haben. Was sie erblickt, ist größer und stattlicher als in England: “She loved being in Italy.[...] She loved watching the glowing, antique landscape.“(LG, 299) Landschaft als Horizont- und Bewusstseinserweiterung bedeutet die Auflösung starrer Strukturen des Räumlichen und Zeitlichen und eine Ausweitung in andere Ort- und Zeitdimensionen - Erlebnisinhalte, die sie in der englischen Landschaft nie erfahren hat. Auf dem Weg zu Pancrazios Haus erlebt die Heldin einen weiteren, ihr bislang unbekannten Aspekt von Landschaft: Es ist deren Ursprünglichkeit und sogar ‚Wildheit’, die ungewohnte Strapazen bereiten und den Gang der Reise merklich entschleunigen. “Lovely - wonderful“, so der Text, sei jedoch ihre Reaktion auf die neue Außenwelt gewesen, und allwissend wird berichtet, dass sie alles ’amazing’ fand, die Sterne ’lustrous’ und ’magic’, die Felswände ’terrible and grand’, und mit ’magnificence’ fasst sie ihren Eindruck der Szenerie zusammen: Die Landschaftsphänomene des Ursprünglichen und Wilden rücken bewusstseinsmäßig ins Zentrum im expliziten Kontrast zu den deformierten Midlands. Alvinas Eindrücke des Schönen, Schrecklichen und Erhabenen in der Berglandschaft der Abruzzen sind ästhetische Reaktionen, die, von einer Ausnahme abgesehen, bei keinem ihrer Bilder englischer Landschaft entstehen. Die Ausnahme beschränkt sich auf ihren dreitägigen Aufenthalt 900 Clark, The Minoan Distance, 219. 901 ”In modernist cartography, the industrial West is the domain of instrumental reason, mechanism, the market, the uniformity and anonymity of the masses, the inauthentic, the hypercivilized, the sexually repressed, the alienated, the disenchanted. It is, in short, a fully rationalized world. The site of expatriation - Italy - promises an amelioration of the modern condition. It is the domain of the passional, the instinctual, the organic, the sensual, of sun and light, and the exotic. These assumptions underlie the familiar expatriate mythologies.” (Marilyn Adler Papayanis, Italy’s Best Gift: D.H. Lawrence and the Ethos of Expatriation, in: Literature and Interpretation Theory, New York: Gordon Breach, 14/ 4, 2003 Oct-Dec, 291). 438 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL in Scarborough, als sie, innerlich auf der Flucht vor einer Heirat mit Mitchell, allein Wanderungen unternimmt, aber diese Freude entspringt nicht ästhetischem Erleben, sondern dem Gefühl noch verbliebener Freiheit vor einer konventionell-repressiven Ehe. Wer in den Midlands lebt, bewegt sich in den “dreary, hideous streets of the manufacturing town[s]“.(LG, 156) In satirischer Verballhornung gibt Madame Rochard aus der Perspektive einer Außenstehenden ihrem Abscheu Ausdruck: “Woodhouse! Woodlouse! Is there not something called Woodlouse! I believe. Ugh, horrible! “(LG, 126) Ihr metaphorischer Zugriff auf die unterste Stufe der Tierhierarchie zur Charakterisierung der Lokalität veranschaulicht den gewaltigen Gegensatz zwischen dieser Außenwelt und der von der Heldin als wunderbar empfundenen Landschaft Italiens. Auf tieferer Sinnebene geht es nicht nur um den Verlust des Ursprünglichen und Natürlichen im industriellen Norden, sondern auch um die Wertschätzung des Phänomens Natur. So begegnet die Heldin der rauhen Bergwelt überraschenderweise mit Respekt, argumentativ ein gelungener Schritt, da sie nun auf eine Verkörperung authentischer Natur getroffen ist, in der sie bei ihrer Suche nach ’her own true nature’ fündig werden kann: Im Vordergrund stehen Zauber und Pracht der Landschaft, aber auch Furcht einflößende Großartigkeit. „Als absolute Alterität beider Kulturen fungiert die italienische Natur in der Einsamkeit der Abruzzen.“ 902 Das ist das Gegenteil zur geschundenen Bergbauregion des ’Black Country’, die konkret alle Farben und symbolisch jeglichen Glanz verloren hat. Lawrences Insistieren auf dem Verlust an Farbigkeit und dem Vorherrschen der Farbe Grau in Englands Landschaft visualisiert den Verlust an Lebenskraft und Vitalität: Schwarz und grau sind in diesem Kontext keine Farben, sondern bezeichnen Zustände psychisch-seelischer Verarmung als Folge rücksichtsloser Ausbeutung. So ist es kein Zufall, wenn sich die auktoriale Aufmerksamkeit der Formenvielfalt und grandiosen Farbigkeit der Bergblumen zuwendet: Kein anderes Landschaftsphänomen wird so offensichtlich mit der Funktion betraut, den Gegensatz zwischen englischer und italienischer Landschaft konkret darzustellen. Damit ist freilich die spezifische Wirkungsmacht der italienischen Landschaft auf die Protagonistin keinesfalls vollständig erfasst. Das anfänglich klischeehafte Empfinden von Zauber und Märchenland - von ’marvellous’ bis ’fairyland’ - als transzendierte Wirklichkeit jenseits der pragmatisch-utilitaristischen Realität der englischen Lebenswelt, wie sie von Miss Pinnegar verkörpert wird, weicht bald Alvinas überschwänglichen Formulierungen von Genugtuung und Glücksempfinden in der ‚wilden’ Landschaft der Abruzzen mit ihrer weitgehend bewahrten Naturhaftigkeit. Die industrialisierte Natur Englands in ihrer Trost- und Farblosigkeit wird damit in eine lebens- und menschenfeindliche Position einge- 902 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 394. 439 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG rückt, während der vergleichsweise intakte Raum Italien als Antipode zur heimischen Lebenswelt fungiert und im Bild des im Meer untergehenden Sarges stigmatisiert wird. Die klimatischen, topografischen und folkloristischen Oppositionen, wie eisige Kälte, steile Felswände, Bauern in pittoresken Trachten, sind nur oberflächliche Indikatoren von Gegenpoligkeit. „Der Antagonismus von Nord und Süd ist für ihn [Lawrence] der Antagonismus alternativer Lebensentwürfe, der Antagonismus zwischen dem heidnischdionysischen Kult unmittelbarer Sinnlichkeit und der christlichen Hingabe an die Welt des Geistes, der Nächstenliebe und der Unterwerfung des Fleisches.“ 903 In Wahrheit interessiert er sich für die Differenz als epistemologischer Hilfe zur Selbsterkundung, denn primär geht es um personale Authentizität und wahre Identität als Voraussetzungen zu persönlichem Glück. 904 3.6.3.2 Innenweltliche Reaktionen auf das Erleben von Landschaft in England und Italien Die deutlich markierte Polarität der Landschaft in England und Italien, jenseits visueller Kontraste der Topografie und des Lokalkolorits als inhaltliche Opposition unterschiedlicher Lebenswelten, wird narrativ intensiviert, da sich der Erzähler bei der Wahl der Handlungsorte auf zwei Regionen mit ausgeprägter Eigenart konzentriert, die Midlands und die Abruzzen; Landschaftsbilder aus anderen Teilen beider Länder spielen so gut wie keine Rolle. Im Vertrauen auf Vorwissen des impliziten Lesers konnte der Autor bereits von erheblich divergierenden Landschaftsvorstellungen ausgehen, die er bei der Verlagerung seiner Handlung in diese Regionen verstärkt und durch kontrastreiche Gegenüberstellung jenseits landeskundlicher Information oder enzyklopädischer Aufklärung zur Ausleuchtung innenweltlicher Befindlichkeit nutzt. Die Landschaft ist Darstellungsort der Psyche, ‚externalisierter Seelenraum’, aber nun nicht zwecks Seelenspiegelung, wie bei Frau von Staël und Dickens, auch nicht zwecks Seelenexploration, wie bei Eliot und Gissing, sondern als Raum der Sinngebung und der Seelensteuerung, was bei Forster sichtbar wird und sich bei Lawrence intensivierend fortsetzt. 903 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 296. 904 „Lawrence interessiert sich nicht für Italien und die Italiener an sich. Im Mittelpunkt steht England [...]. Im Sinne der von Stanzel entwickelten Topologie der Länder- und Völkerbeschreibung bedient sich Lawrence dabei sowohl des ’Polaritätstopos’ als auch des Topos der ’Laster und Tugenden’. [...] Die dabei sichtbar werdende Polarität [ist] Basis für eine kritische Erforschung der von ihnen jeweils eröffneten positiven Lebensmöglichkeiten, vor allem aber der von ihnen verdrängten und ausgegrenzten Erfahrungsformen.“(ebd., 299f.). 440 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Die erste Landschaftsbeschreibung des Romans ist eine Darstellung der Stadtlandschaft Islingtons, Alvinas selbst gewähltem Ausbildungsort. Das auffälligste Kennzeichen des Stadtbildes ist sein Schmutz, worauf im Zuge der eine Textseite umfassenden Schilderung siebenmal hingewiesen wird (LG, 31). Weitere Aspekte dieses semantischen Feldes heben den sichtbaren Zerfall, die Schäbigkeit und Trostlosigkeit der Straßen und Häuser hervor, Aspekte, deren Wirkung auf die Psyche die allwissende und kommentierende Erzählinstanz benennt. Was sich dem Auge darbietet, sei ’unattractive’, ’uninviting’, ’horrid’,’disgusting’, und der damit einhergehende seelische Befund wird mit ’being repelled and heart-broken’ bezeichnet. So jedenfalls müsste, folgt man dem erzählerischen Gestus, der durchschnittliche Betrachter empfinden, so wie es auf Lawrence wohl selbst zutraf 905 , und als Korrelat von Außen- und Innenwelt müssten eindeutige Reaktionen wie Widerwille, heftige Ablehnung und Depression folgen. Das Verwunderliche ist aber, dass der Text die Heldin ihre neue Umwelt nicht als abstoßend wahrnehmen, sondern sich freuen lässt. Was zunächst als Widerspruch zur Prämisse des Romans erscheint, dass die trostlose Industrielandschaft ein Abbild verkümmerten Lebensgefühls sei, ist in Wahrheit spektakulärer Ausdruck von Alvinas inneren Widerstand gegen Konformismus und Unterdrückung von Individualität und Vitalität. Ihre Freude entzündet sich freilich nicht an der visuellen Abscheulichkeit der Stadt, die durch Zufall Ort ihrer Ausbildung ist, sondern an ihrer Genugtuung in Gestalt eines “perverse pleasure“(LG, 31), die Rollenerwartungen ihres gesellschaftlichen Umfeldes in Woodhouse, wozu ihre Eltern, Miss Pinnegar und vor allem Miss Frost gehören, durch die Wahl des Hebammenberufs konterkariert zu haben. An einem anderen Handlungspunkt reagiert die Protagonistin ebenfalls erstaunlich positiv, sogar überschwänglich auf die Hässlichkeit der Region - “For truly nothing could be more hideous than Woodhouse, as the miners had built it and disposed it“(LG, 48) -, aber dieses Mal geschieht es nicht aus Opposition gegen Konformität, sondern in Reaktion auf einen neuen Erfahrungsbereich. Es geht real um die Welt der Bergleute unter Tage und symbolhaft um die Welt der Dunkelheit als Verkörperung des Unbewussten, Sinnlichen und Sexuellen: There was a thickness in the air, a sense of dark, fluid presences in the atmosphere, the dark, fluid viscous voice of the collier [...]. He seemed to linger near her as if he knew - as if he knew - what? Something forever unknowable and inadmissible, something that belonged purely to the un- 905 “Perhaps Lawrence’s greatest weakness was a kind of impatience which was the result of an absolute refusal to face necessary ugliness.[...] He hated the places of his childhood and the life of the workers not just because he had grown away from them completely but because he could not endure the ugliness of the mining villages.” (Stephen Spender, The Creative Element, zit.n. DiMauro, Modern British Literature, 239). 441 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG derground: to the slaves who work underground: knowledge humiliated, subjected, but ponderous and inevitable.[...] still his presence edged near her, and seemed to impinge on her - a smallish, semigrotesque, greyobscure figure with a naked brandished fore-arm: not human: a creature of the subterranean world, melted out like a bat, fluid. She felt herself melting out also [...]. Her lungs felt thick and slow, her mind dissolved, she felt she could cling like a bat in the long swoon of the crannied, underworld darkness.(LG, 47) „Die Szene stellt in The Lost Girl die erste narrative Dramatisierung jener Gegenwelt dar, die Alvina als ihre psychische Tiefenstruktur annehmen und in der Beziehung zu Ciccio ausleben muß.“ 906 Jenseits der manifesten Oberfläche beschreibt die Bergwerksszene auf latenter Textebene die Initiation der Heldin in das Reich des Unbewussten und Sinnlichen. In der in eigenartiger Spannung aufgeladenen Atmosphäre unter Tage verflüssigen sich fest gefügte Wert- und Glaubenssetzungen, wie die Schlüsselwörter ’fluid’, ’melting’ und ’dissolved’ anzeigen. In faszinierender, irrealer Bildhaftigkeit werden harte Konturen weich und fluide, was Nietzsche bereits formulierte 907 und Dali malte 908 : Halbnackte Gnome wie bei William Blake bevölkern die Szene und bedrängen das verängstigte Individuum; Fledermäuse fungieren symbolhaft als Geschöpfe der Welt des Unbewussten und der rätselhaft-signifikanten Träume, wie Goya sie zeichnete und Sigmund Freud deutete. Durch weitgehenden Verzicht auf konkrete Beobachtungen und Eindrücke zugunsten fantasievoller Assoziationen ist die Szene als explorativer Gang der Hauptfigur in die Sphäre des Wissens um Sinnlichkeit und Sexualität angelegt, ein Wissen, das gemeinhin, wie der Text andeutet, tabuisiert, abgewertet und verdrängt wird, aber unübersehbar existiert. ”For Lawrence, the significance of the sexual experience was this: that, in it, 906 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 407. 907 Nietzsche und Lawrence ”[...] had strikingly similar sensibilities. Both writers came out of puritanic-pietistic Christian backgrounds enforced by domineering mothers. Both rebelled against family, God and ethos, yet remained significantly understandable in terms of radical protestant individualism, including its extremes of moral righteousness [...]. They dramatically polemicized against Christianity - Zarathustra’s ’God is dead’ and Lawrence’s ’the Almighty has vacated, abdicated, climbed down’ - and made blasphemous revelations of the ’idealistic’ sensual perversions, moral nihilisms and metaphysical pathos in fungoid growth from Christian heritage. Yet each insistently lusted after newold gods and revived pagan demons [...] as they desperately sought to be the last angry prophets of decadent and destructive Western civilization.”(Kingsley Widmer, Lawrence and the Nietzschean Matrix, in: Meyers, Lawrence and Tradition, 127f.). 908 Die Vorstellung sich auflösender Chronologie und sich verflüssigender Uhren brachte Dali konkret in seinem surrealen Gemälde ’The Persistence of Memory’ (1931) zum Ausdruck. “Men like Max Ernst (born 1891) and Salvador Dali (born 1904) saw painting as a means of recording with hypnotic accuracy [...] anti-rational inventions, and they created complex pictorial metaphors of uncertain and thus unlimited meaning.”( Norbert Lyndon, The Modern World, 111). 442 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL the immediate non-mental knowledge of divine otherness is brought, so to speak, to a focus - a focus of darkness.“ 909 Lawrence lässt seine Heldin die seltsame physische Faszination dieses dunklen Unterweltlich- Unbewussten spüren, als sie die körperliche Nähe des Bergmanns als geheimnisvolle Botschaft einer verborgenen, verlockenden Welt deutet, sein nackter Unterarm auf Vertrautheit mit ihr hindeutet und sie seine Worte als zähflüssiges Gebilde wahrnimmt. Im Subtext sind diese Phänomene Symbole eines Aktes der Sexualität in dieser dem Blick von oben verborgenen ‚unteren’ Region, und sie sind voll dynamischen Lebens. Ihr heftiger Wunsch nach dauerhaftem Verbleib in der geheimnisvollen Sphäre verborgener Körperlichkeit, bezeichnenderweise als Fledermaus, traditionell Sinnbild irrationaler, unterdrückter Naturkräfte, kann tiefenpsychologisch als Wunsch nach weiterer Initiation in die stigmatisierte Welt des Sinnlichen gedeutet werden. „Alvinas Initiation besteht in der Erkenntnis, daß eine ’andere’ als die Welt des Bewußtseins nicht in einem transzendenten, unkörperlichen Jenseits, sondern auf der Ebene der Zwischenleiblichkeit zu erfahren ist, nicht in unvorstellbarer Ferne, sondern in der absoluten Nähe des eigenen Leibes.“ 910 Trotz der Schattenseiten im Reich des Dunklen - es geht um die sklavenähnliche Situation der Arbeiter und die Verformung ihrer Körper durch Schwerarbeit 911 - gehört diese ‚Unterwelt’ voller Eigenleben und Vitalität zwangsläufig zur Welt über Tage, in die die Bergleute, bei aller zivilisatorischen Entfremdung zwischen beiden Sphären, immer wieder zurückkehren. Das verborgene, dem direkten Blick entzogene Sinnlich-Irrationale in der Welt ‚unten’ bleibt dennoch Ort geheimer Wünsche und reprimierter Lebenskraft. Lawrence ”[...] held that the unconscious in its depths is pure and wholly creative [...]”. 912 Eine Existenz ohne Ausleben des Körperlichen gilt Lawrence als Verarmung des persönlichen Potenzials. „Die Unterdrückung des Trieblebens hatte nach seiner Ansicht zu einer Verkümmerung des Menschen geführt und die Einheit von Sinnen und Seele zerbrochen. Lawrence forderte den Mut, die dunklen Mächte des Unterbewußten durch klare Er- 909 Aldous Huxley, Introduction, in: ‘The Letters of D.H. Lawrence’, in: zit.n. DiMauro, Modern British Literature, 236. 910 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 414. 911 Lawrences Bergleute, Arbeitssklaven von befremdlichem Aussehen und gnomenhafter Statur, erinnern an die in H.G. Wells’ Roman The Time Machine (1895) in der Unterwelt lebenden Morlocks, die aus den Proletariern des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen hässlichen, aber lebenstüchtigen und vitalen Herrscher unter Tage. Sie ernähren sich von den sanftmütigen und Kinder gebliebenen Eloi über Tage, die friedlich, aber in ständiger Furcht und geistiger Beschränktheit leben. "Im anti-klassizistischen Denken von Lawrence ist die desolate Situation der Arbeiter untrennbar mit verzerrten Prioritäten verwoben, welche ein von ökonomischen Erwägungen dominiertes Denken setzt. Die emotionale Verarmung der Arbeiter und ihre körperliche Gebrochenheit exponieren den Preis des herrschenden Denkens.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 416). 912 Clark, The Minoan Distance, 8. 443 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG kenntnis zu ergründen und durch offene Aussprache des sexuellen Lebens den Menschen wieder zu einem ’integrated life’ zu führen.“ 913 Eine Einseitigkeit in der existenziellen Dualität des Menschen, wie sie aus abendländisch-logozentrischer Perspektive ständig in ungleichen Oppositionen von Geist und Körper, Verstand und Gefühl, Intellekt und Sexualität artikuliert wird, hielt er von Nachteil. 914 “Lawrence’s whole life was a constant search for this impossible state of perfect union of dual forces in the body and in the relationship of man and woman.” 915 Wenn der Text in der Bergwerksszene und an anderen Stellen des Romans den Mythos der Proserpina bzw. Persephone aufgreift - Alvinas Wunsch zum Verbleib unter Tage findet seine Parallele in Proserpinas Biss in den Granatapfel, der sie zum Verbleib im Hades verdammt, jedoch “[…] embraced by Pluto“(TI, 31) -, dann figuriert diese Unterwelt als Ort ihres symbolischen Todes in einer fremdbestimmten Existenz, aber zugleich auch als Ort einer symbolischen Geburt mit der Ausrichtung auf ein Leben in erfüllender Sexualität. Als Alvina aus dem Bergwerk ans Tageslicht kommt, nimmt sie, ganz im Banne neuer Erlebensperspektiven, Woodhouse und die umliegende Landschaft schöner wahr als je zuvor: When she was up on the earth again she blinked and peered at the world in amazement. What a pretty, luminous place it was, carved in substantial luminosity. What a strange and lovely place, bubbling iridescentgolden on the surface of the underworld. Iridescent-golden - could anything be more fascinating! Like lovely glancing surface on fluid pitch. But a velvet surface. A velvet surface of golden light, velvet-pile of gold and pale luminosity, and strange beautiful elevations of houses and trees, and depressions of fields and roads, all golden and floating like atmospheric majolica. Never had the common ugliness of Woodhouse seemed so entrancing. She thought she had never seen such beauty.(LG, 47f.) Die Welt erscheint in der kostbarsten aller Farben, in Gold, was durch fünfmaligen Hinweis im Text nachhaltig hervortritt. Sie ist farbenfroh, lichtdurchflutet, samtig und glanzerfüllt, aber sie ist all dies nur, weil die Heldin soeben der monochromen Finsternis unter der Erde entstiegen ist. Die Schönheit über Tage ist ein psychisches Konstrukt und konstituiert sich, angesichts der Abscheulichkeit der Landschaft um Woodhouse, als rein intrapsychischer Vorgang erst im Kontrast zur Welt unter Tage. Die auktoriale Botschaft lautet: Wer das Leben in kostbarer Farbigkeit und Schönheit sehen will, muss auch den verborgenen Teil der Natur - auch denjenigen der menschlichen Natur - einbeziehen, anstatt diese Verbin- 913 Schirmer, Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, Bd II, 970. 914 ”The Infinite is twofold, the Father and the Son, the Dark and the Light, the Senses and the mind, the Soul and the Spirit, the self and the not-self, the Eagle and the Dove, the Tiger and the Lamb. The consummation of man is twofold, in the Self and in Selflessness.”(TI, 46). 915 Chong-Wha Chung, In Search of the Dark God, in: Preston/ Hoare, D.H. Lawrence in the Modern World, 74. 444 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL dung zu leugnen, zu unterdrücken und so ihre Lebenskraft abzutöten. Alvinas Gang ins Bergwerk erweist sich im Lawrence’schen Kontext als Parabel einer ganzheitlichen Form der menschlichen Existenz. Hier beginnt ihr Weg der Selbsterkundung, der zum Bruch mit der englischen Lebenswelt führen muss, um in Italien - eventuell - Kompensation zu erhalten. 916 Wenn Lawrence den endgültigen Vollzug dieses Bruchs mittels eindringlicher Farbsymbolik und einprägsamer Bildhaftigkeit von England als untergehendem Sarg inszeniert, erstellt er ein dramatisches innenweltliches Szenarium der totalen Entfremdung. Die Assoziation der fahlen Klippen der Insel mit Leichentüchern, Tod und Asche wirkt in der Leserrezeption wie eine Kupferstichnadel, die harte Konturen in metallenen Untergrund ritzt, bevor sie mit Säure eingeätzt werden. Das Bild des versinkenden Sarges konnotiert das innenweltliche Auslöschen alter psycho- und soziokultureller Prägungen, die bislang Alvinas Status konstituierten und zu bedrückenden Zeichen emotionaler Stagnation und Sterilität geworden waren. Das anfängliche Auflehnen durch Spott und Ironie - ”fits of boisterous hilarity“ gegenüber Miss Frost (LG, 21) - geht in gedankliche und verbale Provokation über - ”Time for Miss Frost to die“(LG, 36) und ”I like being lost“(LG, 217) - und endet im gewollten Bruch mit Konventionen, als sie ihr Heiratszusage schlichtweg ignoriert. Italiens Landschaft fällt die Aufgabe zu, die in der Psyche der Protagonistin entstandenen Vakuumstellen auf ihrem Weg zu ’her own true nature’ aufzufüllen. Lawrence verzichtet völlig, wie dargelegt, auf das Heranziehen bekannter Orte, die britischen Reisenden mit Bildungsanspruch seit der Grand Tour die Route vorgaben. Die Wegbeschreibung zu Pancrazios Haus ist eine Naturschilderung, die mit den Klischees italienischer Landschaftswiedergabe seit Lorrain, Poussin, Dughet und Rosa und auch mit der Sehweise der Bamboccianti oder Gilpins (vgl. 2.1.3 u. 2.2.1) radikal bricht. Statt Sonne, Licht und Wärme herrschen Dämmerung, Dunkelheit und Kälte vor, statt lieblicher Prospekte und anmutiger Naturorte dominieren steile Felsen und zerklüftete Berge, statt bukolisch-friedvollen Szenen begegnen die Reisenden Bauern in robuster Kleidung mit Arbeitstieren, statt Müßiggang und Überfluss sind in der Bergwelt Anstrengung und Entbehrung zu Hause. Die Wiedergabe seelischer Vorgänge und auch die Dialoge zwischen Alvina und Ciccio zeigen, dass sie konventionalisierte Vorstellungen über Italien mitbringt: “I didn't know it was so wild! “(LG, 305) Aber die neue, klischeefreie Naturszenerie steht in offenem Kontrast zur emotionalen Stagnation in Woodhouse, die sie in innere und dann äußere Opposition 916 ”Italy [...] that rich, protean country has a different function and meaning in each of his works. In his letters Italy represents freedom and inspiration, in the travel books the search for an ideal community, [...], in The Lost Girl a way to self-discovery, [...] in the paintings a pagan landscape, in the resurrection works a way to rebirth.” ( Meyers, Experience of Italy, 1). 445 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG trieb. Das hier wahrnehmbare unverfälschte Ursprüngliche als sichtbar gewordene Authentizität des Phänomens Natur bietet sich dem Blick in unübersehbarem Gegensatz zu den gravierenden Beschädigungen der englischen Industrielandschaft dar. 917 Diese schroffe Bergwelt mit rauem Klima korreliert in der Weise mit der Heldin Innenwelt, als sie die von ihr gesuchten Wesenszüge des Echten und In-Sich-Stimmigen aufweist. Aus diesem Grund findet sie diese Natur wunderbar, erstaunlich und betörend auf der einen Seite, großartig, Respekt und Furcht einflößend auf der anderen (vgl. LG, 306). Diese Landschaft ist nicht lediglich Spiegel- oder Abbild, Indikator oder Seismograph, auch nicht nur Katalysator oder Stimulans, Ferment oder Sinnbotschaft, sondern Sinnvermittlung bzw. Sinnverkörperung, Offenbarung bzw. Manifestation von Authentizität: Sie ist Seelenlandschaft in sinnverkörpernder, manifestativer Funktion, eine Wirkungsweise, die in der Außenwelt und der Gesellschaft der Midlands zerstört, verschüttet und abgestorben ist. Im zweiten Landschaftsbild nimmt die schroffe, jedoch intakte Natur Italiens Einfluss auf den Menschen - “[…] it was the mysterious influence of the mountains and valleys themselves“(LG, 314) - und droht der Heldin und selbst Einheimischen in befremdlicher Weise das Auslöschen ihrer Psyche an, denn es gebe [...] places which resist us, which have the power to overthrow our psychic being.[...] potent negative centres, localities which savagely and triumphantly refuse our living culture.(LG, 314) Wie Forster in frühen Kurzgeschichten und in seinen Italienromanen beschwört auch Lawrence einen ’spirit od place’, und im Zuge dieser „[…] Anthropomorphisierung der Natur und des Schauplatzes, [die] die übergreifende Polarität von Norden und Süden, Kälte und Wärme, ’consciousness’ und ’blood’, rationaler Intellektualität und instinktiver Lebensunmittelbarkeit“ betont, erhebt der Autor „Einspruch gegen Universalität, Eindimensionalität und Internationalismus, gegen das, was er in Sea and Sardinia als ’the last waves of enlightenment and world-unity’ bzw. als ’hateful homogenous world-oneness’ bezeichnet hat.“ 918 Die Stärke dieser Natur und ihre Potenz zur Vernichtung des Menschen in der zeitgenössischen Zivilisation ist ihre archaisch anmutende, Alvina teils bezaubernde, teils erschreckende, jedoch intakt gebliebene Kraft. Sie ist voller Liebreiz im Licht und im Farbenspiel der Abendsonne, sogar die Apotheose natürlicher Schönheit; 917 „Lawrence [zeigt] mit seiner von den üblichen Italienklischees abweichenden Schauplatzwahl an, daß er nicht am Italienbild einer bildungsbürgerlichen Natur- und Kulturlandschaft interessiert ist, sondern zur Konkretisierung seiner Aussageintention eine italienische Landschaft braucht, die vor allem Zivilisationsferne und einen prämodernen, mythischen Naturraum denotiert.“(Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 307; vgl. dazu Fußnoten 890 u. 904). 918 Ebd., 300f. 446 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL die hereinbrechende Dunkelheit evoziert jedoch eine Schreckenswelt blutrünstiger Götter, “[…] who dipped their lips in blood“.(LG, 315) Wenn Alvina diese Schreckensvisionen aus vorzeitlicher Welt seltsamerweise bejaht, ist diese Haltung aus Lawrences idiosynkratischer Sicht positives Zeichen ihres Herausfindens aus neuzeitlicher Knebelung der Sinnlichkeit und ihrer Öffnung für eine Sphäre neuen transzendierten Wissens. ”Lawrence’s novels typically move forward, through confrontations and crises, into new arenas. He liked to speak of man as a ’thoughtadventurer', and the adventure deals in new feelings as much as in new thoughts.” 919 Durch Erreichen dieser bedeutsamen Erkenntnisstufe wird die Heldin “[...] aware of a mystery, a darkness containing a truth definitely ignored or forgotten by the civilized Northern man”. 920 In Twilight in Italy schreibt Lawrence: ”In the sensual ecstasy, having drunk all blood and devoured all flesh, I am become again the eternal Fire, I am infinite.”(TI, 36) Mystisch verklärt und symbolisch auf das Höchste verdichtet erscheint die Dämmerung, Zeit des Zusammentreffens von Licht und Dunkel, als beglückende Symbiose der im Menschen angelegten Dualität von Geist und Körper, Intellekt und Sinnlichkeit, denn “[...] where in mankind is the ecstasy of light and dark together,[...] day hovering in the embrace of the coming night like two angels embracing in the heavens? [...] Where is the transcendent knowledge in our hearts, uniting sun and darkness, day and night, spirit and the senses? Why do we not know that the two in consummation are one [...]? (TI, 31) In der Berglandschaft um Pescocalascio öffnet sich der Blick der Heldin in eine archaisch-mythische ’pre-world’ jenseits christlicher Heilsdogmen über Sünde, Tod und Erlösung, in der weder anerzogene Körperfeindlichkeit noch moralische Abwertung oder gar Verteufelung des Sinnlichen und Sexuellen existieren. “Lawrence believes the greatest, most deeply-rooted enemy of the intuitive and sensual life is Christianity.” 921 Dieser Raum einer ’heathen past’ und ’old eternity’(LG, 315 u. 316) zeigt keine normierte, verfälschte Welt, sondern den Ort einer durch die Natur als nicht hintergehbarer Autorität vorgegebenen Seinsweise. Die emotionalen Reaktionen der Heldin von Schrecken und Schmerz sind Folge des Heraustretens und Verlustes alter Bindungssicherheit, die aber aufgrund von “old knowledge“ und “ancient sapience“(LG, 21, 22) auch Nostalgie auslösen, Grund ihrer Sehnsucht nach Rück- und Heimkehr an den Ort unverfäschter Identität in einer intakten Natur. Der Höhepunkt ist “a wild, terrible happiness“ in der symbolischen Geburtsstunde ihres neuen Selbst, ’her own true nature’, Bedingung eines eigentlichen Ichs. „Das ‚wahre Leben' siedelt D.H. Lawrence in jenen psychischen und sozialen Welten an, die der bürgerliche Wertekanon stigmatisiert: in der Dunkelheit, der Kollektivität der Arbeiterklasse, der nationalkulturellen 919 Weinstein, The Semantics of Desire, 193. 920 Delbaere-Garant, The Call of the South, 355. 921 Meyers, Experience of Italy, 21. 447 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Fremde, der Leiblichkeit und in der sexuellen Erfahrung.“ 922 Dem empfangsbereiten Individuum mit einer “mediumistic soul“(LG, 315) gewährt diese Landschaft ein verklärtes Sehen, eine Transfiguration im Erleben der Harmonie von Geist und Körper, von Intellekt und Sinnlichkeit. Aber nicht nur bestimmte Tageszeiten, auch besondere Szenarien erzeugen durch ihre Stimmungshaftigkeit profunde innenweltliche Wirkung. Das archaische Bild des mit Ochsen pflügenden Ciccio in der urtümlichen Berglandschaft lasse jedes Mal, so der Text, Alvinas Sinne fast schwinden, weil von diesem Anblick ein Zauber ausgehe, Hinweis auf ihren Gang zu innerem Glück durch Akzeptanz des Wunsches nach ausgelebter Sexualität. So wird die suggestive Symbolwirkung von Bildern aus der Natur zur Bestätigung ihres tief sitzenden Dranges nach Neuorientierung in der Prioritätensetzung ihrer Lebensgestaltung. Die innenweltliche Präsenz solcher Bilder der ’pre-world’ wird umso intensiver, je länger Alvina in Califano weilt. Sprachlich, kulturell und gesellschaftlich von jedem Zugang zur heimischen Bevölkerung abgeschnitten, lebt sie auch in räumlicher Isolation von den Menschen. Es ist einzig die Natur in Gestalt der Blumen, die ihre Bindung an diese Region generiert; weder die abstoßenden Innenräume noch die sozial vergiftete Atmosphäre unter den Bergbewohnern, die alles Fremde zurückweisen, bieten ihr eine Chance zur Identifikation, zur Integration und zur selbstbestimmten Identitätsfindung. So wird nachvollziehbar, dass sie diese Umwelt mit Gestalten aus dem Fundus ihres Gedächtnisses bevölkert. Die Traubenhyazinthe mit ihren fülligen Blüten erinnert sie an die Brüste der Artemis; manche Blumen gleichen umherschleichenden Wesen, Furien und Lemuren, mit verhängnisvollem Grabes- und Todesbezug, die den Betrachter anmutig umgarnen, bevor ihn ihre Giftzähne verletzen; hellrote Anemonen evozieren durch ihr Farbenspiel die Liebe zwischen Venus und Adonis. Dieses Blumenreich als Abbild der vorzeitlichen Welt vereinigt dichotomisch Liebreiz und Grausamkeit, Sinneslust und Todesnähe und weist tiefenhermeneutisch auf den Konnex zwischen Sexualität und Gewalt hin, repräsentiert jedoch gerade durch diese Polarität das Authentisch-Naturhafte. 923 Letztendlich beschreiben Lawrences italienische Landschaftsszenarien eine Welt, in der das Ich der Heldin zu Hause sein kann, 924 ein Er- 922 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 402. 923 ”Lawrence himself spoke [...] of the flower as ’the most perfect expression of life’ [and] ’flowers remained at the forefront of Lawrence’s artistic consciousness throughout his life’[...]. For no other phenomenon of nature so fully and vividly displayed the ideal relationship between the two fundamental ’impulses’ of life: ’Every impulse that stirs in life, every single impulse, is either male or female [...].”(Bechtel, A Question of Relationship: The Symbolic Flower of Consciousness in the Novels of D.H. Lawrence, 255). 924 ”The writing about place and flowers is [...] not just one of Lawrence’s most beautiful pieces of writing: the colours, the impressions, the sense of other-world beauty - the world seen in a grain of sand, and heaven in a wild flower - all these create a kind of 448 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL lebnis, wie es Philip Herriton in Where Angels Fear to Tread im Provinztheater zuteil wurde (vgl. 3.5.2.3). Ihr Bedürfnis nach einer Geste orientalischer Unterwerfung mitten in der Natur ist die unverblümte Anerkennung der größeren Autorität eines atavistisch-mythischen Raumes aus vorzeitlichem Dunkel und spontaner Dank, auf dem Weg zum eigentlichen Ich und Selbst vorangekommen zu sein: “By great retrogression back to the source of darkness, the Self, deep in the senses, I arrive at the Original, Creative, Infinite,“(TI, 46) sagt der Autor über sich selbst. Wenn über die Landschaft der Abruzzen und über Ciccio als Repräsentanten ihrer Ursprünglichkeit die Initiation der Heldin in die Sphäre des Unbewussten und Sexuellen und damit ihre psychische Abnabelung vom Wertekosmos der Miss Frost eingeleitet wird, wandelt sich ihr ‚beschrifteter Körper’ durch Entdecken der Bedürfnisse des Leiblichen in einen ‚sprechenden Körper’ 925 : Damit hat sie den Weg der Individualisierung und eigenen Identitätskonstruktion beschritten. 3.6.3.3 Von den Midlands in die Abruzzen: Der Weg aus emotionaler Stagnation zu größerer individueller Authentizität Die Kontrastierung von England und Italien wird in den letzten drei der insgesamt sechzehn Kapitel explizit herausgestellt - ihnen sind die drei Landschaftsbilder für diese Untersuchung entnommen -, aber sie beginnt schon in Kapitel sieben, als Alvina in Kontakt mit Ciccio Marasca als Folge ihrer Tätigkeit im ‚Vergnügungspalast’ ihres Vaters in Kontakt kommt. Auslösendes Moment ist, als eines Tages im Rahmen des Programmwechsels Madame Rochard mit vier jungen Männern, den Natcha-Kee-Tawaras, zum Gastspiel kommt und sie ihn im Umgang mit Pferden sieht: So beginnt ihre Faszination für den jungen Mann aus Italien. Psychologisch wird verständlich, dass sie auf ihrer bisher erfolglosen Suche nach einem Ausweg aus emotionaler Stagnation in dem Fremden und der ihn umgebenden Aura eine reizvolle Option sieht; argumentativ ist der Boden vorbereitet zur Einführung von Italien als potenziellem Ort sinnstiftender Alterität. yearning for a world in which human beings might be more at home, could be closer to and more sustained by what surrounded them.”(Donaldson/ Kalnins, D.H. Lawrence in England, 226). 925 Vgl. Küchenhoff, Der Leib als Statthalter des Individuums, in: Frank/ Haverkamp, Individualität, 169. In der Psychoanalyse gibt es „[…] zwei entgegengesetzte Positionen [...], denen zunächst sehr heterogen erscheinende Theorien zugeordnet werden können, die Vorstellung vom ’sprechenden Körper’ und vom ’beschrifteten Körper’. Einmal wird die Ursprünglichkeit des leiblichen Ausdrucks, zum anderen die Entfremdung des Eigenleibs durch gesellschaftliche Einflüsse überbetont.“(ebd.). 449 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Von diesem Punkt der Handlung an personalisiert der Autor den Weg seiner Protagonistin in die Tiefen der eigenen Psyche in der Figur des attraktiven, südländischen Fremden mit seinen ’yellow eyes’, dessen magisch-hypnotischer Wirkung sie nicht mehr entkommt. „Alvinas Abstieg in die Welt der Dunkelheit, das heißt in die kulturell marginalisierten Bereiche der Psyche und der Gesellschaft, gestaltet sich als Prozeß der Regression, des kontinuierlichen Unlearning im Hinblick auf die kulturellen Überschreibungen, Wertungen und Strukturierungen von Erfahrung.“ 926 Dies führt zum offenen Bruch mit dem englischen Umfeld, zum Verlust des sozialen Status, dann zur Heirat mit Ciccio und zu ihrem Weggang aus England, und er endet in der von der Heldin selbst gewählten Isolation in Bezug auf England, aber auch der in Italien. Ihr Gewinn besteht in einem potenziellen Zuwachs an personaler Authentizität im Sinne einer Deckungsgleichheit des freigelegten Selbst mit einem neu zu zentrierenden wahren Ich. Narrativ steht Lawrence vor der Notwendigkeit, zwecks Begründung des gewaltigen Spannungsbogens im Leben seiner Heldin eine überzeugende Argumentationsbasis aufzubauen, um zu erklären, weshalb eine junge Frau aus gutbürgerlichem Haus, versehen mit allen Vorteilen für ein Leben auf der Sonnenseite, sich mit einem wohnsitzlosen, ausländischen Schausteller liiert und ihre gesamte gesellschaftliche und kulturelle Verankerung aufgibt. Alvina legt eine gewaltige Strecke auf Englands sozialer Leiter zurück, aber dieser Weg führt nach konventionellen Maßstäben tief nach unten. Als ’lost girl’ macht sie sich wissentlich zur Deklassierten bis zum Punkt einer, nach eigenem Dafürhalten, Prostituierten, wenngleich einer ’heiligen Prostituierten’. 927 Die Frage stellt sich, ob sich solch ein spektakulärer Abstieg für die Heldin sozusagen auszahlt und sie für die Nachteile des sozialen Abstiegs entlohnt wird. Ist ihre Option für Ciccio als Ehemann und Italien als Land wirklich ein Gewinn oder war die Zurückweisung von neun potenziellen Ehepartnern aus dem englischsprachigen Raum - immerhin war sie mit zweien bereits verlobt - eine riesige Dummheit? Sollen die Leser nicht von pathologischen Defekten ihrer Psyche in Bezug auf Sexualität ausgehen, dann stellt sich für den Autor umso dringlicher das Problem der plausiblen Rechtfertigung ihres Verhaltens. Die narrative Problemlage besteht darin, 926 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 433. 927 „Bei den Kulturvölkern des Orients (Sumerer, Babylonier, Juden, Inder) galt die P.[rostitution] kultisch als opfernde Hingabe an die Gottheit. Die Tempelsklavinnen, z.B. in den Tempeln des Marduk und des Ishtar, standen unter bes. Schutz.“(Der Große Brockhaus, 16. Aufl., Bd. 9, 424). „Hierodulen [grch. ‚heilige Knechte’], männl. oder weibl. Tempelsklaven, die als Eigentum der Götter galten“ sollten bewirken, dass durch den Akt einer geschlechtlichen Verbindung mit ihnen der Mensch göttlicher Macht teilhaftig wurde.(ebd., Bd. 5, 437). ”Sacred prostitution formed part of [Ishtar’s] cult and when she descended to earth she was accompanied by ’courtesans, harlots and strumpets’.”(Larousse Encyclopedia of Mythology, 58). 450 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL die Diskrepanz zwischen emotionaler Stagnation und personaler Authentizität psychologisch überzeugend zu überbrücken. Anlass und Motiv zur Abfassung des Romans waren eine tiefgehende Unzufriedenheit des Autors mit der englischen Lebenswelt, denn „Der herrschende Diskurs gestaltet nicht nur die Kategorien des Bewußtseins, sondern auch die psychischen Tiefenschichten von Emotionalität, Sexualität und der Konstruktion von Identität.“ 928 Das Individuum wird einerseits durch Konformismus und gesellschaftliche Restriktionen an der Entwicklung einer wahren Identität gehindert, andererseits durch interessengeleitete Vorgaben fehlerhaft oder gar falsch geleitet. Der ursprünglich vorgesehene Romantitel The Insurrection of Miss Houghton weist auf ein Problemempfinden dieser Art hin. Eingebettet in ein Themengeflecht aus “Conflicting gender roles, troubled interracial relations, depersonalizing technologies, and cross-generational hostilities“ 929 richtet sich Lawrences zentrales Anliegen darauf, wie psychische Befindlichkeit durch ein (Wieder-)Entdecken tabuisierter, soziokulturell ruhiggestellter und inaktivierter Bereiche des eigentlichen Selbst als naturhaft Existierendes verbessert werden kann. Die Stoßrichtung der Provokationen der Heldin gilt deshalb nicht einer Reformierung der Gesellschaft zum Wohle aller, sondern dem Auffinden eines Wegs zu persönlichem Glück, 930 und so thematisiert der Roman letztlich den Antagonismus zwischen Stagnation und Vitalität, Konformität und Spontaneität, emotionaler Sterilität und restituierter Authentizität. 931 Die Landschaft der Abruzzen stellt aufgrund ihrer spezifischen Eigenart einen fiktionalen Gegenpol zur englischen Industrielandschaft dar, und durch Kontrastierung bietet sie die Möglichkeit, eindringlich auf gesellschaftlich-zivilisatorische Fehlentwicklungen im zeitgenössischen England hinzuweisen und Wege zur Korrektur bzw. Genesung aufzuzeigen. Argumentativ betrachtet stellt sich die Frage, weshalb denn die Problemlage einer Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld so dringlich und das Unbehagen so tiefgehend sind. Alvina wuchs immerhin die ersten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens in der liebevollen Obhut von Miss Frost auf und entwickelte sich zu einer bemerkenswerten jungen Dame, 928 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 489. 929 Siegel, Introduction, in: D.H. Lawrence, The Lost Girl, xvii. 930 Der zunächst an zweiter Stelle vorgesehene Romantitel A Mixed Marriage weist ebenfalls auf des Autors Interesse an individueller Befindlichkeit seiner Heldin hin zugunsten einer gesellschaftlichen Verbesserung der Lage der Frau im Allgemeinen. Lawrence geht es um personale innere Befreiung des Individuums. 931 „In fiktionalen wie theoretischen Texten und in seinen Briefen benutzt Lawrence regelmäßig den Begriff der ’phallic reality’.“ Jedoch „[…] das Symbol des Phallus impliziert in der abendländischen Tradition trotz allen phallogozentrischen Mißbrauchs mehr und anderes als die Vormachtstellung des Mannes.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 424 u. 427). 451 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ”rather distinguished in appearance“, ”lady-like“ in Mimik und Gestik und mit auffallend attraktiver Stimme (vgl. LG, 21). Jedoch, ”Inhabited by morally upright yet emotionally cold types such as Miss Frost and Miss Pinnegar, Alvina’s England is barren as a desert.” 932 Wenn sie sich eines Tages, rätselhaft und unerwartet für Miss Frost, mit einem ”gargoyle look“ und einem ”wolf’s mouth“(LG, 21) zeigt, sperrt sie sich gegen deren „Durchsetzung ihrer triebfeindlichen Wertehierarchie“ 933 , weil sie von etwas Natürlich- Ursprünglichem weiß, wie das Bild des Wolfes als wild und frei lebendes Tier nahe legt. Sie verfügt in geheimnisvoller Weise über ein verborgenes Wissen, ohne dass die Leser oder auch sie selbst je erfahren, wieso dies der Fall ist: “Knowing nothing, yet her ancient sapience went deep, deeper than Woodhouse could fathom.“(LG, 22) Lawrence nimmt eine Setzung vor, die er psychologisch nicht begründet, aber aus seiner Sicht für einsichtig hält, da der moderne Mensch in einen Zustand psychischer Verkümmerung gebracht worden sei, dem sich eigenwillige Persönlichkeiten wie seine Heldin widersetzen: „Alvinas intuitive Weigerung - oder Unfähigkeit -, sich in den englischen Stereotypen eines ’social self’ wiederzufinden, kennzeichnen sie als ’natural aristocrat’ und zugleich als Individuum.“ 934 So erklärt sich, weshalb sie alle jungen Männer in Woodhouse von oben herab behandelt, die ihr als Produkte konformistisch-steriler Eindimensionalität vorkommen. ”Alvinas exotic taste in men signifies such violent reaction against the sterility of her environment that she finds only radical alternatives interesting.“ 935 Der australische Arzt Alexander Graham hat zwar ”dark blood in his veins“(LG, 22) und rechtfertigt zunächst eine Verlobung, die sie aber löst, da ein Leben an seiner Seite ähnlich wie in Woodhouse verlaufen könnte. Provozierender noch ist ihre Wahl des Hebammenberufs, ein offenkundiger Bruch mit den Spielregeln kleinstädtischer Konvention: ”Whereas a middle-class woman in her mother’s generation would have felt inhibited about looking at even her own nakedness and would probably have felt immoral to look at any woman’s genitalia, Alvina insists on a career that necessitates direct interest in sexual organs and reproductive functions. Because the bawdy midwife has been a stereotype in literature since classical times, we must read Alvina’s career choice as an affront to her family and her class.” 936 Der Heldin unbändiger Drang, entgegen Misslichkeiten und Widerständen den Weg personaler Erfahrung zu gehen, spiegelt sich auch in ihrer provokanten Reaktion auf die Hässlichkeit der englischen Landschaft: Islington sei, so der Text, ausnehmend schmutzig und ekelhaft, aber anstatt abgestoßen und untröstlich zu sein freue sich Alvina. Sie toleriert die Zoten reißenden Hebammen, erlaubt 932 Wiener, Lawrence’s ’Little Girl Lost’, 246. 933 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 443. 934 Ebd., 518. 935 Herring, Caliban in Nottingham, 12. 936 Siegel, Introduction, in: D.H. Lawrence, The Lost Girl, xviii. 452 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL jungen Ärzten geschmacklose Scherze und Gesten ihr gegenüber und steht deprimierende Erfahrungen mit den animalischen Seiten der Menschen in den Elendsvierteln widerspruchslos durch. Entscheidend für sie ist das Aufbrechen gesellschaftlicher Verkrustungen, die wie eine Panzerung in ursprünglich schützender Absicht, dann mit immer beengenderer Wirkung, um ihr Selbst und Ich gelegt worden sind. An diesem Punkt der Handlung lädt die Erzählinstanz zu einem ansonsten unüblichen reflektorischen Dialog über das wahre Selbst ein: Was Alvina her own self all the time? The mighty question arises upon us, what is one’s own real self? It certainly is not what we think we are and ought to be. Alvina had been bred to think of herself as a delicate, chaste, tender creature with unselfish inclinations and a pure, ’high’ mind. Well, so she was, in the more-or-less exhausted part of herself.(LG, 34) Lawrence thematisiert die Problematik falscher Selbstbilder und wahrer Identität. Die Gefahr einer Selbstentfremdung aufgrund soziokultureller Fremdsteuerung lastet er der englischen Gesellschaft an, die durch leibfeindliche Rollenbilder, insbesondere für junge Frauen, massiv Einfluss auf die Lebensplanung nimmt und dabei, wie im Falle Miss Frosts, psychisch verkümmerte, ‚erschöpfte’, ‚ausgelaugte’ Existenzen ohne das Erleben leiblich-kommunikativer, das Empfinden von Ganzheit generierender Erfahrung hervorbringt. „Die Ganzheitlichkeit des Körpers entsteht als Vorstellung [...] nicht naturwüchsig, sondern als ein Bild oder eine Imagination. Dieses Bild ist ein Spiegelbild, Ganzheit wird also am Ort des anderen erlebt.“ 937 Offen greift der Autor Partei für seine Heldin bei ihrem Streben nach leiblicher Kommunikation in einem ‚sprechenden Körper’ durch natürlich-ursprüngliche statt konventionell überschriebener Sexualität und plädiert so für einen Gang aus emotionaler Sterilität und für ein Wiederentdecken verschütteter Schichten der Psyche des ‚ausgelaugten’ Ich- Selbst; 938 nur auf diesem Wege seien Augenblicke wahren Glücks überhaupt erreichbar. 937 Küchenhoff, Der Leib als Statthalter, 185. Jacques Lacan hat im Modell des Spiegelstadiums des etwa sechsmonatigen Kindes dessen erste Erfahrung von Ganzheitlichkeit des Körpers erklärt. Im visuell aufgenommenen Spiegelbild realisiert das Kleinkind seine erste Ganzheitserfahrung.(vgl. ebd.). 938 „Ein gewichtiger Vorwurf von Lawrence gegen Freud richtete sich gegen die wissenschaftliche Definition der menschlichen Psyche, welche ‚die Einheit der Person in die bekannten psychischen Instanzen von Ich, Es und Überich auseinanderlegt und so gerade die Illusion der Einheit der Persönlichkeit entlarvt [...]. In keiner der drei Instanzen ist die Indidividualität als Einzigartigkeit oder Unverwechselbarkeit wiederzufinden.’ Angesichts der ’massification’ der Menschen in der Moderne geht es Lawrence jedoch darum, eine Instanz zu etablieren, welche die Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit, Nicht- Analysierbarkeit, eben die Individualität des Menschen und seine ganzheitliche Erfahrungswelt verbürgt.“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 407; vgl. auch Fußnote 800). 453 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Naturgemäß muss es beim Aufbau einer schlüssigen Handlungsabfolge zur Dekonstruktion des Hergebrachten kommen. Alvinas Auflehnung gegen Elternhaus und Erziehung spitzen sich zu bis zum Wunsch nach Miss Frosts Tod, aber ihre schockierende Direktheit ist nichts anderes als Indiz für die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach repressionsfreier Lebensweise. Miss Frost ist als helles, liebliches Edelweiß Symbol der Reinheit und Unsterblickeit, aber ihr Zögling träumt von dunkelrotvioletten Blumen, von feuerfarbenen Blüten und ”real Adonis blood“(LG, 36), von den ausgeprägten Formen der Anemonen und Orchideen. Diese Farben und Formen sind unverhohlene Symbole der Sexualität, der Geschlechtsorgane bzw. des Geschlechtsakts, und sie signalisieren die innere Bereitschaft zu sexuellem Erleben. Relevant für die Heldin ist nicht „[…] eine ‚Kultur des Herzens’, sondern nur eine ‚Kultur der Sinnlichkeit’, eine Rückbesinnung auf die vitalen und instinktiven Lebenskräfte des dark self als wirkliches Gegengewicht gegen eine Zivilisationsgesellschaft [...]“. 939 Am Ende ihrer Ausbildung sind es noch reine Wunschbilder, und frustriert über die Macht bürgerlicher Normen kehrt sie zunächst in das Netz restriktiver Moralgesetze in Woodhouse zurück. Ein nächster Schritt zu innerer Befreiung ist Alvinas Besuch bei den Bergleuten in der Grube ihres Vaters als Schlüsselerlebnis von hoher Symbolkraft. Angst und Faszination ergreifen sie gleichermaßen in Gegenwart der schemenhaften Gestalten, Verkörperungen von ”dark, fluid presences“(LG, 47) außerhalb bekannter Ordnungsschemata, durchdrungen von rätselhafter, den Verstand irritierender Vitalität und unschwer als Metaphern des Unbewussten und seiner Wünsche nach Sinnlichkeit zu deuten, die unterdrückt, aber nicht ignoriert werden können. Die Zeichen des naturgegebenen Dunkels weisen auf die Akzeptanz des Sexuellen hin, nicht auf Einschränkung, Knebelung und Verzicht im Sinne der christlichen Heilslehre: “The puerile world went on crying out for a new Jesus, another Saviour from the sky, another heavenly superman. When what was wanted was a Dark Master from the underworld.(LG, 48) Dieses Plädoyer für die Sinnlichkeit ist im Übrigen durch die Spottlust der Sprachbilder - ’superman’, ’Dark Master’ - in Verbindung mit der spielerisch-witzigen Alliteration - ’When what was wanted was’ - ein Beleg Lawrence’schen Humors. 940 Mangels geeigneter Partner erfüllen sich Alvinas Wünsche nach Sexualität in Woodhouse nicht, denn es hätte eines männlichen Gegenspielers bedurft, der aus einem Gestus authentischer Natürlichkeit heraus zu 939 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 303. 940 „Anders als sonst bei Lawrence wird The Lost Girl durch eine komische Grundeinstellung geprägt, die großen Wert auf die Prinzipien komischer Distanz und komischer Vereinfachung legt. In Verbindung mit einer auktorialen Erzählperspektive wird die vorwiegend satirisch-karikaturistisch verfahrende Komik zu einem wichtigen Instrument bei der Kritik an den manners und dem lebensfeindlichen Ethos bürgerlichen Kleinstadtlebens in England.“(Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 299). 454 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL agieren wüsste. Ein solches Gegenüber findet sich aber nicht, und so steuert sie entweder auf einen Zustand psychischen Absterbens zu oder auf einen Bruch mit der Welt des Banalen, einer ”out-of-the-tap tastelessness“: “If help came, it would have to come from the extraordinary.“(LG, 84) Argumentativ ist damit der Boden für die exotische Schaustellertruppe der Natcha-Kee- Tawaras bereitet. Gesellschaftlich beginnt Alvinas Abstieg mit dem Rollenwechsel von der Außenseiterin zur Deklassierten, dann zum ’lost girl’ mit der Aura der Ausgestoßenen und schließlich zur ‚heiligen Hure’ in ihren eigenen Augen. Mit Übernahme des indianischen Namen Allaye verändert sie formal und symbolisch ihre Identität, sagt sich am Grab ihres Vaters von Woodhouse und bei der Überfahrt zum Kontinent von England los, - alles auf der Suche nach ’her own true nature’, ihrer wahren Identität, „[…] formelhaft [...] die Fuge zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen [...] als das Zusammenspiel einer intersubjektiven geteilten, präexistenten symbolischen Ordnung und den eigenen Identitätsentwürfen in gegenseitiger Verweisung und Relativierung“. 941 Identität ist also nicht wie eine von Schalen zu befreiende Frucht nur offen zu legen, sondern muss in einem dialektisch-reziproken Prozess mit dem soziokulturellen Umfeld konstruiert werden. 942 Alvinas Identitätskonstruktion beginnt mit dem Kennenlernen der Fremd- und Andersartigkeit Ciccios, dessen Aussehen und Auftreten die Alternative zur emotionalen und sozialen Erstarrung in Woodhouse signalisiert. Bei der erstmaligen sexuellen Vereinigung mit ihm geht es für sie nicht allein um den ersehnten Vollzug sinnlich-animalischer Begierde, sondern auch, bei Hingabe an die überwältigende physische Attraktivität des Partners, um den Nachweis ihrer Erlebnisfähigkeit von Ursprünglichem. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Aspekt durch die Deflorationsszene, in der von ”his lustrous dark beauty“, ”unknown beauty“, ”that black spell of his beauty“(LG, 203f.) die Rede ist. Neben der Schönheit ist es seine ungebändigte, ‚wilde’ Natürlichkeit - diesen Eigenschaften wird Alvina später in der Berglandschaft der Abruzzen begegnen -, die ohne Vorspiel verbaler oder sonstiger Art auskommt, die sie fasziniert, zur ‚heiligen Hure’ und willenlosen Sklavin werden lässt. “No doubt from D.H. Lawrence’s doctrinal perspective, the worst and most prevalent ‘prostitution’ in England would be the yielding of women like Alvina to men as inadequate as the nine others who pursue her. The tenth man saves her from a protracted 941 Küchenhoff, Der Leib als Statthalter, 171. 942 „Die ’true nature’ ist nicht eine autonome Wesenheit, die spontan aus sich selbst existiert und sich äußert, sondern sie ist, wie das ’I’ in dem Modell von Mead, Ergebnis eines bereits gegebenen diskursiven Horizontes. ’Denn von ’I’ zu sprechen, hat nur einen Sinn, wenn es als Gegenpart zum ’Me’ auftritt; genetisch gesehen ist auch das ’I’ ein Sozialisationsprodukt.’“(Horatschek, Alterität und Stereotyp, 421f.). 455 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG death in sterile England [...].” 943 Allerdings ist „Cicio [sic] nicht so sehr individuelle Persönlichkeit wie eine Allegorie, eine literarische Umschreibung für den Archetyp des Südländers“,[…] den Lawrence „nicht als den charmanten, Erotik ausstrahlenden Latin lover, sondern als Inbegriff einer elementaren, fast dämonisch anmutenden, unmittelbar sinnlichen Sexualität“ darstellt. 944 Aus Lawrences eigenwilliger Sicht erlebt Alvina im glückhaft empfundenen sexuellen Akt Unterwerfung und Tod ihres bisherigen ’social self’ auf dem Weg zu einer Wiedergeburt in neuer Identität: 945 He was awful to her, shameless so that she died under his shamelessness, his smiling, progressive shamelessness. Yet she could not see him ugly. If only she could, for one second, have seen him ugly, he would not have killed her and made her his slave as he did. But the spell was on her, of his darkness and unfathomed handesomeness. And he killed her. He simply took her and assassinated her.(LG, 202) Alvina erscheint ”[...] as the victim of a mystical kind of rape that is at once real and metaphorical. Class status, bourgeois values, the hegemony of mind over body - the entire tissue of identity is ripped apart, pierced to the quick by a phallic excess that disrupts the aesthetic closure of romantic love”. 946 Auf dem Weg zu personaler Identität muss die Heldin zwei elementare Erlebnisse nach Lawrence’schem Verständnis durchlaufen: Die Anerkennung der Dichotomie von Sklavin und Herrn bzw. Meister und die der Notwendigkeit von Tod und Wiedergeburt, die als “[…] recognizable motifs of freedom-through-slavery and life-through-death“ 947 in den Begriffen ’shamelessness’ und ’submission’ Ausdruck finden. Alvinas ‚Tod’ ist symbolisch mehrfach bedeutsam: Er markiert das Ende ihrer Jungfräulichkeit, den Bruch mit Woodhouse und den moralischen Konventionen und insbesondere die Zurückweisung der Welt Miss Frosts, deren 943 Balbert, Ten Men and a Sacred Prostitute: The Psychology of Sex in the Cambridge Edition of The Lost Girl, 391. Der zehnte Mann ist Ciccio; die anderen neun ungeeigneten Bewerber, auf die Balbert verweist, sind Alvinas erster Verlobter Alexander Graham, die Ärzte Headly, Young und James in Islington, die Brüder Arthur und Albert Witham in Woodhouse, Mr. May in Lumley, ein Flötist in ’Houghton’s Pleasure Palace’ und Dr. Mitchell in Lancaster. 944 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 305f. 945 ”One of the frames of reference Lawrence evokes [...] is the religious idea of death into eternal life, and specifically the Christian belief in rebirth through faith. He also relied on what was then still a literary euphemism, reference to orgasm as the ‘little death’, to make his sexualization of the concept of dying into life immediately understandable. A central motif in Lawrence’s writing, too, is the death of the old self, which he sees as a false social being, so that the new being in whom sensual and spiritual knowledge coexist can be born.” (Siegel, Introduction, in: D.H. Lawrence, The Lost Girl, xxiii; vgl. dazu Fußnoten 887 u. 916). 946 Papayanis, Italy’s Best Gift, 307. 947 Balbert, Ten Men and a Sacred Prostitute, 394. 456 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Name symbolisch eine „triebfeindliche Wertehierarchie“ 948 und erstarrte Gefühlskultur umschreibt. Diesem ‚Tod’ als Voraussetzung zur Wiedergeburt folgt ein Erwachen in der neuen Welt natürlicher Sinnlichkeit mit klarer Hierarchie der Beteiligten: Dem männlichen Führungsanspruch steht das Gebot weiblicher Unterordnung gegenüber. „Die Angst vor der dominanten und selbständigen, vielleicht auch herrschsüchtigen und sexuell überaktiven Frau ist ein wiederkehrender Zug aller patriarchalisch strukturierten Gesellschaften.“ 949 Für Lawrence hat solche Unterwürfigkeit nichts mit sexueller Hörigkeit oder wollüstiger Besessenheit der Frau zu tun bzw. mit Geringschätzung oder Diskriminierung von Seiten des Mannes, sondern ist das Wiederherstellen natürlíchen Verhaltens in erfüllter Sinnlichkeit. „Alvinas Gefühle der ’submission’ in der Beziehung zu Ciccio, besonders in der Sexualität, sollen daher nicht als Anstiftung zum Chauvinismus, sondern als ‚Geburtswehen’ einer Identität gelesen werden, in welcher die Psyche nicht nach dem Muster von Freud dem Machtwillen des Ego gehorcht.“ 950 Im Argumentationskontext des Romans erlebt Alvina also nur äußerlich den tiefen Fall als ’lost girl’ und ausgebeutete Sexualpartnerin; in Wirklichkeit nähert sie sich aus Autorensicht einem Zustand größerer Erlebnisfähigkeit und gewinnt so an wahrer Statur. 951 Für Alvina bedeutet also „Emanzipation paradoxerweise Regression, das Eintauchen in die schöpferisch-regenerative Kraft des Unbewußten“. 952 Oberflächlich gesehen könnte die Heldin mit ihrem Weggang nach Italien am Ziel ihrer Wünsche sein, aber im Blick auf überzeugendes Argumentieren wäre es nicht nur banal, sondern kontraproduktiv, sie nach Entdeckung der Lust als sex- und triebgesteuerte Figur vorzuführen. Für Lawrence ist der Vollzug des Geschlechtsakts mehr als Befriedigung animalischer Begierde: “Lawrence did not advocate or even like promiscuity, [although] sexual expression became central to his concept of human wholeness. By the 1920s, he believed that we should treat sexuality as a sacred force, the deepest impulse of all life. In his view, sex should be regarded neither as a form of entertainment nor as a sin.” 953 Argumentativ ist die Handlungsfortführung am Schauplatz Italien dringend geboten, um jenseits von Alvinas sexueller Emanzipation Lawrences Vorstellung von 948 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 443. 949 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 35. 950 Horatschek, Alterität und Sterteotyp, 430. 951 ”Julian Moynahan [...] writes that the experience of becoming lost merges with an experience of becoming found. ...When in the middle of the story she descends into an ’atavistic’ darkness of sexual thralldom to her animal-like Italian lover, she is, in terms of conventional morality, a lost girl indeed. But from another perspective she has now discovered her ’real self’ and can anticipate fullillment.”(Wiener, Lawrence’s ’Little Girl Lost’, 244). 952 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 302. 953 Siegel, Introduction,D.H. Lawrence, The Lost Girl, xivf.; s. auch Fußnoten 872-874. 457 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Alterität aufzuzeigen, die Ciccio zwar in Aussehen und Verhalten verkörpert, aber weder erklären noch begründen kann. Die Frage ist, ob es für die Heldin durch “metamorphosis by geographical change“ 954 zu einem Entdecken von Leitlinien zur Lebensgestaltung kommen kann. Körperlich fungiert Ciccio in Italien weiterhin in der ihm zugedachten Rolle als unwiderstehlicher Sexualpartner, aber gleichzeitig verliert er in seinem geografischen Raum an Statur. Er distanziert sich von Pescocalascio, “a purely Lawrentian ’heart of darknes’“, 955 als Heimat, lässt Pancrazios Haus im vernachlässigten Zustand und zieht Gespräche unter Männern im Café einem Gedankenaustausch mit seiner Frau vor, der er eine Erörterung relevanter Themen regelrecht verweigert. Das Erstaunliche zudem ist, dass er, genau so wie die gerade angekommene Alvina, von der mächtigen Natur mit ‚Auslöschung’ und ‚Vernichtung’ bedroht wird. Die größte Desillusionierung für Alvina ist jedoch, dass er trotz ihrer Schwangerschaft nach Kriegsende nicht zurückkehren will, weil er keine Zukunftshoffnung habe. Als Träger ergänzender oder gar alternativer Leitprinzipien zur Lebensgestaltung in England fällt er damit, jenseits des Körperlich-Sexuellen, endgültig aus. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Menschen in den Abruzzen, die Alvina als Gast behandeln, aber Integration von Anfang an ausschließen. Unter den obwaltenden Umständen - dazu gehören die hermetisch geschlossene Sozialstruktur, die drohende totale Isolation, das vergiftete Sozialklima unter den Einheimischen, die Flucht der Jungen aus dieser Bergwelt, das für Frauen parat gehaltene Rollenverständnis völliger Abhängigkeit - gibt es keine Zukunftsperspektiven: Ein Leben in Italien mit dem Mann als Sinnstifter ist keine ernsthafte Option. 956 “Während England im Prozeß der industrielen Zivilisation die innere und äußere Natur zerstört hat, enthüllt sich das Italien von The Lost Girl als ein lebens- und kulturfeindlicher, präzivilisatorisch-ungeschichtlicher Naturraum.“ 957 Im Licht der real existierenden Verhältnisse erscheint selbst England als das kleinere Übel, doch Amerika steht als Wunschort an erster Stelle, ohne dass ein Grund genannt wird. 958 ”On the one hand, Alvina cannot be integrated 954 L.D. Clark, Making the Classic Contemporary: Lawrence’s Pilgrimage Novels and American Romance, in: Preston/ Hoare, Lawrence in the Modern World, 198. 955 Papayanis, Italy’s Best Gift, 308. 956 ”In fact, having suggested in his earlier work that some hope, however slight, for England lay in Italy, by the early twenties Lawrence had become thoroughly pessimistic.”(Churchill, Italy and English Literature, 192). 957 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 308. 958 In Twilight in Italy schreibt Lawrence: ”So the women triumph.[...] The woman in her maternity is the lawgiver, the supreme authority. The authority of the man, in work, in public affairs, is something trivial in comparison.[...] And this is why the men must go away to America. It is not the money. It is the profound desire to rehabilitate themselves, to recover some dignity as men, as producers, as workers, as creators from the spirit, not only from the flesh. It is a profound 458 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL into Pescocalascio; on the other, she cannot return ’home’. She is, literally, without a path, unless that path leads, literally, to the New World.” 959 Des Autors wichtigste Romanfigur weder aus Italiens Kunst und Kultur, Geschichte und Gesellschaft noch aus der geografischen Alterität irgendeinen Nutzen ziehen zu lassen widerspräche freilich Lawrences Überzeugung und biografischem Werdegang, wozu auch seine Reiseliteratur über Italien zählt. 960 Tatsächlich stellt die Begegnung der Heldin mit Italiens Natur- und archaischer Kulturlandschaft einen Höhepunkt intendierter Sinnkonstitution dar. Dieser Typ von Landschaft repräsentiert das positive Andere, nicht Szenarien zur Geschichte, Kunst oder Religion als Markierung von Differenz. Der Vorstellung, dass „[…] Kultur als menschlicher Selbstvervollkommnungsprozess im Sinne einer evolutionärgeschichtlich sich entwickelnden Ordnungsstruktur“ 961 zu sehen sei, stellt Lawrence das radikal eigenwillige Bild einer archaisch-generativen Natur gegenüber. In The Lost Girl wird Italiens Landschaft ihrer historisch-kulturellen Bezüge geradezu entkleidet und in eine völlig neue Rolle als Raum des geoffenbarten Sinns eingewiesen. Alvinas emanzipatorische Schritte finden ausschließlich in und durch die Natur in Italien Bestätigung und Rechtfertigung. ”In The Lost Girl (1920), Italy is portrayed, splendidly, as a wild, romantic region of the sensual Infinite.[...] The Italian hero, Cicio [sic], and the landscape blend into one overpowering, ambivalently exciting lover as they compel Cicio’s wife [...] toward unconsciousness and the sleep of the spirit.” 962 Das Erleben intensiver Sinnlichkeit hat aber nichts mit moralischer Schwäche oder Versagen zu tun: ”Alvina’s soul has fortified itself greatly since her Woodhouse days, and as far as ’leadership’ is in evidence, it awakens in her toward the next stage of life, not in Ciccio.” 963 Die ursprüngliche Natur Italiens wird zur einzigen und alleinigen Quelle einer Sinnkonfiguration, die den psychischen Bedürfnissen der Heldin Rechnung trägt; Woodhouse, Lumley und Islington erscheinen im Vergleich desire to get away from women altogether, the terrible subjugation to sex, the phallic worship.”(TI, 58f.). 959 Papayanis, Italy’s Best Gift, 313. 960 Kennzeichnend für Lawrence sind zahlreichen Reisen und oft fluchtartige Ortswechsel. Psychologisch gesehen ”[...] the whole matter of flight and search, the condemned land versus the promised land, became the pursuit of emotional states the real topography of which lay in Lawrence’s soul, and not in any such real geographical opposites as Italy and England.”( Clark, The Minoan Distance, 220). 961 Meinhard Winkgens, Wandlungen des Traditionsverständnisses von Matthew Arnold bis T.S. Eliot, in: Paul Goetsch, Englische Literatur zwischen Viktorianismus und Moderne, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, 109. 962 Calvin Bedient, Architects of the Self: George Eliot, D.H. Lawrence and E.M. Forster, Berkeley: University of California Press, 1972, 189. 963 Clark, Making the Classic Contemporary, 198. 459 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG dazu als tote Anti-Natur. 964 Auffallenderweise versagen die Menschen als Helfer auf dem Weg zu wahrer Identität in beiden Kulturräumen, und es gibt auch kein gemeinsames Naturerleben von Ciccio und Alvina: Bei ihren Erfahrungen mit der Landschaft Italiens ist sie stets allein. 3.6.3.4 Die Berglandschaft der Abruzzen als Lawrences Raum der Offenbarung authentischer Sinnhaftigkeit Bereits beim Lesen des ersten Italienkapitels mit dem Titel ’The Journey Across’ formt sich der Eindruck, dass die gesamte bisherige Handlung, wie unsichtbar gesteuert und magnetfeldartig ausgerichtet, auf Italien am Romanende hin orientiert ist. Der gesamte Argumentationsstrang wie auch die Sinnbelegung der Ereignisse laufen auf die Landschaftsdarstellung des Raumes der Fremde in Alternativfunktion zu. Das zentrale Thema der Selbsterkundung einer jungen Dame aus gutbürgerlichem Hause, der, gebildet und gut aussehend - “[…] his [Lawrence’s] having derived from European painting and sculpture an idealized notion of the female body“ 965 -, anfangs alle Türen zu einem angenehmen Leben offen stehen, steuert im Italienteil seinem Höhepunkt zu. Entgegen allen Erwartungen widersetzt sie sich bei ihrer Suche nach Auffinden und Reaktivierung der durch psychokulturelle Repressionsmechanismen überschriebenen Bereiche ihrer Psyche einer konventionellen Lebensperspektive, da sie aufgrund ihres geheimnisvollen ’old sapience’ ahnt, dass in dem ihr durch Erziehung, Konvention und Rollenklischees vorgedachten und vorgeformten Lebensentwurf etwas fehlt, ohne darzulegen, wonach sie strebt. Die Zeichen der Aufmüpfigkeit stellen sich in der Summe als innere Revolte gegen die bestehenden Verhältnisse dar. Die äußere Natur der Midlands in Gestalt der deformierten Landschaft ist visueller Beleg für den Zustand innenweltlicher Stagnation und krankhafter Verkümmerung elementarer Lebenskraft der Menschen, ein Befund, den Alvina durch ihre Aufsässigkeit und Provokationen als Aus- 964 Diese Schauplätze in The Lost Girl spiegeln Lawrences Jugend in Eastwood, Nottinghamshire wider und erklären, im Verbund mit dem schwierigen Elternhaus, seinen Drang zu rastlosem Reisen und zahlreichen Ortswechseln auf der Suche nach unverfälschter Ursprünglichkeit: “The severe dislocation D.H. Lawrence suffered at the death of his mother and the loss of home motivated his life-long search for place. Tensions with Lawrence’s family magnified his need for home, and its loss led to a persistent nostalgia, the wish for an ideal community, and a longing for paradise. Fulfilling Lawrence’s contrary needs of nurture and freedom, Italy imaginatively and realistically became his home [...].”(Harriet Y. Cooper, D.H. Lawrence’s Italian Prose: Discovery of Home, New York University, 1993, in: Dissertation Abstracts International, vol 54, No 12, June 1994, 4448-A ). 965 David Ellis, D.H. Lawrence and the Female Body, in: Essays in Criticism - a quarterly journal of literary criticism, Oxford: Oxford University Press, 46/ 1996, Heft 2, 145. 460 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL druck des Protestes auf Woodhouse und dann auf ganz England überträgt. Aber nicht sie ist psychisch gestört, sondern diese Umwelt mit den in ihr lebenden Menschen: „Alle Figuren mit Ausnahme von Alvina übernehmen die Leibfeindlichkeit der ‚klassischen’ Epistemologie und damit einen Weltentwurf, der im Rahmen psychoanalytisch orientierter Modelle von Merleau-Ponty bis Habermas aufgrund seiner Ausklammerung eines für die psychische Gesundheit wesentlichen Wirklichkeitsaspektes als pathologisch einzustufen ist.“ 966 Real und symbolisch ersticken allgegenwärtiger Ruß und Schmutz, die wie ein Schleier der Monotonie und Tristesse über dem Land liegen, Fantasie und Kreativität der Menschen. „Der Sieg über die Natur mündet ein in ein Unwirklichwerden der Natur - der äußeren wie der inneren.“ 967 Diese Bergbauregion, Opfer von ”our ant-industrial society“ (LG, 2) und ihres Drangs nach Fortschritt und Produktivität, ist in erbärmlichem Zustand. Das Schlimme ist, dass diese geschundene Natur durch die ihr zugefügte Gewalt 968 auch die Menschen affiziert und sie - ”[…] creeping up and down like vermin“(LG, 31) - existenziell degradiert. Für dieses Land, ”[…] that had once been beautiful“(LG, 92), besteht nur im Vergleich mit der finsteren Welt unter Tage die Chance, wenigstens punktuell einen positiven Eindruck hervorzurufen. Für erstmalige Besucher der Gegend ist das Urteil eindeutig, so für Madame Rochard und Mr May in Lumley: ”a dam god-forsaken hell of a hole.“(LG, 87) So wenig anregende Impulse von der Industrielandschaft auf die Bewohner ausgehen, so wenig gehen von ihr Anreize auf die Protagonistin mit ihrem ’ancient sapience’ aus, und „[…] nach Überzeugung von Expressionisten aller politischen Richtungen hat keine Form der neueren Zivilisation so sehr den eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens verfehlt und bedroht wie eben die entfesselte industrielle Produktion und die sie legitimierende Mentalität“. 969 Alvinas provokantes Zurückweisen und Aufge- 966 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 489. 967 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 54. 968 Dieselbe Bildhaftigkeit findet sich bereits, zwecks Rechtfertigung einer Unterwerfung der Natur, in einem Gedicht Daniel Defoes (1706), dessen Schamlosigkeit auch durch die Annahme eines historisch anderen psychosozialen Kontextes nicht gemildert wird und das symptomatisch ist für die sich anbahnende „Potenz-Protzerei des Naturimperialisten“ im Industriezeitalter: (zit.n. Breuer, Historische Literaturpsychologie, 64f.). 969 Hans Ulrich Seeber, D.H. Lawrence und der deutsche Expressionismus, in: Sprachkunst XIII, 1/ 1982, 165f. ”Natures a Virgin Chast and coy To Court her’s nonsense, if ye will enjoy, She must be ravish’t, When she’s forc’t she’s free (freigiebig) A Perfect Prostitute to Industry Freely she opens to th’ Industrious hand, And pays them all the Tribute of the Land.” 461 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ben einer sicheren sozialen Verankerung nach der anderen auf der kompromisslosen Suche nach ’her own true nature’ und “the spontaneous fulness of living“ 970 wird fiktional auf ursprüngliche Natur und naturhafte Sinnlichkeit zentriert, wozu Woodhouse und England keine Chance mehr bieten, denn „Die Ursache für Egozentrik und Kommunikationsunfähigkeit, hermetische Weltsicht, Realitätsverlust und die Hypostasierung von Surrogatwerten wie Status und Geld liegt für Lawrence in der diskursiven Tabuisierung des Leibes.“ 971 Der dramatisch inszenierte Bruch der Heldin mit ihrem Heimatland auf der Überfahrt zum Kontinent markiert wörtlich und übertragen den Aufbruch zu neuen Ufern. Beim Anblick der Alpen eröffnet der unbekannte Raum gedanklich tiefere Dimensionen und emotional erscheint alles Wahrgenommene edler und glanzvoller; England wirkt kleinkariert und provinziell, gekennzeichnet durch ”smallish perfection“ und spießige Konvention. Bei der Fahrt entlang der Mittelmeeres, - ”a night-time fairyland, for hours“(LG, 299) - summieren sich Eindrücke zum Wunderbaren und Märchenhaften. Es bildet sich die Vorstellung einer anderen Wirklichkeit: England ist die Ausnahme, eine Anomalie. Die Erhöhung der Welt in den Status des Märchenhaft-Schönen rückt die Handlungsschauplätze in England in noch schärferen Kontrast ein. Es mag noch idyllische Gegenden geben, wie der Text auf der ersten Seite einräumt, aber in der Handlung kommen sie nicht mehr vor, und die Vorstellung des Ausweidens der Natur, worauf die Metapher der ”disembowelled coal“(LG, 1) hinweist, ist Beleg rücksichtsloser Ausbeutung wie auch des Leids, das einem lebenden Organismus angetan wird: An Englands Landschaft hat sich der Mensch schuldig gemacht, wogegen Italien “[…] represented to Lawrence everything England was not: freedom, the pagan landscape, the source of primitive passions, the authenticity of life, the way towards rebirth. England, by contrast, was the symbol of a mechanical, corrupt society ruled by hypocrisy, intellectualism, power and money.” 972 “Arbeit und Triebaufschub, ’industry’ (Fleiß) und ’frugality’ (enthaltsame Lebensführung) sind die Leitbegriffe eines [...] - bürgerlichprotestantischen - Sozialcharakters, in dem kalvinistische Nüchternheit und Strenge mit dem kapitalistisch-neuzeitlichen Willen zur Verwandllung „Gewiß wirken in dieser Kritik viel ästhetischer Snobismus und romantische Verteufelung der Maschine nach, die angebotenen Therapien des Rückzugs in die Natur und des Geschlechtsaktes entbehren, als praktische Handlungsanweisungen entstanden, nicht der Komik, wie denn überhaupt der expressionistische Grundgestus der Intensität, des Rauschhaften und Ekstatischen Lawrence immer wieder in die gefährliche Nähe unfreiwilliger Komik rückt.“(ebd., 166). 970 Churchill, Italy and English Literature, 195. 971 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 474. 972 de Filippis, Lawrence of Etruria, in: Preston/ Hoare, Lawrence in the Modern World, 104f. 462 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL der Welt in Ware zur Deckung kommen.“ 973 Während in Italiens Landschaft Bauersleute in Trachten mit ihren Tieren pittoreske Gruppen bilden, 974 bieten die Menschen in Englands Kohlerevier einen traurigen Anblick: “The colliers [...] tramped grey and heavy, in an intermittent stream uphill from the low grey west“(LG, 141): Als graue Gestalten sind sie in einer trostlosen, mechanisierten Welt zu gespenstisch anmutenden Automaten ohne Individualität und Identität geworden, so wie es Michel Foucault und die ‚kritische Theorie’ durch Ideologiekritik an der Rationalisierung der modernen Gesellschaft thematisierten (vgl. 1.1.3). Was Alvina konsequenterweise in der Berglandschaft der Abruzzen zuerst beinruckt, ist deren ‚Wildheit’, eine vom Menschen unberührte Naturhaftigkeit. Steile Felsen und eisige Bäche, unwegsames Gelände und prachtvoller Sternenhimmel sind Zeugnis einer wirkungsmächtigen Natur, die nicht der Industrialisierung anheim gefallen ist. In polyvalenter Sinnbelegung figuriert auch Dunkelheit als ”engulfing darkness“ mit Abenteuer- und Spaßfaktor - “I think it’s fun“ (LG, 311) -, die dann aber zur ”darkness of annihilation“ mutiert: “A real terror took hold of her.[...] Everything seemed electric with horror.“(LG, 313) Gerade die Dramatik unkontrollierbaren Schreckens in völliger Dunkelheit ist für die Protagonistin Anlass zur auffallend gefühlsintensiven sexuellen Vereinigung, wobei Vorstellungen von ”comforting night“, von ”darkness as beneficent“ bzw. von ”the creative dark“ den Kreis mehrfacher Sinnbelegung des Begriffs schließen. 975 Entscheidend für Lawrence ist die Verknüpfung mit dem Unbewussten und sein Streben, durch „[…] die darkness-Metaphorik jenen instinktiven Teil des Ich zu evozieren [...], der normalerweise durch einen Prozeß moralischer, psychologischer und sozialer Konditionierung überlagert ist“. 976 Der Begriff ‚Dunkelheit’ ist seine Formel zur Umschreibung des erstrebenswerten Zustandes, die, wie dargelegt, psycho- und soziokulturell organisierte Ruhigstellung und Inaktivierung wichtiger Bereiche der Psyche aufzuhe- 973 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 60. 974 „Man wird jenen oft belächelten pastoralen Gegenbildern [in Lawrences Romanen] indes nur gerecht, wenn man sie nicht so sehr als ernstzunehmende Alternativen, sondern als polemische Antithesen zur bürgerlich-puritanischen Moral und Arbeitswelt des damaligen England versteht, als literarisches Mittel einer kontrastiv verfahrenden Kritik an zweckrationalem Denken und Handeln, die im Leser Erinnerungen an das Verdrängte wachrufen möchte.“(Seeber, Lawrence und Expressionismus, 166). Auch Frau von Staëls arkadisches Naturbild von Terracina, in dem selbst die Bauern zu Poeten werden, hat sich in der Analyse nicht als reale Landschaft erwiesen, sondern als antithetischer Bestandteil einer Illusion bzw. Aporie, die Lebenswelten Englands und Italiens in Glück bringender Symbiose zu vereinen (vgl. 3.1.2.1). 975 Bzgl. der verwendeten Terminologie zur Benennung der Polyvalenz des Lawrence’schen Begriffs von Dunkelheit vgl. Clark, The Minoan Distance, 40f. 976 Winkgens, Das Italienbild bei D.H. Lawrence, 304. 463 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG ben, um einen ursprünglichen Erlebnisraum des Naturhaften im Geschlechtsakt als Ausdruck authentischer Sinnhaftigkeit zu eröffnen. 977 Für Alvina vollzieht sich in ihrer ersten Liebesnacht in Italien real und symbolisch, wie bereits in der Liebesnacht mit Ciccio in Woodhouse, die Vereinigung von Norden und Süden, von Licht und Finsternis zur Apotheose sinnlichen Erlebens. Sie ist gekennzeichnet durch völliges Eintauchen in das Unbewusste mit totaler Befreiung aus Konventionalität und einer dauerhaft übersteuerten Rationalität: “[…] the over-intellectualism that he associated both with English society and, symbolically, the daylight world must be immersed in the ’darker’ Italian consciousness [...]“. 978 Metaphern mit Bezug auf Raubkatzen, die ebenfalls die Vorstellung von Dunkelheit und nicht domestizierbarer Ursprünglickeit konnotieren, werden ständig zur Beschreibung Ciccios herangezogen: Er habe ”yellow eyes“, einen ”cat-like look“, ”It was like meeting a lion“, ein ”dark other-world face“.(LG, 140, 159, 160, 179) Das ‚Dunkle’ des italienischen Bewusstseins ist freilich nur insoweit wünschenswerte Ergänzung nordischer Defizite, als es diese Ursprünglichkeit verkörpert. Dies gilt für Ciccios Körper und die Bauern neben ihren Ochsen, aber das soziale Beziehungsgeflecht der Einheimischen, wofür ihre desolaten Innenräume real und symbolhaft Ausdruck sind, steht in Bezug auf Restriktionen und Repressionen der englischen Lebenswelt in keiner Weise nach. Lawrences Suche nach einer Lösung aus dem Dilemma der psychischen Verkümmerung in der Moderne, die er im industrialisierten Norden am meisten und innerhalb Europas in Sardinien noch am wenigsten ausgeprägt sah, leitet ihn auf touristisch gänzlich abseits liegende Pfade. Unverfälschte Natur könne sich, so sein Credo, in Individuen manifestieren, wie z.B. in der alten Frau am Spinnrad in San Tommaso (vgl. TI, 22f.), in den selbstbewussten Bauern in prächtigen Trachten auf Sardinien (SS, 61f.), in den hochgewachsenen Bewohnern der bayerischen und Tiroler Alpen (vgl. TI, 5f.) oder auch in Ciccios Aussehen und Auftreten. 979 Intakte Naturhaftigkeit sei in Landschaften wie den Abruzzen optisch greifbar, wo “[…] an Italian man and the Italian landscape emancipate ’the lost girl’ 977 ”[...] the emphasis on the Unconscious reveals the fact that man, in his finished state, recognizes with his conscious mind that he has attained the limits, and that to rediscover the sources of his inspiration, that magic of primitive life, that mantic quality of language, he must return to the dark, obscure, soul regions.”(Henry Miller, The World of Lawrence: A Passionate Appreciation, 215). 978 Siegel, Introduction, in: D.H. Lawrence, The Lost Girl, xxii. 979 Ciccio ist insofern auch das Produkt soziokultureller Prägung, als er selbst in den Abruzzen dem verhängnisvollen, modernistischen Einfluss, wie Lawrence ihn begreift, in Gestalt moderner Erziehung nicht entgangen ist: “[…]his little modern education made money and independence an idée fixe. Old instinct told him the world was nothing. But modern education, so shallow, was much more efficacious than instinct. Alvina [...]saw his old beauty, formed through civilisation after civilisation; and at the same time she saw his modern vulgarianism, and decadence.”(LG, 221f.). 464 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL from England and set her face toward a new destiny“. 980 Als andere intakte Landschaften gelten das wogende Meer zwischen Palermo und Sardinien (vgl. SS, 26f.) oder die kulturgeschichtlich unprätenziösen Räume der Insel selbst (vgl. SS, 72). ”Bare landscapes are correlatives of savage freedom: ’Strange is a Celtic landscape, far more moving, disturbing, than the lovely glamour of Italy and Greece.’[...] In his response to such landscapes, Lawrence projects and receives back, altered or clarified, something of his deepest self. He reads the landscape as if it were the physical form of his idea.” 981 Naturlandschaft und die seltenen Fälle archaischer Kulturszenerie, wie Ciccio beim Pflügen mit Ochsen in der Morgensonne, fungieren als visualisierter Ausdruck geoffenbarten Sinns. Authentisches Empfinden im Einklang mit der Natur manifestiert sich für Lawrence beispielhaft auch in den in Stein gehauenen Darstellungen des Phallus und der Vagina vor den Gräbern etruskischer Nekropolen und in den Wandmalereien im Inneren der Grabstätten (vgl. EP 13f., 52f.). 982 „Die etruskische Kultur versteht sich für Lawrence in besonderem Maße auf das symbolische Sprechen [...].“ 983 Diese Spuren aus vorchristlicher Zeit wertet er als sichtbare Zeugnisse einer sinnerfüllten Existenz, wozu für ihn das bestaunenswert entkrampfte Verhältnis zum Tod gehört: “The tombs seem so easy and friendly [...]. One does not feel oppressed, [...] that is the true Etruscan quality: ease, naturalness, and an abundance of life, no need to force the mind or the soul in any direction.”(EP, 12) 984 Vor diesem Hintergrund erscheint Alvinas Rebellion gegen Englands platte Rollenzuweisung an Frauen, sterile Repressivität der Konventionen und genussfeindliche Tabuisierung des Sexuellen in hellem Licht. Ihre intuitive Schau einer heidnisch-vorchristlichen Welt mit eigener Werteorientierung in der Dämmerung der winterlichen Berglandschaft ist die gelingende Transzendierung der sie umgebenden Realität im Erlebnis geoffenbarter Sinnhaftigkeit. Epistemologisch erhält ihre Rebellion nun klare 980 Clark, The Minoan Distance, 65. 981 Jack F. Stewart, Metaphor and Metonymy, Color and Space, in Lawrence’s Sea and Sardinia, in: Twentieth Century Literature: A Scholarly and Critical Journal, Hempstead, New York, vol 41, 1995, No 2, 217; s. auch Fußnote 890. 982 ”Before seeing the Etruscan phallic stone, Lawrence had adopted that challenging symbol in his own figurative work, attributing to it a profound vital meaning.”(de Filippis, Lawrence of Etruria, in: Preston/ Hoare, Lawrence in the Modern World, 115; vgl. dazu auch 3.6.1). 983 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 579. 984 “Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich unter europäischen Intellektuellen ein regelrechter Kult des ‘Primitivismus’. Pierre Loti schildert das harte, naturnahe Leben der bretonischen Fischer; [...] Paul Gauguin flieht vor der Zerrüttung in die harmonische Einfachheit Tahitis: Gegen selbstentfremdete Hysterie und gegen philiströses Erwerbs- und Respektabilitätsdenken stellen Zivilisationskritiker Germanentum und Keltentum, Mediävalismus und Hellenismus, cult of grass roots und arisch-nordische Rassenkunde, Narodnost und Proletkult, Italiensehnsucht und sexuelle Befreiung.“(Breuer, Historische Literaturpsychologie, 90). 465 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Konturen: Es geht um die Zurückweisung der Körperfeindlichkeit des Christentums und dessen Logozentrismus mitsamt seiner “overspiritualized Christian ethic of love and marriage“, 985 kurzum, dieser “’männlich’ konnotierte[n], okular- und logozentrische[n] Systematik der abendländischen Epistemologie und Psychologie“. 986 Alvinas spontane, aus dem Unbewussten aufsteigenden Bilder von Menschenopfer fordernden und Blut trinkenden Göttern in einer Vorzeit bezeichnen keine angestrebte Realität, sondern sind archetypische Chiffren eines anderen Ordnungsgefüges. 987 Solches Wissen begreift Lawrence als Teil eines kollektiven Unbewussten, jenes ’ancient sapience’, das es jenseits christlicher Verbote zu suchen und zu reaktivieren gilt. Den Aspekt des Naturhaften verortet Lawrence in der Figur Ciccios, der von Anfang an, wie angesprochen (vgl. Fußnote 944), weniger Züge einer realen Person als die einer Allegorie aufweist. Die Handlungskonstellation, dass die attraktive und gebildete Alvina aus gutem Hause, entgegen aller pragmatischen Vernunft, von einem jungen, wildfremden Italiener wie mit dem Gift eines Jagdinsekts gelähmt und zum Opfer gemacht wird - “[…] she [was] as if envenomed. He wanted to make her his slave“(LG, 203)- ist plausibel als narrative Visualisierung der weltanschaulichprogrammatischen Position des Autors, weniger jedoch als Wiedergabe einer psychologisch glaubwürdigen Realität. Ciccio fungiert als fiktionale Umschreibung von Zielvorstellungen der Heldin zur Selbsterkundung auf dem Weg zum Selbst und Ich: Er repräsentiert, ohne Anspruch auf psychologische Wahrhaftigkeit, das ursprünglich Naturhafte und naturidentisch 985 Takeo Iida, Lawrence’s Pagan Gods and Christianity, in: The D.H. Lawrence Review, 1991 Summer-Fall, 23 (2-3), 185. ”Lawrence believes that a clue for the recovery of vitality is found among the ancient peoples who, having a closer touch with their circumambient universe, saw gods everywhere and in everything.”(ebd, 188). 986 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 608. 987 Lawrence entwickelte eine erklärungsbedürftige “[...] theory of blood consciousness [...] in Twilight in Italy and especially in the famous letter to Ernest Collings: ’My great religion is a belief in blood, the flesh, as being wiser than the intellect. We can go wrong in our minds. But what our blood feels and says is always true. The intellect is only a bit and a bridle. What do I care about knowledge. All I want is the answer to my blood, direct, without fribbling intervention of mind, or moral, or what-not.’”(Hamalian, Lawrence in Italy, 15; s. auch Fußnoten 884-885). Lawrences Blut-Metapher ist eine Chiffre für authentische Natürlichkeit, die beschönigend auf überwundene anthropologische Stadien Bezug nimmt, wie es überraschenderweise auch der Dominikanermönch Las Casas tut: „Also lehrt die Natur selbst jene, die des Glaubens, der Gnade und der christlichen Lehre entbehren, da sie kein positives Gesetz kennen, das das Gegenteil gebietet, und allein durch die natürliche Erkenntnis erleuchtet sind, daß sie dem wahren Gott oder dem falschen, wenn er für den wahren gehalten wird, sogar Menschenopfer darbringen müssen, um sich, indem sie ihm so das Wertvollste schenken, in besonderer Weise für die vielen empfangenen Wohltaten dankbar zu zeigen.“(Las Casas, Apologia, 16. Jh., zit.n. Todorov, Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen, 225). 466 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Schöne als auktorial konzipierte Voraussetzung zu Körperzufriedenheit und einem authentischen Ich. Auf rätselhaft-unheimliche Weise, ebenfalls primär als literarisches Kontrastmittel und nur sekundär als reale Landschaftswiedergabe aufzufassen, nimmt die so verstandene äußere Natur Züge eines lebendigen Organismus an. Alvinas Spaziergänge eröffnen ihr Einblicke in jene vorchristliche Epoche mit Göttern, die den Menschen zwar Vorgaben machen, aber ihre Vitalität nicht unterdrücken. Diese Natur scheint dem modernen Menschen das ihr durch Industrialisierung zugefügte Leid übel zu nehmen und auf Rache zu sinnen, wenn Furien und Lemuren ”with their tomb-frenzied vindictiveness“(LG, 333), ”the fangs sheathed in beauty“(LG, 334), in ihrer Fantasie auftauchen. Anders als die geschundene Natur der Midlands erweist sich die der Abruzzen als wehrhafte und wehrbereite Gegenspielerin menschlichen Hochmuts. „Während der englische Diskurs die Existenz einer transpersonalen ‚inneren’ psychischen wie auch externen Natur leugnet und die Welt mit einem scheinbar lückenlosen Netz von Zuschreibungen überzieht, domestiziert und als Alterität auslöscht, droht Alvina in den Abruzzen wie die italienischen Bauern die Verbindung zum kulturschöpfenden Potential ihres Bewußtseins zu verlieren.“ 988 Ciccio als verkörperte Naturhaftigkeit bietet seiner Frau aber weder Ermunterung noch Unterstützung. Er ist, ganz im Gegenteil, einerseits im abschreckenden Sozialgefüge des Bergdorfes verankert, andererseits erscheint er in ”his modern vulgarianism and decadence“(LG, 221) als Produkt irriger Leitbilder moderner Erziehung. Seine Naturhaftigkeit, deren Faszination Alvina ohne bewusste Kenntnis eines tieferen Grundes auskostet, ist Folge seiner Formung zu einer Mischung aus Naturburschen und ’Latin lover’ durch die Naturlandschaft. Als hilfreicher oder wenigstens anregender Partner seiner Frau bei ihrer Selbsterkundung zwecks restituierender, wahrer Identitätskonstruktion fällt er jedoch völlig aus. Alvina ist vom Textanfang an die zentrale Figur und bleibt es einschränkungslos bis zum Romanende. ”Alvina is in his [Lawrence’s] eyes the one - the only one - who is right because she is highly receptive to life and able to submit [...].” 989 Bei ihrem Erstellen einer personalen Identität durch Einpendeln auf ein authentisches Ich ist Ciccio bzw. seinem attraktiven Körper eine assistierende Rolle zugewiesen; darüber hinaus jedoch ist er unbedarft, kommunikationsarm und einfallslos, dessen “faint, stupid smile“(LG, 250, 281) ihn als Partner auf Augenhöhe mit seiner Frau disqualifiziert. Es entspricht Lawrences Überzeugung, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, den schwierigen Weg zum Tiefengeschehen des Ich allein zu gehen. 988 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 641. 989 Delbaere-Garant, The Call of the South, 347. 467 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG Reduziert man die Subthemen des Romans auf ein zentrales Anliegen, dann geht es um das Selbstverständnis der Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erst dann um ihre Einbindung in ein partnerschaftliches und gesellschaftliches Beziehungsgeflecht. ”The Lost Girl, despite its Eastwood setting, is concerned with the situation of women rather than society in general.“ 990 Vehement setzt sich der Autor für Emanzipation aus dem damals immer noch virulenten spätviktorianischen Rollenverständnis für Frauen ein, vor allem, wenn sie Töchter aus ‚gutem’ Hause sind. Im 19. Jahrhundert hatten repressive Vorgaben von Gesellschaft und Kirche, Erziehung und Konvention die Frau juristisch und als Persönlichkeit ihrer Eigenständigkeit beraubt. Die männlichen Fantasievorstellungen entsprungenen Rollenklischees der Frau als Engel oder Hure, von Lawrence in The Lost Girl ironisch persifliert, 991 wie schon der Romantitel zeigt, taten spätestens seit Dickens ein Übriges, ein Recht auf eigenständige weibliche Individualität, geschweige denn ein Recht auf Selbstorientierung und selbstbestimmte Sexualität, zu leugnen. ”Lawrence and Forster in Italy are Englishmen who reach for the roots of the self in desire.[...] There thus comes an end, in their pages, to the morality of self-alienation that had formed the rock of the Victorian ethos.” 992 Lawrence zeigt, nicht ohne humorvoll-ironische Genugtuung im Ton, wie die Heldin Alvina Houghton nach und nach die Fäden des mit Sorgfalt und Hingabe um sie gesponnenen Netzes der Repression ihres Selbst zerreißt, wobei die von ihr heraufbeschworenen Friktionen mit einer emotional sterilen Umwelt umso mehr goutiert werden können, je stärker die Leserimagination den Geist spätviktorianischen Spießertums zu evozieren vermag. Allein der Einbruch der exotischen Natcha-Kee-Tawaras in das engstirnig-bürgerliche Woodhouse bietet reichlich Anlass - “The Lost Girl was - Lawrence insisted - a comic novel“ 993 - zu fantasievoller Komik. Zur Verwunderung des Lesers, zum zuweilen militanten Befremden mancher Leserin und zum engagierten Protest feministischer Literaturkritik propagiert Lawrence ein Emanzipationsmodell, das die Frau in Bezug auf sinnliches Erleben und Sexualität zwar aus den Zwängen der Gesellschaft befreit, um sie dann umso nachhaltiger auf ein Verhältnis der 990 Pugh, Lawrence and Industrial Symbolism, 41. 991 Das Porträt Alvinas zu Beginn des 2. Kapitels kann als ironisierende Vorbereitung auf eine Rolle als ’Angel in the House’ gelesen werden kann, wenn sie in den Augen ihrer Erzieherin Miss Frost als ’lamb’ und ’dove’ (LG, 21) erscheint. Dieses traditionelle Klischee bürgerlicher Rollenerwartung und die damit verbundene Erstellung einer intellektuell-diskursiven Abseitsposition für die Frau durch „Spaltungsprojektionen im Entweder-Oder von ‚spiritualisiertem Engel’ und ‚sexualisierter Hure’“(Winkgens, Natur als Palimpsest, 35; s. Fußnote 790)), dekonstruiert Alvina, als sie Hebamme wird, den Natcha-Kee-Tawaras folgt und sich als ’sacred prostitute’ fühlt (LG, 288 u. passim), indem sie der ’mesmeric power’ Ciccios nicht widerstehen kann und auch nicht will. 992 Bedient, Architects of the Self, 184f. 993 Donaldson und Kalnins, Lawrence in Italy and England, 212. 468 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Unterwerfung und Anerkennung einer männlichen Überlegenheit in der partnerschaftlichen Beziehung festzulegen. „Die vitale Kraft animalischer Männlichkeit [...] ist ein Wunschbild Lawrences.“ 994 Die Annahme, dass es dem Autor damit ernst gewesen sein könnte, wird im Roman durch direkte und immer wiederkehrende lexikalische Signale wie ’submission’, ’submissive’, ’subjection’, ’inferiority’, ’soulless’, ’victim’, ’slave’, ’prostitute’ gestützt, die zum Bestandteil von Alvinas Bild gemacht werden mit der Unterstellung, dass sie diesen Zustand wolle und ihn genieße. 995 Ganz offen scheint eine misogyne Auffassung in seinen Reisebüchern und Briefen zu sein, aber auch in anderen fiktionalen Texten. In Aaron’s Rod lässt er den Protagonisten Aaron Sisson auf der Piazza della Signoria in Florenz mit ihren nackten männlichen Statuen das Hohe Lied männlicher Überlegenheit anstimmen und liefert in bissig-ironischer Erläuterung die Gründe seines Unbehagens an der Jetztzeit gleich mit: “Aaron felt a new self, a new life-urge rising inside himself. Florence seemed to start a new man in him. It was a town of men.[...] men - who existed without apology and without justification. Men who would neither justify themselves nor apologise themselves. Just men. The rarest thing left in our sweet Christendom.”(AR, 212f.) Lawrence verortet in vorchristlich-archaischen Gesellschaften wie der etruskischen, mexikanischen, nordamerikanisch-indianischen und auch in der antiken Mythologie, deren Aura er in The Lost Girl in fantasievollen Visionen seiner Heldin beschwört, eine eindeutige Hierarchie in der Verteilung der Geschlechterrollen. Sie begreift er als Grundlage des unterschiedlichen Weges von Mann und Frau zu persönlichem Glück und als Ordnungsprinzip, das nun einmal dem Gang der Natur entspreche. 996 Jedoch, 994 Standop und Mertner, Englische Literaturgeschichte, 661. 995 ”What Lawrence sought was a primeval male identity.[...] he was prevented from reaching a normal male independence after puberty by the possessiveness of his mother.[...] This mother-father conflict underlies all the others entangled in Lawrence’s character [and] emerged in a typical response of oedipal background: an assertive maleness to overcome fears of incest-tainted mother domination, a male-female ambivalence, and an inclination to homosexuality.”(Clark, The Minoan Distance, 7). 996 Lawrences persönliches Verhältnis zu Sexualität war erstaunlicherweise eher durch Distanz geprägt; die Darstellung von Sexbegegnungen in The Lost Girl sind weniger realistische Beschreibungen als „[…] symbolisch stark verdichtete Szenen [i.S. einer] Markierung der ’art-speech’ [d.h. des symbolischen Sprechens], die für Lawrence die bevorzugte Möglichkeit der wahren und authentischen Rede darstellt.“ (Horatschek, Alterität und Stereotyp, 533; vgl. auch Fußnoten 870-874 u. 3.6.3.3). In diesem Licht gesehen ist Ciccio kein unverwechselbares Individuum, sondern stereotypisierter Repräsentant von Alterität, die Lawrence in antizivilisatorischer Ursprünglichkeit in der süditalienischen Bergwelt verortet, was ihm narrativ die Gelegenheit zum Einbezug vorchristlicher, heidnisch-mythologischer Lebenswelten gab. Ciccio kann in seiner Gegenpolfunktion „[…] mit seiner durch keine ödipalen Vorstellungen pervertierten Männlichkeit und durch sein ‚rassisches’ Erbe der Etrusker“(ebd., 549) als Allegorie (Meinhard Winkgens) gelten und die Italienkapitel einschließlich der Sexszenen des Romans als Allegorese einer imaginierten Wirklichkeit im Zeichen der ’true nature’ und ’phallic reality’ zur Hypostasierung eines eigentlichen Selbst und wahren Ichs. 469 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG es „[…] läßt sich die Forderung nach Unterwerfung als grundsätzliche Kritik am abendländischen Postulat des selbstmächtigen Subjekts deuten“, so dass der „Vorwurf, Lawrences sexuelle Rede ziele angesichts erster Erfolge der Frauenemanzipation primär auf eine Renaissance traditioneller Machtverteilung zwischen den Geschlechtern ab, naiv erscheinen“ muss.“ 997 Lawrences Missfallen an der Moderne und sein Befund ihrer psychisch-emotionalen Sterilität zeigt sich exemplarisch in “Woodhouse, where everything is priced and ticketed“(LG, 118), normiert und zurechtgestutzt. Woodhouse mit den symptomatischen Charakteristika unterdrückter Spontaneität, verdrängter Natürlichkeit und durch Affektkontrollen und Tabus heruntergeriegelter Sinnlichkeit, was Aaron als Fehlen eines ’lifeurge’ in der modernen Welt brandmarkte, belegt jegliches Streben nach ausgelebter Identität mit Denk- und Handlungsverboten. Alvinas Rebellion richtet sich keinesfalls gegen die Menschen: Ihr Beruf als Geburtshelferin versetzt sie wegweisend in die Rolle, symbolisch zu neuem Leben zu verhelfen. Ihr Drang nach innerer Befreiung von institutionalisierten ethisch-moralischen Repressionsmechanismen in Englands Gesellschaft erhält im Lawrence’schen Sinnkontext seine Dynamik aus der Opposition gegen die wahren Ursachen psychischer Verkümmerung. Die verunstaltete Industrielandschaft der Midlands fungiert, in ihrer erschütternden, geradezu anrührenden Erbärmlichkeit, als Nachweis und Gradmesser des Ausmaßes an Unheil, das Industrialisierung, Technologiegläubigkeit und kapitalistisches Gewinnstreben über eine einst intakte, ebenfalls idyllische Landschaft gebracht haben. ”As Lawrence’s work developed, industry came to symbolise all the forces that inhibit development, deny the will to growth and annihilate the individual both as man or master.“ 998 Das Schlimme ist, dass nicht nur die äußere Natur in Mitleidenschaft gezogen worden ist, sondern auch die innere Natur der Menschen: „[…] die äußere kreatürliche Welt [wird] als das gänzlich Andere, Fremdartige empfunden und seelisch ‚exterritorialisiert’ [zur] Abwehr der als unberechenbar und gefährlich erlebten eigenen kreatürlichen Impulse“. 999 Die Menschen sind, im Vollzug einer ‚instrumentellen Vernunft’ (Theodor Adorno) und als Täter und Opfer der ‚Ausübung eines anonymen Willens zur Macht’ (Michel Foucault; vgl. 1.1.3), perpetuiert durch Erziehung, Konvention und Massenmedien, zu degenerierten Automaten ohne Individualität in durchrationalisierten Arbeitsprozessen geworden. ”Thus, the theory of ’blood knowledge’ emerges as Lawrence’s response to the problem of man as it posed itself at the time: man is a stranger to himself and must discover or rediscover who he is and what his meaning is." 1000 997 Horatschek, Alterität und Stereotyp, 567 u. 598. 998 Pugh, Lawrence and Industrial Symbolism, 36. 999 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 58. 1000 Hamalian. Lawrence in Italy, 17. 470 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL Des Autors Kritik am gesellschaftlichen und technologisch-ökonomischen Erscheinungsbild der Moderne mündet in fundamentale Kulturkritik an der westlichen Welt ein. Seine Skepsis geht über Matthew Arnolds Wunsch nach ’intellectual deliverance’, „[…] dem Verlangen nach geistiger Befreiung aus der Vielfältigkeit und Komplexität des gegenwärtigen Zeitalters und der es begründenden Vergangenheit“ 1001 hinaus. Eine schon um 1920 beginnende Globalisierung, damals als kosmopolitischer Prozess einer Internationalisierung zwecks Friedenssicherung nach dem Ersten Weltkrieg verstanden, stand einer Bewahrung von Individualität, Regionalität und historisch gewachsener Sozialität diametral entgegen. Politische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit für eine größtmögliche Zahl, ideologischer Grundbestand des Demokratieverständnisses, stehen in Gegensatz zu Lawrences Verlangen nach Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit, originärer Individualität und selbstbestimmter Identität, die an das Unikat eines ’spirit of place’ gebunden sind. Der Suche von Lawrences Heldin nach unverformter Natur haftet insofern etwas Anachronistisches an, als sie mit ihrem geistigen Schöpfer gegen den Strom der Zeit schwimmt. 1002 Realistischerweise kann er ihr kein gefundenes Paradies bieten, denn Pescocalascio ist nicht besser als Woodhouse, nur auf andere Weise repressiv, steril, abstoßend. Ungewiss bleibt beim offenen Romanschluss, ob Amerika oder im Notfall nicht doch wieder England als Zukunftsperspektive taugen, wie auch der Autor auf seinen Reisen und Ortswechseln über Kontinente hinweg auf der Suche nach seinem sich ständig verflüchtigenden Ideal, seinem ’Rananim’, war. 1003 ”His forever deteriorating and forever renewed quest for a golden time in a golden space was carried on more in the imagination than in actuality, and the constant travel was essential to keeping the imaginative quest alive.“ 1004 Lawrence fand zeitlebens nicht zu innerer Ruhe. 1001 Winkgens, Wandlungen des Traditionsverständnisses von Arnold bis Eliot, 103. 1002 ”Lawrence and Nietzsche partake of what we may now see as a vestigial but important archetype: the modern rebellious Protestant psychopath as intellectual artist.”(Widmer, Lawrence and Nietzschean Matrix, 130). 1003 ”Rananim was an ideal community that Lawrence wanted to build up with a group of friends. What his Utopia consisted of was rather vague. He never reached the stage of writing out its charter, except that he was definite in one thing - that he wanted to get away from the pressure of materialistic society.”(Chong-Wha Chung In Search of the Dark God, in: Preston/ Hoare, Lawrence in the Modern World, Notes: 1., 86). 1004 Clark, The Minoan Distance, 13. 471 L ITERARISCHE L ANDSCHAFTSBILDER UND IHRE F UNKTIONALISIERUNG 3.6.4 Zusammenfassung 1. Landschaft ist für Lawrence nicht um ihrer selbst willen von Interesse, sondern zeichenhaft Vor-Wand bei der Darstellung einer verdeckten Realität. Zwei landschaftliche Gegenpole bezeichnen symbolisch seine Sicht einer gestörten Lebenswirklichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die deformierte Industrielandschaft der Midlands als tote Anti- Natur und die ursprüngliche Bergwelt der Abruzzen als Ort verkörperten Sinns. 2. Woodhouse im englischen Kohlerevier ist Zentrum der deformierten Landschaft, Ort emotionaler Stagnation und psychischer Degenerierung der Menschen durch den Verlust an Spontaneität, Vitalität und Fantasie. Schmutz und allgegenwärtige Hässlichkeit der Außenwelt stehen symbolisch für das der Natur zugefügte Leid, für emotionale Sterilität und die Selbstentfremdung der Menschen. 3. In der Bergwerksszene funktionalisiert Lawrence auf latenter Sinnebene die Welt unter Tage zur Initiation der Protagonistin in die naturhafte, jedoch unterdrückte Sphäre der Sexualität. Im Verbund mit dem Dunkel dieser Unterwelt als Metapher des Unbewussten und tabuisierten Sinnlichen erscheint sogar Woodhouse farbig und glanzvoll. Lawrences Ganzheitsvorstellung fußt auf einer Dualität von Dunkel und Licht, Gefühl und Verstand, Sexualität und Intellekt. Die Rebellion der Heldin gegen und ihr Bruch mit Englands Lebenswelt sind Protest gegen unnatürliche Vereinseitigung der Dualität und die Verhinderung psychischer Ganzheitlichkeit. 4. Ihr Erleben fremder Landschaft in Italien ist Horizont- und Bewusstseinserweiterung, wobei klimatische, topografische und folkloristische Oppositionen nur oberflächliche Indikatoren von Differenz sind. Lawrence geht es um die Möglichkeiten des Reaktivierens der durch Mechanismen soziokultureller Ruhigstellung heruntergeriegelten und inaktivierten Bereiche der Psyche, um im Auffinden bzw. einer Restitution der ’own true nature’ Übereinstimmung des Selbst mit dem wahren Ich zu erlangen. 5. Durch Aufzeigen der Diskrepanz zwischen falschen Selbstbildern und wahrer Identität am Beispiel der Frau in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert Lawrence das durch gesellschaftlichen Konformismus und geschlechterspezifische Rollenbilder verursachte Ausblenden elementarer Schichten der modernen Psyche; sein Plädoyer gilt einem neuen Selbstverständnis mittels eines authentischen sexuellen Ichs. Das eigenwillig-befremdliche Eintreten für eine Unterordnung der Frau unter eine überlegene männliche Führungsfähigkeit, wofür er die innere Verfasstheit archaischer Gesellschaften als Beleg heranzieht, trug ihm den Vorwurf latenter Misogynie ein. 472 D.H. L AWRENCE : T HE L OST G IRL 6. Das Thema der Sexualität liegt als sedimentäre Sinnschicht der Handlung zugrunde, ohne im Erzählgang dem Anspruch auf realitätskonforme Außenweltdarstellung zu entsprechen.. Lawrences ’phallic reality’ ist als metaphorisches Aufbegehren gegen christliche Leibfeindlichkeit wie auch gegen die zivilisatorische Moderne mit ihren repressiven Strukturen zur Disziplinierung und Unterdrückung authentischer Individualität konzipiert. Begriffe wie ’twilight’, ’darkness’, ’blood consciousness’, ’the phallus and the arx, the womb’ sind in Lawrences idiosynkratischer Sinnkonfiguration Chiffren zur Umschreibung der Wiedergeburt eines authentischen Selbst durch Rückbesinnung auf eine natürliche Priorität der Sinne über den Verstand. Urwüchsige Menschen, vorzugsweise Bauern, und ursprüngliche Landschaften wie die Abruzzen sind Gegenbeispiele zur Verkümmerung der modernen Psyche, visualisiert in der geschundenen, ausgebeuteten Industrielandschaft. 7. In The Lost Girl entkleidet Lawrence die italienische Landschaft aller kulturhistorischen Bezüge in radikaler Gegenposition zu bildungsbürgerlich-logozentrischen Perspektivik: Wissen sei unwichtig im Vergleich zu den Sinnen. Die Naturlandschaft und die archaische Kulturlandschaft werden zum Raum der Sinnverkörperung bzw. Sinnvermittlung, zur Offenbarung bzw. Manifestation von Authentizität. Die Landschaft hat sinnverkörpernde, manifestative Funktion. Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit gelten als Leitprinzipien eines authentischen Zugangs zu Körperzufriedenheit und psychischer Gesundung; sie sind Bausteine zu einem wahren Ich und zu personalem Glück. 8. Lawrences Gesellschafts- und Kapitalismuskritik aufgrund der Unterwerfung der äußeren Natur der Landschaft wie der inneren Natur des Menschen geht in Kulturkritik an der modernen Welt über, da aus seiner Sicht kosmopolitisch-globalisierende Tendenzen den Verlust von Individualität, Regionalität und spezifischer Sozialität herbeiführen. Das Erkunden eines authentischen Selbst zur Konstruktion eines wahren Ichs als Bedingungen für die Möglichkeit zum Glück inszeniert Lawrence narrativ im archaisch-mythischen Raum einer vorchristlichheidnischen Zeit. Im aktuellen Erzählgeschehen sind es die als Allegorie funktionalisierte Figur Ciccios und die zur Allegorese mutierende Natur der rauhen Bergwelt der Abruzzen, die des Autors Aussageintention veranschaulichen. Pescocalascio aber ist nicht besser als Woodhouse, nur auf andere Weise repressiv und lebensfeindlich. Italien erweist sich nicht als gefundenes Paradies, nur als Etappe auf dem Weg zu einem Ideal, so wie Lawrence selbst lebenslang auf rastloser Suche nach einem Wunschort und einer Wunschzeit war, seinem ’Rananim’, das sich immer wieder verflüchtigte und ihn zeitlebens nicht zu innerer Ruhe kommen ließ. 473 Teil IV 4 Zusammenschau der Ergebnisse 4.1 Über die Gegenstände und Inhalte der Landschaftsbilder 4.1.1 Zu den Gegenständen der Landschaftsbeschreibung Im Rahmen der ausgewählten achtzehn literarischen Landschaftsbilder als Grundlage dieser Untersuchung kann der Begriff ‚Gegenstand’ in dreifacher Weise verstanden werden: 1. als geografischer Ort; 2. als klimatischtopografische Lokalität; 3. als kulturgeschichtliche Stätte. Beim Blick auf die geografische Lage ist eine diachrone Tendenz hinsichtlich des Bekanntheitsgrades der gewählten Orte als kulturell oder landschaftlich herausragende Stätten erkennbar. Es verläuft eine klar hervortretende Linie von den tradierten Stationen der klassischen Bildungsreisen, insbesondere denen der Grand Tour (vgl. 2.1.2), hin zu Reiseverläufen, die keiner kanonartigen Programmierung unterliegen. Bei Nichtberücksichtigung rein pragmatisch orientierter Reisen (z.B. die Pilger-, Kaufmanns-, Scholaren-, Gelehrten-, Hof-, Prinzen-, Forschungs-, Bäder-, Genesungsreise u.ä.) gilt: Die gesellschaftliche Verankerung und Einbettung erziehungs- und bildungsorientierter Reisen (z.B. die Kavaliers- oder Bildungreise mit ihrer Variante der Grand Tour, die aufklärerische, enzyklopädische, empfindsame und romantische Reise) mitsamt ihrer in Romanen des 19. Jahrhunderts noch als restwirksam feststellbaren Vorbildfunktion wird gelockert und schwindet kontinuierlich. 1005 Ursache sind fiktional eigenwilligere, individuellere Lebensentwürfe der Protagonisten auf dem Weg zu personaler Identität. In der gegenseitigen Bezüglichkeit der drei konstanten Größen Individuum, Außenwelt und Innenwelt tritt ein Wandel in der Weise ein, dass die Präge- und Durchsetzungskraft soziokultureller Vorgaben schwächer wird zugunsten einer erstarkenden individuellen Psyche. Der im vorhinein abgesteckte Erlebnishorizont der klassischen Bildungsreise wird zunehmend durch eine Folge kontingenter Ereignisse ersetzt, die schließlich in Indivi- 1005 Die Pilger-, Scholaren-, Gelehrten- und Forschungsreise sind in dem Sinne pragmatisch, als der Reisezweck mehr oder weniger ausschließlich im Verrichten einer bestimmten Tätigkeit am erreichten Zielort bestand, während bei der erziehungs- und bildungsorientierten Reise bereits Durchführung und Verlauf der Reisetätigkeit als wesentliche persönlichkeitsformende und erkenntnisstiftende Faktoren angesehen wurden (vgl. 2.1.1- 3). Ü BER DIE G EGENSTÄNDE UND I NHALTE DER L ANDSCHAFTSBILDER dualreisen resultieren, deren Verlauf von den Figuren nicht geplant bzw. vorhersehbar waren. In keinem der Romane geht es um eine Italienreise allein unter gesellschaftlich-bildungsbürgerlichen Vorgaben, aber sowohl bei Frau von Staël, Dickens, Eliot, Gissing und unterschwellig noch bei Forster spielen konventionalisierte Reiseverläufe eine wichtige Rolle. Der einzige Text, dessen Schauplatzwahl sich tradierten Mustern völlig entzieht und einzig die klimatisch-topografische Eigenart der Lokalität als Vor-Wand zur Darstellung idiosynkratischer Sinnkonfigurationen in den Mittelpunkt rückt, ist der von Lawrence. Die erkennbare Tendenz bei der Schauplatzwahl lässt im Übrigen Rückschlüsse auf ein sich wandelndes Autor-Leser-Verhältnis zu. Bei der Wahl tradierter Handlungsorte konnte als Folge eines bildungsbürgerlichen Konsenses aufgrund einer konventionalisierten Reisekultur und darauf abgestimmter Reiseliteratur ein besonderes Leserinteresse vorausgesetzt werden. Das existierende Vorwissen mit Vor-Bildern war einerseits für narrative Zwecke nutzbar, stellte andererseits zu Lektürebeginn eine Atmosphäre der Vertrautheit zwischen Lesern und Autoren her, wobei letztere den Kenntnisfundus und eine damit einhergehende Aufgeschlossenheit bedeutungsintensivierend nutzen konnten. Mit Aufkommen des organisierten Reisens verringert sich bei Italienbesuchern der Bestand an Vorkenntnissen; die Reisen werden kürzer, oberflächlicher und auch hektischer, und ihr Pflichtcharakter als Bestandteil bürgerlicher Bildung schwindet (vgl. 2.1.1). Gleichzeitig setzt sich im 19. Jahrhundert, begünstigt durch die aufklärerische Emanzipation des Bürgertums, die romantischindividuelle Sinnsuche fort und verstärkt, im Verbund mit dem verkehrstechnologischen Fortschritt, die Tendenz zur gesellschaftlichen Vereinzelung des Reisens, - paradoxerweise bei der Vielzahl von Interessenlagen - in Parallelität zum Phänomen des Massen- und Pauschaltourismus. Eine analoge Tendenz weg von Fixierungen der Tradition und hin zur Kontingenz des Einzelfalls ist beim Blick auf die klimatisch-topografischen Gegebenheiten der Landschaftsbilder feststellbar. So sind Frau von Staëls theatralische Landschaftsinszenierungen in der Art eines Claude Lorrain, Nicolas Poussin, Gaspard Dughet und Salvatore Rosa und auch Dickens’ faszinierendes Panoramabild des Sankt Bernhard konzeptuell und ästhetisch großformatige piktorale Naturwiedergaben im Stil eines Altdorfer, Bruegel, Hackert, Koch oder Turner. Aber bereits Dickens’ Beschreibungen der Reisen nach Venedig und nach Rom können als erstaunlich moderne, die erzählerische Bildtechnik des Films vorwegnehmende, psychologisierende Darstellungen innenweltlicher Umbrüche gelesen werden. Dies gilt in höherem Maße für Eliots Roman, in dem Rom nicht primär Kunst- und Geschichtsort ist, sondern auslösendes Moment psychischer Erschütterungen, die sich in der Intimität namenloser Innenräume vollziehen. Vergleichsweise traditionell wird Ita- 475 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE liens Außenwelt in Gissings Landschaftsbildern behandelt; es geht zwar auch hier um ihr Potenzial als Ferment geistig-seelischer Wandlungsprozesse, aber Neapel und der Vesuv, Baia und Capri, Amalfi und Sorrent, Pompeji und Paestum sind doch auch in ihrer Eigenschaft als klassische Reiseziele von leserwirksamer Präsenz. Dieser Aspekt einer zu erfüllenden Lesererwartung bzgl. des Schauplatzes tritt bei Forster weitgehend und bei Lawrence völlig in den Hintergrund. In Forsters Roman wird nur noch eines der drei Landschaftsbilder in einen kulturhistorisches Sinnbezug eingespannt, aber bei Lawrence fehlt jeglicher Bezug zu Vor-Bildern: Die Protagonistin betritt ein sowohl ihr als auch den Lesern völlig unbekanntes Naturszenarium, das allen Klischees über Italien gänzlich widerspricht. Während bei großer thematischer Unterschiedlichkeit Frau von Staël, Dickens, Eliot und Gissing ihre Heldinnen und Helden in ein starkes, wenngleich allmählich abnehmendes Spannungs- und Konfliktverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft stellen, verlagert sich der Interessenschwerpunkt bei Forster und Lawrence weiterhin von der außenweltlichen Repressivität der Sozialgefüge hin auf eine innenweltliche Emanzipation auf dem Weg zu einem wahren Selbst und möglichst authentischen Ich. 1006 . Die Landschaftsdarstellungen der vier erstgenannten Autorinnen und Autoren zielen auf eine irgendwie geartete Lösung des Spannunsgverhältnisses zwischen Individuum und sozialem Umfeld hin, wobei Handlungsorte in ihrer Funktion als kulturgeschichtliche Stätten mehr oder weniger eingebunden werden. Forster und vor allem Lawrence schicken jedoch ihre Hauptfiguren auf den Weg zu individuell organisierter geistig-seelischer Standortbestimmung, die bei Forster fast, in Lawrences Fall völlig ohne kulturgeschichtlichen Bezug auskommt. Zusammenfassend lässt sich festzustellen: Es gibt eine klar erkennbare diachrone Tendenz bezüglich des Bekanntheitsgrades bei der Wahl der Orte italienischer Landschaftsbeschreibung. Sie führt von den traditionellen Stationen der klassischen Bildungsreise, die in ihrer spezifischen Ausprägung als Grand Tour insbesondere für englische Reisende Vorbildcharakter hat, infolge individuellerer Reiseverläufe und abnehmender kanonartiger Programmierung, zu Orten mit wenig und schließlich keinem kulturhistorischen Sinnbezug. Dieser kategoriale Schauplatzwandel spiegelt folgende Sachverhalte wider: 1006 „Unter dem Wahren Selbst versteht die Psychoanalyse im Anschluß an Donald W. Winnicott die theoretisch bestmögliche Entfaltung aller angeborenen, im Kern des Selbst enthaltenen, Potentiale und Eigenschaften des Individuums.“ (Auchter/ Strauss, Wörterbuch der Psychoanalyse, 150) „Das Ich lässt sich als das maßgebliche Steuerungs-, Regulations- und Kontrollorgan der Persönlichkeit, des Selbst verstehen.“(ebd., 83; vgl. dazu jedoch 4.2.3, insbes. Fußnoten 1007-8). 476 Ü BER DIE G EGENSTÄNDE UND I NHALTE DER L ANDSCHAFTSBILDER a) die Komplexität der Vernetzung im Beziehungsgeflecht von Individuum, Außen- und Innenwelt; b) die Relevanz von Emanzipierung für das Individuum der Moderne; c) die Strategie der narrativen Umsetzung von Individuation durch zunehmend selbstbestimmte Lebensentwürfe. Die literarischen Bilder der Natur- und Kulturlandschaft Italiens weisen eine historische Prozessualität des Beziehungsgeflechts von Individuum, Außenwelt und Innenwelt auf, das sich von Fixierungen der Tradition und der Gesellschaft wegbewegt in Richtung auf die Singularität des Individuums und die Kontingenz des Einzelfalls. Fiktionale Vorschläge und Strategien einer an gesellschaftlichen Vorgaben orientierten Konfliktlösung zwischen Individuum und Gesellschaft weichen nach und nach der narrativen Wiedergabe eines Strebens nach individuell organisierter geistig-seelischer Standortbestimmung. Diese Entwicklung reflektiert den Weg in die Moderne zur Erkundung eines wahren Selbst und möglichst authentischen Ichs auf der Suche nach persönlich angelegtem Glück. 4.1.2 Zum Verhältnis zwischen Bildern von Natur- und Kulturlandschaften Die Analyse der achtzehn verbalen Landschaftsbilder hat ergeben, dass es keine einheitliche Handhabung der Funktionszuweisung an Natur- und Kulturlandschaften gibt. Alle Autorinnen und Autoren verwenden beide Landschaftstypen zur Charakterisierung des fremden Raumes, und sie tun es an unterschiedlichen Punkten des Erzählflusses, in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlicher Zielsetzung. Frau von Staëls Kulturlandschaft bei Terracina, die sie erkennbar im Rückgriff auf Konventionen klassisch-antiker literarischer Bilder gestaltete, ist mit symbolischem Sinn befrachtet, so wie auch die spektakulären Naturszenarien des Vesuvs und des winterlichen Mont Cenis. Die idyllisch-arkadischen Gefilde bei Terracina umschreiben einen Idealzustand, der Einblick in die Seelenlage der Protagonistin gibt, doch gerade die inszenierte Klischeehaftigkeit der Landschaft entlarvt ihr Hoffen als Illusion. Die beiden Naturlandschaften fungieren als expressive Visualisierung von Gewissensqualen in einem Falle und von Gefühlskälte im anderen; auch sie dienen dazu, als ‚externalisierter Seelenraum’ innere Befindlichkeit der Figuren möglichst präzise und glaubhaft darzustellen. Eine derart eindeutige Differenzierung in zwei Landschaftstypen lässt sich bei den in Dickens’ Roman ausgewählten verbalen Bildern nicht vornehmen. Sein Panoramagemälde des Sankt Bernhard stellt überwiegend Naturlandschaft dar, doch interpretationsrelevante Teile sind kulturlandschaftliche Abbildung, ohne deren Vorhandensein diese wichtige Ein- 477 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE gangstextstelle zum zweiten Romanteil ihre Aussagekraft verlöre. Da das Bild vom Sankt Bernhard ohnehin aus fünf natur- und kulturlandschaftlich miteinander verwobenen Facetten besteht, entsteht der Eindruck, dass Dickens diese Verschränkung als solche rezipiert sehen wollte, nicht aber die Vorstellung einer irgendwie gearteten Gegensätzlichkeit. Die narrative Umsetzung dramatischer intrapsychischer Vorgänge bei Amy Dorrits Reise nach Venedig und bei ihres Vaters Fahrt durch die Campagna geschieht ebenfalls über eine Verzahnung kultur- und naturlandschaftlicher Aspekte; eine Verschiedenartigkeit der Funktionalisierung ist nicht erkennbar. George Eliot verlässt sich bei der Erstellung der Alterität des fremden Raumes fast ausschließlich auf die kulturlandschaftliche Szenerie Roms, in der die geistig wache Dorothea Brooke stürmische Phasen der Dekonstruktion des heimatlichen Weltbildes durchläuft. Es kommt in der Psyche der Heldin zu einem Kulturschock mit weit reichenden Folgen, dem in kontrastivem Bezug die Naturlandschaft als ruhender Pol zur seelischen Stabilisierung und als Ort universaler Leitprinzipien gegenübergestellt ist. Auch ihre Begegnungen mit Will Ladislaw und dem Maler Adolf Naumann stehen unter der Prämisse eines Spannungsverhältnisses zwischen Kultur und Natur, wobei die Akzeptanz dieser Dualität in symbiotischer Ergänzung als Voraussetzung zu sinnvoller Lebensgestaltung aufgezeigt wird. Bei George Gissing überwiegt in den drei ausgewählten Landschaftsbildern der Anteil kulturlandschaftlicher Darstellung, aber gerade bei deren Verbalisierung bemüht er die naturlandschaftliche Kontexte konnotierende Allegorisierung der ‚Hexe des Südens’, um den gefährlichen Reiz eines von Zwängen freien Lebens unter südlicher Sonne vorzuführen. Mallard der Maler unterliegt diesem Reiz mit erheblichen Nachteilen für Schaffenskraft und Selbstwertgefühl, dem er sich erst nach vierjähriger Askese im Norden entziehen kann. Wie sehr sowohl der Kulturals auch der Naturlandschaft ambivalente Kräfte innewohnen, zeigt Gissing bei der Schilderung von Schlüsselerlebnissen der beiden weiblichen Hauptfiguren, Miriam Baske und Cecily Doran, auf der Insel Capri, die zwar alte Kultur-, aber auch noch Naturlandschaft ist. Auf Capri verortet er Miriams Erwachen zu ästhetischer Erlebnisfähigkeit durch Aufbrechen der Fesseln ihrer bigotten Lebenswelt und ihre Initiation in die Welt der Fantasie, aber auch den Eintritt der emanzipierten Cecily in der nächtlichen, traumhaftschönen Landschaft in das illusionäre Reich des Irrational-Fantastischen. In Forsters Roman überwiegt, wie bei Dickens, Eliot und Gissing, der Anteil kulturlandschaftlicher Schauplätze, aber die Initialzündung zur Revision festgefahrener Denkschemata des Helden Philip Herriton findet in der Naturlandschaft statt, als sein Sehen und Denken in Klischees und Stereotypen erstmals aufgebrochen wird. Seine konventionalisierte Wahrnehmung geht in die individuelle Erfahrung des authentisch (Natur-) Schönen und des Einzigartigen jenseits aller kulturgeschichtlichen Vorga- 478 Ü BER DIE G EGENSTÄNDE UND I NHALTE DER L ANDSCHAFTSBILDER ben über, indem ihn die Natur durch Palimpseste auf verborgene Wahrheiten hinweist. Wichtige Anstöße zu innerem Wandel kommen aus der tiefenpsychologisch relevanten Begegnung mit dem dunklen Wald als ‚weibliche’ und den Türmen der Toskana als ‚männliche’ topografische Landschaftselemente, die symbiotisch Kultur- und Naturlandschaft vereinen, wie dies auch bei seinem Erleben personaler Identität im Theater von Monteriano geschieht. Am augenfälligsten verortet Lawrence Findungs- und Verstehensvorgänge seiner Protagonistin Alvina Houghton bei ihrer Suche nach ihrem wahren Selbst in Italiens Naturlandschaft. Alle drei Landschaftsbilder belegen eine kompromisslose Hinwendung des Autors zu psychisch regenerierenden und sinnstiftenden Kräften der Natur; Kulturlandschaft wird als deformierte Natur sogar in eine negative, destruktive Rolle eingerückt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Bei den sechs Autorinnen und Autoren ist eine eindimensionale Funktionszuweisung an Bilder entweder der italienischen Naturlandschaft oder an solche der Kulturlandschaft nicht möglich. 4.1.3 Veränderungen des Natur- und Kulturverständnisses Der objektgebundenen statischen Gegenständlichkeit der Landschaftsbilder steht eine sich wandelnde Inhaltlichkeit gegenüber, wobei die Anlässe für Bezugnahmen auf Naturlandschaft, wie dargelegt, ähnlich divergent sind wie im Falle der Kulturlandschaft. Da für Frau von Staël eine Korrespondenz zwischen äußerer und innerer Landschaft besteht, instrumentalisiert sie Szenarien der sichtbaren Natur als Spiegelbilder zur Visualisierung innenweltlicher Tatbestände und macht sie damit zu Projektionsflächen für eine narrative Bildvermittlung von innen nach außen. Aus ganz anderem Anlass greift Dickens auf Naturlandschaft zurück, wenn sie in seinem Text Bestandteil meditativphilosophischer Betrachtung der Lebensreise des Menschen wird. George Eliot nimmt Naturlandschaft gänzlich aus dem aktuellen Erzählgeschehen heraus und weist ihr als ‚erinnerte Landschaft’ im Bewusstsein der Heldin eine - freilich nur scheinbar - untergeordnete Rolle zu. Gissing verwendet sein ambivalentes Naturbild von Capri als befreienden Eintritt in die Welt der Fantasie wie auch als verhängnisvollen Gang in die Welt des Fantastischen. Forsters spärliche Naturszenerie beschränkt sich auf den dunklen Wald, doch er stattet gerade dieses konventionalisierte Naturbild mit hochbedeutsamer Symbolkraft aus, indem er dort des Helden Initiationsprozess verortet. Bei Lawrence ist die Natur, in weit höherem Maße als bei Eliot, Gissing und Forster, Quelle universaler Leitlinien und rückt in die letztinstanzliche Position eines Widerparts zur abendländisch-christlichen Zivilisation und ihres okular-logozentrischen Herrschaftsanspruchs ein, 479 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE wodurch die Dichotomie von Natur und Kultur in einen unüberbrückbaren Gegensatz überführt wird. Von Frau von Staël bis D.H. Lawrence sind in den untersuchten Romanen erhebliche Veränderungen des Naturverständnisses zu konstatieren. In Corinne ou l’Italie ist Natur beseelte Kraft mit autoritativem Status in einem dem Menschen gegenübergestellten, abgesonderten Raum, gemeinhin oft als Herausforderung zur Eroberung missdeutet, die beseelte Kraft inbegriffen, ein Unterfangen, das freilich beim Tod der Natur, wie in der öden Vesuvlandschaft und der ‚Hölle aus Eis’ am Mont Cenis, erlischt. In Dickens’ Panoramabild vom Sankt Bernhard ist die Naturlandschaft Ort und Ursprung verschwenderischer Fülle wie auch größter Gefahr und Entbehrung, facettenreich und unberechenbar wie das Leben des Menschen selbst, der einem ’wild destiny’ unterworfen ist. In Eliots Middlemarch ist die Natur weder ein räumlich-gedankliches Gegenüber noch ein zu durchwandernder Raum auf der Lebensreise, sondern Zufluchtsort zur psychischen Regenerierung wie auch Ursprungsort ästhetisch-moralischer Kategorien. Bei Gissing hat die Natur “a luring charm“, der anregend ist, aber verhängnisvoll sein kann, und so ist sie primär Test- und Bewährungsraum, sich durch Selbstdisziplin einer deterministischen Lebensprogrammierung zu entziehen. Forsters Naturverständnis steht auf den ersten Blick ganz im Zeichen konventionalisierter Raumwahrnehmung, deren vorchristliche und literarische Ursprünge er aufgreift und zugleich symbolisch überhöht, indem sein Held zur archetypischen Figur des Pilgers auf der Suche nach Orientierung und Sinn wird, der ohne adäquates Wissen und mit repressiven leibfeindlichen Überschreibungen auf den dunklen Wald trifft, psychoanalytisch die ’terra incognita’ des weiblichen Körpers für den unerfahrenen jungen Mann bei seiner Initiation in eine umfassendere Realität. Lawrence verbindet mit Naturlandschaft unverfälschte Ursprünglichkeit und die Suche nach wahrer Identität, der ’own true nature’, verortet in einem Raum vorchristlich-heidnischer Freiheit des Sinnlichen, der Körperzufriedenheit und des Glücks, bevor logo- und anthropozentrische Zwänge mit Kontrolle und Unterwerfung der äußeren wie der inneren Natur des Menschen begannen. Die nicht domestizierte Natur ist für die Protagonistin Fundort weltanschaulicher Leitlinien, Ort des Authentischen und alleinige Quelle der Orientierung in einer überorganisierten, kopflastigen Welt. Der offenkundigen Veränderung des Naturverständnisses und damit einhergehenden Sinnzuweisung steht ein gleichrangig auffälliger Wandel des Kulturverständnisses und damit veranschlagter Wertschätzung gegenüber. Für Frau von Staël und ihre Heldin, als Sängerin und Dichterin im Triumphzug zum Capitol geleitet, um analog zu ihrer antiken Namenspatronin die Huldigung der Bevölkerung entgegenzunehmen, ist Kultur die den Menschen zu höchster Bestimmung führende Existenzform. Dickens’ 480 Ü BER DIE G EGENSTÄNDE UND I NHALTE DER L ANDSCHAFTSBILDER Text zeigt eine weniger enthusiastische Wertschätzung des Kulturellen, das im Guten wie im Schlechten machtvoll präsent ist: Es gibt die humane Ordnung im Marshalsea, für die Heldin Dreh- und Angelpunkt ihres Weltverständnisses, aber es gibt auch die frustrierenden Machenschaften des ’Circumlocution Office’ und die hinterhältige Bosheit der Reichen. In Middlemarch löst die Bilderflut der Kulturlandschaft dekonstruktive Prozesse aus, die freilich, nach Reorganisation der ikonoklastischen Bildertrümmer, Voraussetzung zu epistemologischer Neuorientierung durch eine regenerierende Natur sind. Die Gefahr eines falschen Wissensbegriffs und einseitigen Kulturverständnisses wird modifiziert in Gissings Text thematisiert, der die negativen Folgen fundamentalistisch-religiöser und weltanschaulich-emanzipatorischer Verirrungen anhand von Dispositionen zum Illusionären und zum Träumerischen aufzeigt, die allerdings ambivalent in beiden Landschaftstypen zu Tage gefördert werden können. Forsters Held wird zu Beginn mit spöttischer Ironie als Musterbeispiel eines Kulturträgers vorgestellt, dessen kulturgeschichtlich randvolles Italienbild sich in Konfrontation mit der Realität als Seifenblase erweist. Es ist die Natur, die dem Protagonisten auf die Sprünge hilft, indem ihm die Landschaft als Palimpsest und ‚sprechendes’ Symbolsystem mit relevanten ‚Informationen’ verborgene Wahrheiten zeigt. Nach diesem epistemologischen Anschub durch ‚weibliche’ und ‚männliche’ Topografiesignale erahnt er die Notwendigkeit körperlicher Liebe wie überhaupt zwischenmenschlicher Beziehungen und deren Relevanz für eine Selbsterkundung und Identitätserstellung als Bedingung zu Glück. Auf die unterste Stufe der Wertschätzung wird Kultur in Lawrences Landschaftsbildern gesetzt. Allein bezüglich Umfang der Darstellung ist das Verhältnis zugunsten der Naturlandschaft völlig einseitig, und die wenigen Verweise auf Kulturlandschaft beziehen sich nicht auf das reiche Erbe Italiens, sondern entweder auf eine rückständige Lebensweise und eine dem Aberglauben zugewandte Religiosität oder aber auf Negativtendenzen der Moderne, denen selbst die Bergbauern sich nicht entziehen können. Beim Blick auf England geht die Stoßrichtung der Kritik gegen Industrialisierung und Verkümmerung der Natürlichkeit im Menschen, in Italien gegen Materialismus und falsch verstandenes Streben nach persönlicher Unabhängigkeit, die das Sozialklima vergiften und Individuen für Degeneration, wie der Autor es nennt, anfällig machen. In beiden Kulturräumen sieht er die Übel moderner westlicher Zivilisation am Werk, die zu Verlust an Individualität und sinnlicher Erlebnisfähigkeit, Spontaneität und Authentizität führen und in Selbstentfremdung und Glücksverzicht enden. Im Blick auf die Zeit zwischen 1807 und 1920 sind eindeutig hervortretende Entwicklungsgänge zu erkennen. Die Wertschätzung alles Kulturellen als die den Menschen zu höchster Bestimmung führenden Form der Existenz (Frau von Staël) weicht kontinuierlicher Relativierung 481 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE (Dickens, Eliot, Gissing, Forster) und endet in massiver Zivilisationskritik gegen den eigenen und fremden Kulturraum (Lawrence). Im umgekehrten Verhältnis wird die Natur aus einer Statistenrolle (Frau von Staël, Dickens) herausgeholt und ebenfalls schrittweise in eine für den Menschen immer bedeutender werdende Rangposition bei seiner lebensweltlichen Orientierung und existenziellen Sinnkonstruktion eingerückt (Eliot, Gissing, Forster), bis sie zur alleinigen sinnstiftenden Autorität bei der Erkundung des Selbst und - in Übereinstimmung mit den Neurowissenschaften - der Etablierung eines fluktuierenden, vom Subjekt zu erstellenden Ichs wird (Lawrence). Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Beziehungen zwischen Natur und Kultur und die bewertende Skalierung durch die Autorinnen und Autoren können als im Verhältnis einer direkten Reziprozität stehend gedacht und beschrieben werden, wobei eine diachron eindeutig erkennbare Schwerpunktverlagerung stattfindet. Das Verhältnis von hoher Rangeinstufung der Kultur aufgrund ihrer sinnverkörpernden Leitfunktion bei gleichzeitigem Verweisen der Natur in eine Statistenrolle ohne spezifische Sinnstiftungsfunktion für das Individuum wird, beim Blick auf die Zeitspanne zwischen Frau von Staël und D.H. Lawrence, in die genau gegenteilige Richtung umgekehrt. 482 Ü BER DIE G EGENSTÄNDE UND I NHALTE DER L ANDSCHAFTSBILDER 4.1.4 Übersicht I: Gegenstände und Inhalte Autorin/ Autor, Lebensdaten Titel des Romans, Erscheinungsjahr Wichtige Figuren, Protagonisten Wichtige Handlungsorte in England und Italien Kurztitel der Landschaftsbilder: Naturlandschaft + Kulturlandschaft * Textstelle Frau von Stael (1766- 1817) Corinne ou l`Italie 1807 Corinne Oswald Lord Nelvil Lucile Edgermont Lady Edgermont Juliette Lord Nelvil Rom Terracina Campagna Vesuv Pompeji Northumberland London Schottland Mont Cenis Florenz 1. Terracina * CI, 285/ 15- 288/ 22 2. Vesuv + CI, 336/ 19- 339/ 14 3. Mont Cenis + CI, 549/ 4- 553/ 7 Charles Dickens (1812- 1870) Little Dorrit 1855-57 William Dorrit Amy Dorrit Frederic Dorrit Fanny Dorrit Arthur Clennam Mrs Clennam Daniel Doyce the Meagles the Barnacles Rigaud/ Blandois Pancks, Mr Casby, Flora, Maggie, the Merdles, Miss Wade, Tatticoram Marseille Chalons London Twickenham Sankt Bernhard Venedig Campagna Rom 1. St.Bernhard + * LD, 487/ 1- 490/ 2 2. Venedig + * LD, 522/ 37- 527/ 20 3. Campagna * LD, 718/ 1- 719/ 22 George Eliot (1819- 1890) Middlemarch 1871-72 Dr. Casaubon Mr Brooke Dorothea Brooke Celia Brooke Sir James Chettam the Cadwalladers, the Bulstrodes, the Vincys, the Garths, Will Ladislaw, Adolf Naumann, Lydgate Middlemarch (Coventry) Lowick Rom 1. Rom * M, 192/ 1- 197/ 20 2. Via Sistina * M, 204/ 1- 211/ 24 3. Künstleratelier * M, 212/ 1- 224/ 10 483 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE Autorin/ Autor, Lebensdaten Titel des Romans, Erscheinungsjahr Wichtige Figuren, Protagonisten Wichtige Handlungsorte in England und Italien Kurztitel der Landschaftsbilder: Naturlandschaft + Kulturlandschaft * Textstelle George Gissing (1857- 1903) The Emancipated 1890 Miriam Baske Reuben Elgar Cecily Doran Ross Mallard the Spences Mrs Lessingham Mrs Denyer Clifford Marsh Mr Musselwhite the Bradshaws Neapel Baia Capri Bartles Sowerby Bridge London Paestum Rom 1. Neapel * E, 74/ 1- 97/ 16 2. Capri +* E, 211/ 17- 221/ 36 3. Paestum * E, 307/ 13- 315/ 35 E.M. Forster (1879- 1970) Where Angels Fear to Tread 1905 Lilia Herriton Mrs Herriton Philip Herriton Harriet Herriton Caroline Abbott Irma Mrs Theobald Mr Kingcroft Gino Carella Perfetta Spiridione Tesi Sawston Monteriano (San Gimignano) 1. Dunkler Wald + * A, 33/ 1- 38/ 32 2. Türme * A, 90/ 3- 104/ 27 3. Opernabend * A 107/ 34- 113/ 19 D.H. Lawrence (1885- 1930) The Lost Girl 1920 James Houghton Alvina Houghton Miss Frost Miss Pinnegar Alexander Graham the Witham bros. Mr May Mme Rochard The Natcha-Kee- Tawaras Dr. Mitchell Effie Tuke Ciccio Marasca Pancrazio Woodhouse Islington Lumley Scarborough Lancaster London Pescocalascio (Picinisco) 1. Pancrazios Haus+* LD, 303/ 12- 309/ 40 2. Winterlandschaft + LD, 314/ 1- 316/ 6 3. Vorfrühling + LD, 331/ 34- 335/ 29 484 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER 4.2 Über die Funktionalisierung der literarischen Landschaftsbilder 4.2.1 Landschaftsbeschreibung als Visualisierung innenweltlicher Konflikte Bei allen achtzehn Landschaftsdarstellungen wird unter der manifesten Oberfläche eine Tiefenschicht sichtbar, die gleichsam durch Analogisierung der Ereignisse in einer sinnlich nicht wahrnehmbaren Sphäre der äußeren Handlung Tiefgang verleiht. Diese Sphäre ist die Innenwelt der Figuren, ihre Psyche, das Unbewusste, ihre geistig-seelische Welt, der intrapsychische Raum, das ‚seelische Tiefengeschehen’ (Horst Breuer), dessen Zustand entscheidend ist für Teilhabe des Individuums an und sein Wohlbefinden in seiner gegebenen Umwelt. Beliebte Metaphernbildungen mit Bezug zur Psyche unter Rückgriff auf die Sachfelder Pathologie oder auch Feinmechanik (z.B. ‚psychisch krank’, ‚seelisch verletzt’, ‚verwundete Psyche’; ‚seelisches Gleichgewicht’, ‚psychischer Apparat’, ‚psychische Stabilität’ u.v.a.) weisen einerseits auf organizistische wie auch mechanistische Vorstellungen hin, andererseits auf das Problem einer adäquaten Versprachlichung ihrer Zustände und inneren Abläufe - ein für Autorinnen und Autoren hochrelevanter Aspekt bereits vor Etablierung der Psychoanalyse. Im Landschaftsbild von Terracina spricht Frau von Staël expressis verbis von der Kommunikation zwischen Gefühlen der Innen- und Objekten der Außenwelt: «La nature, dans les pays chauds, met en relation avec les objets extérieurs, et les sentiments s'y répandent doucement au dehors».(CI, 287) Zwischen innerer Gefühls- und äußerer Objektwelt besteht ein ’objective correlative’ im Sinne T.S. Eliots, das die der Wirklichkeit entrückte Ideallandschaft als Visualisierung eines geheimen Sehnens nach Symbiose zwischen Italien und England erkennbar macht, das aber als Wunschprojektion so real ist wie das Elysium selbst. Die Szenerie am Vesuv ist in ihrer detaillierten Wiedergabe der äußeren Landschaft sogar als expliziter Wunsch der Autorin nach möglichst wirklichkeitsnaher Innenweltdarstellung zu lesen. Zahlreiche Metaphern und Vergleiche erinnern immer wieder, durch Verknüpfen der ‚Faktenaußenwelt’ (Arnold Gehlen) mit mythologischen und biblischen Bildwelten - als im weitesten Sinne imaginierten Innenwelträumen -, an die Verzahnung von Außen und Innen, und gleichzeitig visualisieren sie die für den Helden existenziellen Konflikte im Kontext von Schuld, Strafe, Leiden und Tod. Der Mont Cenis ist in mehrfacher Hinsicht visualisierte Innenwelt: Eisige Kälte, gespenstische Stille wie auch gefahrvolle Stürme, für Lucile Ursache ständig neuer Angstattacken, deutet sie als «triste présage»,(CI, 550) während Oswald bei der Passüberquerung in autistischer Ahnungslosigkeit Leib und Leben aller Beteiligten aufs Spiel setzt: Die abgestorbene Winterlandschaft ist so auch transformierte Spiegelung des desolaten Psychoklimas ihrer Ehe. 485 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE Die erste Landschaftsbeschreibung in Little Dorrit mit Bezug zu Italien, die Beschreibung des Sankt Bernhard, ist ebenfalls ein Blick in einen geistig-seelischen Innenraum, doch dieses Mal in den des Autors selbst, der melancholisch-meditativ eine introspektive Schau der Lebensreise des Menschen präsentiert. Das zweite Landschaftsbild bei Dickens ist die dramatische Visualisierung des Empfindens von Unwirklichkeit und ein packendes Psychogramm der Protagonistin in ihrer Entfremdung und Entwurzelung. Eine ähnlich komplexe innenweltliche Problemlage liegt der Sichtbarmachung der schleichenden psychischen Desintegration William Dorrits zugrunde, die narrativ durch seine idiosynkratische Landschaftswahrnehmung in der Campagna dokumentiert wird. Die visuellen Schockerlebnisse der Heldin in Middlemarch zeigen in ausgesprochen psychosomatischen Symptomen die enge Verzahnung von Außen- und Innenwelt, von Körper und Seele. Ihre ikonoklastische Wahrnehmung Roms als außenweltliche Fragmentarisierung ist Auslöser des intrapsychischen Zusammenbruchs des heimatlich-provinziellen Weltbildes. Dem gegenübergestellte konstruktive Verstehensvorgänge führen über die Symbolik des einfallenden Sonnenlichts -“Today she had begun to see“(M, 211) - und die optische Suggestivkraft von Werken der bildenden Kunst, vor allem der antiken Plastik, zu innenweltlich-epistemologischer Horizonterweiterung im Verbund mit einem psychisch-emotionalen Erweckungsprozess. In der Denk- und Stilfigur der ‚Hexe des Südens’, psychoanalytisch eine Bündelung verborgener Bilder des Sinnlichen mit diffusen Ängsten vor Kontroll- und Machtverlust, visualisiert Gissing die mentale Verführung des einem rigiden Arbeitsethos verpflichteten Landschaftsmalers Ross Mallard durch die Vitalität und Lebensfreude des Südens. Durch Verbildlichung landschaftlicher Reize wird auf latenter Sinnebene eine Interferenz von Außenwelt und Unbewusstem sichtbar, wobei das Gewahrwerden geheimer Wünsche des sexuellen Begehrens den prinzipienfesten Mallard im moralischen Mark erschüttern: Den ‚Rat’, der Verführung nachzugeben, erteilt die Natur in Gestalt der Meeres. Deutlicher noch wird im Landschaftsbild mit Capri als Kulisse die Interaktion zwischen Außenwelt und Psyche thematisiert, woraus in einem Fall ein Wandel zum Guten, in einem anderen jedoch ein Gang in persönliches Unglück resultiert. In der Landschaft Paestums und ihrer kulturellen und vegetativen Eigenart verortet der Autor im Außen den Nachweis über Mallards innenweltliche Regenerierung und Miriam Baskes Durchbruch: In beiden Fällen geht es um die Lösung seelischer Konflikte. Gissings Landschaftsbilder sind, mehr noch als bei Eliot, nicht nur intrapsychische Zustandsschilderung - wie bei Frau von Staël und Dickens -, sondern Externalisierung innenweltlichen Wandels. Diese Aussage trifft auch in Where Angels Fear to Tread auf des Helden Fahrt durch den dunklen Wald zu, als dessen ‚weibliche’ Topogra- 486 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER fie im Verbund mit der ‚männlich’ konnotierten der phallischen Türme der Toskana palimpsestisch verborgene Wahrheiten zur Legitimität des Sinnlichen umschreibt. Beide Male ist Landschaft über tiefenhermeneutisch erschließbare Symbolik in die Rolle eines Agens eingerückt. Vollends deutlich wird die Interaktion zwischen Außen- und Innenwelt in der Opernszene, als Carolines Epiphanie des Schönen diejenige Philips in Bezug auf sein Selbst und Ich folgt, indem er sich in der Fremde in seiner Heimstatt und am Ort seiner Identität angekommen wähnt. Wenn in The Lost Girl in der ersten Naturschilderung aus Italien mit den atypischen Merkmalen von Kälte, Dunkelheit und ‚Wildheit’ die Heldin diese Landschaft gleichwohl als herrlich, zauberhaft und großartig empfindet, ist diese Reaktion nur als innenweltliche Projektion erklärbar. Noch tiefer dringen visuelle Impulse der Außenwelt in seelische Tiefenschichten vor, wenn die Heldin in der symbolhaften Dämmerung Sinnmuster einer vorchristlich-archaischen Welt ohne modernes feminisiertes Bewusstsein, wie der Autor es diagnostiziert, erkennt und es bei ihrer Begegnung mit Bergblumen zur Apotheose des Naturortes als Verkörperung des Ursprünglichen, Naturhaften und wahren Schönen in einer glücklicheren Welt kommt. Der Heldin Bedürfnis nach rückhaltloser Anerkennung dieser unverfälschten, ‚wilden’ Natur in einer ostentativen Demutsgeste unter freiem Himmel spiegelt Lawrences Auffassung von der beglückenden Wirkung sexuellen Erlebens wider, wie sie es durch Ciccios ‚ursprünglich’ gebliebene Körperlichkeit kennengelernt hat. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Unter der manifesten Oberfläche der in Bildern der Natur- und Kulturlandschaft Italiens beschriebenen Außenwelt und jenseits deren visuellen Phänomenalität ist, gleichsam durch Analogisierung bzw. Parallelisierung der realen Objekthaftigkeit, eine weitere, latente, tiefenhermeneutisch zu erschließende Sinnschicht in einer der sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglichen Sphäre angelegt, wodurch der Handlung gedankliche Substanz und bedeutungsmäßiger Tiefgang verliehen wird. Durch die derart inszenierte Visualisierung innenweltlicher Vorgänge und Konfliktlagen gelingt es, verborgene Bilder des Sehnens und Verlangens, insbesondere die einer Faszination durch das Sinnliche und Wünsche des sexuellen Begehrens, narrativ sichtbar zu machen. Die in Zwängen, Verboten und Tabus konkretisierten Mechanismen des Verbergens dieser Bilder mittels konventionalisierter Ruhigstellung und Inaktivierung wichtiger Bereiche des seelischen Tiefengeschehens und deren Überschreibung durch soziokulturell legitimierte Denk- und Verhaltensnormen kann psychoanalytisch als gesellschaftlich und/ oder individuell bedingte Hypostasierung diffuser Ängste vor Kontroll- und Machtverlust gedeutet werden. 487 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE 4.2.2 Die Funktionszuweisung an Landschaft: Inszenierung innenweltlicher Dramatik oder Strategie potenzieller Konfliktlösung? Die aus Corinne ou l’Italie ausgewählten Landschaftsbilder sind ausnahmslos beeindruckende Schilderungen grandioser Außenweltszenarien mit narrativ eindeutiger Funktion: Die Landschaft von Terracina zeigt den illusionären Charakter eines Glaubens an eine Symbiose der englischen und der italienischen Lebenswelt, der Vesuvkrater ist ein Abbild durchlebter Höllenqualen eines Gewissenskonflikts, und der winterliche Mont Cenis illustriert Gefühlskälte und Entfremdung. Keine der Konfliktlagen wird durch die Landschaftsdarstellung entspannt oder gar gelöst, sehr wohl aber in ihrer Relevanz und Intensität vor Augen geführt. Frau von Staëls Landschaften sind Inszenierungen innenweltlicher Dramatik zur Visualisierung bestehender Konflikte: Sie sind gleichsam Projektionsbzw. Folienwand, Reflektor bzw. Spiegelfläche mit abbildend-illustrativer Funktion. Auch in Little Dorrit trägt die Landschaftsdarstellung nicht zur Lösung seelischer Problemlagen bei. Das Panorama vom Sankt Bernhard, mit ausschließlich anonymen Reisenden illustriert als Parabel und didaktisches Modell die Auffassung des Autors von der Unberechenbarkeit des Schicksals. Die Reise der Heldin durch die Alpen und Italien wird zum Nachweis eines Gangs durch eine unwirkliche, entfremdete Objektwelt, während ihres Vaters Begegnung mit der Landschaft der Campagna zur Demonstration seines selbstverschuldeten psychischen Verfalls als Folge unerträglich gewordener innerer Spannungen wird: Es geht um den, in Dickens’ Augen, kritikwürdigen gesellschaftlichen Status als Reicher und das nostalgische Verharren in der moralisch intakten Welt des Marshalsea-Gefängnisses. Auch Dickens’ Landschaftsbilder sind Inszenierungen innenweltlicher Dramatik entweder als Demonstrationsobjekt bzw. Lehrmodell oder als Indikator, Kardiobzw. Seismograph von Geschehen in seelischen Tiefenregionen; als Psychogramme zur Darstellung psychischer Befindlichkeit haben sie demonstrierend-beweisführende Funktion. Beim ersten Bild einer italienischen Landschaft in Middlemarch kann mehr als bei irgendeiner anderen der achtzehn ausgewählten Landschaftsschilderungen von einer Inszenierung innenweltlicher Dramatik gesprochen werden. Der Heldin Eindruck einer visuell überbordenden Fülle in Rom steht in direkter Verbindung zur ikonoklastischen Reaktion ihrer überforderten Psyche: Ihre Wahrnehmung der Ewigen Stadt als fragmentarisierte Welt ohne kohärenten Sinn, als zu Bruch gegangene und in Scherben daliegende Form eines holistischen Ganzen, ist die intrapsychische Kapitulation vor einer komplexeren Wirklichkeit als derjenigen in Middlemarch. Körperlich entlädt sich das traumatische Erlebnis in einem Weinkrampf, psychisch in einer Art emotionalen Schockstarre, die imagi- 488 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER nativ und unkontrollierbar befremdliche Bilder hervorbringt: Die weißen Museumsstatuen mit ihren Marmoraugen tauchen als bleiche Figuren mit starrem Blick aus einer fremden Welt in ihrem überreizten Bewusstsein auf, und der rote Vorhang im Petersdom wirkt wie eine Krankheit der Netzhaut. Erst in Innenräumen und in der Naturlandschaft der Campagna kommt es zu emotionaler Stabilisierung und innerer Sammlung als konfliktminimierende Entwicklung, die sich in Begegnungen mit Werken der bildenden Kunst fortsetzt. George Eliots Landschaftsbilder sind Auslöser bzw. Initialzündung dekonstruktiver Prozesse wie auch Katalysator bzw. Stimulans für solche mit konstruktiver Zielvorgabe; sie haben auslösendstimulierende Funktion. Auch Gissings Landschaftsbilder stellen innenweltliche Dramatik dar, etwa wenn durch den Reiz der italienischen Umwelt und Lebensweise imaginäre und reale Verführungen stattfinden, die beträchtliche negative Folgewirkungen zeitigen; in einem Falle handelt es sich um eine lange Schaffenskrise, im anderen um Verlust des Selbstwertgefühls und des gesellschaftlichen Status. Andererseits eröffnet die Landschaft auch Wege zur Konfliktlösung: Es kommt zur Metamorphose einer der weiblichen Figuren von einer religiös-engstirnigen Fundamentalistin zur gebildeten und emanzipierten Frau, und es kommt zur Rückgewinnung des seelischen Gleichgewichts der männlichen Hauptfigur durch Askese und Selbstdisziplin. Gissings Landschaftsbilder fungieren zum einen als Lot bzw. Sonde in seelisches Tiefengeschehen, zum anderen als impulsgebende Kraft bzw. Ferment intrapsychischer Entwicklung; sie haben sondierend-impulsgebende Funktion. Alle aus Where Angels Fear to Tread ausgewählten Landschaftsschilderungen dienen nicht nur der Sichtbarmachung innerer Dramatik, sondern zielen auf die Lösung psychischer Konfliktlagen hin, womit der Landschaft generell eine aktive Rolle zugewiesen ist. Forster verwendet sie in subtiler Weise, um seinen jungen Helden aus seiner problematischen, in hohem Maße selbstverschuldeten Ankettung an gesellschaftlich-familiäre Konformität zu lösen und ihm die Augen für das Wirkliche zu öffnen - Natürlichkeit, wahre Schönheit, Sexualität, Lebensfreude, Kontakt zu Menschen - und ihm wenigstens für die kurze Zeit in Italien das Gefühl gefundener Identität zu geben. Die Landschaft Italiens wirkt dabei sowohl als Agens bzw. tätiges, wirkendes Prinzip für Initiationsprozesse wie auch als Sinnträger bzw. Sinnbotschaft zu wichtigen Einsichten; sie hat wirkungsaktiv-sinntragende Funktion. Offensichtlicher noch als bei Forster sind die Begegnungen von Lawrences Protagonistin mit Landschaft als sichtbarer Natur nicht lediglich als Problemdarstellung, sondern als Konfliktlösung gedacht. Mit dem Entdecken lange gesuchter Eigenschaften wie Naturhaftigkeit und Ursprünglichkeit, Spontaneität und Vitalität in der Berglandschaft der Abruzzen kommt sie auf dem Weg zu ’her own true nature’ aus einer repres- 489 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE siven Welt der Konventionen, Zwänge und Tabus ein weites Stück voran. Wichtige Schritte zur Selbsterkundung gelingen ihr erst in der ‚wilden’ Bergwelt Italiens, die nicht deformiert und ausgebeutet ist und deren Blumen zur Apotheose unverfälschter Schönheit mutieren.Diese Natur repräsentiert Authentizität, und sie lehrt die Heldin die Akzeptanz des Sexuellen als essenziellen Teil eines dualistisch verfassten, ganzheitlichen Selbst. Sie ist Sinnvermittlung bzw. Sinnverkörperung, und sie ist Offenbarung bzw. Manifestation von Authentizität; Lawrences Landschaftsbilder haben sinnverkörpernd-manifestative Funktion. In der sechsstufigen Abfolge der Einzelanalysen lassen sich drei Phasen der Zweckorientierung unterscheiden: 1. Die literarische Darstellung von Landschaft ist auf die Wiedergabe innenweltlicher Dramatik wie auch die Demonstration psychischer Zustände ausgerichtet. Diese sind häufig Folge schuldhafter Verstrickung in gesellschaftlich-moralische Problematik (Frau von Staël, Dickens). Bilder der Landschaft haben eine reproduktive Zielsetzung. 2. Außenweltbeschreibungen zeigen die Ingangsetzung geistigseelischer Prozesse wie auch die Sichtbarmachung unbewusster Bereiche seelischen Tiefengeschehens auf, wobei dem Landschaftserleben seelentherapeutisch-regenerierende Wirkung zukommen kann. Zuweilen kommt es erst nach konfliktauslösenden Effekten durch die äußere Natur mit Negativfolgen für die psychische Stabilität zur Rückgewinnung des inneren Gleichgewichts (Eliot, Gissing). Bilder der Landschaft haben eine explorative Aufgabenstellung. 3. Bilder der Landschaft belegen die Aktivierung von Einsichtsfähigkeit wie auch den Erkenntnisgewinn neuer Sinnzusammenhänge zur lebensweltlichen Orientierung. Nach Herabstufung des gesellschaftlichkulturellen Primats zugunsten einer Vorrangstellung von Individuierung und Selbst(er)findung tritt Landschaft als Medium innenweltlicher Visualisierung und als Strategie potenzieller Konfliktlösung vollends in den Vordergrund; sie wird Sinnträger von Leitprinzipien zur Lebensgestaltung und Ich-Konzipierung (Forster, Lawrence). Bilder der Landschaft haben eine generative Leitfunktion. Die Wahrnehmung einer aus englischer Sicht als defizitär empfundenen Lebenswirklichkeit wie auch das Vortragen potenzieller Lösungsstrategien vollzieht sich in augenfälliger Weise über Bilder der Natur- und Kulturlandschaft Italiens. Der durch Analogisierung aufgezeigten Wirklichkeit und ihrem Bedeutungsgehalt auf der latenten Sinnebene der Subtexte wird seitens der Autorinnen und Autoren hohe authentische Beweiskraft beigemessen, die in dem Maße wächst, wie der Status des Raumes von dem einer ’tranzendentalen Idealität’ in den einer Potenzialität zum Handeln übergeht und mit der modernen Wertschätzung der darin verankerten Natur als letztinstanzlichem Seinsmo- 490 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER dus und nicht hintergehbarer Leitinstanz verknüpft wird. Die Texte gewinnen damit an gedanklicher Tiefenschärfe und psychologischer Glaubwürdigkeit, an argumentativer Überzeugungskraft und leserwirksamer Relevanz. 4.2.3 Zum Wandel der Funktionalisierung In wiederholener Zusammenstellung ergibt sich folgender Befund der Funktionszuweisung an literarische Bilder der Landschaft Italiens: Sie haben eine reproduktive Zielsetzung als * Projektionsbzw. Folienwand, Reflektor bzw. Spiegelfläche bei Frau von Staël, Corinne ou l'Italie = abbildend-reproduzierende Funktion; * Demonstrationsobjekt bzw. Lehrmodell, Indikator, Kardiobzw. Seismograph bei Charles Dickens, Little Dorrit = demonstrierend-beweisführende Funktion; eine explorative Aufgabenstellung als * Auslöser bzw. Initialzündung, Katalysator bzw. Stimulans, bei George Eliot, Middlemarch = auslösend-stimulierende Funktion; * Lot bzw. Sonde, treibende Kraft bzw. Ferment bei George Gissing, The Emancipated = sondierend-impulsgebende Funktion; eine generative Leitfunktion als * Agens bzw. tätiges, wirkendes Prinzip, Sinnträger bzw. Sinnbotschaft bei E.M. Forster, Where Angels Fear to Tread = wirkungsaktiv-sinntragende Funktion; * Sinndarstellung bzw. Sinnverkörperung, Offenbarung bzw. Manifestation von Authentizität bei D.H. Lawrence, The Lost Girl = sinnverkörpernd-manifestative Funktion. So wie Landschaftsbilder in fiktionalen Texten aufgrund des Handlungsgangs unterschiedlichen Zwecken dienen, gibt es bei Autorinnen und Autoren Unterschiede der Aussageintentionen als Folge weltanschaulich-diskursiven Wandels. Die Faktenlage zeigt allerdings eine klar erkennbare Beziehung zwischen Themenstellung und Aussageintention 491 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE der Romane einerseits sowie Funktionalisierung der Landschaftsbilder andererseits. Die relevanten Bezugspunkte werden durch gegenpolige Begriffspaare wie Kultur und Natur, Gesellschaft und Individuum, Alterität und Identität, das Fremde und das Selbst, das Andere und das Ich markiert, die in permanentem gegenseitigem Spannungsverhältnis stehen. Die diachrone Betrachtung dieses Spannungsverhältnisses zeigt eine Bedeutungsverschiebung zwischen den Bezugspunkten, die sich als Wandel in den Kategorien von Zu- und Abnahme, also der Bedeutungssteigerung und der Bedeutungsminderung erweist, der sich in einem reziproken Verhältnis abspielt: Je mehr sich das auktoriale Interesse vom Konfliktpotenzial zwischen Gesellschaft und Individuum verlagert in Richtung auf ein Interesse an der Innenweltproblematik eines Selbst und Ich, umso mehr verliert Landschaft ihren objekthaften und statischen Charakter als Phänomen der Außenwelt und wird zum sinnstiftenden und dynamischen Bestandteil innenweltlicher Neuorientierung. Der diachrone Wandel der Funktionalisierung ist ein Abbild der Veränderungen geistesgeschichtlicher Parameter im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die anfangs zentrale Sicht einer rückhaltlosen Einbindung des Einzelnen in den Rahmen von Kultur, wie dies bei Frau von Staël der Fall ist, geht bei Dickens und mehr noch bei Eliot in ein Hinterfragen der Folgewirkungen über, gewinnt bei Gissing in Gestalt eines klassisch orientierten Bildungsideals vorübergehend erneut an Bedeutung, um dann bei Forster Gegenstand humorvoller Dekonstruktion zu werden, die sich bei Lawrence in radikaler Zurückweisung und jeglicher Negierung einer persönlichkeitsformenden Funktion tradierter Kulturwerte überhaupt äußert. Umgekehrt dazu wird äußere Natur aus ihrer marginalisierten Rolle als Kulisse bei Frau von Staël entlassen, über eine Parabelfunktion bei Dickens, dann von Eliot in den Rang einer Seinsgröße mit nicht hintergehbaren Leitprinzipien erhoben, die bei Gissing zwar polyvalent ausfallen, jedoch bei Forster und insbesondere bei Lawrence in die Position unumstößlich gültiger Wahrheits- und Sinnmanifestation einrücken. Landschaft als sichtbare Natur wandelt sich von der untergeordneten Rolle des statischen objekthaften Außenraumes zu der des dynamischen und beseelten Lebensraumes, der nicht lediglich vermenschlichte Natur ist, sondern aufgrund eines übermächtigen Status als organizistisch-personifizierte Seinsgröße den Menschen leitet und alleinige Autorität als letztinstanzlicher Sinnbezug wird. In umgekehrter Analogie zur Minderung der Rolle der Kultur und der Autorität der Gesellschaft kommt es zu erhöhter Bedeutungszuweisung an Natur und Individuum. In den fiktionalen Szenarien der sechs Romane wird der Mensch von einer strikten Einbindung in ein geradezu hermetisch geschlossenes Sozialgefüge mit oppressiven Ansprüchen an den Einzelnen, wie bei Frau von Staël, in die vergleichsweise grenzenlose 492 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER Freiheit von Lawrences Heldin in den Bergen der Abruzzen entlassen. Auch alle anderen Protagonistinnen und Protagonisten in den Romanen von Dickens, Eliot, Gissing und Forster arbeiten, mit jeweils zunehmender Intensität, an der Herausformung ihrer Individualität und eigenen Identität, wozu als Bedingung zur Verwirklichung, in produktiver Kontrastierung mit Alterität, eine schrittweise Annäherung an ein eigentliches Selbst und ein wahres Ich erforderlich ist. Analog zum diskursiven Verlust an weltanschaulicher Gewissheit und der damit einhergehenden Bedeutungsabnahme von Kultur und Gesellschaft in Richtung auf einen persönlich initiierten Sinnzuwachs für Natur und Individuum büßen die Konzeptualisierungen von Alterität im Fremden und Anderen ihre starre Fixiertheit als unüberbrückbar scheinende Oppositionen ein und gewinnen durch Fluidität und Offenheit an kompensatorischer Bedeutsamkeit für das Selbst und das Ich. Für das Subjekt ist damit ein Zuwachs an Relevanz des Fremden und Anderen beim Auffinden seines Selbst und der Konstruktion seines Ichs verbunden. Die Autorinnen und Autoren verorten das Streben nach und die Erfahrung von Glück ihrer wichtigen Akteure in einem anderen Bild vom Selbst und Ich als dasjenige, das sie zu Textbeginn abgeben und wodurch das Wesen ihres wahren Selbst und der Kern ihres eigentlichen Ichs als verdeckt erscheinen. Das Erleben von Glücksmomenten wird direkt mit dem Überwinden von Fremdbestimmtheit und Selbstentfremdung in Verbindung gebracht, die allem fiktional erzeugten Anschein nach die personale Einzigartigkeit, also Individualität und Identität, be- oder gar verhindern. Eine solche Auffassung spiegelt freilich die zwanghaften Denkweisen wieder, die das Bewusstsein bzw. das Gehirn dem Subjekt aufnötigen. 1007 1007 „Um jeden Preis will das Gehirn das Schauspiel eines autonomen, unversehrten Ichs spielen.“(Werner Siefer u. Christian Weber, Die Suche nach dem Ich - Neurowissenschaftler entlarven den Mythos vom unveränderlichen Ich-Kern als eine Kopfgeburt, in: Focus Nr. 6, 2. Febr. 2006, 82) „Doch dieser Ich-Kern, von dessen Existenz wir so felsenfest überzeugt sind, ist nicht real.“(ebd, 81). - - - - Für Nietzsche bereits war das Subjekt ein Konglomerat von Selbstbildern als Masken, was die Frage nach authentischer Individualität erübrigt. Michel Foucault hält die Annahme einer selbstmächtigen Individualität und Subjektivität für überflüssig, da sich in der Moderne legitimierte Machtpraktiken (Schulen, Fabriken, Kasernen usw.) mit dem Willen zur Überwachung und Disziplinierung des menschlichen Körpers verbündet haben. Im Modell des Poststrukturalismus besitzt das Subjekt keine einheitliche Identität; das Selbst wird in seinem Inneren durch ein Spiel von Texten bestimmt und mutiert schließlich selbst zum ’multiple text’.(vgl. 1.1.3). „In keiner der drei Instanzen [das Ich, das Es und das Über-Ich bei Sigmund Freud] ist Individualität als Einzigkeit oder Unverwechselbarkeit wiederzufinden.[...] Einschrei bungen werden angeeignet und produzieren die Individualität der persönlichen Entwür fe des Einzelnen.“(Küchenhoff, Der Leib als Statthalter, 170f.; vgl. auch 1.3.3) „Individua lität bestimmt sich gerade durch diese Figur der Vermittlung zwischen Fremdbestimmt heit und kreativer Aneignung des Fremden.“(ebd., 169). 493 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE Es wird vom Freilegen, Entdecken und Auffinden einer personalen Singularität im Individuum ausgegangen, um die Bedingungen für die Möglichkeit zur Glücksfindung bereitzustellen. Der Blick auf den Wandel der Funktionalisierung der Bilder von Natur- und Kulturlandschaften Italiens zeigt, wie differenziert sich aus literarisch-psychokultureller Sicht die Suche nach dem Selbst und dem Ich als prozessuales Geschehen in den fiktionalen Texten widerspiegelt. Die Landschaftsbilder werden aus der Rolle eines Spiegels und Abbildes von Innenwelt herausgenommen und mit zunehmendem Nachdruck zur Umschreibung psychisch-individueller Standortbestimmung der Charaktere verwendet. Nicht bei Frau von Staëls Corinne und auch nicht bei Dickens’ Little Dorrit, aber seit George Eliots Middlemarch wird die Entscheidung der Protagonisten, was aus ihnen werden soll, zunehmend in die eigene Verfügbarkeit gelegt; Gissings The Emancipated, Forsters Where Angels Fear to Tread und Lawrences The Lost Girl sind fiktionale Lebensgeschichten der Befreiung aus der psychischen Gefangenschaft fremdbestimmter Determiniertheit auf dem Weg zu individueller Selbstwerdung. Die Vorstellung einer fixen und immobilen, auffindbaren und herauszuschälenden, selbstmächtigen personalen und sozialen Individualität und Identität erweist sich damit, in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Psychologie, der Psychoanalyse und der Neurowissenschaften, als Illusion. 1008 Das eigentliche Problem des individuellen Bewusstseins besteht letztendlich nicht in einer Selbsterkundung, einer Selbstfindung und Selbstverwirklichung, sondern in einer Selbstkonzipierung, einer Aus Sicht der Neurowissenschaften gibt es im Hirn keine Kommandozentrale des Ichs, das kein natürliches Organ der Seele sei, sondern sich in „iterativen Spiegelungsprozessen“ mit den je Anderen als Selbstmodell konstruiere und das Subjekt durch die Art der Verschaltungen festlege, weshalb eine freier Wille nicht existiere (vgl. Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest - Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Geyer Christian, Hrsg., Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2004, 43ff). Unwidersprochen bleiben die Schlussfolgerungen der ‚kognitiven und emotionalen Neurowissenschaften’ freilich nicht: „Wohl lässt sich das ‚Ich’ als soziale Konstruktion verstehen, aber deshalb ist es noch keine Illusion. Im Ichbewusstsein reflektiert sich gleichsam der Anschluß des individuellen Gehirns an kulturelle Programme, die sich nur über gesellschaftliche Kommunikation […] reproduzieren.“(Jürgen Habermas, Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr, in: FAZ: Nr. 267, 15. Nov. 2004, 36). 1008 Neuere Befunde der Neurowissenschaften besagen, „[…] dass es relativ sinnlos ist, wenn Menschen ihr vermeintlich angelegtes Selbst finden oder verwirklichen wollen: Es geht nicht um eine Suche nach einer Bestimmung, vielmehr muss der Mensch in eigener Freiheit entscheiden, was aus ihm werden soll.“ (Siefer/ Weber, Die Suche nach dem Ich, 83). „’Das vermeintliche Zentrum des inneren Erlebens ist das Produkt einer umfangreichen Verwechslung’, erklärt der Philosoph Thomas Metzinger [...]. ’Keiner war oder hatte jemals ein Selbst.’[...] Das Gehirn arbeitet nur mit Modellen der Wirklichkeit und des Körpers.[...] Weil wir uns fortlaufend mit den Modellen, sprich Bildern, verwechseln, die das Gehirn im Wachzustand produziert, so die These, halten wir unser Ich für real. In Wirklichkeit ist es nicht mehr als eine Illusion.“(ebd., 86). 494 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER Selbstkonstruktion, einer Selbsterfindung. Beides, die singulare Individualität wie die personale und die soziale Identität, müssen, wie die Analyse der literarischen Landschaftsbilder über Italien ergeben hat, konstruiert und erarbeitet werden, um die Voraussetzungen einer Übereinstimmung von wahrem Selbst und eigentlichen Ich zu schaffen und eine Glücksfindung zu ermöglichen. 495 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE 4.2.4 Übersicht II: Funktionalisierung und Wandel Titel des Romans Themenstellung des Gesamttextes Das Bild der Landschaft wird verwendet zur/ als Verbale Landschaftsbilder fungieren als Corinne ou l´Italie 1807 Die Vereinbarkeit von zwei Lebenswelten mit unterschiedlicher soziokultureller Codierung o Darstellung des Idealzustandes im Fall der geglückten Symbiose o Illustration einer von Gewissensqualen gezeichneten Seelenlandschaft o Beschreibung einer Beziehung der Herzlosigkeit und Gefühlskälte Projektionsbzw. Folienwand; Reflektor bzw. abbildendillustrative Funktion Little Dorrit 1855-1857 Der Verlust charakterlich-moralischer Integrität durch Akzeptanz der falschen Leitziele von Reichtum und Macht o analogen Gleichsetzung als Parabel des menschlichen Lebens o Sichtbarmachung des Gefühls von Unwirklichkeit und Selbstentfremdung o Aufzeichnung des Prozesses von Wirklichkeitsverlust und des psychischen Zerfalls Demonstrationsobjekt bzw. Lehrmodell; Indikator, Kardiobzw. Seismograph = demonstrierendbeweisführende Funktion Middlemarch 1871-1872 Das Aufbrechen zu eng gefasster geistig-ethischer Begrenzung zwecks Erweiterung des intellektuellen und emotionalen Horizonts o Darstellung einer ikonoklastischen Zerstückelung der Außenwelt durch Begegnung mit Alterität o argumentativen und psychologischen Begründung des Beginns von Verstehensvorgängen o epistemologischen Horizonterweiterung und zur ästhetischen Standortbestimmung Auslöser bzw. Initialzündung; Katalysator bzw. Stimulans = auslösendstimulierende Funktion 496 Ü BER DIE F UNKTIONALISIERUNG DER LITERARISCHEN L ANDSCHAFTSBILDER Titel des Romans Themenstellung des Gesamttextes Das Bild der Landschaft wird verwendet zur/ als Verbale Landschaftsbilder fungieren als The Emancipated 1890 Die Befreiung aus gesellschaftlichreligiöser Engstirnigkeit und der Weg zu individueller geistig-charakterlichen Reifung o Darstellung des gefährlich verführerischen Reizes des Südens durch Sichtbarmachung des Unbewussten o Aufzeigen der ambivalenten Wirkung der italienischen Naturlandschaft auf die Psyche des Einzelnen o Impulsgeber zu innerem Wandel und als Gradmesser des geistigen Fortschritts und innerer Reifung Lot bzw. Sonde; Impulsgeber, treibende Kraft bzw. Ferment = sondierendimpulsgebende Funktion Where Angels Fear to Tread 1905 Der Weg aus kleinbürgerlicher Enge und provinzieller Konventionalität zu individueller Selbsterfahrung und Identitätsfindung o Palimpsest zum symbolischen Verweis auf verborgene Wahrheiten o in Symbolen 'sprechender' Raum zum Aufzeigen von Alterität auf dem Weg zur geistigen Horizonterweiterung o Darstellung des Ortes gefundener Identität durch das Erleben spontaner Intersubjektivität Agens bzw. tätiges, wirkendes Prinzip; Sinnträger bzw. Sinnbotschaften = wirkungsaktivsinntragende Funktion 497 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE Titel des Romans Themenstellung des Gesamttextes Das Bild der Landschaft wird verwendet zur/ als Verbale Landschaftsbilder fungieren als The Lost Girl 1920 Die Verkümmerung von Spontaneität und Ursprünglichkeit durch die industrielle Zivilisation im Gegensatz zu einer Existenz in Übereinstimmung mit dem wahren Selbst und eigentlichen Ich o Beleg zur Darstellung ursprünglicher Naturhaftigkeit im Gegensatz zur deformierten Industrielandschaft Englands o Zugang zu einer vorchristlicharchaischen Welt mit eigener Werteordnung o Etablierung der Natur als letztinstanzliche Autorität des Schönen und Authentischen als Kontrast zu Kultur und Logozentrismus Sinnvermittlung bzw. Sinnverkörperung; Offenbarung bzw. Manifestation von Authentizität = sinnverkörperndmanifestative Funktion 4.3 Zur Verbildlichung der Außenwelt durch Bilder der Landschaft 4.3.1 Vom Ab-Bild zum Sinn-Bild Prämisse der Untersuchung über eine Funktionalisierung literarischer Landschaftsbilder ist, dass der Raum der Außenwelt vom Ort pragmatischer Orientierung zum Ort symbolischer Sinnbefrachtung geworden ist (vgl. 1.2.2), dass seine Statik der ‚transzendentalen Idealität’ sich in eine Dynamik der Potenzialität des Handelns gewandelt hat (vgl. 1.2.1) und er innenweltlicher Gefühls- und Erlebnisraum ist (vgl. 1.2.5). Die Verbildlichung der Außenwelt und ihre Reduktion zu abrufbaren Bildern, entwicklungspsychologisch bedingt und soziokulturell durch die im Modus der Bipolarität präformierten Vor-Bilder erstellt (vgl. 1.3.1-3), resultiert in einer Verbildlichung der Innenwelt als Raum der Psyche (vgl. 1.3.4). Bei Darstellung dieses innerpsychischen Raumes in der Wort-, Bild- und Tonkunst durch Rückgriff auf die äußere Landschaftswahrnehmung, die gleichermaßen über die Strategie der Bilderstellung vonstatten geht (vgl. 1.3.6), wird die Außenwelt ‚Abdruck des Zustandes einer Seele’ (Karl Friedrich Schinkel); sie wird ‚durch eine symbolische Operation in 498 Z UR V ERBILDLICHUNG DER A U ENWELT DURCH B ILDER DER L ANDSCHAFT eine menschliche’ Natur verwandelt (Friedrich Schiller; vgl. Fußnote 112) und zur ‚Seelenlandschaft’ (Winfried Engler). Nach einem ‚Antönen an Seele und Gemüt durch die Landschaft’ (Martin Seel) kommt es zu ihrer ‚subjektiven Durchseelung’, zur Seelenspiegelung’ in einer ‚Korrespondenznatur’ (Uwe Dethloff), die ‚externalisierter Seelenraum’ (Horst Breuer) wird: Die Analysebefunde der achtzehn Landschaftsbilder haben einen Wandel der Funktionalität in Form von Verschiebungen der Aufgabenstellungen und Wirkungsweisen aufgezeigt (vgl. 4.2.2-3), die eine Leistungssteigerung des Bildes als vermittelnder Instanz zwischen Außenwelt und individuellem Bewusstsein erkennbar werden lassen. Die Bedeutungsintensivierung der Funktionalität von Bildern der Natur- und Kulturlandschaft Italiens macht einen dreistufigen Entwicklungsgang auch der Bildwertigkeit sichtbar. Die reproduktive Zielsetzung der Landschaftsbilder zur Darstellung intrapsychischen Geschehens (Frau von Staël, Dickens), abgelöst durch eine explorative Aufgabenstellung zwecks Sondierung und Erkundung von Tiefenschichten des Unbewussten (Eliot, Gissing) und fortgeführt in der Zuweisung einer generativen Leitfunktion zwecks Erstellung eines Sinnleitsystems zur lebensweltlichen Orientierung (Forster, Lawrence) spiegelt einen kontinuierlichen Prozess der Loslösung von objektgebundener, mimetischer Bildlichkeit wider hin auf eine Verselbständigung des bildhaft Dargestellten. Damit ist das Ab-Bild zum Sinn-Bild geworden. Beabsichtigte oder vermeintlich mimetische Nachbildung der Außenwelt durch Abbildung ist freilich nie objektive Wiedergabe, da es autonome Bilder von Landschaften nicht gibt (vgl. 1.3.6, insbes. Fußnote 207) und ihr Zustandekommen das Ergebnis von Erinnerungen und Assoziationen, von Metaphern und Symbolen ist, die auf zuvor wahrgenommene Zeichen auf Signifikantenketten verweisen. Selbst die Fotografie ist kein autonomes Bild, sondern in „[…] das Gewebe zahlloser Codes eingebettet“ und das Produkt von „Resonanzen in verschiedenen semantischen Feldern“ (vgl. 1.3.6). Die Vorstellung von der Illusion der Selbstmächtigkeit des Subjekts als Produzent eigenständiger Bilder gilt auch für Autorinnen und Autoren, deren fiktionale Außenweltdarstellung gleichermaßen historisch-diskursiv präformiert ist. Ihren verbalen Landschaftsbildern wie auch den Erlebensweisen ihrer Hauptfiguren von Außenwelt ist der das 19. Jahrhundert kennzeichnende Wandel des Verständnisses von Natur und Kultur, von Gesellschaft und Individuum, von Alterität und Identität, vom Fremden und dem Selbst, vom Anderen und dem Ich eingeschrieben (vgl. 1.3.5 u. 4.3.2-3). Die abstrahierende Distanzierung von äußerer Natur und ihre Belegung mit subjektivem Sinngehalt, im Verlauf parallel und visuell erkennbar in der Entwicklung der gegenstandslosen Malerei, vollzieht sich als Prozess der Auflösung von feststehender Bedeutung und über eine graduell zunehmende Naturferne hin zu einer Außenwelt mit indi- 499 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE vidueller bis idiosynkratischer Symbolik. Die literarischen Bilder der Landschaft Italiens als anfänglich annäherungsweise realitätskonforme Wiedergabe werden nach und nach zur Außenweltdarstellung als subjektive Bündelung persönlich verschlüsselter Sinnzuweisung. In beiden Fällen, Literatur wie Malerei, wandelt sich das Bild vom konventionalisierten Bedeutungsgefüge zum singulären Zeichenkonglomerat als Ausdruck indivdueller Psychostrukturen und darauf basierender Sinnkonfigurationen. 4.3.2 Zur Veränderung des Darstellungs- und Sinnpotenzials literarischer Landschaftsbilder: ‚Gewandelte Ikonizität’ Der Funktionswandel literarischer Landschaftsbilder lässt sich hinsichtlich der Veränderung des Darstellungs- und Sinnpotenzials fiktionaler Außenweltwiedergabe unter semantischen, semiotischen, wirkungsproduktiven, rezeptionsästhetischen und bildspezifischen Gesichtspunkten bündeln und präzisieren. In semantischer Sicht auf ihr Darstellungs- und Sinnpotenzials wandeln sich die Landschaftsbilder als Darstellung äußerer Realität im Sinne einer Teilhabe am Ganzen durch meist großflächige Szenarien in einen individuell ausgesuchten und selektiv wahrgenommenen Teilaspekt. Der Wandel verläuft vom Bild als repräsentativer Wiedergabe mit ganzheitlichem Sinnanspruch zum subjektiv gewählten Ausschnitt mit individueller Symbolbelegung, der häufig eine Nahsicht erfordert. Eine semiotische Blickrichtung zeigt, dass literarische Landschaften als Zeichenkomplexe von einer Funktion der Spiegelung intrapsychischer Vorgänge in den einer Deutung zur lebensweltlichen Orientierung einrücken. Der Chiffrencharakter außenweltlicher Phänomene verändert sich von der Funktion eines statischen Verweisens auf verdeckte Sinnschichten und deren Offenlegung in die eines dynamischen Weisens und Zeigens einzuschlagender Wege und anzustrebender Ziele. Diese Funktionsverschiebung stellt eine graduelle Intensivierung des symbolischen Aussagewerts der Zeichen dar, denen tendenziell immer eindeutiger die Aufgabe sinnleitender Orientierung zukommt. Der wirkungsproduktive Aspekt der literarischen Landschaften lässt im Übergang von der großformatigen, meist ganzheitlich verstandenen Schau der Außenwelt zum kleinformatigen, zunächst willkürlich erscheinenden Blick ein zunehmendes Interesse an singulären Phänomenen erkennen. Das landschaftliche Tableau, das Panorama und der großzügige Prospekt weichen nach und nach der Detailansicht und dem gezielt eingegrenzten Blick auf das Bemerkenswerte, Erstaunliche oder Einmalige. Eine derartige Verlagerung der Wahrnehmung und Präsentation der sichtbaren Realität verändert zwangsläufig die Rezeption in Betrach- 500 Z UR V ERBILDLICHUNG DER A U ENWELT DURCH B ILDER DER L ANDSCHAFT tern und Lesern. An die Stelle des ästhetischen Genießens einer als piktorale Ganzheit konzipierten Außenwelt, die in hohem Maße auf tradierten, kollektiv ‚gewussten’ Bildinhalten beruht, tritt das epistemologische Erschließen eines individuell zu konstruierenden Bildzusammenhangs ohne den verlässlichen Rückgriff auf konventionalisierte Sehweisen. Der Anspruch von Autoren und bildenden Künstlern an eine leserbzw. betrachteraktive Mitarbeit wird auf diese Weise erhöht und durch das Erleben von Sinnfindungsmomenten belohnt. Hinsichtlich der Bildvalenz oder Bildwertigkeit weisen die Landschaftsbilder als visuell erfasste und verbal organisierte Wirklichkeitsschau anfangs eine hohe Übereinstimmung des Vorhandenen mit dem Dargestellten auf, ungeachtet der Tatsache, dass sie weder mimetisches Abbild noch autonom sind (vgl. 1.3.6), doch als Szenarien sind sie lokalisier- und in ihrer Eigenart erkennbar. Es vollzieht sich ein Wandel dergestalt, dass das im verbalen Bild objekthaft Dargestellte und der ihm auktorial zugewiesene Sinngehalt immer stärker auseinander treten. So wandelt sich das Bild der Landschaft vom Spiegel über mehrere Bildfunktionen (Lehrmodell, Katalysator, Ferment, Agens) schließlich zur Bild gewordenen, hypostasierten Sinnverkörperung mit eigener und eigenwilliger auktorialer Bedeutungsbelegung. Es kommt zu einer Erhöhung der Darstellungskapazität und einer Ausweitung der ‚ikonischen Differenz’, indem objekthafte Bildlichkeit und intendierte bzw. rezipierte Aussage sich immer weiter von einander entfernen. Im Blick auf das Darstellungs- und Sinnpotenzial der literarischen Landschaftsbilder zwischen 1807 und 1920 bestätigt der Analysebefund den Vorgang einer ‚gewandelten Ikonizität’. 1009 4.3.3 Befunde der Analyse als Ausdruck psychohistorischer Abläufe Dass „Literatur weder eine total abgesonderte Welt des Fiktionalen bildet, noch simples selbstreferentielles Zeugnis“ ist, sondern psychokulturellen Veränderungen in Form von „[…] seelischen Transformationen auf dem Weg von der vormodernen zur modernen Gesellschaft“ unterliegt, wird (neben philosophischen, psychoanalytischen, kunsthistorischen und bildtheoretischen Perspektiven) aus historisch-literaturpsychologischer Sicht durch Einbezug einer sozialgeschichtlich-psychologischen Blickrichtung erkennbar. 1010 , Das Anliegen einer historischen Literaturpsychologie, den durch soziokulturelle Präformierung vorgegebenen intrapsychischen Strukturen in den fiktionalen Innenwelten der Figuren und dabei auch den ‚realen’ der Autoren- und Leserschaft bei der Produktion bzw. Rezeption von Literatur 1009 ebd., 29ff u. 37. 1010 Breuer, Historische Literaturpsychologie, 7. 501 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE in ihrem geschichtlichen Verlauf näher zu kommen, bestätigt aus dieser Perspektive rückblickend einerseits die getroffene Wahl einer Hermeneutik des Verdachts bei der Texterschließung (vgl. 1.1.3 u. 1.4.2), andererseits den Einbezug einer biografisch-weltanschaulichen Perspektivik in den Gang der Untersuchung. Die für eine historische Literaturpsychologie konstitutive Vorstellung, dass auch Epochen ein „seelisches Profil“ haben - „Das Seelische ist historisch zu denken“ -, das sich in fiktionalen Texten spiegelt - „Literatur hat es immer mit seelischer Realität zu tun“ 1011 -, führt zur Psychohistorie als Ausgangsbasis, also der Geschichtlichkeit der Seelenvorgänge. 1012 Die in den Analysebefunden zu Tage getretenen Verschiebungen innerhalb binärer bzw. bipolarer Begriffspaare lassen einen progressiven Richtungsverlauf zu Tage treten von Kultur (durch Individualisierung) zu Natur, von Gesellschaft (durch Emanzipierung) zum Individuum, von Konformität (durch Konfrontation mit Alterität) zu Identität" von Fremdbestimmtheit (durch Interaktion mit dem Anderen) zu Selbsterfahrung und Ich(er)findung. Psychische Veränderungen als ‚seelische Transformationen’ in den fiktionalen Innenwelten, seien es sich allmählich vollziehende tektonische Verwerfungen oder eruptive Umbrüche, treten in Einzelanalysen naturgemäß nur punktuell zu Tage. In diachroner Abfolge gesehen ermöglichen sie jedoch eine Ergebnisbündelung auch aus psychohistorischer Sicht. Neben der zentralen Frage, welchen Wandel die literarischen Landschaftsbilder als Mittel narrativer Innenweltdarstellung durchlaufen, ist auch ein Blick auf den psychohistorischen Aspekt über Ursachen von Veränderungsprozessen der dargestellten Seelenvorgänge von Interesse. Ohne des Näheren auf solche Ursachen einzugehen (was Gegenstand eigener Untersuchungen wäre), zeigt sich als Ergebnis: Vor dem Hintergrund eines psychohistorischen Wandels zwischen 1807 und 1920 weisen die Bilder der Natur- und Kulturlandschaft Italiens eine Bedeutungsintensivierung ihres Aussagewertes in der Funktion des Darstellens und zugleich eine Sinnvertiefung in der Semantik des Dargestellten auf. Dieser (in dem grundsätzlich dreistufigen Modus der Bilderfassung und Bilderschließung 1013 ) feststellbare) Leistungszuwachs der Bildwertigkeit literarischer Darstellung der Natur- 1011 Ebd., 49 u. 51. 1012 „Weder ist damit die Rekonstruktion psychologischer Theorien der Vergangenheit gemeint noch eine psychobiografisch-kasuistische Erörterung historischer Personen im Licht moderner psychoanalytischer Konzepte. Der zweitgenannte Aspekt bezeichnet das geläufige amerikanische Verständnis von ‚psychohistory’ […].“(ebd., 51). 1013 Nach Ernst H. Gombrich geht es um das Darstellen, Symbolisieren und Ausdrücken (vgl. 1.2.3, Fußnote 86), nach George P. Landow um ’perception of visual experience’, ’primary interpretation’ und ’political, moral, and philosophical interpretation’.(vgl. 3.6.3.1 bzgl. Fußnote 889). 502 Z UR V ERBILDLICHUNG DER A U ENWELT DURCH B ILDER DER L ANDSCHAFT und Kulturlandschaft Italiens spiegelt ein kontinuierlich wachsendes Interesse an intrapsychischen Vorgängen im Allgemeinen und an Wegen zur Selbst- und Ich-Konzipierung im Besonderen wider. Die Zahl gedanklicher Projektionen zum Ich als Zusammenspiel von Symbolischer Ordnung und persönlichen Entwürfen durch Kontrasterfahrungen mit Alterität (vgl. 1.3.2-3 u. 1.3.6) kann im fiktionalen Subjekt durch die Beschreibung von Begegnungen mit Alterität im fremden Kulturraum signifikant erhöht werden. Dabei kann es zugleich gelingen, die Relevanz dieser Projektionen als Bausteine zu lebensweltlicher Sinn- und personaler Identitätskonstruktion psychologisch schlüssig aufzuzeigen. Die ‚Italienromane’ der sechs Autorinnen und Autoren sind in ihrer jeweiligen Themenstellung wie auch in der (vor allem literaturkritischen) Rezeption Beleg eines anhaltenden Interesses an lebensweltlichen Alternativräumen zur Standortbestimmung des Selbst und des Ichs wie auch zur Konstruktion einer selbstbestimmten Individualität und ‚wahren’ Identität. 1014 Bei der verbalen Visualisierung psychischer Zustände wie auch bei der Inszenierung innenweltlicher Wandlungsprozesse haben sich die Bilder der fremden Landschaft, wie die Analysebefunde erbrachten haben, als psychologisch ungewöhnlich subtile und als narrativ außerordentlich vielseitige und effiziente Instrumente der Darstellung erwiesen. 4.3.4 Der Wandel der Funktionalisierung als Beleg einer ‚ikonischen Wendung’? Der Begriff der ’ikonischen Wendung’ in Analogie zum ’linguistic turn’ (vgl. Richard Rorty) 1015 ist die Umschreibung für eine „Rückkehr der Bilder ins philosophische Argumentieren“: Schelling hatte Begriffe als ‚verblichene Mythologie’ bezeichnet, Nietzsche betonte ihre Fluidität, Blumenberg sprach von der ‚Metaphernpflichtigkeit des Denkens’, für Gadamer bringen Bilder als Prozesse einen ‚Zuwachs an Seinsvalenz’ hervor’ (vgl. Fußnote 179 u. 1.3.6): Der Quintessenz dieser Formeln belegt eine erhöhte Bedeutungseinschätzung der Bildleistung seit dem Rationalismus und der Aufklärung. Die Analyse der Landschaftsbilder hat einen Funktionswandel zu Tage treten lassen, der als Folge geistesgeschichtlich-diskursiver Veränderungen eine Bedeutungsintensivierung narrativer Bildlichkeit darstellt und den Übergang vom Ab-Bild zum Sinn-Bild umschreibt. Dieser Wandel hin auf einen Bedeutungszuwachs verbal erzeugter Bilder in Bezug auf Aussagefähigkeit bedeutet eine Hinwendung zum produktiven Leistungsvermö- 1014 Vgl. 1.3.3, insbes. auch Fußnoten 1007-8 1015 Vgl. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders., Was ist ein Bild? , 13; s. auch Fußnote 180. 503 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE 504 gen des Bildes. Es besitzt in seiner Wesenhaftigkeit eine Darstellungskapazität sowie ein Sinn- und ein Überzeugungspotenzial, die offenkundig für das moderne Bewusstsein die des Wortes als gedanklich-geistigem Abstraktum übersteigen. In Ergänzung zur Feststellung, dass Landschaft in Bildern erfahren werde (vgl. 1.3.4, 1.3.6), lässt sich im Blick auf die untersuchten Romane formulieren: Zentrale Einsichten über das Individuum und Ich sowie Einblicke in den Erstellungsprozess selbstbestimmter Individualität und Identität im Verbund mit Leitlinien zur sinnvertiefender Lebensgestaltung werden psychologisch überzeugend und narrativ effizient in Bildern der Natur- und Kulturlandschaft Italiens vermittelt. Ihre differenzierte und vielschichtige Funktionalisierung bei der Analyse geistig-seelischer Befindlichkeit wie auch bei der Synthese zu personaler Selbstkonstruktion sind einerseits Beleg eines kontinuierlich wachsenden Interesses an einer Ausleuchtung des Raumes der Psyche und dessen psychologisch glaubwürdiger Darstellung, andererseits auch einer die Moderne kennzeichnenden intensivierten Rezeptivität des Bildlichen im diffizilen Prozess der narrativen Visualisierung eines Erstellens von Individualität und Identität. In diesem Sinne können die Veränderungen in der Funktionalisierung von Bildern von Natur- und Kulturlandschaften Italiens als Beleg für eine ‚ikonische Wendung’ angesehen werden Zur Veränderung des psychohistorischen Bezugsrahmens Soziokulturelle ‚Realität’ Innenweltliche ‚Realität’ Veränderung des Aussagegehalts ‚verschlüsselter’ Botschaften auf latenter Sinnebene der Subtexte in palimpsestischen Bildern der italienischen Landschaft Veränderte Funktionalisierung als Bedeutungsintensivierung: Funktionsausprägung im Einzelfall und im diachronen Entwicklungsgang Veränderung der Bildwertigkeit verbaler Landschaften: Gewandelte Ikonizität und Leistungszuwachs der Bildvalenz Konformität und Repression durch Gesellschaft und Kultur: Gängelung, Zwänge, Tabuisierung, Kontrolle, Disziplinierung, Unterdrückung, Manipulation psychischemotionale Unfreiheit durch fremdbestimmte Sinvorgaben: Ängste, Sinnkrisen, Realitätsflucht, Scheinwelten, Tabubrüche, Psychosen Mme de Staël (in CI): kreative Selbstentfaltung durch geistigen Freiraum, Harmonie mit der Natur und emotionale Spontaneität Charles Dickens (in LD): humanere Gesellschaft durch personale Zuwendung, mitmenschliche Fürsorge und charakterliche Integrität George Eliot (in M): Persönlichkeitsentwicklung durch ‘wahre’ Erkenntnis als Verbund von Wissen und Gefühl, Kunst und Natur, Moral und Empathie George Gissing (in E): Persönlichkeitsformung durch Emanzipation von religiösem Dogmatismus mit Hilfe ästhetischen Erlebens und klassischer Bildung Landschaft als bildgewordener Raum der Psyche mit abbildend-illustrativer und demonstrierendbeweisführender Funktion = reproduktive Zielsetzung auslösend-stimulierender und sondierendimpulsgebender Funktion = explorative Aufgabenstellung vom Ab-Bild als meist großflächigem Szenarium, vom Tableau, Panorama und Prospekt, vom Blick als kollektiv ‚gewusstem’ Inhalt, von piktoraler Ganzheit und wirklichkeitsnaher Darstellung zwecks Spiegelung intrapsychischer Vorgänge mit der Funktion des Verweisens und des Offenlegens, vom ästhetischen Genießen zum Sinn-Bild als subjektivem Ausschnitt zur eingegrenzten Detailansicht, 505 Z UR V ERBILDLICHUNG DER A U ENWELT DURCH B ILDER DER L ANDSCHAFT 4.3.5 Übersicht III: Entwickungsgänge und Ikonizität Natur und Individuum: Öffnung, Kontingenz, Singularität, Emanzipation, Freiraum, Ursprünglichkeit, Individualität, Authentizität Konzipierung eines ‚wahren’ Selbst und eigentlichen Ichs: emanzipierte, selbstbestimmte, individualethische Sinnorientierung E.M. Forster (in A): Weg zur Identitätsfindung durch Befreiung aus gesellschaftlicher Konformität in der Begegnung mit dem Ursprünglichen und der Akzeptanz naturgegebener Sinnlichkeit D.H. Lawrence (in LG): Gang zu selbstbestimmter Identitätskonstruktion auf einem konsequenten Weg intrapsychischer Befreiung durch Rückgewinnung des Ursprünglichen und Authentischen im Akt der Sexualität wirkungsaktivsinntragender und sinnverkörperndmanifestativer Funktion = generative Leitfunktion zum kleinformatigen Segment, zum individuell konstruierten Bildzusammenhang mit idiosynkratischer Symbolik, zum Blick auf das Nichtkonforme, Einmalige mit der epistemologischen Funktion des Weisens und Orientierens bei der lebensweltlichen Sinnsuche = = = = Sinnvertiefung des Dargestellten Interessenssteigerung am Selbst/ Ich und ‚wahrer’ Identitätskonstruktion Bedeutungsintensivierung des Darstellens Ausweitung der ‚ikonischen’ Differenz 506 Z USAMMENSCHAU DER E RGEBNISSE 5 Literaturverzeichnis 5.1 Primärliteratur als Gegenstand der Untersuchung Dickens, Charles, Little Dorrit, Hrsg. u. Einf. Peter Ackroyd, London: Mandarin Paperback, 1991, 932 S. Eliot George, Middlemarch, Hrsg. u. Einf. 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